Das Mittelalter ist aus verschiedenen Motiven geschätzt und wieder vernachlässigt worden : Entdeckung der Poesie des Christentums, Verehrung der nationalen Vorzeit, Nostalgie nach dem alten Lateineuropa, von der gelehrten Leidenschaft für das Antiquarische ganz zu schweigen. Dem heutigen Leser wird in diesem Buch vorgeschlagen, das Bildungs- und Forschungsinteresse an der mittelalterlichen Literatur mit drei Gründen zu rechtfertigen : dem ästhetischen Vergnügen, der befremdenden Andersheit und dem Modellcharakter für gegenwärtige Erfahrung. Unter diesen Gesichtspunkten hat der Verfasser ein neues Fazit aus seinen Studien der Jahre 1956 bis 1976 gezogen. Die hermeneutische Forderung, in der »Alterität« dieser Literatur- ihrem Anderssein, das in der Kunst immer zugleich auf ein anderes, verstehendes Bewußtsein bezogen ist- sowohl einen Grund ästhetischen Vergnügens als auch das zu entdecken, was für unsere »Modernität« wieder exemplarisch werden kann, wird zumeist an Texten erprobt, die nicht in den Kanon der Weltliteratur eingegangen sind. Dabei fallt neues Licht auf die Tierdichtung als Schwelle zur Individuation, auf die allegorische Dichtung als Poesie des Unsichtbaren und auf die kleinen Gattungen des Exemplarischen als ein literarisch vermitteltes System der Kommunikation.
Wilhelm Fink Verlag
Hans Robert Jauß
Ästhetische Erfahrung und literarische Henneneutik
Was heißt ästhetische Erfahrung, wie hat sie sich in der Geschichte der Kunst manifestiert, welches Interesse kann sie fl.ir die gegenwärtige Theorie der Kunst gewinnen? Diese Fragen standen lange am Rande der ästhetischen Theorie und im besonderen der literarischen Hermeneutik. Sie blieben in der kunsttheoretischen Diskussion von Problemen verdeckt, die der Ontologie von Kunst und Natur, Schönheit und Wahrheit, und damit dem Werk in seiner Darstellungsfunktion den Vorrang über die Weisen seiner Erfahrung beließen. Demgegenüber stellt der Verfasser die Frage nach der ästhetischen Praxis in den Mittelpunkt, die alle manifestierte Kunst als hervorbringende, aufnehmende und vermittelnde Tätigkeit getragen hat. Er untersucht diese drei Funktionen problemgeschichtlich unter den Titeln Poiesis, Aisthesis und Katharsis Kategorien einer oft kryptischen Tradition, die in dieser Sicht ein überraschendes historisches Profil gewinnen - und fUhrt sie auf den ästhetischen Genuß als die fundierende Grunderfahrung zurück, die- definiert als »Selbstgenuß im Fremdgenuß« - das Ästhetische von anderen Funktionen der Lebenswelt spezifisch abzugrenzen erlauben-. Einzelstudien über das Komische und das Lächerliche, über Ebenen der Identifikation mit dem Helden und über Interaktionsmuster der Lyrik ergänzen den Aufriß dieser aktuellen ästhetischen Theorie, der in einem zweiten Halbband Studien zur literarischen Hermeneutik folgen werden.
JAUSS · ALTERITÄT UND MODERNITÄT
HANS ROBERT JAUSS
ALTERITÄT UND MODERNITÄT DER MITTELALTERLICHEN LITERATUR Gesammelte Aufsätze 1956-1976
WILHELM FINK VERLAG MÜNCHEN
Re~wn:}{dm.t~n17a
Register: Bnl1lhilde Wehinger .nd Maria Wittelt
IS> 1977 Wilhelm Fink Verlag, München Gesamtherstellung: Hain-Druck KG, Meisenheim/Glan ISBN 3-7705-1487-4 Kan. Ausgabe ISBN 3-7705-1488-2 Leinenausgabe
TECHNISCHE VORBEMERKUNG
Im Hinblick auf einen erschwinglichen Ladenpreis wurde für diesen Band das Verfahren photomechanischer Reproduktion gewählt. Deshalb konnte die Typographie der einzelnen Beiträge nicht vereinheitlicht werden. Dies gilt insbesondere für die Reproduktion der Bibliographien. Der Leser wird gebeten, für die Abhandlungen 11, V und X die im Anhang befindlichen Auszüge aus den Bibliographien der Untersuchungen zur mittelDlterlichen Tierdichtung und des Grundrisses der rorrumLrchen Literaturen des Mittelalters zu konsultieren. Für die Beiträge aus dem Grundriß ist darüber hinaus zu beachten, daß die Abkürzung vid. auf nicht reproduzierte Beiträge zu Band VI oder auf andere Bände des GRLMA verweist und daß sich mit Pfeil versehene Nummern auf den Dokumentationsteil von GRLMA VI (2. Halbband) beziehen. Dort finden sich in den jeweiligen Dokumentationen unter § 2 auch Titel zu Texten, die man im generellen Abkürlungsverzeichnis vermißt.
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INHALT
I.
Einleitung
(9)
Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur
(9)
Zur Tierdichtung 11. 111. IV.
V. VI. VII. VIII.
IX. X.
XI.
(49)
Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung Rainaldo e Lesengrino . Les enfances Renart .
[SO) [12S) [131 )
Zur allegorischen Dich tung
[ 1S3)
Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung. Ernst und Scherz in mittelalterlicher Literatur Brunetto Latini als allegorischer Dichter . . Allegorese, Remythisierung und neuer Mythus
[1 S4) (219) (239) [28S)
Zur Theorie der Iitel'tlrischen Gattungen
(309)
Epos und Roman - eine vergleichende Betrachtung an Texten des (310) XII. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . (327) Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. . [3S9) Paradigmawechsel in der Rezeption mittelalterlicher Epik
Zur Literarälthetik XII. Die Defiguration des Wunderbaren und der Sinn der Aventüre im ,Jaufre' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII. Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur. . . . . . . . . . . . . XIV. Ästhetische Erfahrung als Zugang zu mittelalterlicher Literatur
[367] (368) [38S)
(411)
Dokumentarischer Anhang
(429)
Corrigenda et addenda . . . . . . . Abkürzungen (Auswahl aus dem GRLMA) Bibliographien Zu Abhandlung 11 Zu Abhandlung V Zu Abhandlung X Autoren- und Titelverzeichnis. Namenverzeichnis der Sekundärliteratur Nachweis der Erstveröffentlichungen
(430) [432]
[434] [43S)
(437) . (441) (446) (449)
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Einleitung I. ALTERITÄT UND MODERNITÄT DER MITTELALTERLICHEN LITERATUR Issi ert le sage escrivein EI regne dei cel soverein, Qui de son tresor met avant Come proz e come savant Les velz choses eies noveles, Qui ensemble sont bones e beles. • Inhaltsübersicht: 1. Vorschlag zur Begründung des gegenwärtigen Interesses an mittelalterlicher Literatur (9); 2. Ästhetisches Vellnügen lßl mittelalterlichen Texten (11); 3. Einführung des hermeneutischen Begriffs der Alterität (14); 4. Alteritlt des mittelalterlichen Weltmodells (18); 5. Gegenwärtige Ansätze zu einer Erneueruna der Mediävistik (22); 6. Modernität in der Alterität als neues Fr.,einteresse (25); 7. Tierdichtung als SchweDe zur Individuation (26); 8. ADegorische Dichtung als Poesie des Unsichtbaren (28); 9. Die kleinen Gattungen des Exemplarischen als literarisches Kommunikationssystem (34).
1. VorachlDg zur Begründung des gegenwärtigen Interesses an mittelalterlicher Literatur Das Studium der Literatur des europäischen Mittelalters hat in gegenwärtiger Zeit einen eigentümlichen Vonug. Es hat seinen Rang im Bildungskanon eingebüßt und schlägt darum in Lehrplänen (vulgo: ,curricular') kaum noch zu Buche. Es stand lange abseits vom modemen Trend der Theoriebildung, begann seine Umorientierung fast unbemerkt und ist darum im universitären und öffentlichen Ansehen noch stärker angefochten als die benachbarten historischen Disziplinen. In der Nötigung. sein wissenschaftliches Interesse neu zu beglÜnden. kann man heute eher einen Vorzug als ein Unglück sehen, wie auch die folgende Präsentation von Arbeiten der Jahre 1957 bis 1976 zeigen soll. Begründung des Interesses ist für die Forschung wie für die Lehre von allen Forderungen der studentischen Protestbewegung und der institutionellen Hochschulreform der idealistischen Sechziger Jahre wohl diejenige, der am meisten zu wünschen wäre, daß sie die technokratische Regression des pessimistischen Siebziger Jahre überdauert. Wenn ich mich nun dieser Forderung stelle, gestehe ich gerne, daß meine Erfahrung mit mittelalterlicher Literatur weder einer ursplÜnglichen und konsequent durchgehaltenen Absicht entsprungen ist, noch daß ich sie für singulär halte. Die Gründe, die nach meiner Meinung auch heute noch das Interesse an diesem Studienweg und Feld der Forschung rechtfertigen, sind mir erst nach und nach aufgegangen, und gewiß nicht mir allein. Sie sind weithin Erkenntnisse eines noch unabgeschlossenen ,Paradigmenwechsels', • Guillaume le Clerc: Le Bestiaire. ed Reinsch, vv. 815-820. Im folgenden verweise ich mit römischen Ziffern (im Text) auf die in diesem Band vereinten Abhandlungen 11 bis XIV.
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der mir erst nach und nach bewußt wurde. Da mir vornehmlich daran gelegen ist, solche Einsichten einer Rückschau aufzugreifen, habe ich den Versuch einer neuen Auswertung meiner Erfahrungen vom jetzt erreichten Standort durchweg der Berichtigung und Vervollständigung früherer Ergebnisse vorgezogen. Dabei kam vielleicht die Antwort auf meine Kritiker zu kurz; soweit diese selbst an der Bemühung um eine Erneuerung der Mediävistik teilhaben, werden sie mir wohl einräumen, daß nicht die Wiederaufnahme fachesoterischer Polemik, sondern die Ausarbeitung neuer Fragestellungen das Gebot der Stunde ist. Angesichts der gegenwärtigen Situation, in der sich die klassischen Paradigmen der positivistischen Traditionsforschung wie auch der idealistischen Werkoder Stilinterpretation erschöpft und die angepriesenen modernen Methoden der strukturalen Linguistik, Semiotik, phänomenologischen oder soziologischen Literaturtheorie noch nicht paradigmenbildend verfestigt haben', schlage ich vor, das Forschungs- und Bildungsinteresse an der Literatur des Mittelalters mit drei Gründen zu rechtfertigen: dem ästhetischen Vergnügen, der befremdenden Andersheit und dem Modellcharakter mittelalterlicher Texte. Wie leicht zu erraten ist, liegt dieser Triade ein bewährtes Verfahren der literarischen Hermeneutik zugrunde. Die unmittelbare oder präreflexive Leseerfahrung, die implizit ja immer schon ein Erproben der Lesbarkeit einschließt, bildet die unentbehrliche erste hermeneutische Brücke. Die vermittelnde Leistung oder hermeneutische Funktion des ästhetischen Vergnügens erweist sich daran, daß es durch fortschreitende Einstimmung oder auch via negationis, durch ein eintretendes Mißvergnügen an der Lektüre, die erstaunliche oder befremdende Andersheit der vom Text eröffneten Welt gewahr werden läßt. Sich diese Andersheit einer abgeschiedenen Vergangenheit bewußt zu machen, erfordert das reflektierende Aufnehmen ihrer befremdenden Aspekte, methodisch ausführbar als Rekonstruktion des Erwartungshorizonts der Adressaten, für die der Text ursprünglich verfaßt war. Dieser zweite hermeneutische Schritt darf indes nicht schon das Ziel des Verstehens überhaupt sein, soll die so gewonnene Erkenntnis der Andersheit einer fernen Textwelt nicht bloß eine verschärfte, durch Horizontabhebung objektivierte Variante historischer Vergegenständlichung bleiben. Im Durchgang durch die Befremdung der Andersheit muß ihr möglicher Sinn für uns gesucht, die Frage nach der historisch weiterreichenden, die ursprüngliche kommunikative Situation übersteigenden Bedeutung gestellt werden. Oder in Gadamers Terminologie formuliert: die Horizontabhebung muß im Prozeß aktiven Verstehens zur Verschmelzung des vergangenen mit dem gegenwärtigen Horizont ästhetischer Erfahrung weitergeführt werden. Dabei ist es nicht von vornherein ausgemacht, daß die Horizontverschmelzung gelingt. Das anfängliche ästhetische Vergnügen am Text kann sich schließlich als ein naiv modernisierendes Vorverständnis enthüllen, das erste ästhetische Urteil der Nicht-Lesbarkeit sich auch noch am Ende als unüberwindbar erweisen. Dann fällt der Text als ein nur noch historisch interessantes Zeugnis aus der Kanonbildung gegenwärtiger ästhetischer Erfahrung heraus. Gewiß ist solches Sondern eine Entscheidung auf Widerruf, weil der für uns ästhetisch nicht mehr konkretisierbare Text ror spätere Leser vielleicht wieder 1 Siehe dazu XIV und die Einleitung zum Band 1 des Grundriß der TO".nilchen Literatu· ren des Mittelllltns (GRLMA), Heidelberg 1972, p. v-xii.
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Bedeutung zu erlangen vermag. Bedeutsamkeit, die durch ästhetische Erfahrung erschlossen wird, entspringt der Konvergenz von Wirkung und Rezeption; sie ist kein zeitloser, immer schon gegebener Grundbestand, sondern das prozeßhafte, nie abgeschlossene Ergebnis fortschreitender und anreichernder Auslegung, die das textimmanente Sinnpotential im Horizontwandel historischer Lebenswelten immer wieder neu und anders konkretisiert 2 • Diesen Prozeß der Bildung und Bewahrung, Umbildung und Verjüngung des ästhetischen Kanons zeigt gerade die so außergewöhnlich gebrochene Oberlieferungsgeschichte der mittelalterlichen Literatur auf exemplarische Weise: ihre Verdrängung durch den ästhetischen Kanon der Renaissance, ihr Weiterexistieren als ,Subliteratur' (Bibliotheque bleue, roman gothique) während der Aufklärung, ihre Wiederentdeckung als normgebender Anfang durch die säkular verspätete Ästhetik des Christentums in der Romantik, ihre gelehrte Erschließung durch den Historismus des 19. Jahrhunderts, ihre Vereinnahmung durch die Ideologien der Nationalliteratur, die gegenläufige Bewertung als Kontinuitä tsbrücke lateineuropäischer Tradition und zuletzt die noch einsamen Versuche von C. S. Lewis, Eugene Vinaver, Robert Guiette, Alfred Adler und Paul Zumthor, die Modernität der Literatur des Mittelalters aus ihrer ,Alterität' zu begründen. Wer die Erfahrung mittelalterlicher Literatur als Fachgelehrter und Liebhaber ihrer Texte für unersetzbar hält, vermag darum die Gebildeten unter ihren Verächtern heute gewiß nicht mehr durch Berufung auf den zeitlosen Kanon vermeintlich unverlierbarer Meisterwerke, sondern eher durch die Einladung zu überzeugen, daß sich die Literatur dieser eigentümlich· fernen und doch wieder exemplarischen Vergangenheit auch ohne Verpflichtung auf thesaurus oder tabula rasa, Kulturerbe oder Modernismus, in unsere Gegenwart übersetzen läßt, sofern der Leser wieder von seinem ästhetischen Grundrecht genießenden Verstehens und verstehenden Genießens Gebrauch macht.
2. ,A·sthetisches Vergnügen an mittelalterlichen Texten Damit kehren wir von der hermeneutischen zu der historischen Seite des Problems zurück. Inwiefern können die Schritte, die vom ästhetischen Vergnügen über die Rekonstruktion der Andersheit zum Erschließen konkretisierbarer Bedeutung führen sollen, sich gerade an mittelalterlicher Literatur bewähren können und Eigentümlichkeiten ihrer Textwelt vor den Blick bringen, an denen sich ein gelehrtes Interesse neu begründen und zugleich ein Liebhaberinteresse gewinnen läßt? Die epochenbedingten Züge, die einem modernen Leser, der den ästhetischen Reiz des Vergangenen noch empfindet, das Yergnügen an mittelalterlichen Texten oft erschweren, sind unübersehbar: Vorrang der Konvention über den Ausdruck, Unpersönlichkeit des Stils, Formalismus der Lyrik, 2 Der Ausdruck ,WirkungSBeschichte' entsteUt diesen Sachverhalt, wie H. Blumenberg bereits rur die Rezeptionsaeschichte von Mythen klarsteUte: "Bedeutsamkeit . . . ist ein Resultat, kein angelegter Vorrat: Mythen bedeuten nicht ,immer schon', als was sie ausgelegt und wozu sie verarbeitet werden, sondern reichern dies an aus den Konf"Jgurationen, in die sie eingehen oder in die sie einbezogen werden. Vieldeutigkeit ist ein Rückschluß aus ihrer RezeptioßSBeschichte auf ihren Grundbestand" (in: Poetik und He~neutik IV, hg. v. M. Fuhrmann, München 1971, p. 66).
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Traditionalismus der Epik, Vermischung des Poetischen mit dem Lehrhaften, schwer entschlüsselbare Symbolik 3 • So scheint es zunächst, daß sich ein unmittelbares ästhetisches Vergnügen heute nur noch bei Texten aus dieser Vergangenheit einstellt, die als Hervorbringungen einer aufblühenden Imagination solche Konventionen vergessen ließen und in der Tat auch durch die Jahrhunderte hindurch ,lesbar' geblieben sind - Abenteuerromane, Romanzen und Balladen. Was Ariost, Spenser und Tasso auf dem Höhenkamm einer Umerzählung für würdig fanden und was zugleich als Subliteratur alle Trivialisierung überstand, was in Hegels Bestimmung der Abenleuerlichkeil als Grundtypus des Romantischen eingegangen ist und in Wagners Lohengrin oder Parli!al so seltsam mythisiert wurde, geht zumeist - wie C. S. Lewis zeigte" - auf ein vorchristliches und nichtantikes Erbe (wie die matiere de Bretagne) zurück. So hätte sich ausgerechnet der am wenigsten orthodoxe Textbereich der Literatur des Mittelalters in der Rezeptionsgeschichte als der unverwelklichste erwiesen! Das elementare Bedürfnis nach einer Wunsch welt des Abenteuers und der Liebesbegegnung, des Geheimnisvollen und der Glückerfüllung mag den Erfolg dieser ,Evergreens' der mittelalterlichen Imagination erklären. Doch diese elementare Ebene erschöpft das unmittelbare Vergnügen an mittelalterlichen Texten keineswegs. Ästhetische Erfahrung ermöglicht auch noch auf anderen Ebenen einen Zugang, der einer Brücke historischen Wissens nicht bedarf. Robert Guiette, der den Reiz des Dunklen, noch nicht Aufgelösten ("symbolisme sans signifiance") als die primäre, vom mittelalterlichen Roman implizierte Einstellung beschrieb, hat auch den ästhetischen Reiz der "poesie formelle", die bewußte Freude an der Variation, wiederentdeckt. Seine Ansätze zu einer Rezeptionsästhetik der mittelalterlichen Literatur lassen sich zu einer Skala von Modalitäten ästhetischer Erfahrung zusammenstellen, die den Rezeptionsvorgang nach literarischen Gattungen aufgliedert und die für sie spezifische Einstellung erschließt (siehe XIV): a) liturgisches Drama kultische Partizipation b) geistliches Spiel Schaubedürfnis/Erbauung c) Legende Staunen/Rührung/Erbauung d) Chanson de geste Bewunderung/Mitleid e) symbolische Dichtung Entschlüsselung des Sinns o Roman Lust am Ungelösten (Dunklen) g) Fabliau (Schwank) Unterhaltung/Erheiterung h) höfische Lyrik Genuß der formalen Variation Es liegt auf der Hand, daß dem modernen Leser nicht jede dieser Einstellungen unmittelbar zu Gebote steht. Er kann sich schwerlich ohne die Brücke des katholischen Glaubens in die kultische Partizipation versetzen, die das liturgische Drama voraussetzt. Auch muß er die besondere Sensibilität für das Zeichenhafte, Unsichtbare und Übernatürliche erst wiedergewinnen, die dem mittelalterlichen Leser als "lecteur de symboles" selbstverständlich war. Doch 3 Den erheblich zusammengeschrumpften Katalog mittelalterlicher Texte, die heute noch ein mehr als spezialistisches Interesse finden, hat P.-V. Badel in seiner Kritik an Zumthon Pollique midihaie (in: Poltique Nr. 18, 1974, 259) analysiert und begründet, warum "la saveur qu'on gau te aux ,antiquailIes' .. immer noch ein besserer Zugang zur Literatur des Mittelalters sei als die neue Poetik der Ecriture. 4 The dilCtUded imllge, Cambridge 1964, p. 8/9.
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kann er sie bis zu einem gewissen Grade wiedererlernen, wenn er sich an den Anweisungen des Textes orientiert. Eben darin besteht die eigentümliche Rückwirkung der ästhetischen Verlockung, probehalber eine ungewohnte Einstellung einzunehmen und so den eigenen Horizont der Erfahrung zu erweitern. Für den modernen Leser, der gewohnt ist, an einem Werk das Neue zu bewundern, das es von der bisherigen Tradition abhebt, bedeutet es ferner eine Umkehrung seiner ästhetischen Erwartung, wenn ihm angesonnen wird, sogar endlose lehrhafte Abschweifungen nicht als langweilig abzutun: der mittelalterliche Leser konnte Texte gerade darum genußreich finden, weil sie ihm erzählten, was er bereits wußte, und weil es ihn zutiefst befriedigte, jedes Ding an seinem richtigen Platz im Welt modell vorzufinden'. Das ästhetische Vergnügen an solchem Wiedererkennen setzt freilich den Erfahrungshorizont der für uns nur noch rekonstruierbaren Lebenswelt des Mittelalters voraus. Dem modernen Leser kann es darum nicht ohne historische Vermittlung wieder vorstellbar werden. Bleibt ihm hier der Zugang des unmittelbaren Vergnügens am Text versagt, so gewinnt er doch auf der Ebene der Reflexion zweierlei: eine ästhetische Brücke zu der fremden Lebenswelt, die aus literarischen Quellen wieder zu ihm spricht und eher anschaubar wird als aus historischen Dokumenten, und andererseits die kontrastive Erfahrung, daß Wiedererkennen und nicht nur Innovation den Umkreis der ästhetischen Einstellung bestimmen und bereichern kann. Historisches Wissen hat im Bereich der Philologie indes nicht nur Rezeptionsbarrieren weggeräumt, sondern oft auch neue errichtet. Der Fall des Teso,etto von Brunetto Latini (siehe VII) zeigt beispielhaft, wie eine unerkannte ästhetische Vorentscheidung die historische Bedeutung wie die poetischen Qualitäten eines Gipfelwerks der allegorischen Dichtung verdunkeln, ja dieses überhaupt aus dem Kanon des Oberlieferungswerten ausschließen konnte. Positivismus und Idealismus, unter umgekehrten Vorzeichen der Erlebnisästhetik der Romantik und der Ächtung des Dialektischen verhaftet, teilten hier dasselbe Vorurteil gegen die Nicht-Poesie der allegorischen Darstellung, von deren Gerüst herab "der Verfasser all seine Kenntnisse wie einen Kartoffelsack über uni ausschütte"'. Vosslers Interpretation des Teso,etto erwies sich als ein Kehrspiegel des klassizistischen Geschmacks, interessanter durch das, was er suchte, als durch das, was er an dem vermeintlich hybriden Textgebilde auszusetzen fand: Reinheit des Stils, Einheitlichkeit der Handlung, einsichtige Harmonie zwischen Teil und Ganzem, Einheit von Form und Inhalt, Gestalt und Bedeutung. Der so geschmähte Text wird auch für einen modernen Leser wieder genießbar, wenn man die klassizistische Rezeptionsbarriere abbaut, sich auf die vom Text implizierte Erwartung einstellt und erkennt, in welche Richtung die von Brunetto abgewandelten Spielregeln der Gattung weisen. Dann tritt mit einem Mal das durchaus originelle ,kaleidoskopische' Prinzip der Stilisation, die ironische Position gegenüber der aus Frankreich importierten Allegorie der liebe und als übergreifendes Motiv die hier erstmals sich ankündigende Haltung der Curios;tas ans Licht - jene neue Würde eigenen Fragens, zu der sich das
5 Nach C. S. Lewis, op. eit., p. 200/203. 6 Siehe VII, p. 49.
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allegorische Ich befreit und in der es die Schwelle zur Renaissance überschreitet. Am schwierigsten ist gewiß ein ästhetischer Zugang zu den uns am fernsten liegenden literarischen Formen der mittelalterlichen Allegorese wiederzufinden. Der Verfasser, dereinst genötigt, dem GRLMA zuliebe sämtliche Stücke dieser Gattung im 12. und 13. Jahrhundert zu studieren, gesteht unumwunden, daß er diese Lektüre zeitweilig wie eine Bußübung empfand, für die ihn dann der alles überragende Roman de Itz Rose entschädigte. An ihm war zu entdecken, weicher eigentümliche poetische Reiz darin liegt, das Verhalten einer Dame zu entschlüsseln, deren Wesen hinter einer Folge von Personifikationen versteckt bleibt. Als erste ästhetische Brücke und Ergebnis dieser Sichtung kann man dem modernen Leser eine verkannte Perle wie den Roman de Itz poire oder die scherzhaften Spielformen der Gattung empfehlen (siehe VI). Sie machen es wie alle Parodie oder Travestie - durchaus vergnüglich, sich in die Spielregeln einzuüben und die Einstellung zu übernehmen, die eine nicht mehr vertraute Gattung erfordert. Sie führen uns unmerklich vor den tieferen ästhetischen Grund, der die allegorische Dichtung des Mittelalters, obschon durch kontrastive Erfahrung, auch heute noch oder wieder interessant zu machen vermag: die Anschauung einer inneren Welt, die alles, was für den modernen Leser Ausdruck subjektiven Empfindens ist, als Spiel und Konflikt objektiver Mächte vorstellt.
3. Einführung dn hermeneutischen Begriffs der Alterität Mit dieser Einstellung eines schon reflektierten ästhetischen Genusses, der ein Erkennen des Kontrastes zu moderner Erfahrung voraussetzt, sind wir bereits beim zweiten hermeneutischen Schritt, der Befremdung durch Alterität, angelangt. Dieser Begriff ist nicht zufällig in der Debatte über Paul Zumthors Essai de poetique medievale in den Mittelpunkt des Interesses getreten' . Ich folge in seinem Gebrauch zugleich der Sprachtheorie Eugenio Coserius, um im Blick auf das hermeneutische Problem der mittelalterlichen Literatur die eigentümlich gedoppelte Struktur eines Diskurses zu benennen, der uns als Zeugnis einer fernen, historisch abgeschiedenen Vergangenheit in befremdender ,Andersheit' erscheint, gleichwohl aber als ästhetischer Gegenstand dank seiner sprachlichen Gestalt auf ein anderes, verstehendes Bewußtsein bezogen ist, mithin auch mit einem späteren, nicht mehr zeitgenössischen Adressaten Kommunikation ermöglicht'. Eine Beschreibung dieser Alterität kann davon ausgehen, 7 Vor allem in der Kritik von Peter Haidu, aber auch bei Pierre-Yves BadeI, Wolf-Dieter Stempel und Eugene Vance, siehe Anm. 23. 8 C. Coseriu: Thesen zum Thema .Sprache und Dichtung', in: Beiträge zur Textlinguistik, hg. von W.-D. Stempel, München 1971, 187. Die Sprache mittelalterlicher Texte macht uns als vergangene die Alterität ihrer Welt ansichtig und zugleich, als poetische, über den Zeitenabstand hinweg auch wieder zugä"8lich. Der prinzipiellen übersetzbarkeit vergangener Dichtung steht nur scheinbar entgegen, was sich als Nuance poetischen Ausdrucks nicht getreu wiedergeben läßt. AUes übersetzen steht unter Bedingungen der una~ schließbaren Rezeption, d. h. der fortschreitenden Konkretisation von neuer Bedeutung, angesichts derer das Ideal der ,treuen' oder integralen Wiedergabe des BedeutungSiehaltes eines Textes in seiner vermeintlich vorgegebenen Totalität eine substantialistische Illusion darsteUt.
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daß uns die Literatur des Mittelalters schon darum fremder geworden ist als die der zeitlich ferneren Antike, weil die letztere bis zur Schwelle der Universitätskrise der Sechziger Jahre fast unangefochten den Kanon der herrschenden philologisch-humanistischen Bildung bestimmt hat. Zwischen der Literatur des christlichen Mittelalters und dem ästhetischen Kanon unserer Moderne besteht nur eine illusionäre Kette ,unzerreißbarer Tradition'. Wenn Ernst Robert Curtius ignorieren konnte, daß die Rezeption der aristotelischen Poetik und des ästhetischen Kanons der hinfort klassischen Antike durch den Humanismus der Renaissance fast alle Fäden zur Literatur und Kunst des Mittelalters durchschnitten hat, mag dies sein respektabler Versuch rechtfertigen, dem Einmaliskeitswahn des germanischen ,Dritten Reiches' ein Credo an die Kontinuität lateinischer Bildung des Abendlandes entgegenzusetzen. Die Alterität der mittelalterlichen Literatur ist durch eine ältere lUusion geschichtlicher Kontinuität noch mehr verdeckt worden: durch das evolutionistische GeschichtsmodeD des 19. Jahrhunderts, demzufolge in den volkssprachlichen Texten dieser Epoche Anfang und Wesen aDer späteren Entwicklung der europäischen Nationalliteraturen zu suchen sei. Gewiß fördern auch Vorverständnisse, die post festum als unbegründbar oder ideologisch durchschaubar werden, keineswegs nur ,falsche' Eraebnisse zutage. Das erweist sich daran, in welchem Maße der bisherige Befund einer Uminterpretation fähig ist, wenn sich ein forschungsorientierendes Paradigma material erschöpft hat. Die Chancen einer neuen Erkenntnis der eigentümlichen Bedeutung mittelalterlicher Literatur, die sich an den Kontinuitätsbrüchen dieser Epoche wie an ihrem C'harakter als einer archaischen, politisch wie kulturell ganz für sich stehenden geschichtlichen Welt erschließen kann, werden greifbarer, wenn man an die inhaltlichen Aspekte ihrer Alterität denkt, die das philologische Ideal und der Begriff autonomer Kunst in humanistischer Tradition verdeckt hat. Das philologische Ideal, im Zeitalter nach der Erfindung des Buchdrucks ausgeprägt, setzte unvermerk t literarische Tradition gleich mit geschriebener und gedruckter Überlieferung und hat darum die Existenz einer nicht-buchartigen Produktion und nicht-lesenden, sondern fast ausschließlich hörenden Rezeption weithin übersehen. Der Vorrang des Buchs verleitete nicht nur dazu, die Interpretation als Tätigkeit des lesenden Philologen mit der ursprünglichen Erfahrung des hörenden Publikums gleichzusetzen und damit die konkrete Bestimmung zu verfehlen, derentwegen die Texte verfaßt wurden. Das humanistische Vorbild des klassischen Texts machte das Buch auch zum Werk oder einzigartigen Produkt seines Schöpfers und zog Grundunterscheidungen nach sich, die der autonomen Kunst der bürgerlichen Epoche so selbstverständlich wie dem Literaturverständnis des Mittelalters unangemessen waren: die Unterscheidung von zweckbestimmt oder zweckfrei, lehrhaft oder fiktional, traditionell oder individuell, nachahmend oder schöpferisch. Eine Literatur, deren Texte nicht der klassischen und später der romantischen Einheit von Autor und Werk entsprungen waren und die von der überwältigenden Mehrheit der Adressaten nur hörend, also nicht in der selbstgenügsamen Kontemplation des Lesers aufgenommen werden konnten - diese Aspekte der Alterität des Mittelalters machen allererst deutlich, in wie hohem Maße unser modernes Literaturverständnis durch Schriftlichkeit der Überlieferung, Singularität der Autorenschaft und Autonomie des werkhaft aufgefaßten Textes geprägt ist.
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Die Mündlichkeit der literarischen Überlieferung ist zweüellos eine Erscheinung der Alterität des Mittelalters, die heute keine hermeneutische Anstrengung mehr voll zu gewärtigen vermag. Die Erfindung des Buchdrucks ist - mit Paul Zumthor zu sprechen - das Ereignis, welches mehr als jedes andere die Kultur des Mittelalters als "die Zeit davor" für uns verschlossen hat. Wer als Leser aufgewachsen ist, vermag sich nur mit Mühe vorzustellen, wie ein Analphabet die Welt ohne Schrift gesehen und Dichtung ohne Text aufgenommen und sich an sie erinnert haben kann. Auch wenn uns moderne Massenmedien der mittelalterlichen Erfahrung einer nicht durch das Buch vermittelten Dichtung wieder näher gerückt haben sollten, als es die einsame und stumme Visualisierung einer individuellen Lektüre tat', kann sich der moderne Hörer doch schwerlich in ein Bewußtsein zurückversetzen, das keine andere Wahl hatte, als hörend awzunehmen. Wohl aber vermag uns der Umgang mit mittelalterlicher Literatur ein Vergnügen an Texten wieder zu eröffnen (oder auch zu rechtfertigen, wenn es uns nicht verloren ging), das die humanistische Ästhetik unterschätzt, wenn nicht verpönt hat. Das Sich-Versenken des einsamen Lesers in ein Buch als Werk, das so selbstgenügsam ist, daß es ihm ,die Welt bedeutet', mag die eigentümliche Erfahrung der autonomen Kunst in der bürgerlichen Ära beschreiben. Doch dieses Verhältnis des Individuums zum auratischen Werk erschöpft die ästhetische Erfahrung am literarischen Text keineswegs. Das Vergnügen des Lesers kann heute wie schon beim mittelalterlichen Zuhörer einer Einstellung entspringen, die nicht ein Sich-Versenken in die einzigartige Welt des einen Werks, sondern eine Erwartung voraussetzt, die erst der Schritt von Text zu Text einlösen kann, weil hier die Wahrnehmung der Differenz, der immer wieder anderen Variation eines Grundmusters, Genuß bereitet. Für diese ästhetische Erfahrung, die für den modernen Leser von Kriminalromanen so selbstverständlich ist wie für den mittelalterlichen Zuhörer der Chansons de geste, ist also nicht der Werkcharakter eines Textes, sondern Intertextualität in dem Sinne konstitutiv, daß der Leser den Werkcharakter des Einzeltextes negieren muß, um den Reiz eines schon zuvor begonnenen Spiels mit bekannten Regeln und noch unbekannten Überraschungen auszuschöpfen. Ich habe diese Erfahrung anderenorts die Rezeptionsstruktur des plurale tantum genannt und an Beispielen aus verschiedenen Epochen und Gattungen erläutert·'. Formen einer nicht auf das klassische Werk ideal bezogenen ästhetischen Erfahrung begegnen vor und nach der klassischen Kunstperiode auf Schritt und Tritt. Sie begegnen in der Literatur des Mittelalters sogar in einem Maße, daß das Verhältnis zum Text als Werk sowohl auf der Ebene der Produktion wie auf der Ebene der Rezeption vielmehr die Ausnahme einer Regel darstellt, die einen wesentlichen Aspekt der Alterität dieser Literatur ansichtig macht.
9 EU/li de poItique mldilwlk, Paris 1972, p. 42: "Ia diffusion de I'imprimerie ... donne Je demier coup au vieil univers globalement per~ par tous les sens humains, le dissocie, Je reduit l une perception visuelle et lin6aire. La s~cation de 1'6criture se modifie." Von diesem Epochenwandelgibt die von Th. Gossen ersteUte SchätzullI eine Anschauung, daß am Ende des 15. Jhs. in Frankreich auf etwa 15 Millionen Einwohner etwa 40 000 kamen, die lesen konnten (ib. p. 38). 10 Der ü.r al, Instllllz einer neuen Ge,chichte der LitefGtur, in: Poetica 7 (1975) 341, woraus ich im f. einige Abschnitte übernehme.
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Beginnen wir mit einer alten Crux der romanischen Philologie, dem Problem der ,Einheit des Rolandslieds'. Hier mußte die lange vorherrschende Forschungsrichtung. die sich für streng positivistisch hielt, die ruinöse Kritik von Eug~ne Vinaver einstecken, der ganze Streit und Niederschlag von mehr als tausend Abhandlungen, die seit der Romantik über die Verfasserfrage geschrieben wurden, habe kein Fundament in der Sache, sondern sei die undurchschaute Folgeerscheinung einer implizit angewandten Ästhetik, die jeder französische Positivist seit seinen Schulstunden über Corneille mit sich herumtrage". In der Tat steht die alt romanische Epik in einer fließenden Oberlieferung, die nicht auf die geschlossene Gestalt von Werk oder Original und unreinen oder verderbten Varianten zurilckführbar ist und darum auch besondere Editionstechniken erfordert. Als Vortragsdichtung im ,style formulaire', die mehr oder weniger improvisierte, so daß jede Aufführung eine etwas verschiedene, niemals endgültige Gestalt des Textes hinterließ, wurde die tCll1lnlOn d~ geste in Raten mit FortsetzuDgsstruktur dargeboten 11. Die weiterwuchernde Zyklisierung tat noch ein übriges, die Werkgrenzen als beweglich und beiläufig erscheinen zu lassen. Als nicht endgültig konnte aber auch die epische Fabel selbst angesehen werden. Beim Zyklus des ROl7Uln de RenaTt stieß ich auf die merkwürdige Erscheinung, daß der Kern des Zyklus, die Fabel vom Hoftag des Löwen, nicht weniger als achtmal umerzählt wurde. Auf diese Weise wußte eine Reihe von Nacherzählern dem Gericht über den listenreichen Fuchs immer wieder einen anderen Anlaß und einen anderen Ausgang zu geben. Was die positivistische Forschung als eine Serie von ,verderbten Varianten' zu einem verloren gegangenen Original ansah, konnte vom mittelalterlichen Publikum als eine Folge von Fortsetzungen aufgenommen werden, die trotz ständiger Nachahmung ein immer wieder neues Spannungslement zu entfalten wußten (siehe 11, 111, IV). Dieses Prinzip, das dem humanistischen Verständnis von Original und Rezeption, Reinheit des Werks und Treue der Nachahmung, völlig zuwiderläuft, findet sich im Mittelalter nicht allein auf der Ebene der volkstümlichen Literatur des niederen Stils. Auch die großen lateinischen Werke des hohen Stils der philosophisch-theologischen Epik, die in der Nachfolge der allegorischen Tradition des Claudian und des Boethius im XII. Jahrhundert von der Schule von Chartres geschaffen wurden, De unil1e"itate mundi von Bernhard Silvestris, der Pillnctul Naturae und der Antic/Qudianul von Alanus von Lille, an welche im XIII. Jahrhundert der Rosenroman und schließlich Brunetto Latini mit seinem Teloretto anknüpfen, können nach dem Prinzip der Weiterführung in der Nachahmung erklärt und als Fortsetzungen der einen allegorischen Fabel interpretiert werden (siehe VII). Dabei erwies sich die Frage nach der Erneuerung des Lebens im Fortgang der Welt als das Movens der literarischen Reihe: sie konnte im mythischen Gewand der Klage der Natura immer wieder neu motiviert und gelöst, aber auch kritisch gegen einen Vorginger gewendet werden, um seine von ihm selbst nicht durchschaute Mythologie aufzudecken. 11 A '" Ttcherche d'lIlIe poltiqlle mldilWlle, Paris 1970. 12 Diese Einsichten verdankt die romanische Philologie lean Rychner, der mit seiner Pionierarbeit: lA ClullllOlI de Kate - Elllli "" l'tut Ipique des jo"6leun, Genf 1955, einen Paradigmenwechsel in der romanistischen Epenforschu. auslöste (siehe XI).
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Was das geistliche Spiel betrifft, braucht hier nur daran erinnert zu werden, daß es sein Telos nicht in der in sich selbst geschlossenen Ganzheit eines frei geschaffenen Werks, sondern in der Heilsgeschichte hatte, auf deren Ereignisse es sich kommemorativ in festlicher Wiederkehr bei jeder AuffUhrung bezog. Im Textbereich der volkssprachlichen Lyrik gehört nicht allein die Verbreitung in ,Liederblättern' oder die nach Spielregeln im öffentlichen Wettstreit improvisierte Tenzone, sondern sogar die schon zu den Anfängen autonomer Kunst zu rechnende poene formelle der Kanzone zu den Erscheinungen mittelalterlicher Intertextualität, sofern sie - wie noch das Fehlen einer definitiven Gestalt in der Textüberlieferung (Strophenumstellungen etc.) bezeugt - nicht werkhaft isoliert, sondern als plurale tantum mit dem ästhetischen Reiz der Variation von Text zu Text aufgenommen wurde (siehe XIV). J. Alles in allem bestätigen diese Beispiele einen schon von C. S. Lewis erhobenen Befund: "We are inclined to wonder how men could be at once so original that they handled no predecessor without pouring new life into him, and so unoriginal that they seldom did anything completely new.,,14 Das singulare Werk ist im mittelalterlichen Literaturverständnis gemeinhin weder als einmalige, in sich geschlossene und endgültige Gestalt, noch als individuelle, mit niemand anderem zu teilende Hervorbringung seines Urhebers anzusehen. Solche Kategorien der klassischen Produktionsästhetik hat erst die Renaissance proklamiert, nachdem der Werkcharakter der Dichtung eine neuartige Aura erlangt hatte - die Einmaligkeit des in ferner Vergangenheit verborgenen Originals, dessen reine Gestalt erst zu suchen, aus den Entstellungen seiner Benutzung durch die Zeiten hindurch zu rekonstruieren und vor künftiger Profanierung durch eine edirio ne varietur zu bewahren war. Wenn es sich bestätigen läßt, daß die klassische Gleichsetzung von Werk und Original überhaupt erst humanistischen Ursprungs ist, ließe sich daran eine Hypothese für die Entstehung des Begriffs der autonomen Kunst in der bürgerlichen Ära anschließen: hat hier die aufsteigende bürgerliche Klasse etwa geglaubt, sich in Abhebung vom Humanismus wie von der repräsentativen Kunst der Fürstenhöfe aus eigenem Vermögen Kunstwerke in Gestalt von gegenwärtigen Originalen schaffen zu sollen, die mit den vergangenen, nicht mehr vermehrbaren Originalen der Antike die Konkurrenz aufnehmen konnten'!
4. Alrerität des mittelalterlichen Welrmodells Eine weitere Herausforderung der literarischen Hermeneutik liegt in der Alterität eines Weltverständnisses, das C. S. Lewis so eindrucksvoll in seinen vorkopemikanischen Zügen vor Augen zu stellen wußte l s. Der historischen 13 Für den Prosaroman des 13. Jahrhunderts hat D, Poirion das Fehlen einer werkhaft fixierten Form ins Licht gerückt: die verschiedenen Unterteüunaen und Illustrationen der verschiedenen Manuskripte ergeben ebensoviele Interpretationen durch die Schreiber, und auch der praktische Gebrauch zeilt solche Bücher als "instrument qu'on manipule, feuillette, consulte, lit lentement jour apr~s jour" (Ro,""n en vers er ROmlln en prose, in: GRLMA Bd. IV/1, Heidelberg 1977). 14 TheDilc4rded Jmllge, Cambridlc 1964, p. 209. IS 'I1Ie Dilc4rded Jlflllge, op. cit., p. SI ff., ferner ImtlgiNltion and 'l'houghr in rhe Middle Ages, in: Studies in Medieval and Reruzisllmce Literature, ed. W. Hooper, Cambridse 1966,41-63.
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Rückschau erscheint die Situation des mittelalterlichen Menschen zugleich archaisch und traditionsbeladen, gleichweit entfernt von den Mythen und Ritualen primitiver Lebenswelten wie von den Systemen und Rollen der industriellen Gesellschaft, von elementarer Unwissenheit wie von modernem Wissen, das auf Beobachtung beruht. Genötigt, mit den Widersprüchen der antiken Bildung und des christlichen Glaubens fertig zu werden, die das Nicht-Unterscheiden der verschiedenen Wahrheitsansprüche von religiösen, poetischen oder philosophischen Texten noch verschärfte, hat die mittelalterliche Kultur ein Modell entwickelt, das erlaubte, ,die Phänomene zu retten' und die Widersprüche heterogener Autoritäten derart zu harmonisieren, daß man dieses Weltmodell des Mittelalters als sein größtes Kunstwerk der Summa von Thomas von Aquin und Dantes Divina Commedia an die Seite stellen kann. Entgegen einer romantischen Erwartung wäre der mittelalterliche Mensch weniger ein Wanderer und Träumer als ein Kodifikator und Systembildner gewesen, stets darauf bedacht, für jedes Ding einen Platz und den richtigen Platz für jedes Ding zu finden, und nicht eher befriedigt, bis auch Erscheinungen wie Liebe oder Krieg bis ins letzte kodifiziert waren. Es liegt auf der Hand, daß die Rekonstruktion dieses uns so fernen Weltmodells von der kollektiven Imagination des Mittelalters und damit von seiner poetischen Welterfahrung mehr zu erkennen gibt als der Höhenkamm der Ideengeschichte oder als der Unterbau seiner ökonomischen Verhältnisse. Der am meisten überraschende Befund bei C. S. Lewis ist wohl, daß der Platz des Menschen im Universum von der theologischen Lehre einerseits und der Kosmologie des Weltmodells andererseits verschieden bestimmt wird: für die erstere stand er in der Mitte, für die letztere am Rande des Raumes! 16 Folgt man der Anleitung von C. S. Lewis, sich einmal den vorkopernikanischen Blick auf den Kosmos auszumalen, so liegt die Alterität darin, daß der mittelalterliche Betrachter nachts in den Sternhimmel wie über die äußere Mauer in eine Stadt hinein- und hinaufblickt, wo wir hinausschauen, daß ihm das ganze Universum als eine begrenzte, schön gestufte und mit engelhaften Wesen bevölkerte Ordnung von Räumen erschien und von Licht wie von Sphärenmusik erfüllt war, wo wir angesichts des unendlichen, leeren, dunklen und stummen Weltalls Pascals Horror vor dem lilence eternel de ces espaces in/inu empfinden. Dazu gehört ferner, daß für ihn das Reich der Natur auf die Sphäre des Veränderlichen unterhalb des Mondes beschränkt blieb, was Natura für ihre erstaunliche Karriere im Platonismus von Chartres freigesetzt hat, während für uns das Naturgesetz zwar das ganze Universum beherrschen soll, die Natur selbst aber poetisch seit der Abdankung der imitatio naturae nichts mehr bedeutet. Der hierarchischen Stufung der Wesen in der Kosmologie und dem triadischen Prinzip, das zwischen Gott und Mensch, Seele und Körper, wie überhaupt zwischen allen Extremen, stets Instanzen der Vermittlung fordert, entspricht eine Vorstellung des Wandels der Dinge, die dem modernen Begriff der Evolution gerade entgegengesetzt ist: während es flir die mittelalterliche Kosmologie axiomatisch 16 "Their theology might be thoupt to imply an Earth whieh counted Cor a good deal in the universe and was central in dignity as weU as in space; the odd thina is that their eosmology does not, in any obvious sens, encourage this view", Inwgilultion lind Thought ... , op. eiL, p. 46.
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war, daß die vollkommenen Dinge allen unvollkommenen vorausgehen, gilt für die Entwicklungslogik der modemen Naturwissenschaft, daß das Anfängliche keinen ontologischen Vorrang über das aus ihm Hervol'legangene haben kann (,primitiv' hat nicht zufällig pejorative Bedeutung für uns angenommen)·'. Darum hatte auch der Gegenstand der Kunst für den mittelalterlichen Autor eine immer schon "in ihn eingebaute" Bedeutung; er brauchte sie nicht erst zu suchen, geschweige denn sie einer bedeutungsfremden Realität selbst zu verleihen l l • Er schrieb in der eigentümlichen humilitas des mittelalterlichen Dichters, um seinen Gegenstand zu ehren und weiterzureichen, nicht um sich selbst auszudrücken oder um seinen persönlichen Ruhm zu erhöhen". Die Einsichten in das Weltverständnis des Mittelalters, die wir C. S. Lewis verdanken, sind als hermeneutisches Instrument für die Interpretation der Dichtung wie der Lebensformen noch kaum ausgewertet. An die Seite von The ducarded image zu stellen wäre heute das Werk eines Historikers, der die vergilbten Kulturgeschichten durch eine sozialgeschichtliche Fragerichtung ersetzt und mittels strukturaler Interpretation zeitlich kontrastierter Quellen die kommunikative Seite sozialer Verhaltensweisen ans Licht gerückt hat: Amo Borsts LebefUformen im MitteIllIter ( 1973). Die von Lewis nur angedeutete Zwischenstellung des Mittelalters gegenüber der antiken Zivilisation, gegenüber seinen archaischen Verwandten wie gegenüber den neuzeitlichen Gesellschaftsformationen, wird hier in ihrer Alterität geradezu anschau bar herausgearbeitet. Den Literaturhistoriker im besondern geht die These Borsts an, es sei ein Kennzeichen mittelalterlicher Äußerungen, "daß sie lebendige Menschen in eingeübten Verhaltensweisen mit Vorliebe darstellen", so daß diese Epoche als paradigmatisches "Zeitalter verwirklichter und wirksamer Lebensformen" gelten könne, während ,,Lebensform in der Antike vorwiegend als ethische Forderung, in der Neuzeit zunehmend als belangloser Zustand verstanden wurde ll30 • Zur Unterbauung dieser These kann der Bereich von Literatur und Kunst gewiß noch mehr beitragen, wenn man sich nicht mit dem - oft geringen - Quellen· wert ihrer abbildenden Funktion begnügt U , sondern nach der Leistung mittel· alterlicher Texte und Kunstwerke für die Bildung, Übermittlung und Legitimation sozialer Normen fragt. Sobald sich die geschichtliche Betrachtung von der beengenden Ästhetik der Widerspiegelung befreit, die der Alterität dieser Epoche besonders unangemessen ist, tritt die latente Geschichte der ästhetischen Erfahrung ans Licht. Diese noch ungeschriebene Geschichte steht dem langsamen Wandel sozialer Verhaltensweisen gewiß näher als der großen Geschichte der Ereignisse und Handlungen. Sie dürfte darum gerade in der so fernen Lebenswelt des Mittelalters uns fremd gewordene Lebensformen erschließen. Ästhetische Erfahrung gewinnt diese hermeneutische Funktion nicht 17 T7r~ dllctUdtd imag~, op. eit. p. 220. 18 Ibid. p. 204. 19 Th~ dllCllnled imtlg~. op. eit., p. 211: ..For the aim is not selfexpression or ,creation'; it is to hand on the ,historial' matter worthily; not worthily of your own genius or of the poetie art but of the matter itself." 20 uMn,/orfMn im Mill~iIIlt~', Frankfurt/Berlin 1973. p. 20/21. 21 A. Borst bevorzugte darum Wort· und Sehriftquellen, unter Hinweis darauf, "daß mittelalterliche Kunstwerke die Lebensformen atmosphärisch illustrieren, sie aber nicht in dem Risiko ihres Vollzugs abbilden" (op. eit., p. 22).
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allein durch die idealisierende und bewahrende Leistung der Kunst, sondern auch als Medium der Antizipation und Kompensation. Eines der schönsten Beispiele für die antizipatorische Funktion ist die literarische Vorwegnahme der ehelichen Liebe seit Chretien de Troyes, die nach dem Zeugnis von Abaelardus und Heloissa im 12. Jahrhundert noch keine sanktionierte soziale Verhaltensweise war und erst im Spätmittelalter als Lebensform anerkannt wurde, als die neue Gemeinschaft der Hausfamilie die frühmittelalterliche Sippenfamilie abgelöst hatte u . Auf die Bedrohung des Lebens antworteten nicht allein die Religion und die Sicherheit verbürgenden Konventionen des Zusammenlebens, sondern auch die Erfahrung der Kunst. Sie vermochte das abstrakte Dogma wie das alles regulierende Welt modell zu verbildlichen, den Menschen vom Druck der Autoritäten zu entlasten und seinen Glücksanspruch noch in anderer Weise zu befriedigen als die Tröstungen und J enseitshoffnungen der Religion. Nicht erst Dantes Di..ina Commedill, schon die bescheidensten Texte der sich von der biblischen Exegese ablösenden religiösen Allegorie, Didaktik und Visionsliteratur , wie andererseits die konkurrierende höfische und weltliche Dichtung in der Volkssprache, die sich im 13. Jahrhundert der allegorischen Form bemächtigte, haben für ein breites Publikum das Symbo!system der mittelalterlichen Weltdeutung anschaubar gemacht (siehe V). Allegorie, für den modernen Leser kaum mehr als ein seltsam abstraktes, bald ermüdendes Operieren mit personüizierten Begrüfen, konnte für das mittelalterliche Publikum die Tugenden und Laster, aber auch die neu entdeckte innere Welt der Leidenschaften, die unsichtbare Stufenordnung religiöser Instanzen, aber auch die von der Troubadourpoesie verheißene und vom Rosenroman ins Bild gesetzte Glückswelt der LiebeserfUllung vergegenwärtigen. Was uns durch Unanschaulichkeit, katalogartige Exzesse und fehlende Spannung befremdet, ist nurmehr die Kehrseite einer Poesie des Unsichtbaren, die wohl den eigentümlichsten Zug der Alterität des Mittelalters bildet. Wie unangemessen, ja irreführend es ist, Literatur und Kunst dieser Epoche pauschal nach den modernen ideologiekritischen Kategorien von Affirmation oder Negation des Bestehenden zu beurteilen, kann unter anderem im Blick auf das kosmologische Weltmodell gezeigt werden. Die Dichtung und Allegorie der höfischen Liebe, die als poetisch vermittelte Lebensform mit den religiös sanktionierten Institutionen von Ehe und geschlechtlicher Liebe konkurrierte, ohne indes deren Normen ausdrücklich zu negieren, hat eine eigene Topographie entwickelt, die auf interessante Weise sowohl von dem theologischen wie von dem kosmologischen Weltmodell abweicht. An der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert kehrt die Minneallegorie das Modell der antiken Epithalamien gerade um: nicht mehr die Götter, Venus und Amor, erscheinen dem menschlichen Paar von außen kommend, sondern der Liebende selbst macht sich auf den Weg, um den Liebesgott in seinem Reich aufzusuchen. Dieses Reich aber, topographisch und ethisch mit seinen drei Jenseitsbereichen und der richtenden Funktion des Liebesgottes eine vollständige Kontrafaktur der christlichen Weltordnung, hat sein paradi,u, amori, im innersten Kreis und bildet damit eine 22 Nach A. Borst, op. eit., p. 65/70, und R. R. Grimm: Die PaTtldle,e,ehe. Eine erotüche Utopie des Mittelllltns, in: Fest,chrift W. Mohr, Göppilllen 1972, S. 1- 25.
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poetisch-mythologische Gegenfigur zum christlich-ptolemäischen Weltmodell, in dem das himmlische Paradies die äußersten, alles umfassenden Sphären einnahm (siehe V, Kap. S).
5. Gegenwärtige An.rätze zu einer Erneuerung der Mediävistik Entgegen der Erwartung, das symbolische System der mittelalterlichen Weltauslegung sei von einer Geschlossenheit, die alles Heteronome kategorisch - paien ont tort et chrestien ont dreit (Roland, v. IOIS) - als heidnisch, ketzerisch, böse und unwahr von sich weist, scheint also die Dichtung - Andreas Capellanus, der Theoretiker des tin amor ist hier keine einsame Ausnahme - durchaus die Lizenz zu Grenzüberschreitungen beansprucht zu haben. Zumthors provokative These: "La reference du texte, c'est la tradition. C'est par rapport a elle que se definit la signifiance" wird dieser transgressiven Leistung der ästhetischen Erfahrung nicht gerecht, obschon gerade seine Poetique medievale eine neue Brücke zwischen Alterität und Modernität des Mittelalters geschlagen hafu . Auch wenn die poetische Tradition als der immer schon vorgegebene Kode sich im Sprachspiel der Formen und ,Register' stets wieder an die Stelle erwartbarer Wirklichkeiten ("realites referentielles") setzt und die individuelle Stimme auf ein allgemeines grammatisches und anonymes Ich zurückgenommen wird, geht die lyrische Erfahrung gleichwohl über die affirmative Funktion, die Autorität des Weltmodells als einzigen Ursprung von Sinn nurmehr zu bestätigen, immer wieder hinaus. Nimmt man den Text - entgegen der neuen Metaphysik der Ecriture - nicht als ens causa sui, sondern als Vehikel der Kommunikation, so vermag das aufnehmende Subjekt sowohl im Genuß der formal~m Variation die Genese neuer Bedeutung zu entdecken, als auch der Differenz gewahr zu werden, die zwischen der poetischen und der nicht-poetischen Tradition, der Unbotmäßigkeit des Schönen und dem autoritativen Sinn des Weltmodells immer wieder, also nicht erst bei Zumthors letztem, auf Villon datierten Akt eines "ec1atement du discours" entsteht. Gerade weil der Text mittelalterlicher Lyrik - konträr zur Ästhetik und poetischen Praxis der modernen Ecriture - kein autonomes Werk oder copy-right beanspruchendes Original 24 , sondern ein plurale tantum, d. h. auf Variation und fortschreitende Konkretisation von Bedeutung angelegt ist, vermag hier der poetische Diskurs im Spiel mit dem Kode den Sinn des Kodes zu bereichern und damit zu übersteigen. Hätte Zumthor diesem verschiedenen Status des nicht-werkhaften Textes Rechnung getragen, so wäre die hermeneutische Differenz seinen Interpretationen zugute gekommen. die jetzt durch die unreflektierte Symbiose von mittelalterlicher und moderner ,Poetizität' noch um eine Dimension der Deu23 ESlai de po~/ique m~di~"ale, Paris 1972, p. 117; im folgenden nehme ich die kritische Debatte wieder auf, die gefUhrt wurde von: P.-V. Badei: Pourquoi une poItique mIdihaie? in: Po~tique 18 (1974) 246-264; P. Haidu: Making il (new) in Ihe Middle Ages - Towoms a problemtllics 0/ Allerily, in: Diacritlcs. summer 1974; E. Vance: The Modernily 0/ Ihe Middle Ages in the FUlure, in: The Romanic Review 64 (1973) 140-151; W.-D. Stempel, in: Archivf. d. Sludiumd. neueren Spr. u. Lil. 210 (1973) 445-452. 24 Siehe dazu E. Vance, op. cit. p. 147.
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tung verkürzt sind. Neue Einsicht in die Alterität des Mittelalters und neue Selbsterkenntnis unserer Modernität bedingen sich im hermeneutischen Zirkel gegenseitig. Die neue Poetique medievlIle zeigt sowohl die mittelalterliche wie die moderne Lyrik in neuem Licht: die erstere kann nunmehr in der "circula rite du chant", als Spiel der Sprache mit sich selbst und über sich hinaus, gewürdigt, die letztere damit konfrontiert werden, daß der mittelalterliche Dichter sich unversehens als noch moderner erweist, als es sich die Autoren der Editions du Seuil mit dem vermeintlichen Anonymat ihrer hypostasierten Texte träumen ließenU. Weist die implizite Hermeneutik Zumthors auf eine Vorentscheidung, derzufolge das Kontinuum einer unüberholbaren poetischen Tradition, alias: die Ecriture gegenüber der Pllrole, der Ursprung von Sinn ist, so läßt sich auch die Umkehrung denken, daß für die Vermittlung von Alterität und Modernität des Mittelalters ..die Disjunktion ... der Ort ist, an dem Bedeutung manifest wird". Diesen Ansatz hat unlängst Walter Haug in einer programmatischen Antrittsvorlesung durchgespielt 2l • Pate steht dabei die Ästhetik Bert Brechts, vertieft durch Walter Benjamins Hermeneutik der dialektischen Montage. Disjunktion wird in dreifacher Hinsicht behauptet: historisch als Augenblick, in dem Bedeutungsvermittlung abbricht (zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Literatur z. B. mit der Verleumdung des Allegorischen im späten 18. Jahrhundert), hermeneutisch als phänomenologische Entsprechung ähnlicher ästhetischer Erfahrungen bei divergierenden Vorzeichen ( ..die Aktualität der Gegenwart wirft ihr Licht auf historische Korrespondenzen und kommt über diese als über ein Anderes zu ihrem Selbstverständnis")2'7 und für die Interpretation mittelalterlicher Texte selbst, als ..Widerspruch zwischen Bedeutung5einschuß und linearer Darstellung"u. Gegen die Begründung der ersten und der zweiten Disjunktion habe ich nichts einzuwenden, es sei denn, daß die für solche Korrespondenzen gebrachten Beispiele nicht eigentlich "phänomenologisch" sind, weil sie immer schon der Vermittlung durch moderne ästhetische Reflexion entspringen, so daß die präreflexive Ebene als unmittelbarer Zugang der ästhetischen Erfahrung verschenkt wird. Wohl aber scheint mir Haugs dritte Disjunktion das Verhältnis von religiöser und ästhetischer Erfahrung im Mittelalter eher zu verdecken als zu klären. In dieser Epoche ist die Brechung der Kontinuität keineswegs der für Dichtung spezifische Ort der Manifestation von Bedeutung. Vielmehr pflegt sich im Mittelalter eine gegenläufige Bewegung der ästhetischen Bedeutung zunächst und zumeist durch die Bildung und Vollendung von Kontinuität von religiöser Erfahrung abzusetzen, die ihrerseits gegen solche Selbstgenügsamkeit in der Bewährung des Humanen den evangelischen Appell zur weltverneinenden Umkehr richtet. Der Weg des Aventüre-Ritters wird nicht erst durch die Episode eines .. allegorischen Umbruchs" (Iweins Sturz in das eigene Schwert, Erecs Konfrontierung mit Mabonagrin) bedeutungsvoll; er ist schon von Anbeginn durch den Anspruch exemplarisch, sein 25 E. Vanee, op. eit., p. 146. 26 tJb~, die B~ICh4ftigu1l6 mit mltt~liIlt~rlichn Lit~",tu' ""ch ~in~, L~ktün dn üth~· tisch~" Schrlft~" Berthold Br~chtJ. in: Tübingr, Fonchll1l6D1 Nr. 78/79 (1974) 1-5 (Zitat p. 5 a). 27 Ib. p. 5 b. 28 Ib. p. 4 a.
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Wesen im Horizont des Außeralltäglichen von Zufall und Erwählung, rel adpentura und propidentia Ipeciali& zu erfUllen, also durchaus in Analogie zur Vita des Heiligen, aber gegenläufig durch das Telos einer innerweltlichen Identitätsfindung 2t • In solcher Gegenläufiakeit muß auch gesehen werden, was Haug als "Nachwirkung" von Denk- und Darstellungsmustem der biblischen und theologischen Exegese auf die weltlich-mittelalterliche Epik im Blick hat JO und mit modernen Verfremdungstechniken zu verrechnen sucht. Dabei ist ihm die hermeneutische Differenz der gerade entgegengesetzten Vorzeichen des Weltverständnisses völlig bewußt: "Dem Mittelalter (. .. ) ist die Disparatheit und Gebrochenheit der Phänomene vorgegeben; und so stellt sich hier gerade die Aufgabe, Kontinuität und Identität zu erreichen (. .. ) In einer historischen Position wie der von Brecht eingenommenen hingegen, von der aus eine dominierende Kontinuität von vorneherein als das Inhumane erscheint, bleibt nur die Möglichkeit, die Kontinuität aufzubrechen"ll. Die Ausgangsposition des Mittelalters läßt sich aber nur insoweit auf den Nenner der Disparatheit und Gebrochenheit bringen, als die Exegese die Glaubenswirklichkeiten von Fall, SÜl1de, Umkehr und Erlösung gegen alle immanente Kontinuität der Welt radikalisiert. Demgegenüber wäre dann auch schon das von C. S. Lewis rekonstruierte mittelalterliche Weltmodell mit seinen harmonisierenden Leistungen eine ästhetische Vergegenständlichung. Soweit zu gehen setzte indes einen reliaiösen Rigorismus voraus, der im Mittelalter eher bei Häretikern des evangelischen Lebens als im Schoße der Kirche und Lehrgebäude der Theologie zu suchen wäre, wo - nebenbei angemerkt - die Deutung der Welt auf einen heilsgeschichtlichen Sinn keineswegs quer zur Deutung auf exemplarisch-moralische Verhaltensweisen stehen mußte: die erstere pflegte die letztere als Legitimation zu überbauenu. Im übrigen zeigt gerade die an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert von der Bibelexegese sich ablösende weltlich-allegorische Dichtung, daß die Art der Nachwirkung mehr und mehr eine Form der Konkurrenz annahm, greifbar im - selbstverständlich unausgesprochenen - Ehrgeiz der weltlichen Dichter, dort ästhetische Konsistenz herzustellen, wo die Exegese einen Umbruch der natürlichen Lebenseinstellung erforderte. Zwiespältig ist das Aufgreifen des Mitleid-Motivs im geistlichen Spiel. Man kann in Figuren wie Maria Magdalena oder Longinus, die zur Identifikation mit Mitfühlenden auffordern, auch schon eine ästhetische Grenzüberschreitung statt einer neuen Form religiöser Erfahrung sehen Jl • Denn die von Haus aus christliche Tugend des Mitleids bleibt dogmatisch ja an die gloria palsionis und an das göttliche ius talionil gebunden. Die Geschichte der Jenseitsvisionen bis zur Di,ina Commedill zeigt eine auffällige Entfaltung des Mitleid-Motivs, welches sich mehr und mehr aus der dogmatischen Bindung gelöst hat, wenn es Dante schließlich zu einem Grundkonflikt seines Jenseitswanderers ausgestaltet 29 Der Löwe im 1'I«/n (bei Haug p. 3 b), der beinahe Selbstmord begeht, kann auch als kontrastive Spiegeluna auf das Schuldbewußtsein seines Herrn bezogen werden, was die Komik zumindest ambivalent macht. 30 Ib. p. 2 b. 31 Ib. p. 3 b, 4 b. 32 Zu p. 2 a. 33 Zu Haul p. 3 c.
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(siehe XIII). Der dogmatische Satz: Qui vive la pieta quand' eben morta (lnf. XX, 28) kann diesen Konflikt nurmehr dogmatisch beheben; der Widerspruch, den die ästhetische Lizenz zwischen göttlicher Rechtsmetaphysik und menschlichem Mitleid aufdeckt, und nicht die dogmatische ,Lösung', ist das Movens zukünftiger Interpretation. Man kann diesen Fall durchaus dafür verbuchen, was uns im Lichte von Brechts Ästhetik (Die Stückeschreiber, die die Welt als eine veränderliche und veränderbare darstellen wollen, müssen sich an ihre Widersprüche halten. denn diese sind es. die die Welt verändern und veränderbar machen) an der mittelalterlichen Literatur wieder interessant werden kann J4 • Nur dürfte dieser hermeneutische Schlüssel, der vor allem Grenzerscheinungen einer überraschenden Modernität oder besser: historischen Korrespondenz zu greifen vermag, schwerlich genügen, um die Alterität mittelalterlicher Literatur in ihrer Mitte ansichtig zu machen - dort nämlich, wo es ihr darum geht, nicht die Widersprüche, sondern die Ordnung und verborgene Harmonie der Welt dazustellen. Auch in dieser Alterität steckt flir uns heute vielleicht wieder ein Stück Modernität, vorausgesetzt, daß nicht allein Veränderung, sondern auch Dauer ein Verständnis der Welt ermöglicht.
6. Modernität in der Alterität als neues Frageinteresse Die kritische Erörterung von Ansätzen zu einer Erneuerung der mediävistischen Literaturwissenschaft sollte über einigen Differenzen nicht das gemeinsame Frageinteresse vergessen machen. Auf die kürzeste Formel gebracht, ist es ein neuer Versuch, die Modernität mittelalterlicher Literatur in ihrer Alterität zu entdecken. Es bedarf kaum der Bemerkung, daß ,Modernität' dabei von den unkritischen Weisen einer Aktualisierung abzusetzen ist, die ein gegenwärtiges Interesse geradezu aus der Literatur der Vergangenheit bestätigt finden will. Gegenüber solchem Modernismus meint Modernität die Erkenntnis einer Bedeutung mittelalterlicher Literatur, die nur im reflektierten Durchgang durch ihre Alterität zu gewinnen ist. Der Modellcharakter, den das Feld dieser literatur für die gegenwärtige Theoriebildung und interdisziplinäre Forschung der Humanwissenschaften gewinnen könnte, läßt sich vorläufig wohl so beschreiben, wie ich es anderweitig im Blick auf den begonnenen Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters schon einmal versucht habe. Das Mittelalter weist in seiner Literatur folgende Züge auf, die sich in gleich beispielhafter Ausprägung gewiß nicht häufig vereint finden: "das Modell einer in sich geschlossenen Kultur und Gesellschaft, in welcher Kunst und Literatur noch in der Praxis ihrer normbildenden Funktionen greifbar sind; der zugleich archaische und schulartig gebildete Charakter dieser Kultur, in der sich der Kosmopolitismus der lateinischen Schriftlichkeit mit der Alltagsfunktion der gesprochenen romanischen Regionalsprachen überkreuzt; der Konservativismus einer Literatur, die fern von aller Aristotelesrezeption ihr eigenes Nachahmungsprinzip und Literatursystem entwickelt und gegenüber der Antike und fremden Kulturen eine erstaunliche Aneignungskraft aufweist; das vorgeprägte, kaum veränderliche Ausdruckssystem dieser Literatur, die ihren eigenen Weg 34 Ausgangszitat von W. Haug, aus B. Brecht. GeStlmme/te Werke, Frankfurt 1967, Bel. 16, p. 960.
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vom Zeichen zum Symbol durchmißt und dabei doch eine bewegliche Ordnung von gattungshaften Mustern und ,Tönen' hervorbringt, an denen sich die kommunikative Leistung der Literatur einer sich formierenden Gesellschaft entfaltet ..... Wo die Interpretation mittelalterlicher Texte aus meiner Sicht ansetzen könnte, um Aspekte solcher Modernität näher zu bestimmen, die sich unserer Gegenwart über die Brücke ästhetischer Erfahrung eröffnen, möchte ich im Folgenden für die Gebiete kurz umreißen, die mir aus eigener Forschung vertraut sind.
7. Tierdichlung ab Schwelle zur Individuation Die Tierdichtung des Mittelalters stand in der Forschungsgeschichte bis zur Gegenwart wie kaum ein anderer Textbereich unter dem ungebrochenen Impuls des philologischen Paradigmas der deutschen Romantik. Während die Epenforschung die Krisen mehrerer Paradigmenwechsel durchlaufen hatte (siehe XI), repristinierte hier die letzte Auseinandersetzung zwischen Voretzsch und Foulet im Grunde immer noch die von den Brüdern Grimm entdeckte Unterscheidung von Volks- und Kunstpoesie. Das Vorverständnis der deutschen Forschung insbesondere beruhte auf dem romantischen Begriff einer Anfänglichkeit, die prähistorisch in der Ursprünglichkeit einer germanischen ,Tiersage' gesucht und ästhetisch in der schmucklosen Reinheit und Naivität der sogenannten ,Tiermärchen' gesehen wurde. Dem setzte die französische Forschung nach dem Vorbild Bediers die historisch bezeugte Entwicklung des Roman de Renart als einen literarischen Prozeß entgegen, der sich genetisch aus äsopischen Quellen und dem lateinischen Vorbild des Ysengrimus erklären sollte. Die Alterität mittelalterlicher Dichtung ist mir zum ersten Mal daran aufgegangen, daß sich die romantische Deutung der Tiermärchen - die Naturpoesie eines anfänglichen Einvernehme ns von Mensch und Tier - wie die antiromantische Auslegung des Tierepos - die satirisch ausgesponnene Fabel vom Hoftag des Löwen - auf ein nicht offen zutage liegendes Interesse der Verfasser und ihres mittelalterlichen Publikums zurückführen ließ. Es ist nicht das Leben der Tiere in der Natur, sondern es sind die nalurae el mores hominum, die im Spiegel der einfachen wie der literarischen Formen der mittelalterlichen Tierdichtung auf eine neue Weise entdeckt werden. Das Vergnügen an den Geschichten von Renart und Y sengrin war hintergründiger als die Freude über die einfachen Verhältnisse und natürlichen Eigenschaften der Tierwelt: es entsprang der ästhetischen, moralischen und am Ende auch politischen Reflexion über das, was das tierische Wesen von der menschlichen Natur zu erkennen gibt. Schon die äsopische Fabel kehrt in den typischen Konstellationen ihrer Tierfiguren die rollenhafte Determinierung menschlichen Verhaltens hervor und bereitet damit sowohl der christlichen wie der feudalen Rezeption dieses klassischen Erbes Schwierigkeiten. In der Blütezeit der höfischen Dichtung gewinnt eine neue Erfahrung der menschlichen Natur im Analogon von feudaler Gesellschaft und Reich der Tiere ihre eigentümlichste Gestalt: das Gesamtabenteuer Renarts führt in jeder Begegnung das exemplarische Sein ritterlicher Helden auf 3S Op. eil., p. xii.
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die unideale Natur des Menschen. seine unentrinnbaren Begierden und Schwächen. zurück und bringt als antiheldische Kontrafaktur der höfischen Epik zugleich eine vollendete. geschichtlichem Wandel entrückte Typenwelt von Charakteren zum Vorschein. die als fortwirkendes Muster menschlicher Selbstauslegung noch nicht hinreichend gewürdigt ist. Im Rückblick auf diese These verkenne ich keineswegs. daß sie die romantische Deutungstradition nicht einfach erübrigt. Nicht allein hat uns die Einsicht in Anonymat und mündliche Überlieferung der mittelalterlichen Epik Grimms Begriff der ,sich selbst erzählenden' Naturpoesie wieder verständlicher gemacht. Auch die Kategorie der Anfänglichkeit gewinnt neue Bedeutung. wenn man sie im Sinne von Gervinus entmythisiert und auf die Einfachheit der Darstellung der "allgemeinsten menschlichen Verhältnisse in stets gültiger Betrachtungsweise" bezieht; aus dem so verstandenen Grundmuster läßt sich dann auch die spätere historische Entfaltung des Potentials der Satire gegen die höheren Stände ableiten und interpretieren J6 • Selbst wenn man die Suche nach dem urtümlich Deutschen ("Das ganze Altertum kennt keine Freude an der Natur. und Freude an der Natur ist ein Grund dieser Dichtungen ... ") als eine der schönsten Projektionen der romantischen Waldeslust belächelt". bleibt doch eine von Grimm zuerst erkannte Unterscheidung zwischen antiker und germanischer. sagen wir besser: mittelalterlicher Tradition bestehen - die Erteiluni von Namen germanischer Herkunft. die aus den Antagonisten und Figuren des Zyklus singulare Wesen macht. Zwischen den Gattungsnamen der antiken Figuren der Fabel und den Eigennamen des mittelalterlichen Tierepos lielt eine Schwelle der Individuation. Was bedeutet diese Schwelle? Dieselbe Dichtung. die das ideale, geistige Sein des Menschen auf seine kreatürliche Natur reduziert und diese wiederum in einer Vielheit ethischer Charaktere entfaltet hat. verleiht ihren Figuren andererseits nicht allein durch Eigennamen, sondern auch durch die Spielregel. jede Tiergattung nur durch ein Exemplar vertreten zu lassen. den Anschein von Individualität. In diesem seltsam wiedersprüchlichen Befund sind wenigstens zwei Fragen offen geblieben, die eine Untersuchung im größeren historischen Kontext lohnend erscheinen lassen. Zum einen ist der Artcharakter, der den Tieren (nach H. lipps) gleichsam ins Gesicht geschrieben ist. nicht objektiv. sondern zweifellos in die Tiere vom Menschen nur eben hineingesehen" ; die ethischen Charaktere der Tierfiauren müßten also aus historisch sich wandelnden Motiven menschlicher Selbstau5legung interpretiert werden. Zum andern ist die Form der Individualität im Falle von Renart, Ysengrin, Brun, Noble usf. zwar ihrer literarischen Einzigartigkeit als Fuchs. Wolf. Bär, Löwe entsprungen und auch insofern nur ein Anschein von Individualität, als den Hauptfiguren des Tierepos nurmehr ein typisches Geschick zukommt, das sich in der Begegnung mit dem Schelmen Renart als das für ihre Natur typische Mißgeschick erweist.
36 Siehe den Abschnitt über Reinhan Fuch, in: Ge,chichte der poetischen Ntltio""UiteTG' tUT der Deut,chen, zitiert nach: G. G. Gervinus: Schriften ZUT Litetrltru, Berlin 1962, p. 191. 37 Ibid., p. 203. 38 G. Buck in seiner Rezension, RUlHrto Bd. 2S, p. 294.
Duo'"
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Gleichwohl ist dieser Anschein von Individualität doch wohl der (von mir unterschätzte) Anfang einer I ndividualisielUngJ9 . Obschon die Helden des Epos durch ihre Verstrickung in historisch-mythische Begebenheiten schon ein singulares Schicksal in der Kontingenz des Handeins verkörpern, erscheinen sie doch in ihrer exemplarischen Vollkommenheit einseitiger charakterisiert und ungleich weniger differenziert als ihre Kontrafaktur im Tierepos - als Renart, Ysengrin und ihresgleichen, die gleichsam durch ihre Unvollkommenheit exemplarische Bedeutung erlangen. Le beau n 'a qu 'un type, le laid en a mille: wandelt man diese kühne Behauptung Victor Hugos auf unseren Fall ab" o , so wäre das auf 1176/77 datierbare Werk Pierres de Saint Cloud als literarhistorischer Schritt zu einer neuen Gestalt von Individuation zu bestimmen. Das als ,unerhört' angekündigte Abenteuer Renarts spielt nicht allein die Vollkommenheit der heroischen Poesie und damit die personifizierten Ideale des Rittertums auf die unvollkommene Natur und alltägliche Erscheinung des Menschen herunter. Es charakterisiert ineins damit diese materielle Seite der menschlichen Natur in einer unerwarteten Vielfalt von Typen und Rollen. Diese literarische Schwelle fällt in eine Zeit, als persona nicht mehr nur das Vertauschbare (Maske, Rolle), sondern bei Otto von Freising zum ersten Mal auch die unvertauschbare individua!ita.r weltlicher Menschen bezeichnen konnte"· . Literarisch ist der Kanon des Allgemeinen nicht etwa im Textbereich der Biographie durchbrochen worden, für die noch lange die "vollständige Erfüllung der allgemeinen Norm (. .. ) als höchste Form der Individualität galt ..u . Den Bann der Idealität, und das heißt hier: die Vollkommenheit des Einen, Schönen und Guten, welche im Textbereich der volkssprachlichen Epik eine so monotone, durch und durch hieratisierte Gestalt angenommen hatte, zu brechen, setzte die neue lizenz voraus, menschliche Natur jenseits von Gut und Böse in ihrer unvollkommenen Durchschnittlichkeit dazustellen - eine lizenz, die offenbar über die Fiktion des Reiches der Tiere am ehesten zu erreichen war. Zu verfolgen, wie diese Typenwelt von Charakteren als Spiegel verschiedener gesellschaftlicher Formationen historisch umgewandelt wurde und über welche Schwellen in der fortschreitenden Neuzeit Individuen in ihrer Singularität an die Stelle der ethischen Charaktere traten, bis es keiner besonderen Lizenz mehr bedurfte, um individuelles leben ohne ein transzendentes oder gesellschaftliches Telos darzustellen, gehört gewiß zu den reizvollsten Perspektiven, die sich vom Mittelalter aus auf die Vorgeschichte unserer Modernität eröffnen.
8. Allegorische Dichtung als Poesie des Unsichtbaren Die allegorische Dichtung ist für das Mittelalter seit C. S. Lewis,
rur das Barock-
zeitalter seit W. Benjamin und für die literarische Hermeneutik seit H. G. Gadamer so überzeugend rehabilitiert worden, daß es sich nicht mehr verlohnt,
39 Siehe 11, p. 202. 40 Prl/ace de Cromwell, in: Romanische Tute Nr. 3, Berlin 1920, p. 19. 41 Nach A. Borst, Statement zu Poetik und Hermeneutik VI/I (erscheint in Kürze). 42 A. Borst. BarbaroUll1971. Vorlage zu Poetik und Hermeneutik VIII
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auf die Geschichte und Gründe ihrer Verleugnung zurückzukommenu. Ein anderes ist die Frage, ob bei diesem nach wie vor spröden Textbereich das wiedererweckte historische Verständnis auch wieder in ein ästhetisches Interesse umgesetzt werden kann. Eine bei weitem nicht ausgeschöpfte Perspektive sehe ich in der alten, noch von Winckelmann gebrauchten Grundbestimmung des allegorischen ,modus dicenci', die Vorstellung unsichtbarer, vergangen er und zukünftiger Dinge zu ermöglichen. Sie erschloß für meine Darstellung (siehe V) nicht nur eine formale Verwandtschaft zwischen so heterogenen literarischen Gattungen und Traditionen wie Allegorese, Personifikation, allegorische Fiktion, typologische Visionsliteratur, Psychomachie, Bestiarien, MinneaUegorie. Sie begründet auch einen inhaltlichen Zusammenhang vor dem Hintergrund dessen, was H. Blumenberg einmal die noch ungeschriebene "Geistesgeschichte des Unsichtbaren" genannt hat, jene "Hinter- und Oberwelt des Unsichtbaren, die für das Mittelalter zugleich die Sphäre der religiösen Instanzen war"44 • Da sich diese Sphäre nicht mimetisch, sondern nur allegorisch darstellen läßt, kann die Allegorie im Mittelalter als Poesie des Unsichtbaren interpretiert und ihre Geschichte unter diesem Titel neu geschrieben werden. Deren christlicher Ursprung läge dann in den paulinischen Sätzen, auf die sich die mittelalterlichen Verfasser ständig berufen: daß Gottes Wesen und Herrlichkeit unsichtbar, aber seit der Schöpfung der Welt an seinen Werken erkennbar sei (Rom. I, 20), daß der Mensch auf unsichtbarem Schauplatz den Kampf der Seele mit dem Leib bestehen müsse (Gal. 6, 17) und daß er ferner mit Mächten, die nicht von Fleisch und Blut sind, mit den unsichtbaren bösen Geistern unter dem Himmel, ständig zu kämpfen habe (Eph. 6, 12). In der fortschreitenden Verbildlichung dieser drei Sphären des Unsichtbaren: der verborgenen Schönheit des Gottesreichs, auf die uns die Sinnenwelt zeichenhaft zurückverweist, der transzendenten Zwischenwelt der religiösen Instanzen zwischen Himmel und Erde und der transzendenten inneren Welt des Seelenkampfes, sehe ich heute die schärfste Scheidelinie zwischen dem antiken und dem christlichen Kanon des Darstellungswürdigen und Darstellbaren in der Literatur des Mittelalters. Demgegenüber erscheint die Abscheidung einer genuinen Poetik des Christentums historisch weniger scharf: sie wird im Mittelalter durch den eigentümlichen Vorrang einer platonisch-neu platonischen Ästhetik überschattet, die sich in einem rigorosen "Kanon der Transzendenz" (M. Fuhrmann) niederschlug und den Neuansatz eines kreatürlichen, aus dem figuralen Geschichtsverständnis wie aus dem stilmischenden sermo humilis hervorgehenden ,Realismus' fast völlig aufgefangen hat. Daß es darum eine explizite Poetique du chriltianisme nurmehr nach einer denkwürdigen Verspätung, nämlich erst am Ende der Vorherrschaft der christlichen Religion, an der Schwelle der Aufklärung zur Romantik bei Hamann, Schelling, Chateaubriand, Jean Paul und Hegel gab (1. Taubes), davon hat mich die Diskussion: Gibl es eine ,christliche A'sthetik'? vollauf überzeugt45 • 43 Repräsentativ rur das gegenwärtige Interesse ist einerseits: Verbum et Signum - Bei· träge zur mediiivistischen Bedeutungslorschung, Festschrift rur Friedrich Ohly, ed. H. Fromm, W. Harms, U. Ruberg, München 1975, andererseits die Nr. 23 von Poltique, die dem Problem der Rhltorique et Hermlneutique gewidmet ist. 44 Go/ileo Galilei, Frankfwt 1965, p. 14 (Sammlung Insel, 1). 45 In: Die nicht mehr schönen Künste, ed. H. R. Jauß, München 1968, p. 583-610 (Poetik und Hermeneutik 111).
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Die Ergebnisse meiner Untersuchung zur klassischen und zur christlichen Rechtfertigung des Häßlichen (siehe XIII) wären heute unter der Perspektive einer Poesie des Unsichtbaren neu auszuwerten. Der polemische Ausgangspunkt dieser Untersuchung war der Versuch, die These aus E. Auerbachs Dantebuch (1929): "daß die Geschichte Christi die Vorstellungen von dem Geschick des Menschen und seiner Darstellbarkeit von Grund aus verändert habe"", gegen die apodiktische Ablehnung durch E. R. Curtius zu rehabilitieren, für den die substantielle, in einer Art von Naturgeschichte der Topoi vermeintlich anschaubare Kontinuität des klassischen Erbes allen Unterschied zwischen heidnischer und christlicher Antike im Mittelalter wesenlos machte4 ' . Dieses Interpretationsmodell hat in dem einflußreichen Werk die Alterität der christlichen literatur, Poetik und Kunst des Mittelalters so verdeckt, daß dem Credo an die abendländische Kontinuität sowohl unantike Erscheinungen wie der .rermo humilis, die Stilmischung im geistlichen Spiel oder die typologische Geschichtsdeutung als auch autochthone Hervorbringungen der mittelalterlichen Literatur wie die Lyrik der Troubadours zum Opfer fielen. Andererseits hat die Blickrichtung auf das ungebrochene Fortleben der Antike aber auch die befremdenden Aspekte in Gattungen wie der Chanson de geste verkennen lassen, die dem klassischen Muster der Aeneis allenfalls etwelche rhetorischen Muster und literarische Topoi verdankt. Wo diese im 12. Jahrhundert voll erblühte Gattung hingegen ohne die Rezeption eines spezifisch spätantiken Erbes, des besagten ästhetischen Kanons der Transzendenz, nicht zu denken ist, hat gerade die latent platonisch-neuplatonische Ästhetik auf mittelalterlichem Boden seltsame Blüten hervorgebracht, die aus der Kontinuität des lateinischen Erbes herausfallen. Die Chanson de geste hat auf der fraglosen Dichotomie von schön oder häßlich, gut oder böse. christlich oder heidnisch ein selten durchbrochenes Spielregelsystem ausgebildet, das als kaum überwindbare Schranke einer dogmatischen Alterität erklären dürfte, warum das christliche Epos des Mittelalters hinter der Schwelle zur Neuzeit zurückblieb. Die Stoffe des Karlszyklus wurden von dem erfolgreicheren Artusroman absorbiert und sind auf diese Weise völlig im romantischen Epos der Renaissance aufgegangen. Auf den späteren Leser. der sich nach dem Gipfelwerk des Rolandliedes an die fast vergessenen weiteren 90 Epen wagt. muß die Scheidung aller Personen der Handlung in vollkommene christliche Glaubenshelden einerseits und ins Böse konteridealisierte Feinde andererseits wenn nicht schlechthin abstrakt und fremdartig. so doch - angesichts der gegenwärtigen ErfolgsweUe der Comics oder des Asterix - monoton. allzu heroisch und darum reizlos wirken. Nichts scheint christlicher humilitas ferner zu stehen als das christliche Epos des Mittelalters mit seiner hyperkorrekten Trennung des heldenhaft Erhabenen vom alltäglich Praktischen und dem denkbar engsten aristokratischen Standesethos. das den niederen Stand nur am Rande und mit Attributen des häßlichen vilain zuläßt, um ihn am Ende ganz aus dem Solidaritätskreis der exklusiv Guten zu entfernen. Und doch ist zu ihrer Zeit an dem Breitenerfolg dieser Gattung, die von Jongleurs auf den Märkten vorgesungen wurde, nicht im mindestens zu zweifeln ... 41 46 Dante al, Dichter der inluchen Welt, Berlin u. Leipzig 1929. p. 20. 47 Siehe Europiiuche LitmztuT und lateinisches Mittelalter. Sero 1948, bes. p. 258. 48 Dafür ist am aufschlußreichsten (und ein Leckerbissen für die Ideologiekritik!) das Zeugnis aus Jean de Grouchy's De musica (Ende 13. Jh.): Cantru autem ute deHt
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Dieser paradoxe Befund des mittelalterlichen Epos übertrifft den platonischen Kanon der Transzendenz an unerwarteter Rigidität. Entspricht die Gegenbildlichkeit des Häßlichen und Bösen auch weithin seiner klassischen Bestimmung, nurmehr eine Privation des Schönen, Guten und Wahren zu sein und letzlich auf die unsichtbare Schönheit der göttlichen Ordnung zu verweisen, so fehlt doch in der epischen wie in der hagiographischen Tradition des Mittelalters - soweit ich sehe - die im Platonismus gleichfalls vorgegebene Zuordnung des Häßlichen zum Guten. Die nur mit dem inneren Auge wahrnehmbare Schönheit des häßlichen Sokrates hat auf die Heldenfiguren des christlichen Mittelalters offenbar nicht stilbildend gewirkt. Der interessanteste Fall einer umgekehrten Zuordnung des Schönen zum Bösen, die körperliche Schönheit des Verräters Ganelon im Rolandslied, bestätigt am Ende doch wieder nur den Kanon der Transzendenz, da Ganelon typologisch auf den Sturz Luzifers verweist. Hier rührt die Poesie des Unsichtbaren an das zeitlich fernste Ereignis, den Fall aus engelhafter Schönheit in die Häßlichkeit des (mittelalterlichen? ) HöllenfUrsten, vielleicht auch an die mythologische Vorstellung, daß die Natur selbst in den Sündenfall hineingezogen und damit häßlich geworden sei. Steht damit im Zusammenhang, daß die Chanson de geste so gut wie keine Naturbeschreibung kennt? Die Gefallenheit der Natur ist im Mittelalter literarisch offenbar nur am Menschen selbst, nicht aber an Deformationen der außermenschlichen Natur dargestellt worden; erst der Antinaturalismus einer nachromantischen Moderne hat nach dem Vorbild von Baudelaires Fleurs du Mal dieses Postulat der altchristlichen Tradition (Prudentius) praktisch verwirklicht" . Wohl aber findet sich in der Visionstheorie der Viktoriner eine Zuordnung des Häßlichen zum Erkennen des Guten, die man nach Uda Ebel als Schlüssel fUr die Visionsdichtungen ansehen kann JO • Der Sinn der Visionen, die Geheimnisse des Jenseits im irdischen Leben anschaubar zu machen (nach der Formulierung von Theophil), erforderte eine Hinführung von den visibilia zu den invuibilia, die nach Hugo von St. Viktor auf zwei Wegen erfolgen konnte. Beim ersten, aus dem sich die Dreistufigkeit der Visionstypologie erklären läßt, führen "die visibilia des Diesseits (. .. ) über die sensibilibussimilia des beschriebenen Jenseits zu den invisibilia, dem hinter den Erscheinungsformen des geschauten Jenseits oder in der Zukunft verborgenen Wesen Gottes"·'. Beim zweiten, mit dem sich die größere AusfUhrlichkeit der Beschreibung des Häßlichen in Hölle und Fegefeuer rechtfertigen läßt, wird dem analogischen Erkennen aus den dissimilia die höhere Bedeutung zugesprochen: während uns das Schöne an die Sinnenwelt zu fesseln pflege, wecke das Häßliche via negationis die stärkere Sehnsucht nach dem Vollkommenen. Daß diese mystische Poesie IIntiqua et civibus ltIbonzntibu, et ~diocribus mini,trrzri, donu nquie,cunt IIb opel't coruulte. ut tIUditi, miserlü et CQ/Qmitlltibu, IIlimum II1II, !lIcillu, ,u,tinunt et quillbet opu' SIIum IIIocrlu, aggredÜltur. kommentiert von D. Poirion, Chll1llOn de ge,te ou lpople? , in: 7)-IIWlUX de linguist;que etdeUttmtun, Universit~ de Strasbourg, vol. X. 2 (1972) p. 13. 49 Dazu im einzelnen Poetik und H~~neutik I/I, a. a. 0., p. 601/2. SO Die IItertl1'ilChen Fo~n der Jenmts- und Endzeitvilionen, in GRLMA VI/I, p.
184-189. 51 Ib. p. 186.
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des Unsichtbaren auch in weltliche Dichtung umgesetzt werden konnte, hat A. Adler an dem allerdings seltenen Fall des Jeu de la Feuillee entdeckt, wo der an seine Universität aufbrechende Studiosus beim Abschied seiner noch jung vermählten Frau auf die seltsame Weise huldigt, öffentlich den Verfall ihrer körperlichen Reize zu beklagen, und durch diese dissimilis similitudo insgeheim doch ihre Schönheit zu rühmen weiß S2 • Die schärfste Zuspitzung erhielt der ästhetische Kanon der Transzendenz dort, wo die Beziehung zwischen der Präsenz des Sichtbaren und der verborgenen Evidenz des Unsichtbaren die Möglichkeiten sinnfälliger Darstellung überstieg und an ein ,Nicht sehen und dennoch glauben' appellieren mußte. Die Verknüpfung des schockierend Grausigen mit dem Erbaulichen, die in der Hagiographie ständig begegnet und den modernen Leser wohl nur noch zu irritieren vermag, stand im Dienste der Glaubenslehre von der gloria passionis. Ihr zufolge muß Mitleiden mit der gequälten Kreatur den Heiden vorbehalten bleiben, die sehen ohne zu erkennen, während vom gläubigen Christen erwartet wird, daß er sich über das Gegenwärtige hinwegzusetzen und im Gedanken an die im voraus verbürgte Seligkeit der Heiligen und an die jetzt vielleicht noch verborgene Gerechtigkeit Gottes Erbauung zu finden vermag. Ich erwähnte schon, daß dieser dogmatische, in Märtyrerlegenden nicht selten bezeugte Rigorismus auf verschiedener Ebene einen gegenläufigen Prozeß der ästhetischen Erfahrung aufgelöst hat. In diesen Zusammenhang gehört nicht allein die Entfaltung des Mitleidmotivs, das in den populären Jenseitsvisionen gelegentlich auch verwunderliche Blüten treiben konnte. Hier sei nur an die Navigatio Sancti Brenclllni erinnert, wo der zu Tränen gerührte Heilige bei den Teufeln eine Verlängerung des Ruhetags .bis Montag früh' rur den die Woche über auf das gräßlichste geschundenen Judas erlangt. Schlägt in solchen Fällen die ästhetische Kompensation in eine Erscheinung dessen um, was Jean Paul die Poesie des Aberglaubens genannt hat, so zeigt das Gipfelwerk der mittelalterlichen Visionsliteratur, wie es ein großer Dichter verstand, sich den Kanon der Transzendenz auch auf andere Weise zunutze zu machen. Er legitimiert bei Dante die Darstellung eines bisher nicht rur darstellungswürdig erachteten Bereichs der Immanenz: die irdische Welt als Stätte geschichtlich handelnder und leidender Individuen. Die jenseitige Welt, in ihrer gestuften Ordnung höchster Gegenstand der Poesie des Unsichtbaren, verweist in der Divina Commedia über die Erinnerung eines halben Tausend von Personen auf die diesseitige Welt zurück, läßt aus dem Endschicksal der Verdammten, Büßenden und Seligen ein Fazit irdischer Geschichtlichkeit entstehen und gewinnt damit das große, schon ,moderne' Thema einer neuen Poesie des Sichtbaren. Die historisch gewiß nicht datierbare Epochenwende zwischen antiker und christlicher Literatur hat das grandiose Zitat aus Jean Pauls Vorschule der A·sthetik, von dem mein Abriß der Entstehung allegorischer Dichtung in romanischer Volkssprache ausging (siehe V), auf einen so schönen wie unausschöpfbaren Begriff gebracht: "Das Christentum vertilgte, wie ein Jüngster Tag, die ganze Sinnenwelt mit allen ihren Reizen, drückte sie zu einem Grabeshügel, zu einer Himmelsstaffel zusammen und setzte eine neue Geisterwelt an die Stelle. Die Dämonologie wurde die eigentliche Mythologie der Körperwelt, und Teufel 52 A. Adler, Sens er compos;tion du Jeu de /Q FeuiJlh, Ann ArOOr 1956.
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als Verführer zogen in Menschen und GÖUerstatuen; alle Erdengegenwart war zu Himmels-Zukunft verflüchtigt. Was blieb nun dem poetischen Geist nach diesem Einsturze der äußeren Welt noch übrig? - Die, worin sie einstürzte, die innere!" Aus der Negation der .. ganzen Sinnenwelt" ging die Verbildlichung der übersinnlichen anderen Welt hervor, aus der Negation aller .. Erdengegenwart" folgte die Vordeutung auf eine noch unsichtbare Zukunft und aus dem Einsturz der äußeren Welt entsprang die Entdeckung der inneren - so sah die romantische Ästhetik die Ursprünge und Möglichkeiten der ,Poetik des Christentums"! Für die christliche Poesie lag die Wahrheit des Darzustellenden hinfort im Unsichtbaren, so daß es der allegorischen (oder typologischen) Rede bedurfte, um in der Entsprechung von Gestalt (oder Ereignis) und Bedeutung immer auch ihre Differenz offen zu halten. Diese Differenz enthält rur den Angeredeten den Appell, sich vorzustellen, was die Evidenz des Sagbaren übersteigt. Wenn die Differenz von Gestalt und Bedeutung verschwindet, die bildhafte Gestalt nur noch vorgewußte Bedeutungen vergegenständlicht, verfällt die allegorische Rede in Erscheinungen der literarischen Automatisierung, von denen die Kombinatorik personifizierter Begriffe oder die abstruse Häufung von distinctiones, die bis zum substilsten Manierismus gesteigert werden kann, nicht wenig zum Verruf des allegorischen ,modus dicendi" beigetragen haben. Die Entdeckung der inneren Welt ließe sich in Schritten verfolgen, die von befremdlicher Unanschaulichkeit über die Formierung neuer Bildfelder bis zur Ausbildung geschlossener Landschaften der Seele reichen. Die Unanschaulichkeit der Psychomachill ergibt sich daraus, daß mit dem Kampf in der Seele zugleich ein Kampf um die Seele, mit dem Leib des Menschen zugleich der ganze Kosmos und mit der Situation des einzelnen Christen zugleich die Heilsgeschichte der Menschheit bedeutet sein kann. Die mittelalterliche Tradition der Gattung schafft neue Bildüberschneidungen, wenn nunmehr die bislang nicht figurierte Einzelseele in persona auf den Plan tritt, auf welchem Tugenden und Laster um sie kämpfen, wenn das träumende Ich des Amant im Rosenroman das stets unsichtbare Du der erwählten Dame aus dem Wandel ihrer Figurationen erkennen und der Leser daran die ideale Geschichte einer Liebe ablesen soll, und wenn schließlich ein schon historisches Ich, das eigene Fragen zu stellen weiß, im Tesoretto von Brunetto Latini aus dem Bannkreis der idealen Wesenheiten, die alle Erfahrung präfigurieren, heraustritt und ineins damit die Form der Gattung sprengt (siehe VII). Eine neue Topik allegorischer Dichtung, die sich um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert breit entfaltet, läßt sich genetisch oft in bernhardinische und andere mystische Schriften zurückverfolgen; die Motive treten aus der Allegorese zu Bildfeldern oder Konstellationen von Personifikationen zusammen und bilden ein synchronisches Repertoire. Dieses hat nicht selten erst der geistlichen Dichtung gedient, um an die Situation des Menschtn zwischen Fall und Erlösung zu mahnen, und wurde dann von der weltlichen Dichtung usurpiert, um die innere Erfahrung des liebenden zwischen Einsamkeit und Erhörung auszulegen. Bevorzugte Bildfelder dieser Poesie des Unsichtbaren waren: die ,vier Töchter Gottes" die ,drei Feinde des Menschen", das castellum amoris, Weg und Pforte, der hortus conclusus des Paradieses, der ,Baum der Tugenden" die armatura Dei. Eine Geschichte der Entdeckung der inneren Welt würde in dieser Epoche immer wieder auf zwei Schwellen stoßen. Die erste wird durch die Feststellung von C. S. Lewis
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bestimmbar. daß Chr~tien de Troyes sich der inneren Welt der Leidenschaften nicht zuwenden könne. ohne zugleich in allegorische Rede zu fallen: wo immer der mittelalterliche Dichter ,psychologisch' wird. muß er auch .allegorisch' werden". Die zweite Schwelle tritt durch das epochale Ereignis ins Licht, daß Guillaume de Lorris mit dem ersten Roman de 111 rose die innere Welt und neue Erfahrung der höfischen Liebe, die in den personifizierten Leidenschaften und Normen der provenzalischen Dichter unanschaubar blieb. am Weg des Amant durch die allegorische Landschaft und die sich wandelnden Konstellationen des vergier d'amor verbildlicht hat und damit das verheißene, noch unsichtbare Paradies des Joy in anschau barer Gestalt aufscheinen ließ. Spätestens an dieser Stelle wird eine Grenze der verspäteten Rezeption der Poetik des Christentums durch die Romantik deutlich: Jean Paul hat zwar die "Dämonologie" oder neue .. Mythologie der Körperwelt", nicht aber - sit venia verbo - die 'paradisologie'ua oder neue Mythologie einer Glückswelt als Folge des Einsturzes der antiken Sinnenwelt erkannt! Aus dieser Erkenntnis folgt weiterhin. daß die Schwelle zwischen der mittelalterlichen und der nachmittelalterlichen Funktion allegorischer Dichtung am schärfsten bezeichnet werden kann, wenn man das Ergebnis dieser Betrachtung dem Befund von W. Benjamins Rehabilitierung der Allegorie gegenüberstellt. Die Allegorie im barocken Trauerspiel, .. die die Erfahrung des Leidvollen, Unterdrückten, Unversöhnten und Verfehlten. die Erfahrung des Negativen ausdrückt, widerstreitet einer positiv Glück, Freiheit, Versöhnung und Erfüllung vorspiegelnden und verschließenden symbolischen Kunst"". Es liegt darum ganz in der historischen Logik der Rezeptionsgeschichte der christlichen Poesie des Unsichtbaren, wenn einer der Stammväter unserer Modernität. Charles Baudelaire, seinen Widerspruch gegen die Erlebnisästhetik der symbolischen Kunstform praktisch auch dort eingelöst hat. wo er die subjektive Welt der Leidenschaften als paysage moral wieder mit einer objektiven Mythologie der Körperwelt, den majuskeltragenden Personifikationen des Spleen besetzt hat ss .
9. Die kleinen Gattungen des Exemplarischen als literarisches
Kommunikationssystem Die Theorie der literarischen Gattungen gehört zu den Gebieten der literaturwissenschaft, die in den Sechziger Jahren am ehesten wieder ein lebhaftes Forschungsinteresse gefunden haben. Hier ist dem philologischen Historismus die Herausforderung der neuen Linguistik wohl am besten bekommen. endlich Farbe zu bekennen, in welcher Hinsicht sein vermeintlich selbstverständliches
53 TIIe ABeKCWl' 0/ Lo~ - A Study 01 MedieNI TrtIdition, Oxford 1953, p. 30 und 113. S3a Ihr theologischer Urspruna üqt in den Genesisltommentaren, von deren - literarhistorisch erst noch auszuwertendem - Reichtum Reinhold R. Grimm: PtutldÜIU coelntil - PllrtldilUl toratrll - Zur AUIlegullglgelChlchte deI PtUtId~us im Alwnd· .nd, München 1977, jetzt die beste VorsteUußllibt. 54 Zusammenfas5ußl von J. Haberma5, in: Zw AktUDlitlit WIllte, Benjllmins, ed. S. Unseid, Frankfurt 1972, p. 182 (5tb. I SO). SS Dazu G. Hess, Die lIlndscluz/t In &zude/Qires ,Fleun du MIII', Heidelberg 1953, p. 69 ff. 34
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Instrumentarium, die literarischen Gattungen, auf ,Universalien' beruhe, nach Merkmalen definierbar, also auch mit exakteren Methoden ,operationalisierbar' sei und sich am Ende als ein System literarischer Kommunikation beschreiben lasse, das auch von Nachbardisziplinen mit einigem Gewinn benutzt werden könne. Die romanische Philologie des Mittelalters macht hier gewiß keine Ausnahme. Der hier fällig gewordene Paradigmenwechsel läßt sich kaum schöner erläutern als durch eine wissenschaftsgeschichtliche Anekdote. Die Herausgeber des GRLMA sahen sich angesichts der Schwierigkeit, eine starke Gruppe ihrer Mitarbeiter von der nicht nur chirnärischen Existenz literarischer Gattungen zu überzeugen, noch 1965 veranlaßt, gegen die herrschende individualistische Ästhetik Croces in einem Rundschreiben keine geringere Autorität als die des Papstes selbst ins Feld zu führen. Hatte doch Pius XII. in der Bulle Divino afflante spiritu die formgeschichtliche Methode der von der protestantischen Theologie entwickelten ,Literaturgeschichte der Bibel' als unentbehrliche Grundlage für das Verständnis der Heiligen Schrift empfohlen. Die Frage nach dem ,Sitz im Leben', oder im heutigen Sprachgebrauch: nach der gesellschaftlichen Funktion und kommunikativen Leistung der literarischen Gattungen war in der Tat für die mittelalterliche Literatur besonders lohnend und neu zu stellen S6 • Denn diese Epoche, gleichweit entfernt von den vorliterarischen Mythen einer archaischen Gesellschaft wie von den autonomen Kunstformen der bürgerlichen Ära, weist im Bereich der entstehenden volkssprachlichen literaturen eine Reihe von Eigentümlichkeiten auf, die sie für die Theorie der literarischen Gattungen interessant machen. Hier läßt sich ein literarisches Kommunikatonssystem in statu nascendi, aus ersten Anfängen und mit sukzessiven Einsätzen der verschiedenen Gattungen verfolgen. Hier steht die literarische Evolution weder im Bann einer autoritativen Theorie (wie z. B. die französische Klassik unter den dirigierenden Begriffen der aristotelischen Poetik) noch folgt sie dem Prinzip individueller Schöpfung (wonach Werk gegen Werk entsteht), so daß die Geschichte der Gattungen in der fortschreitenden Konkretisation historischer Normen betrachtet werden kann. Das vielbeklagte Fehlen normierter Gattungsbezeichnungen erweist sich in dieser Hinsicht als eine hermeneutisch durchaus kompensierbare Kehrseite der Medaille. Und da in diesem Prozeß noch kaum eine Kluft zwischen Produktion und Rezeption, der Intention der (meist anonymen) Autoren und der Erwartung ihres Publikums entsteht, ist auch die primär soziale und kommunikative Funktion literarischer Gattungen unmittelbar vorauszusetzen und prinzipiell rekonstruierbar, selbst wenn Zeugnisse aus der mittelalterlichen Lebenswelt dünn gesät sind. Vielleicht kann es heute schon als ein Ergebnis der Debatte über die Theorie literarischer Gattungen angesehen werden, daß der Platonismus zeitloser Wesensbestimmungen wie der Nominalismus historisch einmaliger Schöpfungen, die Erwartung ,reiner Formen' und konstanter Merkmale wie die Skepsis an der Theoretisierbarkeit des historischen Wandels überhaupt, kaum noch ernstlich vertreten wird. Es scheint sich vielmehr ein wachsender Konsens darüber abzuzeichnen, daß literarische Gattungen als historische Gruppen oder Familien nur 56 Siehe X und die vorangegangene französische Kurzfassung: thlorie des genres, in: PoltÜ/ue 1 (1970) 79-101.
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Lilt~rQture m~di~IIQle
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Allgemeinheit, nicht aber Universalität beanspruchen und darum auch nicht als Klassen nach Merkmalen definiert werden könnenS? Diese ihre ,mittlere Allgemeinheit' zwischen dem Universalen und dem Singularen entspricht sowohl dem Status der Normen im Sprachwandel, die nach E. Coseriu die idealen Möglichkeiten eines Sprachsystems historisch selektiv zu Mustern der Interaktion verfestigen Sl , als auch dem exemplarischen Charakter des ästhetischen Urteils, das nach Kant nicht dem Regel-Fall-Schema unterliegt, auf Beistimmung angelegt ist und als derart unbestimmte Norm durch jede neue Konkretisation weiterbestimmt werden mußSt. Mit dem Postulat, literarische Gattungen als historische Gruppen zu betrachten, wird ihre diachronische und synchronische Ermittlung keineswegs einer nur intuitiven Erfassung überantwortet. Ein historischer Bestand realisierter literarischer Gattungen läßt sich sehr wohl diachronisch wie synchronisch mit einer Heuristik beschreiben und interpretieren, die Universalien in Gestalt von textinternen und pragmatischen Komponenten vorgibt. Es darf dabei nur nicht erwartet werden, daß sich aus den möglichen Kombinationen solcher universaler Gattungskomponenten per se schon die Spezifität der historisch realisierten Gattungen selbst ableiten lasse: der Schritt zur Abgrenzung und Identifikation einer literarischen Konkretisation ist nicht ohne eine hermeneutische Aufklärung der Vorverständnisse des Erfahrungshorizontes zu leisten. Der sich leider immer mehr durchsetzende Begriff der ,Textsorten' verdeckt die Grenze zwischen universell definierbaren Textkomponenten und historisch bedingten Mustern der Realisation, die stets komposit sind und das Erkennen der jeweiligen systemindividualisierenden Dominante erfordern. Darum kann man W.-D. Stempel nur voll beipflichten, der 1972 aus einem Kolloquium über Textsorten das Fazit zog, "daß die Untersuchung von Textsorten zurückzustellen sei zugunsten einer Beschreibung der Komponentensorten der Textkommunikation und der Systematik ihrer Kombinationsmöglichkeltenh'o. Sein eigener Vorschlag geht von der Rede als Diskurs-Handlung, näherhin von verschiedenen Arten der Bezugnahme auf den Partner aus und erläutert Komponente~ wie direkte oder narrative Rede, aktuelle Darbietung (z. B. Rezitation, Aufführung), instrumentale Kodes der elocutio (modi dicendi), sozialsprachliche Kodes, allgemeine Komponenten des Inhalts und der Rezeption. Seither sind verschiedene Entwürfe zu einer Gattungstheorie von der Textgrammatik, Semiotik, linguistischen Pragmatik und Kommunikationstheorie veröffentlicht worden", mit Bezug auf mittelalterlicne Literatur vor allem der auf typologischen Diskursmerkmalen aufgebaute von P. Zumthor. Diese Versuche blei57 Siehe dazu den umfassenden Forschungsbericht von K. W. Hempfer: Gattungstheorie - Infomliltion und Synthese, München 1973 (UTB 133), mit dessen eigener Synthese ich in der Bestimmung von Gattungen als .. kommunikativen Normen", nicht aber in ihrer konstruktivistischen Begründung übereinstimme, wie aus dem Folgenden erheUt. 58 Synchronie, Diachronie und Geschichte - Das Problem des SpracJlwandels, München 1974. 59 Nach G. Buck: Kants Lehre 110m Exempel, in' Archiv für Begriffsgeschichte II (1967) 182. 60 Gibt es Textsorten? , in: Texlsorten - Differenzierungskriterien aus linguistischer Sicht, ed. E. Gülich und W. Raible, Frankfurt 1972. p. 180. 61 Siehe dazu K. W. Hempfer, op. eit., und das Heft: Les genres de /Q litterature populDire von Pottique (Nr. 19, 1974).
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ben zumeist vor der Aufgabe stehen, die angebotene Systematik von Komponenten der Textkommunikation auf ein historisches Repertoire von literarischen Gattungen anzuwenden. Am weitesten ist in dieser Hinsicht Zumthors Poetique medievale mit ihrem dreistufigen System von Typen (Ebene der topoi im Sinne von Curtius), Registern (Ebene der Auswahl und Kombination von Typen) und poetischen Gattungen (Ebene der modeles d'üriture) vorgestoßen. Statt einer erneuten Diskussion seines literarischen Systems der großen Gattungen, über das bereits von W.-D. Stempel, P. Haidu und P.-Y. Badel das Wesentliche gesagt wurde, möchte ich im folgenden noch auf einen Textbereich eingehen, den Zumthors Instrumentarium am wenigsten zu erfassen vermag, obschon er rur die Frage nach Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur höchst aufschlußreich ist: die sogenannten ,einfachen Formen' im Sinne der Morphologie von Andre Jolles oder - schon im Blick auf das Mittelalter formuliert - der Bereich der kleinen literarischen Gattungen des Exemplarischen. Daß es möglich ist, hier ein mittelalterliches System von neuen Gattungen exemplarischer Rede abzugrenzen, möchte ich an Hand der stichwortartigen Übersicht (im Annex zu dieser Abhandlung) erweisen. Sie präsentiert Ergebnisse noch unabgeschlossener Forschungen 62 in provisorischer Gestalt, kann im einzelnen später ausgebaut und hier nur insgesamt im Blick auf die historische Eigenart der kommunikativen Normen erläutert werden. Nebenbei hoffe ich, damit auch zeigen zu können, was sich aus dem überwältigenden Angebot universeller (und vermeintlich universeller) Komponenten rur ein Modell der Textkommunikation übernehmen läßt, das in einem primär hermeneutischen Ansatz der Interpretation des Erwartungshorizontes einer vergangenen literatur dienstbar gemacht wird. Wenn Zumthor bezweifelt, daß sich die Theorie der einfachen Formen auf mittelalterliche Literatur anwenden lasse, weil diese Formen dort "nicht rein genug" repräsentiert seien", machen sich dabei sowohl die Grenzen seiner Poetik als auch Mißverständnisse geltend, die heute die verspätete Rezeption der Theorie von JoUes in Frankreich belasten'4. Die narrativen Kurzformen erscheinen im Mittelalter zunächst und zumeist als literarische Gattungen exemplarischer Rede; sie vermitteln eine religiöse Wahrheit oder eine profane Lehre und sind darum primär durch Komponenten der Kommunikation, der Bezugnahme auf Erwartungen von Adressaten, der Vermittlung von Wissen in verschiedenen modi dicendi und der implizierten Rezeptionsweisen konstituiert. Sie geben die schönste Anschauung dessen, was die so modisch gewordene ,Narratologie' vereinseitigt oder überhaupt unterdrückt, wenn sie Erzählen bei allen erdenklichen literarischen oder historiographischen Gattungen als einheitliche Matrix voraussetzt und sogleich nach Varianten oder Sequenzen der Handlung aufgliedert, die nicht selten nurmehr die aristotelischen Kategorien der Fabel (Anfang, Mitte und Ende) paraphrasieren. Die Auswahl und Bedeutung von Ereignissen fällt indes ganz verschieden aus, wenn nicht geradezu erzählt, sondern etwas zitiert, verkündet, ausgelegt oder bezeugt wird, wenn der 62 Ich stütze mich dabei auf noch unpublizierte Ergebnisse meiner Seminare, die ich im Juli 1976 am Centre d'Etudes mMilvales in Poitiers vortrug und auf Monographien meiner Schüler, die in den Anmerkungen zum Annex (Anm. 87) nachgewiesen sind. 63 Op. cit., p. 392. 64 Die französische Ausgabe der Formes simples erschien erst 1972 (Paris, Ed. du Seuil).
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Sprechende durch ein fingiertes Beispiel oder durch ein historia docet Einsicht wecken will, und wenn es schließlich ein Erzähler auf märchenhafte Unwirklichkeit, auf witzige Pointierung oder auf einen moralisch offenen Ausgang angelegt hat (siehe Annex, Sp. 1.2). Solche spezifischen Gattungsunterschiede müssen einer Poetik entgehen, die primär an den rein sprachlichen Komponenten des Textes interessiert ist und der poetischen Funktion der Sprache (alias: Selbstreferentialität) einen Vorrang einräumt, der alle übrigen Funktionen der Sprache nahezu auslöscht". Komponenten der Textkommunikation und der sozialen Funktion fehlen bei Zumthor sowohl in seiner Beschreibung der narrativen Funktionen des Lai (po 387-89) als auch in seinem generativen Modell rur das ganze Corpus der narrativen Kurzformen (p. 399-403). Das letztere arbeitet nur mit zwei Matrizen: dem linearen Aufbau der Handlung und dem Status der Personen im Text~ wo in diesem Bezugsnetz überhaupt merkmalhafte Unterschiede in den Blick kommen wie bei der Frage nach der Lehrhaftigkeit, wird diese vom Vorhandensein einer expliziten Moral abhängig gemacht und damit gerade die für diesen Textbereich spezifische Differenzierbarkeit nach der impl~ierten Lehre verschenkt". Unter solchen Prämissen kann es kaum noch überraschen, wenn gerade der markante Ausnahmefall, die Ch4telaine de Verrt, der "idealen Form" der Novelle am nächsten kommt (als "narrative Montage" eines Lieds bedarf sie keiner äußeren Referenz, p. 380 ff.), wenn nicht allein in den Lais der Marie de France (p.384), sondern sogar in den Fabliaux (p. 391) die "Rückwendung der Erzählung auf sich selbst" gefunden wird, wenn sich Exempel und Legende - trotz der Opposition von innergeschichtlicher und übergeschichtlicher Referenz! - "kaum unterscheiden lassen" (p. 392) und wenn am Ende alle historisch festgestellten Merkmale als bloße "Oberflächen merkmale" gegenüber einer ,,gemeinsamen Tiefenstruktur" wesenlos werden. Deren mehr als bescheidene Formel: "un discours narratif coMrent ä la fois dans son intention et dans sa structure" (p. 403) dürfte tUt manch einen die ungewollte Moral implizieren, daß Unterscheiden in letzter Instanz doch wohl seliger macht als Identifizieren, und sei es in generativsten Tiefen ... Die Mißverständnisse, die Jolles' Theorie der einfachen Formen durch ihre heute ilberschwenglich klingende - Terminologie nahelegt, hat H. Bausinger in einer Kritik aufgehellt, die den Stand der deutschen Forschung repräsentativ zusammenfaßt. Es sind dies: "die Annahme der Ubiquität der Einfachen Formen, ihre Gleichsetzung mit genetischen Urformen und im Zusammenhang damit die Hypothese einer eindeutigen Hierarchie der Formen"". Was Jolles suchte, waren einfache Formen, "die weder von der Stilistik, noch von der Rhetorik, noch von der Poetik, ja vielleicht nicht einmal von der ,Schrift' erfaßt werden", mithin vorliterarische Formen, die sich "sozusagen ohne Zutun 65 Einwände von P. Haidu (op. cil., p. 18) und von P.-Y. Badel (op. cit., p. 255). 66 Einwand von W.-D. Stempel, der dafl1r Beispiele gibt und aus seiner Kritik imlesaml das Fazit zieht: "Dessen wird man jedoch nur gewahr, wenn man die merkmalhaflen Unterschiede zwischen den einzelnen Texttypen nicht als ,Oberflächenunterschiede' abtut, die sich auf eine gemeinsame Tiefenstruktur zUlÜckfUhren ließen (... ). DeM entweder ist dann die Tiefenstruktur (•.. ) zu nichtssaaend auspwiesen, oder aber die Oberflächenunterschiede sind in Wirklichkeit solche der ,Tiefe' .. (Op. cit., p. 452). 67 Fomtttn der • Yo/~,;e', Berlin 1968, p. 60.
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eines Dichters in der Sprache selbst ereignen·.. •. Als solche liegen sie den historisch realisierten Manifestationen jeder literarischen Kultur voraus, doch nicht als Archetypen, die zu allen Zeiten aufweisbar sein müßten, sondern als Möglichkeiten, die je nach dem kulturellen Kode und gesellschaftlichen Zustand gewählt, realisiert oder auch nicht realisiert sein können. Methodisch gesehen haben sie den Status heuristischer Kategorien: nicht eine vermeintliche Ubiquität, sondern die jeweilige Auswahl und Art der Besetzung charakterisiert das Kommunikationssystem der einfachen Formen. Daß sie nicht als Ergebnis eines bewußten Wählens und Zutuns der Dichter entstehen, sondern sich .. in der Sprache selbst ereignen", darf wiederum nicht als eine Vorwegnahme der Selbstreferentialität moderner poetischer Sprache verstanden werden. Jolles meint damit zunächst einen der Sprachphilosophie wie der Wissenssoziologie durchaus vertrauten Befund: daß Einstellungen zur Wirklichkeit den Charakter eines Vorverständnisses haben, das sich aus vorgängiger Erfahrung niederschlägt, schon mit dem Erlernen der Muttersprache übernommen wird und darum primär nicht bewußten Selektionen entspringt. Es ist der große Vorzug der Theorie der einfachen Formen, daß sie erlaubt, den unausdrUcklichen Erfahrungshorizont solcher Einstellungen zur Wirklichkeit oder "Himmelsrichtungen'''' der Welterfahrung (wie Jolles einmal treffend formulierte) aufzuklären. Der idealistische Begriff der "Geistesbeschlftigung" für ein Weltverhältnis, mit dessen Horizont sich die Bedeutun,a der Dinge für den Be-troffenen Indert, kann darum heute unschwer durch "Subsinnwelt" ersetzt und ,operationalisiert' werden. Dieser Begriff, von William J ames flir den Seinsstil verschiedener Wirklichkeitsordnungen eingeführt, wird von der Wissenssoziologie gebraucht, um Realitätsbereiche geschlossener SiMstruktur zu erfassen, in die sich die subjektive Erfahrung der Wirklichkeit in allen Gesellschaften gliedert"o. Eine solche Subsinnwelt hat mit der "Geistesbeschäftigung" (occupatio) im Sinne von Jolles gemein, daß sie "nicht durch eine etwaige ontologische Struktur ihrer Objekte, sondern durch den Sinn unserer Erfahrung konstituiert (wird)", anders gesagt, daß "alle Erfahrungen, die zu einem geschlossenen Sinngebiet gehören, (. .. ) einen besonderen Erlebnis- bzw. Erkenntnisstil (aufweisen); mit Bezug auf diesen Stil sind sie untereinander einstimmig und miteinander verträglich""· . Hier wie dort kann sich der Übergang von einem Sinnlebiet zum anderen "nur durch einen Sprung", bzw. mit Hilfe einer Verwandlunasformel vollziehen (Jolles: "man stelle eine Prinzessin im Märchen neben eine Prinzessin in der Novelle und man spürt den Unterschied""). Wenn der "Realitätsakzent" einem bestimmten Sinnbereich erteilt wird, erscheinen die anderen Sinnbereiche nur als ..Quasi-Realitäten", die alltilliche Lebenswelt einbeariffen, die zwar den "Urtypus unserer Realitätserfahruni" darstellt, aber zugleich von der wissenschaftlichen Einstelluni oder von der religiösen Erfahruni her als Quasi-Realität lesehen werden kann". Da die Wissenssoziologie erst begonnen hat, eine 68 Eilllllch~ Fo".", HaUe 1929 (Darmstadl 3. Aufl. 1958) p. 10. 69 Siehe dazu Bausinaer, op. eil. p. 54. 70 Dazu jetzt A. !;chütz/Thomas LuekmaM: Strulctunll der ube,,~/t, Neuwied und Darmstadt 1975, bes. p. 42 71 Ibid., p. 43. 72 Etlllllch~ Formell, op. eil., p. 196. 73 Op. eil., p. 44.
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systematische Typologie der verschiedenen Sinngebiete mit ihren eigenen Erlebnis- und Erkenntnisstilen zu erarbeiten, stellt sich nunmehr das für beide Disziplinen interessante Problem, wie sich die großen, von A. Schütz, Th. Luckmann und anderen erforschten Subsinnwelten der alltäglichen Lebenswelt, der religiösen Erfahrung, der Wissenschaft, des Spiels oder der Phantasie zu den offenbar noch feiner gegliederten Subsinnwelten der einfachen Formen ästhetischer Erfahrung verhalten. Mit der Qualifikation "ästhetische Erfahrung"'"- soll J olles' Theorie dahingehend präzisiert werden, daß es sich bei seinen einfachen Formen um den Erlebnisstil einer Welterfahrung handelt, die zwar vorliterarisch ist, also noch vor dem Verhalten zur Kunst in Gestalt von ,Werken" liegt, aber doch insoweit schon ästhetischen Charakter hat, als sie ermöglicht, verschiedene Anspruche der Wirklichkeit zu thematisieren und zu bewältigen, so daß der Mensch mehr und mehr Abstand zu ihren Forderungen gewinnen und sich den Dringlichkeiten des pragmatischen Alltags entziehen kann. Methodisch gesehen läßt sich der für uns heute zumeist nicht mehr selbstverständliche Erfahrungshorizontder einfachen Formen ästhetischer Erfahrung mit Hilfe der Hermeneutik von Frage und Antwort rekonstruieren. Was überhaupt in den Erwartungshorizont eines Märchens fällt und was nicht, welche Art von religiöser Erfahrung die Legende ermöglicht hat, welcher Typus von Ereignissen für ein Exempel thematisch relevant sein konnte, findet man schwerlich über ein generatives Modell, wohl aber über das Wiedergewinnen der fundamentalen Frage, auf welche der einstige wie der heutige Leser von einem Text dieser Gattung eine Antwort erhalten kann. So antwortet das Märchen auf die Frage: ,Wie wäre die Welt, in der sich unsere Wünsche erfüllen?", die Legende auf die Frage: ,Wie kann Tugend in einem Menschen sichtbar werden?", das Exempel auf die Frage: ,Was lehrt mich das Vergangene für das Kommende?" undso fort (siehe Annex, Sp. 1.4). Damit ist natürlich nicht behauptet, daß sich der einstige Leser solcher Fragen bewußt war und daß sie der heutige Leser in dieser Formulierung erst stellen muß, um den Sinn eines Märchens, einer Legende oder eines Exempels zu verstehen. Für das Vorverständnis einer Gattung kommt es nur auf das Eintreten in die Fragerichtung an, die alle Ereignisse als ,stimmig", d. h. einer besonderen Subsinnwelt zugehörig erkennen läßt. Wohl aber muß die implizierte Fragerichtung durch hermeneutische Reflexion in einer expliziten Frage thematisiert werden, die an der Stimmigkeit der Antwort des Textes verifizierbar ist, wenn die Subsinnwelt des Märchens näherhin als Welt traumhafter Glückserfüllung, die der Legende als Welt des offenbar werdenden Heiligen oder die des Exempels als Welt der Erfahrung durch Geschichten (siehe Annex, Sp. 1.4) theoretisch unterschieden und bestimmt werden soll. Der Versuch, JoUes' Theorie der einfachen Formen auf ein historisches Repertoire der mittelalterlichen Literatur, die romanischen Literaturen des 12. und 13. Jahrhunderts, anzuwenden, hat den nurmehr heuristischen Wert des Systems der neun Formen: Legende' Sage' Mythe' Rätsel' Spruch' Kasus' Memorabile , Märchen' Witz bestätigt, wie auch kaum anders zu erwarten war. Die von JoUes selbst nicht rigoros vertretene Auffassung, es handle sich um ein 73a Hierzu kann ich auf meine ausfUhrlichere Begriindul1l in: A',theti,che Erfahrung und litemmche Hermeneutik (erscheint 1977 bei Fink/München) verweisen.
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selbstgenügsames System genetischer Urformen, aus denen sich literarische Gattungen organisch entfalten müßten, wird schon durch den ersten Blick auf ihre mittelalterliche Umbesetzung schlicht historisiert. Von den neun Formen sind in der Synchronie der volkssprachlichen Literatur des Hochmittelalters nur fünf: Spruch (als Sprichwort) I Legende! Märchen (als Lai) ! Witz (als Fabliau) und Kasus (selbständig und als Novelle) repräsentiert; vier andere, bei JoUes fehlende Formen: Parabel! Allegorie! Fabel! Exempel müssen hinzutreten, um das analoge Kommunikationssystem des Exemplarischen zu vervollständigen. An diesem historischen Befund ist für die Frage der Alterität des Mittelalters abzulesen, daß die einfachen Formen der romanischen Literatur dieser Epoche als schon literarisierte Gattungen des Exemplarischen auftreten, mithin erst auf dem Wege zu der Freiheit des Erzählens sind, die der fiktionale Versroman schon seit Chretien de Troyes erreicht hatte, die prosaischen Kurzformen hingegen erst mit der von Boccaccio geprägten Kunstform der Novelle in Anspruch nahmen. Aus dem historischen Befund ist ferner abzulesen, daß das von Jolles beschriebene System der neun einfachen Formen insgesamt erst in der Literatur der Neuzeit bezeugbar ist, mithin nur historische Allgemeinheit, nicht aber archetypische Universalität und Vollständigkeit beanspruchen kann. Das tut ihrem hermeneutisch ausgezeichneten Rang keinen Eintrag: gerade ihr Status einer ,mittleren Allgemeinheit', daß sie nicht zu jeder Zeit und nicht in allen Literaturen feststeUbar sind, sondern als eine nicht geschlossene Klasse von Möglichkeiten ergriffen, ausgeschöpft und wieder vergessen, neu konkretisiert, umbesetzt und erweitert werden können, erlaubt den Rückschluß von ihrer jeweiligen historischen Konstellation auf die Eigentümlichkeit des kulturellen Kodes einer Epoche und Literatur. So ist es zum Beispiel für die Antike bedeutsam, daß Pindars Siegeslied entgegen Jolles nicht die einfache Form Legende literarisiert, die erst in der christlichen Ära geschaffen wurde. Hingegen ist es keine schiefe Analogie, sondern erklärt eine provokative Säkularisation dieser Gattung der christlichen Transzendenz, wenn man den modernen Sportbericht mit JoUes der einfachen Form Legende zuordnet, da dieser - man denke an die Vita eines bekannten Fußballkönigs - gleichermaßen auf die Frage antwortet, wie sportliche ,Tugend' in einem Menschen sichtbar und an seinem ,Rekord' geradezu meßbar werden kann. So kennzeichnet es wiederum unsere Moderne, daß einfache Formen wie das Sprichwort, die Fabel, das Exempel oder das Märchen seit der Romantik Vergangenheitscharakter angenommen haben: sie wurden gesammelt, ediert, für Schulbücher bearbeitet, aber nicht mehr erkennbar weiterproduziert, von besonderen Anstrengungen abgesehen, die es kostete, sie gleichsam gegen den Strich auf dem Höhenkamm der Literatur als Kunstformen neu zu konkretisieren. Umso Wirkungsvoller war es dann nach längerer Karenz, die alten einfachen Formen im Zeitalter der Massenmedien und Subkulturen aus der Versenkung zurückzurufen, das Sprichwort als Werbeslogan zu 'plazieren, die Fabel als ,Denkmodell' in politische Rhetorik einzubauen, das Exempel als moderne Kalendergeschichte der Reflexion zu empfehlen oder die alte MärchenidyUe in neue Glückswelten umzuwandeln. Einer Untersuchung solcher Reprisen zeitweilig abgesunkener Gattungen wären die resistenteren, jederzeitlichen und doch am raschesten abnutzbaren Formen des Rätsels und des Witzes gegenüberzustellen. Andererseits müßte im Blick auf das gegenwärtige System
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einfacher Formen berücksichtiat werden, daß die Mythe, die im christlichen Mittelalter selten und nur als hochliterarische Form vorkommt, seit dem 19. Jahrhundert als neuer Mythus auf der Basisebene der Bildung und Legitimation politischer Identitäten eine erstaunliche Konjunktur erlebt hat. Das Memorabile schließlich, von Jolles nicht zufällig an einer Zeitungsmeldung demonstriert, lebt und wuchert heute im Fait divers wie in der zeitgeschiChtlichen Reportage. Es erlangte seinen höchsten literarischen Rang als Grundform der histoire particulii,e bei Saint-Simon und dann wieder in der didaktischen Geschichtsaufbereitung bei Johann Peter Hebel, reicht aber nicht hinter die Schwelle des neuzeitlichen Geschichtsverständnisses zurück: seine spezifische Subsinnwelt einer Faktizität, deren unauslotbarer Sinn am quereinschießenden, nicht subsumierbaren Detail zutage tritt, liegt jenseits einer Geschichtserfahrung, deren Konsistenz durch die Allmacht Gottes verbürgt warM. Wie sieht demgegenüber das mittelalterliche System einfacher Formen aus? Hier muß sich unsere Betrachtung notwendigermaßen auf das beschränken, was durch die Aufzeichnung bereits in literarischer, obschon noch nicht werkhafter Gestalt auf uns gekommen ist. Es wäre müßig, ex silentio die durchaus vermutbaren einfachen Formen des Rätsels oder des Witzes zu erschließen. Sie kommen im Textbereich der volkssprachlichen Literatur allenfalls in anderen Gattungen als Elemente einer Fabel vor, sind aber offenbar nicht als aufzeichnungswürdig angesehen worden". Hingegen ist das Nichtbezeugtsein der Mythe schwerlich anders zu erklären als durch die Unterdrückung der paganen Mythologie, nachdem die biblische Welt- und Heilsgeschichte alleiniae Autorität erlangt hatte. Das Verfahren der Unterdrückung war die allegorische Reduktion der GÖtlergeschichten auf das moralische Epitheton oder auf die Personifikation von Tugenden oder Lastern; die Allegorie bringt den Mythos zum Stillstand und setzt sodann den Betrachter als Wanderer durch die Stationen einer allegorischen Landschaft in Bewegung". Diese viatorisehe Struktur der allegorischen Handlung und ihre emanatistische Umkehrung (die Erscheinung eines himmlischen Wesens, das in den Weltprozeß eingreift), liegen als einfache Form den großen lateinischen Epen der Schule von Chartres zugrunde. Verhüllt durch das allegorische Gewand (sub ;ntegumentum) wurden hier neue Mythen auf christlichem Boden geschaffen, um die fundamentale Frage nach der Erneuerung des Lebens zu beantworten (siehe VIII). Gleichfalls nur als Substrat einer großen Gattung wird in der volkssprachlichen Literatur unserer Epoche die Sage faßbar. Auf sie als einfache Form weist die Chanson de gelte zurück wie andererseits der mit ihr konkurrierende Artusroman auf die einfache Form des Märchens (siehe IX). In der Sage nimmt ein historisches Ereianis die reduzierte, oft kaum noch kenntliche Gestalt an, in welcher es für die kollektive Erinnerung Bedeutung erlangte; meist ist es nur noch ein historisch bezeugter Ort oder Personenname, durch den die ChanIon de geste faktisch in der Geschichte wurzelt. Ihre Subsinnwelt ist eine ideale Vorzeit, das Herocnzeitalter der karolingischen Christenheit ("Ie pa. tcl qu'ü eOt dO ~trc"), nicht die Geistesbc74 Nach Tb. Holzapfl. der über diese Gattul1l eine Konstanzer Dissertation vorbereitet. 75 Zu einer esoterischen lyrischen Sonderform ,esteigert wurde das Rätsel im Provenzalischen devlNZlh, siehe dazu N. Pasero in: Cultura neollltina 28 (1968) 1- 34. 76 Nach H. Weinreich in: TemN und Spiel - Probleme der My thenrezeptlon , ed. M. Fuhrmann, München 1971, p. 611 (poetik und Hermeneutik IV).
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schäftigung, "in der sich die Welt als Familie aufbaut", woraus nach JoUes die nordischen Geschlechtersagen hervorgingen". Die Sage hat in romanischer Tradition keine selbständige kleine Form ausgebildet; das Korrelat zu der sogenannten Volkssage, die auf Erklärung historischer oder dämonischer Gegebenheiten zielt 71 , findet sich nur in lateinischen, zum Gebrauch der Prediger bestimmten Textsammlungen, von denen der DÜllogus m;,aculorum des Caesarius von Heisterbach eine gute Vorstellung gibt. In der Reihe der neun kleinen Gattungen, die nach meinen Feststellungen ein für das Mittelalter spezifisches System literarischer Kommunikation bilden, ist das Sprichwort die kürzeste Form. Sein ,Sitz im Leben' wird dort am besten faßbar, wo es im Kontext einer Handlung herbeigerufen wird, um die eingetretene Situation zu kommentieren. So wenn zum Beispiel Renart im Ziehbrunnen bei der Begegnung der beiden Eimer den wieder einmal getäuschten Gevatter Ysengrin mit dem ironischen Kommentar aufklärt: Quant li uns va, li autres vient, / C'est la costume qui av;ent (Roman de Renarr, IV v. 354). Die Erfahrung vom Lauf der Welt (Ia costume) ist unvorhersehbar und doch notwendig; die Weisheit des Sprichworts ist darum auch - in der unvergesslichen Formulierung von Jacob Grimm - "nicht der Ertrag einsamer Betrachtung, sondern in ihm bricht eine längst empfundene Wahrheit blitzartig hervor". Das verdeutlicht auf das schönste die dem Mittelalter eigentümliche Form der Proverbes au vilain: Souvent, si con moi senble, Ai mout veu ensemble Proudomes et mauvais; Mais eil qui mains valoit', C'iert eil qui plus jengloit; Pour rien ne fust en pais. Ad~s brtlit le pire ruee dou chtu, ce dit li vilains (Nr. 33).
Da hier der moralische Kommentar vorangestellt ist (umgekehrt zum Exemplum, das den erläuterten Lehrsatz oft voranstellt), bleibt dem "blitzartig hervorbrech~nden" Sprichwort ein Moment der Überraschung, das es seiner Rationalisierung überlegen macht". Führt das Sprichwort zur retrospektiven Einsicht in den unvermeidlichen Gang der Dinge, so durchbricht die Parabel alle pragmatische Dringlichkeit der Alltagswelt, um den Menschen zur Umkehr und Änderung seines Lebens zu bringen. Gerade diese appellative Funktion par excellence, derentwegen die Parabel als Prototyp der mit dem Neuen Testament geschaffenen literarischen Formen christlicher Verkündigung anzusehen ist, läßt sich in mittelalterlicher Tradition kaum auffinden. Mir ist aus den romanischen Literaturen nur ein Fall 77 Einfache Formen, p. 74. 78 Siehe H. Bausinger, op. cit., p. 178: "Die Sage ( ... ) sucht das Unerhörte und Unerklärliche, das die alltäglichen Normen übersteigende in die erklärenden Kategorien und Formen zu bannen, die vom Volksglauben und in überlieferten motivischen Mustern bereitgestellt sind. Das Unheimliche wird also in der Sage nicht nw erfahren, sondern auch beschworen und gebannt." 79 Cervantes hat den Grundwiderspruch zwischen reaelhafter Erfahrung und nie ganz einholbarer Lebenswirklichkeit am tiefsinnigsten im Verhältnis von Don Quijote und Sancho Pansa gestaltet, worauf ich an anderer SteDe zurückkomme (Ober den Grund des Vergrriigen, am komischen Helden, in: Poetik und Hermeneutik VII).
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bekannt, der dem neutestamentlichen Muster auch in der spezifischen Offenheit zum Angesprochenen nahekommt. Er findet sich in Joinvilles Histoire de Saint Louis, im Kapitel, das von der Situation berichtet, in der eine schwierige Gesandtschaft, von der die Befreiung Jerusalems abhing, zum Sultan von Damaskus unternommen werden mußte. Frere Yves wird dieser Gesandtschaft als Dolmetscher beigegeben. Vor ihrem Aufbruch ereignet sich folgendes: Tandis que il aloient de leur hostel a I'ostel du soudan, frere Yves vit une femme vieille qui traversoit parmi la rue, et portoit en sa main destre une escueUee pleinne de feu, et en la senestre une phiole pleinne d'yaue. Frere Yves li demanda: ,Que veus-tu de ce faire?' EUe li respondi qu'elle voulait du feu ardoir paradis, que jamais n'en fust point, ct de I'eau cstaindre enfcr, que jamais n'en fust point. Et il demanda: ,Pourquoy veus tuce faire? - Pour ce que ce je ne vueil que nulz face jamais bien pour le guerredon de paradis avoir, ne pour la peur d'enfer: mais proprement pour I'amour de Dieu avoir, qui tant vaut, et qui tout le bien nous puet faire.
Parabelartig sind die Züge aus der nächsten Alltagswelt (Wasserholen, Fackeltragen), die auf das Fernste (das ausstehende Reich Gottes) weisen, äer antidogmatische Einsatz (Ablehnung von Paradieseslohn und Höllenstrafe) und die appellative Offenheit (der Angesprochene muß sich das ungesagt Gebliebene selbst sagen). In der kommunikativen Situation spricht eine einfache alte Frau aus, was sonst nur die Autorität eines ,Meisters' sagen kann. Der Sinn ihrer Gleichnisrede fordert eine radikale Umkehr: würden alle Menschen weder in Erwartung zukünftiger Belohnung noch in Angst vor zukünftiger Strafe, sondern allein um der Liebe Gottes willen handeln, so wäre dieser Kreuzzug sogleich zu Ende und könnte das Reich Gottes auf Erden anbrechen. Daß es sich bei diesem denkwürdigen Fall mittelalterlicher ,Ideologiekritik' gattungsgeschichtlich wahrscheinlich um ein Unicum handelt, kennzeichnet die Alterität des Mittelalters wiederum nach der Seite ihres dogmatischen Überhangs. Die Subsinnwelt der religiösen Erfahrung extra ecclesiam ist in unserer Epoche fast ausschließlich in den kleinen Gattungen der Allegorie (Dit), der Legende und des Mirakels thematisiert. Die Tendenz, der Gleichnisrede den extravaganten Charakter'° durch allegorische Auslegung zu benehmen, um sie in direkte Lehre zu überführen, beginnt schon im Neuen Testament (z. B. Matth. 13. 18-23) und setzt sich im Mittelalter voll durch. Die autoritative Allegorie macht sich die undogmatische Parabel mit dem Verfahren botmäßig, die hislOria Zug um Zug nach vorgegebenen Normen der Bedeutung zu entschlüsseln, deren Sinn sich dem Hörer der Gleichnisrede erst von der Zuspitzung des Ganzen aus und nur ad personam erschloß. Gleichwohl war die Vorherrschaft der religiösen Allegorie nicht so absolut, wie oft angenommen wird: ihr dogmatisches Monopol auf Auslegung nach der duplex sententia wurde um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert durch die weltliche Dichtung gebrochen (wovon schon die Rede war), und sie stand auch im Bereich der einfachen Formen des Exemplarischen von Anfang an neben konkurrierenden anderen Gattungen. Es sind dies vor allem das Exemplum und die Fabel, die in antiker Tradition schon literarisch vollentwickelt und auch Gegenstand der rhetorischen Theorie 80 So hat P. Ricczur die spezifisch biblischen Redeweisen der Metapher, eschatologischen Sprüche und sprichwortartigen Aussprüche mit ihrer Absicht charakterisiert, "den Zuhörer von dem Plan abzubringen, aus seinem Leben etwas Kontinuierliches zu machen", in: Evangelische Theologie, Sonderheft über Metapher, München 1974, p.67.
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waren. Hier sei nur an die aristotelische Lehre vom Paradigma (Rhet. 2, 20) erinnert. Ihr Fazit für die christliche Laienunterweisung läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß das Exemplum wie die Fabel von der ästhetischen Evidenz des Anschaulichen zehrt, dem erdichteten Beispiel aber durch die höhere Kraft des Faktischen, als ein durch die Tat gegebenes Vorbild überlegen ist". Im christlichen Gebrauch konnten die Exempla gegen die heidnischen Philosophen und ihren Anspruch ausgespielt werden, daß allein dem begrifflichen Denken und seinen logischen Mitteln die Erkenntnis des Wahren vorbehalten sei. Die christliche Oberzeugung vom höheren Gewicht, das dem geschichtlich Bezeugten über das nur Gedachte, der ereignishaft anschaubaren Tat über das bloße Lehrgebäude zukommen müsse (Christus prima doeuit {aetis quam verbis), mag mit ein Grund darur sein, daß das Exemplum bei der Verbreitung der christlichen Lehre neuen Wert und literarischen Rang gewann. Anders verhielt es sich mit der äsopischen Fabel: sie wurde als Schulbuch rur den fibelartigen Gebrauch im Lateinunterricht verwendet. Daß sie gleichwohl nicht bruchlos in die Tradition des christlichen Mittelalters eingegangen ist, zeigt eine frühe Bearbeitung, der sogenannte Romulus Nilllnlinus, an den die .volkssprachliche Tradition seit dem Esope der Marie de France anknüpfteu. Der mönchische Verfasser war sich offensichtlich der Schwierigkeiten bewußt, die es mit sich brachte, äsopische Fabeln der christlichen Unterweisung dienstbar zu machen. Zwischen der essentiellen Welt der klassischen Fabel, in der alle handelnden Figuren unentrinnbar an ihre Natur gebunden und gerade durch die Unfreiheit ihrer Rollen paradigmatisch sind, und dem existentiellen Anspruch der christlichen Moral, die den Spielraum der Entscheidung zwischen Gut und Böse fordert, klafft ein Widerspruch, den hier ein naiver Rekurs auf die sokratische Lehre, daß niemand wissentlich Böses tut, überbrücken soll. Denn der fromme Verfasser unterstellt Äsop nicht allein die christliche Absicht: ostendi vias malorum, con/irmavi vias bonorum, sondern glaubt seine Weisheit auch darin zu erkennen, daß sie uns zeige, wie zwischen den humiles alque sapientes und den maUvolos et insipientes zu unterscheiden sei. So weit fallen Fabelhandlung und Moral in der späteren Tradition der Gattung nicht wieder auseinander. Doch bleibt das Spannungsverhältnis zwischen Handlungsmodell und Lehre der interessanteste Aspekt in der Rezeptionsgeschichte der antiken Muster, deren Umkreis im Mittelalter durch Aufnahme heterogener Stoffe erheblich erweitert wurde. Marie de France zum Beispiel hat nicht geringe Schwierigkeiten, die äsopische Fabel mit ihrer inhärenten "Lebenslehre rur Unterjochte" rur ein ritterliches Publikum auszulegen". Ihre Apologe geraten darum nicht notwendig zu gewaltsamen Umdeutungen der Fabel. Da sich Fabel und Apolog nicht wie Fall und Regel verhalten, nicht also in einem Verhältnis logischer Subsumtion, sondern in einem Verhältnis von anschau barem Modell und exempla-
81 Im folgenden übernehme ich ean;,e Sätze aus meinen Ausfuhrungcn über das Exemplarische in: Positionen der Neglltil'itit, ed. H. Weinrich. München 1976. p. 311 ff.
(poetik und Hermeneutik VI). 82 Im folgenden greife ich auf das erste Kapitel meiner Untenuchungen zur mittelDlter· lichen Tlerdichtung. Tübingen 1959. p. 24-55. zulÜck. 83 A. Schirokauer: Die Stellung ÄIOPI in der UtertllUT deI Mittelalters. an: Festschrift für W. Stammler. Berlin- Bielefeld 1953. 179- 191.
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rischer Norm des Handeins stehen, ist der Gattung selbst ein Spielraum eigen, den jede Fabel in der Geschichte ihrer Rezeption neu konkretisieren kann. Legende und Märchen stehen sich im System der kleinen Gattungen des Mittelalters darin konträr gegenüber, daß das Übernatürliche der Legende geglaubt sein will, während das Märchenwunder eine "suspension of disbelief", das Genießen der Unwirklichkeit des Geschehens voraussetzt. Von beiden Gattungen setzt sich wiederum der Schwank ab, der in der mittelalterlichen Gestalt des Fabliau sowohl die übernatürliche Wahrheit der Legende als auch die inner, weltliche Transzendenz des Märchens negiert und die Subsinnwelt der alltäglichen Wirklichkeit als Gegenstand des Lachens präsentiert. Der Beschreibung der Subsinnwelt der Legende als Welt des offenbar werdenden Heiligen, wie sie Jolles gab, und seiner Bestimmung ihres ,modus recipiendi' alslmitabile, durch welches Tugend tätig und meßbar wird, habe ich für den mittelalterlichen Bereich nur eine historische Bemerkung hinzuzufügen. Die Vollkommenheit des perfectus, der keiner Wandlung bedarf und über Furcht und Mitleid erhaben ist, ließ auf die Dauer der tätigen imitatio offenbar so wenig Raum, daß dem unerreichbar gewordenen Vorbild im 12. Jahrhundert die neue Norm eines Unvollkommeneren Helden gegenübergestellt wurde. Es war der fehlbare, alltägliche Träger des Marienmirakels, der dem Bedürfnis nach sympathetischer Identifikation mehr entsprach, welches dann aber auch leicht in ein sentimentales oder magisches Verhältnis (z. B. zum Heiligen als Nothelfer für alle Lebenslagen) abgleiten konnte. Hingegen ist das Märchen in der klassisch gewordenen Gestalt, die Jolles im Blick auf Grimms Märchen beschrieb, in der romanischen Tradition des Mittelalters nicht bezeugt. Es gibt zwar in der Fecunda Ratis des Egbert von Lüttich sogar ein mittelalterliches Rotkäppchen, und schon in dieser Version findet sich die Handlungsstruktur der märchenhaften Inversion, derzufolge der Held die Antwort schon weiß, bevor die Frage gestellt ist, was in diesem Fall besagt, daß das Mädchen die Gabe (ein rotes Taufgewand) schon besitzt, bevor sie ihre Bestimmung (als Instrument der Rettung vor den Wölfen) zu erkennen vermag 84 • Doch das erwartbare Märchenwunder erweist sich als ein göttlicher Eingriff (Mitigat inmites animos deus, auctor eorum, v. 485), den die spätere Tradition des Märchens denn auch als heterogenes Legendenwunder wieder beseitigt hat. Als ob die Subsinnwelt märchenhafter Wunscherfüllung nicht für sich selbst geduldet werden könne, überwebt sie der Lai, der von ihren Motiven lebt, mit Problemen der höfischen Liebe und rechtfertigt sie der Roman, der sie in der geheimnisvollen Aura der matiere de Bretagne entdeckt, durch den Anspruch, den Glücksweg der Aventüre als Erfahrung der Bildung durch Liebe zu interpretieren. Die neun kleinen Gattungen, die in meiner Zusammenstellung ein mittelalterliches Korrelat zu J olles' System der einfachen Formen bilden könnten, legen insgesamt eine Auswertung nahe, die einerseits die Formen und Pragmatik exemplarischer Rede und andererseits das allmähliche Hervortreten eines autonomen Erzählers in den Blick nimmt. Damit darf dann allerdings nicht die genetische Illusion genährt werden, als ob es sich um eine kontinuierliche 84 Formulierungen nach M.-L. Teneze, die damit die Märchenforschung um eine fundamentale Kategorie bereichert hat (Du conte merveilleux comme genre, in: Arts et traditions populaires 18, 1970, p. 11).
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Annex.; Übersicht über die kleinen literarischen Gattungen der exemplarischen Rede im Mittelalter"'
Exempel
Sprichwort
Parabel
Aßegorie
Fabel
1.1. Wer spricht? Zu wem wird gesprochen?
anonyme Autorität (man, wir), weitergebendes Sprechen (auch an sich selbst)
namhafte Autorität, zu Anhängern und noch Uneinsichtigen (J esus und seine Jünger)
schriftkundiger Exeget, zu Laienpublikum
Autorität eines Lehrers, ursprünglich der Redner zu Lernwilligen zur Versammlung; legitimiert durch den Weisen als Verfasser
1.2. modus dicendi
Zitieren eines Spruchs appellatives (antidog- Auslegen durch in bildhaft pointierter matisches) Verkünden Allegorese ( aliud verbis, aliud sensu einer Lehre Ein-Satz-Form ostendit)
Schwank
Novelle
Legende
Märchen
anonymer Zeuge, zu der Gemeinschaft der Gläubigen
anonymer Erzähler (Figur meist anonymer Erzähler, individuell und namffil.ft volkstümlicher Weisheit), zu Hörerkreis, der Unter- hervortretender Erzähnaiver Hörerkreis (Kette haltung sucht ler, zu lesendem Publikum von ,Alt' zu ,Jung')
1. Kommunikative
Situation
Überzeugen durch ein fingiertes Beispiel
Demonstrieren durch historischen Präzedenzfall
Bezeugen eines heiligen Lebens
Erzählen, als ob keine Begebenheit der Wirklichkeit gliche
auf witzige Pointierung angelegtes Erzählen
Erzählen in offener (Obüberhaupt) Spannung und nicht vorentschiedener Bedeutung
Reduktion der Kontingenz auf eirie Welt unter reinen Bedingungen des Handefus: konstante üinstände, bekannte (oft komplementäre) Charaktere (darum bevorzugt Tiere), vorhersehbare Rollen
in Raum und Zeit lokalisiertes factum probabile,
zeichenhaft beschränkt auf Ereignisse, die in der Relation: tätige Tugend - bestätigende Wunder stehen
vertrauter geschlossener vs. fremder äußerer Raum
alltägliche Umwelt in der Vielfalt menschlicher Tätigkeiten, doch in karikaturaler Optik
historische Konkretisierung von Ort und Zeit, neue Umständlichkeit und Lizenz auch ,Unschickliches' zu beschreiben
1.3. Subsinnwelt 1.3.1. Raum
meist bäuerliche Umwelt
Erfahrungsraum des Alltags (auch der Arbeit); das räumlich und zeitlich Nächste oft in Relation zum Fernsten
die Welt als Schauplatz der Heilsgeschichte, deren Ereignisse auf die gegenw!Utige Zeit bezogen
1.3.2. Zeit
naturhafte Abläufe
1.3.3. Aktanten
Lebewesen und Dinge Beziehungen zwischen der Mensch gegenMenschen, auch Vor- über Gott und den (ihre Gattung repräMächten der Welt gänge in der Natur sentierend)
1.3.4. Handlungsmodell
meist zweigliedrig pointiert (in kontrastiver Verbildlichung)
Durchbrechen des Wahrscheinlichen
Was sagt mit alltägliehe Erfahrung zu diesem Fall?
1.4. Botschaft (Antwort auf..• ) Sinnbereich
laudabile, memorabile,
namhafte, durch eine Tat namhafte heiliggesprochene Person, werdende Geexemplarische Person meinde vs. Ungläubige, Dualismus übernatürlicher Mächte
Details der Handlung auf unerhörte Begegenheit, Diskrepanz von Erwartung die einen moralischen und Erfüllung bezogen Kasus aufwirft
Wie wäre die Welt, in der sich unsere Wünsche erfüllen?
Wo kann sich der Vorgang Nach welcher Norm ist von der heiteren Seite dieses Ereignis zu werzeigen? ten?
Welt des offenbar werdenden Heiligen
Welt traumhafter Wunscherfüllung
Welt ohne höhere Wahrheit, als Gegenstand des Lachens
Welt in der autonomen Problematik zwischenmenschlicher Erfahrung
spezifisch erst in der Ära des christlichen Glaubens ausgeprägt; Substrat für politische Legende der Neuzeit
weit verbreitet in vollestümlicher Überlieferung; im MA nur als Substrat von Lai und Artusroman
als autonome literarische Form durch Verzeitlichung und Problematisierung älterer Gattungen (Exempel, Mirakel, Schwank, Vida) von Boccaccio geprägt
vs. Mirakel (mit unvollkommenen Heiligen), vs. Exempel (wo Tugend ein Willensakt)
vs. Sage (in kollektiver Erinnerung wurzelnd); vs. Legende (geglaubtes Wunder)
weit verbreitet in volkstürolleher Überlieferung; antik: Götterschwank, Apophthegma, Facetie; mittelalterliche Sonderform: die Schwänke im Tierepos im Gegensatz zum Symbolismus der geistlichen wie zum Idealismus der weltlichen Gattungen
Erkennen einer Regel des admirative Identifikation Handeins aus dem Präze- (vs. sympathetische im denzfall Mirakel)
Vergnügen an der anderen Welt der Fiktion
Verblüffung, Genuß der Pointe, lachendes Erkennen
Erstaunen und Reflexion
Modell zur anschauenden Details der Handlung auf Erkenntnis einer Regel zeitlos moralischen Typus bezogen (solum quod des Handeins facit ad rem est narrandum)
Was soll ich tun:, um das Wahre zu erfahren?
Was m'f ich tun, um vor!Gottes Geriebt Zl\ bestehen?
Was gehe ich ein, wenn ich diese Rolle übernehme?
Welt im ironischen Licht der Resignation: ,So ist der Welt Lauf!'
Reich Gottes als verborgener Sinn der Welt
Welt im Lichte des dogma~sch ausgelegten ~laubens
Welt des zweckrationalen Handeins
weit verbreitet in volkstümlicher ÜberIieferung, im MA auch eingebaut in Fabliau und Roman, kommentiert in den
ursprünglich appellative Funktion; im MA fast durchweg in allegorischer Unterweisung (Dit) aufgegangen
autochthon mittelalterliehe Gattung der Laienunterweisung (seit Ende des 12.Jhs.)
in der antiken Rhetorik unter den induktiven Beweisformen; im MA durch fibelartigen Gebrauch verbreitet
vs. präzeptive Sentenz vs. Sprichwort: bevorzugt die Ausnahme nicht die Regel; vs. Allegorie: nicht durch Schlüssel (oder Dogma) zu entziffern
Protest geistlicher Dichter gegen die Fiktionen der weltliehen (höfischen) Literat1JI
vs. Exempel, das historisehen Präzedenzfall benötigt
historische Authentizität vs. logischer Beweis vs. fingiertes Beispiel
Herbeirufen, um eine Nachfolge als Einheit eingetretene Situation von Erkennen und zu kommentieren Handeln
Erkennlm und Entschlisseln der
Aufnehmen einer Lehre
I
Held als Grenzüberschrei- typisierte Personen meist individuierte Personen in ter; Aktantenpaare (nach niederen Standes (geschie- gesellschaftlichen Rollen den durch List-und Torund Konflikten Propp und Greimas) heit) Geschehen unter dem Prinzip des Wunderbaren (,aventure' vs. episches Handeln)
menschliches Handein im heilsgeschichtliehen Rahmen von Fall und Erlösuqg
.
imaginäre Vergangenheit (,es war einmal')
typisiert in: Vorbestimmung, Krise (Bekehrung), Bewährung (Passion) posthume Wirkung
Was lehrt mich das VerWie kann Tugend in eigangene für das Kommen- nem Menschen sichtbar de? werden? Welt der Geschichten als - Schatz an Erfahrung
2. Verhältnis zur
Tradition 2.1, diachronisch
antik: mythisch-historisches Paradigma im rhetorischen Gebrauch; christlieh: Instrument der Laienunterweisung
(movere et probare)
Proverbes au Vilain 2.2. synchronisch
vom Idealismus der heroisehen Dichtung wie von der direkten Moral lehrhafter Gattungen abgesetzt
3. Sitz im Leben 3.1. modus recipiendi
per analogülm
duplex sententia (parole coverte parole (>verte)
3.2. Verhaltensmuster
Resignation oder Ironie
geforderte Umkehr Normen christ(,Du mußt dein Leben lieber ~ebensfiihändern!') rungen j(Tugenden vs. Las1er)
Sich-Erkennen in einer Rolle
Imitabile, das zur Tugend Imitabile, wo Tugend täermahnt oder vor Laster tig, meßbar, faßbar wird warnt
Entlastung von Zwang und Ernst des Alltags
Suspendierung der Normen und Tabus des verordneten Lebens
der Diskussion eines gebildeten Publikums anheimgestellte moralische Kasuistik
3.3. gesellschaftliche (ideologische) Funktion
vom Sprecher und Hörer geteilter Vorrat an Alltagserfahrung, die Welt zumeist pessimistisch einschätzt
Bildung oder LegitiBefestigung des mation einer religiöorthodoxen Glausen Gruppenidentität bens (parabolisch verborgene Rede schützt vor Unberufenen)
Aufklärung über Weltklugheit, oft aus der Sicht der Schwächeren formuliert
exempla maiorum in le-
Utopie einer Glückswelt, erweckt durch poetische Gerechtigkeit
nur kontrastiver ,Realismus', von Normen entlastend ohne sie in Frage zu stellen
Konversation als Form der "leidenschaftlichen Betrachtung des irdischen Lebens" und der Reflexion gesellschaftlicher Normen
gitimierender Funktion; historia docet in moralisierender Funktion von ästhetischer Identifikation abgesetzt
Ausbreitung und Bestätigung des Glaubens; praktisch: Anrufbarkelt von Heiligen (Namensheilige, Nothelfer)
· rische Evolution handle. Die exemplarischen Formen bleiben mit ihren .. d· b . d b t h . . d· lItera . h sta~ Subsinnwelten synchromsc Ig ne eneman er es e. en; sIe. wels~n lah nisch zwar interne Normveranderungen auf, doch reIchen dIese mcht an ~. rOSchwelle, mit der allererst das autonome Erzählen begonnen hat. Diese sl~welle ist im Anschluß an H.-J. Neuschäfers s als Verzeitlichung und ProbleCatisierung der älteren kleinen Gattungen bestimmbar: Verzeitlichung der maradigmatischen wie der fiktionalen Handlungsmuster (auch die schon erzähinden Gattungen des Märchens und des Schwanks werden damit transformiert), ;roblematisierung der normativ vorgegebenen Bedeutung (die exemplarischen Gattungen werden in die Kasuistik der Lebenspraxis hineingezogen und diskutiert). Gewiß fällt die spätere Novellenproduktion in ihrer Masse ständig in die alten exemplarischen und schwankhaften Muster zurück, deren lebensweltliche Funktion durch die Erfindung einer höheren Erzählgattung ja auch keineswegs abgegolten war. Die systemindividualisierende Dominante der Hochform der Novelle läßt sich gleichwohl auch heute noch nicht besser erfassen als durch Jolles' Hypothese von ihrem mittelalterlichen Ursprung in der einfachen Form des Kasus, die wir aus dieser Epoche ja auch in selbständiger literarischer Gestalt kennen". Damit endete unsere Betrachtung bei der Gattung, die unter den einfachen Formen die komplizierteste und durch ihre offene Form auch die modernste ist. Ich begann mit einem hermeneutischen Kasus, der für den modernen Betrachter kompliziert ist, für den mittelalterlichen indes noch keiner war. Wie das Motto besagt, war es für den sage escrivein noch selbstverständlich, daß die alten Dinge und die neuen / erst zusammen gut und schön sind. Warum sollten wir nicht auch in dieser Alterität des Mittelalters eine Seite seiner Modernität für uns wiederentdecken? 85 BocCQccio und der Beginn der Novellistik, München 1969. 86 Siehe P. Zumthor, op. eit. p. 403, zu den Arreu d'Amour von Martial d'Auvergne. 87 Für die folgende Übersicht kann ich hier nur wenige bibliographische Hinweise, aber keine erschöpfende Dokumentation geben, da sie auf eine Reihe von Seminaren zurückgeht, die vielleicht noch in einer umfänglicheren Darstellung ausgewertet werden sollen. Das literarische System der kleinen Gattungen in der Antike hat M. Fuhrmann im Heft 5 (Dez. 1975) der Zs. Der altsprachliche Unterricht umrißhaft beschrieben. Für die einzelnen Gattungen verweise ich auf die folgenden Arbeiten, denen ich zum Teil auch für Formulierungen verpflichtet bin: zum (Sprichwort) E. Rattunde: Li proverbes au vilain, Heidelberg 1966; (zur Parabel) W. Magaß: Zur Semiotik der signifikonten Orte in den Gleichnissen Jesu, in: Linguistica biblica 15/16 (1972) p. 3-21, ferner P. RiCCEur und E. Jüngel: Metapher - Zur Hermeneutik religiöser Sprache, in: Evangelische Theologie, Sonderheft, München 1974; (zur Allegorie) siehe V; (zur Fabel) H.-U. Gumbrecht: Eint. zu seiner Übersetzung von Marie de France: Esope, in: Klassische Texte des roTTlllnischen Mittelalters, Bd. 12, München 1973; (zum Exempel) R. Koselleck: H;storw TTIIlgistra vitae, in: Natur und Geschichte, Festschrift Karl Löwith, Stuttgart 1967, p. 196 ff., K. Stierle: Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte, in: Text als Handlung, München 1975, p. 14-48, und R. Honstetter, der eine Konstanzer Diss. zu dieser Gattung vorbereitet; (zur Legende) U. Ebel: Das altromanische Mirakel, Heidelberg 1965; (zum Märchen) M.-L. Ten~ze: Le conte merveilleux franc;ais, in: Ethnologie franc;aise, 11, 1-2, p. 97-106; (zum Fabliau) J. Beyer: Schwank und Moral, Heidelberg 1969, und R. Guiette: FablitJux, in: Questions de Littlrature, Bd. I, Gent 1960, p. 61-86; (zur Novelle) H.-J. Neuschäfer: BocCQcc;o und der Beginn der Novellistik, München 1969, ferner die immer noch unentbehrliche Studie von E. Auerbach: Zur Technik der Frührena;SSQncenovelie in Italien und Frank· reich, Heidelberg 1921.
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Zur Tierdich tung
11.
UNTERSUCHUNGEN ZUR MITTELALTERLICHEN TIERDICHTUNG
CtZr 116 RtglllJrl p«1111 011 glostr, PtlUtr, ulwJi,r, ",uur Plus qm sur loult rim qui soit.
Die literarische Besonderheit der mittelalterlichen Tierdichtung, die nicht zufaUig unter dem Namen des Fuchses ( Rellllrl, Reinelu) in die überlieferung einging und weit über das Mittelalter hinaus lebendig blieb, ist nicht erst rückblickend von der modernen Literarhistorie entdeckt worden. Sie war, wie durch die vorangestellten Verse aus dem Prolog zu RENART LB CoNTREFAIT, dem letzten. allegorischen Ausläufer des mittelalterlichen Tierepos, bezeugt wird, schon dem mittelalterlichen Verfasser und seinem Publikum bewußt, bei dem sich der ROMAN DE REN/oRT einer Beliebtheit erfreute, die nur noch vom ROMAN DE LA ROSE erreicht wurde 1). Der außer Amt gekommene Kleriker und ,epicier' aus Troyes, der im Jahre 1319 seine satirische Renan-Enzyklopädie begann, hat die Ankündigung seines Prologs im buchstäblichen Sinne erfüllt und seine Reflexion über das Wesen Renarts und seine Bedeutung für die Erkenntnis der Welt in einem monströsen Werk von mehr als 60000 Versen niedergelegt. Nicht weniger nachdrücklich bekundet sich die Unerschöpflichkeit des Gegenstandes in der langen Geschichte der ,gelehrten Fuchsjagd'; sie hat von Jacob Grimms R,inharl FUfhs (1834) bis zu Leo Spitzers Abhandlung über die VIII. Branche des ROll/an d, /Unarl (1940) die germanistische wie die romanistische Forschung beschlftigt und ist bis zum heutigen Tage in den wesentlichen Fragen nicht zu Ende gekommen. In der Geschichte dieser Forschung Z) bedeutet die Abhandlung. die Gaston Paris 1894/95 als Replik auf die Arbeit L. Sudres Lu SOllTltS du Ro11/l1li tU Rellllri (1893) im JO/lrnal du SlII/lIIIls veröffendicht hat, insofern einen Markstein. als hier zum erstenmal die Umwendung der Blickrichtung auf die historische und dichterische Sondererscheinung des mittelalterlichen Tierepos postulien wird: nCette part considerable de I'invention dans le ROII/IIII tU R,IIIlTd tel que nous rayons etait en dehors du cadre de M. Sudre;
il faudrait en tenir le plus grand compte si "on ecrivait non une etude de I) RCf 105-1°7; diese für die Wirkungsgeschichte der Renartdichtung so bedeutungsvolle Stelle hat schon TILANDER als Motto für seine Rt",tZrquts . .. benutzt. Die Zeugnisse für die Popularitit des RdR sind von FOULET im XX. Kapitel seines Buches (p. 496-U5) zusammengestellt worden. I) Hierzu kann auf die Darstellungen von FOULET (Kap. I und IV) und von VORETZSCH (Einl. zum RF) verwiesen werden.
[SO]
13
sources, mais une histoire de l'cpopee animale au moyen age. Cette histoire est a faire ... ce. 1) Gaston Paris sah diesen Anteil der ,invention', d. h. das, was das Tierepos zur .. a:uvre mcdicvale, fcodale et fran~aise" mache, vornehmlich in drei konstitutiven Elementen: in der Verleihung von Personennamen an Tierfiguren, die damit ihre Gattung ,individuell' darstellen, im Antagonismus von Fuchs und Wolf als zentralem epischen Thema des Zyklus und in der Ausgestaltung der Fabel vom Hoftag der Tiere zum ,Plaid de Renart" der der zyklischen Entwicklung einen krönenden Abschluß gibt I). G. Paris hat damit zum erstenmal die literarische Sonderstellung der mittelalterlichen Tierepik umrissen, obschon er noch nicht erkannte, daß die von ihm hervorgehobenen Aspekte der Originalität des ROMAN OE RENART das Problem, was an diesem Werk als spezifisch mittelalterlich anzusehen ist, nur erst anrührten und im einzelnen einer neuen Untersuchung aller Texte der mittelalterlichen Tierdichtung bedurften. Denn seine eigene Auffassung von der erst noch zu schreibenden Geschichte der mittelalterlichen Tierepik war von einer Reihe von Vorentscheidungen bedingt, mit denen er selbst noch dem Geist Jacob Grimms verhaftet blieb: der rigorosen Scheidung von volkstümlicher und gelehrter Tradition mit dem Primat der ersteren in den Ursprungsfragen, dem Leitbild der organischen Entwicklung mit dem Postulat hypothetischer Urund Zwischenstufen und der Höherbewertung des Archaischen, Schlichten, Naiven. kurz: der ,Naturpoesie', derzufolge das Element der Didaxis, Satire und Parodie von vornherein von der Betrachtung des Tierepos ausgeschlossen blieb. Die Spaltung der späteren Forschung in die bei den Lager der ,Äsopisten' und der ,Folkloristen' ist weitgehend darauf zurückzuführen, daß diese Vorentscheidungen nicht nur beibehalten, sondern darüber hinaus in einer einseitigen Weise, die G. Paris fern lag, zum Dogma erhoben wurden. Dabei ist zugleich die Einheit einer gemeinmittelalterlichen Betrachtung, wie sie Jacob Grimm als unerreichtes Vorbild verwirklicht hatte und auch G. Paris noch anstrebte, verlorengegangen. L. Foulet beschränkte sich in seiner antiromantischen, Bedier gewidmeten These auf eine Analyse und Geschichte der 28 Branchen des RdR, C. Voretzsch auf einen quellenkritischen Vergleich von RdR und REINHART FUCHS, auf den sich die germanistische Forschung verließ, ohne selbst jemals wieder auf die altfranzösische Parallelversion zurückzugehen. Der lateinische YSENGRIMUS
wurde von Foulet wie von Voretzsch nur vergleichsweise als ,Quelle' ausgebeutet, aber nicht eigens gewürdigt und auch von der niederländischen Forschung nur isoliert betrachtet; von dem flämischen REINAERT ganz zu schweigen, der fast ausschließlich der eingeengten Perspektive einer ,Nationalliteratur' anheimgegeben blieb. Dazu kommt, daß die kleinen Genera der Tierdichtung (Tierfabel. Tierschwank, Tiermärchen), die in den Um1) PARIS
Z)
PARIS
p. 4 1 3. p. 3S7, 396-397,411.
[SI]
14
kreis des Tierepos fallen. immer nur im Blick auf eine Ursprungstheorie herangezogen. nicht aber in ihrer eigenen Intention gesehen wurden. Auch hat die überhandnehmende monographische Forschung immer mehr den Blick darauf verstellt. daß die mittelalterliche Tierdichtung nicht im leeren Raum. sondern in weiteren literarischen Zusammenhängen steht, die die Entwicklung ihrer Formen mit bedingt haben. Dieser Stand der Forschungen macht verständlich, daß der Gegensatz der Auffassungen sich so sehr verfestigen konnte. daß die entgegengesetzten Theorien eines rein volkstümlichen (Voretzsch) und eines ausschließlich literarischen Ursprungs (Foulet) der mittelalterlichen Tierepik, sowie der höheren Altertümlichkeit des mhd. RF und der Priorität bzw. Ursprünglichkeit der ältesten Branchen des afrz. RdR noch immer unvermittelt einander gegenüberstehen. Eine Wiederaufnahme des ganzen Fragenkomplexes scheint darum gerechtfertigt und aussichtsreich, wenn sie von einer Revision der Grundlagen ausgeht. die in anderen Zweigen der Erforschung mittelalterlicher Literatur schon vorgenommen oder angebahnt wurde. und wieder auf eine gemeinmittelalterliche Basis gestellt wird. Der Revision bedürftig erscheint zunächst die prinzipielle Scheidung von volkstümlicher und gelehrter (literarischer) Tradition. Hier hat vor kurzem J. Rychner in seiner für die Epenforschung umwälzenden Arbeit: La (hanson dt gestt - Essai I/Ir !'art IpifJllt du jongltllr! (1955) I) einen Gesichtspunkt geltend gemacht, der auch für die mittelalterliche Tierepik von größter Bedeutung ist: "Puisque c'est decidement le caractere oral de cette litterature qui est au centre de son explication, je remplacerais volontiers avec Parry le terme de litterature populaire par celui, plus clair et plus objectif, de litterature orale, et, ajouterai-je, professionnelle. qui rappelle lcs circonstances positives donna nt acette litterature ses caracteres particuliers" I). Mit dem Vorschlag, den Begriff der Volksdichtung durch den der lillbatllrt oralt, d. h. der nicht an die Schriftlichkeit des Verfassens gebundenen, mündlich überlieferten und im Falle der Chanson de geste sogar mit jedem Vortrag neu gestalteten Literatur zu ersetzen. wird die Scheidung zwischen volkstümlicher und gelehrter Tradition von dem romantischen Gegensatz zwischen dichtender Volksseele und individuellem Verfassertum befreit und auf eine in der Gestalt und Darbietung der Texte selbst beruhende und nicht allein ihren Ursprung betreffenden Unterscheidung: die Schriftlichkeit oder Schriftlosigkeit des Verfassens, Oberlieferns
und Reproduzierens einer Dichtung zurückgeführt, deren fundamentale stützt sich dabei auf die Forschungen zur südslawischen Epik (M. Murko, M. Parry u. a. m.). die auch H. Fränkcl für seine Darstellung der homerischen Epik vergleichend herangezogen hat (Dithlll1lg lind Philolophit du frilhm Grittht"IIIIIIs, Frankfurt 19S1, bes. P.7-H). Die ThJre d'Elal, die Ariane de Felice im März 19H unter dem Titel: Euai lIIr IjIItlqllts IttJmiqllu Je I'art verbal Iradilionntl vor der Sorbonne verteidigt hat, war beim Abschluß dieser Arbeit noch nicht veröffentlicht (vgl. die Besprechung in u MOIllk, 27· 3· 57). 1)
RYCHNER
I) R YCIINER
[52]
p. I S8.
Bedeutung für die abendländische Literatur vor allem W. Bulst in seiner Kritik am Mittelalterbild von E. R. Curtius und anderweitig hervorgehoben hat 1). Der Vorwurf, den Rychner gegen die bisherige Epenforschung vorbringt: "N'appliquons donc pas aux produits de cet art profondement conditionne les criteres que nous employons dans la critique de la litterature ecrite et meditee, de la litterature de recherche" 2), ist auch gegen die Forschung zu unserem Gegenstand zu erheben. Denn die Frage, inwieweit die Art der Abfassung und Darbietung der mittelalterlichen Tierepen die Gestalt der auf uns gekommenen Texte bedingt haben kann, ist weder von den ,Folkloristen', noch von den ,Äsopisten' gestellt worden, da ihr Interesse einseitig auf den volkstümlichen oder gelehrten Ursprung der Tradition, nicht aber auf die Art der Tradierung gerichtet war. Dabei wurde stillschweigend die uns erhaltene Gestalt der Texte mit schriftlicher Überlieferung gleichgesetzt, von Foulet als primär betrachtet, weshalb er sich um ihre (fur ihn erst sekundäre) mündliche Verbreitung nicht mehr kümmerte, von Voretzsch hingegen als sekundär (d. h. als Produkt späterer Bearbeiter) angesehen und die von ihm als primär angesetzte, vorliterarische Überlieferung in den Bereich des Hypothetischen, nur noch zu Erschließenden verwiesen. Die Grenzlinie zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung verläuft indes zum Teil sichtbar durch die uns erhaltenen Texte, von denen die einen die durch die Rezitation bedingte Gestalt einer Vortragsdichtung bewahren, während die andern als reine Buchredaktion auf uns gekommen sind, bzw. von vornherein als Leseliteratur konzipiert waren. Daß durch eine Berücksichtigung dieser Unterscheidung auf Abhängigkeitsverhältnisse wie das von RdR und RF, die bisher immer nur nach den Kriterien der schriftlich abgefaßten bzw. an einen fixierten Text gebundenen Leseliteratur beurteilt wurden, ein neues Licht fallen kann. liegt auf der Hand 3). Der Revision bedürftig erscheint ferner die Abgrenzung und Wesensbestimmung der verschiedenen Genera der Tierdichtung. Daß etwa in Voretzschs Einteilung, der hier die communis opinio repräsentiert, von vornherein der Blick auf seine Theorie von der Entwicklung des Tiermärchens zum Tierepos bestimmend war, wird aus seiner folgenden Darlegung am besten deutlich: 1) in: Wirluruks Worl 3 (195Z/n) p. 56ff.; ferner in seiner Abhandlung: Das DllIIitllpitl, in: Gtgt".,llrl;1II Gtirll, Fllilthrifl/;n. Rithar. B,"t (1954). p. 82fT. ') RYCHNER p. lU. ') SUCHIEIl zum Beispiel, der den volkstümlichen Ursprung der Tierepik so entschieden verfocht. lag der Gedanke. daß der auf uns gekommene RdR selbst die Stadien einer fließenden überlieferung bewahre, so fern, daß er abweichende Züge in Parallelversionen prinzipiell nicht der Variation eines Verfassers zuschreiben wollte - der Gedanke an freie Erfindung und damit auch an bewußte Variation wird a limine ausgeschlossen -. sondern aus dem Vorliegen verschiedener volkstümlicher überlieferungen, bzw. Varianten des ,Tiermärchens' erklärte (vgl.
p. u8,
Z31
f.).
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"Die beobachtung der tiere durch den menschen und seine innere anteilnahme an ihrem leben und treiben prägt sich dichterisch in den gattungen des tiermärchens, der tierfabel, des tierschwanks und des tierepos aus. Das tiermärchen gehört im wesentlichen der mündlichen überlieferung, die übrigen gattungen der geschriebenen literatur an. Indes sind tiermärchen schon sehr früh - z. B. bei den Indern - in der geschriebenen literatur verwertet worden. Eine reihe von einzelstoffen sind dem märchen und der fabel gemeinsam, so daß sich diese von jenem häufig nur durch die angefügte sittenlehre unterscheidet: das märchen will unterhalten, die fabel belehren. Märchen und fabel sind dit!Jenigen gattungen, welche uns am frühesten in der literatur begegnen. Der tierschwank ist in der regel ein in "erse umgesetztes tiermärchen, behandelt aber gelegentlich auch begebnisse zwischen mensch und tier ohne märchenhafte zutaten. Er tritt erst im mittelalter auf. Das tierepos ist in der antike im sinne des abendlän.dischen tierepos überhaupt nicht vorhanden, Pantschatantra und Batrachomyomachia tragen einen anderen charakter. Es entsteht wie das heldenepos durch die epische ausgestaltung einer einzelnen erzählung oder durch die verknüpfung mehrerer erzählungen zu einem geschlossenen ganzen. ce 1) Von der Problematik, ob sich gerade in der mittelalterlichen Tierdichtung eine innere Anteilnahme des Menschen am Leben und Treiben der Tiere ausprägt, einmal ganz abgesehen, ist an diesen Ausführungen zunächst auszusetzen, daß Tiermärchen, Tierfabel und Tierschwank wechselseitig voneinander abgeleitet werden, ohne daß die Eigenart des Tiermärchens, nach Voretzsch das ursprüngliche Element der ganzen Tierdichtung, irgendwie zum Vorschein kommt. Dieselbe Tiererzihlung kann demzufolge durch eine angefügte Moral zur Tierfabel, durch ihre Versifizierung zum Tierschwank werden; was sie zum Märchen macht, bleibt unerörtert, denn die "märchenhaften Zutaten", von denen einmal beiläufig die Rede ist, sind weder hier noch sonst in den Abhandlungen Voretzschs definiert, noch werden sie aus den Zeugnissen ersichtlich, die er für das frühe Vorhandensein eines einheimischen mittelalterlichen Tiermärchens anführt. Das Fehlen einer näheren Bestimmung des eigentlich Märchenhaften im sogenannten Tiermärchen ist nicht zufälligi). Voretzsch hatte diesen Begriff 189~ in seiner Abhandlung JI/coh Grim1lls Deliischt TiersIll.' lind die 1IIoderne Forschung von der aufkommenden Folkloristik übernommen, um damit die in Mißkredit geratene Grimmsche Tiersage zu retten I). Die vergleichende Märchenforschung ist seitdem dazu übergegangen, die verschiedenen Gattungen der volkstümlichen Erzählkunst schärfer zu trennen; Ein!. zum RF p. VI. 2) Daß die Tierfiguren mit ReJe begabt sind, ist ein traditionelles Element Jer äsopischen Fabel, also nicht dem einheimischen ,Tiermärchen' des Mittelalters eigentümlich, und \\"urJe in der FabcltraJition auch nie als ein Element des Wunderbar~n ausgegeben. 3) abgedruckt in: Preußische Jahrbücher 80 (1895), P.416-484. 1) VORETZSCII,
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Tiergeschichten und SchwAnke werden z. B. in einer 19'4 veröffentlichten Abhandlung von Jan de Vries schon gar nicht mehr in die Betrachtung des M1rchens einbezogen. weil nur dem .Wundermärchen" der Name .Milehen" im eigentlichen Sinne des Wortes gebühre 1). Daß die Tiergeschichten. die in das mittelalterliche Tierepos einverleibt werden. mit dem Wundermlrchen nichts gemeinsam haben. springt jedem Leser des RdR sogleich in die Augen. Die Frage nach der .einfachen Form". die allen epischen Bildungen und Organisationsformen der großen Tierdichtung zugrunde liegen soll. ist demnach neu zu stellen. zumal Voretzschs Theorie. das Tierepos habe sich aus dem einheimischen. Tiermirchen" entwickelt. auch stoffgeschichtlich so wenig stichhaltig ist. wie der Versuch der .Asopisten". du in der Mitte des 1 %. Jahrhunderts aufblühende Tierepos über die äsopische Fabel aus dem Traditionszusammenhang der lateinisch-christlichen Literatur abzuleiten. Denn zwischen den Formen der lateinischen Tierdichtung. die aus dem frühen Mittelalter bekannt sind (Tierfabel. Tierschwank. Tierepitaph. Tierallegorie) und der altfranzösischen Renartbranche. wie auch zwischen der antiken Form der Epenparodie und den Tierepen des Mittelalters besteht offensichtlich keine Kontinuität. und die wenigen Dokumente. die das Vorhandensein eines einheimischen .Tiermirchens" in karolingischer Zeit bezeugen sollen. reichen nicht entfernt aus. um eine vorliterarische Entwicklung der Tierepik vor dem 1%. Jahrhundert wahrscheinlich zu machen. Die Fragwürdigkeit des Leitbilds der .organischen Entwicklung". das als Erbe des 19. Jahrhunderts noch weit über Gaston Paris hinaus mit der Perspektive der .Vorstufen" und dem Postulat verlorener Zwischenglieder den Blick auf die selbständige Intention der einzelnen Werke verstellt hat. wird nicht allein im bisherigen Bild von der Vorgeschichte des mittelalterlichen Tierepos offenkundig. Sie macht sich auch in der Beurteilung der zyklischen Entfaltung der Renartdichtung geltend. die uns vom lateinischen YSENGRIMUS bis zu den letzten Ausliufern der volkssprachlichen Fuchsepen sichtbar vor Augen steht und deren Problematik L. Spitzer in der Frage zusammengefaßt hat: .. Ober das Warum dieser losen Anreihung von Erzählungen. die nur durch die Prinzipien des Genres der Tierdichtung und vielleicht durch die Zentralgestalt Renart geeint werden. spricht man sich im allgemeinen nicht aus: warum ist die Durchorganisierung nicht ebenso durchgeführt wie in einem Epos der Karlsgeste oder einem Roman des Artuszyklus?lIl) DIese Frage hatte sich weder Voreusch noch Foulet geslellt. Voretzsch war nach dem Vorbild der vergleichenden Märchenforschung von zuvor isolierten Tiererzählungen ausgegangen. um am Ende das Tierepos einfach auf eine Aneinanderreihung von ursprünglich selbständigen Episoden (= Kantilenen) zurückzuführen; Foulet hatte umgeI) B,trllthl""gell ~.'I'" MiJrtlN", bno"tkrr ill rei",,,, VtrhtJllllir tN Htltltllrtlgt 11114 Mylbor, Hclsinki 19'4. p. 7 (FF Communications Nr. 1'0). I) SPITZER p. Z H.
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kehrt die iltcsten Branchen des RdR (lI-Va), in denen er die einheitliche Konzeption eines vom YSENGRIMUS des Magister Nivardus beeinflußten Verfassers (Pierre de Saint-Cloud) aufdeckte, an den Anfang der zyklischen Geschichte des RdR gestellt und die Entwicklung der weiteren 16 Branchen nach den Regeln literarischer Nachahmung von dem Vorbild dieses einen Werkes abgeleitet. Die Einseitigkeit des Versuches der Folkloristen, .. d'expliquer l'cp0pCe par le conte"1), und seiner genauen Umkehrung durch Foulet, der alle Branchen des RdR von dem Epos Pierres de SaintCloud aus erklärt, kommt darin zum Vorschein, daß in beiden Fällen die Divergenz zwischen Tierschwank (Branche) und Tierepos übersehen wird. die fur die zyklische Entfaltung der Renartdichtung charakteristisch ist. Bei Voretzsch geht das, Tiermirehen' völlig organisch in das Tierepos über: .. Das tiermirchcn hat von haus aus die epische eigenart. welche das tierepos verlangt. Es hat auch die neigung zur gruppcnbildung oder zur bildung von märchcnkeuen, die naturgemäß auch dem tierepos eignet. Tritt nun hierzu im volk noch die benennung der tiere mit eigennamen, so ist die epische ausgestaltung des tiermlrchens vollendet." I) Hier wird deutlich, daß Voretzsch Grimms Begriff der .Tiersage' nur äußerlich durch den Begriff des, Tiermirchens' ersetzt. die Entwicklung des Tierepos aber nach wie vor analog zu der Entwicklung des Heldenepos gesehen hat. dem bei Grimm das anonyme Wachstum der Heldensage vorausliegt. Die Differenz zwischen Tierepos und Heldenepos ist Voretzsch denn auch nie zum Problem geworden. Sie bleibt auch bei Foulet so gut wie unerörtert, obwohl er das Werk Pierres de Saint-Ooud als erste Ausprägung einer neuen epischen Gattung, der ..ep0pCe heroi-comique", neben Chanson de geste. höfischen und antiken Roman stellen will. So verdienstlich andererseits auch seine Chronologie der Branchen des Renartcorpus ist. bleibt die Frage nach ihrer zyklischen Einheit doch erst noch von dieser neuen Grundlage aus zu beantworten. Denn Foulet, der an der Vorstellung vom anonymen und eigengesetZlichen Sich-Entwickeln eines Renart-, Zyklus' berechtigtt Kritik übte, hat sich, als er ihren Verfechtem entgegenhielt: ..ll n'y a pas un Roman de Renard, il y en a vingt-huit" S), zu schnell über die Frage hinweggesetzt, worin wohl die Nachfolger Pierrcs von sich aus den inneren Zusammenhang der 18 Renartbranchen sahen. der ihnen. wie schon die von ihnen selbst geprägte Gattungsbezeichnung .branche' zeigt. trotz des Fehlens einer kontinuierlichen epischen Fabel bewußt gewesen sein muß. I) In diesem Vorwurf gipfelt Foulets Kritik an der folkloristisch-genetischen Methode Sudres (FOULET p. ~ 38). I) VORETZSCII. Einl. zum RF p. XIX. Vgl. dazu seine Ausführungen von 189~ (Preuß. Jb. 80, p. 460ff.), die zu dem Resultat führen, daß dem Tiermärchen am Ende "zum Epos im landläufigen Sinn überhaupt weiter nichts mehr als die poetische Form fehlte, und daß somit das Tierepos des 12. Jahrhunderts als Gattung dem Tiermärchen weit mehr verdankt als der antiken Fabel" (p. 469-470). I) FOULET p. ~6S.
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Die Erwägungen. die L. Spitzer über die Prinzipien des .Genres· der Tierdichtung angestellt hat, laufen letzten Endes darauf hinaus. für die epische Zyklisierung der Tierschwänke die Kantilenentheorie bzw. den von Th. Frings für die europäische Heldendichtung postulierten Dreischritt: Lied - Kurzepos - Großepos geltend zu machen. Der RdR stellte danach eine Art von Rudimentärversuch der großen Epik vor Augen: ..er blieb im losen Aggregationszustand des Kurzepos (Branche VIII ist ein solches). wenn nicht in dem noch loseren Konglomeratzustand der zusammenkomponierten .Lieder' (etwa Br.III. die man bis zu gewissem Grade. . . mit dem lose angereihten PtltrilUlgt Je Chllrlt1llllgtlt vergleichen kann)." l) Daß der RdR nicht zum Stadium des Großepos gelangt ist, will Spitzer auf das Fehlen einer vereinheitlichenden. tragenden Gesinnung wie die der Glaubens- und Nationalbewegung der Kreuzzüge. aus der sich der Schritt vom Kurz- zum Großepos bei der Chanson de geste erkläre. bzw. auf die Verweltlichung des Begriffes der tllllllhirt zurückführen Z). Der Rekurs auf die Kantilenen- und Dreistadientheorie dürfte indes die Lösung des Problems der epischen Zyklisierung im Tierepos kaum fördern. ganz abgesehen davon, daß jene Theorie eine bloße Hypothese ist und daß auch ihr wieder die Vorentscheidung einer organischen Entwicklung zugrunde liegt 3). Daß der Tierschwank mit der Kantilene, die - gleichviel. was man heute unter ihr verstehen will ") - auf ein geschichtliches Ereignis bezogen sein und heroischen Charakter haben muß, nichts weiter gemein haben könnte als die Kürze der Erzählform. liegt auf der Hand und hitte auch Spitzer auffallen müssen. wenn ihm seine Rückwendung zu Jacob Grimm nicht den Blick auf das Schwankhafte der Fuchsabenteuer verstellt hltte. Wenn er in der losen Anreihung solcher Erzihlungen das Gestaltungsprinzip am Werk sehen will. das man für die Heldenepik so beharrlich leugnet: ..die Lieder werden zum Epos gereiht wie die Perlen zum Halsband" 6). ist damit über das Warum dieser Anreihung und den inneren Zusammenhalt der Episoden einer Branche noch nichts ausgesagt. Ob die Branchenbildung auf dem Wege über das (historisch fragwürdige) Kurzepos I) richtig zu fassen ist, I) SPITZER p. 235. ') ibid. p. 23S f .• 236 Anm. I. I) Vgl. dazu E. R. Curtius, OlNr tlil alljrant,öliltlJl Epik, in: ZRPh LXIV (1944). bes. p. 307ft'. '} hierzu kann auf die Erörterungen von Martin de Riquer, UI Calliartl tII gtlillfranltltl, Madrid 1952 (BibljDlttll RD11Idllita Hitpdllitll, EIIIIIliDIY EIISII.JDI t. 8), p. 39f1'., 5I fI'. verwiesen werden. l) SPITZER p. 234 f. I) Wie sich aus der Untersuchung von Ph. A. Bccker: V011l KId't/ittl t,1UII EJlDs (ZFSL LXIII, 1940, 299-341 und 385-444) ergibt, läßt sich für das Stadium des Kurzepos in der Entwicklung der Chanson de geste einzig GORMOND ET !sEMHARD heranziehen, das einzige Heldenlied, das zwar ein höheres Alter bemspruehen kann als das Rolandslied, uns aber nur aus einer spAteren Version (Hs. des '3. Jahrhunderts) erhalten ist. Die weiteren Zeugnisse, die Bccker anführt, sind
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macht gerade Spitzers Interpretation von Branche VIII wieder fraglich, in der er gegen die folkloristisch-genetische Methode die Einheitlichkeit einer künstlerischen Konzeption aufzeigen konnte, so daß man nicht mehr recht einsieht, warum diese durchkomponierte Branche (und das ist bei weitem nicht der einzige Fall) "im losen Aggregationszustand des Kurzepos" geblieben sein soll. Und ob es vornehmlich die mangelnde Durchorganisierung war, die den RdR nicht zum Stadium des Großepos gelangen ließ, wird sogleich zweifelhaft, wenn man den Blick vom RdR auf alle Hervorbringungen der Tierepik des 11. und 13. Jahrhunderts erweitert. Was den Verfassern des RdR nicht gelang oder besser gesagt: worauf es ihnen offenbar gar nicht ankam, ist Magister Nivardus, Heinrich dem GUchezAre und dem Verfasser des nell. Rm:NAERT offensichtlich geglückt: die Organisierung einer Vielheit von einzelnen Tierschwänken zu großen, in sich geschlossenen epischen Gebilden vom Format des Heldenepos, ohne daß man darum sagen könnte, hier sei die zyklische Renartdichtung zu einer Form gelangt, die sie mit dem Großepos gemeinsam habe. Die epische Zyklisierung des Tierschwanks, die neu geschaffene Form der ,branche' und die weitere Entwicklung der volkssprachlichen Fuchsepen läßt sich durch den Rekurs auf die hypothetische Entstehung der Chanson de geste und ihre epische Struktur bzw. auf ihre spätere Zyklisierung nicht befriedigend erklären. Andererseits ist aber die Eigentümlichkeit der neuen Tierdichtung, die von 11 SO bis 1190 sogleich mit drei großen Tierepen, dem lateinischen YSENGRIMUS, dem altfranzösischen ROMAN DE RENART und dem mittelhochdeutschen REINHART FUCHS, und mit der ersten volkssprachlichen Fabelsammlung, dem ESOPE der Marie de Francc, ins Dasein tritt, dadurch gekennzeichnet, daß diese Werke zu einem Zeitpunkt erscheinen, an dem die altfranzösische Heldendichtung gerade auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung steht. Das Reich der Tiere ist ohne die feudale Welt, der es wie das altfranzösische Epos entsprang, nicht vorstellbar; der Jongleur, der im Prolog zu Branche II des RdR zum erstenmal Renart und Y sengrin als die Helden seiner Geschichte ankündigt, setzt bei seinem Publikum Chanson de geste und höfischen Roman als bekannt voraus und läßt damit das Reich König Nobles vor dem Hintergrund derselben Welt erscheinen, die ihre geschichtliche Mitte in der verklärten Gestalt von Char/e.r /i reis und ihr neues höfisches Ideal in der Tafelrunde von König Artus hat. Die Frage, was das Tierepos im besonderen als ,Epos' bestimmt, impliziert daher das gattungsgeschichtliche Problem, inwiefern das Tierepos durch die Heldendichtung, die es auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung travestiert, auch schon in seiner Entstehung bedingt ist, und erfordert es, die verschiedenen Versuche, die Vielfalt der Tierschwänke in eine entweder hypothetisch (die nur noch erschließbare älteste Wilhelmsdichtung und die Anspielung auf ein Riaul-Lied) oder Sonderformen, die außerhalb der Entwicklung der Chanson dc geste liegen (die Epenparodie AUDJGIER und das Fabliau RICIIEUT). vgl. bes. p. 431-439.
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zyklische Einheit zu integrieren, im Blick auf ihr jeweiliges Verhiltnis zu den anderen Gattungen der Epik neu zu untersuchen. Die erstaunliche Beliebtheit des ROMAN DE RENART knüpft sich indes nicht so sehr daran, daß er als Kontrafaktur zur höfisch-ritterlichen Welt die heroische Literatur travestiert, die mit ihm dieser Welt entsprang. Sie rührt, wie die Zeugnisse seiner Aufnahme und die bildhaften Darstellungen allesamt dartun, vornehmlich von der Figur des einen Renart, der das Ethos der höfisch-ritterlichen Gesellschaft negiert und als Inkarnation des Schelms, der sich mehr und mehr von seiner heroischen Gegenwelt ablöst, im Bewußtsein seines Publikums lebendig bleibt. Wenn mit ihm die Tierfiguren, denen er seine Streiche spielt, den Niedergang der feudal-ritterlichen Gesellschaft überdauern, so darum, weil das Reich der Tiere nicht allein das Spiegelbild dieser Gesellschaft und ihrer heroischen Literatur, sondern zugleich auch eine Typenwelt von zeidosen Charakteren darstellt. Gerade darin, daß die Figuren der mittelalterlichen Tierdichtung die menschliche Natur in ihren beständigen Eigenschaften und Affekten zur Anschauung bringen, liegt ihre bleibende, weit über das Mittelalter hinaus wirksame Bedeutung. Denn damit gehören sie zu einem literarischen Erbe, das die Darstellung des Menschen - wie G. HeB gezeigt hat - bis ins 17. Jahrhundert bestimmt: noch Moliere entrückt seine Personen in eine Typenwelt von Charakteren, die La Bruyere eigens beschreibt und La Fontaine in seinen Figuren der Fabel satirisch endarvt 1), und "erst im offenen Horizont der Moderne sieht die Literatur die Gesellschaft, im Bewußtsein ihrer Geschichdichkeit, aus Individuen in ihrer Singularitlt gebildet"'). Daß die "allgemein bekannten und unveränderlichen Charaktere der Thiere die eigentliche Ursache sind, warum sie der Fabulist zu moralischen Wesen erhebt", ist schon von Lessing in seinen berühmten AbhanJ/lIIIg,,, iber di, Fab,1 erkannt und gegen Breitingers Theorie vom Wunderbaren vorgebracht worden; dort findet sich auch der lapidare Satz, der allen Versuchen, in der mittelalterlichen Tierdichtung schon ein spezifisch modemes Verhiltnis zum Tier (Naturbeobachtung, Einfühlung in die Tierseele) zu entdecken, von vornherein den Boden unter den Füßen entzieht: "Als ob man in den Fabelbüchern die Naturgeschichte studieren sollte I Wenn dergleichen Eigenschaften allgemein bekannt sind, so sind sie werth gebraucht zu werden, der Naturalist mag sie bekräftigen oder nicht." 3) Die Bedeutung und Geschichte der Tiercharaktere ist indes noch wenig erforscht 1) In diesen Zusammenhang ist auch die folgende Stelle aus den Rifltxio"l Jillt1'lti \"on La Rochefoucauld zu stellen: 11'y a oliloni M dilltrlU upitU d' bommu ,pli10M diHrJtI upJtU d'oNmOllX. tI In hommtl lonl. a"'gard MI olilru bommtl, tt lJIIe lu Jiflirtnltl upJttJ d'animoux mlrt tl/u tl Q /'igord lu UMI MI aulrn (Ed. de la PMiade, Paris 19S o, p. 373)' I) G. Heß, Wandlungt" MI GtStlllthofllbilMI i" der !ro"töRsthtn Liitroillr. in: DVjS. 29 (19SS). p. 14 z. I) S4mllitht Sthrifltn, cd. Lachmann-~Iuncker. Bd. 7. p. 4B, Stuttg. 18911.
so",
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zz worden. Eine Untersuchung, wie sie W. Marg über die Charaktertypen im Weiberjambos des Semonides angestellt hat I), liegt unseres Wissens weder für die äsopische Fabel, noch für die Romulustradition des Mittelalters. noch für die Fabel La Fontaines vor. Wenn wir uns hier darauf beschränken. die Charaktere der Tierfiguren unter einem historischen und prinzipiellen Gesichtspunkt, der Ausbildung einer neuen Typenwelt von Charakteren durch die Tierdichtung des IZ. Jahrhunderts und ihrer Differenz zu den Beispielfiguren des EsoPE zu untersuchen, sind wir uns bewußt, mit diesem Teil unserer Arbeit nur einen ersten Anfang für die Erforschung eines Gegenstandes gemacht zu haben, der im ganzen die Arbeitsmöglichkeiten des Einzelnen und die Kompetenz des Romanisten übersteigt. Daß allein die vollständige Erfassung einer Tierfigur wie Fuchs oder Wolf, deren epische Geschichte wir vam 8. bis zum 1 J. Jahrhundert verfolgt haben, eine eigene Arbeit erfordern und eine kunsthistorische Fachausbildung voraussetzen würde, zeigt die monumentale Monographie, in der H. W. Janson der überraschend reichen und bedeutungsvollen Geschichte der Tierfigur des Affen vom Mittelalter bis zur Renaissance nachgegangen ist '). Die Blickrichtung auf die Typenwelt der Charaktere in der neuen Tierdichtung des 12. Jahrhunderts, in der der erste Ansatz zu den vorliegenden Untersuchungen lag, hat auch die stoffliche Abgrenzung des Gegenstandes bestimmt. Die allegorische Tierdichtung der Physiologustradition wurde nur insoweit herangezogen, als sie für die Vorgeschichte des Tierepos gelegentlich Aufschlüsse bringt. Auf die neue Tierdichtung des 12. Jahrhunderts hat die typologische Allegorese der Bestiarien so gut wie gar nicht eingewirkt 3). Die Charaktere der Tierfiguren im EsoPE und im RdR haben mit der typol0gischen Bedeutung der Tiere, die im BESTIAIRE Philipps von Thaun und seiner Nachfolger die heilsgeschichtliche Situation des Menschen zwischen Gott und Teufel auslegen, nichts gemein. Der Fuchs, der im Tierepos zum Gegenspieler des Wolfes wird, hat damit aufgehört. ,figura diaboli c zu sein; das Reich König Nobles ist vom mythischen Horizont des Glaubens abgelöst und ohne Beziehung zu dem geschichtlichen Grund der epischen Wahrheit, die der Chanson de geste noch ganz fraglos zugesprochen und auch beim Artusroman erst allmählich und vereinzelt in Frage gezogen wird: mit dem Tierepos erscheint innerhalb der Literatur des Mittelalters zum erstenmal eine nur noch fiktive epische Welt. Dagegen bildet die erste volkssprachliche Fabelsammlung des Mittelalters. der EsoPE der Marie de France, den Einsatzpunkt unserer Betrachtung, weil hier die I) W. Marg, D" CharflJ:l" ill tkr SP'fltM tk, /rllhgrittbirtINII Ditblllllg (Semonides Homer Pindar), Diss. Kiel 1935 (Würzburg 19H). I) H. W. Janson, Apu flNl AJH Lort in IIN ",iJJlt Agts antilIN &1IIliSSfllltt, London 191 z (SluJitS o/IIN Warbllrg /IIslillilt, Vol. 20). I) Lediglich das eine Physiologus-~lotiv vom Fuchs, der sich tot stellt und damit Vögel überlistet, die auf ihm picken, findet sich in einem späteren Zusatz zu Branche V (BeM 60-80) und in der abschließenden Branche XVII (v. J 398 ff'.) des RdR als eine List Renarts.
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Umbildung der äsopisch-christlichen Fabeltradition im Sinne der neuen, spezifisch mittelalterlichen Auffassung der Tierfiguren besonders deutlich wird. Im Gang der fünf Untersuchungen, die von der Tierfabel über die Anfange der Tierepik zum Ursprung des volkssprachlichen Tierschwanks führen, das erste volkssprachliche Tierepos eigens vom lateinischen YSENGRIMUS abheben und sodann die zyklische Entfaltung der Fuchsepen verfolgen, dominiert eine gattungsgeschichtliche Perspektive; doch wurde im ganzen darauf geachtet, daß in der Folge der Einzeluntersuchungen und in der durchgängigen Betrachtung einzelner Themen, wie dem der ,sapientia' oder der Fortuna, der große historische Ablauf sichtbar bleibt. Die abschließende Untersuchung bezieht den mhd. REINH:\RT FUCHS und den ndl. REINAERT mit ein und führt bis zum Endpunkt der zyklischen Renartdichtung in Branche XVII, der ,processio Reinardi'; auf die allegorische Tierdichtung des Spätmittelalters, die traditionsgescbichtlich wieder in anderen Zusammenhängen steht, gedenken wir in einer selbständigen Darstellung zurückzukommen 1).
1) Kurz vor dem Abschluß dieser Arbeit erschien in der Reihe Conllllislantt du Itllrel (Bd. 49) eine Einführung in den R01llan M Rtnard von Robert Bossuat (Paris 19n). Da B. an keiner Stelle über die These von Foulet hinausgeht (5. meine
Besprechung, RJ VITI, Erörterung.
19~6-19S7,
p.
2~O
ff.), erübrigte sich hier eine weitere
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DIE TYPENWELT DER CHARAKTERE IM ALTESTEN ALTFRANZÖSISCHEN TIEREPOS UND IHR VERHÄLTNIS ZUR HELDENDICIITUNG
A. Pierre de Saint-Cload als Forbetzer des YSENGRIMUS Seigneurs, 01 avez maint conte Que maint conterre vous raconte, Conment Paris ravi Elaine, Lc mal qu'il en ot er la painc: De Tristan dont la Chievre fist 1), Qui assez bcllement en disr Et fabJiaus ct chancon de geste. Romanz de lui et de sa geste Maint autre conte par la terre. Mais onques n'olstes la guerre, Qui tant fu dure de grant fin, Entre Renart er Ysengrin, Qui moult dura et moult fu dure. Des deus barons ce esr la pure Que ainc ne s'entramerent jour. Mainte mellee et maint estour Ot entr'culz deus, ce est la voire. Des or commencerai I'estoire. Or oez le conmencemcnt Et de la noise et du content, Par quoi et por quel mcsestance Fu entr'cus deus la dcsfiance. (11 I-U)
Diese Verse. die nach Foulets überzeugendem Nachweis als Prolog zum lltesten Teil des ROMAN DE RENART. den Pierre de Saint-Cloud zugeschriebenen Branchen 11 und Va, anzusehen sind 2. betonen den Neueinsatz dieses Werkes so ausdrücklich. daß hier zunächst zu fragen ist. worauf seine Sonderstellung als Tierepos wohl beruht. die den Verfasser dazu veranlaßt I) JiJ,,1 nach Ms. B. (vgl. RdR cd. M. Roques v. Hn). In den anderen M55. findet sich tpD satt tJo"l; vgl. dazu FOULET p. 67: .. Lc vers Dt TrisIll" '110 la Chit"" fisl doit se lire: Dt Trisla1l que la Chinrt fisI." I) Siehe Kap. III, X, XI; vgl. dazu SUCHIER p. I SI, der gegen Foulets Chronologie der Branchen kein triftiges Gegenargument vorzubringen hat und zu der Datierung des Prologs von lI-Va nur anzumerken weiß, dieser lasse sich .. auch auf eine Volkserzählung beziehen".
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hat, es eigens von den um 1176 verbreiteten epischen Gattungen abzuheben. Daß Pierre ein bekanntes Schema der Exordialtopik: ,ich bringe noch nie Gesagtes'l) benutzte, hindert in diesem Falle nicht, seine Ankündigung flir bare Münze zu nehmen. Denn der Jongleur, der sich an einen Kreis von Zuhörern wendet, ihm aufzählt, was ihm an Stoffen schon altbekannt ist, um alsdann seinen Gegenstand als Neuheit anzupreisen, könnte, wenn er nur Bunkert, allzuleicht seiner Lüge überführt werden. Hier liegt die Neuheit offenbar sowohl in der Gattung der Erzählung (toll/e), als auch in ihrer Fabel, genauer: in einem noch nie gehörten Teil der Fabel, sofern man voraussetzen muß, daß die Zuhörer von vornherein über die angekündigten Haupthelden Bescheid wußten. In der Gattung der Erzählung: denn Pierre fUhrt in seiner Durchmusterung nicht nur Einzelwerke wie den Trojaroman (v. 3), die nicht auf uns gekommene Tristanversion eines gewissen La Chievre (v. s) und einen nicht mit Sicherheit zu identifizierenden Titel (v. 8) aufl), sondern hebt sein Werk überdies noch von den sogleich summarisch erwähnten erzählenden Gattungen des fablilJll und der thalltoll dt geslt (v. 7) ab. Daraus lißt sich Verschiedenes entnehmen. Das neue Werk soll sich von all den genannten Gattungen der altfranzösischen Epik unterscheiden: damit stellt sich die Frage, in welcher Absicht von dem ,unerhörten Krieg' der heiden Protagonisten gehandelt werden soll, wenn das Gedicht tatsächlich nicht mehr der Tradition des Heldenepos folgt. Ferner ergibt sich aus der Erwähnung des Fabliau, daß der afrz. Versschwank um 1176, zum Zeitpunkt 1) Siehe dazu CURTIUS p. 93.
I) Die von MARTIN (p. 34) und FOULET (p. 141) vorgeschlagenen Konjekturen befriedi~n keineswegs. Der erstere liest r011l0nz dOll Itll tl dt 10 btllt (nach Mss. KN) und sicht darin den Titel eines .. reeueil dc fables esopiques, qui comme cclui de Phedre eommen~ait par Ja fable du loup et de l'agneau", der letztere verbessert (wie schon Jonckbloct) IMi in lin, licst r011lQn du lin tl tk 10 bult und bezieht diesen Titel auf den COlljlitlll1 ollis tl lilli, ein Gedicht, das früher Hermannus Contractlls, neuerdings einem Winric von Trier (cf. A. van de Vyver und Ch. Verlinden, in: Revue beige de phil. et d'hist. 12, 1933, p. 59-81) zugeschrieben wurde. Dagegen spricht, daß im Unterschied zu Phädrus das mittelalterliche Romulus-Corpus fast ausnahmslos nicht die Fabel von Wolf und Lamm, sondern die vom Hahn und der Perle an die Spitze setzt (cf. THIELE p. XXI) und daß von einer volkssprachlichen Version des lateinischen Werkcs, das als rein didaktisches Streitgedicht auch dann noch schwerlich für volkstümlich genug angesehen werden könnte, um neben Troja- und Tristanroman in einem Jongleurmonolog zu erscheinen, nichts bekannt ist. Die Konjektur von M. Wilmotte (L'QIIltllT tkl broll,btS 11 tI VII tIM RtIItII'd tl Chri/itll tk Troytl, Rom. 44. P.258 Anm. I). der aus v.8 des Prologs eine Ziticrung von Chrcstiens Löwenritter herauslesen will, stützt sich auf die emendierte Lesart einer einzigen Hs. (0): ";lIIIill fur dulml I1 tk 111 bull. Dieser Vorschlag kann um so \\"cniger überzeugen, als W. für seine Behauptung, der Vf. von lI-Va müsse auch Chrestien gut gekannt haben, aus dem Text nur wenige wörtliche Anklänge beibringt, mit denen sich keine Filiation erweisen läßt.
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als Pierrc de Saint-Cloud (nach Foulet) mit dem ältesten afn. Tierepos hervortrat, bereits zum gängigen Repertoire eines Jongleurs gehört haben muß 1). Ob darüber hinaus die aufgeführten Gattungen: höfischer Roman, Chanson de geste. Fabliau. rUr den Erwartungshorizont des angekündigten ,conte' selbst noch irgendwie bedeutsam und nicht nur zuflllig gewählt sind. derart. daß sich die neue Fabel von Renart und Y sengrin in einer bestimmten Weise mit ihnen berührte. kann erst durch eine Textanalyse entschieden werden. In der Fabel der Erzählung: denn der Ankündigung des Prologs bleibt auch dann noch der Charakter einer Neuheit. wenn man die Fabel des lat. YSENGRIMUS als bekannt voraussetzt. gleichviel ob man dabei an das Werk des Magister Nivardus oder an eine etwaige volks sprachliche Version desselben denkt 2). Das deutet sich schon im Wechsel der Titelfiguren an. Während das lat. Tierepos unter dem Namen des Wolfes überliefert ist, werden im Prolog Pierres sogleich Fuchs und Wolf zusammen als Titelfiguren aufgeführt. Entscheidend ist dabei. daß die unauslöschliche Feindschaft der beiden Antagonisten unter einem Aspekt angekündigt wird, der für das Publikum, das mit der Fabel des YSENGRIMUS vertraut ist. eine überraschung birgt. Diese liegt weniger darin, daß die Feindschaft von Fuchs und Wolf zum erstenmal in die feudale Welt versetzt wird (Ja gllen"' .•• des dem barons, v. ]0, 14). als in der versprochenen Enthüllung, Par quoi et por qucl mesestance Fu ente'eus deus la desfiance. (v.
21-22)
Die Neuheit dieses Themas ist nach den vorangegangenen Ausführungen über das Motiv der Feindschaft zwischen Fuchs und Wolf in der Geschichte der Hoftagsfabel nicht mehr zu verkennen. Pierre de Saint-Ooud kündigt in seinem Prolog nichts Geringeres an als die endliche Aufklirung der von Paulus Diakonus bis zu Nivardus offen gelassenen Frage nach dem I) Foulet hat dieses Zeugnis offenbar übersehen. als er bei der Diskussion des Namens RichtIlI mit Bedier und Gröber den Anfang des afrz. Versschwanks um 1200 ansetzen wollte (cf. P.93). Demnach wäre die Angabe Bediers. der älteste Beleg für die Bezeichnung Fabliflll finde sich um 1180 in den Fabeln der Marie de France (Lu Fabliflllx, iI92S. P.40). zu revidieren und müßte das Hervortreten dieser erzählenden Gattung. die um 1176 bereits zum gängigen Re-
pertoire der Jongleurs gehöne, schon Mitte
12..
Jahrhundert angesetzt werden.
I) Sollte etwa der nicht mit Sicherheit identifizierte Titel Romallt tk Im I1 tk sa gull (v. 8) eine volkssprachliche Version des YSENGRIMUS meinen? Wenn Im in /ell zu emendieren wäre (so l\leon. RdR t. I v. 8, und MARTIN p. 34). ergäbe sich ein genaues Korrelat zur Fabel des YSENGRIMUS: ROllltIJIt tIM 11" tI tk sa gull = die Erzählung von Ysengrin und seiner .geste'. Doch gegen diese Auflösung spricht. von lautgeschichtlichen Bedenken einmal abgesehen. daß die beiden einzigen Mss .• die /ell statt /m bringen. den zweiten Teil des Verses zu el tk sa besl, geändert haben und darum nicht mehr auf die Fabel des YSENGRIMUS bezogen werden können.
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181 epischen Anfang der Geschichte von Renart und Ysengrin: worin ihre Feindschaft letztlich gründet und aus welchem Anlaß sie hervorgegangen ist. Damit sind die Ausgangsfragen für eine neue Untersuchung des Textes gestellt. der am Anfang der zyklischen Entwicklung des volkssprachlichen Tierepos steht und dessen Verhältnis zum YSENGRnlUs. in dem die lateinische Tradition der Fabel vom Hoftag des Löwen gipfelt. zu den umstrittensten Punkten der Kontroverse zwischen Foulet und Voretzsch gehört. Wenn sich unsere Beobachtungen am Prolog durch die Textanalyse bestätigt finden. dürfte sich - soviel wird hier schon deutlich - das Verhältnis des afrz. ROMAN DE RENART zu dem 2S Jahre älteren lat. YSENGRIMUS in einem neuen Licht darstellen. Dabei schließt der Nachweis. daß das Werk Pierres den Charakter einer Fortsetzung hat. nicht notwendig die Entscheidung der Frage ein. ob ihm die Fabel des YSENGRIMUS aus dem Werk des Magister Nivardus oder aus einer volks sprachlichen Version desselben bekannt war. Daß der schwierige lateinische Text schwerlich einem breiteren Publikum vertraut gewesen sein kann. spricht - wenn man von einer afrz. Version des Y SENGRIMUS einmal absieht - noch nicht unbedingt gegen die Annahme einer Fortsetzung. Pierre kann sein Werk auch im Blick auf den gebildeten Teil seines Publikums. der den lat. YSENGRIMUS kannte, als Fortsetzung geschaffen haben. was nicht besagt. daß es nicht auch ohne diese Voraussetzung verständlich und reizvoll genug war. um für sich selbst bestehen zu können. Wenn es sich ergibt. daß die Fabel von Branche lI-Va die Fabel des YSENGRIMUS unmittelbar aufnimmt und konsequent fortsetzt. kann die Frage nach einem afrz. Zwischenglied außer Betracht bleiben und gefolgert werden. daß dieses Zwischenglied in seiner Fabel nicht wesentlich von der des lat. YSENGRIMUS abgewichen sein kann. Dem Kenner des YSENGRIMUS. soviel ist sicher. mußte die Neuheit des angekündigten Themas sogleich in die Augen springen und dem Werk Pierres den besonderen Reiz derjenigen Art von Fortsetzung verleihen. die nicht nur ein neues Stück an eine bekannte Fabel ansetzt und als bloße Verlängerung mehr oder minder der Routine der Nachahmung zu verfallen droht. sondern - wie Rabelais' GARGANTUA - durch das Nachholen einer bisher als fehlend empfundenen Vorgeschichte auch einen engeren. notwendigen Konnex mit dem vorausliegenden Werk gewinnt. Damit aber muß auch Pierre de Saint-Ooud vom stümperhaften Bearbeiter 1) zum selbständigen Fortsetzer des YSENGRIMUS aufrücken und das älteste afrz. Tierepos losgelöst von dem einseitigen. das Verständnis auf eine vorweg festgelegte Bahn einengenden Abhängigkeitsschema den Rang eines eigenständigen Werkes gewinnen.
1) Diesen Vorwurf erhebt Voretzsch gegen Foulebl These. s. Einl. zum RF p. XXI: .. Will man mit Foulet den Roman de"Renart aus dem Ysengrimus herleiten. so sind die französischen Renartdichter allem anschein nach ziemliche stümper gewesen: kein einziger hat den Ysengrimus als ein ganzes mit seiner
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Es entbehrt nicht der Ironie, daß derselbe Foulet, dessen ganzes Buch die leidenschaftliche, im ganzen berechtigte und verdienstliche Polemik gegen das Bestreben der älteren Forschung durchzieht, in jeder Branche des RdR sogleich nur das Produkt eines ,remanieur' zu sehen und dahinter eine hypothetische ,ursprünglichere Fassung' zu suchen, seinerseits bei der Ableitung des RdR aus dem YS nicht anders verfährt, als handle es sich bei dem ersteren um ein ,remaniement' des letzteren 1). Um Voretzschs These zu widerlegen, die afrz. Renartdichtung sei volkstümlichen Ursprungs und in ihrer ältesten, vom RF am besten bewahrten Gestalt unabhängig von dem gelehrten Kunstepos des Nivardus entstanden, sucht er seine Gegenthcse: der RdR sei aus dem YS geschöpft und, wie überhaupt alle große volkssprachliehe Literatur des MA, ohne das Vorbild der lateinischen Dichtung nicht zu denken 1), einzig durch den Nachweis einzelner stoffgeschichtlicher und fonnaler Abhlngigkeiten zu erhirten. Da er sich auf einen einseitigen Vergleich beschränkte, bei dem der YS immer nur von Fall zu Fall als Quelle herangezogen wurde, hatten seine Kritiker leichtes Spiel, Lücken und Unstimmigkeiten in dieser Abhlngigkeit dagegen aufzurechnen I). Solange man allein auf der Ebene unmittelbarer Nachahmung und Entlehnung operiert und nicht Intention an Intention mißt, läßt sich der RdR in der Tat nicht schlüssig auf den YS zurückführen und behilt Voretzschs abschließendes Argument gegen Foulet sein volles Gewicht: "Hätte der YS von anfang an die Renartdichtung bestimmt, so müßte diese eine viel engereAnlehnung an jenen im ganzen wie im einzelnen zeigen ... ·) Der Kern des Problems liegt indes nicht darin, ob Foulet in seiner Annahme von Entlehnungen und Nachahmungen zu weit ging, sondern in der Frage, inwiefern der YS den Verfasser der iltesten Branche des RdR dazu bestimmen konnte, die Geschichte wieder aufzunehmen und aus den schon seit Nivardus bekannten Tierschwänken und neu aufgenommenen Stoffen (Renart und Tibert, Renart und Tiecelin, Plaid) eine neue Fabel zu komponieren. Unsere Hypothese, daß zwischen der Fabel des YS und der des RdR das Verhältnis einer Fortsetzung besteht, schließt demnach weder aus, daß Pierre de Saint-Cloud zum Teil Stoffe des YS wiederbearbeitet, noch daß er darüber hinaus Tiergeschichten, die in der mündlichen Erzähltradition im Umlauf waren, seinem Tierepos einverleibt hat.
kunstvoll geführten Handlung bearbeitet. kein einziger ein ähnliches. aus einer reihe von erzählungen bestehendes und doch einheidiches werk nach dem vorbild des Ysengrimus geschaffen I" I) Wie schon LEO beanstandet hat: .. Es ist bei Foulet ein eigentümlich widerspruchsvolles Verfahren zu beobachten: er will die Branchen als original herausstellen. baut aber zu diesem Zwecke oft sehr viel künstlichere Nachahmungavorginge auf als die Verfechter der .Vorlagen' tun" (p. 17). I) FOULET p. ,67. I) Siehe VOUTZSCH. Ein!. zum RF p. XXI-XXVI; SUCHIJlIl p. I , I ff. ') ibid. p. XXI.
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Wenn Foulet a limine abweist, daß das Publikum Pierres jemals von Renart und Ysengrin gehört habe 1), verkennt er sowohl die eigentliche Pointe des Prologs zu Br. lI-Va, als auch den Umstand, daß Renart und Ysengrin sogleich wie zwei altbekannte Helden eingeführt, dem Publikum also nicht mehr eigens vorgestellt werden. Schon Fauriel hatte I8p den Prolog zu Br. II so verstanden, daß Pierre sein Werk nicht als einen völlig neuen Stoff ausgebe, sondern sich als "renovateur ou continuateur" einer schon bekannten Fabel vorstelle I). Da Fauriel indes diese Fortsetzung nicht auf die Fabel des YS bezog und sich zudem durch die Anordnung der Edition Meon irrefUhren ließ, blieb es bei einer bloßen Behauptung, der seither nie wieder Bedeutung zugemessen wurde. Foulet setzte sich mit einer bloßen Gegenfrage darüber hinweg 3) und fand später eine geschickte Erklärung für die fehlende Einführung der Hauptfiguren : Pierre habe Renart und Ysengrin zunächst als Barone vorgestellt, erst allmählich merken lassen, daß es sich um Fuchs und Wolf handle und damit eben das seit Chrestien geläufige Verfahren angewandt, die Nennung des Namens bei den Hauptpersonen hinauszuzögern. Diese Erklärung vermag keineswegs zu überzeugen C), wie am besten aus der vergleichenden Analyse erhellt, die Büttner am RdR und am RF angestellt hat. Der mhd. Dichter, der offensichtlich nicht damit rechnen kann, daß der Stoff seinem Publikum durch eine vorgängige Tradition vertraut ist, sieht sich genötigt, eine ganze Reihe von Gegebenheiten erst zu erklären, die der afrz. Verfasser als schon bekannt voraussetzen kann. Diese Voraussetzungen beziehen sich im besonderen "auf die Namen der Tiere, auf ihr Wesen, ihre Stellung, ihre verwandtschaftlichen, freundschaftlichen oder feindseligen Beziehungen zueinander" 6). Hätte Pierre de Saint-Ooud seinem Publikum die Fabel von Renart. und Y sengrin zum erstenmal vorgesetzt, so wäre auch er nicht ganz ohne Erklärungen in der Art des RF ausgekommen. Gegen Foulet spricht ferner, daß die erste Namensnennung in Br. II nicht auf eine Enthüllung des Wesens von Renart und Ysengrin angelegt und darum mit dem Artusroman nicht vergleichbar ist. Von einem vorbereiteten Oberraschungseffekt kann schon allein darum nicht die Rede sein, weil die beiden ,Barone' von Anbeginn in der Welt der anderen, sogleich benannten Tierfiguren auftreten und ihre Rolle in der Ambivalenz von Held und Nichtheld. Rittertum und Tierheit mitspielen müssen, so daß für eine besondere Enthüllung I) FOULET p. 39. I) HiJ/oire lil/iraire tk la Fran", t.
XXII (18S2), P.909. ') "Fauricl aurait bien dü nous dire comment Pierre se serait exprime stil avait voulu se donner commc inventeur: nous ne voyons pas un mot dans son prologuc, qui puissc suggcrer meme de la fa~on la plus loi:1taine une renovation ou une continuation" (p ..n). t) Zu FOULET (p. 21 ~ f.) vgl. SUCHIER (p.226) und Huet in seiner Besprechung von Foulets Arbeit (Le moyen äge XIX, 1915, p. 88): "d'aucuns jugeront sa solution plus ingenieuse que satisfaisante." I) BÜTTNER II p. 42; zu den einzelnen Punkten vgl. p. 41-5 I.
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(Renart = Fuchs) kein Raum bleibt. Geht man statt dessen davon aus. daß Pierre seinem Publikum nicht mehr zu sagen brauchte. wer Renart und wer Ysengrin ist. so verlagert sich die Neuheit seines Werkes von den Hauptfiguren auf die neue Rolle. die sie als deNS barollJ in einem Kriege spielen sollen. den er als etwas noch nie Gehörtes ankündigt. Hier liegt ein Vergleich mit der Chanson de geste nahe: wie etwa in der Ankündigung des MONIAGF. GUILLAUME wird durch diesen Prolog die Erwartung geweckt, daß zwei wohlbekannte Helden in eine neue, .unerhörte' Lage gebracht werden. von der noch nie ein Erzähler zu berichten 'wußte. Mais onlJNtI n'ois/tl la gilt", ... - gerade diese Ankündigung hat der Forschung einiges Kopfzerbrechen bereitet. weil sich jeder Betrachter unvermeidlich vor die Frage gestellt sah. ob der Prolog nicht etwas ankündige. was nachher im Text dieser und der folgenden Branchen gar nicht einzutreten scheint. Schon G. Paris suchte. weil er den hier angekündigten Krieg im RdR faktisch nirgends dargestellt fand. nach einer verlorenen Branche. die ihn enthalten haben müsse. Eine diesbezügliche Anspielung glaubte er im Sündenregister Renarts (Br. I 1079-1093) gefunden zu haben. aus der er auf eine verlorene Branche schloß...qui. par son sujet meme. a dü contribuer beaucoup a donner au Roman de RtnarJ son caractere d'epopee et d'cpopee feodale. Ce rccit disparut devant I'invention plus ingenieuse de Ja plainte portce par Ysengrin devant le roi Noble"'). Demgegenüber hat Foulet auf dem rein burlesken Charakter dieser Anspielung sie steht in einer Schelmen beichte des Fuchses - insistiert und seinerseits den Krieg der heiden Barone als schon in Branche li-Va verwirklicht aufzeigen wollen: .. La ,,"erite est qu'il ne s'agit pas ici d'une guerre generale de souverain a souverain, mais d 'une guerre privl, entre deux vassaux. ce I) Nun ist zwar unbestreitbar die Transponierung der Feindschaft von Fuchs und Wolf in eine rein feudale Welt eine Eigentümlichkeit. durch die sich das afrz. Tierepos vom YSENGRIMUS grundlegend unterscheidet. und wahrscheinlich als eine persönliche Leistung Pierres anzusehen. der ja auch in seinem ganzen Werk ein auffälliges Interesse an der feudalen Gerichtsbarkeit bezeugte 3). Die Frage ist nur. ob wir seine Ankündigung einer gilt"" fant IN "IIT, d, grlllli fin (II lof.) für bare Münze nehmen dürfen und Branche li-Va mit Foulet so interpretieren können, als ob Pierre hier allen Ernstes eine Fehde zwischen Vasallen hätte darstellen wollen. Wie schon G. Paris hat auch Foulet stillschweigend eine Analogie zwischen Tierepos und .ep0pCe feodale' vorausgesetzt. ohne sich zu fragen. inwieweit sich das Tierepos mit der traditionellen Form der Heldendichtung überhaupt verträgt und wie anders sich die epische Welt im Spiegel der Feindschaft
,Ni
') PARIS
p. 313f.
I) FOULET p. 17 1•
I) .. L'inter~t quc montrc I·autcur pour tout cc qui cst legal. ne va pas sans
une secr~te admiration des formcs ct des procedes dc la justicc sodale. L'auteur cst une manierc de lcgistc cn gaite qui caricaturc sans amenume des institut ions qu'au fond iI respcetc" (FOULBT p. 207).
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von Fuchs und Wolf darstellen muß. Auch hier hat die Etiquette ,epopee heroi-comique' den Blick auf die Eigenheit der Renartdichtung eher verstellt als gefördert. Mit der Feststellung, daß hier und dort eine Darstellungsform der Olanson de geste parodiert wird und einzelne ritterliche Konventionen durch ihre übertragung auf Tierfiguren in eine komische Perspektive gerückt erscheinen. ist die tiefere Ironie in Pierres Werk noch nicht erkannt und gedeutet, die sich durchgängig in der Weise bekundet, wie der unheldische Renart Qui tant par fu dc males ars Et qui tant sot toz jors de guilc
(11 24 f.)
die epische Welt der Tierhclden durch sein Verhalten in Frage stellt und ihre heldische Verkörperung in der Gestalt Ysengrins zur Schwankfigur des tölpischen Hahnreis werden l16t. Betrachten wir nun das Verhiltnis von Branche lI-Va zum YSENGRIMUS im Hinblick auf den Aufbau, so würden sich, wenn man von Foulets Voraussetzung ausgeht, Pierre de Saint-Ooud habe sich bei seiner volkstümlichen ßcarbeitung des lateinischen Epos einfach an die Handlung, d. h. an die Abfolge der Schwankepisoden gehalten und alles Gelehrte und Satirische vernachlässigt 1), die von Suchier und Voretzsch vorgebrachten Schwierigkeiten ergeben I). Diese Einwände stehen und fallen indes allesamt mit der von Foulet nicht gestellten Frage, welches Kriterium der Auswahl Pierre dazu bestimmt haben mag, mit der Chantecler-Episode (a) zu beginnen (cf. YS IV 811- V 130), an die Episode mit der Meise (b)nach Foulet das Korrelat zu dem zweiten Teil der Geschichte von Fuchs und Hahn (YS V 131-316) - zwei Episoden anderer Herkunft, Renart und Tibert (c) und Renart und Tiecelin (d), anzufügen, sodann Ysengrimus im Kloster ganz wegzulassen, die Begegnung von Reinardus mit der Wölfin (YS V 701-820) zu zwei selbständigen Episoden, Besuch in der Wolfshöhle (e) und Vergewaltigung Herscntcs (f) auszubauen und all diesen Szenen schon mit dem ,Plaid' (g) und ,Escondit' (h) eine Konklusion zu geben, für die sich im YSENGRIMUS kein Vorbild findet J). Dem Parallelismus in der Abfolge der Szenen a b e f und den Entsprechungen im Detail, auf die sich Foulet stützt, stehen demnach nicht weniger wichtige Weglassungen, Nebenqucllen, Zusätze und, worauf wir besonders insistieren, der Umstand einer kleinen Auswahl aus dem Ganzen (es handelt sich nur um Teile aus dem IV. und V. Buch des YS) gegenüber, so daß es unter der Voraussetzung des positivistisch verstandenen Abhängigkeitsschemas nur :ru begreiflich ist, wenn Suchier zu dem Schluß kam, die Benutzung des YSENGRDruS als unmittelbare Quelle der Br. lI-Va sei durch 1) Siehe FOULET p. 144. I) Siehe SUCHIER. p. I J 1-1 J 3; VORETZSCH. EinJ. zum RF p. XXI-XXVI. I) Einteilung der Episoden in Br. lI-Va: a = 11 23-468; b = V.469-664; c = v. 665-842; d = v. 843-10.26; e = v. 1027-1210; f = v. 1211-1396; g = Va 247-962; h = v.963-1272.
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186
Foulet keineswegs erwiesen 1). Unter der Hypothese, daß Pierre de SaintOoud dem Werk des Nivardus eine Art von Fortsetzung, bzw. dem Thema der Feindschaft von Fuchs und Wolf eine neue Wendung geben wollte, läßt sich das Kriterium seiner Auswahl, die Foulet nicht hinlänglich begründen konnte, indes auf eine durchgängige Intention zurückführen. Der Verfasser von Br. lI-Va verlagert die Perspektive vom Wolf, dem Protagonisten des YSENGRIMUS, auf den Fuchs. Stand dort Ysengrimus allein inmitten einer Welt von Feinden, so tritt nun Renart in Opposition zunächst zu einzelnen kleineren Tierfiguren, dann zu dem ihm überlegenen Ysengrin und dem Bären (in Bruns Erzählung), schließlich zu dem Hoftag als Institution, die über ihn zu Gericht sitzt und deren Urteil er sich im ,Escondit' durch einen Meineid zu entziehen sucht (diese Opposition zu der Gesamtheit wird später in Br. I, wo sich Renart dreimal zum Hoftag fordern läßt, weiter gesteigert). Daraus läßt sich erklären, warum wohl die ,Wallfahrt der Tiere' und der ,Wolf im Kloster' nicht in Br. lI-Va eingegangen sind: Pierre de Saint-Cloud hat auf dem Schwank ,Fuchs und Hahn', der bei Magister Nivardus etwas aus dem Rahmen rallt, weil er der einzige ist, in dem Reinardus für sich ein Abenteuer zu bestehen hat, gleichsam ein neues, um den Fuchs als Protagonisten zentriertes Tierepos aufgebaut und zunächst durch eine Reihung weiterer Fuchsabenteuer in auffallender Parallelität zum YSENGRIMUS die Geschichte der Kalamitäten Renarts erzählt. Nach der Serie der Mißerfolge mit Hahn, Meise und Kater tritt dann der Umschlag mit der gelungenen überlistung des Raben um so wirkungsvoller hervor: hier zeigt sich Renart in der ihm eigensten Rolle des in seiner Rede (fatltlt, v. 620) unübertrefflichen Schelms. Dem Wechsel der Erzählperspektive vom Wolf auf den Fuchs entsprechend tritt nun auch Ysengrin nicht mehr selbständig in seiner alten Rolle des Wolfmönchs, sondern sogleich aus dem Blickwinkel seines erfolgreichen Nebenbuhlen und Gevatters in Erscheinung, in seiner neucn Rolle des zum ,cocu' gemachten Gatten und Familienhauptes, aus der sich seine Funktion ab Kläger auf dem Hoftag des Löwen (Br. Va) ergibt. Ist Pierre de SaintOoud in der Darstellung des ,Plaid' am weitesten über den YSENGRIMUS hinausgegangen, indem er die Schindungsfabel selbst ausspart und lediglich ihren Rahmen, den Hoftag der Tiere, für das Verfahren gegen den Ehebrecher Renart - seine eigenste Schöpfung - benutzt, so kehrt er ganz am Ende doch wieder zu dem Vorbild der Kalamitäten des Ysengrimus zurück. Denn ohne dieses Vorbild wäre der Ausgang des ,Escondit' (der Schlußszene mit dem Reinigungseid) nicht recht einzusehen, nachdem Renart aus dem Prozeß unverdient glücklich hervorgegangen ist und auch die List Rooncls rechtzeitig durchschaut hat: das Mißgeschick seiner Flucht nach Maupertuis. bei der ihm das Fell an mehr als 13 Stellen zerzause wird, erinnert deutlich an die Heimkehr des vielfach mißhandelten YSCßgrimus und weist auf die präludierenden Mißerfolge von Renarts Auszug I) SUCHIER p. 1 S3.
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zurück. bei denen er immer gerade noch mit einem blauen Auge davonkam: Toz jon est bien Renart choü, Mes or li est si mescoü: Ne Ii ourent mestier ses bordes, Que n'en volassent les palordes.
(Va u61-u64)
Wenn es uns gelungen ist. auf diese Weise den Aufbau des iltesten afrz. Tierepos von seinem Verhlltnis zum lat. YSENGRIIofUS aus zu erhellen. den es - die Erzlhlperspektive vom Wolf auf den Fuchs wechselnd - fortsetzt. bleibt noch die Frage zu beantworten. wie es sich erkliren mag. daß sich Pierre de Saint-Ooud nur auf den Stoff von Buch IV und V des YS gestützt hat. Darüber gibt uns wiederum der Prolog einen Aufschluß. in welchem von dem neuen Thema: Mais onques n'olstes la guerre, Qui tant fu dure de grant 6n, Entre Renart et Ysengrin, Qui moult dura et moult fu dure
(11 10-13)
f(Jtl"''''"-
zunächst nur der Beginn der Geschichte angesagt wird (Or DIt " ",,,,t, v. 19). nämlich jene Aufklirung über den ersten Anlaß der Feindschaft von Fuchs und Wolf. der ihrer Geschichte zum erstenmal den eigentlich epischen Anfang gibt. Wenn Pierre. der sein Epos mit demselben Teil der Fabel einsetzen lißt, der schon bei Nivardus den (nachgeholten) zeitlichen Anfang bildet I). den Stoff des YSENGIUYUS nicht weiter benutzt hat als von Buch IV zu Buch V (eventuell auch Buch TII für den .Plaid'). dürfte sich dies daraus erkli.ren, daß er seine Ankündigung. den Beginn der Geschichte zu erzihlen. mit dem ,Plaid' erfüllt und zugleich seinem Werk mit etwa 1400 Versen schon gut den Umfang einer epischen Vortragseinheit gegeben hat 1). Das schließt eine weitere Fortsetzung nicht aus, sondern impliziert sie geradezu I), auch wenn wir nicht wissen, ob der Verfasser von Br. lI-Va selbst weitere Branchen verfaßt hat und was in dem 1) wie FOULET (p. 144) mit Recht hervorhebt. Die Weglaasung der Wallfahrtsfabel, die im YS zeitlich am Anfang steht, dürfte sich indes durch die Verlagerung der Erzählpersepktive vom Wolf auf den Fuchs besser begründen lassen als durch die keineswegs so erhebliche Schwierigkeit, gleich acht Ticr6guren einführen zu müssen, mit der Foulet argumentiert. I) RYCHNER setzt als obere Grenze für eine zweistündige Vortragseinheit bis zu 2000 Verse an (p. 49), was bei Berücksichtigung der DiB'ercnz zwischen Zehnund Achtsilber dem Umfang von Br. li-Va annlbemd entspricht. Dieser Erzihlumfang steUt im RdR das größte, nur einmal überschrittene Format aller Vortragseinheiten dar (s. u. Kap. V p. 2S1 E.). I) Daraus leitet sich ja wohl auch der Verfasser von Br. I das Recht auf seine Fortsetzung ab. die den Antatz von Pwrol wiederaufnehmen, das vom VorgInger noch nicht Berichtete nachholen und damit die Fabel weiterführen loll (vgl. I 1-10). Zu dem überleitenden Ven: e, tlil r,sloirl ,1 pn_" Nrl (I 11). der sich möglicherweise auf eine gemeinsame Quelle von Br. li-V. und I bezieht, I. jetzt J. Frappier, ehr,sli", M TrYIJIs, Paris 19H, p. 90 Anm. z.
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auf uns gekommenen Corpus der Branchen von der ursprünglichen Reihenfolge der Fortsetzungen bewahrt ist. Der Ausdruck .Fortsetzungen" ist mit Bedacht gewihlt. Denn das älteste afrz. Tierepos ist nicht allein durch die äußere Begrenzung auf den Umfang einer epischen Vortragseinheit. sondern auch - wie schon aus dem Prolog hervorgeht - durch eine ihm wesenseigene Unabgeschlossenheit auf Fortsetzung angelegt und unterscheidet sich dadurch auch vom lateinischen Tierepos des Magister Nivardus. Dieser Unterschied in der epischen Struktur betrifft das Verhältnis von Anfang und Ende und läßt sich am besten verdeutlichen. 'wenn man von einer Definition ausgeht, die Ph. A. Becker dem Heldenepos gegeben hat: "Epos im allerstrengsten Sinne des Wortes ist ein Werk, wo aus einem geringen Anlaß eine unaufhaltsam wachsende Handlung entspringt. die in einigen Fällen zu einem wahren Untergang sich steigert. ce J) Das Tierepos des 11. Jahrhunderts kann mit dem so bestimmten Heldenepos zwar nicht das Moment der unaufhaltsam wachsenden Handlung. wohl aber den epischen Anlaß oder den epischen Ausgang gemein haben und ist selbst wieder in seiner epischen Struktur differenziert, je nachdem ob der Anfang oder das Ende oder beide zusammen der (am reinsten vom Rolandslied ausgeprägten) Form des Heldenepos entsprechen. Im YSENGRJMl'S. den Nivardus noch nicht aus einem .geringen ersten Anlaß" entspringen läßt, fehlt der Feindschaft von Fuchs und Wolf der eigentlich epische Anfang. Dafür erhält das Gedicht aber durch den Untergang des Wolfes ein episches Ende. das Ysengrimus vor allen Tieren auszeichnet und im besonderen zur epischen Person macht, der gegenüber seine im Verlauf der Handlung nie gefahrdete Gegenfigur Reinardus mehr als Verkörperung einer Wesenheit denn als epische Person erscheint. Insofern liegt es in der Konsequenz der epischen Struktur. wenn Ysengrimus für das Werk des Magister Nivardus zur Titelfigur geworden ist und der Titel mit den Namen der heiden Protagonisten sich in der Tradition nicht durchgesetzt hat. Im ROMAN DE RENART hingegen. in dem die Feindschaft von Fuchs und Wolf einem geringen ersten Anlaß entspringt und damit das Profil eines epischen Anfangs erhält, ist ein Ende der Feindschaft zwischen Renart und Ysengrin. IJIIe ai"t ", s',,,tramtr,,,1 JONr (11 1'). nicht abzusehen. Jede Niederlage bringt nur einen neuen Racheschwur. jeder Sieg die Erwartung einer neuen Vergeltung mit sich. und der Tod. mit dem die Feindschaft der unversöhnlichen Widersacher allein ihr Ende nehmen könnte, tritt auch in dcn späteren Renart-Branchen nicht ein, noch haben die Fortsetzer Pierres de Saint-Ooud jemals versucht, dem RO~fAN DE RENART mit dem Tod einer anderen Hauptfigur einen epischen Abschluß zu geben. In Renart und Yscngrin stehen sich. obschon sie als .zwei Baronc" angekündigt sind, nicht zwei endliche Helden gegenüber: das I) Ept"./rflgm (Aus den nachgelassenen Schriften Prof. Dr. Ph. A. Beckers. hrsg. von E. und H. Bccker). Wiss. Zschr. der Friedrich-Schiller-Univenitit Jena, Jg·4 (19S4/ss). p. z.
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afrz. Tierepos stellt das im YSENGRIMUS nicht gewahrte Prinzip der Unsterblichkeit der Tierfiguren wieder her und gewinnt, indem es zu keinem epischen Abschluß gelangt, den der Verfasser des mhd. REINHART FUCHS mit dem Tod König Vrevels wieder sucht, gerade durch seine Unabgeschlossenheit den Ansatz der zyklischen Form. Das epische Problem dieser Unabgeschlossenheit soll erst im Zusammenhang mit den verschiedentlichen Versuchen späterer Autoren, dem RdR eine Konklusion zu geben, weiter erörtert werden. Hier kommt es zunächst nur auf den einen Aspekt an, daß der für das älteste afrz. Tierepos konstitutive Fortsetzungskeim sich nicht allein in einer neuen, von vornherein auf Pluralität angelegten epischen Form, der ,branche', manifestiert, sondern auch in einer veränderten Auffassung des Geschehens geltend macht. Wie im großen gesehen die ,branche' erst durch den Hinblick auf ihre unvermeidliche Fortsetzung ,vollständig' wird, im Unterschied zum zyklischen Heldenepos also nicht erst aposteriori durch eine mögliche Weiterführung den Charakter eines Ausschnitts erhält, ist auch im kleinen gesehen der schwankhaften Episode eine Tendenz zur Reihung eigen, die dem Gerichtetsein auf ein Ende widerstrebt. Im Schritt vom YSENGRIMUS zum ROMAN OE RENART gewinnt der Tierschwank, den Magister Nivardus mit sichtlicher Mühe in die fatalistische Bahn seiner Fortuna-Auffassung einzwängte, den freien Spielraum jener Kontingenz, die der alltnIlIre Renarts ihre besondere Spannung verleiht.
B. Die Kontingenz des Geschehens und das Wesen der ave n t ure im ROMAN DE RENART
Dem Leser, der vom YSENGRIMUS herkommt, fällt zunächst auf, daß sich in Branche 11 alle diejenigen kontingenten Elemente, die Nivardus aus dem Geschehnisablauf entfernt hat, wieder einstellen. Der Vorgriff auf den Ausgang, der den Eintritt in die avtnlllrt bereits überschattet, die unsichtbare Hand Fortunas, welche Akteure und Dinge ad hoc in Szene setzt und wieder abtreten läßt, der Aspekt einer je schon zubereiteten, fatalen Konstellation, in den jede scheinbar zufällige Wendung des Geschehens rückt: all dies ist wieder im unverstellten Horizont des Möglichen aufgegangen, der sich nach jedem Ereignis wiederherstellt, die Verlockung des Risikos erneuert, ein unvorhersehbares Dilemma heraufführt und die Lösung zu einer Aufgabe ohne Präzedenzfall macht. Damit zieht das formale Schema der Aventürenreihung, wie es der höfische Roman soeben ausgebildet hat, in das afrz. Tierepos ein und rückt dieses strukturell von der Chanson de geste mit ihrer geschlossenen Handlungsentwicklung ab, was aber noch nicht besagt, daß die tlIItnlllT't Renarts mit der eines Artushelden zu vergleichen wäre. Diese Differenz gilt es zunächst genauer zu bestimmen. Das formale Schema der Aventürenreihung ist im Übergang von Schwank zu Schwank mit den herkömmlichen Wendungen angezeigt, die
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dem Eintreten des Neuen den Charakter einer anhebenden, noch nicht zu bestimmenden Begebenheit (li 1lII;'" (hose IJIIt Rellllrs . .., 11 23) oder einer unerwartet sich auftuenden Wendung des Geschehens (QIII '111';1 se ple;III M Itl 101mge, AIIIIII es 1101 lI1U ",tlll1ll! ... , 11 469-470) I) geben. Der übergang kann aber auch thematisiert werden: S'en est tornes a molt grant peine Si conme aventure le meine. (11 8.P-842)
Hier wird lIIIe"'lITe als abstracrum agens zum Subjekt des Geschehens, ohne daß man schon von einer allegorischen Personifikation sprechen könnte'); die Wendung artikuliert in diesem Zusammenhang nur den wiederhergestdlten Horizont des Möglichen nach überstandener Gefahr (Renart ist soeben aus der Falle entronnen, in die ihn seine .",IIllITe mit Tibert gebracht hat). Wo das Zusammentreffen zweier Tierfiguren als eine besondere Fügung erscheinen könnte, wie in der 4. Episode, wo der Rabe, um seinen Kise zu verzehren, ausgerechnet auf den Baum Biegt, unter dem Renart sich ausruht, wird diese Fügung als sdbstverstindlich hingestellt: Atant s'en torne et vient tot droit (lI 895-896) Au leu ou dans Renarz estoit.
Hier waltet kein Verhingnis, das bereits den Eintritt in die 1lIItII11IT1 überschattet; der Erz1hler hat aus der entstandenen Konstellation: Ajome furent a cel ore Renarz des os et eil desoure. Mes tant i out de dessevraille Que eil manjue et eil baelle (11 897-900)
nur einen heiteren Effekt geschaffen, indem er sie mit der gerichtlichen Vorladung (tJjOrlln' = ,assigner en justice')') auf eine Ebene des Vergleichs stellt und auch die Möglichkeit einer Verkehrung der Situation als eine Art von ausgleichender Gerechtigkeit (NIl l a i ; Dill M Mllnmu"e . ..) ironisch andeutet. Die vollendete IIIIIIIhIr, lißt bei Renart nichts zurück als Hunger und Müdigkeit: I) Mit derselben stehenden Wendung wird auch das Jagdabenteuer eingeleitet: GtlTM tI "';1 ", II1II ,.,. Ti,,"ll, lhal . .. (11 665 ff.) .
12", fII';1 s, pl.", M S'II",,""
•) Siehe R. Gbsscr, Abstrtllllllll 111'111 I11III AII,gori. illl 411"'" Prll"tisillb, ZRPh LXIX (1953) p.43-122. Wann tnmhln zum erstenmal als abstractum agens erscheint, läßt sich dort nicht fcststellen. Vielleicht im EllBc? Vgl. ed. M. Roqucs, SATF 80, Paris 1952, v. 5296.: Me! j'atant ancor meillor point, que Dcx greignor enor Ii doint que aventurc li amaint ou roi ou conte qui I'an maint. ') Siebe TILANDEIl (uxifll' unter IIjtmllr). Foulet hat den übertragenen Sinn von IIjtmllr übersehen; damit wird seine darauf aufgebaute Chronologie dei Fuchaabenteuers in Br. li-Va hinBllig, die für das Verständnis ohnedies belanglos ist {cf. p. 188 Anm.2}.
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N'cst merveille s'il est lassez. Car le jor out foI ascz. Si a trove mauves eür. Mais que chaut? ore est asoür,
(11 657-660)
sie bleibt in ihrer einmaligen Struktur unwiederholbar und wirkt weder auf der Ebene des Geschehens, noch auf der der Erfahrung auf die nachfolgende ein, so daß es im afrz. Tierepos zu keiner Verstrickung der Handlung, aber auch zu keiner Steigerung des ,Helden' durch die Reihe seiner Bewährungen kommen kann. Renart ist am Ende nicht vollkommener als er sich schon am Anfang zeigt. Seine Aventüren in Branche lI-Va lassen sich darum auch nicht in ein Entwicklungsschema hineinpressen, als ob er erst durch die Summierung seiner voraufgegangenen Erfahrungen zu dem Meisterstück der überlistung des Raben gelangt wäre. Die mißlungene Oberlistung Chanteclers war an sich nicht weniger schlau eingeflidelt (es handelt sich um dasselbe Schema),. die aufgewandte Rhetorik ebenso unwiderstehlich. Wenn der Betrüger am Ende von Chantecler selbst wieder betrogen wird und Anlaß hat, seine Dummheit zu beklagen (QIII fJlI'il SI pl,i,,1 JI sa IDsI"gl, v. 469), kann ihn die in seinen Selbstvorwürfen (11 445 ff.) wirksam gewordene Erfahrung keineswegs davor bewahren, in den folgenden Aventüren mit der Meise und mit dem Kater erneut zum betrogenen Betrüger zu werden. Die Erfahrung der tWI"tllTI in der Welt des Tierschwanks ist die retrospektive Weisheit des Sprichworts, sie bleibt auf den eiru:elnen Fall bezogen und ermöglicht lediglich ein ,klug für ein ander Mal', das sich nicht anwenden läßt, weil dieses andere Mal unter denselben Voraussetzungen nicht wieder eintrifft. Die Eiru:igartigkeit und Unwiederholbarkeit der tWI"tllTI hat im Tierepos die besondere Form einer isolierten, aus jeder Begebenheit neu entspringenden und für sich bestehenden Erfahrung und ergibt eine kompositorische Struktur, die man verkennt, wenn man sie als bloß äußerliche Episodenreihung kennzeichnet. Gewiß ist es denkbar, eiru:elne Aventüren untereinander zu vertauschen; doch darin einen Mangel zu sehen, setzt den inadäquaten Maßstab der Chanson de geste voraus, die in ihrer geschlossenen Handlungsentwicklung auf ein Ende gerichtet ist und darum auch in der Abfolge ihrer Episoden determiniert sein muß. Vertauschbar ist die tWI"tllTI im ROMAN DE IlENART indes nur hinsichtlich ihres Orts in der Abfolge; die in ihr beschlossene Erfahrung bleibt ihrem Wesen nach einmalig und insofern auch gerichtet, als jede wiederkehrende Schwanksituation aus der reinen, d. h. alle Wiederholung ausschließenden Kontingenz, die sich im Geschehnisablauf des Renartabenteuers darstellt, herausfallen muß, wenn ihr keine neue, die Situation verändernde Erfahrung entspringt. Das Fehlen motivierter übergänge ist dem Tierepos wesenseigen, Ausdruck seines unwiederholbaren Geschehens und nicht mangelnde Komposition. Die Isoliertheit der IIVI"IIITI im RdR schließt indes andere Möglichkeiten eines planvollen Aufbaus nicht aus, sie erfordert nur an Stelle der vorgängigen Einheit, die C. Lugowski als .. mythisches Analogon" in
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der Struktur der mittelalterlichen Epik und noch im Grundschema des Entwicklungsromans aufgedeckt hat 1). eine Einheit aposteriori. die der diskontinuierlichen Erfahrung dieser Illltn/lITt darin entspricht. daß sie ihre Episoden nicht in sich aufnimmt. sondern lediglich in ein anderes Licht setzt. Der kompositorische Zusammenhang des Gedichts von Pierre de SaintCloud. den Foulet in den zahlreichen Entsprechungen zwischen Br. II und Br. Va so überzeugend dargelegt hat I). ist darum auch nicht so zu verstehen, als ob der erste Teil nur darauf angelegt sei. eine .. preface necessaire aux longs developpements de la seconde partie" zu bilden I). Die Reihe der Kalamitäten, die Renart mit Chantecler, der Meise und Tibert widerfahren, erhält vom Hoftag aus so wenig ihren .letzten Sinn' wie vorher von der erfolggekrönten IllltnlllTt mit Tiecelin, noch findet der Schwank in der Wolfshöhle und seine Fortsetzung in der IlIItn/llrt ts/rllIIgt (11 1117) vor dem Fuchsbau, der den Fall für Isengrin so unentwirrbar kompliziert, in der Gerichtsszene die definitive Konklusion, welche die Schuldfragen klärte und das moralische Bewußtsein befriedigte. Die Verhandlung über den Ehebruch zwischen Renart und Hersent erweist sich damit letztlich als eine neue Episode in einer zweiten Reihe von Aventüren, die selbst wieder unbegrenzt fortsetzbar erscheint, wie die Scheinlösung des ,Escondito. bei welcher der Reinigungseid auf heiden Seiten der Beteiligten zur Farce wird. sogleich vor Augen führt. Der Hoftag in Branche Va rückt die Aventüren Renarts lediglich retrospektiv in der Einheit einer größeren Szene zusammen. insofern neben Ysengrin auch Tiecelin, Tibert und die Meise als Kläger von Brun aufgeführt werden (Va 753-764). bringt aber nichts hinzu. was noch fehlte. um ihren Motivationszusammenhang vollständig zu machen. Die Erzihlung Bruns fügt den Schandtaten Renarts eine weitere hinzu. bestätigt aber nur das bekannte Bild seines Wesens. Nicht Renart ist es. der hier in ein anderes Licht gesetzt wird. sondern die Hofgesellschaft im ganzen, die über den Abwesenden urteilen muß 1) Die For", '" INli"itlMa/iliJl i", &",an: Sllitlitn tollT inlln'm SlrllA:IIIT ' " frlihtn JelllJ(htn ProsMrt,iJhlllng, Berlin, 193Z (Neue Forschung Bd. 14). I) p. 186-18 9. Die Einwände Suchiers (vgl. p. 15 z) sind gegenstandslos, "'eil
er hier nur ein Mißverständnis Voretzschs wiederholt (die angebliche Unstimmigkeit in der Ehebruchsintrige, vgl. VORETZSCH, ZRPh XV 36S f., FOULET 199-z03 und unsere eigenen Ausführungen Kap. IV p. 129ff.); selbst wenn die an sich geringfügigen Unterschiede in Sprache und Reimp~axis einen zweiten Verfasser erfordern sollten, bliebe davon der von Foulet aufgewiesene äußere und innere Zusammenhang von Br. lI-Va unberührt. I) So FOULET p. Z 1 3; vgl. p. 187. Der Erzihler in Br. lI-Va hat erst die awnlure in der Wolfshöhle und vor dem Fuchsbau auf das Hofgericht als notwendige Konklusion hin angelegt; in den ersten vier Episoden weist die Erwähnung König Nobles in der Meisenepisode (11 49z) und die reimbedingte Benennung Ysengrin 11 tDnlUlabll (v. I036) noch nicht notwendig auf den bevorstehenden Hoftag vor. Auch werden Tiecelin, Tibert und die Meise in der Verhandlung selbst nur beiläufig erwähnt (cf. Va 7S4-76z); dabei fehlt auffalligerweise Chantecler, der erst in Br. J als Kläger auftritt.
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und darüber unvermeidlich in Parteien zerBllt: die IIIImIIlrt Renarts bringt die Brüchigkeit des feudalen Ordo und die verlorene Solidarität des ritterlichen Standes zum Vorschein. Damit sind wir in die Lage versetzt. die besondere Ausprägung, die der avt"'lITt im RdR verliehen wird. von der des höfischen Romans, mit dem das afrz. Tierepos das formale Schema der Aventürenreihung gemein hat, abzuheben und ihr historisches Verhältnis näher zu bestimmen. Wir stützen uns dabei auf die Untersuchungen, die E. Köhler dem geschichtlichen Wandel des avlfllllTt-Begriffs in der höfischen Epik gewidmet hat I). Mit dem Einsetzen des höfischen Romans, das historisch mit dem Übergang von der ersten zur zweiten feudalen Epoche (Mare Bloch) zusammenfillt, kündigt sich ein neuer ritterlicher Begriff des Geschicks an, mit dem der Weg ritterlicher Bewährung in die wesenhafte Einheit von Zufall und Bestimmung gestellt wird. Im .t"hIr,-Ideal. das Köhler soziologisch auf die eingetretene Differenzierung des ritterlichen Standes in Klein- und Feudaladel und seine Bedrohung durch die ökonomische Umwälzung des I z. Jahrhunderts zurückbezieht, richtet die höfisch-ritterliche Gesellschaft das Gesetz ihrer feudalen Ethik gegen eine Umwelt, die zu ihr in Widerspruch geraten ist, mit einem ständisch und zugleich universalistisch ,"erstandenen Führungsanspruch aufl). Die "Sinnerfüllung des Zufalls" in der aut"llIrt stellt sich danach nicht nur als Weg zur Perfektion des Einzelnen dar, die ihren alleinigen Antrieb in der Liebe hat. Der Weg zur individuellen Perfektion enthüllt zugleich die Rückbindung des entfremdeten Einzelnen an die von ihm abhängige Gemeinschaft, deren Bestehen sich mit jeder avt"llIT' neu entscheidet I) : Wesenssuche und Reintegration sind die heiden voneinander unablösbaren Aspekte der einen ritterlichen av,,,lllrt. Köhler hat den autnlllTt-Begriff bis zu dem Punkte verfolgt, an dem er entweder in den Bann des Spiritualismus gerät oder in die Fortuna-Vorstellung übergeht. Diese Wendung bahnt sich mit der Rezeption der Graal-Lcgende an: .. Mit Chrestiens Gralroman fällt der own/llrt-Bcgriff einer Fatalität anheim, die sein Aufgehen in eine der Providenz untergeordnete For/IIIIII erzwingt. Je schwächer in der späteren ritterlichen Dichtung der Glaube an eine gemeinstindische Sendung wird ( ... ) desto mehr tritt das verdrängte fatalistische Element der For/MIIIl- Vorstellung an die Oberfläche zurück und erfaßt auch den Olltlf/urt-Bcgriff, bis die in der Qlits/t tltl Soin/ Grool im radikalen Vorsehungsgedanken völlig mit For/lint identisch gewordenc: Ollm/llrl in der den großen I)
IMa/ IIIUI WirlUi,lJluil in tkr IJöjisthtn Epik, Tübingen 19S6 (Beihefte zur
ZRPh, 97. Hdt); zur Literatur über den oWIf/'II't-Bcgriff siehe ibid. p.66. ') Siehe KÖHLER p. 71: .. Indem die Ollm/llrl zum idealen Charakteristikum des ganzen Standes erhoben wird, reintegriert sich der Klcinadcl in eine der literarischen und höfischen Fiktion nach besitzindifferente, auserlesene Gemeinschaft. Darum erscheint das Abenteuer als ein Sicherproben ,ohne Auftrag, ohne Amt, ohne konkreten geschichtlich-politischen Zusammenhang' (E. Auerbach)." ') Skhe KÖHLER p. 67: "Der Mensch ist nicht mehr ausschließlich als Glied einer Kollektivität dem Schicksal verbunden, sondern als Einzelner, an dem sich das Geschick der Gemeinschaft entscheidet."
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Vulgatazyklus abschließenden Mari t/'Ar/II ganz vom tragischen Schicksal der zum Untergang verurteilten ritterlichen Welt des Artusrcichs geprägt wird." I)
Welche Stellung nimmt nun das um 1176 entstandene, also zur Zeit von Chrcstiens großen Romanen, aber noch vor dem CoNTE DEL G RAAL (nach 1181)1) anzusetzende afrz. Tierepos innerhalb der Geschichte des IIIIe"lllre-Ideals ein? Hier ist von dem oben erörterten Schritt auszugehen, der zwischen dem YSENG1UMVS und dem ROMAN DE RENART liegt. Wie die prästabilierte Harmonie der 1I",,,llI1'e im höfischen Roman von der heroischen Auffassung des Schicksals in der Chanson de geste, der das Rolandslied die beispielhafte Ausprägung gegeben hatte, so hebt sich auch das kontingente Geschehen der lIIIe"llI1'e Renarts vom unentrinnbaren Geschick des Ysengrimus ab, der bei Nivardus völlig der feindseligen Fortuna preisgegeben ist. In heiden Fällen schließt die Verlagerung des Schwerpunkts vom unausweichlichen Ende zur ruhenden Mitte eine Ästhetisierung der ritterlichen Welt ein: der höfische Roman versetzt sie in die verzauberte Landschaft des Märchens mit dem Artushof als idealer Mitte, der RdR in das fiktive Reich der Tiere mit dem Hoftag König Nobles als richtender Instanz. Bei aller Ähnlichkeit im feudalen Aufbau der fiktiven höfischen Welt zeigt sich aber sogleich in der Art ihrer Stilisierung ein tiefgreifender Unterschied an. Das Wunderbare des Märchens bleibt aus dem Reich der Tiere völlig ausgeschlossen, während es dem Artusroman wesenseigen und darum keineswegs als eine bloß phantastische, spielerische Zutat zu der ""''''lIre des Helden anzusehen ist, die - wie E. Eberwein gezeigt hat - in einer Wesensverwandtschaft zum Erlebnis der Heiligenbegegnung steht: "Der in diesem Weltbild lebendige ,Zufall' ist Wunder, Gnade, Offenbarung jenseitiger Krifte und diesseitiger Wahrheit und ist so jederzeit ,religiös' auch dort, wo er ,weltlich' ist." 3) In der lIlIenIllre Renarts hingegen hat nicht allein kein Wunderbares, in dem für den Artushelden Schicksal und Zufall zum Einklang kommen, mehr statt; hier bleibt die Begebenheit, die ganz in der Kontingenz des Geschehens beschlossen ist und keine Koinzidenz jenseitiger und diesseitiger Wahrheit mehr erfordert, zugleich an das Prinzip der Wahrscheinlichkeit gebunden: was Renart begegnet, ist nicht Zeichen einer Erwähltheit, sondern Bewährungsprobe natürlicher List, die allein am Widerstand der weltlichen Dinge und seiner überwindung mit natürlichen Mitteln evident werden kann. Daß die Tiere im RdR, wie schon immer in der Fabel, mit Rede begabt sind, wird längst nicht mehr als ein märchenhaftes Element empfunden, zumal die QJ1enlllrt im RdR auch das Element jenes Zaubers nicht enthält, gegen den der Artusritter in seiner lIIIen/llrt anzugehen hat t). Während der Artusritter I) ibid. p. 199. I) Zur Darierung der Werke Chrcstiens siehe J. Frappier, op. eit. p: 1%. I) Z" DtIIllIIIg ",illt/IJ/I"/i,h,,. Exisl'''t (Kölner Romanistische Arbeiten, 7. Bd.), Bonn und Köln 19H, p. 51. I) Vgl. KÖHLER p. 77: "Die Welt um den Arrushof ist eine verzauberte, dä-
monilierte Wirklichkeit, die sich als permanente Gerahrdung einer durch den
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19S
im Bestehen seiner tlIJtlllllT' immer zugleich eine Erlösungstat vollbringt, die eine Bestätigung seiner Erwähltheit einschließt, führt die ""'III11T' Renarts in ein Dilemma, das nur durch ein Verkennen, nicht auf übernatürliche Weise entstand und nur durch eigene List, nicht durch wunderbare Hilfe wieder gelöst werden kann. Bestätigt dort das Bestehen des Zaubers mit der Erwihltheit des Helden zugleich die ideale Ordnung der Welt, wie sie eigentlich sein sollte 1), so erweist hier die Lösung des Dilemmas, (fJlIt) pllU . .. "illlll lJIIt /0'" (11 618), daß dem Listigen, der den Lauf der Welt kennt und zu nutzen weiß, immer noch ein Ausweg offensteht, um den Ordnungen der Gesellschaft zu entschlüpfen: im Ausgang der (IIIIIIIIIT' treten Artusroman und ROMAN DE RENART wie Märchen und Antimärchen auseinander I). Pierre de Saint-Cloud, der den Eingang seiner Episoden mit Vorliebe in der Art einer anhebenden "","I11T' darstellt und die Begebenheit auch hiufig als IlMIIIIT' bezeichnet 1), hat einmal, in der ""'III11T"slrang' (11 1117), die der Wölfin vor dem Fuchsbau widerfährt, den Gegensatz von Märchen und Antimärchen thematisiert und den Umschlag der höfischen ,n"IIlllrl in die derbe Schwanksituation des Fabliau so explizit dargestellt (wir kommen in Abschnitt D darauf zurück), daß an der Intention einer ironischen Auflösung des ""'"I",.,-Ideals nicht mehr zu zweifeln ist. Für den geschichtlichen Wandel des IIIItlllllT,-Begriffs könnte man hieraus ablesen, daß der Spiritualisierung der IIIItlllllT' im CoNTE DEL GRAAL schon die literarische Infragestellung ihrer Verbindlichkeit vorausgegangen ist. Wenn Chrestiens YVAIN als Gipfelpunkt der höfischen ""'111"" betrachtet werden kann, so wäre die Position der fast gleichzeitig verfaßten ältesten Branchen des RdR (lI-Va) dadurch zu bestimmen, daß hier mit dem Augenblick, in dem die höfische "","II1r' ihren höchsten Begriff erfüllt und Chrestien den ritterlichen Helden als Instrument der Vorsehung erscheinen läßt C), auch schon die Parodie ihrer Form deren Ende anzeigt 6): im nächst-
,"gi"
Artushof rcpräsentienen idealen Ordnung erweist. Die aN"''''t, in die der jcwcils dafür auserwählte Ritter sich stürzt, bedeutet das immer wiedcr aufgenommcnc Angehen gegen einen Zauber und die stindig zu erneuernde Sicherung der Ordnung." I) Insofern entspricht dem Artusroman die ,Ethik des Geschehcns', wie sic JOLLES für du Märchen voraussetzte: "daß es in diesen Erzählungen so zugeht. wie cs unserem Empfindcn nach in der Welt zugehcn müßtc" (p. %39f.). I) Zum Begriff .Antimärchcn' vgl. JOLLES p. %4%, elcmens Lugowski. Wi,A:litblllil lI1IIl Ditbllllll: Ullltrllllbllll,tll t.l" Wi,lditbluillllll!!QSSIIIII Htinrich 11011 Kltisll, Frankfun 1936. bes. Kap. 11 (.Die frühe Form des Anti-Märchcnromans'). I) Vgl. Br. 11 66S. 842. 887. 1032. 1%17. 13%6. t) Siehe KÖIILER p. 80: "Erst im YNilf jcdoch scheint der a""lfl"'t-Begriff ganz entschieden auf eine •Vorsehung· hin verschoben. die nicht mehr auf dic Person des einzelnen allein zielt." I) Wir benutzen hicr eine Formulierung aus Waher Benjamins Abhandlung über den U'lprllllg Ju Mlilltbm T,lIIIIrlpitll: .. Im sterbenden Sokrates ist das Märtyrcrdrama als Parodie der Tragödie entsprungen. Und hier wie so oft zeigt die l'arodie einer Form deren Ende an" (Schriften Bd. I, Frankfun 19H. p. %34).
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folgenden Roman Chrestiens wird der Held (Perceval) erstmals vor der ihm bestimmten oven/ure scheitern 1). Die ausdrückliche Parodie der hötischen open/ure ist indes nur eine Teilperspektive der ältesten afrz. Renartdichtung, die als Antimärchen noch in anderer Hinsicht zum Märchenroman Chrestiens in Gegensatz tritt, wie sich weiterhin vom Begriff der oven/ure aus zeigen läßt. Während die arien/ure im Bannkreis der Artuswelt aus der Koinzidenz von Zufall und Bestimmung lebt, derart, daß in aller Willkür des Geschehens eine ,providentia specialis' waltet und den allein dafür ausersehenen Helden die oven/lm bestehen läßt, an der alle anderen notwendig scheitern, bildet der RclR eine neue Anschauungsform des Geschehens aus, bei der die open/ure gleichfalls die Mitte zwischen Zufälligem und Providentiellem hält, doch so, daß sie gerade erst durch den Ausschluß beider möglich wird. Wo über den Ausgang der einzelnen und aller Begebenheiten schon vorweg entschieden ist, so daß kein echtes Dilemma mehr entstehen kann, wie im YSENGRIMUS, kommt es so wenig zu einem Renartabenteuer im eigentlichen Sinn, wie wenn die Lösung des Dilemmas das bloße Resultat eines mechanischen Zufalls ist. Mit aus diesem Grunde ist z. B. das Abenteuer mit Tibert, in dem Renart einzig infolge des Fehlschlags eines, vilain' aus einer mole trope entkommt, die schwächste Episode in Branche 11 I). Will man das Renartabenteuer, insofern es auf kein transzendentes, die ,Sinnerfüllung des Zufalls' im Geschehen bewirkendes Prinzip mehr verweist 3). ,kontingent' nennen, so muß dabei die Einschränkung gemacht werden, daß damit nur die Art der Geschehnisabfolge, nicht aber die dargestellte Welt als solche getroffen ist. Die Welt der open/ure im RdR ist aufs Ganze gesehen der Kontingenz des Lebens nicht weniger entrückt als die verzauberte Märchenlandschaft des Artusromans. Denn jene Kontingenz des Lebens, dere!1 Auf und Ab in der ganzen Breite der gesellschaftlichen Wirklichkeit erst der pikareske Roman am Leber..sgang eines beliebigen, der Willkür Fortunas ausgelieferten Einzelnen darstellen wird, fällt hier einer ästhetischen Reduktion anheim, die die Vielfalt menschlicher Verhältnisse in eine in sich vollendete Typenwelt von Tiercharakteren überführt und dabei alle Kontingenz des Werdens, die Wesenssuche des Artushelden einbegriffen, ausschließt. ') Siehe KÖHLER p. 196. - Nach Fourrier hat Chrestien YVAIN und LANCELOT nebeneinander in der Zeit von 1177 bis 1179 (oder 1181) verfaßt, vgl. Frappier, a. a. O. p. 12. f) v. 809 ff.; man vergleiche dagegen etwa den Ausweg aus einem ähnlichen Dilemma v. 619ff., den Renart einem verblüffenden Einfall seinerf,"tlt verdankt. I) Insofern bedürfen die Ausführungen, mit denen SPITZER das "zwischenweltliche Genre des RdR" geistesgeschichtlich zu bestimmen suchte (vgl. p. 214 bis 221), einer Korrektur. Der Welt der im RdR, in dem kein Hauch von jener Idealität mehr geblieben ist, die nach Spitzer selbst noch in so unheroischen epischen Werken wie in der Karlsreise und in ANtQsrill I1 Nitoltllt spürbar wird (p. 214), fehlt jegliche "Durchdringung des Lebens mit der Transzendenz".
QU"'ur,
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Die flvenlllrl Renarts unterscheidet sich von der Wesenssuche des Artushelden zunächst darin t daß sich Renartt wie schon bemerkt, am Ende nicht vollkommener zeigen kann t als er es je schon ist, während sich das gleichfalls vorgeprägte aber erst noch latente Wesen des Artushelden durch den Weg der gesuchten und ihm zufallenden flvenlurl enthüllen und durch die am Ende vollzogene Reintegration in die Gemeinschaft des Artushofes erfüllen muß. Mit der Aufnahme in den Artuskreis vollendet sich die eigentliche Geschichte Erecs, Yvains und der anderen Ritter der Tafelrunde. Wenn sie hernach noch hier und dort in Erscheinung treten, so nur noch im Rahmen der flVIIIllITI eines anderen, die sich nicht mehr mit ihren Namen verbindet: sie sind vollendete Figuren geworden deren Geschichte nicht mehr fortgesetzt werden kann, weil sich ihrem enthüllten Wesen durch kein neues Abenteuer mehr etwas hinzufügen ließe. Hier reicht die: Artuswelt, der ohne die ständige Bestätigung durch einen immer neuen Helden nur noch das letzte Gesamtabenteuer ihres Unterganges(MoRTLERoI ARnl ) offensteht, an die Typenwelt der Charaktere im RdR heran, der von vornherein jener Zustand des Vollendetseins eigentümlich ist. Der zum Inbegriff einer höfischen Tugend und damit zur exemplarischen Figur gewordene Brec, Yvain, Gauvain, Keu nimmt am Ende dieselbe zeitlose Gestalt an wie Brichemer, Baucent, Brun, Cointereaus, jene vorgeprägten Tierfiguren, die am Hofe König Nobles sowohl nach ihren Funktionen als auch nach ihren Charakteren genau umrissene, ein für allemal festgelegte Positionen innehaben. Während nun aber dem vollendeten Helden im Artusroman auf Grund der Geschichte seiner avenlurt, in der sich sein Wesen in seiner Beispielhaftigkeit enthüllt hat, noch die Individualität eines Gewordenseins anhaftet 1), erscheinen die Tierfiguren im RdR von vornt
t
I) Daß dem vollendeten Artushelden noch die Individualität eines Geworden· seins anhaftet, besagt gerade nicht, sein exemplarischer Weg stelle eine ,individuelle Entwicklung' dar. Diese dem mittelalterlichen Denken völlig unangemessene Vorstellung ist bekanntlich ein Ergebnis der unkritischen Rückübcrtragung einer Anschauungsform des 19. Jahrhunderts - des Leitbilds vom organischen Werden der Persönlichkeit - auf eine Epoche. in der der Mensch in seiner Ganzheit auf die Gemeinschaft, deren Teil er ist, hingeordnet ist als auf sein Ziel: lprt lolur homo orJinall6, ul ad jintm, ad ,ommunilaltm ,lIiur tri parr (Thomas von Aquin, zitiert von P. Edelbcrt Kurz, InJi"itUmm und Gtmtinr,hafl btim HI. Thomar POn Aflllill, ~lünchen 1932, p. S6; diese: Untersuchung widerlegt im
Bereich der thomistischen SoziaJphilosophie die von Oe Wulf vertretene Auffassung vom ,Individualismus' des Mittelal~ers). Zum Problem der Individuation im MA sei auch auf G. Misch, <;uchichlt dtr Aulobiographit, Bd. 11, 1 p. 16-24. Frankfurt 1 9S S, verwiesen. Daß der Punkt, in dem sich das Tun und Trachten des Einzelnen zur Einheit zusammenschließt, nicht in ihm selber liegt (ibid. p. 21), läßt sich gerade von der Köhlerschen Deutung der Aventüre-Struktur aus zeigen. Der exemplarische Weg des Artusritters ist gleichbedeutend mit der Geschichte seiner Entfremdung und Reintegration in die Gemeinschaft; seine Wesenssuche geht darin auf und ist abgesehen davon, als etwaiger biographischer Zusammen· hang c:iner persönlichen Entwicklung, von keinerlei Bewandtnis für die epische
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herein als reine Typen. die in ihrer Einzigartigkeit nur durch ihre Natur bestimmt sind und deren Wesen darum schon in einer einzigen Begebenheit zutage tritt 1). Hier wird der Punkt greifbar. an dem sich das Wesen der Tierfigur am schärfsten von dem des epischen Helden abhebt. Während es. um einen epischen Helden zu charakterisieren. immer einer Reihe von Begebenheiten. d. h. seiner Geschichte bedarf. wird die Natur einer Tierfigur bereits in der ersten (IIII"llIrl hervorgekehrt (der blasierte Stolz Chanteders z. B. schon in der ersten Zurechtweisung Pintes. 11 878-894) und kann auch in einer Reihe von Begebenheiten immer nur als unveränderlich dieselbe zum Vorschein kommen: der reine Typ verträgt nur die Form der stets fortsetzbaren Episodenreihung. nicht die der auf ihr Ende gerichteten Geschichte. Darin liegt der Anfang einer Erklirung dafur. weshalb der RdR nicht über ein .. Konglomerat von losen und um einen Helden gruppierten Erzählungen" hinausgekommen ist. Nicht daß die Tierhelden .. keine Konsequenz des Charakters haben könnten" - als reine Typen stehen sie immer schon in der vorgezeichneten Bahn -. sondern. daß ihnen nur ein ..genereller Charakter" eigen ist, macht sie und Renart im besonderen .. zum epischen Helden ala Roland untauglich" 1). Die weitere Frage ist dann nur. warum sich Renart. wenn er auch nur als reiner Typ wie die anderen Tiere anzusehen ist. aus diesen so sehr herausheben kann. daß das Gesamtabenteuer des afrz. Tierepos unlöslich mit seinem Namen verbunden ist. Ist es Zufall. wenn in der bisherigen Erörterung immer nur von der (IIII"llIrl Renarts die Rede war, als ob erst seine Gegenwart dem Tierschwank den Charakter einer IIIIt1Ihlrl verleihe? Wenn aber sein Auftreten die tIfIt"llIrl im Reich der Tiere allererst möglich macht und alle Aventüren in seiner Gestalt ihren perspektivischen Fluchtpunkt haben. sollten sich dann die Aventüren des RdR nicht doch in irgendeiner Hinsicht zu dem GeFabel. Die Abhängigkeit alles bloß .Individuellen' von einem übergreifenden exemplarischen Sinn zeigt sich besonders deutlich in der Distanzierung des höfischen Sprechens. s. I. Nolting-Hauff. op. eit. p. 44: .. Man sicht. in wie engen Grenzen sich auch hier die Selbstreftektierung vollzieht: die Funktion des ,Individuellen' erschöpft sich darin. daß es die exemplarische Bewegung zur Norm hin, also die überwindung seiner selbst, ermöglichen muß." Vgl. dazu ibid. p.60. I) Diese Unterscheidung, auf der die folgende Untersuchung aufbaut. ist nach Hans LIPPS, Di, lII~nlthlitht NII/IIT, Frankfurt 1941, bes. Kap. 24: ,Die Cha-
rakterisierung eines Menschen', entwickelt, dessen Buch ich entscheidende Anregungen zur Untersuchung der Tiercharaktere verdanke. I) Siehe dazu SPITZER. p. ZH. dessc:n Deutung zwischen dem generellen Charakter des Fuchses und der .. Läßlichkeit", bzw. der .. unheroischen Charakterlosigkeit" dieses Tierhdden schwankt. Der generelle Charakter der Tierfiguren schließt indes die Konsequenz, d. h. die typische Gebundenheit ihres Verhaltens ein. Wenn Spitzer an Renart die Konsequenz eines (moralischen) Charakters vermißt, setzt er in diesem Wongebrauch den deutschen Begriff ,Charakter' (= Charakter haben. ein Mann von Charakter) an die Stelle des für Tier6guren allein angemessenen Begriffs .caract~re" (= im Sinne von La Bruy~res ,Charakteren").
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199 samtabenteuer Renarts zusammenschließen? Wenn er schon .. keine sich entwickelnde Geschichte, sondern nur ein stetes Sein hat, das man in einzelnen und losen Aventiuren umspielen kann"1), sollte sich dann in der Abfolge seiner Abenteuer eben immer nur seine selbe Natur und nicht doch "ielleicht noch ein anderes enthüllen? Worin besteht also das Gcsamtabenteuer Renarts. wessen Geschichte schließt sich in ihm auf, da es nun einmal nicht die seines Lebens sein kann und auch nie sein wird, denn in der mittelalterlichen Geschichte des Renartzyklus, wie auch in seiner nachmittelalterlichen Tradition ist nie der Versuch unternommen worden, dem Fuchsabenteuer die Einheit und geschlossene Form einer Biographie zu geben. Für die Frage, welche Bedeutung der tZ11t1lIIlT' Renarts im ganzen zukommt, ist die Erzählung Bruns besonders aufschlußreich, weil der Bir damit versucht, die Anklage Ysengrins zu einem Fall zu erweitern, der die Allgemeinheit der versammelten Tiere angeht: Honi soit et deshonore Qui ja Renart consentira Quc un prodornc honira, Et si li toudra son avoir, Si n'cn porra nul droit avoir: Donc auroit il borsc trovcc. Ce scroit folie provee, Se li rois son baron ne vengc Que Renars honist et ledenge. Mes a tel morsel itel tece. Chaz set bien qui barbes il lechc. Et nc quit pas, sauve sa gracc, Quc noz sire s'cnnor i face, Qui s'en aloit ore riant Et Ysengrin contraliant Por un garcon, un loscngcr. (Va '90-60')
Die Rede bezieht sich im besonderen auf den Anklagepunkt, Renart habe die Höhle Ysengrins verunstaltet, seine Kinder beschimpft und Nahrung entwendet. Brun richtet seinen Hauptvorwurf aber vornehmlich an die Adresse des Königs, der sich keine Ehre erweise, wenn er für die Ysengrin angetane ~hmach nur ein Lachen übrig habe und damit zu billigen scheine, daß Renart einen prodo"" entehre. Der König hat Brun zufolge das gemeingef'ihrliche Wesen Renarts nicht erkannt, für das er in seiner Erzihlung nur ein Beispiel für viele geben wollte: Ge ncl di pas por clamor fere. Mes por essample de lui trcre.
(Va 7P-752)
Auch andere bitten Grund zur Klage. Brun zitiert den Fall Tiecelins, Tiberts und der Meise und spart nicht an Worten wie Irlli"lor /,1011 (V a ~). (v. 7 S9).lmItzs (v. 761). Schließlich appelliert er an die Verantwortung aller:
'er,
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Nos i avon molt grant pccie, Quant tant li avon aluehie. (v. 76S-766)
Doch Brun hat mit seiner Argumentation nicht mehr Erfolg als zuvor Ysengrin; Bauccnt der Eber weist ihn mit formalistischen Grunden (die erste Klage ist noch nicht entschieden, die andere Partei noch nieht gehört, Va 769-792) ab, und in der folgenden. heftigen Auseinandersetzung droht jene Entzweiung der .Cout' des Pairs' einzutreten, der Brichemer nur mit dem konzilianten Vorschlag des Reinigungseides zu begegnen weiß, ohne damit die im ,Escondit' zutage tretenden Parteiungen aufhalten zu können. Die zerfallende Einhelligkeit der Hofgesellschaft ist nicht ohne Zusammenhang damit, dlill die Erzählung Bruns einen schwachen Punkt aufweist, der ihre überzeugungskraft als Beispiel beeinträchtigt. Das Motiv, das Brun dazu brachte, sich mit Renart in eine ttlltll/llre zu begeben. war nichts weniger als ehrenhaft und eines Helden unwürdig; auch wenn Renart mit Vorbedacht handelte und der eigennützigen Absicht folgte, gedeckt durch den starken Bären auf Hühnerjagd zu gehen. kann dies nichts daran ändern. daß Brun seinerseits Honig stehlen wollte: 11 savait que j'amoie miel Plus que ehose qui soit sos cicl.
(v. 639 f.)
Auch dieser Fall entbehrt wie zuvor der Ysengrins, für den der König am Ende nur ein Lachen übrig hatte, nicht einer komischen Seite. Die Geschichte, mit der Brun das gemeingefährliche Wesen Renarts exemplarisch kennzeichnen wollte. kennzeichnet zugleich ihn mit, und dies in einer Weise, die die Lacher auf die Seite Renarts bringen muß. Denn der Held, der auszog, um seinem unwiderstehlichen Hang für Honig zu frönen, tut noch ein übriges, um sich lächerlich zu machen. Er gibt von seinem Mißgeschick inmitten einer Horde von ,vilains' und ihren Kötern eine Schilderung (v. 693-748), als ob es sich um einen glorreichen Rückzug vor ebenbürtigen Feinden gehandelt habe: Bien polst por verite dire Que one ne fu velie beste Qui de ehens feist tel tempcste
(v. 704-706)
und erweist sich damit als tolpatschiger Aufschneider und Typ des ,miles gloriosus'. Die gemeinsame allen/IiTe Renarts und Bruns parodiert das Heldenepos; sie entlarvt in Brun den epischen Helden, indem sie sein Handeln auf ein albumenschliches, unheldisches Motiv zurückführt und so gerade den Zug seines Wesens hervorkehrt, der für seine kreatürliche Verhaftung kennzeichnend ist. Was in der gemeinsamen IlIItn/lire von Renart und Brun geschieht, ist paradigmatisch für die lilien/me im ROMAN OE RENART überhaupt und hebt den Fuchsschwank über die bloße Situationskomik der übcrlistung, wie sie im Fabliau vorherrschend ist, hinaus. Denn nicht die überlistung als lolche mit der jeweils erneuerten Spannung, auf welche Art und Weise der Listenreiche dieses Mal seine Schlinge zu legen weiß, sondern die mit ihr
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verbundene Entlarvung und Kennzeichnung der typischen und in ihrer Typik festgelegten Natur seines Panners oder Widersachers macht den eigentümlichen Reiz des Fuchsschwanks aus und berechtigt uns. im Blick auf die Reihung solcher Schwänke im Tierepos von einem einheitlichen Gesamtabenteuer Renarts zu sprechen. Das Tierepos gewinnt im Werk Pierres de Saint-Cloud. der das formale Schema des Abenteuerromans übernimmt. seinen eigenen inneren Zusammenhalt in dieser fortschreitenden Enthüllung der typischen Charaktere. die durch die Begegnung mit Renart möglich wird. Das Gesamtabenteuer Renarts führt gleichsam die höfische IZIItnlllrt weiter. insofern es in der Typik der Charaktere. die es enthüllt. jene in sich vollendete Welt des Artuskreises schon voraussetzt, in dem die Wesenssuche des höfisch-ritterlichen Helden notwendig ihren Abschluß finden muß; es durchmißt diese epische Welt jedoch in einer Bewegung, die der Reintegrationstendenz der höfischen atltn/llrt zuwiderläuft.
c. Die ADaloPe von tierischem Wesen und meJUCblicher Natur im Tierepos des Mittelalten Die vollendete Typik der ritterlichen W·elt löst sich durch den Weg. auf dem Renart sie durchläuft. erneut in eine Vielheit von Aventüren auf. Doch während zuvor die höfische IZIItn/llrt in der Geschichte des Helden sein ideales. für die Gesellschaft exemplarisches Sein zum Vorschein brachte, kehn nun die {ll/tn/llrt Renarts im typischen Geschick des Tierhelden seine kreatürliche Natur in der Verhaftung einer Eigenschaft hervor. die ihn fixiert und zugleich vereinzel t. Das allgemein verbindliche und darum auch in der Ausprägung durch mehrere Figuren nur durch Nuancen verschiedene literarische Bild des ritterlichen Helden tritt hier in eine Vielfalt von Charakteren auseinander, die in den Tierfiguren nicht mehr auf das Verbindende ihres gemeinschaftlichen Daseins. sondern auf das Unterscheidende ihres naturbedingten Soseins hin ausgelegt sind. Damit wird deutlich. inwiefern sich gerade Tierfiguren als besonders ausgezeichnetes Medium erweisen. um eine in sich vollendete Typenwelt von reinen, d. h. generellen Charakteren zur Darstellung zu bringen. Einmal. weil Tieren .. ihr Artcharakter ins Gesicht geschrieben ist" 1). Wo es bei menschlichen Figuren erst einer Geschichte oder zumindest einer Beschreibung ihrer Person bedarf, um sie als Typen zu charakterisieren. genügt bei Tierfiguren bereits die Nennung ihres Gattungsnamens. Der Fuchs. der Wolf. der Löwe ist uns auch ohne .descriptio personae' sogleich in seiner Gestalt und damit auch in seinem Ancharakter anschaulich. Seine Gestalt ist für uns immer zugleich identisch mit einem Sosein : darin gründet die von Lessing betonte .. allgemein bekannte Bestandtheit der (Tier)charakterecc • Zum andem. weil das Tier ein .. ungebrochenes Verhältnis zu seiner Natur hat". I)
LIPPS
p. 19.
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zoz
wie es dem Menschen nicht eigen ist 1). Als dargestellte Ancharaktere legen die Tierfiguren moralische Eigenschaften so aus, als ob es sich um ein naturhaftes Wassein, als etwas, wofür man nicht aufkommen kann, handle und führen damit das geistige Sein des Menschen auf seine allgemeine Natur mit ihren kreatürlichen Bedürfnissen und Neigungen zurück. Insofern aber im Tierepos diese Charaktere je nur in der Einzahl vorhanden sind, in der Tierfigur also das Allgemeine und das Singuläre, Wesenheit und Einzelwesen, Gattung und Exemplar zusammenfallen, erhalten Renart, Ysengrin, Brun, Noble usw. ihrer Einzig-Artigkeit zufolge einen Anschein von Individualität, aus dem sich die in der Forschung immer wieder unkritisch gebrauchte Rede von einer ,Individualisierung' der Gattungen erklärt I). Die Einzig-Artigkeit der Tierfiguren ist indes von der .. einmaligen, unverwechselbaren Artung" 3) des Individuums prinzipiell zu unterscheiden. In Renart z. B. stellt sich das Füchsische des Fuchses im Unterschied zu dem Wölfischen des Wolfes und nicht der Charakter eines ganz bestimmten Fuchses dar: indem sich seine Gestalt als Quasi-Individuum entwickelt, .. setzt sich hierin gerade das Arthafte durch" '). Die Tierfigur kann darum auch kein Schicksal, das immer schon den Einzelnen in seiner individuellen Möglichkeit voraussetzt, sondern nur ihr typisches Geschick haben 6), das sich aus ihrem generellen Charakter ohne Rest erklärt, weil es im Grunde nur ein Wassein charakterisiert, das aus aller Kontingenz des Werdens ausgeschlossen bleibt. Renart, der selbst auch eine bestimmte Figur inmitten dieser Typenwelt von Charakteren darstellt, hebt sich nur darin zugleich über sie hinaus, daß er als Inbegriff des Listigen die Fixiertheit der anderen sich zunutze macht, ist aber selbst auch seiner listigen Natur verhaftet. Der Anschein, daß ihm ein höheres Maß an ,Individualität' eigen ist als den anderen Tierfiguren, darf nicht darüber hinwegtäuschen, I) LIPPS p. ZS. ') VORETZSCH (189S) p. 460: .,Zwar kennt auch schon die Fabel die Individualisierung, insofern sie den Löwen, den Wolf, den Fuchs als Vertreter ihrer Gattungen, als Typen faßt, aber erst die Namengebung macht aus diesen Typen wahrhaft epische Persönlichkeiten." Wie hier bleibt auch bei G. PARIS (p. 357ff.), der den eigentlichen Ursprung des mittelalterlichen Tierepos in der .,conception generale d'animaux individualisant des eSpCces" sieht und richtig herausstellt: .,Renard ... n'est pas un certain goupil, ni Isengrin un certain loup, dont on nous raconte tclle histoire: c'cst le goupil, c'cst le loup, et les aventures qu'on Icur prerc catacterisent !es rapports constants qui resultent de leur natur!!" (p. 3S9), die spezifische Differenz zwischen Tierfigur und epischer Personalität ungeklärt. ') LIPPs p. zS. t) LIPPs p. 64. ~) LIPPs p. 139: .. Wir unterscheiden das Geschick als etwas dem Menschen lediglich Zufallendes, das es zu meiden "zw. zu wenden, wovon es sich zu lösen gilt, von dem Schicksal, das man als ,seines' zu ,sein', das man zu übernehmen hat. Daß meinem Schicksal ,aus mir' etwas entgegenkommt, ist etwas anderes, als daß in meiner Natur die Gründe dafür liegen mögen, daß ich von etwas als einem für mich typischen Mißgeschick verfolgt werde."
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daß auch er in seinem Was -sein dargestellt und noch nicht dadurch charaKterisiert ist, wie er etwas ist 1). Nicht wie er sich in seinem listigen Treiben verhält oder daß er listiger wäre als seinesgleichen (wo List gegen List steht wie in der Dtlllllrt mit Tibert und mit der Meise erscheint er bezeichnenderweise als betrogener Betrüger I), sondern daß er die List als solche im Verhiltnis zur Gewalt darstellt und als Verkörperung der List inmitten einer episch-ritterlichen Welt erscheint, deren sittliche Ordnung er seinem antiheldischen Wesen nach negiert, macht seine RoUe aus und lißt ihn vom Werk Pierres de Saint-Cloud an zur Titelfigur des Tierepos, bzw. zum Träger des Gesamtabcnteuers emporwachsen. Damit sind wir zu einer völligen Umkehrung derjenigen Auffassung gelangt, die in der älteren Forschung am meisten Unheil angerichtet hat: der ,Naturalismus' des ROMAN DE RENART besteht gerade nie h t darin, die ,tierische Natur' mimetisch darzustellen. Wo immer die Auffassung und Darstellung der Tierwelt im RdR der Naturbeobachtung entspricht und in Brehms Tierleben verifiziert werden kann, ist diese Art von Naturwahrheit von den mittelalterlichen Verfassern nicht als solche gesucht worden und darum nicht höher zu bewerten als die nicht naturnahen, bzw. der Naturwahrheit widersprechenden Vermenschlichungen des Tierlebens. Das "Gemisch von Naturbeobachtung, NaturentsteIlung und Gleichgültigkeit gegen die Natur" (so will Ulrich uo die Methode der mittelalterlichen Verfasser charakterisieren) 2) ist im Grunde nur die relativ belanglose Kehrseite jener Typcnwelt von Charakteren, in der das volkssprachliehe Tierepos vornehmlich die Natur des Menschen in der Durchschnittlichkeit seiner Eigenschaften und Schwächen, aber dank ihrer Versetzung in die Tierheit ohne moralisierende Didaxis, zur Anschauung bringt. Der ,Naturalismus' des RdR verhält sich zum literarischen Naturalismus positivistischer Prägung wie der mittelalterliche Realismus zum modemen, seine genaue Umkehrung enthaltenden Begriff des Wortes. Die Realität, die hier zur Darstellung gelangt, ist nicht die vermöge einer Einfühlung in die Tierseele und Naturbeobachtung nachgeahmte Wirklichkeit der von I) Lrpps p. r 54: "Während die Dinge über ihr Sein hinweg in ihrem Was verstanden werden, wahrend sie: das, was sie sind, nur in Wirklichkeit sein können oder nicht, charakterisiert es den Menschen, wie er etwas ,ist' ... I) LEO (p. 48) will damit gegen H. Claß (Au//allung und Darsltllung tltr TierINII i", Ro",an de RtrlQTl, Diss. Tübingcn 1910) fur die Verfasser des RdR einen "im ganzen mehr literarischen als naturbeobachtend orientierten Standpunkt" geltend machen. Seine Kritik bleibt aber auf halbem Wege stehen, weil er nicht nach dem eigentlichen Ursprung des Anthropomorphismus in der Tierdichtung des ~fA fragt. Die Feststellung, .. daß die Vorstellung vom kletternden Fuchse, wenn nicht auf Erfindung, zum wenigsten auf eine weit zunickliegende Beobachtung zuruckgeht. die zur Zeit der literarischen Tierdichtungen längst literarischer Topos geworden war" (p. 48) zeigt, daß Leo selbst noch der romantischen Auffassung von einem naturnahen (= "die Tiere sozusagen um ihrer selbst willen IIchildernden", p. 31) ,Tiermärchen' verhaftet ist.
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Tieren bevölkerten Natur, sondern die der "universalia in re", ein Reich von Figuren, die in ihrer Singularität das Arthafte, in ihrer Diversität die wesenhaften Bestimmungen der kreatürlichen Natur gesondert zur Anschauung bringen. Insofern ist die Rede vom ,Anthropomorphismus', der der mittelalterlichen Tierdichtung eigen sei, so lange mißverständlich, als sie auf der romantischen Voraussetzung gründet, das ,Tiermärchen' in seiner ursprünglichen ,reinen' Form habe die besonderen Eigenheiten der Tiernarur ins Spiel gebracht, der mittelalterliche Dichter alsdann "Lebensäußerungen des allgemein menschlichen Lebens auf die Tierfiguren übertragen" 1). Die "innige Vermischung des menschlichen mit dem tierischen Element" ist, wie Grimm deutlicher als seine romantisierenden Epigonen gesehen hat, der Tierfabel von Anbeginn wesenseigen: .. Dieser vereinbarung zweier in der wirklichkeit widerstreitender elemente kann die thierfabcl nicht entrathen. Wer geschichten ersinnen wollte, in denen die thiere sich bloß wie menschen gebärdeten. nur zufällig mit thiernamc:n und gestalt begabt wären, hätte den geist der fabel ebenso verfehlt, wie wer darin thiere getreu nach der natur aufzufassen suchte, ohne menschliches geschick und ohne den menschen abgesehene handlung. fehlte den thieren der fabel der menschliche beigeschmack, so würden sie albern, fehlte ihnen der thierische. langweilig sein." I)
Wenn aber der Anthropomorphismus der Tierfabel in ihrem weitesten Begriff, den ihr Grimm gegeben hat, ursprünglich eigen ist, können auch die ritterlichen Anthropomorphismen im RdR nicht als Signum des Nichtursprünglichen angesehen und von einer ,reinen' Form des hypothetischen ,Tiermärchens' abgehoben werden. Vielmehr ist zu fragen, ob der Versetzung der Tierfabel in die episch-ritterliche Vorstellungswelt des I z. Jahrhunderts, auf die das Stilelement der ritterlichen Anthropomorphismen letztlich zurückgeht, für die Geschichte der mittelalterlichen Tierdichtung nicht noch eine tiefere Bedeutung zukommt als die eines historischen, vom Geist der Epoche bedingten, rein äußerlichen Kolorits. Marie de France hatte die Tierfabel gleichfalls aus der verchristlichten Moral des ROMULUS NILANTINUS in die Vorstellungswelt des feudalen Hochmittelalters übertragen. Auch ihr ESOPE gibt den traditionellen Figuren der antiken Fabel eine ritterliche Umkleidung und bildet, indem hier im Unterschied zu der verchristlichten Vorlage die Unwandelbarkeit der menschlichen Natur wieder hervorgekehrt wird, eine Typenwelt in sich vollendeter Wesen aus, deren Umkreis sich mit dem der Charaktere im ROMAN DE REN.'\RT ungefähr deckt. Auch die Figuren der Fabel durchlaufen eine I) LEO setzt in dieser Definition des allgemeinen Anthropomorphismus (p. zo) zwar die naturgetreue Anschauung der Tiere im vorliterarischen ,Tiermärchen' nicht ausdrüc.klich voraus. Der ganze Gang seiner Untersuchung im ,Ersten Abschnitt' mit der Herausarbeitung von früheren, mittleren und späteren Stilschichten (vgl. p. 4Z) ist indes, wie die Widersprüche seiner Methode zeigen (s. SPITZER. p. Z22 f.), von dieser ihm selbst nicht deutlich bewußten Vorentscheidung bedingt. I) GR.IMM p. VIII.
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Art von die indes - darin zeigt sich ein Unterschied zum Tierepos an - dem Verlangen der Kreatur entspringt. über die ihr zubestimmte Natur und über den ihr zubestimmten Rang in der Hierarchie der Wesen hinauszugelangen. und die sie unentrinnbar wieder an ihren Ausgangspunkt zurückführt. Daß diese Wesensungleichheit und Gebundenheit der Kreatur in die Welt der äsopischen Fabel durch ihre Versetzung in den feudalen Ordo wenn nicht hineingekommen, so doch stärker in ihr hervorgekehrt worden ist. liegt auf der Hand und gehört in eine Entwicklung, die erst im Tierepos zur vollkommenen Ausprigung gelangen konnte. Denn in der Welt des EsOPE besteht noch ein Widerspruch zwischen den typischen Charakteren der Tierfiguren und ihrer exemplarischen Bedeutung für jenes feudale System der Werte, das Marie in ihren Moralitäten geltend machen will. Die Tiemguren im ESOPE bringen nicht so sehr ihre eigene Natur zur Anschauung, als daß sie durch die Beispielhaftigkeit der Fabelsituation hindurch auf jene moralischen Eigenschaften und Mängel hinweisen, die für die Ordnung der feudalen Gesellschaft als Tugend oder Laster bedeutsam sind und in dem Gegensatz von Itjal und /elll" gipfeln. Die Beispielhaftigkeit der Fabelsituation überdeckt die typischen Charaktere der Tiere, so daß ihr vorgeprägtes Wesen nur noch in eine mögliche, nicht aber in eine notwendige Relation zu der Bedeutung ihrer Erscheinung tritt. Der flf'glliUm kann im EsoPE sowohl vom Adler (X 11), vom Esel (XXXV n), von der Maus (LXXIII I), der tfJlltjlllJ ebensowohl vom Wolf (11 34), vom Hund (V 8), vom Habicht (LU H) repräsentiert werden: im Bereich der Fabel erscheinen die Tiere als Beispielfiguren, die ihre Deutung aus der Situation erhalten, in der sie ihre vorgeschriebene Rolle spielen, und vermögen, auch wenn sie in andern Fabeln wieder auftauchen, nicht die Einhelligkeit eines generellen Charakters zu erlangen, der ein typisch wiederkehrendes Geschick voraussetzt. Der Hirsch im EsoPE zum Beispiel muß gegenüber Brichemer im RdR, der Rabe gegenüber Tiecelin als typische Figur immer vage bleiben. weil sich das, was er von Natur aus ist, nur mittelbar durch verschiedene Situationen hindurch und uneinheitlich zu erkennen gibt 1), nicht also schon durch die erste Situation so typisch gekennzeichnet ist, wie es immer ist und allen weiteren Situationen einheitlich - und diese determinierend - zugrunde liegt. I) Der Hirsch im EsoPE wird in der XXIV. Fabel (De cervo ad fontem) zu-
nächst als Bcispiclfigur der Eitelkeit eingefuhn. In Fabel LXV (De lupo ct scarabeo), wo er im Gefolge des Wolfes als Ratgeber auftritt, ist sein typischer Charakter ohne Bedeutung. Er liegt auch l\laries Version der Hirschherzfabc:l (LXX) nicht zugrunde. denn warum gerade das Hirschherz dem kranken Löwen als Heilmittel empfohlen wird, bleibt unmotiviert; die Ausrede des Fuchses: Vo'enn er noch sein Herz gehabt hätte, wäre er nach der dritten Aufforderung gewiß nicht erschienen (v. S8-62), durfte zudem auf eine andere typische Eigenschaft, dc:n Mut (bzw. Herz als Sitz des Mutes) zurückweisen. Fabel XCI (De cerva hinnulum instruente) ist ein Beispiel dafür. daß die Tierfiguren in der Fabel auch noch nicht durch typische Bindungen der Freundschaft oder Feindschaft
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206 Dies soll am Beispiel des Raben verdeutlicht werden, das sich für eine Interpretation besonders eignet. weil zwischen Maries Fabel von Rabe und Fuchs und der Schwankversion im RdR (11 843-1026) eine Affinität besteht. die es als möglich erscheinen läßt, daß Pierre de Saint-Ooud aus dem EsoPE geschöpft hat 1). Der Rabe und sein Pendant. die Krihe I). finden sich im ESOPE außer in .De corvo et vulpc" (XIII) noch in fünf anderen Fabeln. In .De aquila et tcstudine" (XII) erscheint die Krihe als Beispielfigur des hinterlistigen Ratgebers U,IIl1l, IU par agtlllil , par ,,,gill ""SllIIIs,i/l, SM" bOll ",isi", V. 30-32). Damit stimmt ihre Selbst kennzeichnung als sag' , "'Zi;, in .De cornice et ove" (XL 14) und der Sinn der Fabel .De corvo et pullo eius" (XCII) überein. in der der junge Rabe. nachdem er sich als sag' 11 "'Zih (v. 2I) erwiesen, für Aügge erklirt wird. Der Rabe in .De corvo et vulpc" (XIII) hingegen verkörpert in Abwandlung der vorgegebenen Rolle des törichten Eitlen für Marie den orgMillm (v. 29). die Hybris des Ehrgeizes, die sie auch in der Fabel vom eitlen Raben. der seine Häßlichkeit mit Pfauenfedern verhehlen will (LXVII). hervorkehrt. Schließlich fehlt auch nicht der Fall. in dem ausgerechnet der Rabe. der auf dem Rücken eines Schafes sitzt. im Gegensatz zu dem IrübeM,- Wolf als Beispiel für den Ilial, qlle bM'" 11' li,,,1 SIJ jlz a ",aI (LIX 19-20) gelten soll. Selbst wenn es möglich ist. den Raben. dessen Wesen Marie de France hier in verschiedenen Hinsichten exemplarisch gedeutet hat, auf eine Mitte seiner "alIl1"I, die all diesen Hinsichten zugrunde läge, zurückzuführen, wird doch bei Marie diese IIalll1"I in ihrer Einzig-Artigkeit gerade nicht zur Erscheinung gebracht. Die vorgeprägte, in der Fabel vom abgelisteten Käse am reinsten dargestellte 1141111"1 I) des Raben bleibt im ESOPE der exemplarischen konsequent festgelegt sind, denn hier warnt die Hirschkuh ihr Junges erst vor dem Wolf (vgl. dagegen LXV. wo Hirsch und Wolf verbündet sind), dann vor dem Jäger. Die Moral dieser Fabel führt das törichte Verhalten des Hirschjungen auf überheblichkeit (NIlragt, v. 36) zurück; diese Eigenschaft könnte aus der traditionellen Natur des Hirsches. seiner Eitelkeit oder auch Schönheit. denn in Fabel XCVI (Oe lepore et cervo) bringt das Hinchgeweih dem Hasen seine Hißlichkeit zum Bewußtsein. abgeleitet sein und vielleicht auch eine Kehrseite des ~lutes (LXX) darstellen. Doch solche Auslegungen sind von Marie schwerlich intendiert. Die bedeutsame Situation hat offensichtlich den Primat über die typische Natur der Tierfiguren und bringt diese in verschiedenen Aspekten zur Anschauung. die aufeinander abzustimmen Marie nicht für nötig hielt. I) FOULET p.IS8-16z. I) Die typischen Charaktere von Rabe und Krähe decken sich in der Tradition zwar nicht immer. lassen sich aber nicht prinzipiell auseinanderhalten. wie die Fabel von den Pfauenfedem zeigt, mit denen sich im ROMuLus die Krähe (XLV), im ESOPE der Rabe (LXVII) schmücken will, wobei beide Male Eitelkeit der Beweggrund ist. I) Genauer gesagt: am nichsten der Vorstellung vom ~:esen des Raben entsprechend, die sich für den modemen Leser mit der Nennung seines Namens verbindet. Wollte man diese Vorstellung als Phänotyp bezeichnen, so würde gerade aus diesem Beispiel erhellen. daß der Phinotyp eines Tieres von seiner
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Situation untergeordnet und kommt nur insoweit zur Geltung, als sie für den jeweiligen Fall von Bedeutung ist. Die situationsbedingten Aspekte der natllre des Raben lassen sich darum auch nicht mit den verschiedenen natllT'tS der einen ,figura' vergleichen, die in den Darstellungen der Bestiarien typologisch ausgelegt werden, sondern verweisen auf ein anderes, auf den Sinn, der der Rolle des Raben innerhalb einer bestimmten Modellsituation zukommt. Selbst da, wo diese Rolle durch den traditionellen Charakter des Raben bestimmt ist, hat Marie de France das Beispielhafte der Situation stärker hervorgehoben als das Typische der Charaktere von Fuchs und Rabe, auf die Pier re de Saint-Cloud im Tierepos alle Sorgfalt wendet. (Wir können hier nur Maries Version, ESOPE XIII, zitieren und müssen die Parallelversion im RdR, Br.II 843-10250 voraussetzen.) Issi avint e bien puet estre que par devant une fenestre, ki en une despense fu, vola uns cors, si a veü S furnlages ki dedenz esteient C sur une clde giseient. Un en a pris, od tut s'cn V:\. Uns gupiz vint, si I'c:ncuntra. Dei furnlage ot grant desiricr 10 qu'il en peüst sa part mangier; par engin voldra essaicr se le corp purra engignier. ,A, Deus sire" fet Ii gupiz, ,tant par est eist oiscls gentiz! 1 S EI munde nen a tel oiscl! Unc de mes ueiz ne vi si bel! Fust tel sis chanz cum est sis cors, il valdreit mieh que nuls fins ors.' Li cors 5'01 si bien loer 20 qu'en tut le munde n'ot sun per. Purpensez s'est qu'i1 chantera: ja pur chanter los ne perdra. Le bec ovri, si comen~a: Ii furmages li eschapa, 2S a la terre l'estut chalr, c li gupiz le vet saisir. Puis n'ot il cure de SUD chant, que dcl furmage ot SUD talant. Tradierung als Figur der Fabel mitbedingt ist: das ,Rabenhaftc' des Raben, das ,Wölfische' des Wolfes ist an sich verschiedener Auslegungen fähig, die sich in der literarischen Tradierung einer typischen Eigenschaft subsumieren können (die gespreizte Eitelkeit von MoIIre CorblQII, SIIr IIn arbrl ptrcl.Jl hat am Ende der Tradition mit La Fontaines klassischer Ausprägung die mitteWterliche Beispielfigur des hinterlistigen Ratgebers, des lagl I1 IIttil, verdrängt).
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208
~o
C'cst essampk-s des orguillus ki de grant pris sunt desirus: par losengier e par mentir les puct hum bien a grc servir; le lur despcndent folement pur false losenge dc gent.
Man pflegt den Stil der Fabeln im EsoPE gern als ,episch' (im Sinne von ,erzählerisch') zu kennzeichnen und l\laries Liebe zum Detail zu betonen, für die der Eingang als Schulbeispiel gilt. Aus de ftnes/ra im ROMULus NIUNTll'OUS ist eine breite Detailschilderung geworden, die bei der Knappheit, mit welcher der Kern der Fabel erzählt und vor allem ihr Ausgang zur Pointe verkürzt wird, disproportioniert erscheint. Foulet sieht darin eine Hinwendung zum ,Epischen': "Ce n'est plus la l'apologue un peu sec du fabuliste latin et, pour la premiere fois dans son histoire, ce court recit est orientc dans le sens epique. "I) Worin aber soll der ,epische Sinn' dieser Episode bestehen, die für den Apolog entbehrlich scheint und überdies im ganzen EsoPE ohne Parallele ist? Der Rabe selbst wird dadurch nicht unmittelbar charakterisiert, wie es Marie an anderen Stellen mit einigen Strichen gelegentlich tut I). Das wird sogleich evident, wenn man die entsprechenden Verse im RdR (11 8 S8-894) dagegen hält, wo dan Tiecelin allein schon durch die Art seines sporenklirrenden Auftretens und hochtönenden Redens in seinem eitlen Wesen gekennzeichnet ist. Statt dessen enthält der Eingang zu Maries Fabel eine Funktion in der Kennzeichnung listigen Verhaltens überhaupt: der simple, kunstlose Diebstahl des Raben läßt die höchst kunstvolle List des Fuchses im ESOPE wirkungsvoller hervortreten, als es in der lateinischen Vorlage geschieht. Die Details der Ortsbeschreibung - devan/ une Jenes/re, eil une desptnse, sur Ime deie - dienen zugleich dazu, den bloßen Zufall des Findens und Nehmens herauszustellen. Der Rabe fliegt vor das Fenster und sieht dann erst (si a veii) den Käse, nimmt ein Stück und fliegt damit weg. Wohin er fliegt, ist nicht gesagt; Cilni quo a/Ja1ll consctndi/ arborem hat Marie bezeichnenderweise nicht wiedergegeben, obwohl der Baum für den Erzählzusammenhang an sich unentbehrlich zu sein scheint. Auf die anschauliche Kontinuität des Vorgangs, oder, wenn man so will, auf das ,Erzählerische', legt Marie offensichtlich weniger Wert als auf die Züge, die für die exemplarische Situation bedeutsam sind. Der Eingang der avenlllT'e in der 11. Branche des RdR, bei dem der Erzähler - wie schon gezeigt - den Zufall des Zusammentreffens von Fuchs und Rabe ironisch thematisiert (Ajorne fllT'en/ a tel ore . .. , v. 897 ff.), läßt für den Zuhörer erst allmählich erkennen, worauf Renart mit seiner ump. 160. I) SO wird etwa in der breiten, höfisch ausgestalteten Einleitung zu Fabel III
1) FOULET
(Oe mure et rana) der Charakter der Maus mit verschiedenen Einzelzügen : Reinlichkeit (v. 6-8), Fleiß (v. ~-4), Gastfreundschaft (v. zl-z6) gezeichnet, die sich im RN nicht finden.
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schweifigen Rede hinaus will. Nicht die List als solche. die im Grunde nur das zu Beginn der Branche schon gegenüber Chantecler angewendete Verfahren variiert. ist hier interessant. sondern der besondere Umweg. den Renart dieses Mal einschlägt. die besonderen Schwierigkeiten. die sich ihm entgegenstellen. und die besondere Argumentation. die allein bei Tiecelin verlangen kann. Damit wird der Vorgang von dem Moment an. in dem Renart jenes Dan/ Rohar/ (Tiecelins Vater) gedenkt. der so unvergleichlich singen konnte (v. 92off.). bis zu der letzten Steigerung. die Tiecelin seiner Stimme zumutet und damit nur den komischen Kontrast zwischen dem erwarteten orglllnir (v. 926) und dem krächzenden brl/ (v. 929. 93 S. 941) vergrößert. zugleich durch die allmähliche Enthüllung der Charaktere der Verschlagenheit des rede kundigen Fuchses und der Blasiertheit des eitlen Raben - bedeutsam. Bei Marie hingegen stellt sich der Vorfall von vornherein wie die exemplarische Lösung eines zuvor gestellten Problems dar (par tngin IIoldra tJsai,r S, /1 torp pll"a Ingignier, v. 11-12). bei der dem Fuchs zwar die Hauptrolle zukommt. aber doch nur eine Rolle. die für eine bestimmte Situation typisch ist und sein listiges Wesen nur voraussetzt. nicht aber im besonderen kennzeichnet. Zwar könnte die Art und Weise. wie die Schmeichelrede in die Situation eingebaut ist. nicht vollkommener sein. Marie läßt den Fuchs a part sprechen. so daß das Lob des Raben absichtslos und darum echter erscheinen muß 1). Doch bleibt der Inhalt der Rede zu allgemein. als daß sie in ihrer umschweiflosen Hyperbolik die .füchsische' Rhetorik kennzeichnen oder die Eigenheit der .rabenhaften' Physiognomie im besonderen treffen könnte I). Marie kommt es allein auf die Sinnerfüllung des Vorgangs an. Wie sie erst in Form eines Pseudomonologs. durch den sie ihren Kommentar in indirekter Rede einer Überlegung des Fuchses unterschiebt 3). den Vorgang der Überlistung in eine vorgezeichnete Richtung stellt. gibt sie auch später indirekt mit der Überlegung des Raben den exemplarischen Sinn seiner Rolle dem Vorgang voraus: Ja pllr than/er los nl perdra (v. 22). Dieser Sinn ist bei ihr schon mit dem Öffnen des Schnabels vollständig. Der Schrei des Raben. der in Branche 11 die Eitelkeit seines Wesens enthüllt. kommt I) Dieses Detail hat E. Winkler, a. a. O. p. 304. mit Recht herausgestellt. I) In der Version ~1aries fehlt bezeichnenderweise das ironische Lob der schwarzen Federn (vgl. RN I, xiv: eI J>tflna'U1II IIIIml1ll "ilo, 1IIagmu tI/, gegen ESOPE v. 17f.: Furl lelr ris (hant (um esl r;s (ors, ;1 IIaldre;/ "lie1t que nu1t fins Drs).
die die Gestalt des Raben im besonderen häßlich machen und darum von der eitlen Krähe durch Pfauenfedern ersetzt werden (cf. ROMULUS XLV). I) Dei furmage ot grant desirier qu'il peüst sa part mangier; par engin voldra essaier (v. 9-12) se le corp purra engignier. Die Einschaltung der Erzählerin wird hier, wie später V.21-n, durch dcn Wechsel vom Präteritum zum Futurum kenntlich.
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bei Marie schon gar nicht mehr zur Darstellung, denn sie demonstriert an der Beispielfigur des Raben einzig das Exemplarische der Situation, die allgemeine Lehre, die man aus dem Fall des orguillm zu ziehen hat: le lur dupenden/ folmtent Par false losenge de gen/ (v. 33-34) und für die der besondere Grund, der gerade den Raben in diese Lage bringen mußte (daß er häßlich von Gestalt ist und eine krächzende Stimme hat), von untergeordneter Bedeutung bleibt. Mit der Aufnahme der Fabel in das Tierepos verliert die Situation ihren Primat in der Darstellung des Vorgangs und wird durch sie hindurch gerade das spezifische Wesen der Tiere, die na/ure des Fuchses und des Raben, in ihrer Einzig-Artigkeit hervorgekehrt. Hat zunächst der wiederholte Versuch Tiecelins, erst seinen Vater und dann sich selbst im Gesang zu überbieten, mit dem Grund seines eitlen Wesens die unübersteigbare Grenze seiner Art enthüllt, so wird nun durch die Weiterführung. die Pierte de Saint-Cloud dem alten Apolog gegeben hat, auch noch das spezifische Wesen Renarts aus dem Grund seiner .nature' heraus gezeigt. der seine List einzigartig macht: Li lechercs, qui trestoz art Et sc dcfrit de leccric, N'cn atoca onc une rnic. Car cncor, s'il puet avenir, Voldra il Ticcelin tenir. (v. 946-950)
Renart rührt das herabgefallene Stück Käse noch nicht an. obwohl er vor Verlangen danach brennt, und versucht, Tiecelin mit dem Argument, daß der Geruch des Käses seiner Verwundung nicht zuträglich sei, vom Baum herunterzulocken. um ihn selbst noch zu packen. Hier tritt zutage, daß Renarts ,wahre Natur' nicht einfach mit List, sondern mit Hinterlist gleichzusetzen ist, die Falschheit einbegreift: Fam e//rai/res esl por "oir (v. 1003). Daraus erklärt sich zum Teil seine Sonderstellung innerhalb der ungebrochenen Tiercharaktere. jene ,Amoral', die Brun in seiner Anklage meint, ohne sie im Sinne eines widerrechtlichen Tatbestandes fassen zu können, und über die sich Tiecelin so entrüstet: Ja ne (uide que feisl es1llt Cil fel, cis ros el fis/ (on/ru, v. 988--999. Die ,Episierung' der Fabel beginnt erst eigentlich damit, daß die Tiere aufhören, Beispielfiguren zu sein und sich in ihren typischen Charakteren darstellen, die Marie de France ganz der exemplarischen Deutung der Fabelsituation dienstbar gemacht hat. Der Schritt, der zwischen dem ESOPE und dem ROMAN DE RENART liegt, läßt sich demnach dahingehend bestimmen: während die Fabel durch das Exemplarische einer Situation, eines Falls, einer Konstellation zu erkennen gibt, "welche Rolle wir Individuen in diesem Fall und in dieser Lage spielen, was für eine Figur wir in diesem Augenblick machen, was für eine Bahn wir betreten haben" 1), bringt das Tierepos die menschliche Natur in der Sonderung ihrer Eigenschaften un1) D. Sternberger, Figuren der Fahtl, Frankfurt
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J 950,
p. 80.
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gebrochen zum Vorschein, wobei die vorgeschriebene Rolle, in der die Tiedigur an einer exemplarischen Situation teilhat, mit dem, was sie von Natur aus ist, identisch werden, bzw. die Fabel sich ihrer praktischen Nutzhaftigkeit begeben muß. Das ist aber keinesfalls so zu verstehen, als ob die Fabel nur eine "angefügte Sittenlehre" wieder abzustreichen brauchte, um sich zweckfrei und aller exemplarischen Bedeutung bar darzustellen, wie Voretzsch glaubt, der hier Grimms Ansicht von einer nur "zuialligen verbindung der getroffenen nutzanwendung mit der fabel selbst" reproduziert 1). Die Moral der Fabel ergibt sich nicht erst aus der gefolgerten Nutzanwendung, sie liegt bereits in der Beispielhaftigkeit der Fabelsituation, die uns immer mehr zu erkennen gibt als das Wesen der in ihr befindlichen Figuren. Auch wenn diese ihre Moral im Grunde eine "negative" ist ("entweder bloße regel des vortheils, oder warnung dem beispiel der thiere nicht zu folgen") I) und inhaltlich verschiedener Auslegung fähig scheint, ist sie der Fabel doch wesentlich und kann erst zum Verschwinden gebracht werden, wenn die dargestellte Situation allein noch darauf angelegt ist, im typischen Geschick der Tiedigur einen Zug der menschlichen Natur zu enthüllen. Wenn die derart enthüllten Eigenschaften der Tierfiguren es rechtfertigen, sie im Gedanken an Theophrast ,Charaktere' zu nennen, ist indes zu bedenken, daß sich die Charaktere im mittelalterlichen Tierepos von den Typen, die in den Beschreibungen Theophrasts eine moralische Eigenschaft personifizieren, d. h. sie durch eine Summierung von bezeichnenden Züge anschaulich machen, in einer wesentlichen Hinsicht unterscheiden. Das Verhalten Chanteclers, der Meise, Tiecelins, Renarts oder Ysengrins geht so wenig in je einer moralischen Eigenschaft auf, wie sich ihre Charaktere nicht in ein System von Tugenden und Lastern einfügen lassen. Selbst wo sich die Charaktere Theophrasts und die der Tierfiguren in einer gemeinsamen Eigenschaft entsprechen, bringt das Tierepos in seinen Figuren immer noch mehr zum Vorschein als das, was für das Verhalten des Eitlen, des Schmeichlers oder des Heuchlers typisch ist. Die Einzelzüge, die Theophrast zum Beispiel im 1 I. Stück aneinanderreiht, um zu zeigen, von welcher Art der Eitle ist (zum Mahle geladen beansprucht er bei Tisch den Platz neben dem Hausherrn, seinen Sohn führt er zum Haarschneiden nach Delphi, als Diener nimmt er sich natürlich einen Neger, wenn er hundert Drachmen zu bezahlen hat, lißt er die Summe in neuer Münze anweisen), bestätigen im Grunde nur die vorangestellte allgemeine Definition der Eitelkeit an beliebig vermehrbaren Beispielen, so daß die Figur des Eitlen mit der einen, in ihrem Verhalten dargestellten Eigenschaft von Anfang bis zu Ende identisch bleibt. Im afn. Tierepos hingegen kommt in der Gestalt Tiecelins die Eitelkeit erst durch eine Enthüllung zum Vorschein, die sein zutage liegendes Verhalten auf den wahren Grund seines We1) VOIlETZSCH, Einl. zum RF p. VI; I) GRIMM p. XIV.
GIUKM
p. XIV.
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zu sens. seine nalllre, zurückführt. Diese Reduktion. die in verschiedenen Spielarten für den ROMAN DE RENART kennzeichnend ist. bringt die Charaktere der Tierfiguren in einen Spielraum. der den Charakteren Theophrasts fehlt. Tiecelin geht in seiner Eigenschaft. eitel zu sein. nicht einfach auf. sie wird in seiner Entrüstung. der List Renarts erlegen zu sein, zugleich als etwas kenntlich. das er nicht wahrhaben will, dessen Enthüllung ihn beschämt, wie zuvor Chantecler und später Brun, weil hier der schwache Punkt sichtbar werden muß. an dem er angreifbar ist. Die Eitelkeit stellt sich an Tiecelin nicht mehr nur in ihren Merkmalen dar. die sie von anderen Eigenschaften unterscheidet. sondern als ein ihm bewußt gewordenes Nichtanders-sein-können, als ein schmerzlich empfundenes Zurückfallen in seine nalllre, der er durch diese Eigenschaft verhaftet ist und bleiben muß. Die Charaktere im afrz. Tierepos stehen mit ihren Eigenschaften im Spielraum zwischen dem. was sie zu sein scheinen, bzw. als was sie gelten wollen, und dem. was sie ihrer Natur nach sind. Ihre allen/lire mit Renart enthüllt diese Differenz, wenn nicht immer in einer ausdrücklichen Reduktion auf ihre nalllTt (wie bei Chantecler. Tiecelin, Brun), so doch in einer Hervorkehrung ihres spezifischen Soseins, das ihre Eigenschaft zur Eigenart werden läßt. Die Klugheit der Meise verbindet sich mit ihrem neckischen Wesen, das im Spiel mit Renart zutage tritt, und macht erst in dieser Verbindung ihre Eigenart aus 1). Die List des Katers Tibert hebt sich von dem Bild der Selbstgenugsamkeit ab, mit dem er eingeführt wird: ... et voit cn une rue Tiebert le chat, qui se deduit Sanz compaignie et sens conduit. Oe sa coe se vet joant Et entor lui granz saus faisant (II 666-670) und stellt sich erst dadurch in ihrer von der hinterlistigen Falschheit Renarts unterschiedenen Sonderart einer latenten Tücke dar, die sich am Ende. nachdem er lange gute Miene zum bösen Spiel gemacht hat, in der wortlosen Geste enthüllt, mit der er den Fuchs jäh in die Falle stößt. Die Hinterlist Renarts. die zuvor schon von der Meise entlarvt worden war, erhält hier einmal den verdienten Lohn, wird aber damit so wenig wie der blasierte Stolz Chanteclers und die törichte Eitelkeit Tiecelins moralisch verurteilt: ,Renart, Renart, vos remaindrez, Mes jei m'en vois toz esfreez. Sire Renart, vielz est li chaz: I) Die Klugheit ist der Meise schon in der Fabel eigen, vg!. ESOPE XLVI (De volucribus et rege eorum), wo sie zur Abgesandten der Vögel wird, weil sie 1110/1 sag' (v. z6), apar,,"anz ' "'~,ii, (v. 27) und durch granl I/llointist (v. 2S) ausgezeichnet ist. Zu dem großen Ansehen, das sie genießt, siehe WARNKE p. 197. wo er erwähnt, daß die alten Weistümer auf den Fang der Meise die höchste Buße setzen. Daß sie in Br. 11 469-~63 ein zweites Mal zum Schein auf den Friedenskuß eingeht, differenziert ihr Wesen als eine besondere Art von Schlauheit, die sich spielerisch gibt.
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Petit vos vaut vostre porchaz. Ci vos herbergeroiz, ce cuit. Encontre vezie recuit.' (I1 803-808)
In dieser Reaktion Tiberts liegt nur die reine Schadenfreude, in dem Sprichwort, das der allen/liTt den abschließenden Sinn gibt: ,ein Schlauer findet einen noch Schlaueren, einen ganz abgefeimten, der ihn übertrumpft' 1) nur das ästhetische Wohlgefallen über den betrogenen Betrüger. Ein weiterer Unterschied zwischen den ,Charakteren' Pierres de SaintCloud und denen Theophrasts liegt weniger in der Differenz von Tierund Menschengestalt, als darin, daß der Hintergrund der epischen Welt im RdR das Wesen Tiecelins, Renarts oder Bruns reicher und zugleich personhafter erscheinen läßt, als es Theophrast mit der Personifikation des Eitlen (XXI), des Schmeichlers (11) oder des Prahlers (XXIII) vermag. Denn die Tiercharaktere sind hier zugleich Glieder einer Hierarchie von Wesen, die auf der persönlichen Beziehung des Einzelnen zum Einzelnen beruht, jener Ordo -Vorstellung der feudalen Gesellschaft, die Marie de France zur selhen Zeit wie Pierre de Saint-Cloud in die Welt der äsopischcn Fabel übertragen hat. In der Vorstellung Maries, daß die na/lire der Tierfigur sowohl ihr typisches Wesen, als auch einen ihr zu bestimmten Rang und Ort in der Ordnung der Geschöpfe einschließt, ist jene Sonderung der Einzelwesen auch mit enthalten, die bei Pierre mit der Koinzidenz zwischen dem Singulären und dem Allgemeinen, Einzelexemplar und Gattung, wie sie von den Figuren im Reich König Nobles verkörpert wird, ihren absoluten Ausdruck erhält. Darum ist die Verbindung, die die Tierfabel im I z. Jahrhundert mit der episch-ritterlichen Welt einging, auch nicht nur als zeitbedingte Umkleidung oder bloße überlagerung, sondern als konstitutives Element des Tierepos anzusehen, das von seiner ki;nftigen literarischen Form nicht mehr abzulösen ist. Das Tierepos hat bis zu Goethes REINEKE FUCHS mit der epischen Welt der Tiere das Bild einer aristokratisch-ritterlichen Gesellschaft bewahrt, und der einzige Versuch einer Verbürgerlichung ist offenbar nicht über die mittelenglische Version des einen Schwanks von Fuchs und Wolf im Brunnen hinausgediehen I). Daß der Roman als ,bürgerliche Epopöe' eine Verbindung mit der Renartdichtung nicht mehr eingegangen ist, könnte man wohl darauf zurückführen, daß er als ,Form der Individualität' im ausdrücklichen Widerspruch zu jener episch-ritterlichen Typenwelt. die sich im Tierepos vollendet, ins Dasein trat und sich zu einer Zeit von den klassischen Normen des Epos abgelöst hat, als auch die Tierfabel als Gattung schon nicht mehr lebendig war a). 1)
TILANDER (RtflIQTtjIIU
p. 47-48) führt mehrere Varianten zu diesem Sprich-
wort auf. I) S. o. Kap. III, p. 172. ff. I) D. Stemberger, a. a. O. p. 80, will den Umstand, daß die fabel bei L:ssing "historisch in den letzten Zügen liegt", auf die gesellschaftliche UmschichliUng
des 18.Jahrhunderts und die neue, in der Glcichheitsidee der französischen Revolution erfüllte Wirklichkeit der Individuen zurückführen.
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Die vollendete Ausprägung dieser Typenwelt ist indes - darin liegt die entscheidende Differenz zwischen Tierfabel und Tierepos und zugleich der Grund, warum dem ESOPE der Marie de France eine nach rückwärts gewandte, auf Bewahrung gerichtete, dem ungefähr gleichzeitig entstandenen RdR aber eine nach vorwärts gewandte, zur Auflösung neigende Intention eigen ist - erst damit eingetreten, daß der Widerspruch zwischen der wesenhaften Natur der Tierfiguren und ihrer moralischen Bedeutung aufgehoben wurde. Während die all,n/llr, der Tierfigurea im EsoPE letztlich immer wieder die hierarchische Ordnung der Wesen bestätigt, indem sie an vielen Beispielfiguren zeigt, wie jeder, aus welchen Motiven auch immer unternommene Versuch, seiner zubestimmten Natur und Funktion zu entrinnen, unweigerlich in diese zurückführt (rent/intr a sa na/IIr') I stellt die allen/11ft der Tierfiguren im ROMAN DE RENART mit der Enthüllung ihrer na/lire durch Renart zugleich die bestehende Ordnung und Ethik der feudalen Gesellschaft in Frage. Denn mit der Reduktion auf ihre naM' wird zwar einerseits, in der Identität von kennzeichnendem Geschick und vorgeprägter Natur, die Singularität und Einhelligkeit ihres Wesens zum Vorschein gebracht, andererseits aber auch, in der Diversität der streng voneinander gesonderten, einzig-artigen Charaktere, das Verbindende ihrer gemeinsamen Ordnung aufgehoben: indem die aIIen/"re Renarts die ,wahre' Natur der Tierfiguren zum Vorschein bringt, führt sie sie auch schon aus der Welt ihrer Gemeinschaft in ihr Einzeldasein zurück und stellt die Verbindlichkeit der allgemeinen Ordnung in Frage. Von hier aus gesehen stellt sich der Schritt, der Pierre de Saint-Cloud über Nivardus hinausführte, noch in einem anderen Lichte dar. Die ritterliche Vorstellungswelt findet sich zwar auch schon im YSENGR.IMUS, in der Hoftags- und Beuteteilungsfabel vornehmlich und daneben in einzelnen courtoisen Bestandteilen der Dialoge 1), doch ohne im Grunde mehr zu bedeuten als ein äußerliches, in der durchgängigen Travestie klösterlicher Lebensformen fast verschwindendes Kolorit. Für die Tierfiguren im YS ist ihr Rang als .primates regni' (III 46) nur eine Maskierung. den Gesprächsrollen zu vergleichen, die sie Nivardus in der wechselnden Situation des unversieglichen Redestroms einnehmen läßt. Wie im EsoPE besteht auch im YSENGlUMUS noch eine Divergenz zwischen den traditionellen Charakteren der Tierfiguren und der situationsgebundenen Bedeutung ihrer Rolle, die hier durch die satirischen Intentionen des Dialogs vorgezeichnet
ist. Nicht allein figuriert z. B. in der Wallfahrt der Tiere der Wolf nacheinander in ironischer übertreibung der von ihm angemaßten Würde als Einsiedler (IV 141), Bischof (IV 113), Abt (IV 367). Patriarch (IV SH) und bringt dann am Ende, in die auferlegte Rolle einfallend. die Drohung der Vergeltung als Bischof und Dekan vor (cf. IV 719f.). Der Dichter, der es liebt, seine Personen selbst wieder mit einer ihnen im Gespräch ironisch zuerteilten Würde zu bezeichnen, nennt auch den Fuchs zwischendurch I)
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Beispiele bei
VAN MIERLO
p. 51 3.
abwechselnd mit Namen, die seine Rolle in der Pilgergesellschaft andeuten: dit/a/or (IV 9~), orator (IV 36,), proIJidm re/hor (IV 401) und wechselt auch in der Benennung der anderen Tierfiguren teils mit Scherznamen wie /aniger (IV 474) für den Widder, bll/gifer (IV 47~) für den Esel, teils mit Namen, die eine Funktion bezeichnen, wie extuba (IV 763)' Die Typenwelt der Charaktere ist im YSENGRIMUS aber auch noch aus einem anderen Grunde erst im Ansatz vorhanden: Nivardus hat die Arten der Tiere noch nicht, wie Pierre de Saint-Cloud, je nur durch ein Exemplar repräsentiert und die Vielfalt der Charaktere dem universalen, in allen Schwanksituationen hervorgekehrten Gegensatz des Toren und des Weisen untergeordnet. Von den Tieren, die als Hauptfiguren auftreten, gibt es im Werk Pierres de Saint-Cloud und nach ihm in den älteren Branchen des RdR nur noch ein namenfuhrendes, die Art repräsentierendes Exemplar. Wenn dabei neben ChantecIer Pinte, neben Ysengrin Hersent erscheint. die Art Huhn und Wolf derart in einen männlichen und weiblichen Repräsentanten auseinandertritt, tut dies dem Prinzip der Einzig-Artigkeit keinen Abbruch1).Denn Pinte, ... qui plUi savoit, Celle qui (es gros hues ponnoit, Qui pres du coc jucoit a destre
(11 89-91)
ist kein bloßes Double Chanteclers, wie schon das äußere Erscheinungsbild zeigt, das so verschieden ist, daß eine Verwechslung der Spiegelbilder (wie bei Wolf und Fuchs im Brunnen) nicht denkbar wäre. Pinte repräsentiert die namenlose, unartikulierte Masse der Hennen in einer eigenen Physiognomie. Ihr kluges (Traumdeuterin), vorsichtiges, furchtsames Wesen bildet einen genauen Gegensatz zu der Ohne-Furcht-Attitüde des törichten und stolz-überheblichen ChantecIer. Hier bringt gerade die Sonderung in zwei Ausprägungen das Wesen der einen Art vollständig zum Vorschein. Ebensowenig stellt Hersent lediglich ein zweites Exemplar derselben Art neben Ysengrin dar. Doch handelt es sich hier nicht mehr so 'lehr um einen Gegensatz von Charakteren, in den das Wesen der einen Art auseinandertritt, als um den Gegensatz zwischen der Natur der beiden Geschlechter überhaupt, der in der Fabliau-Situation zwischen Wolf und Wölfin ausgespielt und sodann in der Hoftags szene zum erstenmal vor dem Forum der episch-ritterlichen Welt verhandelt wird. Für das Prinzip der Einzig-Artigkeit. das Pierre de Saint-Cloud zum ersten Male im Tierepos voll zur Geltung bringt, ist kennzeichnend, daß dort, wo eine Tierart in ihrer Vielzahl für eine Schwanksituation benötigt wird, die Masse namenlos in Erscheinung tritt, und daß man den Tod des namenführenden Repräsentanten 1) Dazu kommt später noch in Br. I neben dem Löwen, König Noble, die Löwin, Na dame FeTe I'orgel/ole (v. 14~8). die der Verfasser offensichtlich nach
dem Vorbild des höfischen Romans einführt, um ein Verhältnis zwischen Renart und der höchsten Dame anzuknüpfen, das die Verfasser späterer Branchen weiter :Ausspinnen werden.
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durch den Ausweg, ein zweites Exemplar derselben Art eigens für diesen Zweck einzuführen, zu vermeiden weiß. Den Hühnern, auf die es Renart in Br. 11 :lbgesehcn h:11, ist kein Name und damit auch keine Physiognomie, wie der ,&unc Pinte', eigen; wenn am Ende von Br. Va nach Roone/ /e (hien dall! Frober! (Va 1187) eine lange Reihe von fast 80 Hunden unter den Verfolgern namentlich aufgeführt werden, handelt es sich dabei um das ,hors-d'a:uvre' einer Epenparodie, die durch ihre eigene Komik bedingt ist und sich mit der Typenwelt der anderen Tiercharaktere nicht berührt. Der andere Fall, die ~tellvertretende Repräsentierung der Art, findet sich im Werk Pierres de Saint-Cloud noch nicht, sondern erst in Br. I und VIII, in denen das Prinzip der Einzig-Artigkeit schon nicht mehr rein zur Geltung kommt; in späteren Branchen geht die Lockerung und das allmähliche Aufgeben dieses Prinzips als Symptom des Zerfalls mit der Umwandlung und Auflösung des Genres einher. Als Opfer Renarts. das Chantecler in feierlichem Aufzug auf einer Bahre vor König Noble bringen läßt, wird in Br. I nicht etwa Pinte, sondern Copee /a sor Pinlein (I 426) designiert; so kann Pinte, als die eigentliche Repräsentantin der Art weiterbestehen, wie später der durch einen von der Schwanksituation vorgezeichneten Tod gefährdete Ysengrin in Br. VIII, für den Primaut als stellvertretender conpere (VIII 294) eintreten und sein Leben verlieren muß 1). Die Einzig-Artigkeit der Tierfigur - das unterscheidet sie zutiefst von Roland, Ganelon, Olivier, dem Helden der Chanson de geste in seiner geschichtlich bedingten Endlichkeit und verbindet sie mit dem Märchenhelden der Artusromane - impliziert ihre prinzipielle Unsterblichkeit. Anders im YSENGRIMUS. Auch wenn man den Tod des Protagonisten nicht als Beweis dafür ansehen will, daß Nivardus dieses Prinzip noch nicht geltend macht, weil das Ende des Wolfes in der Konsequenz seines FortunaThemas liegt, läßt sich doch allein schon aus der Namengebung erkennen, daß Nivardus der Einzig-Artigkeit der Tiercharaktere noch keine besondere Bedeutung beimißt. In seinem Werk gibt es nicht allein unter den Hauptfiguren gleich vier namenführende Widder (Joseph, Bernardus, Colvarianus, Belinus, cf. 11 272) und neben dem Eber Grimmo (111 48) die ganze, im VII. Buch mit zwei männlichen (Cono und Baltero) und drei weiblichen (Salaura, Becca, Sonoche) Namen unterschiedene Sippschaft der Schweine. Er führt auch die zum Hoftag geladenen Tiere als Erste ihres Geschlechts (Qllisque SI/i generis princeps accillir ad Oll/am, 11147) ein, läßt im weiteren seine Figuren gelegentlich argumentieren, als ob sie nur eines 1) Primaue trin auß.:r in Br. VIII nur noch in Br. XIV als Repräsentant der Crlmung Wolf auf, was im letzteren fall nach fOl!LE1' (p. 3 I 6) damit zu erklären ist, daß Ysengrin nach dem Ehebruchsschwank als harmloser ,compagnon' nicht mehr in Frage kam. Da di.: Schwanksituation in Br. VIJI ein von vornherein feindseliges Verhältnis zwischen Fuchs und Wolf voraussctzt, dürftc ihr Verfasser den Namen Primaut eigens aus Br. XIV, auf die er v. 338 Bezug nimmt. ent· lehnt haben, um Ysengrin am Leben zu erhalten.
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unter vielen Exemplaren ihrer Art wären (vgl. III 161, IV 349, IV 417) und verwendet in der Rede, mit der die Pfarrmagd vor Ysengrimus den Raub ihrer Gänseriche und Hennen bejammert, sogar einmal (scherzhaft?) Eigennamen als Gattungsbegriffe, um eine Mehrzahl von Tieren zu bezeichnen: Quam mich i Gerardus creber bonus, improbe raptor Fraude tua periit, quam bona Teta frequensl (11 11-12) Aus diesen Belegen soll hier nur soviel entnommen werden: die Hauptfiguren im YSENGRIMUS heben sich als ,Erste ihres Geschlechts' von einer Welt von Tieren ab, die noch nicht so ausschließlich wie später im ROMAN OE RENART von einzelnen und zugleich einzig-artigen Wesen bewohnt erscheint. Im Reiche König Nobles, das darin schon ganz zum Spiegel des Feudalstaates geworden ist, daß es nur noch das Vasallentum von Baronen kennt (die Tiere erscheinen als Einzelpersonen am Hofe und nicht mehr, wie im YSENGRIMUS 1), als Oberhaupt eines Stammes), fehlt jedes Indiz einer Pluralität von wesensgleichen Figuren, die - wenn auch nur vage den Hintergrund für das Reich des König Rufanus bilden I). Diese Differenz wird aber erst eigentlich dadurch spürbar, daß im RdR der Fuchs zu der Gesamtheit in Opposition tritt und daß er es ist, der im Verlauf seiner lIlIe"/1ir1 die wahre Natur der Tierfiguren zum Vorschein bringt: die Typenwelt der Charaktere ersteht mit dem Augenblick, in dem die tJl)l"/1Ir1 Renarts die Wesensgleichheit der Vasallen König Nobles als nur vordergründig enthüllt, ihre verschiedenartige Natur gesondert hervorkehrt und damit die Solidarität der höfisch-ständischen Gesellschaft in Frage stellt. Im YSENGRIMUS, wo allein der Wolf der Vereinzelung verfällt und, ohne es eigentlich zu wollen, in Opposition zu der Gesamtheit gerät, ist es hingegen immer wieder nur der eine typische Gegensatz des Toren und des Weisen, der sich am Schicksal des Ysengrimus enthüllt. Dieser Gegensatz, den Nivardus in seiner dämonischen Mächtigkeit erfaßt und zu universaler Geltung erhoben hat, überdeckt hier so sehr die besonderen Charaktere der Tiediguren. daß einerseits alle Schwächen und Laster der menschlichen Natur in der Gestalt des Ysengrimus zusammengenommen und als Aspekte der zum Fatum gewordenen Torheit ausgelegt werden. andererseits die
Regius hinc pr~co non omnia, regis ad arcem Primatum regni nomina pauca uocat, Quisque sui generis princeps accitur ad aulam. (YS III 45-47) I) Wenn der Verfasser des mhd. REINHART FUCHS einzelne Tiere mit dem unbestimmten Artikel einführt (ein Inle, der ",al Vrellil genant, v. 1Z41; ferner v. 3, 221, 1114, (113), hängt das damit zusammen, daß er seinem Publikum einen noch nicht vertrauten Stoff bringt (siehe BÜTTNER 11 p. 44). Die Tiere sind darum im RF nicht weniger als im RdR die einzigen Vertreter ihrer Gattung. Daß der GÜche.-:ire einmal das Gattungsprinzip durchbricht und König Vrcvcl den verdienten Tod sterben läßt, gibt dem allegorischen, allein im RF dargestellten Tod :Jes Löwen erhöhte Bedeutung für Heinrichs Satire (s. u. Kap. V C). 1)
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typischen Eigenschaften von Widder, Bock, Bär usf. in der rhetorischen Argumentation, die entfaltet wird, um Ysengrimus zu täuschen, nur noch als Aspekte jener Schlauheit erscheinen, die der Fuchs als Inbegriff aller Welterfahrung : Nimirum sapiens senioque illectus an artcm Tcmpore, an ~tatcm uiccrit artc, latct (IV 13-14)
insgesamt und diabolisch verkörpert. Selbst Karkophas der Esel, der zunächst noch in seiner traditionellen Fabelrolle eingeführt wird und als Türhüter infolge seines tölpischen Unverstandes (sto/itltt rmtiritatl, IV 118) den Eintritt des ungebetenen Gastes verschuldet, zeigt sich den dialektischen Künsten des Widders J oseph gewachsen und erweist sich im entscheidenden Augenblick, als es darum geht, Ysengrimus in die Tür einzuklemmen, als schlau genug (sapil"s farit absqul iubentl quo" pro"'st, IV 489 f.), den verkehrt gegebenen Befehl richtig auszuführen. Die Solidarität der Tiergesellschaft gründet im YSBNGRIMUS lediglich in der gemeinsamen Gefährdung durch den Stärksten, d. h. durch Ysengrimus, solange der König krank ist. Das zeigt sich schon zuvor in der Hoftagsszene, als Ysengrimus den kranken und darum momentan schwächeren König zu einem Akt der Willkür verleiten will (er empfiehlt als Medizin, heute den Widder und morgen den Bock zu verzehren, 111 143) und sich damit den Haß aller Versammelten zuzieht!). Die genaue Umkehrung dieser Situation findet sich in der Beuteteilungsfabel, als der König das Recht des Stärkeren gegen Ysengrimus ausspielt und dieser sodann von Reinardus, der sich als schlauer Diener seines Herrn zum Anwalt seiner Willkür gemacht hatte, über das Joch königlicher Herrschaft und die rechtlose Solidarität der Untertanen belehrt wird (vgl. VI 3Z7-348). Auch wenn man nicht so weit gehen will, aus diesen Stellen eine antimonarchistische Tendenz abzulesen, ist doch nicht mehr zu verkennen, daß das Gefüge der ständischen Gesellschaft im Reich des König Rufanus nicht mehr fest ist. Der Prozeß der Auflösung steht aber erst in seinen Anfängen und stellt sich ausdrücklich nur einmal, ganz am Rande des Geschehens, im Auseinanderfallen der Pilgergesellschaft dar, als die gemeinsame Bedrohung durch den Stärkeren weggefallen ist. Sie führt nicht weiter als bis zur Sprotinusepisode, in der Reinardus, der Nächststärkere nach Ysengrimus, eine Abfuhr erleidet - bis zu jenem Abenteuer also, mit dem Pierre de SaintOoud seine Fortsetzung beginnen läßt, die dem Thema der Desintegration der episch-ritterlichen Welt die entscheidende Wendung gibt. 1) Im folgenden begründet Ysengrimus diescn Willkürakt durch eine unverhohlene Empfehlung der Tyrannis, vgl. bes. III 188-19z: Nemo suis debet legibus esse minor. Nam non, ut metuantur, agunt Prtcepta, sed auctor, Non gladius - gladium qui tenet, ille ferit; Lex igirur domino, legi non subiacet ipse, Ergo quod ipse iubes, quid uariare timcs?
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ZI9
D. Der Gepmatz zur HeldeDdichtaq wad die Parodie der höfilchea Liebe in Braacbe D-Va Die Desintegration der episch-ritterlichen Welt wird in der Literatur des I z. Jahrhunderts um 1176 als inhärente Thematik des ältesten volkssprachlichen Tierepos wohl zum erstenmal sichtbar. Wenn wir so die literarische und historische Sonderstellung des Werkes von Pierre de SaintCloud zu bestimmen versuchen. soll dies gerade nicht heißen. daß es als erste Manifestation des neuen bürgerlichen Geistes. wie er sich in der gleichzeitigen Emanzipation der kommunalen Rechte bekundet. anzusehen oder in einem allgemeinen Sinn als Ständesatire, geschweige denn als Gesellschaftskritik zu verstehen sei. Der beliebte Versuch. den Verfassern des ROMAN DE RENART solcherlei Absichten zu unterstellen. muß letztlich immer wieder daran scheitern. daß die Welt. in der sich die alltlllllrt Renarts abspielt, genau so ausschließlich wie der höfische Roman aus der Sicht einer ständisch gebundenen, rein aristokratischen Gesellschaft dargestellt ist und die Existenz aller anderen sozialen Schichten zu einem Schemen macht oder überhaupt negiert. Im Vergleich zum höfischen Roman wird diese Beschränkung des Blickfelds auf den autonomen Bereich des einen ritterlichen Standes im RdR noch dadurch gesteigen, daß allein der Adel durch Tierfiguren repräsentiert wird, die allesamt im Reiche König Nobles den Rang von Baronen einnehmen. Von der einen Figur des Kamels abgesehen. das auf dem Hoftag als pipstlicher Legat auftritt, fehlt der hohe Klerus in Br. li-Va gänzlich; wo sonst der geistliche Stand in vereinzelten Nebenrollen erscheint, handelt es sich zumeist um die topische Figur des ungebildeten Dorfpriesters, der regelmäßig geprellt und hier nicht anders als im Fabliau mit seinem unfrornmen Lebenswandel zur Zielscheibe des Spottes wird 1). Damit reduziert sich die ständische Ordnung innerhalb des RdR auf den Gegensatz von höfischer und nichthönscher Existenz, Ritter und ,vilain", der sich in der Differenz von tierischer und menschlicher Figur noch schroffer aus1) Aus Br. lI-Va ist hier nur der (0"."1 im Jagdabenteuer anzuführen, den Renart mit dem Hinweis auf die Pflichten seines evangelischen Lebens für dumm verkauft (II 6oZ-64J); die Figur des bäurischen Dorfpriesters findet sich in der Schilderung von Tiberts Botengang (I 813-916). Wo sonst von späteren Verfassern das Thema der geistlichen Satire angeschlagen wird (siehe FOULET 471-472) handelt es sich stets um ein ,Spiel im Spiel", in dem nicht der geistliche Stand als lolcher, sondern kultische Dinge und Zeremonien scherzhaft dargestellt werden: einzelne Tiemguren vertauschen das ritterliche mit dem geistlichen Gewand und geraten mit der angemaßten Rolle in einen komischen Kontrast zu ihrem topischen Charakter. Auch die Komik solcher Maskeraden rührt vornehmlich aus der vorausgesetzten Ty.,enwelt der Charaktere: mit JUNI" pe/tri" (Br. VIII), Primaut als Priester (XIV), Tibert als Glöckner (XII), Bernart als artipnllrl (XVII) usw. wird nicht so sehr eine geistliche Würde venpottet, als ein typischer Charakter in ein neue! Licht gerückt.
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zzo nimmt als in dem Abstand, den der höfische Dichter zwischen die Idealfigur des Helden und sein groteskes Zerrbild im ,vilain' zu legen versucht. Denn während sich die Vollkommenheit alles Schönen in den Zügen des Edlen und die Summierung alles Häßlichen in der Gegenfigur des Nichtedlen noch in einer gemeinsamen Mitte, der Übernatürlichkeit des Wunderbaren, berühren, so daß sich z. B. im YV.o\IN Calogrenant und der ,vilain more, der im Geschehnisablauf der auen/lire eine unentbehrliche Funktion innehat, immerhin noch auf der Basis von Frage und Antwort begegnen können I), bleiben im ROMAN OE RENART die Welten von Tier und Mensch, Ritter und ,vilain', auch dann streng voneinander geschieden, wenn es zu einer Begegnung kommt, was immer einen Übergriff der ritterlichen Tierfiguren voraussetzt. Der Lebensbereich des ,vilain' erscheint hier als ein bloßer Jagdgrund am Rande der eigentlichen auen/lire, die sich die Tiere untereinander liefern. Daß die Oberlistung Chanteclers durch Renart auch ein Bestehlen des, vilain' Constans des Noes mit einbegreift, bleibt fast bis zum Ende aus dem Spiel; dem ,vilain' ist allein die zu späte Reaktion des immerzu Geprellten vorbehalten, und der Hahn rettet sich dank seines eigenen engin e/ ar/ (11 419)' Der Abstand zwischen Ritter und ,vilain' entsteht im Tierepos allein schon dadurch, daß die Rolle des immerzu Geprellten dem ,vilain' zur zweiten Natur geworden ist: Constans des Noes kann sich so wenig wie der Jäger jemals Renarts bemächtigen, der Laienbruder durch seine Argumentation immer nur geblufft werden (II 641), der ,vilain' mit seiner Axt immer nur die Falle selbst treffen (II 8IS), die ,vielle' gegenüber Tiecelin immer nur den Kürzeren ziehen (11 876), das Aufgebot der, vilains' gegen Brun nur ihre wesenhafte Ohnmacht erweisen. Insofern der ,vilain' im Tierepo~ je schon in der vorgezeichneten Bahn des Geprellten steht und immer nur schemenhaft reagiert. bedarf es hier auch gar nicht mehr einer Entstellung seiner Gestalt zum Zerrbild. um die Andersartigkeit nicht-ritterlicher Existenz zu betonen. Sie wird sch~n darin anschaulich, daß sich sein Dasein so darstellt, als ob es mit der jeweiligen Verrichtung seines Alltags identisch wire: dem •vilain' ist nur eine Funktion, nicht aber ein ,caractere' eigen. weshalb ein Constans des Noes in der Typenwelt der Charaktere nicht mehr als eine schemenhafte Randfigur darstellen kann. Der .vilain' ist darum für die Ökonomie des Ganzen aber nicht einfach entbehrlich, stellt er doch gegenüber den ritterlichen Tierfiguren, die im Tierepos als singulare tantum vorhanden sind, die schlechte Vielheit einer Kollektivität dar. Die in sich vollendete Singularität der einzelnen ritterlichen Tierfigur hebt sich vom Hintergrund einer ununterscheidbaren Masse von ,vilains' am schärfsten ab. selbst dann noch. wenn etwa Brun der Bär zeitweilig von ihr in die Enge getrieben wird (Br. Va 699-743) 1) Zum Problem des Wunderbaren im Artusroman siehe die Abhandlung des Verfassers: Die Dtfigttrimmg des WUlltkrbtlTtn lIIIIl tkr Sinn tkr AlltnlilT, i", fafr" RJ VI (1953-1954) p. 60-75.
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und wenn diese Masse in späteren Branchen durch eine Namensaufreihung artikulierter erscheint. Denn in solchen Scherznamen tritt die wesenlose Kollektivität des ,vilain', sein auf bloße Verrichtung oder animalische Funktion wie Essen, Trinken, Fortpflanzung reduziertes Dasein, nur noch deutlicher hervor: Qui lors veIst vilains venir et fremIer par mi la rue I Qui porte hache, qui ma~uc, qui Rad, qui baston d'espine: grant poor a Bruns de s'eschine. Devant lui vient Hurtevilain et Joudoin Trouseputain et BaudoIn Porteciviere, qui fout sa farne par derrieres, Girout Barbete qui l'acole et un des 6uz sire Nichole et Trosseanesse la puant, qui par la moche va fuiant, ct Corberant de la Ruelle, le bon voideor d'escüelle, et Tiegerins Brisefouace et li 61 Tieger de la Place I).
Die Hinzufugung eines belanglosen Ortes (Titgtr Je la Plaet) I durch den der ,vilain' ironisch in den Adel erhoben wird (cf. I 659: OlranJ li fjlltnJ dt l'Anglte), kehrt auch wieder nur seine Unfähigkeit zur Individuation hervor. In diesem Bild der Gesellschaft, das auch darin noch ganz feudal aufgefaßt ist, daß der königliche Feudalherr ausschließlich in der Beziehung zu seinen Baronen hervortritt I), findet sich demnach vom Aufschwung der Städte, von einem erwachenden bürgerlichen Standesbewußtsein (es ist noch nicht zwischen ,borgois' und ,vilain' unterschieden) oder auch nur von einer indirekt auf das Bürgertum weisenden literarischen Geschmacksrichtung nicht eine Spur 3). Ebensowenig ist an eine Ständesatire 1) RdR I 652-686, ed. M. Roques. I) Der Fall, daß der, vilain' in das Reich König Nobles mit einbezogen und der königlichen Gerichtsbarkeit unterworfen ist, kommt nur einmal und erst in Branche XVII vor (v. 2°3-261), die den Archetyp der älteren Produktion abschließt. I) ZU demselben Resultat kommt L. Olschki beim afrz. Fabliau (Die r01llamsrlJe" LiIeralure" MS Millelal/erl, Potsdam 1931, P.130): "Die Deutung dieser Klasse von witzigen, derben, trivialen, zynischen und obszönen Erzählungen als Ausdruck bürgerlichen literarischen Geschmacks kann keineswegs aufrechterhalten bleiben. Sie treten in einer Zeit auf, in welcher es noch kein Anzeichen gefestigten bürgerlichen Bewußtseins, Lebensstiles und Geschmacks gibt." Auch B05suat, der von den Verfassern der Renart-Branchen sagt: "Devoues l une bourgeoisie dont l'inRuence croit sans cesse, ils ont He leur fortune l la sienne", kann dies nur darauf stützen, daß einzig die .,bourgeois bien rentes"
[lOS]
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zu denken. die. wenn sie den Adel alleill treffen sollte. einen Standpunkt des Verfassers voraussetzen würde. von dem aus die Absicht der Satire und die Idealität. an der sie ihr Maß nimmt. kenntlich werden müßte. Ein solcher Standpunkt wird im Werke Pierres de Saint-Ooud an keiner Stelle greifbar und ist auch in den Branchen seiner Nachfolger. von gelegentlichen satirischen Einlagen abgesehen 1), nicht auszumachen. Insofern scheint Grimms Ansicht begründet. wenn er die Gattungsbczeichnung Satire für die alte Tierfabel (gemeint ist damit auch der RdR) überhaupt ablehnt: .. Man hat geirrt, wenn man in ihren gelungensten gestaltungen gerade nichts als versteckte oder gezihmte satire erblicken will. die satire ist von haus aus unruhig, voll geheimer anspielungen und verf"ahrt durchgingig bewust. die fabcl strömt in ruhiger, unbewuster breite; sie ist gleichmütig. wird von ihrer innern lust getragen, und kann es nicht darauf abgesehn haben, menschliche laster und gebrechen zu strafen oder lächerlich zu machen. Ihr inhalt ist weder eine übersetzung menschlicher begebenheiten, noch läßt er sich historisch auflösen. ( ... ) Noch weniger mag ihr parodie des menschlichen epos untergdegt werden: diese vorsitzliche, verzerrende nachahmung gehört weit splterer zeit an, als der worin die fabel entsprang, und man darf sie nicht mit der stillen comischen kraft, von der die fabel unbe\\'Ust durchzogen wird, mit einer harmlosen ironie, die sie: dann und wann kund gibt, verwechseln." I)
Spitzer, der Grimms Deutung wieder aufnahm, erinnert mit Bezug auf diese Stelle an Jean Pauls Festlegung von Satire und Ironie (.. Dort findet man dich sittlich angefessclt. hier poetisch freigelassen") und will die ,harmlose Ironie' der, Tiersage' auf eine nur hier erreichte Höhe der Kontemplation von menschlichen und allzu menschlichen Dingen zurückführen : .. Wo in der späteren Farce und im Fabliau menschliche Realität ohne Transzendenz gezeigt wird, geraten die Konturen besonders hart und erbarmungslos, als ob der von Gott verlassene Menseh all seiner Würde beraubt und unter die Tierstufe herabgesunken wire. Die Zwischenweltlichkeit der Tiersage ermöglichte eine Teilnahme am Menschlichen, uninteressiert als ob es sich um Tiere, und am Tierischen, als ob es sich um verwandte Wesen handelte - ein paradoxes Resultat, daß nur im Heraustritt aus menschlichem Kreis der Mensch in seiner Allzumenschlichkeit geschildert werden konnte. CI I)
Wenn man diesem ,paradoxen Resultat' auf den Grund geht, führt dies sowohl zu einer notwendigen Korrektur der (von Spitzer geteilten) Aufaus der Satire des RdR ausgenommen seien (a. a. O. p. 1 19). Doch dieses Argument hebt sich später selbst wieder auf, wenn er feststellen muß: .,Aucune sc:ene du roman n'est siruee dans une ville OU la presence des bttea sau vages serait inexplicable" (p. 1%7) . •) Vgl. etwa die Hofsatire, die der Verfasser von Br. I Renart in den Mund gelegt hat (v. SOS-SB, dazu FOULET p. Hlf.); der Vers Gllril I11 pi HIIIIIlMMI (sol) bedeutet: ,The man is fortunate who holds his sleeves (for washing the hands)', siehe F. Lyons, Rom. LXXI (19S0) p. 2,8-240. I) GRUO' p. XI. I) SPITZER p. 216.
,i""
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fassung Grimms, daß sich die ,stille comische kraft' und die ,harmlose Ironie' des Tierepos nicht mit einer Parodie des menschlichen Epos vereinen lasse, als auch zu einer impliziten Bestätigung der (von Spitzer bestrittenen) These Olschkis, daß das mittelal~erliche Tierepos wie alle Tierdichtung im Grunde Reflexionspoesie sei 1). Denn jenes ,als ob', das nach Spitzer die Zwischenweltlichkeit der Tiersage ermöglicht hat (Teilnahme am Menschlichen, uninteressiert als 0 b es sich um Tiere, und am Tierischen, als 0 b es sich um verwandte Wesen handelte), ist umgekehrt auch für ihre Rezeption konstitutiv, insofern die Tierfigur immer zugleich als ein Aspekt der menschlichen Natur verstanden sein will und der Leser oder Hörer ständig zur Reflexion vom Tierischen auf das Menschliche aufgefordert wird, woraus folgt, daß das mittelalterliche Tierepos schon nicht mehr dem entsprechen kann, was Grimm unter ,Naturpoesie' verstand und auch am Beispiel der mittelalterlichen ,Tiersage' zu erweisen sich bemüht hat I). Auch für das volkstümliche Tierepos des Mittelalters ist ein Anteil der Reflexion nicht auszuschalten - das heißt nicht (und darum legt der Begriff Reflexionspoesie ein Mißverständnis nahe), daß ihm darum auch schon eine didaktische Absicht zuzuschreiben sei. Gerade dies macht ja eben die Eigentümlichkeit des Werkes von Pierre de Saint-Cloud aus, daß hier der Anteil der Reflexion auf das bloße ,als ob', die reine Analogie von tierischem Wesen und menschlicher Natur, beschränkt ist: hier können die Tiercharaktere frei von aller moralischen Auslegung, die sie in der Fabel zu Beispielfiguren macht, zum reinen Spiegel werden, in dem sich die Natur des Menschen ohne einen Hauch von Idealität in ihren Schwächen und Verhaftungen zu erkennen gibt. Chantecler, die Meise, Tibert, Tiecelin, Ysengrin einerseits, Hersent und Renart andererseits verkörpern so wenig Tugenden und Laster, wie Brun, Brichemer, Baucent oder Noble nicht als Personifikationen bestimmter moralischer Eigenschaften verstanden sein wollen. Die Typenwelt der Charaktere im ROMAN DE RENART liegt noch jenseits aller Allegorie. Renart und Hersent können erst zur Verkörperung der Hypokrisie und der Konkupiszenz werden, wenn die reine Analogie von tierischem Wesen und menschlicher Natur wieder durch eine transzendente Bedeutung überlagert, die Artcharaktere von Fuchs und Wölfin zu Personifikationen von etwas Allgemeinem erhoben und in eine RangordI) .. Tierdichtung ist mithin immer Reftexionspoesie, mag sie bloß unterhalten oder absichtlich belehrend sein, mag sie den Ton des Schwankes oder des Märchens oder den der Satire und des Gleichnisses annehmen. Ihre Wirkung besteht in den Interferenzen der Eindrücke, die sie vermittelt, indem sie tierisches Gehaben auf menschliches und menschliches auf tierisches ü herträgt" (a. a. O. p. J 40). I) Daß die mittelalterliche Renartdichtung nicht dem Begriff der ,Naturpoesie' entspricht, läßt sich auch an ihrer Zentr316gur zeigen: der Fuchs ist nicht naiv aufgefaßt, denn er ist listig, und das kann - wie Schiller in einer Ausführung über das Naive begründet - nur die Kunst und nicht die Natur sein (Ob" NJillt IUItl It"Ii:lltnlalis,ht Dühlll1lg, Sämtliche Werke, Säkular-Ausgabe, Bd. 1 Z, p. 174).
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nung von allegorischen Wesenheit.!n einbezogen werden. Dieser Versuch, das Tierepos zu allegorisieren, flillt zusammen mit dem Augenblick, in dem in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in den Städten des Nordens bürgerliche Verfasser sich des alten Stoffes bemächtigen und der erschöpften Gattung durch ein anderes ,principium stilisationis' neues Leben zu geben versuchen. Renart wird in dem 1188 in LilIe entstandenen Werk von Jacquemart Gielee als ,Renart le Nouvel' seine Rolle im Rahmen eines Kampfes zwischen Tugenden und Lastern zu spielen haben: der neue bürgerliche Geist der Städte macht sich in der Geschichte des afrz. Tierepos zugleich mit seiner Allegorisierung geltend. Gewiß braucht, wo der Mensch in den Tiercharakteren ,per analogiam' Züge seiner eigenen Natur wiedererkennt, diese Enthüllung nicht als satirische Entlarvung geschehen. Sie kann aber sehr wohl - dafür sorgt die ,stille comische Kraft' der Travestie, das ,als ob', über das sich die Betrachtung nicht ganz hinwegsetzen kann - Heiterkeit auslösen und sich darin mit dem gegenstandsbezogenen, aber darum noch nicht strafenden Spott der Parodie durchaus vereinen. Auch Grimm hatte am Ende seiner Ausführung über das Wesen der mittelalterlichen Renartdichtung noch angemerkt: .. die thierfabel ist erheiternd; schon die altfranz. dichter bedienen sich zuweilen des ausdrucks ,un gabel' ... , ,une riste et un gabel' •.. " 1). Wenn er daraus nicht die naheliegende Folgerung zog, daß der ROMAN OE RENART zwar nicht als strafende, aber doch wohl im Sinne der Schillerschen Unterscheidung als scherzhafte Satire gelten kann, mag ihn daran gehindert haben, daß er den RdR wie alle mittelalterliche Tiersage als ,Naturpoesie' auffassen wollte. Die allgemeine Definition Schillers: "In der Satire wird die Wirklichkeit als Mangel dem Ideal als der höchsten Realität gegenübergestellt. Es ist übrigens gar nicht nötig, daß das letztere ausgesprochen werde, wenn der Dichter es nur im Gemüt zu erwecken weiß; dies muß er aber schlechterdings, oder er wird gar nicht poetisch wirken. Die Wirklichkeit ist also hier ein notwendiges Objekt der Abneigung; aber, worauf hier alles ankömmt, diese Abneigung selbst muß wieder notwendig aus dem entgegenstehenden Ideale entspringen" -
und im besonderen seine Bestimmung der lachenden Satire, daß sie den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit nicht ernsthaft, sondern scherzhaft auszuführen habe I), läßt sich in der Tat auch nicht mit Grimms Begriff der ,Naturpoesie' vereinen. Daß dem RdR und vornehmlich dem Werk Pierres de Saint-eloud aber ein Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit zugrunde liegt, ist aus dem bisher Gezeigten leicht zu ersehen: hier wird von Anbeginn das epische Handeln der Tierfiguren zu einem heiteren Spiel verkehrt und ihr (im Bilde der Hofgesellschaft König Nobles) ideales, ritterliches Dasein ironisch auf die wahre, kreatürliche Natur der Einzelnen zurückgeführt, ohne daß ihre Schwächen mit moraliI) p. XI Anm. 2. I) aber nai", tiM sen/imen/alisch, Dieh/tlng, a. a. O. p. J 94.
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schem Pathos gerichtet würden. Geht man von diesem inhirenten Widerspruch zwischen ritterlichem Ideal und kreatürlicher Natur aus, so läßt es sich nicht mehr abweisen, daß das älteste afrz. Tierepos, das zu einem Zeitpunkt hervorgebracht wurde, als das nationale und höfische Epos in seiner höchsten Blüte stand, zu diesem in einen äußeren und inneren Gegensatz treten mußte I). So verstanden kann man das Werk Pierres de Saint-Cloud zu Recht eine Parodie im weiteren Sinn des Begriffs nennen, d. h. wenn man den Begriff der Parodie nicht auf eine besondere Art literarischer Nachahmung eingrenzt und dem RdR - wie es Spitzer im Blick auf die BATllACHOYTOMACHIE tut - nicht schon deshalb den Charakter einer Parodie abspricht, weil er .. nicht wirklich eine komische Folie zu heroischer Literatur" bedeute I). Der RdR ist zweifellos kein Werk, das man mit dem Blick auf ein literarisches Original lesen müßte. Seine Eigenart und das Einmalige seiner historischen Erscheinung ist aber gleichwohl erst voll zu begreifen, wenn man ihn aus dem Horizont jenes Publikums zu sehen versucht, dem höfischer Roman,/ab/iaNS,1 thalltoll J, glll, (11 7) eine festumrissene Vorstellung sind und dem Pierre de Saint-Cloud sein neues Thema mit Formeln des Heldenepos ankündigt, um diese Erwartung sodann zu durchkreuzen. Daß das Werk Pierrcs de Saint-Ooud aufs Gan7.e gesehen als Gegensatz zu der Heldendichtung empfunden werden mußte, insofern hier durch das Gcsamtabenteuer Renarts das "Natürliche und Läßliche im Menschen" (Spitzer) als Hintergrund und Bedingung epischen Handeins enthüllt wird und zu einer Desintegration der ständisch-ritterlichen Welt führt, dürfte I) Diesen Standpunkt hat vor allem K. Voßler (Fralltlilirth, Philologit, WilltllItbajllitlH ForlthuIIglbtrithlt, ed. K. Hönn, Bd. I, Gotha 1919, p. S4) vertreten:
"Am besten schicken sich daher die Tiergeschichten zur Einkleidung einer wesentlich naturalistischen, antiidealistischen und unheroischen Gesinnung. Sonach tritt auch in Frankreich die Tierdichtung im Gegensatz zur Heldendichtung auf, und zwar, wie mir scheint, der Reihe nach als Widerspiel zum geistlichen, zum nationalen, zum ritterlichen Heldentum." Spitzers Kritik an dieser Auffassung setzt daran mit Recht aus, daß man nicht recht sehe, was mit dieser Reihenfolge gemeint sei (p. 213 Anm. 4); sein prinzipieller Einwand bleibt aber einem allzu eng gdaßten Begriff der literarischen Parodie verhaftet und wird dadurch entkräftet, daß er selbst an anderer Stelle eine literarhistorische Einordnung versucht, die im Grunde auch wieder voraussetzt, daß der RdR als Kontrafaktur der idealisierenden Heldendichtung verstanden wurde: "Der Mensch in der didaktisch-moralistisch-idealisiercnden Dichtung des Mittelalters hatte der der er sein soll, nicht der er ist zu sein. Es bedurfte einer Gattung, die prinzipiell Tiere zum Gegenstande hat, um nicht etwa bloß das Tierische im ~lenschen, sondern, ohne Verurteilung und Verschönung, das Natürliche und Läßliche in ihm darzustellen. Im Volkscpos und hönschen Roman erscheinen schon Bösewic:htcr und häßliche Menschen (wilde Männcr etc.), aber eben in der chimärischen ,KonterIdealisierullg' des verabscheuungswürdigen Anti-Ideals - und die Hirten und "ilailll der Pastourelle sind Karikaturen" (p. 21 s). I) p. 2 I 3 Anm. 4.
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zz6 aus dem bisherigen Gang der Untersuchung zur Genüge evident geworden sein. Diesen Gegensatz einer literarhistorischen Position zu kennzeichnen, ist der Gattungsbegriff ,Epenparodie' oder ,epopee heroi-comique' allerdings so wenig tauglich, wie sich das Verhältnis des DoN QUIJOTE zum Ritterroman nicht einfach auf den Nenner einer Parodie bringen IIßt. Die Parodie im üblichen Sinn des Begriffs, als komische Folie zu einem vorausgesetzten Text, ist nur ein partielles Stilelement im afn. Tierepos. Das Werk Pierres de Saint-Cloud bietet dafür mehrere Beispiele, davon zwei, wie Foulet zeigte, an kompositorisch besonders wirkungsvoller Stelle: ganz arn Anfang der Traum Chanteclers und ganz arn Ende die Verfolgung des Büchtenden RenartI). Die Bedeutung der ersten Episode erschöpft sich indes nicht darin, daß hier ein berühmtes episches Motiv, der vordeutende Traum, parodiert wird. Die Parodie gilt hier nur prima facie einem für das Heldenepos charakteristischen Verfahren; Pierre de Saint-Ooud dient sie zugleich dazu - erst insofern wird hier der Grundton für sein ganzes Werk angeschlagen -, Chantecler als epischen Helden zu zeigen und zu entlarven. Die Epenparodie wird in eine Parodie des epischen Helden umgewendet und macht damit den inneren Gegensatz zu der heroischen Literatur sichtbar, der dem entstehenden Tierepos des IZ. Jahrhunderts eigen ist. Der Traum selbst (ein Wesen, das Chantecler nicht erkennt, zwingt ihn, mit dem Kopf voraus in einen Pelz zu schlüpfen, dessen Borte knöchern und dessen Kragen sehr eng ist, 11 I 5S) ist seinem Inhalt nach lC:eine Parodie des in der erbaulichen und erzählenden Literatur des Mittelalters zum Gemeinplatz gewordenen allegorischen Tiertraums. sondern stellt sich als ein Rätsel von eigener Bündigkeit dar, das aufzulösen Pinte keine Mühe bereitet: der rote Pelz deutet auf den Fuchs, die knöcherne Borte auf seine Zähne, der enge Kragen auf seinen Schlund, das Ganze auf das Gefressenwerden. Die Parodie kommt erst durch die Wirkung auf Chantecler zustande. Vorausgegangen ist eine Auseinandersetzung zwischen Mlsirl Chllllllll,r li (OS (11 8 I) und Pilll, ... fJIIi prlS dll (O( jmoil a deslrl (11 91), die die Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere hervorkehrt. Chantecler wird in der ganzen Selbstherrlichkeit seines blasierten Stolzes eingeführt, mit der er den aus Furcht vor Renart verstörten Hühnern entgegentritt: Moult fierement leur vient devant La plume ou pie, le col tendant.
Si demande par quel raison Elles s'en fuient vers maison.
(11 8,-88)
Er bestreitet das Faktum, argumentiert rein deduktiv: es kann nicht sein, denn es darf nicht sein U' 111 sm pllloiZ 111 gDllf'pil QIII Dsasl mir". tJII tD.til v. J J I f.) und schafft den Casus allein dadurch aus der Welt, daß er sich 1) FOULET (p. u,) gibt für den ersteren keine bestimmte Vorlage, für die letztere die Flucht Wil.helms nach Orange an.
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für den Frieden verbürgt (v. 109)1). Dann begibt er sich ostentativ auf seinen geBhrdeten Posten auf dem Misthaufen zurück, wo er in der Attitude eines ,Ohnefurcht' verharrt: Cilz se radresce en sa poudriere, Qu'll n'a paour de nulle riens Que li face gourpilz ne ehiens Moult se eontint seÜfement. Ne set gaires q'a l'eilli pent
(11
114-120)
11'
und am Ende mit der Gebirde des Gelangweilten einschlummert (cf. v. bis 118). Der Traum lißt sein ganzes Heldentum in nichts zerrinnen; er wird von Entsetzen gepackt und eilt spornstreichs, (0" til tpR poi,,1 '" I'as,ir,·), zu seinen Hennen zurück. Im Dialog mit Pinte verkehrt sich nun die anBngliche Situation. Sie zahlt ihm die vorhergegangene hochnäsige Abfertigung mit ihnlichen Worten heim: Vos resembles le ehen qui crie Ains que Ja pierre soit eoüe, (v.lhf.)
läßt sich dann aber doch herbei, den Traum zu deuten und stellt am Ende den fatalen Ausgang der Traumerflillung als absolut gewiß hin, wenn er nicht ihrem Rat folgen wolle, sich zu ihr zurückzubegeben. Dieses unheroische Ansinnen weckt mit dem Stolz Chanteclers zugleich auch seine heroischen Lebensgeister wieder auf. Er erklärt Pintes Rede für töricht, beleidigend (..• ",011 par es fol,. Moll (lJ tlil vil,i", parol" v. 262f.) und unmaßgeblich (NI ",'as tlil ri,,, Oll gl "', li'll", v. 267), worauf sie ihm die Freundschaft kündigen will, wenn alles nicht so eintrifft, wie sie vorhersagte. Der Verfasser hat es nicht allein verstanden, das Porträt von Hahn und Henne mit einer Reihe von Zügen auszustatten, die die Physiognomie von Chantecler und Pinte schirfer hervortreten lassen, als es der epische Dichter mit den topischen Attributen der idealisierenden Personendarstellung vermocht hätte. Er hat in M,sirl Cha"I,(I,r li (01 zugleich die Attitude des epischen Helden getroffen, sie im Dialog mit Dam, Pi"l, zur Karikatur werden lassen, um sie am Ende in Chanteclers Reaktion auf das Augurium des Traums als bloße Anmaßung zu enthüllen. Die Komik der Situation entspringt zugleich einem Wechsel der Größenordnung - daß hier Hahn und Henne als Bewohner des Hühnerhofs mit der aristokratischen Würde höfischer Standespersonen begabt werden - und dem Mißverhältnis, das zwischen der epischen Maschinerie, die mit der Traumvordeutung in Gang gesetzt wird, und ihrem banalen Effekt entsteht: die hochgespannte 101) Siehe FOULET p. 17S: .. Et nous reeonnaissons ici le seigneur f~odal, qui de sire de Ja terre peut imposer la tdve entre deux advenaires soit Ala req~te de l'une des parties, soit de sa propre initiative." I) 11 166; der Erzihler nimmt hier den Wortlaut der Verse 114-120 wieder auf und verkehrt so die anfangliche Situation des ,Ohnefureht'.
eo
qualit~
[111 ]
12.8
szenierung des epischen Helden löst sIch in der Häuslichkeit eines Ehekrachs auf. In ähnlicher Weise hat Pierre de Saint-Cloud auch weiterhin bekannte Muster der heroischen Literatur zur Parodie des epischen Helden benützt (so wird z. B. die ganze Topik einer ritterlichen Einzelattacke aufgeboten, um Tiecelin am Ende cin Stück Käse erbeuten zu lassen, cf. 11 8~8ff.P). Die Parodie des epischen Helden wird indes durch das zentrale Stück seines Werkes bei weitem übertroffen, das die Gegenposition des ROMAN OE RENART zu der auf dem Gipfel ihrer Geltung stehenden höfischritterlichen Literatur ausdrücklich thematisiert: die tJIIllIllITe utrallge (Il 1117). die der Geschichte der Feindschaft von Fuchs und Wolf die im Vorwort angekündigte neue Wendung gibt, enthält zugleich eine Parodie des .amour courtois', die in der Literatur des 11. Jahrhunderts ihresgleichen sucht. Die allel1111TI Istrallgl steht im Mittelpunkt der im Prolog angekündigten t.W"' ... tks tkliS barollS, die Foulet allen Ernstes als Fehde aufgcfaßt hat. Daß sie indes ironisch zu verstehen ist. geht schon daraus hervor, daß sie von Anbeginn nicht als kriegerische Fehde abrollt. wie es nach dem geltenden Brauch zu erwarten wäre und auch von der Rede aus nahegelegt scheint, mit der Renart den Kater Tibert vorgeblich für seinen Krieg gegen Ysengrin in Sold nehmen will: ,Tibcrt', fait il, ,je ai enprise Guerre moll dure et molt amcre Vers Yscngrin un mien comperc. S'ai re:te:nu me:int soudoier Et vos en voil je molt proier Qu'a moi remanes en soudees. Car ains quc soient acordees Les tri\'es entre moi et lui (11 700-708) Li cuit je: fere grant ennui.'
In der Darstellung Pierres gelangt die Fehde ocr heiden Widersacher indes nirgends in das Stadium eines ritterlichen, geschweige denn mit einem regelrechten Aufgebot geführten Kampfes. Der so hyperbolisch angekündigte, ,unerhörte' Krieg der heiden Barone schrumpft aufs Ganze gesehen in eine Folge von drei burlesken Szenen zusammen. Der für Ysengrin so schmachvolle Vorfall in der Wolfshöhle löst die Herausforderung des Beleidigers durch den zum ,cocu' gewordenen Herrn des Hauses aus (11 1117; vgl. 11 14: la ",sfon"e); doch schon das nächste Ereignis, die Vergewaltigung der Wölfin vor dem Fuchsbau, spricht allen Spielregeln einer Fehde Hohn I), und auf diese Szene, die den ,etat de guerre' offensichtlich ad I) Vgl. ferner die: Episode zwischen Renart und Tibcrt (11 734-778), die den tl/ai du tlH"aI, den Probcrin des e:pischen Helden parodiert (5. RYCHNER p. 118), sO'll'ie die schon erwähnte: Verfolgung im Stil des hohen Epos, Br. Va 1185-t 172. ') foulet. der in seinem Kommentar den COIIIII1IIU tk ßttllll1aisis von Philippc dc Bcaumanoir folgt, muß hier selbst feststellen: .. Du reste, iI faut le reconnaiue. Renart combat deloy::lcment. La guerre privee excuse le meurtre, mais non pas le viol. Renard est dC! lors justiciable de la loi de la terre" (p. 174)'
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absurdum führt. folgt sogleich die Beilegung des Konfliktes in Gestalt der für Hersent unter höchst zweifelhaften Bedingungen stattfindenden Verhandlung des .Plaid·. Der ,unerhörte' Krieg der bei den Barone, für den sich der Verfasser offenbar nur unter einem kasuistischen Gesichtspunkt interessiert 1), enthüllt sich damit schon im Werk Pierres als das, was er auch weiterhin in den älteren Branchen des RdR bedeutet: eine Verkehrung des heroischen Geistes der ,epopee feodale· . Auf die zentrale Stellung, die die Szene in der Wolfshöhle und vor dem Fuchsbau im Tierepos Pierrcs de Saint-Ooud erhilt, hatte schon Foulet hingewiesen, als er die Zusammengehörigkeit von Branche 11 und Va aufdeckte. Seine Textanalyse hat die scheinbaren Widersprüche in Br. Va aus dem Weg geräumt I) und den Zusammenhang der Verwicklungen, die der Ehebruch Hersents mit Renart erst in der privaten, dann in der öffentlichen Sphäre zur Folge hat. auch im Hinblick auf die feudale Gerichtsbarkeit so durchsichtig gemacht, daß dem selbst die unlängst veröffentlichte Spezialstudie eines Strafrechtlers nichts Wesentliches hinzufügen konnte I). Wenn seine Darstellung gleichwohl den Gegenstand nicht erschöpft, so nicht, weil ihr Begründungszusammenhang lückenhaft geblieben wAre, sondern weil Foulets Befunde noch einer anderen Deutung BIlig sind. wenn man von der Frage ausgeht, in welcher Weise Pierrc das Thema der Liebe im Tierepos eingeführt und als einen Rechtsfall. über den die .Cour des Pairs" uneins werden muß, vor den Hoftag König Nobles gebracht hat. Die neue Wendung, die Pierre de Saint-Cloud dem Schwank vom Besuch des Fuchses in der Wolfshöhle (vgl. 11 I017-IUO) gab, zeigt sich darin an, daß er die Wölfin, bei Magister Nivardus noch ganz in der Rolle der treuen Gattin, mit dem Gevatter Renart Ehebruch verüben lißt t). I) Daß mit gwrr, vor allem der Kasus gemeint ist, der den Gegenstand des ,Plaid" bildet, bezeugt auch Br. I 277: QIII ja pnirlla fill ... , wo sich ,Krieg' auf die Verhandlung bezieht. I) ZU VOIlETZSCH (ZRPh XV 36,f.), SVCHIER (p. IS2), Lw (p. 12611'.), vgl. FOVLBT p. 199-203. Zur Quellenfrage der Viol-Szene zuletzt G. Huct, U_ lpi_ .rYsr"gri",lU, Rom. XLVII (1921) p. 38311'. I) J. Graven. Lt pr«;r tri",i_' tIM "11111" tk Rnar/: EI""e tIH tlroil tri",iMljlo4lll fIII Xlle nide, Genf 1950. Die Arbeit ist stark davon beeinträchtigt, daß der Verfaaser nicht den Originaltext, sondern eine Neuauflage der Nacherzählung von Paulin Paris (ur Alltlliuru tlt Mallrt RtllQrl el IJ' Yrtllgri" rOll "'",pirt, Paris 1921) benutzt und ohne Rücksicht auf Foulets Befunde aus allen Branchen einen ,ordre raisonne' des Prozesscs zusa:nmengestellt hat. So wird die Grenze zwischen der objektiven Spiegelung des feudalen Strafrechts und ihrer parodistischen Wiedergabe im RdR nicht deutlich und bleibt Graven in den Textanalysen oft hinter Foulet zurück, der seinerseits schon zeitgenössische Rechtsquellen (philippe de Bcaumanoir) herangezogen hatte. ') Von diesem Thema findet sich in der Version des YS noch keine Spur; wenn die Wölfin dort die Worte gebraucht: N~ afltcllU bllrill lIIIIIt .!Ji ~ n6), will sie damit den Fuchs nur rrugerisch anlocken, um sich für die Unbill
,Irr'
[113J
Foulet merkt zwar dazu an, diese .\nderung könne durch den TristanRoman angeregt sein (nIl y a du roi Marc dans Isengrin") 1), geht dieser Parallele aber nicht weiter nach und läßt in seiner Interpretation außer acht, daß Pierre schon die Fabliau-Situation in der Wolfshöhle durch das Motiv der bestraften Eifersucht in eine ironische Beziehung zum ,amour courtois' gebracht hat. Hersent betrügt nicht einfach ihren Ga~ sie willigt in den versteckten Antrag Renarts in dem Augenblick ein, in dem er ihr sagt. daß Ysengrin ihn aus Eifersucht von ihr fernzuhalten suche: Je vous ams, ce wst, pu amors. U en a fait maintes elamours Pu ceste terre a ses amis, Et si leur a avoir promis Pour moi faire laidure et honte. Mais dites moi de ee que monte Oe vous requerre de folie? Certes je nel feroie mie, (11 1089-1097) Ne tel parole n'est pas belle.
Wenn Md/11111 H,rs,,,t Ja IDIIIII (v. 104S) sich also Renart pDlIr 11111; nimmt (v. 1110), so darum, weil sich Ysengrin mit seinem (unhöfischen) Verdacht an ihr vergangen hat und die für den Eifersüchtigen angemessene Vergeltung verdient: ,Comrnent?'. fet ele, ,dant Renart' En est done parole tenue? Certes mar en fui mescreüe. Tel euide sa honte venger, Qui pourehaee son eneombrier. Ne m'est or pas honte nel die: One mais n' i pensai vilanie, Mais pour ee qu'il s'en est clamez, Veil je des or que vous m'amez. (II 1100-1108)
Das Thema der Liebe erscheint im Werk Pierres mit dem Motiv der Bestrafung des Eifersüchtigen sogleich in einer Doppeldeutigkeit, die sich durch das Nebeneinander einer schwankhaften und einer co~oisen Version in der weiteren überlieferung dieses Motivs leicht verdeutlichen lIßt. Es liegt einerseits dem Fabliau DIIII BorgD;SI J'OrlilfU zugrunde und ist dort durchweg schwankhaft (nach dem konventionellen Schema: ,Le man trompe, battu et content') gestalteti); doch deutet der Verfasser mit den Eingangsversen : Plest vos oir d'une bourjoise Une aventure ases eourfoise?
(v. I f.)
an den Jungen zu riehen. Die Darstellung in Br. 11 könnte aus diesem Vers ausgesponnen sein, vgl. dazu VOIlETZSCH, ZRPh XV Hof., der hier wie auch sonst die un. Version mißversteht, weil er die Parodie des ,amour courtois' nicht gesehen hat. 1) FOULET p. 180. I) Zitiert nach ed. Rohlfs, SRU Bd. I, Halle 1925.
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1'1
und der Schlußmoral : Par mon chief, cl se desfendi Comme dame cortoise et lage. Onques puis en tot son aage Oe nule rien ne la mescrut. Einsi la bourjoilc decut Son mari qui la vot decoivre: 11 meimes brasca son boivre (v. 3zo-3zS)
noch ironisch auf die alte Courtoisie zurück. Dieselbe Schwankhandlung Jahrhunderts Raimon Vidal de Besalu in seiner Vershat zu Beginn des novelle USTIA-GILOS in die höfische Sphlre versetzt und dementsprechend auch ganz höfisch motiviert I). Der Jongleur leitet die III1IfIhlrtl des Amfos de Barbastre sogleich mit den Versen ein:
I,.
Ar auiatz, senher, cals desastre li a vene per sa gilozia: Molher bel'e plazen Ivia e sela que anc no falhi vas nulh horne ni anc sofri precx de nulh hom'en s'encontrada mas sol d'un . . . . .• (v. 44-S0)
und beschließt sie mit der Aufforderung an seinen königlichen Gastgeber que gilozia defendatz a totz los homcs molheratz que cn vostra terra estan. (v. 41 S ff.)
In der Version Pierres de Saint-Cloud spielt das .Minnec-Abenteuer von Renart: und Hersent (der gerade in diesem Zusammenhang wichtige Begriff t#llfll1Ir, steht in der überleitung zu der ersten Szene. vgl. 11 1031) auf heiden Ebenen der Auslegung. und zwar einmal im Ablauf der beiden Szenen (Wolfshöhle und Fuchsbau). die den epischen Anlaß der Feindschaft von Fuchs und Wolf ergeben (vgl. 11 1054). und zum andem in der höfischen Interpretation des Vorfalls auf dem Hoftag des Löwen (Br. Va). Das Motiv des Cllllitl-gilol, der Bestrafung des eifersüchtigen Gatten durch Erhörung des Liebhabers. mit dem Pierre das Thema der Liebe in sein Tierepos einführt. setzt demnach die in der Provence ausgebildete. im höfischen Roman durch den TRISTAN und Chrestiens LANCELOT vertretene Minnedoktrin voraus I). bedeutet aber im Hinblick auf die Norm des .amour courtoisc bereits eine äußerste überspitzung. die sich im hön1) Zitiert nach C. Appel, Prw'''taliltbt CbnIlO",IIlhi" Leipzig '1930, p. z7-3z.
I) Zur Entstehung des Ur-Tristan, der gemeinsamen Quelle der Venionen von Deroul und Eilhart (= Trili"" Jo1l1111 Chi,.,., fislI), siehe Stefan Hofer. Smilfrll#fl - afrt. Liltral"" ZRPh LXV (1949) p. zs7-z88, der dort die IsIDir" wie Deroulscine Vorlage nennt, nach I1 SS (- Waccs übertragung der HislDrill Brillltlllifll) ansetzt, ihr Verhiltnis zur höfischen Literatur bestimmt und begründet. inwiefern sie als epische Gestaltung der südfranzösischen Minnedoktrin das Milieu des Hofes der Königin Leonore voraussetzt.
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[ IlS]
sehen Roman auch da nicht findet. wo sie - wie in der FLAMEN CA - durch das Thema der Eifersucht nahegelegt wäre 1). Daß Pierre dieses Motiv eigens in den ROMAN DE REN.o\RT eingeführt haben dürfte. um den .amour courtois' zu parodieren und damit auf seine Weise zu einer hochaktuellen Frage Stellung zu nehmen - um 1176 hat auch Chrestien den CLiGES. seinen Anti-Tristan. abgefaßt l ) -. läßt sich durch das Ergebnis der Untersuchung stützen. die W.A. Tregenza, dem Hinweis Foulets folgend, dem Verhältnis der ältesten Branchen des RdR zum TRISTAN gewidmet hat 1). Die von ihm aufgezeigte Parallele im Aufbau der beiden Werke verleiht der Annahme große Wahrscheinlichkeit. daß Pierre de Saint-Cloud besonderen Anlaß hatte. in seinem Prolog neben dem Troja-Roman den TRISTAN eigens zu erwähnen: "In the first part the story teils of the unlawful love bctween a pcnonage of high rang and the wife of another; an outrage is committed and its discovery gives rise to a private feud. In thc sequal a public .escondit' of thc crime is arranged and the accused emerge successfully from the ordcal."
Tregenza hat sich im übrigen darauf beschränkt. das Verhältnis von Br. lI-Va zu der Tristan-Oberlieferung zu klären. und ist der Frage nach Absicht und Bedeutung der Parodie Pierres nicht weiter nachgegangen .). Setzt man seine Untersuchung in dieser Richtung fort. so zeigt sich, daß die Parodie im Werk Pierres nicht auf den TRISTAN selbst, sondern auf die Norm der höfischen Liebe überhaupt zielt und in einer Travestie ihrer Kasuistik durch den ,Plaid' in Br. Va gipfelt. die das .Minne'-Abenteuer I) Das Thema der Eifersucht spielt bei Chrestien außer im CLIGES noch keine auffallende Rolle. auch nicht im LANCELOT. wo es zu erwarten wäre, erscheint dagegen schon mehrfach in den LAIS der Marie de France (YONEC. GUIGEMAR. MILUN). Der .Kasus' des Caslia-gilos, den die höfischen Dichter offenbar als nicht mehr höfisch ansehen und darum vermeiden. findet sich aber vor Br. li-Va schon einmal im Mittelteil des ERACLE von Gautier d'Arras (1165), wo am Ende auch die Schuldfrage gestellt wird und unentschieden bleibt. Nur überschreitet dort der Verfasser noch nicht die Grenze höfisch-idealisierender Darstellung und läßt den Kasus mit dem Verzicht des Eifersüchtigen enden. - Für verschiedene Hinweise bin ich hier Fr!. Dr. Ilse Nolting-Hauff zu Dank verpftichtet. I) Datierung nach A. Fourrier, siehe J. Frappier. Cbreslie" tk TroytJ, a.a. O. p. 106. - Juan Nogues (a.:1.0. p. 258) möchte die Formel.Anti-Tristan' auch für Renart in Anspruch nehmen, bleibt aber eine eingehendere Begründung schuldig. I) Tht rtlalio" o/Ihe oiMsl bran(h o/Iht R01lla" tk ReMrl 10 IIN Trislall Pot1llS, MLR XIX (1914) p. 301-30S. e) Ibm zufolgc hätte Pierre de Saint-Cloud aus dem nicht erhaltenen Trisla" _I la Chi"" fisl geschöpft. den er in seinem Prolog zitiert; Berouls Version, die nach 1190 datiert wird und der Darstellung in Br. lI-Va näher steht als die Version von Thomas (um 1170). dürfte selbst wieder von der Darstellung Pierrcs beeinßußt sein. Hier kann sich Tregenza auch auf v. 2486 in Berouls TRISTAN stützen (Trislt1" sei 11101 tk Malp"llIis), in dem die Beziehung Tristan = Renart ausdrücklich formuliert ist.
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von Fuchs und Wölfin aus Br.1I mit seiner gerade in den höfischen Wendungen zweideutigen Sprache und fabHau-artigen Drastik voraussetzt. Der Dialog wird hier gleich von Anfang an hart an der Grenze geführt, an der er in unverhüllte Direktheit umzuschlagen droht. Hersents einleitender Vorwurf: Ainc ne me vousistes bien faire Ne ne venistcs la ou j'cre (11 1070f.)
enthilt eine Provokation, gegen die Renart, nicht weniger provozierend, Ysengrins vorgebliche Eifersucht auszuspielen und seinen Antrag in eine scheinbare Ablehnung unhöfischer Liebe (Tt'!"t"t "foli,) zu verhüllen weiß: Mais dites mai dc ce quc montc Oe vous requerre de folie? (11 1094 f.)
Vorgebliche Eifersucht - denn es ist anzunehmen, daß Renart die Nachstellungen des eifersüchtigen Gatten ad hoc erfunden hat (zuvor war nie davon die Rede)l), um Hersent gegen Ysengrin aufzustacheln, seine Erkllrung erst indirekt, als Ansicht des Wolfes, vorzubringen (je "OIiS mill, (f diS/I par "11I0TS, v. 1089) und damit aus dem Dilemma seiner Situation herauszugelangen. Dieses Dilemma, daß er sich unvermutet der stärkeren Hersent gegenüberfindet, die sein Erscheinen zum Lachen reizt (vgl. v. lOS 8 f.), ihm aber Angst und Schrecken einjagt (v. 1074f.), darf nicht übersehen werden I). Denn die anfängliche überlegenheit Hersents verkehrt sich nach dem ,fait accompli' in ihr Gegenteil; nun hat Renart die Oberhand, die er auf der Stelle durch die Besudelung und Beschimpfung der Wolfsjungen demonstriert: Ses a clamez avoutres qucstres Privccment conme cclui Qui,ne se doute de nului Fors de dame Herscnt s'amie, Qui ne l'en descoverra mie. (v. 1130-1134)
Wo der Erzähler auf der Ebene seines höfischen Vergleichs (~D"",e ~tllli ... ) noch den absoluten Vorrang von Ja",t HITst'" über ihren "",is RtIIIlTl ironisch beteue~ enthüllt die Situation schon ihr wahres Verhältnis als eine Machtprobe, bei der die Frau gerade auf der Ebene, auf der sie im Fabliau als unüberwindlich gilt, der des Betrugs, wieder betrogen wird. Die hier aufgerissene Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit ist auch schon im TRISTAN gegeben, bleibt dort aber noch durch eine letzte höfische Sublimierung der Liebe verdeckt: auch noch als fDI "III0T, der sich allein auf den Wegen des Betrugs verwirklichen karm, wird dort die Liebe schicksalhaft erfahren und als ein auferlegtes Verhängnis erduldet '), das der VerI) Siehc FOULET p. 179. I) So FOULET p. 136, der darum dcn Motivationszusammenhang dieser Szene
als nicht ganz gelungen ansicht. I) Der W"iderspruch, daß die Liebe von Tristan und Yseut bald als bo", lyrisch besungen:
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bindung von Tristan und Iseut die Sympathie aller zuteil werden 1lßt, ohne darum Marc zur lächerlichen Figur zu machen I). Darum ist im TRISTAN mit der Zweideutigkeit höfischen Sprechens letztlich auch noch keine Degradierung der Norm intendiert. Selbst der Doppelsinn des Reinigungseides richtet sich dort noch nicht gegen die Verbindlichkeit der durch den Jol alllor in Frage gestellten Norm. sondern dient vielmehr dazu. mit der List der Dame. die das Geheimnis der Liebenden bleibt. den Schein des Ideals am Ende noch zu retten. Pi~rre de Saint-Ooud hingegen benutzt das Motiv des Reinigungseides. mit dem der Tristandichter am Ende den status quo wiederherstellt, gerade im umgekehrten Sinn: indem hier am Ende nicht die weibliche List. sondern die Skrupellosigkeit Renarts triumphiert. wird mit der Vormacht der Dame zugleich die Verbindlichkeit der höfischen Liebe suspekt. Auch dieser Ausgang beruht auf einer Verkehrung von Schein und Wahrheit. die schon in der Szene vor dem Fuchsbau (vgl. II 1111-1396) angelegt ist. Pierre de Saint-Ooud hat sich nicht damit begnügt, Ysengrin in die Fabliau-Rolle des betrogenen Gatten zu bringen, der gerade durch einen augenscheinlichen Beweis der Loyalitlt hinters Licht geführt ist. Br Ilßt ihn. nachdem er glaubte. mit Hersents Bereitschaft zum Reinigungseid ihrer Treue versichert zu sein. bei der gemeinsamen Verfolgung des Fuchses gerade noch zurechtkommen. um Augenzeuge der Szene zu werden, in der Renart die Wehrlosigkeit der im engen Fuchsloch steckenden Wölfin ausnützt aJai" JIIMi rOll plairir (Il 1164). Damit erhilt die Situation die Pointe, daß Ysengrin Renart überführt und den Beweis in Händen zu halten glaubt, der seine Anklage unanfechtbar machen muß: N'i convient nulle couverturc: Toute eSI aperte I'aventure, (11 1315 f.)
ohne zu ahnen, daß der für ihn so eindeutige Beweis für Hersent zweischneidig ist. Denn die Anklage. Renart habe Hersent Gewalt angetan, kann nicht wirksam werden, weil Hersent vor Renart durch ihr Verhalten Aspre vie meinent et dure: Tant s'entraiment de bone amor L'un por I'autre ne sent dolor. (v. 1364-1366) bald pechi, genannt und einzig als Wirkung des Zaubertranks hingestellt wird (cf. 138dr.• 1412ff.). weist letztlich auf die eine überpersönliche Macht Amora zurück, die die Liebenden wider ihren Willen als "Dr/" tÜr/iMt (v. 130Z) crfabrcn und von der sie auch der Eremit nicht einfach lösen kann: ,Gent dechacie, a con grant paine Amors par force vos demeine I (u95-u97) Conbien durra vostre folie?" Dabei kann für tUrliMt auch Fortuna eintreten: Nm rtltmln" 114 pnd /twill/le (v. 1697, zitiert nach ed. E. Muret. CFMA t. 12, Paris 119z8). I) Nachdem Tristan und Yscut zusammen aufgefunden und überführt worden sind, ist die Klage aller groß (cf. v. 817-865), desgleichen als Yscut dem Aussitzigen ausgeliefert wird (v. 1116-1118).
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in der Wolfshöhle als Komplizin kompromittiert ist und lügen müßte, wenn sie den Reinigungseid auf ihre Unschuld ablegen wollte. Damit, daß Renart in seinen letzten Worten, bevor er in seinem Fuchsbau venchwindet. auf diesen Tatbestand deutet: Et quant Ja dame iert de ci ttaite, Ja ne cuit clamour en soit faite Ne ja, s'elle n'en veult mcntir, Ne l'en orrez un mot tentir, (lI 1353-1356) wird die Begebenheit für Ysengrin im eigentlichen Sinn zu der """'/.., Illrllll/ll als die sie der Erzlhler angekündigt hatte (11 1117). Daß die Worte Renans auf die kompromittierende Szene in der Wolfshöhle ziele~ kann nur Henent wissen; Ysengrin muß sie auf den vorliegenden Fall beziehen, obwohl ihnen sein eigener Augenschein widenpricht. Er wird Hersent gerade an dem Punkt mit Schmihungen über1liuf~ an dem sie keine Schuld trifft (Va 2,6ff.). sich dann wieder auf ihre Venicherung. daß sie ihre Unschuld vor dem Hof bezeugen wolle. verlassen und schließlich seine Anklage gegen Renart erheben. die vor dem Forum der Öffentlichkeit zu seinem Befremden nicht beweislulftig zu machen ist: die """,II1I'I '11r1lllU ventrickt ihn zuletzt in eine unlösbare Ambivalenz, die die Norm des .amour courtois' mit der Norm des geltenden Rechts in Widerspruch bringt. Die heiden Positionen werden eineneits durch den König Noble selbst, andereneits durch den rechtsgelehrten Legaten des Papstcs. das Kamel. verkörpert. König Noble. der Löwe, beginnt sein Verhör mit einem Licheln und bringt Henent schon mit der ersten Frage in Verlegenheit:
,Hersent' dist li rois, ,respondez Qui vos estes ici c1amee Que dant Renan vos a amce: Et vos, amastes le vos onques?'
(Va 394-397)
Auch wenn sie die Frage verneint, ob sie Renart liebte. muß die Anklage auf Vergewaltigung suspekt werden. Einmal, weil die Umstinde unglaubhaft encheincn: warum kam sie allein zum Fuchsbau? wie konnte Ysengrin Augenzeuge sein, ohne es zu verhindern? (v. 398-411), und weil der AnklJger zugleich der einzige Zeuge ist. Zum anderen. weil Hersent. um ihre Standhaftigkeit zu betonen, zuvor erzählt hatte. daß Renart sie schon Pllil 1'1. In tpII Illi pm,l, liebte und sie vergeblich umwarb (v. H6-H~). Damit stellt sie Renart ein Entlastungszeugnis aus, das der König sofort aufgreift: ,Ce' fait iI, .que Renan I'amot, Le quitte auques de son pecbie. Se par amor vos a trcchie, Certcs prouz est et afaitiez'. (Va 436-439) König Noble, der nicht dulden will, daß an seinem Hof jemand Übles auszustehen hat, weil er der Liebe beschuldigt wird (v. 42'-428). bringt die Norm des ,amour courtois' so zur Geltung. daß sie zugleich Renart
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rechtfertigen und Hersents Anklage als unhöfisches Verhalten entlarven muß. Sie tritt damit in Gegensatz zu der Norm der Rechtsordnung, derzufolge Renarts avenJllre ein strafbares Delikt darstellt 1): der Fall wird zum Skandalon, an dem gerade der päpstliche Legat als Vertreter der Kirche, die das Sakrament der Ehe hochhält, Anstoß nehmen muß. Dieser macht darum auch sogleich die volle Strenge der gesetzlichen Strafe für die Verletzung des Matrimoniums geltend und geht gar nicht auf die Besonderheit des Falles ein, die König Noble im Auge hatte, als er ihn aufforderte, einen Präzedenzfall zur Erleichterung der Urteilsfindung zu zitieren (Va 451-456). Der Löwe gibt sich durch die Antwort des Kamels keineswegs geschlagen I). Die Worte, mit denen er den Fall an die ,Cour des Pairs' übergibt, stellen ihn von seiner Position aus in einer abschließenden Formulierung dar, die ihn zu einem Paradoxon der Minnekasuistik erhebt und für die feudale Justiz von vornherein unlösbar macht: ,Ales', fait il, ,vos qui ci estes Li plus vaillam, les granor bestes I Si jugiez de ceste clamor, Se eil qui est sopris d'amor Doit estre de ce encopcz Dom ses conpainz est escopez'. (Va
499-~04)
Wie kann Renart nach dem Buchstaben des Gesetzes desselben Vergehens für schuldig befunden werden, aus dem Hersent als seine Komplizin schuldlos hervorgehen soll? In dem so ausgelegten Kasus liegt die sublime Ironie des Verfassers von Br. II-Va: der in den Anklagezustand versetzte ,amour courtois' erweist sich als Prüfstein des geltenden Rechtes und macht seine Anwendung fragwürdig. Daraus ergibt sich der Verlauf des Verfahrens in der ,Cour des Pairs', die Ysengrin sein Recht nicht verschaffen kann, weil er keinen objektiven Zeugen aufzuweisen hat und weil dem Zeugnis seiner Frau in dieser Sache prinzipiell keine Beweiskraft zukommt (so faßt Brichemer das Ergebnis zusammen, vgl. v. 901-918). Indem aber die ,Cour des Pairs' den Kompromiß vorschlägt, beiden, dem Kläger ineins mit dem Beklagten, durch den Reinigungseid Recht zu verschaffen, wird davon abgesehen, daß das Recht des einen das des anderen ausschließt, und muß der Ausgang des ,Escondit' von vornherein zweiI) J. Graven (a. a. o. p. 39) verkennt diesen Gegensatz, wenn er hierzu lediglich feststellt, der König scheine die Anklage auf Ehebruch nicht tragisch zu nehmen, obwohl dieses Delikt im feudalen Strafrecht als schweres Verbrechen betrachtet worden und nach dem Prinzip des Talion (membris puniatur) geahndet worden sei. Daß es Pierre de Saint-Cloud indes allein auf die Positio!1 des Königs als Anwalt des ,amour courtois' ankommt, zeigt sich auch darin, daß von dem Übergriff gegen die königliche Autorität - Renart hat der Anklage Ysengrins zufolge mit dem Ehebruch einen ,ban royal' verletzt (v. 3 I 9ff.) - schon gar nicht mehr die Rede ist. I) Wie FOULET (p. 200) zu meinen scheint: "Plus d'cchappatoire pour Noble qui evidemmcnt a un faible pour le goupil."
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deutig werden. Ysengrin zieht es deshalb vor, sich auf eigene Faust zu verschaffen, was ihm die Justiz des Königs nicht zu geben vermag: so entartet der Reinigungseid, der in der Scheinlösung des TRISTAN den status quo an te wieder herstellte, im ROMAN DE RENART zur Machtprobe zweier Parteien, in der die Einhelligkeit der höfischen Gesellschaft zerfällt. Der ,Schwur auf des Rüden Zähne' ist darum auch nur bedingt als Parodie eines mittelalterlichen Rechtsverfahrens anzusehen. Denn nicht die sakrosankte Vorstellung des Reinigungseides als solche wird hier zum Gegenstand des Spottes 1) (es kommt bezeichnenderweise schon gar mcht mehr zum Meineid Renarts), so wenig wie zuvor im ,Plaid' das Verfahren der ,Cour des Pairs' karikiert werden sollte. Auch sind die Figuren der Richter in Gestalt des klugen, distanzierten und konzilianten Hirschs Brichemer, des hochmütigen und heftigen, aber unbeugsam-rechtlichen Ebers Baucent und des biederen Bären Brun, der sich auf so ungeschickte Weise zum Anwalt Ysengrins macht, mit unverkennbarer Sympathie gezeichnet und stellen die Integrität der ,Cour des Pairs' gerade dadurch heraus, daß sie zu keinem abschließenden Urteil gelangen. Die Idee des Rechts bleibt als solche in Br. Va selbst von dem burlesken Ausgang des ,Escondit' unangetastet und wird noch nicht, wie später in Br. I, durch die Art und Weise verspottet, wie sich der Fuchs mit List und Tücke auf dem unverdienten Gnadenweg aus der Schlinge zieht. Der ironische Sinn des ,Plaid' bekundet sich vielmehr darin, daß der angeklagte Renart. den Pierre gar nicht auf dem Hoftag erscheinen läßt. auch in absentia, als ob es seiner eigenen Verteidigung gar nicht bedürfe, unbeschadet freikommen muß, einzig weil über seinen Fall die Norm d~s ,amour courtois' mit der Norm des Gesetzes in Widerstreit gerät. Insofern hier aber das subjektive Recht der Liebe gegen das objektive Gesetz der Gesellschaft aufgeboten wird, um ausgerechnet Renart zu rechtfertigen, dessen wirkliches Verhältnis zu Hersent allen Regeln höfischer Liebe Hohn spricht, steht dieser Widerstreit der Prinzipien von Anbeginn in einem komischen Mißverhältnis zu seinem Anlaß, dem Vorfall in der Wolfshöhle, und wird damit zur Parodie des Anspruchs, den König Noble - wie der gleichzeitig höfische Roman - als Ideal verficht. 1) Juan Nogues verkennt nicht nur hier, sondern auch bei den Szenen zwischen Renart und Hersent, wohin die parodistische Intention des Verfassers zielt (op. cit. p. 56, 80). Insofern ist auch der Teil seiner Studien, die man allenfalls noch als einen Beitrag zur Renartforschung gelten lassen kann, die Zusammenstellung satirischer Stellen und parodierter Muster der Heldendichtung (p. z 52 ff.), nur mit Vorsicht zu benutzen. Im übrigen handelt es sich um eine paraphrasierende Inhaltsangabe, die nach Foulets Chronologie angefertigt ist. Außer Foulet gibt N. im Grunde nur die Ansichten einer hektographierten Vorlesung von G. Cohen wieder; die neueren Arbeiten von Spitzer und Tregenza (der den Vergleich von Br. II mit Berouls Tristan schon vor ihm gemacht hatte), aber auch schon die Quellenstudien von Voretzsch (was seinen eigenen Erörterungen über folkloristische Varianten allerorts geschadet hat) sind nicht einmal erwähnt.
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Die Frage nach dem Neueinsatz des ersten afrz. Tierepos, die der Prolog zum Werk Pierres de Saint-Ooud aufgibt, hat im Verlauf dieser Untersuchung eine Reihe von Aspekten ergeben, die seine literarhistorische Sonderstellung mehr und mehr als die einer ersten ausdrücklichen Gegenposition zur höfisch-ritterlichen Welt erkennen ließen. Dieser Gegensatz, der im lateinischen YSENGIUMUS noch fehlt und darum für die Intention seines afrz. Fortsetzers besonders charakteristisch ist, wird im ,Plaid', dem Novum des ROMAN DE RENART, am schärfsten herausgearbeitet, weil hier die Parodie schon nicht mehr allein die Form der Gattung des höfischen Romans, sondern das literarisierte Ethos der höfischen Gesellschaft, d. h. die Norm des ,amour courtois' trifft. Für das ,Minne'-Abenteuer Renarts gibt es, wie der Verlauf des ,Plaid' nachdrücklich vor Augen führt, keinen Maßstab mehr, der Recht und Unrecht zu scheiden gestattete. Auf den Ehebruch Hersents ist die feudale Justiz so wenig anwendbar, wie andererseits die Norm des ,amour courtois' nicht mehr imstande ist, die Klage Ysengrins gegen den Ehebrecher abzuweisen. Durch diesen Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit wird nicht allein die Verbindlichkeit der höfischen Ethik in Frage gestellt. Die tlll,,,IIIf"'SIrIZlli.', in der Renart den prodoll/I und tonn,slabl, Ysengrin zum Hahnrei macht, ohne daß dieser vor der ,Cour des Pairs' sein Recht und seine Ehre wiedererlangen kann, kehrt zugleich auch die Brüchigkeit jener ständisch-gesellschaftlichen Ordnung hervor, die die ,Cour des Pairs' schon in der Phase ihrer schwindenden Autonomie repräsentiert. Die Worte, mit denen Ysengrin so pathetisch seine Anklage eröffnet, bewahrheiten sich durch den Ausgang des Prozesses und noch mehr durch den Ausgang des mit dem ,Escondit' beabsichtigten Vergleiches: ,ROJs, justise va enpirant: Verites est tornee a fable, Nule parole n'est estable. (Va 316-318) Die Wahrheit, die im Werk Pierres de Saint-Cloud zur Fabel wird, ist die satirisch verhüllte und im Kernstück ihres Ethos, der hönschen Liebe, parodierte Autonomie der höfisch-ritterlichen Welt 1). Wenn Pierres scherzhafte Satire auch an keiner Stelle seinen eigenen Standpunkt, bzw. das Richtmaß einer neuen Idealität verrät und die Desintegration der feudalI) Zu Abschnitt D dieses Kapitels ist hier noch nachzutragen, daß eine weitere Parallele zwischen TRISTAN und RdR in der zweideutigen Formulierung des Reinigungseides von Iseut und von Hersent (Br. 1147 ff., 172 ff) besteht, auf die P.} onin hingewiesen hat (Lu ",u1ll"UX tlltln" .it pl.7thologilpu dans It RtlR [ Br""tlN 11, in: AImaIu tU I" F"t. tUS ullrt/ tI'Ai", t. XXV, 19S1, p. 77 f.). Da der Vf. modeme psychologische Kategorien (Scheidung von moralischen und intellektuellen Eigenschaften) an das mittelalterliche Tierepos heranträgt, bleibt auch in seiner Abhandlung die Analogie von tierischem Wesen und menschlicher Natur ungeklärt; auch hat er zu seinem Schaden die Chronologie der Branchen und die daraus entspringenden Veränderungen im Bilde König Nobles und anderer Tierfiguren nicht berücksichtigt.
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höfischen Gesellschaft allein durch den Weg sichtbar wird, auf dem Renart ihre episch vollendete Welt durchmißt, hat doch sein ritterliches Publikum darin liegt eine Bestltigung für unsere Interpretation - die Gegenposition des Renartabenteuers zu aller bisherigen heroischen Literatur offenbar deutlich empfunden. Das bezeugt der Wider~ den der ROMAN DE RENART nach dem Bericht von Philippe de Novare noch SO Jahre nach den ersten. das Thema vom .Krieg der heiden Barone' anschlagenden Branchen bei den französischen Rittern im Orient gefunden haben muß. Die satirischen Lieder. die Philippe um 1119 abgefaßt und spiter in seine GESTE DES CHIPROIS eingeschaltet hat, benutzen die Figuren und die Fabel des RdR. um die militlriscbe und politische Situation der beiden Parteien. der Jeans I. d'Ibelin und der Friedrichs 11 .• vor aller Augen zu stellen 1). Dabei identifiziert Philippe de Novare seine Partei mehrmals, insbesondere in einer neuen .Branche', die er nach der Aufhebung der Belagerung von Dieudamour verfaßte, nicht etwa mit dem im RdR unüberwindlichen Fuchs und den Seinigen, sondern mit der Partei des im ,romanz' stets unterlegenen, in seiner neuen Branche aber siegreichen Ysengrin und ordnet den bedeutendsten Persönlichkeiten von Freund und Feind die entsprechenden Namen der Tierhelden - Ysengrin. Brun, Tibert, Chantecler (so nennt er sich selbst), bzw. Renart (so nennt er Heimery ßarlais. den verachteten Feind), Grimbert, Cointereaus - zu. Das ritterliche Publikum erkennt sich selbst in der Figur des edlen ,prodome' Ysengrin und sieht in Renart noch nicht den Schelmen, dessen ,sagesse' ein neues Zeitalter ankündigt, sondern einzig den Inbegriff allen Betruges und Verrats: Cu Renart sait plus de tralson faire Que Guenclon, dont France fu traJe ... Bien est honis qui sert tel tmtor I).
I) Das Folgende nach FOULET p. '11-' 18. der die Stellen in der GIII. MI ClJiprDiI schon eingehend gewürdigt hat. I) Es handelt sich hier um die Eingangsvenc eines Liedes, das Philippe de Nonn: bei der Belagerung von Dieudamour an die Parteigänger von Hcimcry Barlais gc:richtct hat (zitiert von FOULET p. 493)'
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111. RAINALDO E LESENGRINO Eine späte italienische Replik auf das französische Tierepos In welcher Form ist das um 1176 von Pierre de Saint-Cloud in Frankreich geschaffene Tierepos nach Italien gelangt? In welcher Beziehung steht der franc~italienische Text von Rainaldo e Lesengrino, dessen verlorenes Original wahrscheinlich um die Mitte des XIII. Jahrhunderts entstanden und in zwei späteren Bearbeitungen, den Redaktionen von Oxford und von Udine auf uns gekommen ist, zu der zyklischen Geschichte des Roman de Renart ? Was zeigt seine Rezeption in Italien von dem neuen Erwartungshorizont eines Publikums an, das unter ganz anderen historischen und kulturellen Bedingungen stand? Diese Fragen haben in der bisherigen Forschung noch keine voll befriedigende Antwort gefunden. Zwar vertritt heute niemand mehr die Ansicht Sudres und Gaston Paris', daß Rainaldo e Lesengrino als formale Nachahmung einer sehr alten Branche anzusehen sei. Die Forschungen von A. Todt und L. Foulet haben gezeigt, daß es sich hier um eine späte Wiederaufnahme der Gerichtsepisode handeln muß. Mit ihrem Nachweis, daß die franco-italienische Branche vom ,Plaid' der I. Branche des Ro"uln de Renart abhängig ist und außerdem die Kenntnis der Branchen Va und XIV voraussetzt, ist indessen nicht auch schon die weitere Frage beantwortet, was an der italienischen Bearbeitung bloße Nachahmung, was späte Umformung ist, und ob diese einer neuen und originellen Intention entsprungen sein kann. Von dieser Frage geht unsere Betrachtung aus. Denn Rainaldo e Lesengrino ist gerade dadurch lehrreich, daß hier die formale Nachahmung eines epischen Vorbilds keineswegs eine neue, durchaus originale Schöpfung ausschloß. Der erste italienische Bearbeiter ist vielmehr einem Prinzip der Stilisation gefolgt, das sich am ganzen Zyklus der französischen, deutschen und niederländischen Bearbeitungen der I. Branche des Ro"uzn de Renart aufweisen läßt: das Prinzip der Fortsetzung in der Nachahmung, d. h. die Möglichkeit, ein und dieselbe Fabel unter einer immer wieder anderen Fragestellung wieder aufzunehmen und damit fortzusetzeni. Ziel der folgenden Betrachtung ist es, diesem Prinzip gemäß den Aspekt der neuen Lösung aufzuzeigen, den der Verfasser von Rainaldo e Lesengrino am Ende der Geschichte des Renart-Zyklus der altbekannten epischen Situation des Gerichtes über den Frondeur und Schelmen zu geben verstand. Zuvor ist zu den beiden Redaktionen von Oxford und von Udine zu bemerken, daß die Aufgabe, einem italienischen Publikum die bisher noch unbekannte Mati~re de Renart erstmalig nahezubringen, schon zuvor von der vermuteten gemeinsamen franc~italienischen Quelle erfUllt worden sein muß. Denn die Hauptfiguren aus dem französischen Tierepos Rainaldo, Lesengrino und Cantacler, treten in beiden Redaktionen als schon bekannte Helden in der Handlung auf. Es bedurfte hier also nicht mehr einer besonderen Einführung, wie sie z. B. im mittelhochdeutschen Re;nluzrt Fuchs vorliegt; dort stellt der Verfasser seinem deutschen Publikum den Fuchs erst einmal auf der vertrauten Szene eines Bauernhofes 1 Hierzu kann ich auf das V. Kapitel meiner UntenuchUlr6en ZUT mittelillterlichen Ti6· dichtung, Tlibinlen 1959, 180 fr. und 240 fr., verweisen; dort ist auch die Sekundärliteratur veneichnet, auf die ich mich hier beziehe. Seither ist die nunmehr verbindliche Auspbe von A. Lommazzi erschienen, in: BlblloleCil deUt Archlvum Romtlnlcum, Serie I. vol 116. Studi Romanzi 2, Firenze 1972.
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vor, um ihn alsdann in seine epische RoUe eintreten zu lassen. Wenn aus solchen und anderen Indizien zu vermuten ist, daß die verlorene Urfassung von Rainaldo e Lesengrinno noch den Charakter einer erstmaligen Umsetzung in eine andere Sprache und literarischen Tradition hatte, bestätigen die Redaktionen von Oxford und Udine, daß ihre Verfasser schon mit einem vorgängigen Wissen von der Mati~re de Renart bei ihrem Publikum rechnen und einen Schritt weitergehen konnten, nämlich der alten Fabel vom Hoftag und Plaid des König Noble eine neue Auslegung zu geben. Anders gesagt: was uns an ihrem Text neu erscheint, bitte nicht nur ein italienisches Publikum, sondern gleichfalls ein französisches Publikum, dem der ganze Zyklus der Renart-Branchen schon bekannt war, in die Erwartung einer neuen, von eigener Spannung erfUllten Fortsetzung versetzt. Gehen wir zunächst von den Gegebenheiten des Textes aus, die aus der Tradition einfach übernommen sind, so ist mit Foulet festzustellen, daß dem Aufbau der Szenen das konventionelle Muster der I. Branche des Roman de Renart zugrundeliegt: ein Hoftag des monsignor sire /ion - die Klage, die gegen den abwesenden Fuchs erhoben wird - der Botengang von Gilberto, dem Dachs - das Erscheinen des Angeklagten - der eigentliche Prozeß (Plaid) mit der Verteidigungsrede des Fuches als Höhepunkt - das Urteil König Nobles und sodann, in einem zweiten Teil, der die Ausführung des Urteils illustriert, eine neue Aventure des Helden: ,Ie IIzbourage de Renart'l. Sieht man nun aber genauer zu und bemüht man sich, den Text nicht einfach aus der retrospektiven Perspektive des variantenveraleichenden Philologen, sondern auch aus der prospektiven Erwartung des damaligen Publikums zu verstehen, das auf eine Fortsetzung des Renart-Abenteuers gespannt war, so wird evident, wie auch hier eine scheinbar nur wiederholende Bearbeitung des Plaid die Spannung einer Fortsetzung, und das heißt für diesen Fall: den besonderen Reiz des unter neuen Bedingungen wiederaufgenommenen Prozesses gegen Renart erlangen konnte. Dieser Aspekt einer italienischen Replik auf die vorbildhafte französische Tradition geht aus verschiedenen Abweichungen von den französischen Quellen hervor, bei denen zualeich ein erheblicher historischer Ablltand fühlbar wird. Wir können dabei die feineren Unterschiede vernachlässigen, die in dieser Hinsicht zwischen den heiden Redaktionen bestehen, und uns auf den Hinweis beschränken, daß der Verfasser der Redaktion von Udine ausdrücklicher und enger an eine vorausgegangene Tradition anknüpfte und sich häufiger auf von dort her bekannte Episoden zurückbezog als es der Verfasser der Redaktion von Oxford für notwendig hielt, dessen Bearbeitung im Ganzen gesehen von der gemeinsamen Quelle oft schon einen weiteren Schritt abgerückt ist. Der Hahn Cantacler ist in Rainaldo e Lesengrino, in einem auffälligen Widerspruch zu der Ankündigung des Titels, als Hauptankläger vor den Wolf Lesengrin gerückt. Darin haben Sudre und Gaston Paris zu Unrecht einen archaischen Zug sehen wollen. Denn in der ältesten Tradition des mittelalterlichen Tierepos tritt ja der Hahn noch gar nicht als Kläger vor dem Hoftag auf. Dort steht der Antagonismus von Fuchs und Wolf noch ganz im Mittelpunkt. Der schon klassische Antagonismus der gue"e qui tant tu dure de grant /in entre Renart er 2 Zitiert wird der Text der Redaktion von Oxford nach der Auspbe von O'Asco Silvio Avalle, in: Poeti dei Due~,.to. a cura di G. Contini.t. 1, Milano-Napoli 1960,811-841.
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Ysengrin (Roman de Renart 11. 10) hat in Rai1'Ulldo e Lesengrino offensichtlich an Interesse verloren. Zwar wird der Fall der Wölfin im Plaid noch als ein Nebenthema behandelt. Doch die große Feindschaft von Fuchs und Wolf ist auf dem Rezeptionsweg von Frankreich nach Italien so sehr verblaßt. daß die dereinstigen Widersacher auf Leben und Tod in der Redaktion von Oxford ein Bündnis gegen die Ziege eingehen können. als ob sie sich nie ewige Feindschaft geschworen hätten. Und wenn der Verfasser der Redaktion von Udine an dieser SteUe noch beiläufig an die unvordenkliche Feindschaft erinnert. so verstößt andererseits gerade seine Lösung gegen eine implizite Spielregel der klassischen Form der Gattung und kennzeichnet ihn als Epigonen. Er läßt Lesengrino in dieser Aventure den Tod finden. als ob die Helden in der ganzen Geschichte des französichen Tierepos nicht dank ihrer Einzigartigkeit sich einer zyklischen Unsterblichkeit erfreut hätten. und setzt damit ihrer traditioneUen Feindschaft ein abruptes Ende. Das Verfahren. ein traditionelles Nebenthema. wie hier die Klage des Hahns. in den Mittelpunkt zu rücken und ihm eine überraschende Bedeutung zu geben. ist für die literarische Technik eines Epigonen jenseits einer Rezeptionsschwelle typisch. Das zeigt auch die Behandlung eines anderen traditionellen Nebenmotivs. der Treue des Gevatters Grimberto li tason. das nunmehr zu einem Hauptmotiv ausgesponnen wird. In der vorausgehenden französischen Tradition tritt der Dachs erst als dritter und letzter Bote auf, dem es gelingt, den Frondeur zu bewegen, endlich vor seinem Feudalherrn am Hofe zu erscheinen. Der italienische Verfasser, der an der feudalrechtlichen Problematik der dreifachen Ladung offenbar nicht mehr interessiert war, hat auf die ersten beiden Boten verzichtet und dafür den dritten Botengang episch ausgebaut: nun wird das verwandtschaftliche Band zwischen Dachs und Fuchs über die J:reundestreue bis zum Komplizentum weitergesponnen. Was Rainaldo letztlich dazu bringt, vor dem Hoftag zu erscheinen. sind nicht mehr feudalrechtliche Gründe, sondern allein noch das sentimentale Motiv, daß er seinerseits dem Freunde, der sich für ihn verbürgt hatte. die Treue wahren will. Rainaldo ist nicht mehr der frondierende Vasall, Grimberto nicht mehr der nach beiden Seiten loyale Gevatter, sondern der Komplize des Schelmen, gewitzt genug, um im vollen Vertrauen auf die höhere Vernunft ihrer List: .. Oe co no sia in ti rancura ehe nui semo si savi de scritura E si doti in Ja rason, Che, s el torto fose de nui, Bein saveremo nui si far Ch el pleido avere vadqnar.'"
vor die Schranken zu treten und dann auch als Wortführer die erste Klage des Wolfes allein abzuweisen. Die Art und Weise, wie hernach der Fuchs dem schwierigeren Dilemma der Klage des Hahns allein durch seine Rhetorik zu entgehen weiß, überbietet die französischen Variationen seines Entkommens durch ein besonders kunstvolles und originelles Beispiel. Diese Szene, in der sich schon das neue Ideal einer virtü delle parole ankündigt, beruht auch auf einer neuen Stufe der Reflexion 3 Redaktion von Udine, v. 156-161, zitiert nach der Ausgabe von E. Martin, Le romllll de RelflUt, 11, Strassbourg 1885, p. 361 sq.
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über die von der Gattung des Tierepos geforderte Analogie zwischen dem Reich der Tiere und der Ordnung der menschlichen Gesellschaft. Das Tierepos des XII. Jahrhunderts hatte diese Analogie so aufgefaßt, daß in den einzigartigen Repräsentanten der Tierwelt die menschliche Natur in der Sonderung ihrer Eigenschaften und Schwächen, so zum Beispiel in den epischen Tierfiguren Chanteclers, Tiecelins, Druns und Renarts das Wesen des Stolzen, des Eitlen, des Prahlers und des Listigen zum Vorschein kam. Diese Typenwelt von Charakteren stellte sich nach der Ordo-Vorstellung der feudalen Welt als eine Gesellschaft von gleichberechtigten Einzelwesen dar, in der jede Tiergattung durch ein einziges, durch einen Personennamen individualisiertes Exemplar und gelegentlich noch durch sein weibliches Gegenstück (Ysengrin und Hersente, Chantecler und dame Pinte) vertreten war. Dieses Prinzip der ,Einzig-ArtilJceit' der Tierfiguren und die darauf beruhende Ordnung im Feudalreich der Tiere wird in Rainaldo e Lesengrino nicht zufällig durchbrochen, sondern eigens durch die Argumentation Rainaldos in Frage gestellt. Hier erscheint auf dem Hoftag nicht mehr der Hahn Chantec1er, sondern Un Cantac1er molvolenter (g 11), oder Li Cantac1er orden segra (i 55). Aus dem singularen Personen namen ist, wie schon die sprachliche Fügung anzeigt, ein allgemeiner Gattungsname geworden. Und hinter dem klageführenden ersten Cantacler tritt alsbald ein namenloser zweiter (quel eh 'era Mvrci e Silnguenent, v. 43) hervor, das Opfer der letzten Missetat Rainaldos. Doch damit nicht genug: hinter den beiden steht eine weitere Vielzahl von Hähnen auf, deren morgendlicher Schrei die Stunde der Mattine anzeigt und die sich darum - hier folgt der Text einer alten Tradition geistlicher Dichtung - dem ,heiligen Orden' zurechnen. Die neue Klage des Hahns betrifft in der italienischen Replik auf den französischen Plaid demnach nicht mehr den Obergriff eines Vasallen an einem gleichberechtigten Vasallen, sondern ein Sacrileg, dessen Ausmaß alle bisherigen Schandtaten überbieten soll. Damit ist aber auch die Einheit des alten Reiches der Tiere als einer feudalen Ordnung gleichberechtigter Wesen aufgehoben, wie Rainaldo nunmehr in seiner Verteidigung deutlich macht. Seine rhetorische Glanzleistung liegt darin, daß er die Metaphorik der geistlichen Funktion des Hahns aufnimmt und unerwartet konsequent zu Ende führt. Wenn Cantac1er für sich in Anspruch nehme, Mitglied eines geistlichen Ordens zu sein, so gehöre er damit einer Kirche an, die für Rainaldo und die Seinen nicht zuständig sei. Denn: nu semo beltie et el olello, el la volar eben e bello. Wenn darum Rainaldo in diese Kirche, sprich: den Hühnerhof kam, so nicht aus dem Grunde, um dort die Mattine zu hören, sondern um dort seine Nahrung zu finden. Derselbe Gott, der die Gattung der Hähne dazu bestimmte, Offizien und Mattinen zu sing~n, habe die Gattung der Füchse so geschaffen, daß sie sich von Hähnen ernähren müsse·. Mit dieser
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a. red. d'Oxford, v. 349-361: e srve digo bell, meser, ehe no vosi uneha in glnie entre[ per mesa ne per maitin scolter, se no se ~ per grasa plina 0 per ehapon prendere. Non ao grida, ~ntü signor, ehe volese scoltar se ore, ehe i no de nostra riligion
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nu semo bestie et el osello;
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Reflexion über seine Natur und die von Gott so bestimmte Weise seiner Ernährung, die Rainaldo zum Freispruch verhilft, wird zugleich eine implizite Voraussetzung der Fiktion des klassischen Tierepos hinfällig. In dieser Fiktion eines Reiches der Tiere spielte sich das Leben der Tiere ab, als ob ihr Verhältnis zueinander nicht von ihren natürlichen Lebensfunktionen, sondern von feudalen Beziehungen bestimmt wäre. Die Klage des Hahns wurde im Plaid verhandelt, als ob es sich um einen willentlichen, der Freiheit des Handeins entsprungenen Oberbegriff eines ,baron' und nicht um das zwangsläufige Verhalten eines nahrungssuchenden Fuchses gehandelt habe. Die Verteidigungsrede Raina~ dos ist unwiderlegbar, weil sie an diese bisher fraglos hingenommene Spielregel ruhrt und damit die fiktive Einheit aller Wesen im Reich König Nobles zunichte macht. Soll diese Einheit der alten Welt noch einmal hergestellt und ihr gefährdeter Friede gewahrt werden, so gibt es nur einen Ausweg: das Urteil König Nobles verpflichtet Rainaldo, einen ,anderen Berur zu ergreifen, nämlich sich durch seiner Hände Arbeit, als ,Renart laboureur', sein Brot ehrlich zu verdienen. Die neue Konklusion, die der Verfasser von Rainaldo e Lelengrino dem Plaid gegeben hat, zielt in mehrfacher Hinsicht darauf ab, die lange Geschichte des Renart-Zyklus zu einem Ende zu bringen. Hier wird der Fuchs durch das Urteilzuguterletzt genötigt, seine traditionelle Natur aufzugeben und gleichsam außerhalb der feudalen Gesellschaftsordnung zu leben. Sein Einwand, er sei zu alt, um noch ein anderes Handwerk zu lernen (no voil meltier, I trop Ion vetran, nol pOl durer)' ist wiederum der typische Einfall eines Epigonen. In der klassischen Periode des mittelalterlichen Tierepos war Renart wie alle Tierfiguren alterslos, ohne Vergangenheit und Zukunft. Der Versuch der Epigonen, nun auch Jugend und Alter des Helden darzustellen, konnte nicht weiter führen, als einen ersten und einen letzten Schelmenstreich Renarts zu erzählen, der das Typische seiner zeitlosen Natur nur ein weiteres Mal zu bestätigen vermochte. Auch die letzte Aventure in Rainaldo e Lelengrino hat der Geschichte Renarts kein definitives Ende gesetzt: Rainaldos Verwandlung in Renart le Itzboureur mußte unweigerlich zu einem weiteren Rückfall in das Unentrinnbare seiner Natur führen. Seine elegische Klage über die Mühsal der Arbeit, die wie ein Leitmotiv alle Episoden der Aventure mit der Ziege durchzieht, macht die Unvereinbarkeit der alten feudalen Welt mit dem unheroischen Ideal des modemen Erwerbs sichtbar. Zwar ist es ihm beschieden, wie sein alter Widersacher Lesengrino in dieser Aventüre den Tod zu finden. Doch wird der Listenreiche in der Situation der Arbeit, die für ihn eine verkehrte Welt ist (auf dem Rücken liegend wird er von der Ziege als ,Egge' über das Feld gezogen, i 474 sq.), um den Lohn seiner MUhen betrogen. Die fleißige Ziege erweist sich in der modemen Welt der Arbeit der Schelmenfigur aus der Feudalzeit überlecl sa volar e ben c beUo. E' no me reeordo in ncsun tempo ehe vu me fisi eomandamento, se Deo mc de ehc poti prendere, ehc no dovese amen asio rendere. 5 Red' d'Udine, v. 353 5.; cf. red. d'Oxford, v. 341 5: mo sonto veclo, no posso ander, eh'c' 0 ben doxento agni passe.
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len. Und wenn der hochbetagte Rainaldo noch einmal entkommt, lescheht dies um den Preis, daß der Held des mittelalterlichen Tierepos in seine alte Welt zurOckverwiesen wird, die von nun an als eine nicht mehr aktualisierbare üterarische Fiktion in den femen Horizont einer ableschlossenen Verpngemeit entlOckt bleibt.
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IV.
LES ENFANCES RENART
Ce fu des anfances Renart. Tant aprist puis d'angin et d'art, Que il en fist puis maint ennui Et a son onele et a autrui.
So beendet um 1250, rund siebzig Jahre nachdem Pierre de Saint-Cloud um 1176 das zuvor nie gehörte Thema von der guerre, qui tant tu tlu1'e tle g1'ant {in, ent1'e Renarl et Ysengrin (11 10-12) angeschlagen hatte, ein Epigone die Branche XXIV, eine der letzten im Corpus des Roman tle Rena1't 1. In dieselbe Zeit gehört auch wohl der entsprechende Einfall eines anderen Epigonen, der in Branche XXVII - dem franco-italienischen Rainaltlo e Lesengrino - einen altgewordenen Fuchs vor dem Hoftag des Löwen erscheinen lässt. Angesichts dieser letzten Ausläufer in der zyklischen Geschichte der Renart-Branchen liegt es nahe, an eine Nachahmung der Chanson tle Geste zu denken, in der das Thema von der Jugend und vom Alter des Helden ja gleichfalls erst nachträglich, in der Spätphase der Zyklisierung ergriffen wird. Das Vorbild der epischen Zyklisierung mag in der Tat dem Schreiber oder Sammler der Handschrift C (= M, n) vor Augen gestanden haben, der seine Redaktion mit den Entances Renarl einsetzen liess, die weiteren 21 Branchen in eine fortsetzungsartige Reihenfolge brachte und sodann diesem Zyklus mit Branche XVII, die vom Scheintod Renarts berichtet, eine Art von Abschluß gegeben hat I. Doch I Zitiert wird nach folgenden Ausgaben (und Abkürzungen) RdR = L. Roman tk R.na"'. ed. E. MARTIN. t. 1-111. Strassburg 1882-1887; mit römischer Ziffer wird die Nummer der Branche (= Br.). mit arabischer die Venzahl angegeben. RF .. Das ...ilUlllOcluüulscM GMliclal vom Fuchs R.inlaa"'. ed. G. BAESECKE. 2. Auft. von I. SCHRÖBI.BR, Halle 1952 (AlltkulscM T'KlbibliolMk Nr. 7). VR Van tlna Vos RtI)'7UUf'ä., I. Texten. ed. W. Gs. HELLINGA. Zwolle 1952 (zitiert wird nach der Comburger Redaktion A; franzOsisc:he Obersetzung nach F. CLOSSET. joyauK tk la lilU,.alu,.. flamaNtU du "'0)1'" 4,•• Bruxelles 194!J). Zur Datierung von Br. XXIV vgl. L. FOULET, L. RomaN tk R",a,.d. Paris 1914 (Bibliollalqu. tk l' ~co" tks Hauus elutüs, fase. 211), p. 96 : • ven 1250 .... peut-ftre beaucoup plus tard encore a. I Siehe Vf .. UNUrSUCIaUN,'" .,.,. ...ilUlalUrlicMN Ti.,.dicllluN" Tübingen 1959 (Beihefte zur ZRP, 100. Heft), pp. 242 Bq.
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H. R. Jauss
war auch mit dieser geschickten Manipulation eines ordnungsliebenden Geistes aus der Reihung selbständiger Schwänke weder eine episch geschlossene Handlungsentwicklung, noch auch nur eine zusammenhängende Vita Renarts zu gewinnen. Wie alle Tierfiguren erscheint auch der Fuchs im Roman de Renart ein für alle Mal durch seinen Artcharakter geprägt und bleibt auch als epische Person allem Werden und Sich-Verändern entrückt, wie gerade dort deutlich wird, wo ihm einmal die Rolle erster Jugend oder hohen Alters zugefallen ist. Die Ähnlichkeiten zwischen der zyklischen Form des Tierepos und der Chanson de Geste bleiben darum rein äusserlich, auf gelegentliche Nachahmung oder ironische Anspielungen beschränkt. Sieht man genauer zu, so zeigt sich, dass der Zyklus der RenartBranchen seinem eigenen Bildungsgesetz folgt: das sogenannte Tierepos ist nicht an sich selbst episch, sondern nur dort, wo es satirisch oder ironisch auf das Heldenepos Bezug nimmt 1. Nie ist ein Epigone auf den Gedanken gekommen, das Thema der grossen Fehde zwischen Renart und Ysengrin episch mit der Geschichte ihrer Vorfahren und Nachkommen weiterzuführen. Und wo im Roman de Renart die Frage nach der Vergangenheit der Hauptfiguren gestellt und vom Erzähler beantwortet wird, haben diese Vorgeschichten eine verschiedene Funktion. Sie setzen nicht selbständig in der epischen Richtung des Geschehens ein, um die Hauptfabel nach rückwärts zu verlängern, sondern gehen ganz beiläufig aus einem ironischen Ansatzpunkt hervor und tauchen dann immer wieder neben der Hauptaventüre Renarts als ein burleskes Seitenthema auf, das in der Geschichte des Renart-Zyklus nur der deutsche Nachdichter Heinrich der Glichezäre einmal ernst genommen und als selbständige Episode seiner Hauptfabel eingefügt hat. Die Darstellung der En/ances Renart in Branche XXIV ist darum nur als ein letzter epischer Ausläufer dieses Seitenthemas anzusehen. Die Art und Weise, wie es in den ältesten französischen Branchen zu den Vorgeschichten von Renart, Hersent und Ysengrin kommt und wie diese von einem Erzähler zum anderen als • Garn' weitergesponnen werden, ist besonders lehrreich für die eigentümlichen Erzähl- und Variationsformen des Renart-Zyklus. Zu diesen Variationsformen gehört auch die letzte Umformung der Hoftagsbranche in ihrem italienischen Ausläufer, Rainaldo e Lesengr1'no, ein Text, der uns neben Renare li viez I in seiner zweiVII. ib1d. Kap. IV D : Der Ge,e,utJJz z",r Helde"did,u", ",,,d die Parodie der Li.b. i" BrtUICM 11- Va (pp. 219-239). • Auf diese Formulierung, die sicb schon lange vor Rai"aldo e LeseJlgrirao in französischen Branchen findet, komme ich am Ende der Untersuchung noch zurück. I
l~flS'M"
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!Ps enfa nces Renart
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ten Episode, Renart laboureur, noch ein weiteres Beispiel für ein typisches Verfahren der Epigonen: die Umkehrung klassischer Motive, vor Augen stellt. Ich kann hierzu auf eine vorangegangene kleine Abhandlung verweisen 1 und lasse nun auf das Thema des alten das des jungen Renart folgen, als einen Gegenstand, der uns aus Italien nach Belgien und zugleich in die En/ances des verehrten Jubilars zurückführen wird a.
••• Die Frage einer Vorgeschichte der Hauptfiguren des Roman de Renart hat die bisherige Forschung vornehmlich im Zusammenhang mit dem Problem beschäftigt, ob der nach 1182 entstandene deutsche Reinhart Fuchs altertümlicher sei als der auf uns gekommenc altfranzösische Text und darum eine (verlorene) ältere Fassung des Roman de Renart voraussetze. Im Tierepos des deutschen Nachdichters (der glichesere her Heinricll) geht der Fehde vom Fuchs und Wolf, die Pierre de Saint-Cloud zum epischen Anfang ihrer großen Feindschaft gemacht hatte, eine Episode freundschaftlicher Beziehungen zwischen den beiden Gevattern voraus (RF 385550). Diese Episode hatte vor allem Carl Voretzsch als ein gewichtiges Argument für eine höhere Altertümlichkeit des Reinhart Fuchs angesehen. Da eine selbständige Episode der friedlichen geselleschaft von Fuchs und Wolf im Roman de Renart fehle, andererseits dort aber einige Spuren zu finden seien, «dass Fuchs und Wolf vor Eintritt der Feindseligkeiten wirklich einmal Freundschaft schlossen 11, bestehe kein Zweifel mehr, dass der deutsche Dichter hier ce nicht erfunden », sondern aus einer postulierten älteren französischen Vorlage geschöpft habe s. Lucien Foulet, der gegenüber Voretzsch die Originalität der erhaltenen Renart-Branchen mit guten Gründen verfochten hat, ist gerade über diesen Punkt ohne überzeugende Argumentation hinweggegangen c. Die offen gebliebene I Une tran.~!(Wmalion tardive de l'lpople animale : Rainaldo e LesIfIgrino, in Cull"ra Neolali"a 21 (1961), pp. 214-219 (die dort p. 214 in Anm. angekündigte, ursprünglich für die ZRP vorgesehene Veröffentlichung wird durch den vorliegenden Beitrag ersetzt). • M. DELDOUILLE, La composili01l du ' ReiftGerll' : ArnouI, Willem eI 'e 'RomaPl de Rlflarl' !ra"fais, in Revue beige de pllil. el d' IIisl. H (1929), pp. 19-52. I C. VORETZSCH, Der Rei"IIarl Fuclls UM der Roman de Re"arl, in ZRP 15 (1891), p. 162. • • Le trouv~re fran~ais eQt sans doute trouve pareille sc~ne un peu naive: Tout en expliquant l'origine de l'inimitie qui divise les deux barons, il D'a garde de jeter trop de lumi~re sur les temps tranquilles qui sont censes avoir precede : on apeine ~ se ligurer un moment ou Renard n'ait pas songe ~ duper Isengrin, et Pierre de Saint-Cloud joue beaucoup du 'comperage' sans le prendre trop au serieux. op. eil., pp. 429-430).
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H. R. Jauss
Frage, ob die friedliche Vorgeschichte der beiden Antagonisten im Reinhart Fuchs als ein archaisches Element der Fabel oder als eine Erfindung des deutschen Dichters anzusehen ist, hat in der älteren Forschung unausgesprochene Vorurteile über das 'Archaische" bzw. über das 'Folgerichtige' einer epischen Fabel zum Hintergrund. Die kontroverse Frage löst sich indes von selbst auf, sobald man sich von der dogmatischen Vorentscheidung freimacht, dass die Hervorbringung eines r remanieur' entweder als Entlehnung oder als Erfindung zu erklären sei, und erkennt, dass es zwischen blosser Nachahmung und freier Erfindung noch Variationsformen zyklischen Erzählens gibt, von denen sich die positivistische Quellenforschung nichts träumen liess. Untersucht man alle Ansätze, die sich im gesamten Zyklus auf eine mögliche Vorgeschichte von Fuchs, Wolf und Wölfin beziehen, im zyklischen Fortgang, d. h. in der Folge, in welcher das Publikum des XII. und XIII. jahrhunderts wahrscheinlich die RenartBranchen aufnahm, so ergibt sich in der Tat ein immer weiter ausgesponnenes Seitenthema, das genetisch zusammenhängt und auf den ersten Blick eine überraschende Eigenheit erkennen lässt: mit der einzigen Ausnahme des deutschen Reinhart Fuchs (vv. 385550, 1217-1255) stehen alle Ansätze zu einer Vorgeschichte der Hauptfiguren unter ir 0 ni s c h e n Vorzeichen! Solche Ansätze finden sich im Kontext einer zweideutigen Werbungssituation (RdR II 1089), der Verteidigungsreden Hersents (RdR Va 335-345, I 159171) oder fragwürdiger Bekenntnisse Renarts (RdR I 1029-1096, VIII 114-157; VR 1435 sq., 2069-2082). Von « Spuren 11 zeitlich vorangegangener Ereignisse der Hauptfabel kann in den ältesten französischen Branchen keine Rede sein. Denn was wir hier von den Enlances Renarts und Hersents hören, spielt sich von vornherein auf der Fiktionsebene ad hoc erfundener und geschickt vorgebrachter Argumente, im schwankhaft··verfänglichen Rahmen einer Dreieckssituation der erst voreinander und dann vor dem Hof König Nobels kompromittierten Hauptpersonen ab. Und wo diese Ansätze in späteren Branchen zu einer Art von jugendgeschichte Renarts ausgeführt werden, erscheint diese wiederum in der ironischen Brechung einer Lebensbeichte des nur zum Schein bussfertigen Schelmen, einer Form der Parodie also, die als solche verstanden sein will und darum nicht einfach für ein archaisches Relikt der epischen Fabel, bzw. einer verlorenen Vorgeschichte der Feindschaft von Fuchs und Wolf genommen werden darf. Die möglichen Ausgangspunkte für den post festum ausgesponnenen kleinen r Roman' zwischen Renart und Hersent sehen wir in den Szenen, die Pierre de Saint-Cloud zu einer sublimen Parodie
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Les enfances Renart
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der höfischen Liebe gemacht hat: dem Besuch des Fuchses in der Wolfshöhle und der Verhandlung, die vor der C014r des Pairs über dieses befremdliche Minne-Abenteuer geführt wird. Diese Szenen bringen bekanntlich die im Prolog versprochene erstmalige Enthüllung des wahren Anlasses, aus dem der ewige, im Ysengrimus wie in der llteren Tradition immer schon im Gang befindliche Streit zwischen Fuchs und Wolf hervorgegangen sein soll (11 21-22). Hier könnte man erwarten, dass Pierre de Saint-Cloud auf eine frühere und friedliche Phase vor dem Ausbruch der Feindschaft zurückgeht und damit vielleicht auch den Anfang der gleichfalls vorgegebenen Gevatterschaft nachholt (wie es später der stets folgerichtige deutsche Nachdichter in der Tat auch für notwendig halten wird). Doch nach der erneuten Ankündigung: La li avint une aventure, De quoi li anuia et poise. Car par ce commenca Ja noise Par mal pechie et par d yable Vers Ysengrin le connestable
(11 1032-1036).
spielt sich die nun folgende Szene, obschon sie den ersten Anlase; des nie erlöschenden Streites bringen soll, nach wie vor so ab, als ob Renart nicht einfach in die Höhle des Wolfes, sondern unversehens in die Behausung seines Feindes geraten sei (qu'il se t,.014va enmi 14 sale da," Ysengri" sem anemi) 1. Dieser Umstand ist keineswegs nur eine Ungereimtheit, die besser zu beseitigen wäre. Die Vorstellung vom unüberwindlichen Hass der beiden Gevatter ist für Pierre offenbar so fest in der Tradition und auf dem naturhaften Gegensatz ihrer Charaktere gegründet, dass er gar nicht daran denkt, noch weiter als bis zu dem unmittelbaren Anlass für ihren offenen Streit zurückzugehen. Dieser Anlass - der verwickelte Kasus des Ehebruchs von Hersent und Renart - hat in der Darstellung der ältesten französischen Branchen li-Va den unüberwindlichen (und darum anfangslosen) Hass zwischen Fuchs und Wolf wiederum zur Vorbedingung. Denn das auf den ersten Blick befremdliche Verhalten Renarts in der Wolfshöhle : da..'is er erst dame Hersent den Hof macht und sodann, nachdem er ihre Gunst genoss, die Wolfsjungen besudelt und beschimpft z, wäre ohne die Voraussetzung, dass I RdR 11 1042 Bq. ; vgl. ferner vv. 1063 sq. (,,'0$41 moI dirt, I,,,., u tloNU: car Ysnagri" ,.. l'tJiwae gOlde). • Auch FOULET sah darin einen Mangel in der Darstellung der Brauche 11, vgl. p. 136: • Ce n'est pas que m~e alon la sc:Ue devienne tns vrai8emblable. 11 est un peu dkon.:ertant de voir Renard faire Ja cour" Ja mm et .-.-r les petit. presque en ml:me temps .•
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H. R.
Jau~s
Renarts Liebeswerben der Gattin des gehassten Ysengrin gilt, nicht schlüssig zu erklären. Aus diesem Hass kann nunmehr Renart sein wirkungsvollstes Argument ahleiten, um Hersents Gunst zu erringen und damit Ysengrin die schlimmste Niederlage beizubringen. Anf den provozierenden Vorwurf Hersents, warum er seiner Gevatterin immer aus dem \Veg gegangen sei (onques ne me vousistes bz·en faire, 11 1070), bringt Renart vor, Ysengrin habe das aus Eifersucht zu verhindern gewusst Je vous ains, ce dist, par amors. 11 en a fait maintes clamours Par ceste terre a ses amis, Et si leur a avoir promis Pour moi faire laidure et honte
(11 1089-1093).
Kein Argument hätte trefflicher erfunden sein können, um den Fuchs aus seiner Zwangslage in der Höhle seines Feindes und gegen. über der ihm an Körperkraft überlegenen Wölfin zu befreien, wie der Fortgang zeigt. Denn daraufhin kehrt Hersent den Spiess um und nimmt sich unverzüglich Renart pottr ami, um den bisher ohne Grund eifersüchtigen Gatten angemessen zu bestrafen 1. Die feinere Pointe liegt hier darin, dass Hersent Renarts Worte für bare Münze nimmt und sich durch ihre direkte Einwilligung selbst zur betrogenen Betrügerin macht. Diese Pointe wie überhaupt der ironische Sinn der ganzen Schwankszene ginge verloren, wollte man in dem Satz: Je vous ains, ce dist, par amors, nicht eine subtile List Renarts, sondern die bare Wahrheit über eine sonst nicht erhaltene Vorgeschichte sehen. Das schliesst natürlich nicht aus, dass mit dem so folgenreicheIl Satz ein gewisser Anreiz gegeben war, die Lüge Renarts zu einer Liebesgeschichte von Fuchs und Wölfin weiterzuspinnen. Auf diesen Einfall lässt Pierre de Saint-eloud im zweiten Teil seines Werkes ganz folgerichtig die einzige Person kommen, die diesen Satz hörte und sich durch ihn täuschen liess : Puis cele ore que fui pucele M'ama Renars et porsivi: Et je li ai toz jors foi, Onques ne me veil apaier Arien qu'il me vousist proier. Et puis que j'oi pris mon segnor, Me refist il enchauz gregnor. I Zu dieser parodistischen Umwendung eine5 höfischen Motivs siehe Vf., Unlersuclumgen .. , p. 230 sq.
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Les enfances Renart Mes je nel voil onques atendre. Ne ainz mes ne me pot sorprendre Des q'a l'autrer en une fosse ...
2U7
(Va 336-345).
Es ist Hersent selbst, die - eine Lüge ist der anderen wert in einer peinlichen Verhandlung vor dem Hoftag als einzige Zeugin Ysengrins ihre LTnschuld zu erweisen hat. Zu diesem Zweck weiss sie mit einer Geschichte aufzuwarten, die bis in ihre sittsamen Mädchenjahre zurückreicht und ihre so lange gegen den Verführer bewahrte, am Ende aber allein durch eine verruchte List doch geschändete Ehre in das hellste Licht rückt. Dass Hersent dabei die für sie weniger ehrenhafte Episode in der \Volfshöhle unterschlägt, ist das Signal. das den gewitzigten Leser sogleich das Unglaubwürdige ihrer Geschichte durchschauen lässt I. In der weiteren Verhandlung hat sie dann auch eine von Hersent keineswegs beabsichtigte Wirkung: der König Noble legt sie ironischerweise zugunsten des Angeklagten aus ('Ce', fat"t i/, 'qfle Renars l'amot, le quitte auqucs e son pechie " v. 436 sq.) und bringt die Norm des amour courtois in einer \Veisc gegen den unglaubwürdigen Ehebruch ins Spiel, die den Fall für die feudale justiz unlösbar macht 2. Der Verfasser von Branche I, der die Fabel von Pierre de SaintCloud wieder aufgreift, um dem Plait gegen Renart den fehlenden Schluss zu geben, hat es sich nicht nehmen lassen, auch den Enthüllungen der Wölfin ein neues Blatt hinzuzufügen. Er lässt Hersent den sentimentalen Roman ihrer jugendzeit mit der Ausmalung des rauschenden Festes fortsetzen, auf dem vor zehn jahren ihre Hochzeit mit Ysengrin gefeiert worden sei: Foi que je doi Pincart mon fil, Oan le premer jor d'avril Que pasques fu, si con or sist, Ot dix anz qu'Isengrin me prist. Les naces furent molt pleneres: Que les fosses et les lovieres Furent de bestes totes pleines, Voire certes si qu'a grant peines Peüssies tant de vuit trover Ou une oe poüst cover. La devin ge loiale espose, Ne m'en tenes pas amentose
(I 159-170).
1 Selbst VORETZSCH, der sonst immer so sehr auf eine Ehrenrettung der Wölfin bedacht ist, räumt hier ein, • dass in Branche Va Hersent etwas aufschneidet, um vor versammeltem Hof ihre Unschuld ins hellste Licht zu setzen. (ZRP 15, p. 163). I Zum kasuistischen Problem des Prozesses in Branche Va siehe Vf., Unursuc/aunge" ... , p. 2:14 sq. ; das Argument: Se Renarl li fist par a".ors ,,'i afiert ire ,.. clamors macht sich in Branche I (v. 111 sq.) und später auch in VR (v. 235 sq.) der Dachs als Fürsprecher Renarts zunutze.
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298
H. R. Jauss
Wie zuvor mit der Rückschau auf die Sittsamkeit ihrer Mädchenjahre, so versucht Hersent nun mit der Erinnerung an das glanzvolle 'gesellschaftliche Ereignis ihrer so ehrenreichen Eheschliessung den Beweis ihrer Tugendhaftigkeit zu erbringen - mit Hilfe von Abschweifungen also, die ihr dummdreistes Wesen virtuos zur Schau stellen und am Ende in dem zweideutigen Schwur gipfeln, mit dem der Erzähler den wahren Charakter dieser loia.le espose (v. 169) mit einer satirischen Spitze gegen die Klöster entlarvt: I
One, foi que doi sainte Marie, Ne fis de mon cors puterie Ne mesfet ne maveis afere Q'une none ne poist fere
(I 175-178).
Den Bekenntnissel ~pr Wölfin folgen in derselben Branche die des Fuchses. Vor dem gefährlichen Gang zum Hoftag, zu dem ihn Grimbert der Dachs überredet, legt Renart ein volles Geständnis seiner Sünden ab (I 1017-1093), das er mit den Worten beendet: Or me repent, dex moie coupe I Or voil venir a repentanche Oe quanque j'ai fet en m'enfanche
(I 1094-1096).
In dieser scheinbar bussfertigen Formulierung seiner Reue findet sich zum ersten Mal in unseren Texten die Wendung von den EnlatJces Rena"t. Wie nicht anders zu erwarten, ist auch hier der Satz: De quanque l' ai let en m' enlancJae rein ironisch gemeint. Denn Renarts Sündenkatalog beginnt keineswegs bei den Verfehlungen seiner Jugend, sondern mit dem Geständnis, dass man auf dem letzten Hoftag (= Br. Va) zu Recht an Hersents Unschuld gezweifelt habe (vv. 1030-1036), und schildert sodann mit selbstgefälligem Behagen die lange Reihe von Streichen, die er Ysengrin wie auch Tibert und anderen spielte. Mit der abschliessenden Wendung: 'er bereue, was immer er in seiner Jugend getan habe", will Renart zu verstehen geben, wie weit er nach seiner Beichte nun schon von diesen Missetaten abgerückt sei, um aber gleich danach, auf dem Wege zum Hof, beim ersten Anblick von Hühnern wieder rückfällig zu werden (cf. v. 1168: je l'avoie oblie). Die damit geschaffene Form der Sc hel me n bei c h t e war sowohl zur epischen Rekapitulation wie zur Parodie der christlichen confessio peccati oder auch von Mustern der CluJnson de Geste vorzüglich geeignet; sie ist in späteren Branchen mehrfach übernommen und variiert worden 1. Für ihre Beliebtheit spricht, dass sie auch in einem anderen Text, dem Chevalier au ba"izel, als Beispielfall zitiert wird: I In RdR VIII 113-157. VII 3 .. 3-8.... (pervertiert in die groteske Beichte da I.,h,ew) und VR 1435-1690. 2061-21:i8.
(138)
Les enfances Renart
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C'est 1a confessions Renart Qu'il äst entre lui et l'escoufte: Tels confesse chiet a un soufle I •
Hier haben wir den klassischen Fall eines Sprichworts in statu nascendi: ein einprägsames. zu bildhafter Kürze zusammengezogenes Motiv des so verbreiteten Tierepos -14 con/ession ReM" - erlangt mit dem gnomischen Satz: Tels con/esse ckiel a un S0t4{le sprichwörtliche Bedeutung I. Die Wahrheit der con/ession ReM"dass manch einer reuevoll beichtet, der hernach gleich wieder rückfällig wird - bestätigt sich wohl am schönsten in der humorvollen Darstellung der Branche VIII, wie Leo Spitzer in seiner unvergesslichen Deutung ihres Grundmotivs ReM" repentant gezeigt hat 3. Für unseren Zusammenhang ist hervorzuheben, dass der Verfasser dieser Branche den bussfertigen Renart vor einem Eremiten ein Sündenbekenntnis ablegen lässt, das nun schon mit den Verfehlungen der Jugend beginnt und offensichtlich die biographische Fonn der christlichen Lebensbeichte nachahmt: Qant j'ere bachelers legiers, Volentiers jelines manjoie En ces haies ou jes trovoie. Jes tuoie par traison, Ses mangoie conme glouton. A Ysengrin pris conpaignie: Qant je Ii oi ma foi plevie De leaument vers lui errer, Par amor Ii fis esposer Hersent 1a bele ma seror. Mes ancois que passast tiers jor Li rendi je maveis loier. Car jel fis moigne en un moster (VIII 114-126).
Hier ist das Thema der En/ances ReMrt zum ersten Mal einen Schritt hinter die traditionelle Feindschaft von Fuchs und Wolf, 1 Ed. ScHULTZ-GORA, Halle 1899, vv. 130-32; von FOULET, op. m., p. 499, irrtümlicherweise auf die COft/ßssiOft Rnll'" in Branche VIII statt in Branche VII (l'ueoufl. I) bezogen. • Wie in den Prov.rbßs "" Villli" auf ein erll.utemdes Beispiel das Sprichwort folgt, so verhilt sich in der Stelle aus dem CllntJli.,. CI" Bcarizßl die von dem gottverachtenden Ritter zitierte etm/.ssiOft RtIfIIIt'I (vv. 130-131) und der daraus ge folgerte sprichwortartige Satz (v. 132). In RdR VII endete die COft/ßssioft RtIfIIIt'I gleichermassen mit einer sprichwörtlichen Wendung: HCI IIlS I ci CI " " " p"1Iur
11 ""'fttü SOft etmlßssor (vv. 843-844). • DU BrClfU:/u VIII tüs ROftIIIft tü Rnlllrl, in Ardiv"m ROftIIIftic"m 24 (1940), 206-23i ijetzt in ROftIIIftisc/u Lilwlllursludift 1936-1956, Tübingen 1959, 64-94).
,Mi
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H. R. Jauss
bis zum Abschluss eines freundschaftlichen Paktes zurückgeführt, der dem späteren Zv.·ist vorausgegangen und in Renarts 'Burschenjahre' gefallen sein soll. Von>tzsch wollte in dieser Stelle ein Zeugnis für ein verlorenes französisches Original sehen, weil unabhängig davon noch zwei weitere Texte (RF 385-412; VR 2092 sq.) davon berichten, wie Fuchs und Wolf nach Voretzschs Meinung « wirklich einmal Freundschaft schlossen )) 1. Der äusseren Ubereinstimmung dieser drei Zeugnisse steht jedoch entgegen, dass diese drei Versionen einer Vorgeschichte von Fuchs und \\lolf lediglich in dem einen Punkt des Freundschaftsbundes, nicht aber in seiner Motivierung und in df'm anderen, später zu erörternden Punkt des Verwandtschafts- od{'r Gevattt'rschaftsverhältnisses ühereinstimmen. Inder Version von Branche VIII hängt die Motivierung, warum Renart mit Ysengrin eine conpaignie einging, unmittelbar mit der Andeutung zarter Beziehungen zusammen, die zuvor schon zwischen Fuchs und Wölfin bestanden hätten: hier will Renart selbst eines schönen Tages die Ehe zwischen Ysengrin, seinem conpaignon, und Hersent, seiner Freundin (wenn wir seror im höfisch-übertragenen Sinne verstehen sollen) gestiftet haben, um den so eng mit ihm verbundenen conpaignon sodann - gleich drei Tage hernach - hinters Licht zu führen! Was ist von dieser burlesken Motivierung zu halten, die mit der gewiß nicht altertümlichen Kupplerrolle Renarts keinesfalls in den « ursprünglicheren Zusammenhang)) einer verlorenen französischen Branche hineinpasst, wie ihn nach Voretzsch die Version des del,ltschen Reinhart Fuchs noch am altertümlichsten bewahrt? Renarts Rolle als Ehestifter, die bei der retrospektiven, auf die Wiederherstellung einer altertümlicheren Fabel gerichteten Perspektive Voretzschs als ein unerklärbarer Rest übrig blieb, erhält ihren folgerichtigen Sinn und zugleich ihren einer Schelmenbeichte angemessenen Witz zurück, wenn man die Episode in der progressiven Sicht einer zyklischen Erzählform : des immer wieder aufgenommenen und um ein Stück weitergeführten Seitenthemas der Enjances, betrachtet. Die burleske Motivierung der conpaignie und Eheschliessung in der Darstellung von Branche Vln schliesst unverkennbar an die schon erörterten Versionen von Hersents Mädchenjahren (Va 366 sq.) und Hochzeit (I 160 sq.) an, in denen bereits von früheren Beziehungen zwischen H ersent la bele und ihrem vorgeblichen Liebhaber Renart die Rede war. Hält man die Lebensbeichte von Renart repentant in Branche VnI mit den in Br. Va und I vorangegangenen Bekenntnissen der Wölfin zusammen, so 1
op.
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cil., p. 162.
Lcs enfanccs Renart
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rückt sogleich vor Augen, dass Renarts Rückblick auf seine r besten Jahre' als bachelers legiers dieselbe Hochzeit, die Hersent aus ihrer Vergangenheit als loiale espose so sehr zu rühmen wusste, in ein zutiefst ironisches Licht bringen muss. Renart als ehemaliger Freund der schönen Hersent, der Ysengrin par amor unter ihre Haube gebracht haben will, um den glücklichen Gatten und conpaigno1l am Ende desto frecher zum r cocu' zu machen: versteht man die strittige Episode so, als witzige Korrektur und Ergänzung zu einem Thema, das dem Publikum von früheren Branchen her noch durchaus vertraut sein konnte 1, so ergänzen sich die sukzessiven Fortsetzungen der fiktiven Jugendgeschichten mit den (in der Hauptfabel früheren) Szenen in der Wolfshöhle und vor dem Fuchsbau zu einem in sich schlüssigen, obschon posterioren Zusammenhang, der herausgelöst eine vollendete Fabliau-Intrige ergeben würde und den Rekurs auf eine verlorene ursprünglichere Version überflüssig macht. Der flämische Dichter Willem hat in Van den Vos Reynaerde, einer schon zu Beginn des XIII. Jahrhunderts entstandenen Version der Hoftagsbranche, die beliebte Form der Schelmenbeichte gleich zweimal, bei Reinaerts Aufbruch zum Hof (vv. 1435 sq.) und bei der Szene vor dem Galgen (vv. 2069 sq.), verwendet und mit der für ihn charakteristischen Kunst des humoristischen Details virtuos ausgestaltet. Das zweite dieser neuen Bekenntnisse des Fuchses enthält eine Version der En/ances Renart, die wiederum als cme witzige Korrektur und Ergänzung zu der Darstellung in Branche VIII anzusehen ist 2. Denn Willems Darstellung fügt der uns aus RdR I und VIII bekannten Version insofern etwas Neues hinzu, als sie gerade wieder um einen Schritt hinter den Anfang der letzten Schelmenbeichte (Quant fere bachelers legiers, VIII 114) zurückgeht, um uns von einem allerersten Fehltritt zu erzählen, durch den der Fuchs überhaupt auf den Geschmack an Hühnern gekommen und zum glouton (VIII 118) geworden sei: Nochtan horet alle ghi heeren Laet wijsen ende leeren Hoe ic reynaert aermijnc Eerst an due boesheit vinc
1 Gerade Branche VIII setzt mit ihrem Grundthema Renarl re/Jenlanl ausdrücklich voraus, dass dem Publikum die Geschichte Renarts aus den älteren Branchen (die auch in der Schelmenbeichte zum Teil rekapituliert werden) schon bekannt ist. I Dass Willem das Thema von Renarl re/Jenlanl aus einer Fassung (oder Obersetzung ?) von Branche VIII gekannt haben muss, ergibt sich aus der EpisodevoD der Ermordung Coppes (VR 395-420), vgl. Vf., Unlnsuc""ncen ... , p. 297 sq.
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H. R. jauM
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In allen tijden spade ende vroe Wasic een houesch kint noch doe Doemen mi spaende van der mannen Ghinc ic speIen metten lammen Dor te hoeme dat ghebleet So dat ic een verbeet Ten eersten lapedic dat bloet Het smaecte so wel het was so goet Dat ic dat vleesch mede ontgan Daer leerdie leckernie an.
(VR 2069-2082)
1.
Mit dieser ergötzlichen mythologischen Travestie vom Stand der Unschuld im Paradies der Tiere und vom Sündenfall des jungen Fuchses beginnt Reinaert hier seine vorläufig letzte Lebensbeichte, nach der er am Galgen aufgeknüpft werden soll. Wenn er sich dabei in der vollendet gespielten Rolle des zerknirschten Sünders zunächst ganz schwarz in schwarz malt, geschieht dies aber auch schon wie der Fortgang erweist - in der Hinterabsicht, durch diesen sentimentalen Anfang sein weiteres Lügengewebe glaubhafter zu machen, mit dem er sich auf Kosten seiner zu früh frohlockenden Feinde wieder vom Galgen herunter schwindeln will. Auf seinen ersten Sündenfall folgt in der Lebensbeichte denn auch gleich, als zweiter Schritt auf dem Weg zum Bösen, die Begegnung mit Isengrijn und ihr Freundschaftsschwur, der eine Episode räuberischer Komplizenschaft einleitet. Das Thema einer freundschaftlichen conpaignie z~schen Fuchs und Wolf, die ihrer großen Feindschaft vorausgegangen sein soll, ist demnach hier wie zuvor in Branche VIII nicht anders eingeführt als alle bisher untersuchten Motive des Enlances- Themas: im ironischen Kontext einer Schelmenbeichte oder Gesprächsposition und nicht als selbständiges Glied der Hauptfabel. Das Thema der gheselscap bleibt im flämischen Tierepos zudem einem anderen Motiv untergeordnet, mit dem die parallele Darstellung der geselleschalt von Fuchs und Wolf im deutschen Tierepos wiederum nicht übereinstimmt: im Reinha"t Fuchs stehen Fuchs und Wolf im Verhältnis von Gevattern, in Van den Vos Reynae,-de hingegen im Verhältnis von Onkel und Neffe. Und mit
1
•
Pourtant, koutez tous, mes seigneurs; laissez-moi voua apprendre et voua
faire savoir comment le mis6rable Renart fit le premier pas dans la voie du mal.
En ce temps-lA, j'~tais encore un enfant bien sage et me montrais tel en toute occaaion. Lorsqu'on m'eut sevr~ du sein matemel. j'allai jouer avec les agneawt, prenant plaisir ~ entendre leurs ~lements. jusqu'~ ce qu'A la fin, j'en ~gorgeasse un. C'~tait la premrere fois que je lkbais du sang; il ~tait si l mon goGt, il me parut si bon que je goGtai ausai de la cbair. J'appris ainai l en ~tre frland ... '.
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Les enfances Renart
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dieser verwandtschaftlichen Beziehung hat es im flämischen Tierepos eine besondere Bewandtnis, aus der hervorgeht, dass der flämische und der deutsche Nachdichter das Thema der vorgängigen conpaignie von Fuchs und Wolf .im Anschluss an verschiedene Traditionen und in ganz anderer Absicht entwickelt haben, m. a. W. dass ihre rein äusserliche und nur partielle Ubereinstimmung in diesem Punkt nichts für' ein verlorenes gemeinsames Original beweisen kann. Willem hat nicht allein mit Reinaerts Lügengeschichte von der Verschwörung hoher Barone gegen König Noble, in die seine Lebensbeichte ausläuft, das niederländische Heldenepos Ka"el ende Elegast parodiert 1. Er hat auch das verwandtschaftlich enge Verhältnis von Onkel und Neffe, der literarischen Herkunft nach ein altes Motiv des Heldenepos, ironisch dargestellt, indem er die Frage in die Schwebe brachte, ob Fuchs und Wolf sich zu Recht Onkel und Neffe nannten. Bei der schon erwähnten Episode des Freundschaftsschwurs stellt Reinaert die Dinge so dar, als ob es Isengrijn gewesen sei, der ihm eröffnet habe, er sei sein Onkel, und es ihm sodann auch mit einer Genealogie beweisen wollte (VR 2092 sq.). Im s<:heinbaren Widerspruch dazu hatte aber zuvor derselbe Reinaert in seiner ersten Beichte vor dem Aufbruch zum Hof vor Grimbeert eingestanden, dass er Isengrijn am Anfang ihrer Beziehungen «in betrügerischer Absicht 11 (do" ba"aet) 'Onkel' genannt habe I - ein Geständnis, bei dem er keinen oder zumindest weniger Grund hatte zu lügen, weil er es unter vier Augen mit dem ihm ganz zugetanen Dachs ablegen konnte. Nimmt man hinzu, dass auch Isengrijn in der anderen Episode (wie sie uns Reinaert zu verstehen gibt) seine Verwandtschaft erst noch - und recht umständlich - erklären muss, also offenbar auch nicht einfach von verwandtschaftlicher Liebe getrieben ist, so spricht eigentlich alles dafür, dass Fuchs und Wolf in der Darstellung von Willem nur so tun, als ob jenes verwandtschaftliche Band zwischen ihnen bestehe. Und gerade dieser Umstand verrät die weitere Tradition, aus der Willem manches burleske Detail geschöpft 3 und an die er wahrscheinlich die erste Schelmenbeichte Reinaerts angeschlossen
1 J. W. MULLER. RlifUUrl-sltulien .... zitiert bei W. FOERSTE. Vo" Rei"turls Histone zu," Rlide tU Vos. in Ni.dndetdscM Sludie". hg. von W. FOERSTE. Band 6. Köln IGraz 1960. p. 116 sq. • Cf. VR 1481 sq. : EtUÜ yu",";" daJ IInsltullielic oe. dor bartul (' Et Isengrin. sachez-le. c'est par tromperie que je l'appelais mon onele"). I Vgl. W. FOERSTE. op. cil .• p. 116 und Anm. 14 : • Die oft beobachtete Ersetzung des im Renart üblichen Gevatterverbä.ltnisses der Tiere durch die Blutsverwandt-
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H. R Jauss
hat: der Ysengrimus semes älteren Landsmanns, des Magister Nivardus. Dicebat patruum falso Reinardus, ut ille Tamquam cognato crederet usque suo
(I 11-12)
- unter diesem Vorzeichen beginnt schon in dem ältesten lateinischen Tierepos (um t 150) die verhängnisvolle Beziehung zwischen Fuchs und Wolf. Der auf den ersten Blick so unmotiviert erscheinende Züg, dass der Fuchs den Wolf betrügerisch (falso) Oheim nennt, schafft bei Nivardus die Voraussetzung, um das epischheroische Verhältnis der heiden Widersacher in die ironisch-vertrauliche Beziehung 'lieber Verwandter' umzusetzen und ihre Hassliebe in den selbstangemassten Gesprächsrollen des ' guten Onkels' und des' teuren Neffen' spielerisch bis zum bitteren Ende des \Volfes zu variieren 1. Willem hat nun - Traditionen des Yseng,imus und des Roman de Renart (Br. lI-Va, I) geschickt kombinierend - auch die Wölfin Hersinde als 'Tante' in das Verhältnis von' Onkel' und ' Neffe' einbezogen und das übernommene Motiv der nur gespielten Verwandtschaft dazu benutzt, die Rekapitulation bekannter Streiche Reinaerts in seiner ersten Schelmenbeichte auf eine neue Pointe hinzuführen. Die Rolle der Wölfin als Reinaerts vorgebliche Tante erweist sich dabei als eine der trefflichsten Neuerungen Willems. l\lit dieser Variation zu den Enlances von Fuchs und Wölfin konnte er die Ehebruchsszenen aus der fabliauartigen Drastik, auf die sie abgesunken waren, als ihr ursprünglicher Sinn - die Parodie der Liebeskasuistik - nicht mehr verstanden wurde, auf die höhere Ebene humoristischer Anspielung bringen. Dass schon das erste Eingeständnis Reinaerts, er habe Isengrijn in betrügerischer Absicht Onkel genannt, auf Hersinde zielte, enthüllt sich erst am Ende seiner Bekenntnisse. Doch wartet der Leser mit Spannung auf diese Enthüllung, hat doch Grimbeert der Dachs zuvor schon vor dem versammelten Hof zur Verteidigung des Abwesenden vorgebracht, Reinaert und Hersinde liebten sich schon seit eh und je und Hersinde habe in der Tat auch Reinaert seit mehr als sieben Jahren insgeheim ihre Gunst nicht mehr
schaft im Reinaert ist wohl ebenfalls nicht ohne Einfluss des Ysengrimus geschehen; denn selbst der ganz unmotivierte Zug. dass der Fuchs den Wolf betrügerisch Oheim nennt (A 1-185 dal was bar"'). findet sich bei Nivard (I. 11 f.). wo Stammblume (111. 999. 1002) und Lehensverhiltnisse (IV. 1020) der Tiere eine Rolle spielen .• - Es muss aber auch mit der Möglichkeit gerechnet werden. dass Willem eine volkssprachliche Version oder Obersetzung des YS'''f"'"''s vorlag. I Siehe im Einzelnen Vf .• cIt .. p. 110.
U,.,'rs .. ,.f',. ....
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versagt, so dass es ein Skandal sei, wenn sich Isengrijn heute beklage, man habe seine Frau entehrt I. Auf diesen Punkt lässt \Villem Reinaert ganz am Ende seiner Beichte mit der Ankündigung zurückkommen, er habe nun von dem schlimmsten Streich zu sprechen, den er an seinem • Onkel' verübt habe. Doch statt der erwarteten Geschichte und dem so erwünschten Aufschluss, was nun denn wirklich an den Behauptungen Grimbeerts über die alten Amouren von Fuchs und Wölfin wahr sei, kleidet der zerknirschte Sünder sein Geständnis sogleich in eine ironische Reueformel, die seine Bussfertigkeit auf die eleganteste Art wieder in ihr Gegenteil verkehrt: God die moet mi vergheuen Haer dedie dat mi Heuer ware bleuen Te doene dant es ghedaen I.
Wer wollte es dem Beichtvater Grimbeert verdenken, dass es ihm daraufhin sichtlich schwer fällt, den Ernst der ihm abverlangten Rolle zu wahren. Seine letzte Vorhaltung, das Beichtkind müsse seine Verfehlungen ohne Umschweife beim Namen nennen, entspringt denn auch schon zu gleichen Teilen dem Dringenaufdie volle Wahrheit und einer allzumenschlichen Neugier, der Reinaert mit seinem Rückzug auf das verwandtschaftliche Taktgefühl einen letzten Riegel vorschiebt: Reynaert sprae neve grimbeert Ware dat hoofsched.e groot Of ie hadde gheseit al bloot Ie hebbe gheslapen bi miere moyen Ghi zijt mijn maech hu souts vemoyen Seidie eeneghe dorperheit. a
Die bisherige Untersuchung hat Schritt für Schritt vor Augen geführt, wie die ersten, rein ironischen Ansätze zu den En/ance.'ö von Renart und Hersent von einem Verfasser zum andern mit den gezeigten Verfahren der Variation, Erweiterung oder witzigen KorOat hi c1aghet om sijn wijf Oie reynaerde heuet al haer lijf Ghemint so doet hi hare Al ne makedent zijt niet mare Ie dart wel segghen ouer waer Oat langher es dan . vij. iaer Oat reynaert heuet hare trauwe (VR :l:~5-241). Z ' Dieu me pardonne I Ce que j'ai fait avec elle, jl" prl§fl§rerais l'avoir eneore A faire,plutöt que de )'avoir fait. • I Vk 1664-16ß9 (' Renart repartit : • Neveu Grimbert, serait-il bien eonvenable que je vous dise tout er1lment : J'ai eoueM avec ma tante? Vous etes mon parent; cela vous ennuierait de m'entendre dire des ehoses ineonvenantes .').
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rekt.ur zu einem ansehnlichen Seitenthema ausgesponnen wurden, das dem epischen Bedürfnis nach einer noch fehlenden Vorgeschichte von Fuchs und \Volf auf burleske Weise entsprach. Die Version im deutschen Tierepos Reinhart Fuchs (nach 1182), das chronologisch noch vor Van den Vos Reynae,de einzuordnen wäre, stellt demgegenüber den interessanten Fall einer Korrektur im umgekehrten Sinne dar. Was in der bisherigen Entwicklung nur als burleske Fiktion angesehen wurde, erscheint hier als Gegenstand ernsthafter Behandlung: Heinrich der GlichezAre hat das Seitenthema der Enlances aus der ironischen Form der Schelmen beichte herausgenommen und es zu einem Stück seiner Hauptaventüre gemacht! Auf die vier Aventüren des Vorspiels (Hahn, Meise, Rabe, Kater), die den ersten Episoden der ältesten französischen Branche (11 23-1026) entsprechen, folgen im Reinharl Fuchs nicht sogleich die Szenen in der Wolfshöhle und vor dem Fuchsbau. Der deutsche Verfasser lässt diesen Ereignissen erst noch eine friedlicheEpisode vorangehen, in der Reinhart mit Ysengrin zum ersten Mal zusammentrifft, sich ihm und Hersent zum Genossen anbietet und von der Wolfsfamilie nach kurzer Beratung als Gevatter angenommen wird (RF 385-412). Dieser Freundschaftspakt steht'auch hier wie in den heiden Parallelversionen (RdR VIII, VR) von vornherein im Zusammenhang mit dem Liebeswerben Reinharts um Hersent. Gleich die folgende Episode führt zu einem ersten Liebesantrag Reinharts, den der Fuchs in vollendet höfischer Rede vorzubringen weiss und den die Wölfin fürs erste zwar noch zurückweist, aber doch wohlweislich vor dem heimkehrenden Gatten verschweigt (RF 413-448). Aus diesen ersten Anfängen lässt der deutsche Nachdichter in den folgenden Aventüren, die den bekanntesten französischen Schwänken um Fuchs und Wolf entsprechen I, die grosse Not und Schmach Ysengrins hervorgehen und in der· Schändung Hersents vor dem Fuchsbau gipfeln. Anfang und Ende dieser in eine unumkehrbare Folge gebrachten Entwicklung des Mittelteils im Reinha,t Fuchs 1 Die Art und Weise. wie Heinrich der GUched.re die Buhlschaft von Reinhart und Hersent in drei Episoden: Werbung, Minneszene (=- Küenia ErzAhlung, RF 563-639) und SchAndung der WOlfin vor Augen Yaengrins auseinanderruckte. die SchwAnke mit Fuchs und Wolf ala Gegenspieler in diesen Rahmen stellte und damit eine unumkehrbare Folge in die Handlungaentwicklung seines atrengkomponierten Epos brachte. bat H. BOTTNER UD grilndlichaten untersucht und m. E. überzeugend geklArt (Studie,. 1M lÜffI ROffI4I,. ü R.,..,., ..tul lÜffI Rndarl F.u;M. vol. 1/11. Str&ll8burg 1891. vgl. 11, p. 68 sq.). Eine Korrektur bedarf wohl allein noch seine Ansicht, dass auch schon die in Rn""'" F.u;M. v. 385 sq. geschilderte erste Begegnung Reinharts mit Yaengrin von RdR 11 1070-1071 abzuleitenaei, wie aus UuenD nach.ltehenden Ausführungen erhellt.
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weisen genetisch unverkennbar in die burleske Tradition der Enlances zurück. Das Motiv einer geselleschalt, des anfänglichen Freundschaftspaktes von Fuchs und Wolf, dürfte Heinrichwie auch die enge Verbindung mit Reinharts Werbung um Hersent anzeigt - aus einer Schelmen beichte Renarts, wahrscheinlich aus der ihm vorliegenden Version von Branche VIII übernommen haben 1. Die Umsetzung des Motivs aus scherzhafter in ernsthafte Behandlung entspricht durchaus einer bei Heinrich auch anderweitig festzustellenden Tendenz, wie sich später zum Beispiel an einer Weglassung der in RdR I 1129-1142 vorgegebenen Schelmenbeichte zeigt, auf die im Reinha,t Fuchs beim dritten Botengang noch das Relikt ei.nes ursprünglich dazu gehörigen Gebets zurückdeutet, dem Heinrich die blasphemische Spitze benahm (cf. RF 1832-1834). Und schliesslich hat Heinrich in die bittere Klage, die er Ysengrin am Ende über das entschwundene Glück seines Hauses führen lässt, gerade jene Hochzeitsschilderung eingerückt, die uns aus den zweifelhaften Bekenntnissen der Wölfin aus Branche I vertraut ist, hier aber als sentimentaler Rückblick im Munde des Wolfes wiederkehrt : Ysengrin sprach : • desswar, ver Hersant, nv sint iz sihen iar, du ich evch zv miner e nam. da was manic tier Ivssam vnser beider kvnne. sint hatte wir entsamet wunne. nv ba~ vns gebonet Reinhart, owe, daz er ie vnser gevatere wart , icbn magez nimmer werden vro. • •
Für die Annahme, dass der Verfasser des Reinhart Fuchs seine neue Episode von den Anfängen der Gevatterschaft zwischen Wolf und Fuchs im Anschluss an die ironischen Versionen der Enlances I Du Bruchstück der Episode, in der Reinhart dem Esel Baldewln begegnet (RF 551-562), dürfte einer franzOlischen Branche von Renarts Pilgerfahrt am ehesten entsprechen, cf. C. VORETZSCH, op. ci/., p. li7 Bq. • 'Isengrin sagte: Du ist wahr, Frau Henant, jetzt lind! lieben Jabr, dass ich Euch nahm zur Ehe mir! Da war manch liebenswürdig Tier zugegen aus uns verwandtem Blut, da hatten win mit einander gut: nun hat uns geschAndet Reinbart, &eh, dass er je uns Gevatter ward. das überwind ich Dimmer" (nach G. BAESEcKE: RIIi,duw' Fuds - Du .u.su tlftdscM Tin.pos IIIIS dn S(WIICM ÜS 1'. JIlllf'IIl1fUÜrls i. v.sn, Qbnlf'II,"', Halle 1926, p. 39).
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H. R. Jauss
von Renart und Hersent entwickelt und dabei die scherzhafte Satire der ältesten französischen Branchen in den pathetischen Ernst seines streng komponierten Epos umgesetzt hat, sprechen nicht allein die von uns wahrscheinlich gemachten Entlehnungen. Ein Blick auf die weitere Geschichte der epischen Tierdichtung des Mittelalters kann nur bestätigen, dass der Gang der Entwicklung von ursprünglich fiktiven Ansatzpunkten einer Vorgeschichte zur späteren Ergänzung der epischen Fabel im Reinhart Fuchs und nicht umgekehrt, von einem ursprünglich vollständigeren Zusammenhang zu einer schwer erklärbaren späteren Zersplitterung und Fiktionalisierung der Fabel führte. Denn gerade jene ersten Ansatzpunkte finden sich auf beiläufige Weise und in ironischer Form bereits in eier ältesten Überlieferung. Das gilt sowohl für den Ursprung des sentimentalen Romans zwischen Fuchs und Wölfin im 'Minnedialog' von Branche 11, wie auch für die von Fuchs und Wolf erst nur gespielte verwandtschaftliche Beziehung von Onkel und Neffe, die uns von Van den Vos Reynaerde bis zu den Eingangsversen des lateinischen }' sengrimus zurückgeführt hat. Das gilt aber auch für das andere pseudobiographische Motiv vom altgewordenen Fuchs. Renart l; vie.t. das neben dem italienischen Ausläufer der Hoftagsbrancht.· auch in einem der letzten französischen Texte, der Branche XXIII, ausgeführt ist 1, sich zuvor in Branche I und zwar bezeichnendenveise wieder in einer Verteidigungsrede Renarts findet : Mes foi que doi deu et saint Jorge G'ai tote ehenue la gorge. Vels sui, si ne me puis aidier, Si n 'ai mes eure de plaidier: Peche fet q ui a cort me mande
(1 1265-1269)
und das in derselben Funktion überraschenderweise schon in der ältesten epischen Tierdichtllng des Mittelalters, der Ecbasis Captivi, vorkommt 2. Dass die Episode der Anfänge einer Gevatterschaft von Fuchs und Wolf im Reinhart Fuchs eine spätere, episch folgerichtige Ergänzung der Hauptaventüre sind, entspricht vor allem einer charakteristischen Fortsetzungsform des zyklischen Erzählens. Mit Hein• Cf. RdR XXIII 358, 969, 1.')16; Ra;Naldo , LIS".gri"o. r~. d'Udine v. 353 red. d'Oxford v. :Hl (dazu Cu/I. Neo/al. 21, 1961, p. 219). • Ecbasis cuiusdam cap'ilJ; pe, ',opolog;am, ed. K. STRECKER, Hannover 1935 (Separatedition der Monumenta) , v. 472 sq. ; auch in diesem Text. der im XI. (wenn nicht schon in der ersten Hälfte des X.) Jahrhundert entstanden ist, stehen. Wolf und Fuchs schon im Verhältnis von Oheim und Neffe.
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Les enfances Renart
309
richs neuer Episode kommt eine Entwicklung zllm Abschluss, die sich durch die ganze Geschichte der epischen Tierdichtung des XII. Jahrhunderts verfolgen lässt: die immer weitergeführte Suche nach einem ersten Anfang und Grund der • ewigen Feindschaft'. Im lateinischen Ysengr;mus lässt der typologische Gegensatz zwischt'n Wolf (stultus) und Fuchs (sapiens) der Frage nach dem Ursprung ihrer im übrigen schon episch dargestellten Feindschaft noch so wenig Raum, dass der Anfang ihrer Beziehungen in den selbst angemassten Rollen von Onkel und Neffe völlig in der Schwebe bleibt. Pierre de Saint-Cloud greift diese offengebliebene Frage insoweit auf, als er im ersten französischen Tierepos den unmittelbaren Anlass der grossen Fehde zwischen Renart und Ysengrin nachholt; er setzt aber - wie wir sahen - ihre unüberwindliche Feindschaft nach wie vor als gegeben voraus. Im Zusammenhang des Seitenthemas der Enfances wird die Frage nach einer Vorgeschichte der Hauptfiguren sodann auf burleske Weise behandelt und der erste Anfang ihrer Beziehungen Schritt für Schritt über Hersents Mädchenjahre und Renarts Burschenzeit zurück bis zum ersten Fehltritt des jungen Fuchses und seiner ersten Begegnung mit dem vorgeblichen Onkel Ysengrin nachgebracht. Während aber der flämische Dichter schliesslich selbst dem an sich naturgegebenen Verwandtschaftsverhältnis paradoxerweise noch einen ironischen ersten Anfang gibt, korrigiert der deutsche Dichter den Widerspruch seines Vorgängers Pierre de Saint-Cloud, indem er dem epischen Anlass des Streites eine friedliche Vorgeschichte der beiden Widersacher voranschickt, die zugleich den ersten Anfang ihrer Gevatterschaft erklärt. Damit hat die Frage nach den Anfängen im Reinhart Fuchs endlich eine ernsthafte und im epischen Sinne vollständige Antwort erhalten, die zudem den Bedürfnissen eines anderen Publikums entsprach, das zum ersten Mal von Renart und Ysengrin hörte, im Unterschied zu den flämischen und italienischen Ausläufern mit allen Personen und Umständen der Dichtung also erst noch vertraut gemacht werden musste 1. Damit ist unsere Betrachtung zu Branche XXIV zurückgekehrt, die offenbar als eine nachträgliche Einleitung in den ganzen Zyklus gedacht war und in ihrem Epilog mit dem Vers: Ce lu des anlances I Dass V"" den Vos Rey"aerde eine vorglngige flämische ßearheitung von Br. 11Va des Rom"n de R,m"rl voraussetzt. hat M. DELBOUILLE (op. cil.) wahrscheinlich gemacht. Zu den heiden erhaltenen Redaktionen von R"i"aldo e Leseng,ino. die einen Stoff variieren, der dem italienischen Publikum schon vertraut gewesen sein muss, cf. Vf .. Cull. Neol. 2J. 2J5. Dass hingegen Heinrich der GUchezAre mit einem Publikum rechnen musste. dem der Stoff des Rom"" de Re"",' noch unbekannt WM, hat H. BCTTNER (op. cil.) sicher nachgewiesen.
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:i1()
H. R Jauss
Renart (v. 311) ironisch auf die Enlances der Chanson de Geste Bezug nimmt. Das kleine Werk häuft epigonenhafte Züge in geradezu beispielhafter Vollständigkeit. \Vas sich in der Blütezeit des Roman de Renart ganz von selbst verstand, wird nun zur Frage erhoben (Qui 114 Renart et Ysengrin, v. 5) und vom ersten Anfang an aufgerollt und erklärt (]evas conterai par deduit conment il toind,ent en avant, vv. 2-3). Der Erzähler, der seine Branche einmal ausdrücklich cest mien traitie nennt (v. 181), greift zu diesem Zweck bis zur Schöpfung der Tiere zurück, holt sodann zu einer etymologisierenden Erklärung der Namen von Fuchs und Wolf aus I, versäumt auch nicht, einen bisher nie laut gewordenen, fiktionszerstörenden Zweifel: ob man denn überhaupt von Tieren reden könne si com fen parole d'autru; (v. 183) unter Berufung auf Bileams sprechende Eselin auszuräumen, und bringt schliesslich als vielversprechende erste Tat des jungen Renart einen Schinkendiebstahl aus Ysengrins Rauchfang, womit wir schon völlig in die behagliche Häuslichkeit der Welt des Fabliau versetzt sind. So fern dieses späte Werk dem Geist der klassischen RenartBranchen auch steht, lässt es doch selbst noch in seinen letzten Umformungen das im ganzen Zyklus sichtbar gewordene Bildungsgesetz der immer weiterführenden Variation erkennen. Denn der anonyme Verfasser hat nicht allein mit der (frauenfeindlichen) Mythe einer Schöpfung von Fuchs, Wolf und anderer wilder Tiere durch Eva I seine Vorgä.nger überboten, die das Seitenthema der Enlances bis zum Sündenfall Reinaerts zurückführten. Er hat auch die Umkehrung lang vertrauter und scheinbar immerwä.hrender epischer Verhältnisse bis ins Paradoxe gesteigert: die alten Widersacher nennen sich hier aus dem Grund überschwenglich 'Onkel" und • Neffe' , weil sie sich wahrhaft zugetan sind : Por ce qu'erent si d'un train, Estoit Renart nies Isengrin. I XXIV i9-124; wie schon G. PARIS zeigte, lAuft diese dunkle Stelle darauf hinaus. dass der Fuchs wie der 'Volf seinen Personennam~n von einem gewissen Re"",., (bzw. von einem gewissen Ys""grin), also einem gleichgearteten Menschen erhalten habe (M41"Jffes de litl. I'. du MA. p. 371). Hier haben wir wiederum eine fiktionszerstörende Erklärung: die Identität von Gestalt (rorpis) und Bedeutung (Reu,.,) , tierischem Wesen und menschlicher Natur (Tol cil qui so,,' d'aJfgi"g eI d'"rl sonl mes luit apele Renarl, v. 85 Bq.) zerfällt in eine äussere Analogie der verschiedenen Bereiche von Tier und Mensch (Se Re"a,., sol f.,,,, conchin. li fO"päx b6sus ""gittgttin, v. 90 sq.) und lOst die fiktive Einheit einer gemeinsamen Typenwelt von Charakteren moralisch auf. I A. H. I
[ISO]
Les enfances Renart
311
Por ce que si bien s'entramoient Et qu'ansanble sovent aloient. Le leu du gorpil fait neveu Et Ii gorpiz oncles dou leu. I
Und auch Hersent und die (hier Richeutgenannte) Füchsinerscheinen dem Erzähler fast wie Schwestern, denn mault /urent bien lf.s deus tl'un euer (v. 114). Was natürlich Renart nicht davon abhalten wird, seinem parent et ami (v. 138) drei Schinken - nicht ohne vorherige Warnung und darum mit besonderem angin et art (v. 312) - über dem Kopf weg zu stehlen und sich nach diesem würdigen Gesellenstück eines zukünftigen Meisterdiebs über Onkel und Tante lustig zu machen. In dieser modemen Oberbietung der alten Listen des Fuchses liegt der Hintersinn der ironischen Anspielung auf die En/ances der zyklischen Heldendichtung. Während dort aus der Kindheit berühmter Helden vornehmlich erste Waffen taten erzählt werden, in denen ihre heldische Tugend überraschend früh zutage tritt ., kündigen die En/ances Renart nur noch zum Schein die altbekannten Abenteuer von Renart und Ysengrin an. In Wahrheit lässt der so alte wie junge Fuchs a mit diesem seinem 'ersten Streich' , der in den genannten Handschriften den ganzen Zyklus
I XXIV 131-136 ; v. 144 sq. ist sogar von amof' lift. die Rede. • Auch dem Heldenepos liegt ein biographisches Interesse an einer Vita seiner Hauptpersonen fern. wie gerade die Eft/aftus der Clta .. sOft d. G.s'. zeigen. die sich auf die • precocit~ I!pique. der Helden. d. h .• leurs premiers exploits guerriers. accomplis avant I'lge normal des' chevaleries '. ou les aventures Mroiques. parfois h~rol-comiques. de leur jeunesse perskut~. beschränken (vgl. J. FRAPPIER. M~l4ft,.s E. Ho'PDfIn. Paris 1949. p. 269). Doch geht die Darstellung jugendlicher Recken in anderen Texten keineswegs immer in einer Vorwegnahme ihres späteren Heldentums auf: Roll4f1dift. G"io' oder dem ",'a1ll Viv;... sind in dieser Rolle noch Züge wie laibl.ss•• imptJlinte•• ,lmlriU••xi,.ftc. d. l'absol" eigen. die Jeanne Lons zu Recht als kindhaft herau~gestellt hat (L. 11t~"., de ,·...,afte. dafts l·lpofJl. traft,ais•• in Calti,,,s d, CivilistJliOft mldi~vcal. 3. 1960.58 sq.). I Die in der Zeitlosigkeit der Tiercharaktere begründete Paradoxie. dass Renart 'so alt wie jung'. d. h. in der Rolle der Eft/aft"'s schon gleich weiterfahren und in der Rolle des Hochbetagten immer noch zu neuen Streichen fähig ist. kommt am Ausgang des XIII. Jahrhunderts in R'fta,,' I. It."o"v.l am schönsten zum Ausdruck. wo Dame Harouge den skrupellosen Galan mit folgenden Worten zu rechtfertigen sucht: . .. sachi~ tart ou tempre Couvient chascun s'enfanche rendre. Renars est jones et sachans. Petit a plus de .LX. ans; Jones hom est. s'a grant avoir Que conquis a par son savoir. (Ed. H. ROUSSEL. SATF. Paris 1961. vv. 4479-4484).
[151]
312
H. R. Jauss
einleitet, die feudale Welt des alten Tierepos schon weit hinter sich zurück: mit diesem zuletzt gebrachten Anfang hat sich die historische Metamorphose vom listenreichen ba,on im Reich König Nobles zum Typ des liebenswürdigen Schelmen (gabie"e, XXIV 291) in der Art Till Uilenspiegels vollendet.
[ 152J
Zur allegorischen Dichtung
v.
ENTSTEHUNG UND STRUICTURWANDEL DER ALLEGORISCHEN DICHTUNG
EINLEITUNG
Die allegorische Dichtung in romanischer Volkssprache stellt insofern ein besonderes Gattungsproblem, als hier eine Vielfalt literarischer Formen meist heterogenen Ursprungs aus einer gemeinsamen Intention erklärt, abgegrenzt und besduieben werden muß. Der Allegorese, die geistliche Dichter benutzen, um einen vorgegebenen Stoff (historia) der kanonisenen Schriften auszulegen, tritt die allegorische Fiktion gegenüber, die einer erfundenen Fabel Gestalt gibt. Die Typologie macht den Zusammenhang vergangener und zukünh"iger Ereignisse sichtbar; auf ihr beruht die Entsprechung diesseitiger und jenseitiger Dinge in der Visionsliteratur; sie kann aber auch die Natur der in seltsamen, oft phantastischen Beschreibungen überlieferten Tiere des Physiologus in die figurale Deutung der Heilsgeschichte einbeziehen. Der spätantiken Tradition des allegorischen Epos, dem der Platonismus von Chartres die mittelalterliche Gestalt gegeben hat, steht die von Prudentius geprägte christliche Allegorie des helium intestinum gegenüber, die als pugna animae cum vitiis von romanischen Dichtem vielfach nachgeahmt und abgewandelt wurde. In Konkurrenz zu der geistlichen Allegorie des paradisus amoTis entsteht die weltliche Minneallegorie, die das mythologische Substrat der heidnischen Epithalamien in ihr neues allegorisches Schema umgesetzt hat. Und neben all diesen Formen wächst aus der rhetorischen Figur der peTsonificatio eine selbständige Form allegorischer Verbildlichung empor, die in der lyrik wie im Roman ein innerseelisches Geschehen im Konflikt
übernatürlicher Wesenheiten sichtbar mad1t, von anderen Gattungen übernommen wird und schließlich als beliebtestes, damit aber auch senon automatisiertes Darstellungsmittel den epochalen Stil der spätrnittelalterlichen literatur bestimmt. Den aufgeführten literarischen Formen ist bei aller Verschiedenheit indes der allegorische <modus dicendi>: aliud verbis, aliud sensu ostendit gemeinsam.' Sie bedie-
I
Quintilian, De inst. orat. 8,6,44; von dieser klassischen Formulierung der rhetorischen Tradition geht auch noch die strukturalistische Bestimmung der Allegorese aus, cf. FLETCHER 0632, 2: eIn the simplest terms, allegory says one thing and means another. It destroys
[IS4]
""I
I11
Einleitung
147
nen sich einer allegorischen oder typologischen Beziehung von Gestalt (Wort, Bild, Ereignis) und Bedeutung, um dem leser oder Hörer begreiflich zu machen, daß die Wahrheit des Dargestellten im Unsichtbaren liegt. Der allegorische cmodus dicendh ermöglicht dem mittelalterlichen Dichter die Vorstellung unsichtbarer, T1ergangener und zukünftiger Dinge. Diese noch von Winckelmann I benutzte Grundbestimmung der Allegorie, die Auswahl, Gliederung und Zusammenhang unserer Darstellung rechtfertigt, hat ihr theologisches Fundament in dem paulinischen Satz: inT1isibilia mim ipsiu5, a aeatura mundi, per ea quae facta slmt, intellecta, conspiciuntur (Rom. I, 20). Er wird in mittelalterlicher überlieferung auch mit der augustinischen Lehre, daß alle Dinge als T1estigia Trinitatis etwas über den Schöpfer lehren, aufgenommen I und kehn in den pseudo-dionysischen Schriften mit dem Kommentar des Scotus Eriugena wieder, daß die Dinge nicht um ihrer selbst willen geschaffen wurden, sondern in der Absicht, jene unsichtbare Schönheit darzustellen, zu der uns Gott zurückrufe.· Die allegorische Dichtung des lateinischen wie des romanischen Mittelalters ist ein Kapitel der noch ungeschriebenen «Geistesgeschichte des Unsichtbaren». Als Darstellung ejener Hinter- und Oberwelt des Unsichtbaren, die für das Mittelalter zugleich die Sphäre der religiösen Instanzen wau,· ist sie Dichtung und christliches Weltmodell zugleich. In dieser Sicht erscheint sie als ein eindrückliches Zeugnis der großen Epochenwende zwischen antiker und christlicher literatur, wie zuerst die Ästhetik der deutschen Romantik erkannte, die den Ursprung und Charakter der ~ittelalterlichen Allegorie auf einen bis heute denkwürdigen Begriff gebracht hat: Das Christentum vertilgte, wie ein Jüngster Tag, die ganze Sinnenwelt mit allen ihren Reizen, drüdete sie zu einem Grabeshügel, zu einer Himmelsstaffel zusammen und setzte eine neue Geisterwelt an die Stelle. Die Dämonologie wurde die eigentlime Mythologie der Körperwelt. und Teufel als Verführer zogen in Menschen und Götterstatuen; alle Erdengegenwart war zu Himmels-Zukunft verßümtigt. Was blieb nun dem poetischen Geist nam diesem Einsturze der äußeren Welt nodt übrig? - Die, worin sie einstürzte, die innere"
Eine Geschichte der Forschungen zu unserem Gegenstand würde zu zeigen haben, wie der romantische Ansatz, die allegorische Kunst des Mittelalters aus den Vorausthe normal expedation we have about language. that our words .mean what they say •. » Im folgenden wird dieser allgemeine <modus dicendh nam seiner besonderen historischen Ersmeinung in der Allegorie des c:hristlimen Mittelalters bestimmt. • Gedanken über die Namahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, in: Kunsttheoretisme Schriften (Faksimileneudrude der 2. vermehrten Auflage, Dresden, 1756, in der Reihe Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 330), Baden-Baden, 1962, p. 43: Man benimmt also der Malert'Y dasjenige. worinn ihr grö/ltes Gtüde btstehtt. nehmlich die Vorstellung unsichtbarer. 'Oergangtner und zukünftigtr Dinge. Diese Definition, auf die Windeelmann in seiner Rechtfertigung der Allegorie rekurriert. geht paradoxerweise nimt auf eine klassisme Tradition, sondern auf den typologischen Ursprung der mristlimen Allegorie zurüde. • De Trin. 6. 10,12; dazu OHlY °168. 4. • DI! eael. hier. 1, 2. zum Anfang der Hierarchia eaelestis: 'Oisibiles quidem formas in'Oisibilis pulcJ,ritudinis imaginationes arbitrans; d. Thomas von Aquin, Quodl. 7. qu. 6, 8. 2. in corp. I H. 8lUMDnIDC, Galileo Galilei, Frankfurt. 1965,14 (Sammlung Insel. I). • Jean PauJ, Vorschule der Asthetik, § 23,~. N. M01.lD. Münmen. 1963.
[ ISS]
148
C. Entstellung und Struktllnoandel der allegorischen Didztung
setzungen einer nicht kanonisierten christlichen Poetik zu verstehen, im Lauf des XIX. Jhs in dem Maße verlorenging, wie sich in der literaturwissenschaft das Verdikt durchsetzte, das von der deutschen Klassik, dann im Namen der Erlebnisästhetik und schließlich unter Berufung auf den höheren Rang der Symbolkunst oder der Typologie über die Allegorie verhängt wurde. 7 Der Gegensatz von Symbol als Form des Ausdrucks und Allegorie als einer bloßen Weise der Bezeichnung bürgerte sich so sehr ein, daß selbst E. Auerbach, dem die romanische Philologie den Zugang zu einem neuen Verständnis figuraler Dichtung verdankt, die «personifizierten Abstraktionen» der Psychomachia streng von der reinen Typologie geschieden wissen wollte.' Die so selbstverständliche, scheinbar zeitlos gültige Unterscheidung von Allegorie und Symbol ist indes, wie H. G. Gadamer zeigte, eine historisch späte und episodische Folgeerscheinung der Lehre von der unbewußten Produktion des Genies;' ihre Anwendung steht einem nicht modernisierenden Verständnis mittelalterlicher Dichtung nicht weniger im Wege als dem Verständnis moderner Lyrik, die gegen den Symbolbegriff der klassischen Kunstform entstanden ist. II Die folgende Darstellung muß sich darum forschungsgeschichtlich in den Prozeß einer Rehabilitierung der Allegorie einreihen, der in den letzten Jahrzehnten nebeneinander von der Literarhistorie (W. Benjamin, E. Auerbach, C. S. Lewis, J. Pepin),11 von der Theologie (J. Danielou, H. de lubac, M. Pontet) I! und von der strukturalistischen Literaturwissenschaft (N. Frye, E. Honig, A. Fletcher) II unternommen wurde. Da diese Forschungsrichtungen bisher kaum voneinander Notiz genommen haben, steht die methodische Auswertung ihrer Ergebnisse - zu denen noch die einer reichen ikonographischen und kunsthistorischen Forschung zu rechnen sind - für eine Geschichte der allegorischen Dichtung des Mittelalters erst noch bevor. Insbesondere hat JAUSS 0664 und 0676. " AUERBActI 0608; zum Gegensatz von Allegorie und 'ech ter., d. h. symbolkräftiger Dich· tung cf. id., Neue Dantestudien, Istambul. 1944 (lstambuler Sdzriften, V), pp. 62, 69 und 76, wo AUERBACII Figuration und personifizierende Allegorie ebenso scharf entgegensetzu und nur die erstere gegen das modeme Vorurteil rechtfertigte. 1 Wahrheit und Methode - Grundzüge einer philosoph ismen Hermeneutik, Tübingen, 1960, 66--67. 11 Zur Kritik der Symbolästhetik d. Vf., RF 77 (1965) 174-183. 11 Am Anfang der Rehabilitierung der Allegorie steht, soweit ich sehe, W. BENJAMIN, Ur· sprung des deutsmen Trauerspiels, Berlin, 1928 (jetzt in: Smriften, Frankfurt, 1955, I 141 bis 365); dann folgen AUERBACH 0 12 und lE\VIS 0696; im Bereich der klassischen philologie verdient die Abhandlung: Personifikation und Allegorie von K. REINtIAROT (1937 abgesmlossen, erst 1960 veröffentlicht in: Vermämtnis der Antike, ed. C. BECKER, Göttingen, 7-40) Hervorhebung; smlie8lich J. PEPIN, Mythe et allegorie: les origines grceques et les contestations judeo-mretiennes, Paris, 1958. 12 J. DANIElou, Traversee de la mer rouge ct bapt~me aux premieres siedes, Rech. de Sc;tncl!$ Rel. 33 (1946) 402-430, und id. 0628; H. OE lUBAC, Typologie et AllCgorisme, Redz. de Sciences Rcl. 34 (1947) 180-226, ferner id., Histoire et Esprit, Paris, 1950 und 0136; Mo PONlET, l'cxegese de St. Augustin pr~dicateur, Paris, 1946; zusammenfassend H. DE LUDAC, Apropos dc l'allegorie chr~tienne, Rech. de Sciences Rd. 17 (1959) 5-43, und K. GRÜNDER. Figur und Gcsdlichte, Freiburg/Münmen, 1958, bes. 117 sqq. 13 Northrop FRYE, Fcarful Symmetry: A Study of William Blake, Princcton, 1947, und id., Anatomy of Criticism, Princeton, 1957; E. HONIG, Dark conceit: The Making of Allcgory. Evanslon, 1959; FlETCIIER 0632 (mit ausführlichem literaturverzeimnis). 7
[156]
Einleitung
149
hier gerade die romanische Philologie einen erheblichen Rückstand aufzuholen. Sie besitzt noch kein Werk, das sich den bahnbrechenden Darstellungen an die Seite stellen ließe, die C. S. Lewis der Allegorie der Liebe in der von Chaucer, Gower und Spenser vollendeten Tradition und W. Benjamin der Allegorie im deutschen Trauerspiel des Barocks gewidmet haben. Sie hat noch kaum wahrgenommen, daß die theologische Forschung zur christlichen Allegorese ein neu es Fundament für das Verständnis allegorischer Dichtung schuf, das sie nötigen müßte, die zumeist noch klassizistischen oder crocianischen Voraussetzungen ihrer impliziten Ästhetik zu revidieren.·· Ihre daraus entsprungene Geringschätzung der Allegorie macht sich selbst noch in Monographien über Dichter geltend, die in dieser Tradition eine erste Stelle einnerunen; 11 die Dante-Forschung, in der die (von E. Auerbach schon 1929 gestellte) Frage nach dem Verhältnis des Sacro Poema zum allegorischen Dichtungsverständnis lange Zeit geradezu verpönt war, bietet dafür das beste Zeugnis.· 1 Andererseits gewann in den letzten Jahrzehnten eine Tendenz symbolischer Interpretation mehr und mehr modische Aktualität, die das Verfahren der biblischen Schriftexegese unkritisch auf Dichtungen anwandte, für die keine allegorische Intention erweisbar ist, und die damit die berechtigte Kritik der historisch-philologischen Schule herausforderte.· 7 Unter diesen Umständen schien es geraten, die Zielsetzung der folgenden Kapitel zu beschränken. Der Stand der Forschung erforderte als dringlichstes Postulat, erst einmal die im engeren Sinn allegorischen Texte auszumachen, ihre Struktur und Intention zu beschreiben, formale und thematische Zusammenhänge festzustellen und daraus das historische Profil der Gattungsentwicklungen zu gewinnen, die das Gesamtbild der allegorischen Dichtung in romanischer Volkssprache während der Epoche ihrer ersten großen Blüte charakterisieren. Es bedarf darum keiner Rechtfertigung, daß diese Bestandsaufnahme und erste historische Synthese von der weiteren Forschung durch übersehene Texte vervollständigt und in ihren gattungsgeschichtlichen Linien korrigiert werden muß. Ihre größte lücke ist die personifizierende Allegorie, die als ein nicht gattungsgebundenes Mittel der Darstellung zwar im Zusammenhang der behandelten allegorischen Texte berücksichtigt ist, nicht aber in ihrer autochthonen Entwicklung von der spontan produzierbaren Stil figur zur wiederkehrenden Personifikation numinoser Mächte gewürdigt werden konnte. 11 Eine historische Dar-
Zur Kritik dieser impliziten Asthetik der romanistischen Mittelalterfor!'chung cf. R. GUIETrE, Symholisme et <senefiance. au Moyen-Age, CAIEF 6 (1954) 107-122, und id., O'une poesie formelle en France au Moyen-Age (1946), jetzt in RG 8 (1960) 9-32; E. VINAVD, A la recherche d'une poetique meclievale, CCM 2 (1959) 1-16; lAUSS 0668, 49 sqq. 11 JAUSS °676, 110 sqq . •• Cf. A. VAllOJa, Studi su Oante medievale, Firmze, 1965, 23-61. 17 M. W. BLooMnuD, Symholism in medievalliteratufe, MP 56 (1958) 73-81; J. MISRAHI, Symholism and allegory in Arthurian romance, RPh 17 (1963/64) 555-569; J. FRAPPIER, Le conte du Graal est-il une alleS. judec..chretienne?, RPh 16 (1962/63) 179-213 und id., RPh 20 (1966) 1-81 . •1 Ein eindrudcsvolles Beispiel bietet dafür das folgende Stüdc der PrO'Oerbes au vilain .l' 3068, in dem der Zufall erst als neutrale sprachliche Figur erwähnt ist (v. 1), dann aber allegorisiert als numinose Wesenheit in Aktion tritt (vv. 4--6) und schließlich als Fortuna erkannt wird (vv. 7-8) : 14
[157]
150
C. Entstehung und StrukturtDandel der allegorischen Dimtung
stellung von Fortuna oder A17enture 11 - um nur die smon am reimsten dokumentierten Begriffe zu nennen - hätte die Proportionen dieses Beitrags bei weitem übersdtritten; sie würde heute aum erfordern, die Bedeutungsgesmimte solmer remythisierter Begriffe im Zusammenhang mit dem literarisdten Schicksal antiker Götter wie Amor und Venus und vor dem Hintergrund des großen Bildfelds jener Personifikationen zu verfolgen, die zuerst in der provenzalismen Lyrik und dann im höfisdten Roman den innerseelisdten Widerstreit überpersönlimer Wesenheiten verkörpern. 11 SddieBlim vermag die folgende Darstellung, die sim im Aufbau ihrer fünf Kapitel im großen und ganzen an die Chronologie der Hauptgattungen hält, aum noch nimt der Aufgabe geremt zu werden, die Evolution der allegorisdten Dimtung mit der Geistesgesmimte und Lebenspraxis des XII. und XIII. Jhs historisdt zu vermitteln. Sie kann nur auf Probleme hinweisen, die sim erst nam der neuen Bestandsaufnahme im timte der Forsmung versdtiedener Disziplinen lösen lassen: auf den Kontinuitätsbrum zwismen antiker und mrisdim-mittelalterlimer Allegorie (denn die allegorisdte Dimtung in romanisdter Volkssprame entsteht weder in Deszendenz von klassismen Vorbildern, nom als Folge der
, sondern aus einer fortsdtreitenden Verweltlimung und Literarisierung der Bibelexegese) ; auf die historismen Ursprünge der neuen Topik allegorismer Dimtung (eine ganze Reihe allegorismer Sujets des XIII. Jhs: die , das , Weg und Pforte, der Paradiesgarten, die , der , sind in den mystismen Schriften des XII. Jhs vorgebildet); auf den möglimen Zusammenhang zwismen den nimt erfüllten Endzeiterwartungen des X. Jhs, der Rüdcwendung zur typologismen Auslegung der heiligen Smriften und dem Aufblühen der Visionsliteratur im XII. und XIII. Jh. (denn hier smeint sim ein historisdter Prozeß zu wiederholen, der sdton die urmristlime Gemeinde dazu führte, angesimts der Parusieverzögerung die Prophezeiungen der Bibel allegorism oder moralism auszulegen ·und Bilder der zukünftigen oder jenseitigen Welt zu entwikkeln);I. auf den Gegensatz der allegorisdten zu der weltlim-höfismen Dimtung (denn die meist geisdimen Dimter setzen sim von den contes und fables der weltIimen Dimtung ab und bezeimnen den neuen <modus dicendi> der allegorismen Form
Mainz hon par aventure Est rimes sanz mesure Plus que nus de sa rue;
Mais puis li recourt soure Aventure en pou d·oure. Qui de ce le remue.
Oe si haut si bas, ce dit li vilains. (Nr. 219) Zur Personifikation in späterer Tradition cf. M. W. BLOOMFlElD, A grammatical approam to personincation allegory, MP 60 (1963) 161-171. Die Uteratur zu fortuna verzeimnet K. HElTMANN, Fortuna und Virtus, Köln/Graz. 1958. ferner F. P. PIcICEUNG, Nota on fate and fortune, in: Mediaeval German Studies (=Mel. F. Norman), Landon, 1965, 1-15. • Cf. J. SEZNEC, The survival of the pagan gods, New York, 1953; SCHILUDKO 0744; MusCAnNE 0712; JAUSS 0676, 134 sq. Die Personifikation ist aum ein konstitutives Stilmittel des dramatisienen Dialogs in der Tradition der dibats. tl Bei dieser Hypothese, die meiner Darstellung der Visionsliteratur in cap. 3 zugrunde liegt. stütze im mim auf die Arbeit von M. WERHDt, Die Entstehung des mristlidten Dogmas, Stuttgan, 1959, und H. BLUMEHHJtG, Epodtensdlwelle und Rezeption. Philosophisme Rund-
I'
[158]
III
Einleitung
151
mit dit, um den höheren Rang des Nichterfundenen - dit von 'Dentatem dicere - zur Geltung zu bringen);11 auf den gegenläufigen Prozeß der höfischen Dichtung, die unter der Herausforderung der religiösen Allegorie im XIII. Jh. beginnt, die doppelte Wahrheit der Schriftexegese für die poetische Fabel des amour courtois zu beanspruchen (die Allegorisierung der Poesie als Antwort auf die geistliche Dichtung im allegorischen .modus dicendi> bezeugt sowohl Guillaume de Lorris für die Minneallegorie 11 als auch Richard de Fomival, der die Kasuistik der höfischen liebe im allegorischen Gewand der Bestiarien auslegte); I. auf die Bedeutung der Wendung, die Jean de Meun mit dem zweiten Teil des ROmGn de la rose in der Geschichte der allegorischen Form herbeiführt (denn diese Wendung hat ihre historische Parallele in dem Umbruch, den der Sieg des Aristotelismus und die Auseinandersetzung mit den averroistischen Lehren in der Theologie und Philosophie des XIII. Jhs zur Folge hat), und schließlich auf die verschiedenen Bedingungen der Rezeption, die erklären könnten, warum die zuerst in Frankreich bzw. in der Provence ausgebildeten Formen und Gattungen allegorischer Dichtung in der üteratur der anderen romanischen Nationen einen so versdtiedenen Widerhall (in Italien entsteht eine Fülle selbständiger Formen der allegorischen Dichtung oder Enzyklopädie und - als neue Replik auf die Minneallegorie - der Dolce stil nuO'DO, in Spanien finden sich nur wenige und unselbständige Nachahmungen französischer Vorbilder) ausgelöst hat.
'NU 6 (1958) ~120; d. W. K.un..ur 0680, der die Enthi.torisierung und Spirituali.ierung der esdtatoloSischen Erwartungen aus einem anderen historischen Faktum, dem Ende der Christenverfolgunsen, erklärt: cSeit die Ecclesia nicht mehr die von Rom verfolgte Gemeinde ist, hat das Interesse an ihrer geschichtlichen Zukunft nachgelassen zugunSten des Interesses an der Zukunft des Einzelnen» (p. 72). [U. Ebel] a So z. B. der norm. Verfasser eines Be.tiai", Gervaise ;t 4196, der gegen die lableors polemisiert, weil sie mit labk. delitouses et plaisables (vv. 19-20) mehr Erfolg haben, obwohl sie .ich nur auf einen Sdariftsinn verstehen. Seine estoire hingegen bedürfe keines embellir, weil .ie tot... e.tTait de vmte und zusleich auf eine verborgene signifiance anselegt sei. Wie hier tritt auch in anderen Werken des neuen allegorischen .modus dicmdi. häu&g estoire und dit in Opposition zu lable und conte; d. JAUSS 0676, 118 sqq. a Cf. prol. des Roman de 14 rose ,lf4664: Maintes genz dient que en songet N'a se fables non e men~es; Mais l'en putt teus sonaes soasier, Qui ne sont mie men~nsier, Ainz sont apm bien aparant (vv. 1-5) . .. Ich kann hier auf das Fazit verweisen, da. R. DIlACONETTI in einer Rezension, der ich besondere Anregungen verdanke, aus meinen früheren Forschungen zur Entstehung der AUegorie in romanischer Volks.prache gezogen hat, cf. RBPIa 43 (1965) 118: cEn d'autres termes, la 6ction se ri~re maintenant • une profondem qui est celle d'une v~ritf propre 1 la po&ie. Et c'est par 11 que le Roman de ltJ rose achnre une ~volurion. (... ) Face au Livre absolu, 1la foit le modele tt le rival, la po&ie, 1la recherche de san autonomie, .'dforce de tirer elle-mble une parole d'autoritf (Amor, par ex.) qu'eUe dispute 1 celle de la Bible.•
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152
C. Entstehung und StruktllnDandel der allegorischen Dichtung
1. DIE ABLOSUNG DER VOLKSSPRACHLICHEN ALLEGORIE VON DER BIBELEXEGESE
Am Anfang einer Geschichte allegorischer Dichtung in romanischer Volkssprache steht die Behandlung biblischer Stoffe und religiöser Themen in den Formen, die in der schulmäßigen Bibelexege5e und homiletischen Praxis vorgebildet waren. l Mit diesem ProzeB hat sich die vornehmlich theologische Forschung noch wenig beschä.ftigt. Für Frankreich haben S. Berger und J. Bonnard eine erste Zusammenstellung der Bibelversionen und übersetzungen gebracht.- Die Ablösung der Formen allegorischer Dichtung von der Bibelexege5e ist seither noch nicht eigens untersucht worden. Neuere Darstellungen der Geschichte des Studiums und der Exegese der Bibel im Mittelalter wie die F. Spicqs und B. Smalleys halten sich an die groBen Schulrichtungen und Exegeten und lassen die volkssprachliche Entwicklung .uSer Betracht.I Wenn Smalley diese Auslassung damit begründet, der Klerus habe sich bis zum Ende des XIII. Jhs das Monopol der Bibelexegese bewahrt, welches erst dann - beginnend in Italien - von Laien und Häretikern durchbrachen wurde,· so schloß diese Unselbständigkeit der Laienbildung aber nicht aus, daß vom Ende des XII. Jhs an von Geistlichen und Laiendichtem aus der Bibelexegese eine selbständige allegorische Dichtung für die illiterllti geschaffen wurde. Da die historischen Beziehungen zwischen Bibel, Predigt, Laienseelsorge und Laienkultur in diesem Zeitraum noch kaum erforscht sind,' kann auch der folgende überblick nur die Phasen der literarischen Entwidclung namzeidmen, nicht aber ihre Zuordnung zur Geschichte des Bibelstudiums und der Homiletik (leclio diT1inll), der kirchlichen Institutionen und der evangelischen Bewegung (creveil ~van~lique.) oder schließlich der neuen, von der Exegese abgelösten Theologie (do"rina .aCTII) versuchen. Es muß der zukünftigen Forschung überlassen bleiben, die Frage zu beantworten, ob und inwiefern in den volkssprachlichen Formen der allegorischen Dichtung Ereignisse des religiösen Lebens und Denkens einen Niederschlag gefunden haben. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß die ersten Ansätze einer geistlichen Dichtung in allegorischer Form in Frankreich in die Epoche fallen, die durch die Wendung der Viktoriner, den Literal,inn der Bibel (historia) zur alleinigen Grundlage der Allegorese zu machen, eingeleitet wurde und den groBen creveil scripturaire qui anime la seconde partie du 12' sikle et les premieres dkades du 13'. zur Folge hatte.' Während die Pariser Theologen der biblisch-moralischen Schulrichtung, Petros Comestof, Petrus Cantor und Stephan von Langton, am Ende des XII. und zu Beginn des XIII. Jhs die Schriftauslegung praktisch-paränetischen Zwecken dienstbar machZum Ursprung allegorismer Dichtung in der clRitigkeit des auslesenden Kommentaton biblismer Texte und des Predigers. cf. GaölEJl in GG, 111, 689 sqq. • BacEJl 040, BoNNAaD °32f; ferner D. Loa1'SCB, Histoire de Ja Bible en France, Parie,
I
1910. • S'ICQ 0228; SKAllEY 0368, p. xviü. • Ib., p. xix. I H. ROST, Die Bibel im Mittelalter, Augsburg, 1939; weitere Uteratur bei SKALLEY 0368, p. xix. I CHENU 064,198.
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1. Die Ablösung der vollcs"",ICJalic#am Alltgorit von dtr Bibtlutgtst
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und die literatur der dis tin ction es aufblühte,7 entstanden die ersten allegorisenen Bibelparaphrasen (Landri de Waben, fructa'Dit, Les quatre filles de dieu), etwas später die französischen Bestiarien, und sdilieBlich zeichnet sich in der religiösen Dichtung von Guillaume le derc, Roben Gr05seteste, Guiot de Provins und Reclus de Molliens der übergang von te'Xtgebundener allegorischer Auslegung zu freieren, zum Teil rein meditativen Formen allegorischer Dichtung ab. Die volkssprachliche Allegorie entwickelt sich aus der historia der Bibel und folgt offenbar der augustinischen und viktorinischen Tradition; ihr Nährboden ist die Geschichte, das Drama von Fall und Erlösung der Menschheit, nicht die Natur, wie sie die per integumenta sich darstellende Theologie des Platonismus von Chartres oder jener neue Symbolismus der hierarchia und anGgogia zum Gegenstand hatte, der aus der Rezeption pseudo-dionysisdter Ideen hervorging, sich vor Dantes Paradiso aber nicht in dichterische Fonn umgesetzt hat.' Die Krise häretischer und antiklerikaler Bewegungen am Ende des XII. und Anfang des XIII. Jhs hat kaum einen Niederschlag in allegorischer Dichtung gefunden; lediglich das Tournoiement de I'Antichrist "'4596 von Huon de M~ry bezieht Position gegen die Albigenser. Die typologisch-spekulative Schriftauslegung JoadUms von Fiore fand keine Nachfolge in der volkssprachlichen Allegorie der Spiritualen; diese greift in der franziskanischen Giostra delle 'Dirt" e dei 'Dizi '" 4584 wieder auf das Schema der Psychomachia zurück oder bedient sich der Allegorie der Mistiche nozze di s. Francesco e Madonna PO'Derta "'4128. Es bleibt zu untersuchen, ob die Reformdekrete des vienen Laterankonzils (1215) mit der Belebung der Volkspredigt und die wachsende Verbreitung des parabolischen oder allegorischen Lehrgedichts (Dit) in einem nachweisbaren Zusammenhang stehen. Offen muß auch die Frage bleiben, ob die große theologische Wendung des XIII. Jhs: der Widerspruch zwischen symbolischer Theologie und aristotelisener Logik,' die Entscheidung von Thomas v. Aquin, die Theologie allein auf dem sensus litteralis aufzubauen und die Exegese secundum allegoriam auszuechlieBen, und der um 1250 vollendete Sieg der scholastischen Dialektik der questiones über das Prinzip der Einheit von Sacra Scriptura und theologia,11 eine Auswirkung auf die literarische Entwicklung gehabt hat. 1I In der Zeit des Verfalls der spirituellen erpositio 11 findet sich zwar eine Fülle kleiner erzählender oder erbaulicher Fonnen der (meist personifizierenden) Allegorie, aber keine groBe religiöse Dichtung, die sich mit den weltlichen Allegorien im Gefolge des Roman de la rose messen könnte: die Emanzipation der Philosophie von der exegetischen Fonn der Theologie hat ihre historisene Parallelerscheinung in der seit Guilteil
., M. CU.WANN, Die Cesdüchte der .molutiJdten Methode, Frciburg, 1911, 11 476 sqq.; 5auun 0368,196 sqq.i CRENU 064,198-200. I Cf. CRENU 064, (ap. 1, p. v: La platoni.mes du 12e •. - Die anglonorm. /tra,c#aie von Jran de Pedwn "'4526 datiert erst von 1279-90. • CRENU 064,185. 11 1h.,204-209. 11 In diesem ZUJUIUIlenhans ist es vielleicht zu sehen, daS Giacomino da Verona in De lnu••ltm celtsti '" 4522 an theologisch gebildete Leser die Bitte ridttet, den Cebraudt der AlIqorie (signific,,~e) in .einer volbsprachlidten Didttun8 nidtt zu tadeln (vv. 17-20). 11 Cf. SMALLEY 0368, 281-292.
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154
C. Entstehung und StTuktunDandel der allegori.dam Didatung
laume de Lorris vollendeten, in einem neuen GanungsUnon gegründeten Emanzipation der Allegorie als Form weltlicher Dichtung." Die frühesten Zeugnisse der Allegorie in französischer Volkssprache bezeugen ihren Ursprung im exegetischen Verfahren. Es handelt sich um Bearbeitungen biblischer Bücher oder sakraler Texte, die seit der Mitte des XII. Jhs begegnen und allesamt an Adelshäfen entstanden, also noch für private Empfänger bestimmt waren. So brachte San S 0 n deN a n te u il "'3116 für Adelaide de Condi~, eine qliJdIe Dame, die Prooerbia Salomonis in gepaarte Achtsilber und teilte seine Bearbeitung kapitelweise in Litera und Glose auf; der Kommentar führt die Moralisation zum allegorischen Verständnis des Textes und folgt in der Wortexegese einer über ahabanus Maurus hinausgehenden Quelle. Um 1180 hat ein gewisser Silvestre "'228 für die Gräfin Ida von 8oulogne das Pater Noster versikelweise erst moralisch und dann allegorisch erläuten (Une glorituse orisonl Vourai demoustrer m .iermon, w. 17-18). Eine übersetzung der Genesis mit ausführlichem allegorischen Kommentar begann 1192 Evrat ,111824 im Auftrag der Gräfin Marie de Champagne; seine Version weicht an einer bemerkenswenen Stelle von der orthodoxen Tradition ab: die ErschaHung der Tiere ist auf den fünften Tag verlegt, so daß der Mensch seinen Schöpfungstag mit keinem anderen Lebewesen teilen muB. u Am Hofe des Grafen Balduin deGuines, dem in der Chronik von Lamben d' Ardres nachgerühmt wird, daß er illiteratu. war und gleichwohl den mystischen Sinn biblischer Bücher verstand (mi.ticam TJirtlltem ... capescebat),11 schuf Landri de Waben ,114116 eine Paraphrase des Canticum Canticorum. Der Verfasser, ein Kleriker von bedeutender literarischer und theologischer Bildung, verknüpfte die lyrischen Traktatliteratur, Tugendlehren und Laienmzyklopädien, die den didaktischen Gehalt in aUegorismem Gewand darbieten, werden in Teil B behandelt; vid. B, cap. Id: Laurent de Bois, Sommt I,. roi ",2386 (jardin dts "trtus mit der Allegorie des Lebensbaumes), Jean de Journy, Dimt dt ptnitanct ",2372 (mit religiösen Allegorien wie der Quelle, die von Sünden reinigt, dem Gefängnis, dessen Pforte die BuBe öffnet, und einer kleinen psychomachia); vid. B, cap. Ig: Simund de Freine, Rom4ln d, philosophi, ,11 2576 (Bearbeitung der Consol4ltio von Boethiu.); vid. B, cap. 2c: Francesco da Barberino, R,ggimmto t costumi di donna ,112748 (Allegorie der M4Idonna, die als Quelle aller Inspiration erscheint und mit Personifikationen wie Vtrginita, Sptr4lnz41 etc., welche jeweils über eines der 20 Bücher gesetzt sind, Dialoge führt) und Docummti d' 4Imort ,11 4580 (kosmologische Allegorie als Umrahmung, Sdtema des Instanzenweges: der Dimter wird von Amor beauftragt, seine Untertanen zu einem alto parlamtnto zusammenzurufen; die curi41 Amoris befindet sim an einem jenseitigen, höchsten Ort, hat keine Pforte nam auBen, sondern nur Pforten im Innem, die von Stufe zu Stufe aufwärts führen; auf diesen Stufen ruhen und warten Wesenheiten, bis sie zu Rat, Hilfe oder Sühne gerufen werden; Amor, der über allem thront, verlautbart sim durch den Mund der f;loqUtnf4l; sie sitzt links von ihm auf dem obersten Rang, während Cwrialitas den Platz redtts von ihm einnimmt; die anderen Potenzen sind, der Einteilung in 12 Bümer entspredtend, Amor so zugeordnet, daS die durch sie figurierten Lehren gleichfalls von ihm sanktioniert erscheinen: Sub ta itaqwt co"tinttur, qwtcumqwt ab tius consilio swmpsit amor, d. 42); vid. B, cap. 4f: Philippe de Thaon. Compwt ,113516 (Calendarium mit religiöser Allegorese); vid. B, cap. Sb: MatEre Ermengau, BrttJiari d'amors ,113674 (mit der Allegorie des Baumes der Uebe, der .ich zunichst in Gott und Natur und dann in immer weitere Potenzen und Lebensbereime gabelt). " Cf. BENTON 0616, 563 sqq. I' Cf. SWALlEY 0368, p. xviii; zur Chronik von Lambert d' Ardres zuletzt H. fATZE, Adel und Stifterchronik, in: Blatttr für deutscht lAndesgtschichtt 101 (1965) 7~7.
11
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1'.111
1. Die AblöslUIg der "ollcs."rtJlJalidten Allegorie "on der Bibele%egese
155
Versikel des Hohelieds zu Episoden (lZOtnhlres) einer epischen Handlung und wußte dabei alle Arten des vierfachen Sduiftsinns zu benutzen, den er vielfach auch schon in die Reden der Personen hineinnahm." Damit ist ein großer Schritt zur poetischen Form allegorischer Darstellung getan: der verborgene Sinn wird von Landri nicht mehr einfach als eine objektive, jedermann zugängliche Heilswahrheit enthüllt, sondern in die esoterische Sprache einer höfischen Minneallegorie gebracht, die ein eingeweihtes Publikum voraussetzt und die Unverständigen ausschlie8t, wie das Beispiel des 101 't1iltain im Epilog -bestätigt." Der Epilog spricht auch vom Dichten im Dienst einer (ungenannten) Dame. Wenn man darin eine Analogie zum Frauendienst sehen darf, hätte Landri de Waben nicht allein die Hoheliedexegese aus der klösterlichen in die höfische Welt gebracht, sondern auch eine Verschmelzung von religiöser Erfahrung und hö&schem Minneideal versucht, die in der Geschichte der volkssprachlichen Allegorie einzig dasteht. Ein biblischer Text, der seit Augustin 11 gleichfalls allegorisch auf die Hochzeit von Christus und der Kirche ausgelegt wurde, war der Psalm XLIV. Er erscheint volkssprachlich in Er 84 , 112 't1 i 1 '" 4052, einer Marie de Champagne gewidmeten Allegorie, die früher mit zweifelhaher Begründung Adam de Perseigne zugeschrieben wurde. Der Verfasser hat die Erläuterung der einzelnen Versikel in freier Weiterbildung von I Par. 21, 16 einer lZOision Davids untergeordnet, die in der Tradition der Psalmenexegese nicht vorgegeben war, und seine allegorische Fabel durch lange moralische Betrachtungen erweitert, um auf diese Weise große Teile des Dogmas mit zu behandeln. In der Allegorie, die verschiedentlich in das Gewand höfischer Vorstellungen gekleidet ist, erscheint David bÜßfertig vor dem verschlossenen Tor des Paradieses und bittet um Einlaß, weil er as noces Deu el sainle eglise als Sänger (io'84lalor Dei, v. 235) zu Diensten stehen wolle; er wird schließlich eingelassen, darf le bel eslre de paradis (v. 306) schauen und singt sodann für den (König' und die (Königin. je neun Verse seines Psalms. Neben den im Auftrag von Adelshöfen geschaffenen Werken entstand schon 1180 eine Allegorie La pT 0 p Ja eIi e d e Da 't1 i d "'4132, die unmittelbar auf die homiletische Praxis zurückweist. Der Verfasser ging von einem Abschnitt der esloire anriene (11 Reg. 25) aus, um mit der Allegorie der Einnahme Jerusalems (d. h. der Seele) durch den Herrn von BabyIon (d. h. des Teufels) die Anfechtungen durch die Laster lehrhah zu verbildlichen. Ein solches Verfahren legte schon der mehrfache Wortsinn von Jerusalern, das bekannte Schulbeispiel für den vierfachen Sdtriftsinn, nahe; die biblische Geschichte ergab den epischen Faden, der als mnemotechnisches Scherna für die Predigt dienen konnte. Denn die esloire ancitne ist hier nur der äußere Rahmen und Anlaa für predigthahe Betrachtungen, in denen sich die Allegorie mehr und mehr verliert, um erst wieder am Ende in der Beschreibung des himmlischen Jerusalems (v. 1313 sqq.) sichtbar zu werden. Auch die Personifikationen der TugenSI F. Om.Y, Hoheliedstudien, Wiesbaden, 1958, 291; zur Frase des mehrfachen SchriltsiM' cf. H. DE lUlAc, Sur un vieux distique - La doctrine du .quadruple sens., Mtl. F. Cava!lera, Toulouse, 1948, 347-366, und A. Nomz, Uteralnes. end the sensus litteralis, 5 34
(1959) 76-89. F. Om.Y, ib., 284: . •1 Enn. in pI., Opera omnia, Paris, 1835, .541.
n
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156
C. Entstehung und Strukturwande1 der allegorischen Dichtung
den und Laster sind hier nur lehrhaft aneinandergereiht, ohne Funktion für die Handlung; an den letzteren soll im besonderen deutlich werden, daß Laster qui vertuz samblent (v. 125) die gefährlichsten sind. Am Ende des XII. Jhs steht ein Werk, das sein hohes satirisches Pathos aus einer christlichen Allegorie gewann und sowohl durch seine neue Form der Helinantstrophe als auch durch seinen Ton der Weitabkehr auf die geistliche Dichtung im XIII. Jh. wirkte: die Vers de la mort des Mönches von Froidmont ,;t7296. Hier ist der Tod zugleich Personifikation, höchste allegorische Wesenheit und Schema einer Exegese, die beansprucht, die einzig wahre, desillusionierende Auslegung der Welt zu sein. Die implizite Gegenposition zur weltlichen Dichtung läßt sich auch daran deutlich machen, daß der Tod aus der fiktiven Welt der höfischen Konvention ausgesdtlossen ist und auch unter den allegorischen Mächten des Roman de la rose nicht erscheinen wird. Die geistliche Dichtung des beginnenden XIII. Jhs hat noch andere allegorische Predigtthemen aufgenommen, die sich seit Bemhard v. Clairvaux und den Viktorinern besonderer Beliebtheit erfreuten: die armatura Dei, die (drei Feinde des Menschen', die (vier Töchter Gottes) und das castellum amoris'" Die Allegorie der armatura Dei geht auf Eph.6, 10-17 zurück, die paulinische Beschreibung der Situation des Christen in seiner ständigen Bedrohung durch die nicht körperhahen Mächte des Bösen - eine Quellenstelle für den Ursprung und die christliche Rechtfertigung der personifizierenden Allegorie! In mittelalterlicher Tradition diente die biblische (Rüstung des Glaubens> zur allegorischen Erläuterung ritterlicher Standesideale des miles christianus; die beliebte Allegorie findet sich bei vielen Dichtern, im Dit de l'epee von Jacques de Baisieux ,;t 4100, im Enseignement des princes von Robert de Blois ,;t 2892, im Roman des romans ,;t 7216, in den Castigos y documentos des König Sancho ,;t 2900, bei dem katalanischen Dichter Peire March oder in den Leys d' Amors,20 sie ging in die Queste du S. Graal ein und in Erzählungen wie den Conte du barril, wo sie der Eremit als Wegweisung für den erlösten Ritter benutzt, und kehrt in einer letzten großen Gestaltung in Ramon Lulls Libre dei orde de cavalleria wieder. Hier sei eine frühe Version, die Armure du chevalier (nach 1204109) von Guiot de Provins ,;t4072 herausgehoben, die sich dadurch auszeichnet, daß der bekannte Satiriker auch diesem ehrwürdigen Sujet eine Wendung ins Persönliche zu geben wußte. Für ihn, der sich aus der ritterlichen Welt ins Kloster zurückzog und unter der Mönchsregel der Benediktiner litt (v. 19 sqq.), bedeutet die armatura Dei den Trost einer molt belle remembrance (v. 30); er beruh sich ständig auf Paulus als den apostres qui tant fu elers (v. 464 sqq.) und bezieht seine Exegese, nicht ohne Seitenhieb auf die Brüder von Cluny (vv. 15,80 sqq.), auf
11
10
Zum allegorismen Stil der Predigt bei St. Bemhard und bei den Viktorinem cf. Abbe BOURGAIN, La maire fran~ai5e au XIIe siede, Paris, 1879, 216 sqq.; in den Predigten von St. Bemhard findet sich die armatura Dei (8. N. lat. 15959, cf. P. MEYEIl, R 20 [1891] 579 sqq.) in den ihm zugeschriebenen Meditationes de humana conditione, cf. das cap.: De tnbus inimicis hominis, came, munda et diabolo (PL, CLXXXIV, col. 503, cf. J. BASTIN, RBPh 20 [1941] 490); zum bemhardinischen Ursprung der Allegorien der ,Vier Töchter Gottes> und des Castellwm amoris vid. 4136, § 7a und 4156, § 7b. Cf. P. MEYU, R 20 (1891) 579 sqq. und BSATF (1880) 59 sqq., dessen Liste R. CH. BATES (ed., Conte du barnt New Haven, 1932 [YRS, IV], n. zu v. 754) ergänzt.
[164]
1. Die Ablösung der T101kssprachlichen Allegorie T10n der Bibelexegese
157
seine persönlichen Anfedltungen. Bei der Auslegung der einzelnen Waffen fällt die Formulierung auf: Escu nos trai te par semblance
Sains Pols d'une vertu si &ne que le c1ami tout U1umine l' Armtüre.
(vv. 326-329)
Der Schild (scutum lidei) ist nicht einfach Zeichen für Pitiez, sondern erscheint im höheren licht seiner Bedeutung durm die Tugend, die er vertritt und von der sich sein Wesen herleitet. Diesen mystischen Sinn kann ein weltliches Seitenstück zum gleichen Thema, der etwas später entstandene Roman des ailes (vor 1234) von Ra 0 u I d e Ho u den c '" 4140, noch weiter verdeutlichen. Raouls Prolog enthält eine Ausführung über die Beziehung von Name und Wesen des chevalier, die den Zusammenhang von allegorischer Dichtform und philosophischem Realismus ausdrüddich macht (vv.40-56). Wenn die Ritter wüßten, ke li nons est de haut afaire, würden sie sich vieler Handlungen schämen; sie sagen zwar chevaliers sui, wissen aber nicht, warum ihnen dieser Name zukommt: ChU qui n'ont llor nom regart Ne conoi,sent, (,i est grans dues) Aus ne lor non, ne lor non eus, Ques conout dontl- U conteor, U hiraut ft li weor.
Im Namen ist die höhere Wesenheit des Rittertums verborgen, die Exegese dessen, was al non apartient, ist gleichbedeutend mit einem Katechismus der ritterlichen Tugendlehre, und der Dichter, der allein in dieses Wissen eingeweiht ist, kann darum auch das Amt des Exegeten übernehmen, das bisher dem Kleriker vorbehalten war. Raoul hat wahrscheinlich ein weiteres Schema der geistlichen Allegorie profanisiert, wenn er sodann die beiden Hauptnormen des höfischen Rittertums, Largesce und Cortoisie, am leitfaden der je sieben Federn zweier Flügel auslegt. Ein ähnliches Schema findet sich bei Alanus, der die Allegorie der Flügel in Oe sex aliis Cherubim für die Aufreihung christlicher Lehren benutzte. Das scheinbar nur didaktische Schema begegnet bei Richard von St. Viktor aber auch in figürlichem Gebrauch: die Flügel versinnbildlichen hier verschiedene Grade der mystischen Kon remplation - eine Bedeutung, die im Roman des ailes durchaus mitschwingen könnte.11 Von gleicher 8elieMheit wie die armatura Dei war in der volkssprachlichen Allegorie dieser Epoche ein Predigtthema,u das der Eingang eines Dit "'4576 auf die kürzeste Formel bringt: Mundus, cuo, dcmonia Diversa movent prella Turbantque cordit sabatum.
Auch diese Allegorie weist auf Eph. 6, 1~17 zurück, wie ein anglonorm. Traktat Le chevalier de Dieu "'4016 zeigt. Hier wird die wahre Bedeutung des Rittertums I.
11
Nach A. MlCHA, RMAL 1 (1945) 305 sqq. Vid. B, cap. Ib: Da. le omnipotent ;t 2196.
[16S]
158
c.
Ent.tehung und StruktunDandel der allegorischen Dimtung
zunämst etymologisch erklän (1
xv.
Descouvrir er en clane metre. (v. 17 sqq.)
Die os,"rte de la lettre entspringt hier daraus, daß der Psalmdichter selbst schon eine Figur allegorischer Rede, die personi!icatio, verwendet hatte. Der dunkle smsus UtteraUs des Verses erfordert und rechtfertigt nach Riman die Auslegung durch eine Fiktion, die er folgerichtig mit lable bezeichnet, obwohl dieser Begriff von geistlichen Dichtem bisher stets polemisch auf die Lügen der weltlichen Dichtung bezogen wurde. Richa" setzt sich von dieser aber sogleich wieder ab, indem er für seine Fiktion in Anspruch nimmt, daß sie zugleich .Fabel und Nichtfabel. sei, damit auf neue Weise den allegorischen Doppelsinn bezeichnend, den er nach wie vor der geistlichen Dichtung vorbehalten will: Or escoutez fable er non-fable, Mais vraie er veritable.
mose
11
Zur Tradition des alles. Thmw cf. J. BASTDI, RBPh 20 (1941) 490-492.
[166]
1. Die Ablösung der 'Oollcss,rachliclatn Allegorie 'Oon dtr Bibelexegest
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Dieser ersten Rechtfertigung der Fiktion in geistlicher Dichtung entspricht ein ausgesprochen literarisches Verfahren, das die allegorische Darlegung der verborgenen Wahrheit von Ps. 84, 11 an sim nicht erforderte und aum in Richarts Quelle noch nicht zu finden war. Während dort schon in der Einleitung die Bedeutung der Tugenden erklärt und damit der Sinn der Fabel vorweg verstanden wird, bleibt dem Publikum Richarts der Sdtlüssel der Allegorie bis zum Schluß der Fiktion vorenthalten; erst dann leiten die Verse 411-418 von der fable (sensus litteralls) zur non-fable (sensus allegoricus) über: Or primes est ma toile ourdie. Or est il droi. que je vous die Dont et comment ele est cousue, Et de I'entree et de l'wue Elt raisons que je vous responde Et mot a mot le vous desponde Et face entencbe apertement Ce que j'ai dit couvertement.
Das Verfahren, die Auflösung des allegorischen Doppelsinns hinauszuzögern und damit aus der oscurte de la lettre einen poetischen Effekt geheimnisvoller und beziehungs reimer Spannung zu gewinnen, hat sich um diese Zeit offenbar allgemein in geistlicher Dichtung durdtgesetzt. Es marakterisiert die Versionen der Allegorie von den vier Töchtern Gottes, die Guillaume le derc seiner Vie de Tobie (vid. V) und R 0 b e rt G r 0 s set este ;'4156 seinem Chateau d' amour einverleibt hat, und findet sim in mehr oder weniger vollkommener Fonn in den meisten allegorischen Werken des Jahrzehnts von 1220 bis 1230. Das Chateau d' amour führt seinen Titel nach einer anderen, wiederum auf die mystische Theologie des XII. Jhs zurückgehenden Allegorie," die gleimfalls aus einem Satz der Bibel: Intra'Dit ]esus in quoddam castellum et mulier qllaedam nomine Marthe sllscepit illum in domo suo (Lue. 10, 38), abgeleitet, nun aber nimt als Handlung ausgeführt ist. Der Verfasser beschreibt zunächst ein chastel (vv. 569-658), um sodann - nach dem allegorismen Verfahren der distinctiones - diese Besmreibung Zug um Zug wieder aufzunehmen und in Beziehung auf Mariä Empfängnis auszudeuten. Die Allegorie des chastel de delit t de solaz e de respit (v. 659 sq.), das geistliche Seitenstück zum hortlls conclusus und chastel der Minneallegorie, ersmeint bei Robert Grosseteste im größeren Rahmen des allegorischen Sdtemas der Namen Christi, deren Erläuterung nach einer geläufigen exegetischen Tradition den Aufbau des Werkes bestimmt. Andere Dimter dieser Zeit entwickeln aus der Kurzfonn des allegorischen Dit eine meditative Fonn geistlimer Dichtung, die durch die Verbindung von Allegorie, Bibelparaphrase und eigener moralischer Reßexion zu kennzeichnen ist. Der Besant de Dieu (1226/27) von Guillaume le eIere ;'4060, eine in freier Benutzung der Schrift De contemplu mundi von Innozenz 111. verfaßte Satire auf alle Stände, füllt diesen Rahmen mit schon bekannten allegorischen Motiven, von denen jedes für sich ausgeführt und gedeutet wird: die drei Feinde Spiritus immundlls, Caro, Milndus, denen der Mensm seit dem Sündenfall ausgesetzt ist (vv.405-528), It 14
Sie 6ndet lidt bei Hugo v. St. Viktor, Bemh.rd v. Oairvaus und anderweitig, d. WALTHn
0244, 85--88.
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160
c.
Entstehung und Struktunoandel der allegorischen Dichtung
chasteau as puceles (vv. 17~20S8), wohl von Robert Grosseteste übernommen, und das Schiff der Kirche (lll nef sainte pere, v. 2009 sq.). Die allegorische Darstellung wechselt ab mit der Auslegung biblischer Parabeln (Sämann, Weinberg, verlorener Sohn), von denen eine, das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (Luc.19, 13-28), auf das Amt des Dichters bezogen und leitmotivisch immer wieder abgewandelt wird. Die mosaikartig zusammengesetzte Allegorie des Besant de Dieu hat ihre Einheit im persönlichen Ton und der lehrhaften Absicht einer Satire, der man zu Recht ein kraftvolles Pathos, plastische Darstellung des Kreatürlichen und überraschenden Freimut in der Äußerung politischer Standpunkte nachgerühmt hat. Auf ähnliche Weise hat Guillaume in einem kleineren Werk, dem Dit T r 0 i 5 mo t s 1'4068, verschiedene allegorische Themen verknüpft und meditiert. Die (drei Worte. sind die traditionellen drei Hausplagen fumus, stillicidium und mala laor, an denen Guillaume demonstriert, warum Adam das Paradies verlor. Um sodann vor Augen zu führen, welches Los dem Menschen seither auf dieser Welt zugefallen ist, benutzt Guillaume eine weitere Allegorie orientalischen Ursprungs, die durch den dunklen Sinn ihrer rätselhaften Fabel über die meist schon zur Trivialität abgesunkenen Allegorien der erbaulichen Dits hinausragt: der auch aus einer (älteren?) pikardischen I' 4036 und einer burgundischen I' 4040 Version bekannte Dit de I'unicorne et du serpent. Ein Mensch wird in wüstem Land von einem Einhorn (la mort) gejagt; ein schwarzes und ein weiBes Tier (le jor et la nuit) benagen ständig die Wurzeln eines Baumes, auf den er sich retten konnte; er hungert, weil er nicht nach den Früchten des Baumes (terrienes delices) greifen kann, ohne in einen Abgrund zu stürzen, in dem ein Drache mit Kröten und Schlangen haust (la tenebros prison). Nach der moralischen Auflösung folgt noch eine erbauliche Betrachtung mit der Rüdcwendung auf den Anfang, in der die Ausskilt auf ein Haus ohne Plagen (li paradis ) eröffnet wird. Zu gröBerer Beriihmtheit gelangt ist ein Zeitgenosse Guillaumes, der Mönch (und vielleicht spätere Abt) von Saint-Fuscien-au-bois, Re c I u s deM 0 II i e n s. Das frühere seiner beiden Werke, die er offenbar schon in vorgerücktem Alter und vermutlich nach vorangegangener literarischer Aktivität verfaßte, der Roman de marite (ca. 1224, 1'4148), gibt dem Thema der Queste einen streng geistlichen Sinn: der Dichter begibt sich auf die Suche nach Carite, kann sie aber in keinem Lande antreffen. Dieses Thema wird indes nur als Rahmen für die Absicht benutzt, de bons examples de moralitez seur tous estas de tout le siede (ed., p. xviii) zu geben. Er tritt selbst nicht als Wanderer in Erscheinung, sondern schildert von vornherein im Rückblick des moralisierenden Betrachters. Damit wird Carite, die sich in das himmlische Jerusalem zurückgezogen hat, zum femen Ideal der pathetischen Satire, an dem die schlechte gegenwärtige Welt ihr Maß 6nden soll (str.8). Für den manieristischen Stil, der die ganze Darstellung überwuchert, ist kennzeichnend, daß auch am SchluG der umrahmenden Fabel das himmlische Jerusalem nur mit Hilfe der adnominatio evoziert (mons de joie, str. 230 sq.), nicht aber allegorisch beschrieben und ausgelegt wird. - Der vier bis fünf Jahre später entstandene Roman de miserere ;t 4144 ist für die Geschichte der Allegorie vor allem durch die zahlreichen Züge bedeutsam, die dieses Werk in auffallender Analogie mit dem Roman de la rose gemeinsam hat. Der im übrigen so fromme und moral strenge Mönch und spätere Abt benutzt hier ständig das hö6scheVokabular für religiöse Beziehungen (vid.4144, §Sg);
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1. Dit Ablösung dtt 'Oolkssp,,,dtlidttn Alltgorit von dt, Bibtlt"tgtst
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unter den Beispielen und Allegorien, in die er seine Ermahnungen kleidet, findet sich eine Vision des Paradieses, das als bel vergie, umgeben von hohen Mauem gesdWden wird und dessen Anblick einen reichen Sünder im Traum zur Einkehr bringt (str. 56 sq.); die Seele des Menschen wird einem Haus verglithen, das - wie Chastee bei Guillaume de lorris - von vier Hütern vor den Anfechtungen der Sinne bewahn wird (str. 170 sq.); dazu kommen Personifikationen wie Paors (str. 170 sq.), Mesdit (str. 112 sq.) oder Disouse (str. 155 u. 174), denen im Roman de la rose eine wichtige Rolle zufällt; und schließlid. sei noch erwähnt, daß am Ende auch nidn die Allegorie der Rose fehlt, die der Reclus als Symbol jungfräulichen Märtyrertums versteht und auslegt (str. 191 sq.). So zeigt der Roman de miserere am vollständigsten jene Tradition geistlicher Allegorie, die Guillaume de lorris wenige Jahre später aufgreifen und mit einem neuen, weltlichen Sinn erfüllen wird, der wohl nur aus der Sicht eines Publikums angemessen zu verstehen ist, dem die durch den Reclus de Molliens zuletzt repräsentiene Tradition geistlicher Dichtung vertraut war. Die Epoche nach dem Roman de la rose (ca. 1237), während der sich die weltliche literatur mehr und mehr der allegorischen Dichtform bemächtigt, hat in der religiösen literatur keine große allegorische Dichtung hervorgebracht. In ihr fand hingegen die Predigtallegorie in der Volkssprache und das parabolische oder allegorische lehrgedicht größte Verbreitung. Die erstere ist durch drei Texte typisch repräsentien, die das Thema der Tugenden und laster nach bewährten allegorischen Mustern verbildlichen: der vielleicht auf Roben Grosseteste zurückgehende anglonorm. Text: Le mariage des neu/ IWes du diable I' 4120, ein Dit des sept serpents von Robert de l'Oulme I' 4152, der die Todsünden mit sieben Schlangen und sieben Wurzeln des Baums der Sünden vergleicht, und der verschiedene Predigtallegorien kombinierende Dit des sept viccs et des sept vertus l' 4576. Das volkssprachliche Korrelat zum lat. lehrgedicht nimmt in dieser Zeit gattungshahe Konturen an und erscheint in Frankreich in verschiedenen Formkonventionen des Dit. Die anderen romanischen literaturen überliefern den Dit als feste Gattung religiöser Meditation und moralischer Unterweisung offenbar nicht. Die Gattungsbezeimnung erscheint im Italienischen als detto, sogleich übernommen für weltliche literatur,IS die sich dann auch im Französischen häufiger des neuen Begriffs bedient. Neben der Entfaltung des allegorischen Dit und anderer, von der Bibelexegese abgelöster Formen religiöser Allegorie besteht in Frankreich aber auch noch eine tradi tionelle exegetische Tradition, auf die wir erst einen Blick werfen müssen. Von den Texten, die biblische Bücher für laien allegorisch erläutern, sei hier eine Version der Livres des proverbes I' 1472 erwähnt, deren Verfasser Ovid und Juvenal in seiner Exegese zitien. Von historischem Interesse ist auch der Kommentar des Exodus in einer Handschrift von le Mans 1'4056. Der Verfasser kündigt den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten mit epischen Formeln an (Les mansions, les lius, les ferres, I Les Batailles, les mals, les gue"es, I Que Israel eut e so/ri, I Quant il Egypte deguerpi, vv. 3-5) und betont dabei, daß ihm einzig an der moralife, allegorie, I Par qui la lois est con/ermee I E nostre vie enluminee (vv. 18-20) gelegen u 11 ditto d'Amort 1'4652; 11 ditto dtl gatto Illptsco 1'4538; im geistlichen Sinn noch bei Pietro d. Berseg.~ als digio, dito (vid. 2300, vv. 2420, 2438).
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Entstehung und 5truktunoandel der allegorischen Dichtung
sei. Seine Absicht, die Exegese nicht por le letre zu unternehmen (v.ll), ist auf eine Auslegung von Deut. 22,6-7 gestützt: le nid deI oisel ai trovi, S'en vueil .olonc auctoriti Laissier le merre e a nostre ues Tenir let polcins e les Uet. (vv. 13-16)
Ob diese ausdrückliche Ablehnung des Uteralsinns (im Bild der Vogelmutter, die man fliegen lassen soll) polemische Bedeutung hat, wird sich erst mit der Frage der Situierung des Textes klären lassen. Der seit dem Ende des XII. Jhs praktizierte neue Kommentartypus der distinctiones, d. h. die cUnterscheidung) des verschiedenen, durch Bibelstellen belegten Wortsinns und das daraus abgeleitete Schema, die Eigenschaften (proprietates) einzelner Dinge aufzuzählen und allegorisch zu interpretieren,l' ist aum volksspraddim verschiedendim als Schema der Detailallegorese oder als selbständige Form bezeugt. Von dem ersten mamte He n r i d' A n dei i in seinem Dit du chancelier Philippe .1'5460 Gebrauch, wo er den Namen des beklagten Philipp des Kanzlers (t 1237) etymologisch auf os lampadis (v. 190) zurückführt und sodann die fünf proprietates der Lampe allegorisch auf die hinfällige Welt und die ewige Flamme der Seele auslegt.17 Die reine Form der distinctiones findet sim volkssprachlim nur als Buchstabenallegorese und im Bruchstück einer Allegorie der Glieder des mensmlichen Körpers .I' 4020. Die Gattung der abecedarischen Allegorie steht in lateinischer Tradition.1I H u 0 n le Roi de Cambrai wollte mit seinem Abeces par eHvoche .1'4092 offensimdim seine gelehrte Bildung unter Beweis stellen. Seine Allegorese geht von der Bedeutung des Bumstabens als Initiale (P: Paradis sene/ie et pere / Et la pume dont "int la peine, v. 220 sq.) oder von der äußeren Form des Smrihzeimens aus: E bedeutet Eva, sein kleines cAug~) das leid, das durch Eva in die Welt kam (vv. 67-82). Während Huon die abecedarisme Allegorie mit allerlei Reimkünsten ins Spielerische und Satirische wendet (K: Deus "entres a la letre male, / Tous tans "eult plainne a"oir Ba male. / K sme/ie les prelaB, v.135 sqq.), macht sie Jacques de Baisieux in seinem Dit des cinq leltres de Marie .1'4104 einer frommen Absimt dienstbar. Hier wird die Exegese der Buchstaben auf das eigene sündige Ich bezogen, Maria als Mittlerin (M: moimeresse, v.21) angerufen und ihre Hilfe (A: aie, v.89) erfleht, um Erlösung (R: relt"Ver, v.126) zu erlangen." Dieselben Attribute der moimeresse und relt"Veresse verwendet der ßandrische Menestrel zu einer Definition Amon, die seine Erläuterung des Fiel d'amour .1'4108 eröffnet. Die Allegorese dieses bel dit 11 Cf. CHEHU °64, 196-200; Omv °168; U. ScuwA., Zur Interpretation der geisd. Bispdrede, in: Annali dell'Istituto univ. orientale Napoli 1 (1958) 153-181. 17 Ein pikardisc:her Dit de la lampe von ca. 1295 .I' 4032 verknüpft die theologische Allegorisierung der Lampe mit einer Sittenlehre für den jungen Adligen. Zur theologischen Tradition der Allegorie der Lampe cf. id. ROUSSEL, 19-20. • Cf. Ungfors, id. (vid. 4092) p. iv sqq., wo noch weitere franz. religiöse und satirisc:heStücke in abecedarisc:her Form zusammengestellt sind. Ferner B. L. ULI.MAN, Abecedaria and their purpose, in: Cambridge Bibliogr. 50,.3 (1961) 181-186. • Die letzten Budutaben werden anders ausgelegt: 1: De vo non mostre comandise, v. In (- Abbrniatur für lat. imperator!); beim zweiten A wird auf die Erkliruns des ersten Bezug genommen, cf. v. 208 mit v. 89.
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1. Die Ablösung der TJolksspradzlicl1en Allegorie TJon der Bibelexegese
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überspielt auch sonst ständig die Grenze zwischen höfisener und spiritueller Liebe: die Frage, was denn der fiez d'amur sei, wird dem Dienter bei einem (Liebeshof> (desputison d'amur, v. 23) vorgelegt, weil sie dessen Kompetenz übersc:hreite; seine Antwon unterscheidet zwar das irdische und das himmlisene Liebeslehen, misent aber in den Erläuterungen des Zeremoniells der Belehnung und der Lehnspflienten den weltlienen und den geistlienen Aspekt des seroice d' Amur immer wieder du reneinander. Schließlien ist hier noen die Allegorie Le corps humain )f 4020 zu erwähnen, ein anglonorm. Text, der das auen in antiker Tradition bekannte Schema von den Gliedern und der Einheit des Körpers im christlien-hierarchischen Sinne auslegt." Mit dem Körper wird die Kirene bedeutet, die naen v. 1241 sqq. mit dem Staat gleichzusetzen sei; dann wird Kopf, Hand und Fuß in einer dreifaenen Stufung auf den Klerus, das Rittenum und die Bauern (auen die Gewerbetreibenden) bezogen. Die Allegorese fühn die Aufgliederung der drei Hauptglieder ins Detail, besenreibt Reente und Pflienten der Stände, wobei Hand und Arm (li chevalers) dem chief untergeordnet, dafür aber den unteren Gliedern als strafende Gewalt vorgesetzt sind (vv. 679 bis 812), und stellt den Begriff der discrecioun in den Mittelpunkt der Tugendlehre. Betraenten wir nun die Texte, die christliene Unterweisung und religiöse Meditation in allegorisenen Formen darbieten, so stehen wir vor dem noc:n wenig erforsenten Phänomen einer lehrhaften Gattung, die seit ca. 1240 das volksspraenliene und volkstümliene Korrelat zum lat. Lehrgedient darstellt: der sog. Dit. Gustav Gröber hat den weiten Umkreis dieser Gattung wie folgt bestimmt und gegliedert: «Der Dit, ob nun moralisch belehrend, beschreibend, satirisen, mahnend oder erzählend, ernsthaft oder senerzhaft deduzierend oder exemplifizierend, ist Fortsetzer des lat. Lehrgedients des 12. Jhs, das schon in den unter Walter Maps Namen gehenden Gedienten Form und Farbe des frz. Dit hat.» Er hat gesehen, daß die eigentliene Blüte des Dit um die Mitte des XIII. Jhs einsetzt, daß sich dann auch namhafte Dienter wie Rutebeuf, Baudouin de Conde und Hue Archevesque mit Vorliebe dieser Gattung bedienen und sie zu einer literarischen Form ausprägen, ein der der Dienter über Zeit und Mitmenschen eine eigne, von seinen Zuhörern unabhängige Meinung geltend macht, sein Inneres aufsenließt und persönlich wird.» Und er hat dazu noch bemerkt, daß auch die Versgeschiente des Dit, der neben dem gepaanen Aentsilber vierzeilige Alexandrinerstrophen kennt und gerne lyrische Strophenformen benutzt, einer Dichtungsabsicht entspricht, «die auch in der Form persönlien sein will, wo sie es inhaltlich iSb. 11 Dieser klarsichtige Versuch einer Gattungsbestimmung des Dit behält seine grundsätzliche Bedeutung, auen wenn er heute im historisenen Bild korrigien werden kann. Die Korrektur ergibt sich aus der schon berührten Wortgeschichte von dit.1! Sie beleuchtet den Ursprung der Gattung insoweit, als sie zeigt, daß der Dit nicht in einem unmittelbaren Folgeverhältnis zum lat. Lehrgedicht, sondern in OpAnekdote der Fabel des Menenius Agrippa (Livius 2, 32). - Für Mitteilungen über das unveröffentlichte Ms. (Oxford, Douce 210) bin ich Herrn (and. phi!. H. Düwell/RS GieBen zu Dank verpßichtet. 11 GG, 11 1, 819 sq . .. VKl. supra p. 150 sq.
M
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C. [nfste/llmg und StrukturTDarulel der allegorischen Dichtung
164
position zu der erzählenden, mithin fiktiven höfischen Dichtung entstand, mit der allegorischen Form den Anspruch auf Wahrheit rechtfertigte und darum auch nicht «erzählend., sondern lehrhaft, parabolisch oder meditativ war. Die allmähliche Ausweitung des Begriffs auf deskriptive Kurzformen der Didaktik einerseits und auf satirische cGelegenheitsdidttungen. andererseits setzt den Wahrheitsanspruch und die bekenntnishafte Intention des Dit als einer ursprünglich christlichen, einem antiliterarischen Protest entsprungenen Gattung voraus; die Vielfalt der um die Mitte des XIII. Jhs aufblühenden weltlichen Dit-Dichtung ist Zeichen für den Sieg der nonfable (vid. 4136, IA, v. 25) über die zur Fiktion gewordene Dichtung der höfischen Welt und bezeugt den Bildungsanspruch einer neuen, von laien bestimmten Gesellschaft. Die Wortgesdüchte zeigt nicht allein, wie mit dem Protest geistlicher Dichter gegen die Fiktion der weltlichen Literatur etwa zwischen 1190 und 1220 die literarischen Begriffe fable und conte (conter) durch die der Bibelexegese entnommenen Begriffe estoire und dit (dire) verdrängt werden." Sie bezeugt auch, daß dit schon vor der Erhebung zur Gattungsbezeichnung verwendet wurde, um mit der historischen Wahrheit einer Erzählung zugleich ihren allegorischen Sinn zu behaupten. Auf ein frühes Zeugnis für den übergang von der neutralen Bedeutung von dit als gesprochenes Wort, Spruch, Sentenz (lat. dictum) H zu der neuen, spezifisch christlichen Bedeutung hat Uda Ebel aufmerksam gemacht. 'T Es findet sich in Adgars Mirakel Comment nostre dame guari un elerc de son let qui trop griement estoi. malade (vid. V, ca. 1170-1180). Da ihm cunte als geläufiger Begriff der weltlichen Literatur für den Wahrheitsgehalt seiner Mirakel nicht mehr genügt, geht er dazu über, den erzählten Vorgang mit dreit (oder verraie) cunte oder aber durch die neue Verbindung von dit und estoire zu kennzeichnen: Quelque seit le dit u I'estoire, Maint prodhom I'aura en memorie."
Dabei schließt dit für ihn die doppelte Bedeutung von sensus litteralis und sene/iance ein, wie eine Stelle aus dem angeführten Mirakel bezeugt: Ki creit iceo par hone creance, Oe cellait crerat sam dutance; Dit dellait suvent senefie Misericorde en bone vie (vv. 121-124).
Als dit dei lait wird die berichtete Heilung des Mönches von der einfachen Ebene einer Erzählung auf die höhere Ebene eines allegorischen Vorgangs erhoben.
Derselbe Adgar, der hier für sein Mirakel dieselbe Wahrheit wie für die estoire der Bibel beansprucht, war auch der erste, der ein allegorisches Thema, die Visiol1
.. Cf. den Besllnt de Dieu ",4060. wo Guillaume le Clere seine aus der Bibel geschöpft. Dichtung (diz, v. 99) von der fole e 'Daine mlltire seiner früheren fables e contes abhebt. .. Zur älteren Bedeutung von dit cf. Brendllns Meerfllhrt ", 4430, v. 81 sqq.: Cil li must'lI, pli' plusurs diz, I beals ensamples e bons respiz. 17 U. E8EL, Das altromanisdte Mirakel, Heidelberg, 1965 (Studill romanieIl, VIII), 86 sqq. • N° 26, v. 157 sq.
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1. Die Ablösung der "olkssprachlimm Allegorie von der Bibele:regese
165
~er
Paradieseswiese mit 23 Arten von blühenden Kräutern, in das Mirakel einführte.'1 Die neue Bedeutung von dit wird zu Beginn des XIII. Jhs von religiösen Dichtem wie Guillaume le Clere, Reclus de Molliens oder den Verfassern des Dit des quatre SCEurs aufgenommen. Sie kennzeichnet dort den neuen modus dicendi der Doppelheit von parole coverte und parole overte, noch nicht aber eine eigene Gattung. Guillaume le Clere hat dieses Verfahren in den Trois mots "'4068 auf eine Formel gebracht, die dit nun auch in verbaler Bedeutung zeigt: Vus ai ces treis maz recitez En tele maniere enditez (v. 485 sq.).
Eine eigenständige Form, die erlaubt, vom Beginn einer neuen volkssprachlichen Gattung zu sprechen, bezeichnet Dit erst mit dem Dit de l'unicome '" 4040 oder auch mit Henri d' Andelis Dit du mancelier Philippe ("'5460, von 1237). In beiden Stücken findet sich die im Umfang auf einige hundert Verse beschränkte, um einen bedeutungsschweren Vorgang zentrierte, nicht aber erzählende, sondern Gegenstand und Deutung immer allegorisch aufeinander beziehende Darstellungsform, die hinfort für den Dit konstitutiv ist. Dabei prägt der Dit de l'unicome die objektive, d. h. parabolische Spielart der Gattung aus, während der Dit du mancelier Philippe mit seiner persönlichen Form der Totenklage am Anfang der bekenntnishaft meditativen oder satirischen Spielart steht. Hier ist nur die erste Gattungsentwicklung zu verfolgen, die das allegorisierende Verfahren mit den Mitteln der Parabolik, der Vergleichung und der Personifikation beibehält. Huon le Roi de Cambrai hat eine Parabel Des trois amis "'4096, die sichwie auch die Parabel des Dit de l'unicome - schon in Barlaam et Josaphat (vid. IV) findet, in seine Regrets de Notre Dame '" 916 eingebaut. Sie dient dort der Mahnung zur Vorbereitung auf die Schrecken des Jüngsten Gerichts. Der Lehnsherr des reichen Mannes (mit Bezug auf Lue. 16, 1-13) bedeutet Christus, die Aufforderung, vor ihm Rechenschaft abzulegen, den Tod, vor dem nur der letzte der drei Freunde: Leib, Hausstand (Weib und Gesinde) und barmherzige Liebe bestehen kann. Die Allegorisierung zerlegt den sinnfälligen Zusammenhang der Parabel in drei heterogene Vorstellungen, die sich dann aber im transzendenten Blickpunkt: I'aspre mort (str.1) wieder in dem zusammenfügen, was für das ewige Geschick des Menschen entscheidend ist. - Wie Huon (str. 45) spricht auch der Verfasser eines pikardischen D i t du roi qui racata le larron .1'4044 von seiner neuen Parabel (v. 55) als von einer grans matere (v. 44). Hier ist der Vorgang mit allen Details von vornherein auf das Erkennen des Sinns angelegt: der molt haut roi (v. 70) kann den Delinquenten kurz vor seiner Hinrichtung nur unter der Bedingung retten, daß dieser selbst die letzten drei Heller - d. h. confession, repentance und penitance - zu seinem Lösegeld beibringt. Die Parabel könnte im Zuge der Einführung der obligatorischen jährlichen Beichte entstanden sein.·' - Auf einen ganz bestimmten aktuellen Anlaß bezogen, .. N° 6: von den Kräutern tragen 22 je amt Blüten, das 23. deren sieben - ein Sinnbild des 118. und 53. Psalms, die der gottesfürchtige Mönm täglich sang; cf. U. EBEL, Opa eit., 87sqq . .. Cf. ed. BRAUNHOLTZ, p. 73, mit Hinweisen auf die Geschichte der Beichtpraxis im XIII. Jh.
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C. Entstehung und Strukturwandel der allegorismen Dimtung
nämlich die an den König von Frankreich, den Grafen Robert 11. von Artois und den Grafen Guido von Flandern gerichtete Mahnung, das heilige Land der Christenheit wiederzugewinnen, ist die berühmte Ringparabel in der frühesten Aufzeichnung einer pikardischen Version L e d i t du '1T ai a n n e a u '" 4048. Die Aktualisierung hat eine deutliche Nahtstelle hinterlassen: während sich die Auslegung der drei Ringe als das Gesetz der Sarazenen, Juden und Christen auf den Vorgang der Parabel beziehen kann, muß der historische Moment - Gefährdung (oder Verlust?) Akkons im Jahre 1291-durdt ein zusätzliches Detail gestützt werden, das erst in derExegese auftaucht: die feindlichen Brüder haben den jüngsten nicht allein seines Erbes beraubt, sondern auch den echten Ring, <dessen wahrer Stein Akkon war> (v. 351), verunstaltet. An der Grenze der allegorischen Form steht eine Gruppe von Dits, die nicht - wie die parabolische Gruppe - einen ganzen Vorgang, sondern nur ein einzelnes Element gleichnishaft auslegen. So wird etwa im Dit de la 'Digne "'4112 von Jean de Douai die Weinrebe zum Gleichnis der Beichte erhoben. Insbesondere hat Baudouin de Conde "'4620 in einigen seiner moralisierenden Dits dieses Verfahren weitergebildet, indem er meist gegen Ende «eine Vergleichung gewissermaßen als Pointe verwendet, auf die das Vorangehende vorbereitet».u Das Bildelement kann aus der Bestiaire-Tradition geschöpft sein wie der Pelikan im gleichnamigen Dit ,114004 oder wie der süße Atem des Panthers, der im Conte du gardecorps ,112736 darauf bezogen wird, wie treue Diener ihrem gütigen und freigebigen haut home (v. 55) zu folgen pflegen. Es kann aber auch dem alltäglichen Leben entnommen sein wie im Conte du pieu "'6148: wer auf einer male 'Doie ist, wie es die Schuldigen am Desaster von Tunis in ihrer moralischen Verderbnis waren, der glaubt, sich an einem morschen Pfahl halten und vor dem Schmutz bewahren zu können, und stürzt erst recht hinein (Ensi est il du mal usage, I Du on se tient et nuit et jour, I Tant que la mors 'Dient sans sejor, vv.392-394). Dabei darf nicht vergessen werden, daß für Baudouin solche nicht bloße Kunstrnittel sind. Sein Verfahren gründet vielmehr auf der überzeugung, qu'en tous les corps I dou monde se puet on mirer (vid. 4004, vv. 2-3, cf. vv.101-113), d. h. daß Gott alle Dinge um des Menschen willen geschaHen habe, dieser also sich selbst in allem wiederfinden und seine Situation bedenken könne. Es gibt Dits, die diese christlich-metaphysische Begründung der comparoison in der meditativen Form ihrer Komposition gleichsam vor Augen stellen. So beginnt der Dit Du triade et du 'Denin "'4176 mit dem Thema einer grant dis corde zwischen dem <Tier> Theriak (einem mittelalterlichen Allheilmittel) und dem Schlangengih und scheint dann diesen Gegensatz in ermüdender, in sich selbst kreisender Meditation immer wieder auf Tugend und Sünde, Christus und den Teufel auszulegen. Sieht man genauer zu, so zeigt sim indes eine Bewegung der Argumentation, die sich von der Ausgangsallegorie unter ständigem Ichbezug auf die Betrachtung der Welt im ganzen und die Verfechtung immer weiterer Glaubenswahrheiten ausrundet: Por le mont ai or tret cest ditelet avant: Li venins de pedtie nos va trop decevant. lasl je le di por moi, quar d'autrui ne me vaut, Ne sai s'onques Eis bien en tre5tout mon vivant (srr. 7) . .. G. GaÖBElI., GG, 11 1,840--841, wo noch weitere Textbeispiele (Olifant, Dragon) angeführt
werden.
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1. Die Ablösung der 'Dolkssprachlichen Allegorie 'Don der Bibele:cegese
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Das Gleichnis wird nach der Einführung der personifizierten Widersacher in verschiedene Richtungen gewendet: venin bedeutet allerlei Arten von Sünde, triade allerlei Arten von Tugend; dann leitet eine Zeitklage (str. 13) dazu über, das Gift der Sünde in allen Schichten der ständischen Welt aufzusuchen; die folgende Erläuterung der Qualitäten des triade führt zu dem Satz: Diex est li vrais triades 014 ainz n'ot amertume (str. 45), und am Ende findet die eingangs gestellte Frage: Comment pOTToient estre icil dui compagnon (str.6) die Lösung, qu'entre Dieu et en/er n'aura ja nul moien (str. 69). Der letzte Text zeigt aber auch eine Eigentümlichkeit, die seit der Mitte des XIII. Jhs in der allegorischen Dit-Dichtung und in anderen Gattungen zur Blüte gelangte: die personifizierende Manier. Der Gebrauch von Personifikationen war an sich in der erbaulimen Uteratur wie in der Minneallegorie durchaus traditionell; insbesondere gewann die Debat-Form aus der traumhaften Ersdteinung zweier Wesenheiten, aus der allegorisierenden Beschreibung ihrer Gestalt, Kleidung und Insignien, und aus dem dramatischen Verlauf der Wechselreden eine eindringliche Wirkung, wie in dieser Epoche etwa die Desputoison de la Sinagogue et de Sainte Eglise eines gewissen Clopin l" 2554 bezeugt. Doch ist über diesen traditionellen Gebrauch hinaus in der Zeit nach den Dichtungen des Reclus de Molliens und des Rosenromans eine üppige Wucherung personifizierender Darstellung und neuer allegorischer Figuren zu verzeichnen, die an eine cModeersmeinung> denken läßt. Der so persönlich wie aktualitätsbezogen dichtende Rutebeuf ist ihr weniger verfallen als andere Dit-Dichter,U von denen hier zunächst einer hervorgehoben sei, dessen Werk zeigt, wie sich aus der personifizierenden Manier eine neue Untergattung der Allegorie abgelöst hat. Im Dit de dame Guile von Sauvage l"4164 wird das Laster des Betrugs als eine Dame beschrieben, deren Macht über Artois, Flandern, Frankreich und allmählich über die ganze Welt reicht (Romenie, outre mer, en toz lieus, vv. 15-18), deren Wesen an ihrer Gestalt, ihrem Schmuck und ihrer Kleidung sichtbar wird, während Leautez barfuß und nackt ist und sich verstecken muß. Auch der normannische Dichter H u e Are h e v es q u e l" 4080 verwendet dieses allegorische Schema, für das charakteristisch ist, daß nun einzelne Personifikationen aus den Tugend- und Lasterkatalogen herausgenommen und in ihrer Macht über die Welt beschrieben werden. Sein Dit de largesse et de debonnaireM l" 4088 leitet diese beiden der corteisie gleichgesetzten Tugenden aus der Passion Christi her; seine Puissance d' amour l" 4084 bringt dazu ein weltliches Pendant, in dem die Mamt der Uebe daran erwiesen wird, wie Amor alle Verhältnisse verkehren kann. u Der Gipfel des Genres ist sein Dit de la mort de Largesse l" 4080, eine biographism eingeleitete Zeitklage, die der Dichter mittels eines Traums in allegorische Handlung umzusetzen weiB: lArguece und Avarisce, in schöner und häßlicher Erscheinung beschrieben, geraten in einen Disput, der in Kampf übergeht und nam einem vergeblichen Versuch des Dichters, der enterbten Larguece zu Hilfe zu kommen, damit endet, daß diese von ihrer Widersacherin stranguliert und vom Fels•• Außer der Bataille des 'Dices et des 'Dertus l" 4704 ist hier von Rutebeuf wohl nur die allegorisierende Complainte l"6256 und der Dit d'hypocrisie l"7228 zu erwähnen . .. Sein Dit de la dent l" 4076 ist nach dem bei Baudoin de Cond~ festgestellten Verfahren der allegorischen comparoison geschrieben (wie der Schmied am Amboß Zähne zu ziehen weiß, so kann der Geizige durch Angst freigebig werden).
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C. Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung
ufer ins Meer gestürzt wird. Von den neu ersmeinenden allegorischen Figuren sei hier noch das «Geld. erwähnt, das ein virtuoser D i t d e dan Den i er ,;t 4028 personifizien. Hier ist das allegorische Sdtema in einer Steigerung zu greifen: die Aufzählung der schlechten, aber aum der nützlimen Dinge, für die man seine deniers ausgeben kann, geht aus dem harmlosen Plural in den numinosen Singular: Dez bon conte I De dan denier qui si haut mon te (vv. 19-20) über, womit die Wesenheit simtbar in die Szene tritt, um am Ende die ganze Welt in ihren Bann zu smlagen: Denier ale mont en prison I Tout sanz noisier (vv. 154-155). In den letzten Jahrzehnten des XIII. Jhs tritt schließlim aum Fortuna aus der seit Boethius nie abreißenden, aber immer wieder zum Gemeinplatz absinkenden Darstellung" simtbar zu neuer allegorismer Größe heraus. Gleim mehrere Dichter geben ihr oder der Allegorie des Glüdtsrads nun wieder Gestalt: Baudouin de Cond~, in dessen Prison d' amour ,;t 4620 das Rad Fortunas zum ersten Mal in der Minneallegorie Funktionen Amors übernimmt, Jean de Meun, bei dem Raison dem Liebenden ihre Freundsmah unter der Bedingung anbietet: Et ne priseras une prune I Toute la roe de Fortune I A Socrates seras semblalles (vid. 4672, v. 5844 sqq.), Adam de la HaBe, der auf dem Höhepunkt seines Jeu de la feuillee die Feen das Rad der für Verdienste blinden Fortuna erläutern läßt (vid. XII B1, v. 772 sqq.), der Verfasser des Miroir du monde ,;t 2389, der die Gesmähe dieser Welt mit Spinnweben an den Flügeln einer Windmühle vergleimt, die der erste Windstoß Fortunas zunichte mame," oder Jacquemart Gielee, der seinen Renart le nouvel .1'7300 damit beendet, daß er Renan von Fortuna krönen, d. h. das eigens für ihn stillgelegte Rad besteigen läßt. Nicht weniger eindrudtsvoll ist die literarische Resonanz auf ein gleichzeitiges Ereignis, das im allegorismen Dit seinen Niedersmlag gefunden hat. Pierre de la Broce, ein aus kleinem Adel zu höchsten Würden gelangter Minister und Günstling Philipps des Kühnen, der zur Freude seiner Neider, aber offenbar vom Volk bemitleidet (nom Dante bewegte der Fall so sehr, daß er Pierre zur Remtfertigung ins Purgatorium [VI, vv. 19-24] versetzte) unter der Anklage des Hochverrats 1278 ohne Prozeß an einem gemeinen Galgen hingerimtet wurde, hat durm seinen spektakulären Aufstieg und Sturz offenbar der zum erbaulimen l.ehrgut verblaßten Allegorie der Roue de Fortune .1'4160 die Ursprünglichkeit einer schockierenden Erfahrung zurückgegeben. Das Ereignis, das aum die zeitgenössismen Chroniken im Zeimen Fortunas darstellen,·' wird in einer Complainte de Pie"e de la Broce (vid. 11), einem Dit de Fortune von Moniot de Paris ,;t 6216 und einem Debat De P. de B. qui dispute a Fortune par devant Raison .I' 6304 untersmiedlim reflektien. Die lyrische Complainte ist ein Pierre de la Broce in den Mund gelegtes Sdtuldbekenntnis, das ~on Hiob ausgeht, mit dem er sim nimt vergleimen dürfe, im weiteren mit Convoitise, Envie .. Uteratur zu Fortuna im Mittelalter ist bei E. LoMMATZSCH, Beiträge zur älteren iral. Volksdichtung, Berlin, 1951, 11 65 sqq., zusammengestellt; cf. H. R. PATCH, The Goddes. Fortuna in mediaeval literature, Harvard Univ. Press, 1927, und id., The tradition oE Boethius, New York, 1935; zur Bedeutung Fortunas für die Auffassung der säkularen Geschichte zuletzt F. P. PrCltEltfNC, Notes on fate and fortune, in: Mediaeval German Studies presented to F. Normen, London, 1965,1-15 . .. Cf. E. BuYn, R 79 (1958) 21 . .. Cf. F. E. ScHNEECANS, R 58 (1932) 526-529.
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1. Die Ablösung dn 'Oolks"'Tachlichm Allegorie 'Oon deT Bibelexegese
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und AvoiTS die eigenen Sünden anklagt und in erbaulicher Reue endigt. Im Dit bringt ein Jongleur - vermutlich im Blick auf eine bildliche Darstellung (v. 18) - dasselbe Geschehen unter die Enthüllung: Or vous ert de Fortune ci la veritez dite (v. 17). Zwar habe er Fortune nie (kommen oder gehen>, (singen oder tanzen> sehen, sie sei keine corporel creature und doch eine unentrinnbare Macht (v. 13 sqq.), wie das Beispiel eines Hochgestellten zeige, den sie erst neulich von mehr als Kirchturmhöhe habe herabstürzen lassen. Im Debat klagt Pierre selbst Fortuna des Betrugs an, die sich in ihrer Verteidigung auf ihr (Gesetz> beruft (Qu'en ma roe s'a un tel art, I Qu'il i cotJient so droit seoir I Que il ne pende nule part, v. 151 sqq.); nun muß er am Ende den ihn verurteilenden Schiedsspruch von Raison entgegennehmen. Die befremdliche Erfahrung des Glückswechsel wird hier moralisch mit der Lehre aufgefangen, daß Fortuna nach Verdienst entlohne, im Gegensatz zu Jean de Meun oder Adam de la Halle, die sie für bUnd und gleichgültig halten. - In diese Problematik wird erst Dante eine neue Wendung bringen, wenn er die Allegorie des Rades durch die Idee ersetzt, daß Fortuna die der sublunarischen Sphäre zugeordnete (Intelligenz> sei und die irdischen Güter nach einem der menschlichen Weisheit verborgenen Prinzip verteile (InE. VII, vv. 73-96). Die anderen romanischen Literaturen haben an der offenbar nur für Frankreich charakteristischen Gattungsentwicklung des Dit nicht teil. Soweit die Texte der religiösen oder erbaulichen Allegorie schon zu übersehen sind, stehen sie in anderen Formtraditionen. Das provo Lehrgedicht: EI romans des quatre vertutz cardenals .I' 4024 von Da ude de Pradas ist eine Paraphrase der Formula honestae vitae des Martin von Braga. Die vier Kardinaltugenden, die Christen wie Juden und Heiden haben sollten (v. 124sqq.), werden allegorisch mit dem Gleichnis der vier Richtungen eingeführt, in denen der mit amic angeredete Mensch auf der Hut zu sein hat. - Eine seltsame Blüte der Allegorese ist die provo Versepistel .1'4124, die Ma tfre Ermengau seiner Schwester zu Weihnachten schrieb. Hier werden die brauchtümlichen Festgeschenke spirituell auf Christus gedeutet: der Met auf sein Blut, die Honigkuchen auf seinen Leib, der gebratene Kapaun auf den Gekreuzigten, d. h. auf den uns zuliebe am Kreuze (Gebratenen> und mit der Lanze Durchstochenen (v. 27 sqq.). Die Grenze zum Grotesken wird, wenn nicht schon hier, so gewiß dort überspielt, wo die gleichen interpretamenta nun auch auf die Inkarnation bezogen werden (Estas neu las pastec sans esperitz 1 Ins el ventre de la verge Maria, etc., v. 30 sq.). In der spanischen Literatur des· XIII. Jhs ist die religiöse Allegorie nur durch das eine große Beispiel der Einleitung in die Milagros de nuestra Senora vertreten. Gonzalo de Berceo (vid. V) hat die aus der lat. Hymnik bekannte Vergleichung der Jungfrau Maria mit einem Garten erzählerisch wirkungsvoll ausgebaut und alsdann in einer wohlverketteten Allegorie gedeutet. 47 Der immergrüne Lustort, in den der Pilger Berceo überraschend gelangt, wird erst nach der Beschreibung ausdrücklich prado egual de paraiso (str. 14) genannt; die Ankündigung, das so klar Geschilderte sei palabra oscura (str.16), schafft neue Spannung auf die unerwartete Exegese, die in n Daß für die allegorische Einleitung der Milagros noch keine unmittelbare Quelle gefunden wurde, könnte vieUeicht auch für eine gewisse Selbständigkeit Berceos in der Ausführung der Allegorie spremen. Cf. Agusrln dei CAMPO, RFf 28 (1944) 15, n. 1.
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C. Entstehung und StruktuT1Dandel der allegorischen Dichtung
den Einzelauslegungen fast unmerklich den Bogen von der Virgin Gloriosa als Ruhepunkt der Pilgerschaft zum Lobpreis ihrer Person, ihrer Namen und ihrer Taten, der san tos miraclos, und damit zur Rechtfertigung des begonnenen Werkes spannt. Aus italienischer Tradition seien hier noch die Carmina de mensibus "'2488 von Bon ve s i n da la R i v a als ein Beispiel dafür angeführt, wie ein bekanntes didaktisches Schema des debat zur Allegorie ausgerundet werden konnte. Es handelt sich um ein in lateinischer wie in lombardischer Version vorliegendes Stüdc, das an die Tradition des Streitgedichts vom Typ Conflictus 'Oeris et hiemis anknüpft, nun aber den Aufstand der Monate gegen ihren müßigen, vom Schweiß der andern lebenden Herrn Januar behandelt. Der Kampf, zu dem die 'Oillani mit allegorischen Waffen antreten, wird von dem segnor insuperabil im ersten Ansturm beendet. Die Allegorie gibt Anlaß zu einer Rechtfertigung der Alleinherrschaft und zu mancherlei moralischen Betrachtungen über die Symbolik des Jahresreigens. Bonvesin, der die Form der dramatischen Contrasti besonders gepflegt hat, repräsentiert mit seinem Libro delle tre scritture '" 4518 auch die figurale Tradition allegorischer Dichtung, die an anderer Stelle zu behandeln ist (vid. cap. 3). Zur religiösen Dichtung in allegorischer Form gehören in Italien ferner noch die in der Tradition der Psychomachia und der Duae ci'Oitates stehenden Texte, auf die wir noch zurüdckommen (vid. cap. 4).-
2. REZEPTION UND POETISIERUNG DES PHYSIOlOGUS
Das populärste Werk der didaktischen christlichen Literatur, das an breiter Wirkung im ganzen Mittelalter nur noch der Bibel selbst nachstand: der Physiologus, ist bald nach seiner ersten Rezeption in romanischer Volkssprache aus der religiösen Vorstellungswelt in neue Formen weltlicher Dichtung umgesetzt worden. In diesem Schritt liegt die selbständige Leistung der romanischen Autoren, die darum auch im Mittelpunkt einer Geschichte der Bestiarien zu stehen hat. Da der andere Zweig. christlicher Lehrdichtung, die Lapidarien, sich außerhalb der typologischen Tradition entwickelte, auch nicht unmittelbar in Formen weltlicher Dichtung übergegangen ist, sondern mehr und mehr in Traktaten der mittelalterlichen Naturgeschichte Platz fand und dort mit dem enzyklopädischen Wissen verschmolz, wird die Gattung der Lapi-' darien nicht hier, sondern unter dem Aspekt der Didaktik behandelt. 1 Ausgangspunkt der Betrachtung ist der Physiologus in der Gestalt, an die seine ersten romanischen übersetzer anknüpften. Es ist der lateinische Physiologus des XII. Jhs, der Blütezeit des theologischen, biblischen und kosmischen Symbolismus, in der die Entdeckung der sidttbaren Natur und die symbolische Darstellung ihrer spirituellen Bedeutung in Didttung und bildender Kunst Hand in Hand ging.· Symbolische Tierfiguren und cnaturalistische> kleine Szenen mit Tieren und Menschen .. Meine Darstellung der Gattung Dit geht auf Materialien zurütk, die Frl. Helga Wölfel gesammelt hat. I Vid. B Sa; doch werden einzelne Stütke der lapidarien auch in diesem Kapitel erwähnt werden, soweit sie für die Entwitklung und Form der allegorischen Exegese wichtig sind. I Nach ümru °64,21-30, und (ap. 7: La mentalite symbolique; ferner W. VON DEN STEINEN, Altchristlich-mittelalterliche Tier.ymbolik, in: Symbolon 4 (1964) 218-243, und V.-H. DEBIDOUI., le bestiaire sculpre du moyen ige, Grenoble, 1961.
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2. Rezeption lind Poetisierung des Physiologlls
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finden sim nebeneinander an den Kapitälen der Kathedralen, obschon sie der Intention nam so weit voneinander geschieden sind wie der Fums der äsopismen Fabel von der gleimnamigen figura diaboli der Bestiarien. Daß man die Tiere des f.sope mit anderen Augen sah als die symbolismen Figuren des Physiologlls, bezeugt aum der Umstand, daß die verschiedenen literarischen Traditionen säuberlim getrennt blieben: Bestiaire-Figuren haben keinen Eingang in das Reich der Fabel oder das des Tierepos gefunden, und umgekehrt braumte es fast zwei Jahrhunderte, bis in italienischen Ausläufern der Gattung avianisme Tierfabeln auftaumten und der moralisatio des Bestiariums unterzogen wurden. Die Sdteidung von .spirituellen. und -natürlichen. Tiemguren war aum schon durm die Fabelwesen und die seltsamen Züge bedingt, die der mystischen Zoologie des Physiologus eigen sind. Als cVolksbum., das im Unterrimt wie in der Predigt Verwendung fand und später der Erbauungslektüre cJiente,1 verdankte es seine Beliebtheit nimt allein seinem dogmatischen Inhalt, sondern gewiß aum dem Element des Wunderbaren und Fremdartigen, das die Neugier auf so vielfältige Weise befriedigte. Darauf zielte wohl die bekannte Kritik, die Bemhard von Clairvaux an der ridicula monstruositas bildlimer Darstellungen der Tiersymbolik übte: man lese in Klöstern lieber in marmoribus als in codicibus, verbringe seine Tage im Staunen über die Vielfalt dieser Erscheinungen, statt über das Gesetz Gottes zu meditieren.· Bernhards Beispiele enthalten nimt nur Fabelwesen wie monstruosi Centauri oder !iemi-homines, die man am Ende des xv. Jhs als grottesche bezeimnen und neu bewerten wird, sondern aum Symbole des Physiologus (immundae simiae, leri leones, maculosae tigrides), die hier ohne Ansehen ihrer spirituellen Bedeutung für die verführerisme Mamt der mira T1arietas diversarum lormarum stehen. Eine neue Vielfalt an Symbolen kennzeimnet in der Tat aum die Gestalt des lat. Physiologus, von dem die romanismen Bearbeitungen ihren Ausgang nahmen. Es ist ein Zweig der Version B, der in die herkömmlimen 36 bzw. 37 cap. zahl reime Erweiterungen aus den Etymologiae (lib. XII: De animalibus) des Isidor von Sevilla aufgenommen hat. Zu den Beispielen, die in den alten Versionen des Physiologus meist aus der Bibel angefühn wurden, treten in der von McCulloch mit B-Is bezeimneten Version I naturkundlime Details, die auf Quellen wie Plinius, Solinus, Gregor zurückgehen und - vermittelt durm Isidor - in die typOlogisme Deutung einbezogen werden. Damit beginnt eine Entwicklung, in der die ursprünglim rein typologische Deutung: Congrue igitur Physiologus n"turas animalium contulit et contexuit intelliCf. LAUCHUT °692, 65 sq., 163 sqq.; GOLDSTAUB-WENDm-rO °652, 7; MALE °144, I 39, der nachwies, daß die Darst~llung von Ereignissen des NT in Tiemguren des Physiologus oft durch den Speculllm ecclesiae des Honorius von Autun, einer predigtsammlung für alle Feste des Jahres, vermittelt war. - Alt Hauptquelle für Bibelsloseen über Tiemamen ist Hugues de Fouilloy: De natura lR1illm zu nennen (CJmru °64, 163). Auf den Charakter eines ErbauUß8Sbuches deutet die Form der Anrede: fradeUi et snore mii carisimi im Proömium des Libro della natura degli animali ",4212. • Tam mllita deniqlle, tamqlle mira diversarum /ormarum Ilbiqlle 'Darietas appartt, Ilt magis iegere libtat in marmoribus, qllam in codicibll', totumqlle diem occupare .ingultJ ista mirando, ,,"am in lege Dei meditando (Epilt. ad G"illelm. Abbat., ap. XII), cf. LAuCHERT °692, 208. • McCULLOCH °704, 2~30. I
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C. Entstehung und Struktunoandel der allegorismm Dimtung
gentiae spiritualium smpt.. rarum· mehr und mehr von Moralisationen zu den Tiereigenschaften überwuchen wird und 3m Ende einer rein praktischen Tendenz Platz macht, die in der ausgeschöpften Tiersymbolik vornehmlich noch Exempla für die redtte christliche Lebensführung sucht. 7 Noch im XII. Jh. hat die fortschreitende Erweiterung der alten Sammlungen neue Systematisierungen zur Folge, denen die universale, die Natur in der Ordnung ihrer Wesen repräsentierende Anlage der älteren Versionen zum Opfer fällt. Vogel-, Tier- und Steinbücher treten in verschiedenen Traditionen auseinander; in den Büchern De bestiis et aliis rebus des Hugo von Folieto S kommt hinzu, daß die Fülle neuer, aus Solinus, Ambrosius u. a. gezogener Exempla nach dem Vorbild von Isidor (Etym. XII) bereits cwissenschaftlich. klassifizien und diese Gliederung mit Kapiteln über den Menschen (De hominis membris ac partibus und De aetatibus hominis, eap. CVII et CV1II) beschlossen wird. Während im alten Physiologus der Mensch nur erst figürlich, auf die Heilsgeschichte zugeordnet, zwischen den figurae Christi, diaboli und ecclesiae erschien, wird nun die natura hominis (eap. CVl) selbst deutungswürdig und zugleich dadurch ausgezeichnet, daß die Reihe der symbolischen Wesen im Menschen gipfelt. Demgegenüber stellt die erste romanische Version des Physiologus, der nach 1121 entstandene Bestiaire von Phi Ii pp e d e T ha 0 n J' 4224 noch die älteste Stufe dieser Entwicklung dar. Der anglonormannische Text ordnet die Vögel nach den Tieren als Gruppe zusammen und schließt mit den Steinen, so daß eine Dreigliederung entsteht, die den ganzen Bereich der Natur repräsentiert. Denn Philipp, der auch innerhalb der drei Gruppen die Tiere ganz selbständig nach Typen ihrer spirituellen Bedeutung ordnet, sah in der Anordnung seiner Version offenbar ein Symbol der Schöpfungsordnung - die Stufenleiter des Strebens zu Gott: Tiere, Vögel und Steine entsprechen dem Wesen der puerizia, der homines caelestia meditantes und des Deus ineffabilis (Prol.), insofern·das zur Erde geneigte Tier den weltverhafteten, der emporfliegende Vogel den Gott zugekehnen Menschen und der in sich ruhende Stein den vollendeten Weisen bedeute (vv. 3179-90). Das Werk ist Aelis von Louvain, in einem späteren Ms. aber Alienor von Aquitanien gewidmet, in deren Umgebung - nach Rita Lejeune - ein Trobador, Rigaut de Berbezieux, lebte, der als erster die geistliche Symbolik der Bestiarien in weltliche Lyrik umgesetzt und damit eine literarische Manier begründet hat, die bei provenzalischen wie später auch bei italienischen Dichtem große Nachfolge fand. ' B,~. CARMODY, Paris, 1939, 27. Zu dieser Entwidc.lung cf. GOLDSTAUB-WENDJUND °652,4. 332. 434 sqq. • PL, CLXXVJI. früher Hugo von St. Viktor zugeschrieben, cf. ZllTDlER. ZRPh 78 (1962)
• Physiol./at. 'Oersio 7
404. • Vid. 11 B. a 421 - Zum Problem der Identifikation und Datierung von Rigaut de Berbezieux cf. BDITON °616, 584, ZllTDlER, ZRPh 78 (1962) 395. R. lEJwNI, MAgt 68 (1962) 331-377. A. VnvAJto, MAge 70 (1964) 377-395; auch M. BRACCINI. der R. Lejeunes Datierung nicht annahm (~., 126sqq.), spricht doch Rigaut de B. die Urheberschaft an der Mode der Tiersymbole in der Lyrik nicht ab (ib.• 113), für die ja auch die reiche Ms.-Tradition und der Nachruhm des Dichters zeugt. Cercamon kann hier keine Priorität zugesprochen werden, d. ZnTDlD, op. cit., 396. Ob der Be.tiaire des Philippe de Thaon die Quelle war, aus der Rigaut de B. seine Tiersymbole geschöpft hat, ist nicht nachweisbar. weil don or50 und tigre fehlen, und auch weil R. de B. die übernommenen Tierbeschreibungen verkürzt und neu ausgelegt hat.
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2. Rezeption und Poetisie"mg des Physiologus
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Zwar findet sich sdton in der Tenzone Cercamon-Guilhalmi ;t 5880 das berühmte Bild vom Schwan, der vor seinem Tode singt. Doch hier verrät noch nichts, daß der Vergleich die lyrische Situation mit der Exegese der Tiemguren eines Bestiariums in Beziehung setzt. Der neue Stil der similitudines de bestias e d' auseis e d' omes, als dessen Schöpfer Rigaut audt in seiner Vida gerühmt wird, ist dadurch zu kennzeidtnen, daß mit dem allegorismen Sinn der Tiemgur zugleich das Verfahren der Exegese in die lyrische Situation übertragen wird. Rigaut gebraucht einzelne Tiersymbole wie den Löwen, der sein totgeborenes Junges mit wildem Gebrüll wieder zum Leben erweckt (AtTessi com 10 leos, n° 1) oder die Tigerin, die mit Hilfe eines Spiegels von den Jägern getäusdtt und gefangen wird (nO 5), nicht einfach zur Erläuterung einer vorgegebenen lyrischen Situation. Das Symbol wird vielmehr selbst vorangestellt und dann mit überraschender Sinnverlagerung auf eine Situation des lyrisdten Ich bezogen: Si com la tigr' d mirador que per remirar son cors sen obUda si e son tunnen, aissi quan vei lei cui ador oblit mos mals e ma dolon es mendre.
(nO 5, vv. 25-29)
Das Exemplum ist vor Rigaut in der Form überliefert, daß die Tigerin im Spiegelbild ihr Junges wiedergefunden zu haben glaubt, den Spiegel umschlingt, ihn dabei zerbricht unci sich getäuscht sieht. 10 Rigaut hat die Beschreibung auf die Spiegelszene verkürzt und die Täusdtung neu motiviert: nun vergiBt die Tigerin ihren Kummer im Anblidt ihres sdtönen Körpers; er bezieht das neugefaßte, narzißtische Symbol sodann in paradoxer Zuspitzung auf sich selbst als liebenden: wie die Tigerin durch ihr Spiegelbild, so sei er durch ihren Anblidt gefangen worden (cf. v. 31: qui m'a a
serf conquis). Solche Freiheit im Umdeuten der geistlichen Tiersymbolik nahm sich Rigaut auch sonst, wie vor allem seine berühmteste zweite Canzone: AltTesi con r orifans zeigt. Für die zweite Strophe hat Rigaut aus dem langen Exemplum des Elephanten nur die eine natura herausgesdtnitten: Altresi con I'orifanz que quant mai no·s pot levar tro li autre ab lor eridar de lor voz 10 levon sus, et eu woill segr' aquel uso (vv. 1-5)
In der Tradition der Bestiarien bedeutet der Elephant Adam; er kann sich dort von seinem Fall erst wieder erheben, wenn ihm ein kleiner Elephant, allegorice: der inkarnierte Christus, zu Hilfe kommt. Rigaut hat hier gleich in die Beschreibung ein neues Detail hineingebracht, um seine eigene Exegese vorzubereiten: nur die lials amadoTS am Hof von Puy (en Velay, nach R. Lejeune) könnten ihn ab lOT cridar witder erheben. Die heilsgeschichtliche Situation, auf die das Tiersymbol zurückweist, 11
Zur Tradition der Tigerin, die auf Ambrosius (Hallern. VI 21) zurüd
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C. Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtllng
soll in einer wiederum nidu erwanbaren Analogie die Situation des Didtters: eine im Geheimen gelassene cgroße Verfehlung. und die Möglichkeit seiner cErlösung., begründen und überhöhen. Wie das Tiersymbol seine lyrische Exegese, so fordert diese wieder ein nächstes Symbol: den Bär, der via negationis eingeführt wird (weil sich der Dichter, falls er nicht erhört wird, nicht mit ihm vergleichen kann, v. 20). Die nächste Strophe bezieht die legendäre Figur des Simon Magus (Act. 8, 9), die vierte den Phönix, die fünfte den Hirsch in das Verfahren ein. Die neuartige Verkettung, mit der diese Canzone Epoche gemacht hat, ist von der Kritik oft als abstruse Bilderhäufung bewertet worden, weil man an bloße Vergleiche dachte und darum die poetische Logik der Folge von Symbol und Exegese übersah. Rigaut hat mit dieser Erfindung die geistliche Tradition der Bestiarien zugleich profaniert und formal überboten. Während dort die Exempla unverbunden nebeneinander stehen, stiftet die Canzone einen exegetischen Zusammenhang, dessen typologischer Bezugspunkt das Ich des Dichters ist. Aus dieser symbolischen Kunstform ist im XIII. Jh. eine neue Gattung, der von Richart de Fornival geschaffene, vielfach nachgeahmte und vom Dichter des Mare amoroso ;tf4216 parodierte Bestiaire d'amour ;tf4236 hervorgegangen. Die Rezeption der Bestiaire-Symbolik in der Lyrik harrt noch einer historischen und stilgeschichtlichen Gesamtdarstellung. 11 Die neuen Tiersymbole, die sich von der konventionellen Metaphorik durch ihren zitatartigen Charakter abheben und die Anführung ähnlicher Beispielfiguren aus anderen Traditionen - wie etwa den cwilden Mann, (il conort dei salvatge), Narziß, Perceval- nach sich ziehen, erfreuen sich von der Generation Bertran de Borns und Peire Vidals an steigender Beliebtheit. Das Repertoire der spirituellen Tiere wird bald erweitert: bei Bertran de Born findet sich der Pfau, bei Aimeric de Peguilhan der Basilisk, und Folquet de Marseille führt den Schmetterling an, als ob er ihn aus einem Bestiarium zitiere: Col parpalias qu'a tan fola natura Ques met el foe per la clartat quei lutz. 11
Die Mode scheint bei den späteren Trobadors: Serveri de Girona, Peire Raimon de Toulouse und vor allem Bertolome Zorzi, der die Manier Rigauts de Berbezieux offensichtlich namahmte (Aissi co·1 fuecs; Aissi com 10 gamel), einen Gipfel erreicht zu haben, zu einer Zeit, als auch Thibaut de Champagne seine Dichterrolle im Bild der Nachtigall, des Phönix, des Pelikan und des - bei den Provenzalen noch fehlenden - Einhorn dargestellt hat. 1I Daß Tiersymbole aber aum in der entgegengesetzten Tendenz verwendet werden konnten, zeigt schon Mitte des XII. Jhs der älteste italienische Text der frauenfeind-
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Hierzu immer nom CHR. STössn, Die Bilder und Vergleiche der altprov. lyrik ... , Marburg, 1886; M. S. GAJlVEJl, Sources of the heast similes in the Italian Iyric. RE 21 (1908) 276-320; W. HENSn, Die Vögel in der provo und nord&anz. lyrik ..., RE 26 (1909) 584-669; ferner E. VUOLOS Kommentar zum Mare amoroso, CN 17 (1957) 74-174. Bertran de Born (vid. 11 B, c SO, 24), Aimeric de Peguilhan (vid. 11 B, a 10, 50), Folquet de Marseille (vid. 11 B, a 155, 21). Serveri de Girona (vid. 11 B, C 434, 15 und 1), Peire Raimon de Toulouse (vid. 11 B, a 355, 8), Bertolome Zom (vid. II B, a 74, 1 und 2), Thibaut de Champagne, ed. WALLENSItJÖlD, n OI 5, 20, 34.
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2. Rtzeption und Pottisitrung dts Physiologus
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limen Literatur, dessen Verfasser am basiliseo, an der bestia panthera, der serena und anderen Figuren aus dem Physiologus die Gefahren der weiblimen Natur erläuten. u Die Dimter der sizilianischen Sdtule hingegen haben die Bestiaire-Symbolik wahrscheinlim unmittelbar von den provenzalischen Dimtern übernommen, von denen einige, darunter Peire Vidal und Aimeric de Peguilhan, italienisme Höfe besumten. Nur wenige der 43 Tierfiguren, die M. S. Garver bei den Sizilianern festgestellt hat, darunter das unicomo, sind in der provenzalischen Lyrik nimt schon vorgegeben. 11 Die Vielzahl der Typen, die bei Giacomo da Lentino, Pier delle Vigne, Inghilfredi und Stefano Protonotaro dimter gesät sind als bei ihren provenzalischen Vorbildern, bestätigt erneut, in wie hohem Maße schon die ersten Anfänge der italienismen Lyrik die Sdtulung an der voll ausgebildeten Kunst der Provenzalen verraten. Gerade hier ist die Symbolverkettung der zweiten Canzone Rigauts de Berbezieux versc:hiedentlim namgeahmt worden.· 1 Sie findet sim aum bei Bondie Dietaiuti, Camino Ghiberti, Pallamidesse di Firenze, Guido Guinizzelli und einigen anderen toskanischen und norditalienischen Dimtem, die das sizilianische und provenzalische Repertoire an Tiersymbolen nun aum durm neue Entlehnungen aus Bestiarien bereimern.· 7 Ihren italienismen Gipfelpunkt hat diese Manier im Werk Chiaro Davanzatis (vid. 11 G) erreimt. Man hat allein in seinen Canzonen nimt weniger als 40 Tiemguren festgestellt, von denen viele mehrfam wiederkehren.· 8 Chiaro hat dem Kunstmittel dadurch. einen eigenwilligen Charakter gegeben, daß er die Tierfiguren in eine alt bizarre lyrische Argumentation einbaute. So wird z. B. der Biber, der sim durm Entmannung seinen Feinden entzieht, zu einem grotesken Bild für die Situation des Liebenden (eosE !a,,'io, ehe sono inamorato), der sim nur nom durch eine paradoxe Verkehrung des Exempels (e sono castoro fatto argomentoso) aus der selbstgelegten Schlinge ziehen kann (nO 31). Wie der im Canzioniere Vaticano überliefene Sonettenkranz vermuten läßt (nOI 24-31), hat Chiaro wohl aum Sonette dieser Manier zusammengestellt, um den Verkettungseffekt eines poetischen Bestiariums zu erzielen. Da er nimt selten Tierexempla in einer nur allusiven Weise zitien, die bei seinem Publikum einen hohen Grad an Vertrautheit mit der Materie voraussetzt, kann daraus auf die anhaltende modisme Beliebtheit des poetischen Verfahrens geschlossen werden. Wenn dieses zur Zeit Chiaros sdton weitgehend trivialisiert war, wäre seine Position dadurm bestimmt, daß er sim bemühte, durm Kunstrnittel der Oberbietung (z. B. vier Tiemguren, den vier Elementen entspredtend, in n° 3; ähnlim gehäuft in n° 23), der Paradoxie und einer eigenwilligen Phantastik der eingetretenen Automatisierung entgegenzuwirken. Die spätere Kritik Arrigo Baldenas•• Pr"""bia qUllt diamttr I1Iper nllturtl fmainarum ~ 7464, vv. 469,485,661. Op. dt., 287; das Einhorn findet sidt zuerst bei Stefano Protonotaro (vid. HG). Die Hypothese von GOLDSTAU.-WEND~ °652, 230 und M. BUCCDn (ed., Rigaut de Berbezieux,
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11 17
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112), die italienischen Didtter könnten ihre Btstiaire-Exempla aus einem kataloganigen Kompendium in der Art des provo Textes: Aiso son las naturas d'al"" auztls .1'4240 geschöpft haben, du eigen. als Repertoire für Lyriker diente, wäre erst noch zu erweisen. Giacomo da Lentino (vid. 11 G), Inghilfredi Siciliano (vid. 11 G), Stefano Protonotaro (vid. 11 G). Cf. M. S. G.uvo, op. cit., 319sqq., Camino Ghiberti (vid. 11 G), Pallamidesse di Fimw: (vid. 11 G), Guido Guinizzdl.i (vid. 11 G). A. MDnCHETTt, ed., Chiaro Davanzari: Rime, Bologna, 1965, p. xlv-lxi.
( 183)
C. Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung
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1. und die Parodie der Manier im Mare amoroso
zeigen nodt nicht das Ende der poetischen Modeerscheinung an. Ihr Echo findet sich in Pettareas Canzone: Qual piu diDersa e nuova, in der die nur noch .seltsamen. alten Symbole auf modeme Weise, d. h. in natürlicher Wahrscheinlichkeit dem paradoxen Zustand des Liebenden zugeordnet sind. I ' Die Blütezeit der volkssprachlichen Bestiarien ist das XIII. Jh., aus dessen ersten Jahrzehnten in Frankreich gleich drei Texte überliefen sind. Gervaise .1'4196, ein literarisch wohl nicht weiter hervorgetretener norm. Geistlicher, der sein so frommes wie bescheidenes Werk den Erfolgen der lügnerischen weltlichen Dichter entgegenhält, begnügt sich damit, in seine Version einige volkstümliche Vergleiche und Erläuterungen einzufügen. Der moralische Sinn der Typen ist ihm selbstverständlich: Grant example i puet aprandre (v. 50). - Pierre de Beauvais .1'4228 sucht dafür eigens eine theologische Begründung: wie die Schöpfung im ganzen, so seien auch die Tiere um des Menschen willen geschaffen (por home, et por prendre essanple e de loi en eies et de ereanee, proi.). Der Prolog zu diesem im Auftrag des Bischofs von Beauvais, Philippe de Dreux, verfaBten Bestiaire rechtfertigt den Schritt zur Prosa mit dem berühmten Argument, das schon den Kirchenvätern dazu diente, die Wahrheit der biblischen Prosa gegen die Lügen der in schöne Verse gehüllten heidnischen Dichtung zu veneidigen: Et por ee que rime se veit aFaitier de mos eoneueillies hors de verite, volt li evesques que eist livres Fust Fait sans rime. - G u i 11 a um eie eie re .I' 4200 bezeugt seine literarische Selbständigkeit auch durch seinen Bestiaire (dit1in), über dessen bone matire (v. 7) er verschiedentlich Reflexionen anstellt. Er begnügt sich nicht mit der moralischen Lehre der natures de bestes e mors (v. 27), sondern weist auf ihren typologischen Ursprung zurück und bestimmt danach die Aufgabe des sage escrivein, der Les t1elz choses eies noveles I qui ensemble sont bones e beles zusammenbringen müsse (w. 810-820). Die typologische Beziehung zwischen den •alten. und den
.I' 4216
• 1 Cf. SpitZtr, 511 . .. CE. Spitzer, 515 n. 1: eil Petrarca tratter. di ossetri strani di uno .stranio clima. ehe
hanno in comune anehe (... ) un loro carattere paradossalmente contraddittorio in se stessi, ehe corrisponde agli aspetti contraddittori deUa situazione deU'amante .• 11 V. 356sq.; estran8e und meroeillos kehren in der Beschreibung der Tiere häufig wieder, cf. vv. 345, 689, 1417, 155, 160,179,539 ( E nature s'esmervtilla). a Cf. v. 345 sqq.: Nostre matire est mult estrange: I Car sODent se di'Oerse e change I E neporquant si est tote une.
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2. Rezeption und Poetisierung des Physiologus
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Der christlich-typologischen Intention nach mit den Bestiarien verwandt ist eine neue Gattung der Lapidarien, die möglicherweise schon zu Beginn des XII. Jhs in einem nicht erhaltenen livre eelestre von Phi lippe de Thaon vorlag und dann in verschiedenen Texten des XIII. Jhs bezeugt ist. 21 Nach L. Pannier könnten diese Lapidarien geschrieben worden sein cpour rächer d'attenuer un peu la vogue des lapidaires purement paiens, qu'ils copiaient cependant en partie».24 Denn nun wurden aus den dort beschriebenen Steinen. diejenigen ausgewählt, die Gott nach dem Zeugnis des AT (Ex. 28, 15-20) und der Apokalypse (21, 19-20) selbst bezeichnet und damit geheiligt hatte. Es sind die 12 Steine auf dem Amtsschild (rationale) des Priesters Aaron, die typologisch auf die 12 Grundsteine des himmlischen Jerusalems bezogen wurden, aber auch in Entsprechung zu den 12 Söhnen Jakobs, zu den 12 Zeichen des Sternkreises, zu den 12 Monaten des Jahres oder zu den 12 Aposteln gedeutet werden konnten. tIi In franz. Tradition entstand vor 1265 ein Lapidaire chretien .I' 4208, dessen Prolog die Tendenz einer Rechristianisierung der aus paganer Tradition in die mittelalterliche Enzyklopädie übernommenen Steinbücher eindrücklich bekundet. Der Verfasser rechtfertigt seine haute emprise (v. 4) durch Berufung auf die Bibel und die Kirchenväter (v. 72), geht davon aus Que Diex n'ait mis vertus en pierres I Et en herbes et en paroies (vv. 52-53) und benutzt für seine Allegorese die Begrifflichkeit der distinetiones (fürvertus tritt graees, poissanees, nons, eonnoissanees, eflieaee ein, cf. vv. 19-22, 1338, 1342). Da die Kraft der pierres naturiex von den Ungläubigen und von der sündigen Welt verkannt worden sei (vv. 35-38), fühle er sich zum Schreiben aufgerufen, denn Qui Dieu aimme et ses vertus eroit I Les pierres doit amer par droit (v. 49 sq.). - Dieselbe typologische Intention zeigt ein in romanischer Tradition ganz allein stehender Apostel-Lapidar, auf den W. Babilas aufmerksam gemacht hat.1!I Er befindet sich in einem der sog. Sermon i subalpini (IX 153-248) .I' 2128 und dient der Auslegung der Geschichte von der überschreitung des Jordans. Der Prediger knüpft an den Satz seiner Nacherzählung an, in dem es hieß, jeder der 12 Männer habe seinen rechten Fuß hochgehoben und einen Stein aufgenommen. Er interpretiert diese Steine als Edelsteine (nach Ex. 28, 17-20 und Apoc. 21, 19-20), stellt die typologische Entsprechung zwischen den 12 Männern, den 12 Stämmen Israels und den 12 Aposteln her (Li dotze homes de easeuna lignea signiliquen los dotze apostoil, que nos devem ensuir en lor faitz, IX 150-52) und leitet dann aus der Erklärung der Steine und der Apostelnamen die moralische Ermahnung für seine Hörer ab. In Spanien ist nur die Tradition der Lapidarien glänzend vertreten, hingegen fehlen übersetzungen des Physiologus; aus den Exempla des Elephanten, der Schlange und des Phönix, die sich im Libro de Alixandre finden,27 der Besmreibung der vier 11
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Cf. STUOu/EvANS °532, p. xvisq. und 261-264; PANNIU °172, 209-227. °172, 216. Cf. PANNlER °172, 212. Für die ennöglichte Einblidmahme in seine Arbeit, die unter dem Titel: Untersuchungen zu den Sermoni subalpin i mit einem Exkurs über die Zehn-Engelchor-Lehre demnächst in München erscheinen wird, bin ich Herrn Priv.-Doz. Dr. Babila, zu Dank verpflichtet. Str. 1815-18, 1998, 2311-12, cf. LAuCHEllT °692, 206sq., und J. BDZUNZA, RR IR (1927) 238-245. PANNlEa
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C. Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung
Elemente, die in der General estoria zitiert wird,u und aus den drei Stücken (Altilobi=Antholops, Hidrus, Gulpeja), die in den Libro de los ga tos eingefügt sind,11 läßt sich kein sicherer Schluß auf die Existenz eines span. Bestiariums ziehen. - Hingegen wird die Tradition der Bestiarien in Italien während der zweiten Hälfte des XIII. Jhs gleich in verschiedenen Formen aufgenommen und in Richtungen weiterentwickelt, die neue Interessen eines anderen Publikums anzeigen. Der Bestiario eugubino umbrischer Herkunft ~ 4192 reiht die kanonischen Tierfiguren in einer Folge von 64 Sonetten und bildet in dieser Kunstform ein erbauliches Seitenstück zu dem profanen Sonettenkranz von Chiaro Davanzati. - Neben der Tradition volkstümlicher Erbauungslektüre, die später in den Schatz der Exempla des Fiore di virt" ~ 2948 einmündet,· steht die enzyklopädische Tendenz des Bestiariums im 1. Buch des Tresor ~ 36G8 und in der späteren Acerba von Cecco d' Ascoli (vid. X 0), die das sakrale Traditionsgut 'wissenschaftlich), d. h. als ein Kapitel der Naturgeschichte behandeln (bei Cecco mit moralischer, z. T. allegorischer Auslegung auf das Verhältnis des Menschen zur Tugend). - Als bedeutendstes Werk der erbaulichen Tradition kann der in doppelter, venezianischer und toskanischer Redaktion überlieferte Li b r 0 della natura degli animali ~4212gelten. DerBruch mit der älteren,mystischtypologischen Deutungsweise zeigt sich im Proemio an, das den anthropozentrischen Gesichtspunkt: das gesamte Naturreich sei zum Nutzen des Menschen erschaffen (esempio a nostro dificamento) durch die Lehre von zwei Wegen der Erkenntnis (seno und sapienza, innere und äußere Erkenntnis) begründet. Die Tiere, deren Reihe nunmehr an Stelle des Löwen, des Königs der alten hierarchischen Ordnung, die Ameise eröffnet, werden hier überwiegend als Typen des Menschen, seiner Handlungen, der Stände und Klassen, nicht selten auch des bon predicatore gedeutet. Mit der p.ragmatischen Tendenz solcher Moralisation, die alle Vielfalt der Erscheinungen auf die corezione dele anime nostre zu beziehen weiß, fällt auch die Gattungsgrenze zwischen sakralen und profanen Tierfiguren. Nun können avianische Tierfabeln dem kanonischen Bestiarium angereiht, schließlich sogar anekdotische, aus den antiche storie e novelle de verita genommene Züge in die Beschreibung der Tiernaturen eingefügt 31 und allesamt dem gleichen Verfahren einer Deutung unterzogen werden, die dem Menschen als .edelste[), allein mit Vernunft begabter Kreatur auch die Erkenntnis zur höheren Pflicht macht. sl 18
A. G. 50LAUNDE. EI Physiologus en la G. E., Mel. Baldensperger, Paris. 1930, 11 251-254.
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BAE, LI. n 01 12. 13, 53; cf. lAucHERT °692. 300sqq .• GOLDSTAUB-WENDRINER °652. 206.
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Der Verfasser hat sich für jede Tugend und jedes Laster aus Bestiarien (besonders aus Bartholomaeus Anglicus. cf. H. VARNHAGEN. Raccolta di studi critici A. d' Ancona, Firenze, 1901, 515-538) einen Vergleidt gesudtt, so daß sidt aus seinen Zuordnungen (p. ex. Puossi apropriar la pace al castoreo. cap. 5) eine neue moralische Deutung der .geistlichen Tiere, ergibt. 50 die Legende vom Löwen mit dem Dom oder die nOT1ella von Golfieri de las tore. die in cap. LXVlII-LXXII der tosk. Red. die figürlichen Züge des Löwen ergänzen. (In della sopra dicta nOT1ella so no molte novelle et 6gure, e una principalmente. la quale non da tacere per correctione de quelli che sono engrati, p. 84). Cf. cap. XX der venez. Red.. das die Höherstellung des Menschen naiv begründet: ... altra criatura non a in se rasone se non l'omo. Dio li dide seno de potere signorizare tute le altre criature. ehe "omo signoriza per suo seno 10 lione. ehe e cusl potente (p. 38 !oq.). - Die Geschichte der Bestiarien in Italien ist mit den hier behandelten Texten
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2. Rezeption und Poetisienmg des Physiologus
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Der erste Verfasser des Libro hat die Beschreibung der sakralen Tiere hauptsächlich einem Text entnommen, den die philologische Kritik bis zu der jüngsten, den Zugang erschließenden Würdigung durch C. Segre für abstrus hielt, obschon seine Wirkung in der zweiten Hälfte des XIII.}hs erstaunlich gewesen sein muß: der Bestiaire d' amour von R i e hart d e F 0 rn iv a I .J' 4236. Hält man sich vor Augen, daß dieses in 18 Mss. auf uns gekommene Werk nicht allein in verschiedenen Versionen, Auszügen (franz., prov., waldensisch), Fonsetzungen und einer Response verbreitet war, sondern auch ins Flämische, Deutsche (m.ndfränk.), Italienische übersetzt wurde und eine Reihe von freien Nachahmungen anregte, so steUt sich die Frage, worin seine Neuheit lag, die es für die Zeitgenossen offenbar zu einem literarischen Ereignis werden ließ. Richart de Fornival hat den von Guillaume le eIere schon empfundenen poetischen Reiz der seltsam vielfältigen matire des geistlichen Bestiariums zum erstenmal ganz im weltlichen Sinn der Liebeskasuistik ausgeschöpft. Er knüpfte an das Verfahren Rigauts de Berbezieux und seiner Nachahmer an, begnügte sich aber nicht mehr damit, einzelne Tiersymbole in lyrische Situationen umzusetzen, sondern ordnete die Folge von geistlichem Symbol und lyrischer Exegese insgesamt der Fiktion einer narratio unter. Die von Richart selbst angeordnete Folge von 57 Exempeln hat den Rahmen eines Briefs (Salut d'amour), der die letzte Bitte um Erhörung (arierebans) vorbringt und die Beziehung von Dichter und Dame in der kasuistischen Auslegung der Tiersymbole als eine mögliche Geschichte oder Minneaventüre' widerspiegelt. Diese Spiegelung enthüllt und verdeckt zugleich: wie im Roman de la rose bleibt das Wesen und Verhalten der umworbenen bele tres douce amie für den Leser nur erratbar (die Reponse .J'4232 erweist sich auch darin als Werk eines anderen Autors, daß hier das Geheimnisvolle der allegorischen Fabel aufgegeben und die Abweisung unmittelbar und mit antihöfischer Polemik begründet wird). Hinter dieser Maskerade aber wird immer wieder die Ironie des literarisch hochgebildeten cancellarius von Arniens sichtbar, der mit dem Zeremoniell der abgelebten höfischen Konventionen sein Spiel treibt, dabei das Didaktische seiner ars amatoria mit den lyrischen Tonalitäten seines arierebans wohl zu versdunelzen weiß und so das erste bedeutende Beispiel einer Kunstprosa in französischer Volkssprache gegeben hat. Der von Richart de Fornival vollzogene Obergang von geistlicher zu weltlicher Allegorik ist charakteristisch für das Stilideal einer Epoche, in der die .klassische. allegorische Dichtform des Roman de la rose in vielfältigen manieristischen Spielarten weitergeführt wurde. Richarts Bestiaire d'amour, wohl eines der ersten Muster dieser neuen allegorischen Manier, hat andere Dichter dazu inspiriert, einzelne Tiersymbole, wie etwa die Panthere d' amOl4r .J' 4680, Bilder, wie den Arriereban d' amour .J' 4616, oder didaktische Themen, wie die .fünf Sinne.," zum Mittelpunkt einer
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keineswegs lusgeschöh (z. B. hat der Verfasser des fiore di 'Oir,," .J' 2948 in jedem Kapitel die Beschreibung der Tugend und des Lasters durch ein Beispiel aas den Bestiarim erläuten). Eine vollständige Darstellun8 der ital. Tradition müBte an die Arbeit "on K. McKENZlt, Unpublished manuscripts of italian bestiariet, PMLA 20 (1905) 3~ 433 anschließen. die das bahnbrechende Werk von GOLDSTAUI-WEN:lRIND °652 schon in mancher Hinsimt ergänzt hat. In Verbindung mit der Ja8d Amors bei lehan de Hesdin: LA prise amoureuse.
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C. Entstehung und Strukturwandel der allegorismen Dimtung
neuen Minneallegorie zu mamen. Ein marakteristismes, nom unediertes Stück dieser Gattung ist La vraie medecine d'amour von Bernier de Chartres "'4180. Hier wird das ovidianisme Bildfeld von Liebe, Krankheit und Heilung allegorisdt nam dem von Rimart gesdtaffenen Muster ausgesponnen, wobei nun aber die requeste des Maistres und die response der Dame von vornherein als Einheit gedacht ist. Der Autor leitet unmerklich von der amour de diu zur Liebe von Mann und Frau (Prol.), von den singnes d' amour der Mutterliebe zum Exemplum vom kranken Kind und dann zum Leiden dessen über, den der pfeil Amors (hier auch li dex de natures genannt!) verwundet hat. Die Bilderkette: Wunde, Salbe, deren Verfertigung aus drei Kräutern (/in desirier, pensee iolie, hoine volonte) im festesten Mörser (dem Herzen eines wahren Liebenden) führt in listiger Verknüpfung zum tres dous apotecaires, d. h. der Rolle, die der umworbenen Dame zugedacht ist. Tiersymbole (cauwete, seraine, manticora, ours, tauppe, plouvier) sind nur gelegentlich in die Verkettung eingefügt, zum Smluß der requeste mit der bizarren Wendung: wenn sim die Dame weigere, ihm aus Liebe die cSalbe) zu bereiten, solle sie es machen wie die Manticora, welche die Mutterliebe der Bärin nachahme, und wenigstens so tun, als ob sie ihn liebe (fol. SC). Die Dame läßt in ihrer response die allegorisdte Verhüllung fallen und benutzt die - seit Rimart de Fomival beliebte - Theorie der efünf Sinne), um an diesem Vergleichsobjekt ihre Zweifel an den Argumentationen des Maistres und sdtließlich seine Abweisung zu begründen. Als manieristischer Gipfel der Bestiaires d'amour kann das formal (erstes Beispiel des eendecasillabo sciolto)!) und inhaltlich ungewöhnliche Gedicht: 11 m are am 0 r 0 so'" 4216 eines noch nicht identifizierten Zeitgenossen Chiaro Davanzatis und Brunetto Latinis gelten, der den Genannten auch im Stil verwandt ist. Es ist von Cian als Sati~e oder Parodie der Manier der Tiersymbole, von Bertoni hingegen als «formulario amoroso» und Beispiel einer ars dictandi verstanden worden. Das Werk ist indes weder ausdrücklich satirischen noch rein didaktischen Charakters, wie Spitzer zeigte, dessen Deutung den poetischen Effekt der langen Verkettung von Tiersymbolen, Exempla und Romanmotiven am Prinzip des Kaleidoskops erläutert: im unaufhörlichen Wechsel der Bilder geht die Vorstellung der geliebten Dame immer neue Beziehungen mit den Dingen des Universums ein, deren summa wird zum Spiegel ihrer Vollkommenheit, die Gesamtbewegung in der strophenlosen Versgestalt zum Ausdruck der Idee des Unendlichen einer Liebe, ehe tanto cresce ehe non truova /ine. 84 Diese poetische Grundidee darf indes nicht übersehen lassen, daß der hohe Ernst der Liebesallegorie immer wieder durm den Autor selbst in die Schwebe gebramt wird. 15 Seine Ironie zeigt sim sowohl in der oft ins Groteske umschlagenden Hyperbolik, als auch in der Profanierung der mystisdten und höfisdten Liebe oder der Verkehrung des Narziß-Motivs (v. 85 sqq.), vor allem aber in dem desillusionierenden Zweifel an: Ma poi ch'i' non mi sento tal natura, ehe faragio (vv.234, 263 sq., 274). Mit dieser Frage ändert sim für den Leser das Vorzeimen des Verstehens. Sie enthüllt ihm in ihrer Wiederkehr die Liebesallegorie als unwirkliches Spiel und rückt auch den letzten Umsdtlag: den von einer grotesken Analogie zum 14 SI
Spitzer, 522 (mit Bezug auf vv. 311-315). Zum einzelnen sei hier auf meine Interpretation, d.
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lAUSS
°672 verwiesen.
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Verrat und Tod Christi umrahmten Untergang des Liebenden auf dem .Meer der Liebe., in das Zwielicht der ironischen Auflösung. Sieht man den Text derart vor dem Hintergrund der Tradition, die wir von Rigaut de 8erbezieux über Richart de Fomi val bis Chiaro Davanzati verfolgten, so erscheint 11 mare amoroso als eine auf ihre Weise geniale Oberbietung und als ein spätes, sdton parodistisdtes Echo der Kasuistik der Bestiaires d' amour.
4. ALLEGORISCHE DICHTUNG IN EPISCHER FORM
215
Zwei spädateinische Werke stehen am Anfang der Geschichte der allegorischen Epik des Mittelalters: die Ps y eh 0 mac h i a von Prudentius und Den u pt i i s Phi I 0 log i a e e t Me r c u r i i seines Zei tgenossen Martianus Capella. Das zweite war als Lehrbuch der artes liberales eine der wichtigsten Grundlagen der mittelalterlichen Bildung, das erste hat für ein Jahrtausend die christliche Vorstellung des Seelenkampfes geprägt, und beide zusammen haben einen bedeutenden Anteil an der Entwiddung, die aus der Personifikation unsichtbarer Wesenheiten ein dominierendes Stilprinzip mittelalterlicher Literatur und Kunst werden ließ. Für die Tradition romanischer Dichtung ist das Vorbild der Psychomachia von größerer Bedeutung als das der Nuptiae. 1 Die Spur der letzteren findet sich im XII. Jh. nur sporadisch im antiken Roman und in Chretiens Erec, auf dessen Krönungsgewand zum Zeichen der Verbindung von chroalerie und clergie die Figuren der vier Künste des Quadriviums eingestidtt sind. I Die allegorische Fabel der Nuptiae ist erst im XIII. Jh. von französischen Dichtem bearbeitet worden, nachdem die Psychomachia schon rezipiert war und der epischen Allegorie in der Volkssprame zum Erfolg verholfen hatte. Insofern kann die Geschichte der epischen Allegorie in der Romania sogleich bei ihrem lateinischen Vorbild, der Psychomachia, einsetzen.'
1
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Zur Tradition der Nllptiu im MitteWter cf. G. NuCIIEl.WANs, Philologia et san mariage avec Mercure jusqu'lla Sn du I. XII, LAtomlls 16 (1957) 84-107, und M.-Th. d'AlVONY, La lagesse et ses sept filles ... , M~l. F. Grat, 1946, I 245-278. Vid. IV A 4 (~., v. 6744 sqq.); cf. FAUL 076, 350-351. Cf. J.wss 0664, GNlUCA 0158 und zuletzt R. HERZOG, Die allegorische Didttkunst des Prudmtius, Mündten, 1966.
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C. Entstl!hung und Struktu""andl!l dl!r allegorisml!n Dimtung
Thema dieses ersten christlichen Epos ist der Konflikt zwischen Gut und Böse. den Prudentius als Drama der kämpfenden und mit Christi Hilfe siegenden Seele ankündigt. Als bellum intestinum verbildlidtt, gibt die Psychomachia dem urdtristlidten Thema vom Ringen der Seele mit dem Leib (Gal. 5, 17), aber audt den dämonischen Geistern personhafte Gestalt, vor deren Macht der Mensch in der Finsternis dieser Welt zu bestehen hat (Eph. 6, 12). Vor diesem Horizont sind die Laster zu sehen, die im epischen Zweikampf von den christlidten Tugenden der Reihe nadt besiegt werden. Die Sc:hladttensdtilderungen erinnern an die Aeneis, doch erscheinen im dtristlidten Epos als Personen der Handlung nur noch allegorische Figuren, die ihre im Namen vorgegebene und in ihrer Besc:hreibung ausgelegte Wesenheit darstellen. Diesem Prinzip zufolge hat Prudentius die Tugenden den Lastern in der Sc:hlacht antipodisch zugeordnet: ihr Gegensatz im Zweikampf stellt die Macht und Gegenmacht, die sie verkörpern, am eindringlidtsten vor Augen. Das Verhälmis zwischen Laster und Tugend ist durch diese symmetrische Entgegensetzung unabänderlich festgelegt, so daß es besonderer Kunstmittel bedarf, um in den vorbedingten Ablauf der Handlung epische Spannung hineinzubringen. Prudentius hat dies in der Mittelszene der Psychomachia erreidtt, wo er Luxuria die Rolle gibt, auf dem Höhepunkt der Schladtt Verwirrung in den Reihen der Tugenden zu stiften. Nun zeigt sidt, daß niemand der Luxuria - deren Beschreibung auf die meretrix der Apokalypse (Apoc. 17), aber audt auf die Venus des Claudianus zurückweist - gewadtsen ist. solange Sobrietas nidtt auf den Plan tritt. Wie die antipodisdte Zuordnung der Personifikationen steht sdtließlidt auch die Besiegung des Gegners in Beziehung zu ihrem Wesen: das grausame Töten der Laster. das den modemen Leser an christlidten Tugenden befremdet, entspridtt - wie Gnilka nachwies - dem Rec:htsprinzip der Vergeltung, der Talion. Die Pugna animae cum vit;;s (in dieser Vereinfadtung ist der Titel in mittelalterlidten Glossen wiedergegeben) wird aber erst dadurch zum allegorischen Epos, daß sidt im Drama der kämpfenden Einzelseele immer auch das überpersönlidte Geschick der Gesamtheit: die pugna ecclesiae mit abbildet. Der Kampf, der im (carcere cordis, v. 906) um die Rettung von Körper und Seele geführt wird, ersdteint auf höherer allegorischer Ebene als Auseinandersetzung des Christentums mit seinen groBen Widersachern: antikem Götzendienst, Sündigkeit, Häresie.· 50 weitet sich die allegorische Landschaft iJ\ ständiger überschneidung der Bilder räumlidt und zeitlidt vom Leib zum Kosmos, von der Situation des Christen zur Heilsgeschidtte der Mensdtheit. Auf dem Sc:hauplatz, der die (v. 6) ist und Sc:hladttfeld zugleich, später ein Lager und schließlich die Stadt, in die das Tugendheer einzieht, ersdteinen schon nadt dem Sieg der Fides Märtyrer, die ihr zujubeln (v. 36sqq.), dann von Kampf zu Kampf immer neue Gruppen von Gefolgspersonen oder Opfer von Lastern, so daß sidt allmählich der Rahmen eines Bildes füllt, in dem die ganze Menschheit den Kampf der anima mitkämpft, die als einziges Wesen selbst nicht figuriert ist. Zugleich öffnet sidt der Blick in die historische Tiefe. Der Didtter läßt Hiob, den Prototyp des Dulders, Patientia begleiten; er sieht den Sieg der Pudieitia in Judith präßguriert, den der Humilitas in David, den Ausgang der Psycho• Cf. GNIUCA °648, 8 und 26, ferner (ap. 11 (zur Kritiken L COTOCWI, die in AAL, XII (1936) 441 eqq. den Aspekt der ,,"pa ecclesiae einseitig dargestellt hatte).
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4. Allegorisme Dimtung in qismer Form
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maclzia im Sieg Abrahams über Loths Feinde. I 50 erfüllt sich in der Gegenwart der Schlacht, wie schon die praefatio begründete, typologisch das Endgeschick der Heilsgeschichte. Denn wie die biblische Vergangenheit ist in der Psychomachia mit dem abschließenden Bild, das den Sieg der Tugender krönt, auch die zukunft bedeutet: das templum pectoris, Tempel des gereinigten Herzens, ist zugleich templum ecc1esiae und das verheißene neue Jerusalem. I Hier zeigt sich, daß das prudentianische Epos so sehr in der Tradition der typologischen Bibelexegese steht, daß es als deren epische Transformation angesehen werden kann. Es wird sich zeigen, daa gerade diese geschichtliche Dimension der Psychomachia, wie auch die Vorstellung des helium intestinum und das Talionsprinzip, zu den Aspekten des Werkes gehören, die sich in seiner mittelalterlichen Rezeption nicht mehr finden oder allmählich aufgegeben werden. Die Wirkungsgeschichte der Psychomachia, von der im Mittelalter zahlreiche Darstellungen in Predigt, Lehre, Dichtung und bildender Kunst ein beredtes Zeugnis ablegen, ist noch zu schreiben. Da ihre Themen und Personifikationen keine nur literariseite Fiktion, sondern eine Realität des christlichen Glaubens waren, ist es nicht verwunderlich, daß sich die Vorstellung des Kampfes der Tugenden und Laster um die Seele vom Werk des Prudentius ablöste, als Gemeingut betrachtet, vielfältig variiert und frei weiterentwickelt wurde. Das mag erklären, warum keine übersetzungen oder textnahe Bearbeitungen in romanischer Volkssprache bekannt geworden sind. So gerne auch die Theologen von Isidor und Aldhelm bis Hugo von St. Viktor und Vincenz von Beauvais die Tugenden und laster nach dem Vorbild von Prudentius personifiziert besdtreiben/ ist doch die epische Form der Psychomachia erst wieder in der Schule von Chartres, mit dem Antic1audianus (1181/1184) von Alanus, und erst 60 Jahre später in der Volkssprache, mit dem Toumoiement de l'Antechrist (1234/ 1235) von Huon de Mery aufgenommen worden (vid. infra). Der Antic1audianus wie überhaupt das allegorische Epos der Schule von Chartres hat lange Zeit keine Nachfolge gefunden; es wurde erst übersetzt und bearbeitet, I nachdem die epische Form und personifizierende Manier der Allegorie für eine neue, von Huon de Mery und Guillaume de Lorris eingeleitete Epoche stilbildend geworden waren. Und zwischen dieser Entwicklung und dem femen Vorbild vonPrudentius steht noch eine Auslegung der Psychomachia, die in Frankreich und Italien traditionsbildend wurde: die Bemhard von Clairvaux zugeschriebene Parabel D e pu g n asp ir i t u al i.· Die Parabel gibt dem prudentianischen Thema ein neues Gewand, dem eine veränderte Auffassung vom hellum intestinum entspricht. Aus dem Kampf der Seele mit den vom Körper aufgebotenen Lastern ist nun ein conflictus 'Ditiorum et 'Dirtutum geworden, der um die Seele geführt wird. Die pugna spiritualis nimmt nicht mehr im cGefängnis des Leibes. ihren Ausgang, sondern im immerwährenden Krieg, der zwischen Babyion und Jerusalem geführt wird. Die augustinische Vorstellung von • Cf. JAUSS 0664, 188. • Cf. HEUOC, op. öt., 127-129. 7 Cf. UVARonn: (ed.), Prudence, Paris, 1948, 111 26sqq.; WALTHER °244,110-121; M. BloowmLD 0624. • Cf. R. BoSSUAT (ed.), A1ain de ülle: Anticlaudianus, Paris, 1955,451'1. • PL, CLXXXlII 761-765.
W.
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C. Entstehung und Strukturwandel deT allegorischen Dichtung
der civitas Dei und der civitas teTrena umrahmt hier und häufig auch in den romanischen Versionen die pugna spiritualis und macht aus der einmaligen, die ganze Heilsgeschichte typologisch einbegreifenden Handlung der alten Psychomachia ein jederzeitliches Ereignis. Die mittelalterliche Psychomachia ist weniger geschichtsbezogen. Sie gibt die typologische Auffassung der allegorischen Figuren mehr und mehr auf, wie vor allem im Anticlaudianus sichtbar wird. 11 Hier gipfelt der Sieg der Tugenden und ihres Protagonisten iuvenis, des vollkommenen Menschen, über die Laster in der Vision einer neuen, von Amor regierten, paradiesischen Welt jenseits aller Geschichte. Die Figur des iuvenis, deren christologische Deutung nicht befriedigt, zumal sie in noch ungeklärter Weise der Personifikation lovens bei Marcabru verwandt ist,ll bezeugt noch in anderer Form, wie sich die Vorstellung des bellum intestinum seit Prudentius gewandelt hat. Wie bei Alanus tritt auch schon in der Parabel Bernhards von Clairvaux der Mensch selbst auf den Plan, auf dem sich der Kampf zwischen Tugenden und Lastern abspielt. Der Wächter auf den Zinnen Jerusalems erspäht, daß unus de civibus suis in die Hände derer von Babyion gefallen ist; die Wechselfälle seiner Befreiung, zu der erst Timor, dann Spes und andere Tugenden entsandt werden, bilden die Fabel der pugna spiritualis, mit der allegorice die Umkehr und Flucht aus den Verstrickungen der Welt bedeutet ist. So wird die einzelne menschliche Seele, um deretwillen die Schlacht der übersinnlichen Mächte geführt wird, nun selbst in die prudentianische Allegorie gehoben. Damit ist einerseits zwar die Anschauung des bellum intestinum preisgegeben, andererseits aber erhält die visionshaft objektivierte pugna spiritualis in der herausgehobenen Figur des Einzelmenschen einen neuen Bezugspunkt, der andere Möglichkeiten der Allegorese eröffnet. Das wird die Rezeption der Psychomachia durch volkssprachliche Dichter zeigen, die seit Huon de Mery den Menschen als Figur inmitten der Tugenden und Laster immer wieder anders zu verkörpern suchten .. Der Dichter, der dem prudentianischen Thema Eingang in die junge Tradition romanischer Dichtung verschaHt hat, ist Marcabru (vid. 11). Er deutete den Kampf der christlichen Tugenden und Laster in den aktuellen Gegensatz von /in' und fol' amor um und gewann so ein Repertoire an Figuren und Situationen, um seine polemische Klage über den Verfall der Welt ins Bild zu setzen. l l Auf sein Vorbild gehen Personifikationen von (Tugenden) und (Lastern) der höfischen Liebesethik - wie Pretz, lois, lovens, Donars oder Malvestatz, Enveja, Avoletza, Corbeida - zurück, die hinfort zu dem festen Repertoire der Trobadordichtung gehören. So evident ihre poetische Funktion in der Entpersönlichung lyrischer Situationen und Vergeistigung von AHekten auch sein mag, ihre Bedeutungsgeschichte im einzelnen und ihre Rolle im Wandel der lyrischen Konstellationen des bellum intestinum ist erst wenig geklärt und auch im Verhälmis zur zeitgenössischen Morallehre noch zu untersuchen. In anderen Gattungen finden sich vor Huon de Mery nur wenig Spuren einer literarischen Verwendung des Grundmotivs der Psychomachia. Im Roman bleibt die Darstellung innerer Konflikte - wie schon erwähnt 1Ia - auf das antipoefische Figurenpaar 11 11
JAUSS 0 664, 189 sq. Cf. op. eit., p. 198, n. 6Oa.
Cf.
11 ScmLUDICO 0744.
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Ila Cf. supra p. 150 (mit n. 20).
4. Allegorische Dichtung in qischn Form
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des (Dialogs im Monolog. beschränkt. Das spezifische Merkmal der Schlacht fehlt auch im Po em e m 0 ra I .I' 2304 (um 1200), das hier als Beispiel aus der Erbauungsliteratur dienen kann. Als der Verfasser beim Thema der Wachsamkeit des Christen angelangt ist, vergleicht er erst das leben des Christen mit dem Verhalten des Ritters in der Schlacht und führt dann das Bild aus, wie Satan mit dem Heer der von den Todsünden angeführten Laster heranrückt, auf die er schließlich - wiederum in reihender Beschreibung - die ihnen überlegenen Tugenden folgen läßt. 11 In ihrer epischen Funktion erscheint di~ Psychomachia erst wieder in der V 0 i e d e par a dis .1'4546, wenn auch nur als eine retardierende Episode beim Aufstieg zum Himmel: der Wanderer sieht sich plötzlich von neun Lastern angegriffen, dann von fünf Tugenden befreit, womit sein letzter Rückfall bedeutet ist (v. 540sqq.). Das 12~'t/1235 entstandene Tournoiement de l'Antechrist ;r4596 steht an der Schwelle einer neuen literarischen Epoche, wie sein Verfasser, Huon de Mery, selbst bezeugt. Er blickt auf Chretien de Troyes und Raoul de Houdenc schon wie auf die unerreichbaren Vorbilder einer zu Ende gegangenen Zeit zurück, stellt fest, daß (von den höfischen Dichtem?) schon alles gesagt ist, und kündigt sein Werk als nO'Oel pense und noch nie gebrachte matire an (Prolog). Dievergangene, von Huon deMery in mythischer Distanz gesehene und dargestellte Anuswelt bildet den Hintergrund, vor dem die erste volkssprachliche Version der Psychomachia erscheint. Ausgangspunkt der Handlung ist der Wald von Broceliande, den der Dichter aus Neugier aufsucht: Car la 'Dnte 'Doloie aprendre I De la perilleuse fonteine (v. 62 sq.). Die vom Dichter entdeckte Wahrheit der Quelle ist, daß ihr Zauber den Aufzug der Laster im Gefolge des Höllenfürsten in Gang setzt. Antichrist zieht aus, um sich mit den (christlichen wie auch höfischen) Tugenden im Turnier zu messen, die für den Himmelskönig kämpfen. Der Kampf der bei den Heere wird - hier macht sich die neue, auf die Parabel St. Bernhards zurückweisende Vorstellung der guerra continua zwischen Babyion und Jerusalem geltend - von zwei allegorischen Städten, Esperance und Desesperance, aus geführt. Im Gefolge der Tugenden befinden sich König Anus und die namhaftesten Ritter der table ronde (vv.1977-2015); sie nehmen damit die Stelle ein, die im Anticlaudianus noch durch biblische und antike Beispielfiguren besetzt war. Die Anusritter kämpfen im Gefolge der Proesce, während auf der Seite der laster Söldner, Wucherer und Bauern stehen, die der Antichrist zum Ritter schlagen mußte, um sein Heer zu verstärken (v. 2035 sqq.). Auch Figuren der klassischen Mythologie, denen die Erzengel entgegentreten, sind aufgeboten und werden in die Niederlage des Antichrist hineingerissen. Einzig Amor zieht mit den höfischen Tugenden unter der gent Jesu Crit auf (v. 1713 sqq.), wechselt in der Schlacht aber die Fahne, um mit Venus und Cupido der von Virginite schon fast besiegten Fomicacion beizuspringen. Die damit bedeutete Kritik an der höfischen liebe hat ihre Entsprechung in der Episode, mit der Huon seine eigene Geschichte mit der Allegorie verknüpfen wollte. Der Pfeil der Venus ist auf Virginite, die ihr entgegengesetzte 1I
Vid. 2304, vv. 2545-3064. Das Thema der Psymomachia kann in der Erbauungsliteratur auch in der Form der Rem~des eontre les 'Diees et les 'Dntus behandelt werden. So in späteren Redaktionen der Somme le roi (1280) .I' 2386, wo in den ursprün8lichen Traktat über die peches morlels et plmes de langue hinter jedes Laster das entsprechende ,em~deein8e schoben ist, cf. E. BaAYD, R 79 (1958) 463 und 468.
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C. Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Didatung
Tugend, gezielt, trifft aber, da sich Virginite mit Chastee gerade noch rechtzeitig in ein Kloster zurückziehen kann, unversehens den Dichter selbst (v. 2562 sqq.). Es bedarf einiger Veranstaltungen zu seiner Heilung, die darin gipfeln, daß ihn die Dame Relegion auf den rechten Weg zum Paradies bringt. Man kann nur vermuten, daß Huon mit seiner Allegorie den Entschluß rechtfertigen wollte, vom weltlichen zum geistlichen Leben überzutreten (vv. 3510-3525). Denn es ist ihm noch nicht ganz gelungen, dre allgemeine Allegorie der Psychomachia mit der besonderen Geschichte einer einzelnen Seele bruchlos zusammenzufügen: der geistreiche Zufall des fehlgegangenen Pfeils muß zugleich vertuschen, daß die epische Handlung zwischen dem subjektiven Anlaß, Huons Neugier auf die Zauberquelle, und dem Augenblick der Schlacht, als der unbeteiligte Zusenauer völlig unmotiviert durch das Auge ins Herz getroffen wird, ohne Beziehung zum erzählenden Ien bleibt. Der Schritt Huons, sein eigenes Ich in die Psyc:homac:hia einzufügen, ist gleienwohl kühn und bedeutsam. Er zeigt die Richtung an, in der Guillaume de Lorris weitergehen wird: im Konflikt zwisenen höfischen Tugenden und Lastern ein inneres, seelisches Geschehen - die Geschichte von amant und Dame - zu repräsentieren. Auch wenn unmittelbare Naenahmungen des Toumoiement de I' Antechrist fehlen, zeigt doch die weitere Tradition, daß das Werk Huon de Merys Schule gemacht hat. Seine formalen Neuerungen: die Umrahmung durch das Geschichtsbild der deus citez und die Zweiteilung der Handlung in einen Aufzug der Heere, bei dem die Tugenden und Laster erst für sich besdtrieben werden, und in die dann erst folgende Senlaent, finden sich fast in allen späteren Werken dieser Gattung. Die callegorische Schlaent) seneint sich seit Huon de Mery überhaupt besonderer Beliebtheit zu erfreuen. Sie wird in den folgenden Jahrzehnten von namhaften Schriftstellern wie Henri d' Andeli und Rutebeuf in satirischer Absicht aufgegriffen, von anderen erbaulich behandelt und bald auch schon parodiert. Wie bei Huon de Mery ist auch bei diesen Werken das Verhältnis zum femen Vorbild der Psychomac:hia mit dem Begriff der Nachahmung oder Bearbeitung nicht zureienend zu fassen. Es handelt sich vielmehr um Weiterbildungen, die den ehrwürdigen Stoff unbekümmert aktualisieren. So setzt Henri d' Andeli ,;t 4588 Figuren aus De nuptiis Philologiae et Mercurii in die episene Fabel der Psychomachia ein, um in seiner Bat ai 11 e des 5 e pt art 5 (naen 1236) den Streit der Schulen von Paris und Orleans darzustellen. Da im Streit der artes gegen die auetores auf seiten der Dame Logique Philosophen wie Plato und Aristoteles, personifizierte Wissenschaften wie Medizin und Jurisprudenz und sogar Verkörperungen von Buchtiteln wie dant Barbarime (v. 232) kämpfen, während von Dame Gramaire historisene Personen, die Autoren der bone ancienete= (v. 98), aber auch lateinisene Dichtungen von Zeitgenossen wie Architrenius, Tobias, Alexandreis und die Bible versi!ie aufgeboten sind (vv. 283-289), gipfelt die Schlacht in einer grotesken Reihung witziger und anspielungsreicher Begegnungen. Der Spott des Satirikers trifft beide Lager gleichermaßen; erst Henris berühmte Prognose, eine spätere Generation werde der besiegten Grammatik zu neuer Geltung verhelfen, gibt im Epilog seiner Parteinahme für die klassische Bildung Ausdruck. - Henri d' AnMli hat die neue Gattung mit seiner Bat ai 11 e des vi n s ,;t 4592 aber auch gleich travestiert. Seine Ankündigung: Segnor oies une grant fable (v. 1) und der Stil der Chanson de geste kontrastieren ständig mit dem alltäglichen Vorgang, einer Weinprobe an der
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4. Allegorische Dichtung in epischer fonn
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Tafel des bon roi qui ot non felipe I Qui uolentiers moilloit sa pipe I Do bon vin ... (vv. 3-5). Der epische Streit entbrennt zwischen den von nah und fern aufgebotenen Weinen, wird aber auf unheroische Weise dadurch geschlichtet, daß ein englischer Priester die Stola nimmt, um die schlechten Weine zu exkommunizieren. Dabei entzieht Henris Ironie der ehrwürdigen Form der personifizierenden Allegorie selbst den Boden: die Weine erscheinen erst in ritterlichem Gewand (s'enfuirent tomant les resnes, v. 74), dann aber wird ihre Personifikation überhaupt als bloßes Spiel enthüllt: se vin eussent pies & mains !Te" sai bien qu'il 5' entretuassent (v. 156 sq.). Die Beliebtheit der allegorischen Bataille bezeugt in dieser Zeit auch ein Text, der mutmaßlich auch im Milieu der Pariser Universität entstanden sein dürfte: die nur in einem franz.-pikard. Ms. enthaltene und mangelhaft überlieferte Bataille d' enfer et de paradis .;t4560. Der anonyme Verfasser, der mit vv. 55-56: mes sires Paris li riches, ! Qui moult het les escoliers chiches vielleicht auf seine Herkunft anspielt, evazien mit der hyperbolischen Ankündigung: Nos trovons en sainte escriture ! Une mervoillese a't1anture (vv. 1-2) den immerwährenden Streit zwischen Himmel und Hölle, in den er sodann eine lokale Episode der Rivalität zwischen Paris und Arras einbezieht. Anfer, der Paradis die Rechte der Souveränität streitig gemacht hat, entbietet Arras, Reims und die Städte des Nordens und trifft sich bei Lagny-sur-Marne mit Paradis, nostre sire, der Paris, Saint-Denis und die benachbarten Städte diesseits der Oise zu Hilfe gerufen hat, zu einem moult grant torno; (v. 41). Paris erringt den Sieg, der erst noch durch einen Verrat von Poitiers, Thouars und Panhenai gefährdet wird, die in das Lager von Arras übergehen, Por plus a't1oir or et argent (v. 118). Die aktuelle Bedeutung der Allegorie hängt von der Lösung der noch ungeklärten Fragen ab, die der Text aufgibt: welchen Sinn hat die Gruppierung der 79 Städte in zwei feindliche lager, in welchem Zusammenhang steht die Handlung zu der Schlacht von Bouvines (1214) und zu den Schid<salen des conte de Boloigne (= Renaut de Dammanin?, v. 197) und seines Komplizen, des Grafen Ferrand (v. 53), warum steht Anas an der Spitze der höllischen Mächte? Der Verfasser, der den epischen Ton der Schlachtschilderung mit burlesken Motivationen durchsetzt (die Blasons der Städte des Nordens haben ironischen Sinn, vv. 80sqq., 109, 163; eine Reihe von Gegnern unterliegt durch Trunksucht, v. 165 sqq.), macht aus seiner Parteinahme keinen Hehl und zeichnet Paris am Ende dadurch aus, daß er es für immer in das Paradies versetzt: Et Paris coma 1a retraite, Si s'en aIa em Paradis o il sera mais 1 toz dis (vv. 182-184).
Schon ganz abgelöst von der allegorischen Tradition der batailles und in der Struktur auf die Chanson de geste bezogen, die sie travestiert, ist die spätere Bat a i ll e de caresme et de charnage .;t4556; der Verfasser hat seine Polemik gegen die strenge Fastenregelung virtuos in eine Schlacht umgesetzt, in der die gegensätzIimen Prinzipien für sich personifizien und zugleich in der burlesken Vielfalt der kämpfenden Speisen erscheinen. Neben bataille und tournoi erscheint in der Blütezeit der allegorischen Dichtung in Frankreich nun auch das allegorische Schema der (Hochzeit), das auf die Tradition der Nuptiae von Martianus Capella zurückweist. Jehan le Teinturier von Arras hat [ 19S]
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C. Entstehung und Struktunoandel der allegorischen Dichtung
im letzten Drittel des XIII. Jhs das ehrwürdige Thema in seinem Mariage des se pt ar I s -"4600 sogleich in ein zeitgemäßes Gewand gebracht: dem Dichter erscheinen die von Gramaire angeführten Disziplinen im Traum und erörtern ihre Absicht, die Tugenden zu ehelichen; die Theologie will ihnen im Namen der Chastle von der Heirat abraten, wird aber von der Medizin mit witzigen Gründen widerlegt. An dieser Version hat der an. Verfasser einer zweiten, in die Form einesSalu d'amour gebrachten, gleichnamigen Redaktion -"4604 offensichtlich Anstoß genommen. Er gab der Theologie und der Medizin gerade die umgekehrten Rollen: die Theologie, die nun auch in der Reihe der sept arts (in der die Astronomie fehlt) figuriert, heiratet selbst Amour, während Damme Phesique, die sich auch verheiraten will, mit schroffen Worten (Vos n'estes pas de nostres, v. 250) zurückgewiesen wird. Der akruelle Anlaß dieser versteckten Polemik ist noch ungeklärt. - Ein anonymer, vielleicht als Bearbeirung eines Traktats von Robert Grosseteste nach 1256 entstandener Text: Le mariage des neu/ /illes du diable -"4120 zeigt, daß neben der antiken Form der Nuptiae auch ein gleichnamiges Predigtschema existierte, das als Leitfaden benutzt wurde, um die Sünden verschiedener Stände und Personengruppen an ihrer Heirat mit den ,Töchtern des Teufels., d. h. den Lastern, zu erläutern. Wie die allegorische Schlacht der deus eitel für ein breiteres Publikum als ernsthafte Zeitsatire aktualisiert werden konnte, zeigt ein bisher unterschätzter Text, L e tournoiement d'en/er -"4612, der vielleicht Jean de 810is zuzuschreiben und dann in die Mitte des XIII. Jhs zu datieren ist. Der Verfasser versteht es nicht allein, seine Erläuterungen der Laster dadurch zu würzen, daß er ihre Wirkung im alltäglichen Dasein aufsucht und in (oft dialogischen) kleinen Szenen beschreibt, die in der Geschichte des duistlichen (Realismus. einen Platz verdienten. Er bringt auch Abwechslung in seine Kampfschilderungen, indern er Laster verschiedentlich an den Folgen des Affektes zugrunde gehen läßt, den sie verkörpern (A't7arice z. B. unterliegt, weil sie mit ihrer Rüstung gegeizt hat, v. 1101 sqq.). Und er versucht, die in der Tradition der Psychomachia vielleicht zum ersten Mal gestellte Frage zu beantworten, warum wohl Pitie im Widerspruch zu ihrem Namen und Wesen einen Feind, Cruaute, besiegen kann: die Grausamkeit könne nur am Mitleid sterben, d. h. der Grausame könne seines Lasters nur Herr werden, wenn das Mitleid von seinem Herzen Besitz ergreife (Ne doit morir se par lui non, v. 1085). -Auch Rutebeuf hat um 1263 in dem konventionellen Rahmen der Bataille des 't7ices contre les 't7ertus ;t4608 eine neue Möglichkeit für seine Polemik gegen die Bettelorden gefunden. Er kündigt an, erzählen zu wollen, wie die Menor et Frere Precheeur von Gott dazu ausersehen wurden, die Laster zu bekämpfen und die Tugenden zu erhöhen. Zunächst will es dann auch scheinen, als ob sich in diesem epischen Ablauf nur einmal mehr das zeitlose Geschehen der Psychomachia ereignen würde. Doch dann bemerkt der Lesermehr und mehr, daß Rutebeuf mit subtiler Ironie die konventionellen Rollen verkehrt hat: die Humilite der Bettelorden, die hier zur grant dame herangewachsen ist (v. 80) und Orgueil besiegt, indem sie ihn mit eigenen Waffen schlägt, d. h. selbst auch prunkvolle Paläste baut, enthüllt sich als die falsche Demut. Tugenden können in die entgegengesetzten Laster umschlagen: mit dieser neuen Psychologie hat Rutebeuf ein satirisches Motiv entdeckt, das die Allegorie der Wesenheiten zum ersten Mal als Maskerade erscheinen ließ.
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4. Allegorische Dichtung in epischer Form
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Während die zuletzt behandelten Autoren eine Entwiddungslinie zeigten, die vom Tournoiement de l'Antechrist zu Formen der Satire führte, wird an anderen Texten der zweiten Hälfte des XIII. Jhs sichtbar, wie die von Huon de Mery erneuerte Gestalt der Psychomachia in die erzählende Ichform überging. Dabei wird das bei Huon nur vermutbare Vorbild der Parabel St. Bernhards nun in historischer Filiation greifbar. Die dort vorgezeichnete Geschichte der anima, die in die Macht des Teufels fällt, von den Tugenden aus der fOTJea desesperationis befreit und auf gefahrvollem Weg zu ihrem Heil gebracht wird, liegt französischen wie italienischen Versionen der pugna spiritualis zugrunde. Ein an. Dit des sept TJices et des sept TJertus ,11 4576 benutzt sie, um in der bekannten Allegorie der cDrei Feinde des Menschen. Li Mondes, Li Chars und Maule auf neue Weise zu verknüpfen. Die Parabel St. Bemhards hat auch in Italien Verbreitung gefunden. Sie existierte in einer volkssprachlichen Bearbeitung (vid. VII B) und liegt auch dem noch unveröffentlichten Gedicht: La bataya de' TJicij e de le TJertude ,11 4564 zugrunde. Die Anknüpfung an De pugna spirituali zeigt die Gi 0 s t rad eil e TJ i r tue dei 'Oizi ,114584, ein anonymer Text franziskanischerHerkunft aus der zweiten Hälfte des XIII. Jhs, gleich mit den ersten Versen an: De duy cictade TJoliOTJe dure bactalie contare, ke sempre se combacte. 15 Doch dann holt der Verfasser weiter aus und schildert die biblischen Ursprünge der beiden Städte: des von Iesaia prophezeiten, von der Kirche verkörperten heiligen Jerusalem und seiner Gegnerin, des von Luzifer nach dem Engel,ssturz gegründeten Babyion. Ihr immerwährender Krieg hebt zunächst wie eine Wiederholung der Psychomachia an: Fede besiegt Häresie und Schisma, Humilitate die Superbia. Doch beim dritten Zweikampf gibt der Verfasser das prudentianische Prinzip der antipodischen Zuordnungen auf und rückt wie die Parabel St. Bernhards das Schicksal der Einzelseele in den Mittelpunkt der Schlacht. Warum nun aber die Jungfrau Pudicitia diese Rolle übernehmen muß, bleibt unerklärt und offenbar in der Allegorie unbezogen, da später für Pudicitia stillsch~igend wieder die anima cittadina der Parabel eintritt (vv. 451,487). Solche Nahtstellen verraten, daß der Verfasser dieses formal anspruchsvollen Textes verschiedene Vorbilder zusammengestückt hat, über die sich sein mutmaßlicher Zeitgenosse, der klassisch gebildete Florentiner Richter Bono Giamboni souverän erhob, als er der Psychomachia eine zeitgemäße Gestalt gab, die als erste autonome Dichtung in toskanischer Prosa gelten
I.
kann. Sein L i b rod e' v i z i e deli e v i r t u d i ,11 4568 ist dem wohl etwas früheren Tesoretto seines Zeitgenossen Brunetto Latini darin an die Seite zu stellen, daß es die allegorische Fabel seiner berühmten Vorbilder: Boethius, Prudentius und Claudianus in der Nachahmung zugleich erneuert und fortsetzt. Wie die Consolatio beginnt auch der Libro mit der quasi-autobiographischen Situation eines Dialogs mit Filoso/ia. Doch dieses Mal macht sich die zur cschönsten Frau. gewordene maestra delle Virtudi (cap. 111) in eigener Person auf, um den Zögling auf den crechten Weg. zu bringen,
I. 11
Ein besonders auffallender Zug dieses Textes ist darin zu sehen, daß hier die aus ihrem .Schloß. vertriebene und in das Gefängnis der höllisdten Mächte geratene Seele sich selbst befreien kann (d. vv. 196,207). Cf. PL, CLXXXIII 761 C: Inter Babylonem et /erusalem nulla pax est, sed guerra continua (erster Satz der Parabel I).
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C. Entstehung und StTukturwandel der allegorischen Dichtung
geleitet ihn zum Hof der Fede Cristiana (die bei der Begrüßungszene zuerst vor Filosofia kniet und ihr die Füße küssen will, eap. XV), betrachtet mit ihm von einem Hügel aus den Kampf zwischen Tugenden und Lastern und fühn ihn schließlich zu den vier Kardinaltugenden, die die Schlüssel zum Paradies bewahren und den Wanderer nach einer letzten Prüfung als ihren fedele annehmen, indem sie seinen Namen nella matricola loro schreiben. Bono Giamboni hat seinen erzählerischen Rahmen, der ihm erlaubte, die Tugendlehre auf die Stationen der Reise und die Kommentare der Filosofia wirkungsvoll aufzuteilen, eigens mit dem Weggleichnis der Bergpredigt (Matth. 7, 13-14) begründet: der Weg zu den Tugenden ist die stretta via des Evangeliums, er ist ein (Weg nach innen., weil die Tugenden im nobile castello de la mente wohnen, und setzt eine gran pugna voraus, weil nur die das Himmelreich erlangen, die für es kämpfen wollen. 11 Dieser eigenwillige Ansatz, die Allegorie des Weges mit der der Schlacht zu verknüpfen, bleibt im weiteren unerfüllt, weil Bono Giamboni der prudentianischen Psychomachia einen neuen Inhalt gibt, der ihre Beziehung zum Schicksal der Einzelseele vergessen läßt: das (Turnier der Religionen •. Die Schlacht wird von Fede Cristiana eröffnet, der nacheinander ihre historischen Gegner: die Idolatrie der Antike, die Religion der Juden, die sechs bekanntesten Häresien der jüngsten Zeit und schließlich der Islam entgegentreten. Das in mittelalterlicher Tradition schon ganz konventionell erstarrte Schema des Kampfes der Tugenden und Laster wird nur am Eingang, in der Beschreibung der aufziehenden Heere, und wieder am Ende sichtbar, wenn Superbia in der Grube der Fraus zu Fall kommt und nach einer Rede der Pazienzia verbrannt wird. In diesem Rahmen aber entfaltet Bono Giamboni in symbolischer Abbreviatur die Geschichte des christlichen Glaubens von den Zeiten der Märtyrer bis zu den Auseinandersetzungen des eigenen Jahrhunderts, setzt der Idee des friedlichen Verhältnisses zur Synagoge ein mahnendes Denkmal (eap. XLI) und'läßt den mit Hilfe claudianischer Mythologie dramatisch gestalteten Eintritt des Islam in die Weltgeschichte zur Peripetie seiner allegorischen Schlacht werden. Und wenn Filosofia am Ende ausspricht, der Kampf zwischen Christentum und Islam sei noch lange und schwierig, tritt auch in dieser Unabgeschlossenheit zutage, daß Bono Giamboni mit seiner zeitgemäßen Psychomachia den ersten Schritt aus der Jederzeitlichkeit der Allegorie in die Geschichte getan hat.
S. DIE MINNEALLEGORIE ALS ESOTERISCHE FORM EINER NEUEN ARS AMANDI
Eine Darstellung der romanischen Minneallegorie, die von Vorbildern und einem historischen Ausgangspunkt in lateinischer Tradition ausgehen und die Geschichte dieser während des XIII. Jhs in Frankreich reich aufblühenden und dann in Italien selbständig weitergeführten Gattung aufzeichnen soll, steht vor methodischen Schwierigkeiten. Wie die Lyrik der Trobadors, die weder Muster der römischen Liebesdich-
11
Bono Giamboni hat hier der Bibelstelle, die er selbst zitiert: regnum caelorum vim patitur, tt 'Diolenti rapiunt illud (Matth. 11, 12) eine eigenwillige Auslegung gegeben.
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5. Die Minneallegorie als esoterische Form einer neuen ars amandi
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tung nachahmt noch unmittelbar an literarische Beispiele der dilectio spiritualis, wie etwa die Liebesbriefgedichte Marbods, anknüpft, obschon sie die angevinische Tradition geistlicher Frauenverehrung vielleicht voraussetzt,l ist auch die zur Allegorie erhöhte Doktrin der /in' amor aus der Rezeption der antiken ars amatoria oder aus Formen der lateinischen Liebesdichtung des Mittelalters genetisch nicht ableitbar. Die modeme ars amatoria der höfischen Liebe steht nicht in der Nachfolge Ovids; wo sie ovidianische Inhalte aufnimmt, zeigen unübersehbare Umdeutungen und (Mißverständnisse., daß hier eine selbständig entstandene und begründete Liebesethik den Nimbus der femen Autorität vielmehr zu ihrer eigenen Legitimation benutzt.' Die spätantike Gattung, der die romanische Minneallegorie ihrer Form nach noch am nächsten kommt, ist das Epithalamium in der von Starius geschaffenen epischen Gestalt; doch wenn die gleiche allegorische Szenerie und der gleiche mythologische Apparat mit Amor und Venus am Ende des XII. Jhs in lateinischen und romanischen Texten wiederkehren, verbildlicht sich darin nunmehr eine anders geartete, Hymenaeus und die Ehe überhaupt ausschlieBende Herrschaft des Deus d'amor, die neben die christliche Liebesmystik gestellt wird und als deren Kontrafaktur ihre eigentümliche Bedeutung gewinnt.Andreas Capellanus, der die höfische Liebeslehre zum ersten Mal in ein geschlossenes System gebracht hat, gab seinen kodifizierten praecepta und regulae amoris auch schon den mythologischen Rahmen einer Einweihung des miles durch den ra amoris.· Diese Verbindung von Minnedoktrin und Mythologie ist für die ganze Geschichte der romanischen Minneallegorie konstitutiv: das Reich des Liebesgottes bildet von nun an den Mittelpunkt oder vorausgesetzten Hintergrund einer (anderen Welt., in die der Liebende auf seinem allegorischen Weg in den Dienst Amors gelangen kann. Dahinter steht mehr als nur eine poetische Einkleidung der Lehre in ein allegorisches Gewand. Die esoterische Doktrin der höfischen Liebe findet in der duplex sententia der Allegorik die esoterische Form einer Darstellung, diederbeanspruchten Dignität genügt und sie vor unberufener Kritik, der sie sich als Traumfiktion darbietet, zu schützen vermag Die Didaktik der /in' amOr wird damit selbst zur Dichtung; sie macht die innere Welt der Liebe, die in den personifizierten Leidenschaften und Normen der provenzalischen Dichter unanschaubar blieb, in neuer Weise: als allegorische Landschaft des vergier d'amor sichtbar. Das in der Trobadorlyrik des XII. Jhs verheißene Paradies des lai erscheint in der Minneallegorie des XIII. Jhs in anschaubarer Gestalt; mit dem Roman de la rose wird die allegorisierte Theorie selbst zur tragenden Form höfischer Liebesdichtung, und während in der Provence mit Guiraut Riquier die weltliche Trobadordichtung erlischt, entsteht in Italien aus derTheoZur Diskussion dieser Theorie cf. F. ScH1.össu, Andrea. CapellanUl. Seine Minnelehre und du chri.tliche Weltbild des 12. Jahrhundens, Donn, 1962,198-206; ferner W. BUl.ST, Uebesbriefgedichte Marbods, in: Uber Boridus. Mittellateinische Studien, Paul lehmann gewidmet, St. Ottilien, 1950, 287-301. I Cf. LEWI' 0696, 4 sqq. I Nach F. ScHlÖSSER, der du Verhiltni. von höfischer Uebesethik und chri.tlichem Weltbild Im ldanten dargelegt hat (op. cit., 31~327). • Ed. TaoJn, München, 11964, lib. I. ap. VI D (p. 1OSsq.) und lib. 11. ap. VIII (p. 295: 'IIUIS ipse rex amaris 0" propria dicitur protulilSe).
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C. Entst,hung und StruktunDand,l d,r all'gorischm Oichtung
rie, d. h. einer An von «Amor-Theologie», das Ritual eines neuen, in Dunkelheit und Reflexion aufs höchste gesteigerten Dichtens der Liebe - der Dolce stil nuo~o.1 In antiker Tradition geht den Anfängen der Liebesallegorie des Mittelalters ein Prozeß voraus, den C. s. lewis in seiner klassischen Darstellung auf die Formel gebracht hat: «the twilight of the gods is the mid-moming of the personmcations». I Während die antiken Götter zu Personifikationen herabsinken und dann im mythologischen Apparat ein schattenhaftes Dasein weiterführen, wie bei Statius und Claudianus sichtbar wird, gelangt andererseits in der frühchristlichen Literatur die Personifizierung der Leidenschaften, der helium intestinum der Tugenden und Laster zu neuer Geltung. 7 Die Gattung der Epithalamien, die nach dem von Statius gegebenen Muster auch von christlichen Dichtem wie Paulinus von Nola, Sidonius Apollinaris, Ennodius, Vcnantius Fortunatus gepflegt wurde,· hat nicht allein antike Götter wie Venus und Amor in das christliche Zeitalter hinübergerettet. Ihre mythologische Szenerie und ideale Landschaft hat auch der Vorstellung einer anderen, paradiesischen Welt der Imagination Eingang in die mittelalterliche Allegorie der Liebe verschafft.' Der ~ergiers d'amor, das Uebesparadies des Andreas Capellanus und Guillaume de Loms, baut in noch ungeklärter historischer Filiation auf Elementen auf, die in der Tradition der Epithalamien vorgegeben sind: der Erscheinung von Venus und Amor, die bei Statius sich mit dem Schwanenwagen von ihrem Göttersitz nach Rom begeben, um dem Dichter Stella die umworbene Violentilla zur Hochzeit zuzuführen;1O dem Palast und Garten der Venus, der bei Claudianus als ein auf einem Berg in Zypern gelegener, mit einer goldenen Hecke umfriedeter loClls amoenus beschrieben wird, in dem zwei Quellen, die eine süß, die andere bitter, fließen und wo sich lu~entus, die Senium ausgeschlossen hat, mit den Amores, Metus und Voluptas aufhält;" der Frühlingsschilderung, die bei Ennodius das ErscheinenderVenus umrahmt, die Verbindung zur Landschaft der Pastorale schlägt und später als topischer Eingang der Liebesdichtung unendlich variiert wird. II Der Neueinsatz der mittelalterlichen Minneallegorie wird am Ende des XII. Jhs in zwei lateinischen Werken sichtbar, von deren Wirkung auf die volkssprachliche Dichtung spätere Zitierungen, Entlehnungen und Bearbeitungen gewiß ein unvollständiges Bild geben: De amore von An d re a s Ca pell a n u s und die Altercatio Phillidis et Florae. 11 Sie bringen den antiken Mythus in einem neuen allegorischen • FIUEDRlCH 088, SO. I LEWIS 0696, 52.
0696, 63: con the one hand, the gods sink into personißcations; on the other, a widespread moral revolution forces men to personify their passions. » Cf. zuletzt Z. PAV1.0V5KI5, Statius and tbe l.tin epithalamia, in Classic"l Philology 60 (1965) 164-177 (mit Bibliographie). LEWIS 0696, 75 sq. Sil"a, I 2, v. 140 sqq. Epithal. d, nuptiis Honorii Augusti, v. 49 sqq.; in Oe amor, von Andreas Capellanus ist die Quelle an ihrem Ursprung rein und süB, im weiteren Verlauf aber - mit dem Eintritt in den Bereich der humidita. - eiskalt und verderblich (~d. TRoJn, p. 100 sq.). Cf. E. FAYE WnsoN, Pastoral and epithalamium in latin literature, S 23 (1947) 35-57. Die Kenntnis von 0, amore ist in Italien (1238 und 1245 bei Albertano da Brescia) früher als in Frankreich (Jacques d'Amiens ;1'3208) bezeugt; CONTOO (UST, 111, 120) vermutet, daß Piero della Vigne De amor, in einem lat. dthat benutzt hat (quaestio: d, nohi'ita',
7 LEWIS
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Gewand, das noch andere Traditionen, die Fonn des Streitgedients und Elemente der (Anderen Welt> des Artusromans voraussetzt. Mit der veränderten Topographie des neuen paradisus amoris erseneint auen die Rolle der Liebesgötter in einem anderen Lient. Nient mehr Venus, der seit Statius im Epithalamium der höenste Rang zugekommen war, sondern ihr Sohn Amor hat die hierarenische Spitze im Reien der Liebe inne; die Liebesgöttin tritt nur gelegentlien in Szene, mit dem allegorisenen Attribut der lodernden Fackel, das ihre intervenierende Rolle zumeist auf eine Phase des Gesenehens, das Entbrennen der Leidenschah, besenränkt. Vor allem aber ändert sien das episene Senema: statt der Reise, die Venus und Amor von Zypern aus unternahmen, um das Paar zu vereinigen und seine Hochzeit zu sanktionieren, begibt sien jetzt der Liebende selbst, der miles in De amore wie auen Plzillis und Flora, auf den Weg, um den Liebesgott in seinem Reien aufzusuenen, in seinen Dienst zu treten oder seinen Rat einzuholen. Das mittelalterliene Reich Amors ist nur - wie die (Andere Welt) der Artusromane - über eine Jenseitssenwelle zu erreienen, die durch traditionelle Motive wie: Verirren im Walde, seltsame Brücke, Pforte in einer Mauer, oft aber auen nur duren einen Traumübergang bezeiennet ist. 1II Das Innere des paradisus amoris entsprient in vielen Zügen dem antiken loeus amoenus der bukolischen Dientung oder der Schilderung der elysischen Gefilde,11 weist aber nient weniger deutlien auen auf enristliene Traditionen der Paradiesbesenreibung zurück.' 7 Genetisen ist der Anteil beider Traditionen kaum zu entwirren, zumal der Motivund Wortbestand des antiken Lustortes senon früh von enristlienen Dientern verwendet wurde, um das biblisene Paradies als Senauplatz für das eonubium des ersten Mensenenpaares auszuschmücken. IB Doch zeigt die Geschichte der Minneallegorie von Andreas Capellanus bis Jean de Meun, wie das Paradies der höfischen Liebe in Anlehnung an enristliche Vorstellungen der te"a beata gebildet und mehr und mehr zu ihrer Kontrafaktur ausgebaut wurde. Der paradisus voluptatis der Genesis (2,8-17) hat im hönsenen paradisus amoris sein genaues Seitenstück: es ist ein umgrenzter Garten 18 oder Hain mit blühenden und Früchte tragenden Bäumen, hier wie dort mit
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generis et animi pildidtate). Die französismen Bearbeitungen von Drouan la Vame 1'3184 und Enanmet 1'2680 stammen vom Ende des XIII. Jhs, zwei ital. aus dem XIV. Jh.,
d. TRoJn, ed., pp. xiü-xx. Zum Streit zwismen miles und c1ericus cf. W. T. H. JACKSON, ZDA 85 (1955) 293-303; zu den romanismen Versionen der Altercatio Phillidis et florae cf. FAUL °76, 191-303, ferner vid. B 3 . •• Bei Catull, Cann. 61, blieb Venus noch dem Hymenaeus untergeordnet. I1 Cf. De amore, ed. eit., 92, 298, und Roman de la rose .1'4664, vv. 497-630; in der Altercatio ist die Jenseitssmwelle vielleimt durm die wunderbaren Reittiere (str. 44-57) bedeutet. II 17
I1 lt
Curtills, cap. 10: Die Ideallandsmaft. J. DAHItlOU, Tene et paradis mez les ~res de l'eglise, E.ranos-]ahrbum 22 (1953) 433 bis 472. So bei Avitus, De spiritllalis historiae gentis, cf. R. GRUENTER, Der paradisus der Wiener Genesis, E.uphorion 49 (1955) 119-144, bes. p. 129. Der hortlls conc1usus, mit dem in Cant. 4. 12 die Sponsa vom Sponsus verglimen wird, ist g1eidtfalls ein Ausgangspunkt für die Tradition des allegorischen Gartens im Mittelalter. Cf. W. STAMMl.ER, Der allegorische Garten, in: (id.) Won und Bild, BerUn, 1962, 107, und D. W. ROBERTSON, The doctrine of Charity in mediaeval Iiterary gardens, 5 26 (1951) 24-49.
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Entstehung und Struktunoandel der allegorischen Dichtung
einer Quelle, H die der aqua refectionis des 22. Psalmes, eschatologisch der fons "itae des neuen Jerusalem (Apoc. 21, 6; 22, 1) entspricht, und mit einem Baum inder Mitte, der als lignum "itae, aber auch als lignum scientiae bon i et mali zu deuten ist.11 Bei Andreas Capellanus hat das Reich Amors den Charakter eines vollständigen Weltmodells: der Palast des Liebesgottes mit seinen vier Pforten, Allegorie der verschiedenen Einstellung zur Liebe, befindet sich in medio mundi (p. 89), sein Thron neben Quelle und Baum im Innersten von drei konzentrischen Kreisen: amoenitas, humiditas und siccitas, die als Totenreich in vollendeter Kontrafaktur zu den drei christlichen Jenseitsbereichen das Endschicksal der
63~38) 11
ja der jardin de Deduit will dem Amant sogar noch schöner vorkommen (vv. 640bis 642, 1299 sq.). Der Traumcharakter, der Guillaume de Lorris das Aussprechen der Analogie erlaubt, wird vierzig Jahre später von Jean de Meun indes so ge faßt werden, daß der Garten der höfischen Liebe nur Schein, nur das mangelhafte Abbild des wahren, himmlischen und ewigen Paradieses sei (vv. 17989-17999) - eine Kritik, die der Palinodie· des IU. Buches von De amore gleichkommt, indem sie die Unvereinbarkeit von weldicher und christlicher Liebe aufzeigt, deren Nebeneinander durch eine beziehungsuchende Allegorie zu vermitteln der verschwiegene Anreiz vieler Dichter der Minne geblieben ist. Aus dem Zei traum zwischen Andreas Capellanus und G u i 11 a urne d e L 0 rr i 5 "'4664 sind kaum Werke bekannt, die dazu berechtigen, von der Entwicklung einer Gattung <Minneallegorie. zu sprechen, die das Erscheinen des Roman de la rose genetisch erklären könnte. Zwischen dem Ursprung dieses Werkes, das den allegorischen Stil einer neuen Epoche geprägt hat, und der von Langlois aufgestellten Liste seiner möglichen
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Nach Gen. 2,10 Ursprung der vier Paradiesflüsse; cf. De amore, ~. cit., 100: Ions quidam mirabilis mundissimam habens aqutlm. Cf. RUEGG 0736, I 207-210, 11 156 sqq. In Gen. 2, 9 handelt es sich um zwei Bäume, denen in höfischer Tradition der eine arbre d'amors entspricht, cf. E. KÖHLU 0684, 93 sqq., der am jardin de Dtduit auch Züge des .Goldenen Zeitalters. aufzeigt. Cf. pp. 91-108; die konzentrische Verenguns zu einem innersten Kreis steht im Gegensatz zum christlich-ptolemäischen Weltmodell, in dem das himmlische Paradies in der äu8ersten, alles umfassenden Sphäre liegt. Die Analogie wird verschiedentlich auch durch Bilder engelhalter Erscheinung hervorgehoben (vv. 663, 725, 902).
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gleich der Geliebten mit der Rose bereits konventionell U und auch schon im höfischen wie im geistlichen Sinne allegorisch ausgeführt worden: so beschreibt um 1200 etwa Petrus Riga in De ornatu mundi einen idealen Garten als (Rose der Weltl, von der sich der Mensch, da sie vergänglich ist, abkehren und besser der himmlischen Rose zuwenden sol1. 25 Gewiß findet sich in Pamphilus de amore und anderen lateinischen Komödien, die ovidianische Lehren (dramatisch) umsetzen, ein Repertoire fester Figuren und Begriffe, an die Ami, La Vielle, Male-Bouche, Danger, Honte und Peor von fern erinnern. te Doch weist aie allegorische Dichtung der geistlichen Tradition, wie an den Werken des Reclus de Molliens und seiner Vorgänger gezeigt wurde,17 demgegenüber die für den Roman de la rose charakteristischen Figuren, die Bestandteile seiner allegorischen Szenerie und vor allem auch die Formen seiner allegorischen Darstellung ungleich vollständiger auf, so daß man heute, nachdem das sogenannte Fablel du dieu d' amour'" 4656 infolge späterer Datierung aus Langlois' Vorgeschichte herausfällt, den Ursprung der von Guillaume de Lorris geschaffenen romanhahen Minneallegorie vielmehr im Blick auf die vorangegangene und konkurrierende geistliche Allegorie sehen muß. Das schließt durchaus ein, daß Guillaume auch andere Traditionslinien in seine Summa der höfischen Liebe aufgenommen hat. Der Leser höfischer Romane konnte, wie Muscatine nachwies," die aus dem Konfliktsmonolog der höfischen Romane einzeln vertrauten Personifikationen allesamt in der neuen Konstellation des Roman de la rose wiederfinden. Aber die hier erscheinenden Figuren sind zumeist auch schon in den Personifikationen der Trobadorlyrik vorgegeben, darunter Bel Acueil, für den es nur ein Pendant in provenzalischer Tradition gibt. 2I Doch ist auch die Frage, ob es einen festen literarischen Zusammenhang zwischen der allegorischen Dichtung der Trobadors und der Minneallegorie des Guillaume de Lorris gab, noch nicht sicher zu beantworten. ao Zwar gehörte es nach dem Zeugnis von Guiraut de Calanson "'2756 kurz vor 1200 zum Repertoire eines jogiar, von Amor, seinen Eigenschaften und seinen Pfeilen zu wissen und neue Lehrsätze der Minne (comandamens nous) vorzutragen. 11 Daß Guiraut dabei noch mehr im Auge hatte als die Form der allegorischen Canzone, für die er kurz danach selbst ein berühmtes Beispiel gab, geht aus diesen Versen nicht hervor. Ob der vv. 226-228 angeführte, ein Rätsel (devin)lalh) aufgebende Phönix schon eine provenzalische Minneallegorie in der Art von Du dieu d' amour "'4656 voraussetzt, nur weil dort der Phönix als Hüter des Liebespalastes vorkommt, bleibt 14
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lAHGLOIS, Origines et sources du Roman de la lOSe, Paris, 1890, 37 sqq. (Carmen de rosa, ete.); nicht in die Vorgeschichte des Roman de la rose gehört der Ditie de la rose (vid. 11), ein salut d'amour aus der zweiten Hälfte des XIII. Jhs, der den Vergleich von Rose und Dame, Domenhag und mesdisanz ausführt. PL, ClXXI 1235 sqq.; cf. STAMMl..EJt, op. cit., 110. Cf. lAHGLOIS, op. cit., 27-31; FaImMAN, MPh 57 (1959/1960) 15.
Cf.
Vid. supra cap. 1; cf. lANGLOIS, op. cit., 53 sq . 0712, Liste der Personifikationen p. 1178. • lnvJs 0696, 122; eine historische Untersuchung der Personifikationen in provo Tradition steht noch aus. M Cf. zuletzt H. Kou, lo vergiers d' Amor, GRM 43 (1962) 365. 11 Bei den comandamens (v. 214) ist an Gebote, die Amor den liebenden vorsdtreibt (wie in Andreas CapeUanus, De amore, ed. cit., p. J05 sq.) zu denken. t1
.. MUSCATDfE
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fraglich. Die überliefenen provenzalischen Minneallegorien dieser novellesken An stammen gleichfalls aus späterer Zeit und weisen im allegorischen Sdtema so heterogene Ansätze auf, daß schwerlich an eine Traditionslinie gedacht werden kann. Noch vor Guiraut de Calanson hat G u i II em d e Sa i n t- 0 id i er ein allegorisches Minnegedicht, die Tenzone En Guillem de Saint Deslier, t10stra semblanza verfaßt. S2 Thema und Szenerie der Traumerzählung, die Guillem strophenweise allegorisch erklärt, ist der t1ergiers d' Amor (v. 11 sq.): ausgelegt wird erst eine allgemeine Minnelehre in einer doppelten Stufenfolge (Blüten am seltsamen Baum, dort nistende Vögel, die ersteren das verschiedene Verhalten der Damen, die letzteren das der liebenden bedeutend), dann das persönliche Schicksal des Träumenden (seine Dame als alles überstrahende weiße Blüte, von der ihn ein löwe als gelos bruianz und hündische lauztngier abhalten). Guiraut de Calanson andererseits entwikkel t in seiner zwischen 1196 und 1202 verfaßten allegorischen Canzone Celeis cui am de corede saber (vid.1I B, 3 243) ganz verschiedene Ansätze. Amors, bei Guillem noch. nicht personifiziert, erscheint hier als Göttin mit gestalthaften Attributen, die in der Tradition der /in' amor befremden. Sie tritt in einem allegorischen Palast auf, der sich in späteren Minneallegorien mit reicherer Ausstattung wiederfindet. 1S In Guirauts Beschreibung von Amors, die er in antikischer Nacktheit einherschreiten (v. 46) und dreierlei PEeile (nacheinander einen aus Stahl, mehrere aus Gold und einen aus Blei, str. 2) verschießen läßt, findet sich der Zug, daß liebe nichts sieht und doch ihr Ziel niemals verfehlt (v. 18 sq.). Das antike Motiv des .blinden AmOf'>, das in mittelalterlicher Tradition hödtst selten ist und später von Brunetto Latini kritisch gegen die höfische Liebe geridltet wird,3. findet sich hier zum ersten Mal in provenzalischer Dichtung! Für eine Entlehnung aus antiker Tradition spricht auch, daß Guiraut - im Widerspruch zur provo Minnedoktrin - Amors mit Zügen der Fortuna ausstattete: an ihrem Hof herrscht nicht Recht, sondern plana voluntat (v. 7), vor ihrem Palast befindet sich ein für alle erdenklichen Spiele eingerichteter Tisch (str. 5), und in den Erweisen ihrer Gunst ist sie launisch (str. 6). Guirauts Allegorie erstreckt sich nur auf menor tertz d'amor (v. 4), d. h. auf die sinnliche Liebe, von der wir nicht wissen, wie sie auf das .zweite> und auf das .hödtste Drittel> zugeordnet war." Der Kommentar von G u ir au tRi q u i e r (vid. 11 B 248, 46) bringt in seiner antihöfischen Tendenz (descortes, aber 'Der, v. 254 sqq.) den allegorischen Sinn in einem Zempiegel: die moralisierende Deutung benutzt wohl immer wieder einen ursprünglichen Schlüssel (z. B. für die drei Metalle, v. 297 sqq.), bereitet dabei aber schon die abschließende
'0
11 U
Vid. IJ B, h 234; cf. H. KOLB, op. eit., 360 sqq. Oie Allegorie der eine portals (v. 26) meint wohl die Eünl Sinne, die der quatre gral entspricht einer allgemein verbreiteten Auffassung von den Stufen des Uebesdienstes, cf. DAWMANH, 73-76; am weitesten ausgeführt ist die Allegorie des Palastes im ClIStel d'amor
1'4628. U
11
Die Geschichte des amor eaecus in antiker Tradition hat V. BUClUlIIT, Classica tt Medievalia 2S (1964) 129-137, geklärt und den Zusammenhang mit dem fortuna-BUd aufgewiesen. Guiraut de Calanson bringt das Motiv auch schon in Fadet joglar 1'2756 (vv. 205-207: e no ve re, I mllS /er t,op be I ab sos dartz). Zu BruneHo Latini cf. JAUSS 0668, 78. Hier ist vor allem an die Weise zu erinnern, wie in Andreu Capellanus, De amore (p. 207 sqq.) du Verhiltnäs von pars inferior und superior bei den solatia amoris erörtert wird.
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5. Die Minneallegorie als esoterische Form einer neuen ars amandi
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Verwerfung des amors camals vor, der vor amors naturals (Verwandtenliebe) und amor celestials, den
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C. E.ntstehung und Strukturwandel der allegorismm Dimtung
Nidtt an die provo oder franz. Tradition der Minneallegorie, sondern an die lat Vagantendidttung knüpft die in der ersten Hälfte des XIII. Ihs entstandene kast Raz6n de amor "'4696 an. Der Autor, ein escolar, der audt juglareske Töne anzu· sdtlagen weiB, hat eine Begegnung im liebesgarten (amorosa visione) und einer DialogllS inter tlinllm et aqllam kunstvoll miteinander verknüpft: dem Scholarer kommt während der Stunde der Siesta unter dem Olbaum an der Quelle eine doncellc entgegen, die ihn schon aus der Feme liebte;'7 zuvor gewahrt er in den Zweiger des Olbaums zwei Gefäße mit Wasser und Wein, die sodann auf übernatürlidte WeiS4 über der ganzen liebesszene sdtweben bleiben und ihm hernadt, nadtdem eineTaub. beim Trunk aus dem Wasser dieses mit Wein vermisdtt und den Streit der beider Wesenheiten ausgelöst hat, den höheren Sinn der liebesbegegnung enthüllen sol· len. Die Frage, ob der Text eine mehr oder weniger gesdtickte Kompilation zweiel unabhängig voneinander entstandener Didttungen versdtiedener Gattung oder cU! tout artistique compler» sei, ist kontrovers geblieben. Gegen l. Spitzer, der die Ein· heit der Komposition an einer verborgenen, Schritt für Schritt von der amoros, tlisione zum debat führenden symbolisdten Motivation zu erweisen sudtte, - ha M. di Pinto geltend gemadtt, daß Spitzers Deutung zwar den verborgenen Sinn deI ersten Teils aufdecke, den Widersprudt zur niederen Stillage und zum Ausgang de debat aber nidtt auflösen könne. Der debat empfehle keineswegs die Misdtung vor Wein und Wasser, SinnengenuB und Keusdtheit, sondern bleibe bei der Moral del lat. Vorlage: non sociari debent, im mo separari, qllae sllnt adversaria; er stehe zu del amorosa visione nur formal im Verhältnis einer Glosse, bringe inhaltlidt aber ein4 inkongruente lösung.·t Wenn sidt amorosa tlisione und dlbat indes wie Text une Glosse verhalten, ist die letztere keineswegs an den Iiteralen Sinn des ersteren ge. bunden. Der iro~isdte Didtter, darin ein edtter Nachfahre der familia Goliae, hat fW die Deutung der im feinsten höfisdten Stil erzählten amorosa visione eine Gloss4 gewählt, die den derbsten Ton einer cbufoneria callejera» ansdUägt. Der erwartet4 höhere Sinn der Minneallegorie wird somit gerade im unangemessenen Gewand eine niederen und burlesken Stils ausgesprodten: während auf der natürlidten Ebene del amorosa visione die liebesbegegnung von Scholar und doncella den Gegensatz de: beiden Prinzipien praktisdt aufhebt, stellt der nicht zum Ende gelangende dlbllt di4 beiderseitige Autonomie von ,Wein. und ,Wasser. gegen ihre Misdtung und dami gegen die einfadte lösung der liebenden wieder her. So bringt die Glosse eine iro nisdte Korrektur des Textes, bzw. seines literalsinns, die der Didtter zu guter letz' mit dem persönlichen Geständnis wieder aufhebt, daß er für seine Person indes Weir dem Wasser vorziehe. Der Roman de la rose 1'4664, auf den die Gesdudtte der bisher betrachteter Gattungen und Formen der Allegorie immer wieder hinführte, erfüllt den Ansprua seines Verfassers: La matire en est bone e nlleve (v. 39) vollauf. Hier ist aus dei Versdtmelzung verschiedener Traditionen: der höfisdten liebesdoktrin (Oll I' Ar d' Amors est tOllte enelose, v. 38), der biographisdten Form der Vision (Or vIleil ce Du Motiv der ,Uebe aus der Feme> (vv. 109-133) weist, da es in der Vagantendidttun, nicht vorgegeben ist, wahrscheinlich auf die provo Tradition UauEre Rudel, vid. 11 B) zurück .. Spitzer, 664-682 . .. M. DI PJNTo (1959), 74. Zum weiteren d. JAUSS °672. 17
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5. Die Minne411egorie
4" esoterische
form einer neum aft amandi
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songe rimeier, v. 31) und des personifizierenden Verfahrens der Psychomachia ein Werk hohen Ranges geschaffen worden, das als Anfang und nicht wieder erreichter Gipfel der Minneallegorie des Mittelalters vor den Augen der Nachwelt steht. Der Roman de la rose ist zunächst eine vollständige und abschließende Summa aller Konventionen der höfischen Liebe und darin Oe amore zu vergleichen. Aber an einen Traktat erinnern hier nur noch die 300 Verse der comandemenz Amor (vv. 2268 bis 2576). Guillaume de Lorris hat das Verhältnis von lehrhafter und poetischer Form umgekehrt. Während Andreas C~pellanus seinen Traktat an zwei Stellen durmbram, um den praecepta und regulae Amoris durch den allegorischen Doppelsinn der mythologischen Erzählung eine besondere Dignität zu geben, ist hier der Art d'Amors fast vollständig in allegorische Handlung umgesetzt; direkte Lehre findet sich nur noch einmal in dem der Konvention entsprechenden Monolog des Liebesgottes. Der Roman de la rose ist als allegorische Dichtung durchgängig auf Entschlüsselung angelegt und darin eine Kontrafaktur der geistlichen Allegorie und 5chriftexegese: der leser muß den sensus litteralis der Handlung ständig auf den verborgenen sensus allegoricus beziehen, die Fabel des Traumgeschehens im Blick auf die verite, qui est coverte (v. 2073) auslegen. Insofern dieser allegorischen Fabel aber eigentümlich ist, daß hier - wie zuerst G. Paris sah - die personifizierten Wesenheiten nicht mehr nur «symbole de leurs rapports constants. sind, sondern als «manieres d'etre passageres. und caspect de la personnalitelt erscheinen, ist der Roman de La rose schließlich auch die am weitesten geführte Umbildung des christlichen helium intestinum in prudentianischer Tradition... Guillaume de Lorris hat seine höfische Psychomachie völlig von dem heilsgeschichtlimen oder mythologischen Grund abgelöst, in dem sie bei seinen Vorgängern noch wurzelte. Hinter seinen Personifikationen stehen keine Beispielfiguren mehr, die den Kampf ~er Tugenden und laster bei Alanus und noch bei Huon de Mery vor einen weltgeschichtlichen Hintergrund rücken ließen. Guillaumes allegorische Welt gibt sim zum ersten Mal als eine reine Fiktion, die für sich selbst bestehen kann, unberuhn davon, daß die höfische Dichtung für seine Zeitgenossen - wie Huon de Mery bezeugt - schon die Vorstellung vergangener Größe erweckt hat. An die Stelle des Schlachtfelds und der epischen Handlung der Psychomachia ist hier der imaginäre Ganen Amors, an die Stelle der äußeren Aventüre der höfischen Romane ein traumhaftes Geschehen getreten, das mit den Figurationen der Rosenallegorie allein noch die innere Geschichte von amant und dame: die Entfaltung ihrer liebe verbildlicht. In der vielfach variierten Darstellung seiner Figurationen hat Guillaume die klassische Form der prudentianischen Allegorie kunstvoll überboten. Im Roman de La rose ergibt sich die allegorische Fabel nicht mehr aus einer übergeordneten Reihenfolge gegensätzlicher Paare von Wesenheiten. Hier ist die Abfolge der in vier Zehnergruppen erscheinenden Personifikationen 4. vielmehr der besonderen Aventüre untergeordnet, die dem Dichter in seinem Traum von der Rose widerfähn. Die Beziehung zwischen den höfischen Tugenden und lastern wird nicht mehr durch polare Zuordnung vorgegeben, sondern durch den Weg des träumenden Ichs selbst hergestellt . .. G. PARIS, La Iitterature Er. au m. I., Paris, 11890, § 111. 4. Zur Zahlmsymmetrie und Funktion der Personifikation cf. IAuss °664, 202-205.
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C. Entstehung und Struktunoandel der allegoriscnen Dimtung
Der amant geht an der Mauer mit den zehn Porträts von Lastern, die von der Aufnahme in den Solidaritätskreis der höfischen Gesellschaft ausschließen, vorüber. Nachdem ihm Diseuse, die Personifikation der höfischen vita contemplativa, die Pforte aufgetan und den Paradiesgarten erklärt hat,41 wird er von Cortoisie zur Teilnahme an der carole der höfischen Tugenden eingeladen. Nach dem Tanz, allegorice: der erlangten übung in den allgemeinen Normen der höfischen Bildung, beginnt der besondere Weg des amant und tritt auch Amor aus dem Kreis gleichberechtigter Figuren heraus (v. 1304 sqq.). Das nun folgende singulare Geschehen der erwachenden Liebe und Erwählung der Rose bildet sich beim Blide des amant in die Fontaine d' Amors schon vorweg in seiner idealen Bedeutung ab. Die deus pierres de cristal auf ihrem Grund spiegeln alle Dinge senz cotlverture (v. 1557): erst den gesamten vergier de Deduit, als Abbreviatur der Welt (speculum mundi), dann den Rosenhag, der das Verlangen wedet, eine Knospe zu erwählen. In dieser Abstufung geht die Idee der Liebe ihrer Erfahrung voraus. 43 Das mistere der Quelle, das Guillaume erst am Ende auflösen will (v. 1600sqq.), dürfte darin liegen, daß die bei den Kristalle auch die Augen der Dame bedeuten. Diese Lösung setzt voraus, daß - wie E. Köhler zeigte-Guillaume de lorri~ den antiken Mythus von Narziß gerade in den gegensätzlichen Sinn umgekehrt hat: die fons mortis wird nun zur fons vitae, der amant findet in der Narzißquelle nicht mehr sein eigenes, ihm den Tod bringendes Bild, sondern die Augen als Spiegel der Seele seiner Geliebten und als Ursprung seiner Liebe. 44 Die Dame, die zunächst nur in normativen, durch die Pfeile Amors verbildlichten Eigenschaften bezeichnet ist, wird auf dem Höhepunkt der Handlung in personhaften Zügen sichtbar. Ihr Verhalten spiegelt sich wiederum in einer Konstellation von zehn Personifikationen (vv. 2823 sqq.). Doch nun wird das Wann, Wo und Wie ihres Erscheinens und Wiederverschwindens für das figurierte, nur erratbare Verhalten der Dame gleichermaßen bedeutsam wie das zeitlose Wesen, das Bel acueil und Dangier, Male Bouche, Honte und Peor als Träger ihrer Namen verbildlichen. 45 Guillaumes Allegorie von der Rose erreicht dabei eine Spiegelung des Singularen, die über die allegorische Konvention des Mittelalters hinausweist: da die widerstreitenden Neigungen der Dame nicht mehr objektiv in Gegensatzpaaren, sondern subjektiv als wechselnde Aspekte aus der Sicht des amant erscheinen, bleibt die innere Geschichte der Dame unvorhersehbar, ihr Wesen in seiner substantiellen Ganzheit bis zum Ende verborgen - als ein Geheimnis, das auch der für das Ende versprochene Schlüssel der Allegorie nicht ganz hätte enthüllen können. In die Jahrzehnte zwischen Guillaume de lorris und JeandeMeun (ca. 1237/1277) fallen vermutlich drei erzählende Minneallegorien kürzeren Umfangs, die formal das •• In ähnlicher Gestalt (Attribut des Spiegels) und verwandter Funktion (Zugang zumparevis teTTestre) wie Diseuse erscheinen Lea und Matelda in Dantes Divina commedia, Purg. XXVII bis XXXI, d. E. KÖHlER, ZRPh 78 (1962) 464-469 und H. KOLB, GRM 46 (1965) 139-149. .. Nach FRAPPIER °636, 1St. •• KÖHLER °684, 95 sqq. ta Zum Verhähnis von Bel Acueil und Dangier als Aspekten personenhaften Verhaltens cf. JAUSS ° 664, 204.
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5. Dit Minntalltgorit als tsottrismt Form tintT ntum ars amandi
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mythologische Schema von De amOTe und Phillis et Flora: den Weg zum Hof des Liebesgotts, an dem über den Fall der Liebenden befunden wird, fortsetzen. Zwei strophische Stücke pikardischer Herkunft, (Fablei) Du die ud'am 0 ur ;t 4656 und dessen Nachahmung De V mus la deesse d' amour ;t 4712 zeigen, wie populär die Gattung inzwischen geworden sein muß. Denn die Verfasser haben aus offenbar beliebten Episoden wie der Szenerie der Paradieslandschaft, des Vogelstreits über Kleriker oder Ritter als Liebhaber,·' der Erscheinung Amors und seines Palastes einfach eine neue Allegorie zusammengesetzt und sie im Jongleurton vorgetragen, ohne sich viel um allegorische Deutung zu kümmern. Interessant sind die z. T. unverstandenen Mythologeme: im ersten Text bekommt der Phönix die Sphinxen rolle eines Türwächters (str. 74 sqq.), und Amor muß die entfühne Dame einem Drachen abjagen; im zweiten erscheint Venus mit einem (antiken) Gefolge von Vögeln, unter denen der Namtigall die Rolle des Sekretärs und Liebeshelfers zufällt, und wird vom Autor offenbar für die Gemahlin Amors gehalten (str. 236 sqq.). Die Verschmelzung heidnischer und christlicher Elemente erreicht hier überdies einen Gipfel an Naivität: die widerspenstige Dame wird im Brief der Nachtigall unter Berufung auf Li deu d'amor e lhesu Crist mit Höllenstrafen bedroht, wenn sie dem Amant weiterhin ihre Gunst verweigert. U - Von höherem Niveau, obschon im selben Genre ver faßt, ist eine allegorische Co m pI ai n ted' a m 0 u r ;t 4644. Der Autor benutzt die Quellenepisode aus Chretiens Yvain, um den übergang in das Jenseitsreich Amors zu motivieren; der Weg zu dessen Palast erinnert in seinen Stationen (Bestrafung der mesdisanz und f~ux amanz an öden Orten, überquerung einer gefährlichen Brücke, Paradies der Liebenden, auch der paarweise vereinten Fische und Vögel) an De amore; am Ende gibt Amor selbst eine vollständige Auflösung der Allegorien (mes secrez, v. 1260) des Weges, auf den er den amant zu seinem Heil gebracht hatte. Auf das neue Muster des ersten Rosenromans weist zuerst der Roman de Ia poire eines unbekannten, literarisch sehr gebildeten und Paris verbundenen" Messire T h i bau t ;t 4708 zurück. Doch geht das geistvolle Werk in der Komposition wie in der Auffassung der Liebe durchaus eigene Wege. Den Anlaß zur estoire, in die nur einmal eine kurze Traumvision (Erscheinung Amors mit der Dame) eingeschaltet ist, gibt eine quasi-biographische, auf die Verführung Adams anspielende Situation: eines Tages reicht die unter einem Birnbaum sitzende Dame dem Dichter heimlich eine Frucht, von der sie selbst erst einen Bissen nahm. Die allegorische Handlung schildert - zum Teil in einem fingierten Dialog mit dem Leser - die Annäherung des schüchternen amant, der sich seines Romans als eines salut d' amour (vv. 293 und 2220 sqq.) und am Ende der Nachtigall als Liebesbotin bedient, die den eifersüchtigen Ehemann täuschen soll. Die Entlehnungen aus dem Roman de la rose erscheinen allesamt unter veränderten Vorzeichen: nicht Bel Acueil, sondern der amant selbst wird hier von Amor in einem Turm belagert, der ihm sein Herz abfordert und dann selbst .. Im Vogelsfreit wird nun auch die These vertreten, daS jeder darm wahre Liebe corloi5 werden kann (.tt. 31-34) . • 7 Amor und Venus arbeiten auch SODlt mit ChristDI und Maria Hand in Hand, cf. str. 159, 277,315 . •, Cf. vv. 1324-1385 Thibaut. originelle Huldigung an Paris, die Stadt, in der Amorgeboren wurde, die Menschen heiterer und die Damen schöner .ind als anderswo.
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C. Entstehung und Struktunoandel der allegorismen Dimtung
für ihn die Geliebte wählt; Raison spielt eine helfende, nic:ht mehr von der liebe abratende Rolle; die Dame, nicht der amant, wird hier von einem Pfeil getroffen und muß in einen Tausch der Herzen einwilligen, mit denen die liebenden dann Zwiesprache halten. Besonders originell und reizvoll ist der Einfall, der Minneallegorie eine Reihe von Porträts berühmter liebespaare: Cliges und Fenice, Tristan und Isolde, Piramus und Tisbe, Paris und Helena voranzustellen und diese Reihe, die Amor und Fortuna einleiten. mit der Huldigung an die eigene Dame zu besc:hlieBen. Die Frage, welcher Platz Jean de Meun "'4672 in einer Geschichte der Minneallegorie zukommt, war für die ältere Forschung rasch beantwortet. Dem Fortsetzer Guillaumes, der den Faden des Roman de la rose mit der eomplainte des abgewiesenen liebhabers wieder aufnahm (v. 4059 sqq.) und mit dem Erringen der Rose zu Ende führte, wurde vorgeworfen, daß er kein Allegoriker sei, daß er die Grenze zwischen Didaktik und Dichtung aufgehoben, die allegorische Fiktion durch endlose Abschweifungen durchlöchert und als «Aufklärer» oder libertin das höfisc:he Ethos parodistisch in sein Gegenteil verkehrt habe. Der zweite Roman de la rose wurde als cAnti-Guillaume» verstanden und bezeichnete in der Geschichte der höfischen liebe den Punkt des Umschlags vom Idealismus zum Zynismus.·' Gegen diese Deutung spricht sowohl das Weiterblühen der Gattung als auch die große historische Wirkung des Werks von Jean de Meun. In dem Maße, wie seit C. S. lewis die Vorurteile eines klassizistischen Gesc:hmacks abgebaut und die falsche Perspektive einer Aufklärung avant la lettre durch eine genauere Kenntnis des Averroismus ersetzt wurden, trat auch die literarische leistung Jeans mehr ins licht. Der Mangel an poetischer Einheit, das Mißverhältnis der wuchernden Digressionen und die VeräuBerlichung der allegorischen Fabel erwies sich mehr und mehr als die bloße Kehrseite eines Werkes, das den überkommenen Mirouer aus Amoureus (v. 10651) kritisch in dtön gröBeren Rahmen einer laienenzyklopädie stellte und die Summe antiken Wissens auf eine bisher nie versuchte Weise der aktuellen Erfahrung zu vermitteln wußte. An dieser Absicht gemessen erscheint Jean de Meun als ein Genie enzyklopädischer Darstellung, dem die verschiedensten Gattungen und Tonalitäten zu Gebote standen: der philosophische Traktat, das Gewand der Satire und Travestie, das lehrgedicht im Stil der Schule von Chartres, ja sogar der Ernst mystischer Betrachtung." Formal betrachtet hat Jean de Meun die allegorisc:he Fabel seines Vorgängers mit vier wiederaufgenommenen Szenen (Dialog des amant mit Raison, mit Amis, mit Amours; Eingreifen der Venus), einer freien Nac:hahmung des Planetus Naturae (Szenen mit Nature und Gmius) und einem erwartbaren Schluß, der Einnahme des Schlosses der JalousieJfortgesetzt. Diese Kompositionsform, die ihm in der thematisch erweiterten Reprise die Korrektur Guillaumes ermöglic:hte, ist so wenig als bloßer Mangel an «Erfindung» abzutun, wie auch die Veräu.Berlic:hung der allegorischen Darstellung Jean nicht einfach als eine persönliche Schwäche zur last zu legen ist. GewiB ersc:heint die Fortsetzung an der vollendeten Kunst des Allegorikers Guillaume .. Cf. GaöIU, GG. 111, 737Iqq., und noch Curtius. ap. 6, § 3; zum cAnti-Guillaume. cf. FAUL °76 und PAd °176, 3201q . .. LEWlS °696. 142-156.
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gemessen wie ein bloßes, auf lange Strecken überhaupt aufgegebenes callegorisches Schattenspiel» : 111 an die Stelle der beziehungsvoll nebeneinander geführten Fäden der allegorismen Fabel ist häufig eine einsinnige, romanhafte Intrige getreten, die Personifikationen entspremen in ihren Reden oft nimt mehr der Bedeutung ihres Namens oder werden zu auswechselbaren Schemen,5I der amant fällt zu Beginn des tournoiement wieder in die Rolle des bloßen Zusmauers zurück (v. 15111) und Bel Acueil, bei Guillaume nur einer unter anderen Aspekten der vielfältig figurierten Dame, verkörpen bei Jean nUnmehr allein das Wesen der Geliebten - eine (ironisme?) Verkürzung, der am Schluß aum die direkte Auflösung der Allegorie vom .Pflücken der Rose. entsprimt. Dom wäre hier aum zu beamten, daß Guillaume in der Kunst, einen seelismen Vorgang vollkommen figurativ darzustellen, von kaum einem seiner Namahmer erreimt wurde, daß zur Zeit, als Jean sdtrieb, die klassische Fonn allegorismer Dimtung schon in abstraktere Spielformen übergegangen war und daß die neue Tendenz seines Werkes ein ~mbrechen der von Guillaume geschaffenen, in sim selbst besdtlossenen Konvention der Minneallegorie erforderte. Gerade die Reprisen aus dem ersten Teil lassen die kri tisme Tendenz Jeans erkennen. Wenn er Raison wieder die Warnung vor fole amour vorbringen läßt, folgt nun eine Ermahnung, daß es aum nom andere natures d' amours wie Freundschaft, Nämstenliebe, Mutterliebe und Liebe zur Weisheit gebe, die der amant bisher verkannt habe (v. 4663 sqq.). Dem folgt eine erschöpfende Erläuterung der Kunst der Verführung und der käuflimen Liebe, erst in ovidianismer Manier aus dem Munde des Amis, sodann das Gegenstück aus der Simt der ihr Leben erzählenden Vi elle, beide Male also in komödienhaften Rollen, die man übersehen hat, als man den dort am schärfsten ausgespromenen Antifeminismus kurzerhand für die Meinung des Autors halten wollte. 61 Aum die berümtigte Empfehlung des erotismen Kommunismus (v. 13875 sqq.) kann nimt geradezu gegen die Liebesauffassung Guillaumes ausgespielt werden. Jeans neuer Liebesspiegel geht weder in einer zynischen Umkehrung der höfismen Liebesdoktrin auf, nom ist er nur als eine enzyklopädische Vervollständigung der Art d'Amors des ersten Teils zu verstehen. U Jeans Fortsetzung sdtließt in der Tat eine Kritik am Werk des Vorgängers ein, dom nimt als bloße Negierung, sondern insofern, als sie die Minneallegorie Guillaumes als autonome Fiktion in Frage stellt, die Grenzen ihrer für sim bestehenden Welt durmbrimt, in die Reihe der idealisierten Figuren des Ja,din de Deduit Verkörperungen von Mämten der gesdtimtlimen Welt (Faux Semblant, Abstinence-Contrainte) einmismt und so den Aussdtließlimkeitsansprum der höfischen Liebe zunimte mamt. Der Platonismus der höfischen Liebe Guillaumes wie sein Gegenteil, der erotisme Kommunismus der Vielle, werden gleimennaBen von der Erscheinung der Nature und ihres Priesters Genius überbaut, mit denen Jean de Meun die Philosophie Alains von lilIe erneuert und möglimerweise dem Averroismus gewisser Universitätskreise angenähert hat. Die Verehrung der Nature als vicai,e e conestable I a l'empereeu, pardurable Cf. GaöBU, op. eit., 739. Cf. LEWIS 0696, 140sqq., und GaÖBu, op. eit., 738sq. 11 Cf. L J. FIUEDMAN, MPh 57 (1959/1960) 13--23. .. So A M. F. GtOOf (1952), der die Einheit der heiden Teile in einer Art von Bildungsroman (.progress of Youth to maturity», 276-294) sehen will.
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(v. 19505 sqq.) läßt Jean sdUießlich zu einem höchsten Bild greifen, das zugleich den Anspruch der höfischen Liebe am entschiedensten in seine Grenzen zurückweist: die mystische Parallele von mensdUicher und göttlicher Liebe, irdischem und himmlischem Paradies. Im Vergleich zu dem parc dou champ joli, der den Getreuen im Heer Amors, die das Gebot der Nature erfüllen, von Genius verheißen wird (v. 19538), ist der /ardin de Deduit Guillaumes nur ein vergängliches, in allen Dingen unvollkommeneres Abbild. Denn zwischen dem ,Park der guten Weide> und dem Paradies der höfischen Liebe liegt der ganze Abstand von Wahrheit und bloßem Schein (de T1eir a fable, v. 20288). Und wenn am Ende der amant seine Rose erringt, so daß es scheint, als ob die Allegorie im Sinne Guillaumes schließe, läßt dieser Schluß im Sinne Jeans noch eine tiefere, den Vorgänger ein letztes Mal korrigierende Deutung zu. Denn der Augenblick, in dem sich mit der Erhörung des amant das individuelle Schicksal seiner Liebe und Bildung erfüllt, bestätigt aus der Sicht Jeans doch wieder nur eine Guillaume verborgen gebliebene List der Natur, wie die (apokryphen?) Schlußverse andeuten: Explicit li Roumans de la Rose, Ou I' An d' Amours est toute endose. Nature rit, si com moy samble, Quant hic et hec joignent ensamble. 65 Der Roman de la rose hat gerade in seiner Zwittergestalt, als doppelter Gipfel der Minnedichtung und der «scolastique courtoise», der allegorischen Dichtform zum Sieg verholfen, die zwei Jahrhunderte lang der Entwicklung verschiedener literarischer Formen das epochale Gepräge gab. Er hat dabei - wie Huizinga zeigte - im Spätmittelalter «nicht allein die Formen der aristokratischen Liebe vollkommen beherrscht, sondern ist darüber hinaus durch seinen enzyklopädischen Reichtum (... ) die Schatzkammer geworden, aus der sich gebildete Laien das lebendigste ihrer geistigen Entwicklung holten. Es kann nicht wichtig genug genommen werden, daß so die herrschende Schicht einer ganzen Epoche ihre Kenntnis des Lebens und ihre Erudition im Rahmen eines ars amandi bezog». 58 Von dieser Wirkungsgeschichte ist hier nur noch der Anfang im Rahmen der Minneallegorie des späteren XIII. Jhs zu behandeln. In Frankreich ist für die Gesmichte der Gattung in dieser Zeit eigentümlich, daß einige aus dem Roman de la rose bekannte Motive wie die prison d' amour oder der Kampf um die Minneburg 57 zu neuen Werken weitergesponnen wurden. Dabei kehrte auch das dort fallengelassene Thema vom Hofstaat und Gericht Amors wieder und wurde verschiedentlich mit der nun offenbar modischen Form des salut d' amour 55
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Cf. E. LANGlOIS (1910), 46. Zur weiteren Tradition des Themas .Natur und Liebe, d. G. RAYNAUO OE LAGE, Natura et Genius chez Jean de Meung et chez Jean Lemaire de Belges, R 58 (1952) 125-143, und A. D. ScAGUONE, Nature and Love in the late Middle Ages, Berkeley und Los Angeles, 1963. J. HUIZINGA, Herbst des Mittelalters, 5tuttgan, 71953, 112. 50 im Roman du TJerger et de l'arbre d'amour ,;t 3246, der die ursprünglich mythologisa.en Elemente des jardin de Deduit erst rein beschreibend allegorisien (der geistlichen Tradition des arbor TJirtutum folgend) und sodann den TJerger d'amour von den /in amant gegen seine Widersacher (mesdisant, maris, jaloux, aber auch Bettelmönche und Beguinen) in einer allegorischen Schlacht verteidigen läßt, die in einem jugement durch zwei adlige Damen endet.
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versdunolzen. Neu ist die Zusammenordnung von Amor und Fortuna, in der sich etwas von der seit Jean de Meun schwindenden Selbstherrlichkeit Amors anzeigt. Das mythologische Schema von De amore kehrt mit der allegorischen aventure in der foreste de longue pensee wieder, die Richart de Fornival in einen Traktat Co n sei I d' a m 0 u r ;t 3240 eingelegt hat, um die Bekehrung eines Verächters der Liebe zu motivieren. Die Beschreibung des Besuchs am Hof des Liebesgotts bringt gegenüber Andreas CapelIanus die Neuerung, daß hier nicht mehr nur die Frauen, sondern auch die Männer den Strafen im Jenseitsreich Amors unterworfen sind. Das Gericht Amors hat nach 1280 Phi I i P P e deR e mi (Sire de Beaumanoir) mit dem Thema der prison verbunden und in den eleganten Rahmen eines Salut d' amour ;t 4692 gebracht. Für den Verfasser der Coutumes du Beauvaisis steht auch hier das Interesse an dem gerichdichen Verfahren im Mittelpunkt. Der amant, in das Gefängnis Pensee geworfen, weil er während der Carole seine Dame mit der Hand berühn hat, wird vor das Gericht der Dame Amours gebracht, die zwischen den beiden agierenden Parteien höfischer Tugenden und Laster eine auffallend schwache Position einnimmt (cf. vv. 319-322). Obschon der amant das Opfer einer Intrige von Traison geworden ist, kann doch der einmal gefällte Spruch nicht widerrufen, sondern nur gemildert werden (v. 812 sqq.): er muß seine zehn Strafen so lange verbüßen, bis die Dame selbst sie ihm erläßt. - Auf neue Weise und in einer sehr persönlichen Manier, die in lyrische Tonalitäten übergehen kann, wußte Philippes Zei tgenosse Bau d 0 u i n d e Co n d e ;t 4620 das Thema seiner Prison d' amour zu gestalten. Hier ist ganz auf die konventionelle Fabel des Weges zu Amor oder der Traumerzählung verzichtet und dafür eine neue Auflösung der Frage angekündigt, quels la prisons d'amors puet iestre (v. 4). Baudouin verfährt dabei so, daß er seine Minneallegorie in häufig abschweifenden Meditationen allmählich aus der zu erläuternden comparizon (vv. 17, 458, 1773) erstehen läßt. Während sonst die beschreibende Allegorese vom vorgegebenen Ganzen durch Zergliederung zur Deutung der Teile gelangt, baut sich hier umgekehrt das allegorische Bauwerk von den Teilen zum Ganzen, d. h. von der Erläuterung des Fundaments, des Turms, seines Zugangs und seiner beiden Stockwerke, die das Glücksrad verbindet, zum welthaften Sinnbild auf. Fortuna hat nun fast unmerklich Funktionen Amors übernommen, versetzt die Liebenden in das untere Stockwerk der maux d' amors und läßt einige nach oben, zu den hautes joies dei palais (v. 2754) gelangen, die dem Dichter bisher versagt waren. 58 Daraus gewinnt Baudouin den Ansatz, die Minnedoktrin wieder in die lyrische Situation des Werbenden umzusetzen, spielt immer wieder mit dem Gedanken, daß er ohne die notwendige Erfahrung nicht weiterschreiben könne, und steigert dieses durchaus reizvolle Spiel bis zum Argument des Ruhms, den sich die Dame verscherzen könnte (Car en cest lai demorra vis lEt en hOlmorable memore, v. 2869 sq.). An besonderen Motiven reich ist der Dit de la panthere d' amour von Nie 0 I e d e M ar gi val ;t 4680. Der um die Wende zum XIV. Jh. hervortretende, mit Drouan la Vache befreundete Autor hat eine symbolische Tierfigur der Bestiarien in die Sze18
Zu Fortuna cf. vv. 839sqq. und 2493 sqq., wo die Wendung des Rads nach oben mit dem Pfeilschuß Amors gleichgesetzt ist; die erwanbare, aber in Baudouins Konzeption nicht passende Wendung, die das Glütksrad wieder nach unten nehmen müßte, wird nicht erwähnt.
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nerie der Minneallegorie vom Typ des Dieu d' amour gestellt, die von der Panthere verkörpene Dame mit Personi6kationen in der Art des Roman de la rose umgeben und seine Traumerzählung mit verschiedenen lyrischen Einlagen, darunter Liedern von Adam de la Haie, in die äußere Form eines salut d' amour gebracht. Amor erscheint hier zu Pferde, um den amant aus seiner grant meraneolie zu erlösen, in die er verfiel, weil er die signi/ianee der Pantherallegorie nicht begriff (v. 148). Aber die Macht Amors und seiner Gemahlin Venus reicht hier nicht mehr aus, dem amant zu seiner Dame zu verhelfen; sie müssen ihn bald an eine höhere Instanz, an Fortuna, verweisen (v. 1924 sqq.). Im Ostel Fortune, dessen gegensätzliche Teile von den Dienern Eürs und Meseürs gehütet werden, gerät der Dichter in die Hälfte der Adversite; nun bedarf es eines Eingreifens von Graee und Pitie, um die Panthere zu Merei zu bewegen und - in allegorisch ungeklärter Analogie - Fortune umzustimmen. Und wenn am Ende der amant in der anderen Hälfte des Palastes, der Prosperite, wohnen darf, ist damit der glückliche Ausgang des Traums bedeutet, zugleich aber auch das Haus der Fortuna, aus deren Bannkreis der Weg des Träumenden nimt mehr hinausfühn, zum umgreifenden Sinnbild der ganzen Welt erhoben. Die Herrschaft Amors erscheint auch in anderen Texten nicht mehr fraglos souverän. Ein pikardischer Epigone, der sonst unbekannte M a h i eu I e Po i r i er ,;t 4676, bringt in einer Art von Trilogie die herkömmliche Kasuistik des liebeshofes in den allegorischen Rahmen einer Niederlage, Emigration und Wiederkehr Amors. Dieser, der als grand bailli dem Hof der douze pairs vorsitzt und Liebesfragen entscheidet, wird von Envie in seinem Schloß belagert und dann gezwungen, sich in den Himmel in Sicherheit zu bringen. Zu diesem ersten Teil, der Court d'amour, bildet der ebenso betitelte dritte Teil das Gegenstück: die schlechte Regierung der Envie läßt die Sehnsucht nach der alten Herrschaft Amors groß werden, ein König von Friesland, dem Amor zuvor eine widerspenstige Schäferin als Gattin zugesprochen hatte, wird zu Hilfe gerufen und erobert das chastel, in das der Vertriebene sodann wieder einziehen kann. Der Erzähler, Augenzeuge des ganzen Geschehens, rückt im zweiten, als Bindeglied gedachten Teil, dem Jeu de la capete Martinet, selbst mit seinem Liebeskasus in den Mittelpunkt. Er betrachtet erst <melancholisch> (v. 12) das Blinde-Kuh-Spiel von Kindern, in dem er ein Gleichnis des Verhaltens seiner Geliebten sieht. Dann treten fünf Damen und ein Jüngling durch ein Pförtchen in den Garten Amors, aus dem eine sechste ausgeschlossen bleibt: Desesperee, die Widersacherin von Esperanche, von welcher dem Liebenden Aufschluß und neue Ermutigung zuteil wird. Die Szenerie und Konstellation der Figuren verrät das Vorbild des Roman de la rose, aus dem der Autor die Rolle der Esperanche zu einer Allegorie für sich herausgesponnen hat. - Auch in einer anglonorm. Minneallegorie Bi e n es t raiSon et droiture ,;t4624 derselben Zeit kehrt das Motiv vom Rückzug Amors wieder. Nachdem er seine grant seignurie überall eingebüßt hat, findet er in einem festen, auf dem Fels Loialte gebauten Turm Zuflucht; seine Feinde greifen zu einem besonderen engyn: einem Katapult, der den Spiegel der Gelousie hochschleuden, so daß Amor seine Burg nicht verlassen kann (vv. 854-1(07). Wie dieses bizarre Motiv in der epigonenhaften Fabel, so zeigen auch besondere Züge in der Gestalt Amors die Feme der klassischen Minnekonventionen an: der Liebesgott sprimt selbst von seiner Blindheit als einem viee, das viel Schaden angerichtet (v. 385 sqq.), am Ende
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5. Die MinneGllegorie Gis esoterische form einer newen ars amandJ
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aber doch in der Verbindung von Liebenden versdUedener Stände das Gute habe überwiegen lassen (Plus ayt lait mounter que descendre, v. 414), und er trägt einen Ring, um mit diesem christlichen Symbol zu bedeuten, daß sich die höfische Liebe in der Ehe erfülle (vv. 641-701). Als ein erster Widerhall auf die &lJl2IÖsische Tradition der Minneallegorie sind in Italien vielleicht die Cinque sonetti antichi .I' 4632 einer Wiener Handschrift anzusehen, die nach ihrer Sprache ~d guittonianischen Form eine emilianische oder aretinische Herkun& vermuten lassen. Die heterogene Gestalt des ersten und der vier folgenden Sonette erklärt sich wohl am einfachsten so, daß ein rechtskundiger Verfasser das erste schon vorliegende Sonett durch einen zusammenhängenden kleinen Zyklus ergänzt oder kommentien hat: schildert das erste Sonett in mythologischer Verhüllung den Beginn der liebe (Begegnung mit einer dea, deren Kuß der anwesenden Gesellschaft unsichtbar bleibt und den Dichter wie der dardo de l'amore trifft, so daß an Venus gedacht werden kann), so wird ihr Fongang in den folgenden vier Sonetten in die allegorische Tradition des iudicium amoris umgesetzt. Die als dea terrena eingeführte Dame verweigen im liebesganen die Gunst der kirlanda di l'amore (n02), der Dichter erinnen an die Situation Adams im Paradies (n03), ein Bote zitiert die Dame vor den Hof Amors (n04) und sie wird don dazu veruneilt, -unter Erstattung der Kosten> des Dichters Geliebte zu werden (n05). In der Toscana, der literarischen Landschaft Italiens, in der vor allem die allegorische Dichtuhg wie später auch der Dolce stil nuovo zur Blüte gelangt ist,al fand auch der Roman de la rose den stärksten Widerhall. B run e tt 0 La tin i, der mit seinem Tesoretlo .I' 4534 das allegorische Epos der Schule von Chanres nach Italien brachte, läßt seinen Wanderer nach dem Reich der Natura und der Vertute auch in das Reich Amors gelangen. Doch hier, wo Brunetto möglicherweise das Werk von Guillaume de Loms vor Augen stand, verdichtet sich seine auch sonst bekundete Kritik an den Idealen des amour courtois" zur Gebärde der ausdrücklich vollzogenen Abkehr: im Widerspruch zu aller Tradition der Minneallegorie verläßt der Wanderer das Reich des blinden Amors durch eine rettende Flucht und muß in Montpellier erst eine Beichte ablegen, um seine allegorische Reise bis zum Berg Olymp fortsetzen zu können. - Die gleiche Gegenposition zum Ethos der höfischen Liebe macht sich auch in der eine Generation später entstandenen italienischen Version des Roman de la rose geltend. Im Fiore hat ein toskanischer Dichter, der nicht identifizierte Se r 0 ur an te .1'4660, in dem zuletzt G. Contini wieder den jungen Dante Alighieri erkennen wollte, das gesamte Werk aus seiner heterogenen Doppelgestalt in die wirkungsvoll gekürzte und neu pointierte Form eines Zyklus von 232 Sonetten umgegossen. Die antihöfisc:he Tendenz des Verfassers zeigt sich gleich darin an, daß er die allegorische Handlung im Fiore mit dem Pfeilschuß Amors einsetzen, mithin den vorbereit~den Weg der höfischen Erziehung wegfallen läßt: eine ars amandi wird im Flore nur noch rein pragmatisch in den zynischen, mit drastischer Sprache gewürzten Ratschlägen des Amico und der Vecchia, nicht mehr im Geiste der id~alisierenden Minnedoktrin von Guillaume de Lorris dargeboten. Da der Kürzung .. Cf. StoriGS, 353/354. .. Cf. JAUSS °668, 74-79.
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C. Entstehung und Strukturwandel der allegorisaaen Diaatung
Durantes ferner die ganzen Natura- und Geniusepisoden anheimgefallen sind, tI fehlen nun auch die mystischen Parallelen und der metaphysische Rahmen, die bei Jean de Meun den erotischen Naturalismus rechtfertigten. So kann der italienische Rosenroman geradezu als eine blasphemische übersteigerung U und Entmystifizierung der höfischen liebes religion gelesen werden, die am Ende darin gipfelt, daß die Allegorie der Rose in eine kaum noch verhüllte Beschreibung des Aktes der Deflorierung umschlägt (nOI 229-230). - Im D e t tod' A m 0 re ;t 4652 ist die Rosenallegorie in anderer Weise aufgegeben. Dieser Text, vom selben Durante möglicherweise als virtuose übung in einer schwierigen Reimform verfaßt, behandelt die Unterwerfung des Dichters unter den liebesgott, die Anfechtungen des fedele d' Amore durch Ragione, Gelosia und Ricehezza und - als mutmaßliches Ende - seine Belohnung (vv.17-22); die Dame wird nicht mehr in den verschiedenen Aspekten ihres Wesens figuriert, sondern geradezu in ihrer Gestalt (eom' eil e ben partita I e di eors e di membra, v. 163 sqq.) nach dem Schönheitskanon der Zeit beschrieben. Kommt man von den ital. Rezeprionsformen des Roman de la rose zur ersten eigenständigen Minneallegorie, der dem Chronisten Dino Compagni immer noch nicht mit Sicherheit zugewiesenen In te 11 i gen z a ;t 4668, so wird augenfällig, in welchem Maße die neue Generation des Dolce stil nuovo eine Respiritualisierung der Liebe herbeigeführt hat. Der Verfasser, der formal die mit Brunettos Tesoretto eröffnete Tradition einer kosmologischen Allegorie fortsetzt, erinnert nur noch mit der Szenerie einer Eingangsstrophe (Ed io stando presso a una fiumana I In un 'Derziere all'~mbra d'un bel pino, I Aveavi d'acqua 'Diva una fontana, str.3) an die franz. Minneallegorie. Der traditionelle Schauplatz und Frühlingseingang motiviert sogleich den Augenblick, in dem der Dichter beim (ersten Blick) von liebe zu einer Dame von altremirabile bieltate ergriffen wird (str. 4-7). Im Vergleich zum allegorischen Schema des Roman de la rose ist hier eine dreifache Reduktion festzustellen. Zwischen dem Dichter und seiner zur figura angeliea erhöhten Dame steht allein noch fin Amore, als erster gnadenhafter Anfang und als Instanz des Herzens (prima Ja i euor gentil ehe vi dimori, str. 5), nicht mehr jene Zwismenwelt von Personifikationen, die in der Allegorie von der Rose das Wesen und Verhalten der Geliebten figurierten. Ferner ist die handlungshafte Allegorie aufgegeben: während sich dort mit dem Weg des amant und seinen Stationen die Summe des höfismen Wissens zu einer autonomen Welt entfaltete, verbindet sim für den ital. Dimter alles Besdareibungswürdige und Beispielhafte mit der Gestalt der Madonna, ihrem Diadem der 60 Steine und ihrem Palast mit seinen zwölf Gemämern. Dieser Palast bildet nun die Mitte der Welt (e fu storato a 10 mezzo dei monda, str. 60) und ersetzt die Porträts zeitloser Wesenheiten an der Mauer des iardin de Deduit durch eine Bilderfolge in der (Kammer des Gedämtnisses., wo die antiea storia (str.62, 303) des Triumphs der Liebe und sodann der Heldentaten Cäsars, Alexanders, Trojas, der Table Ronde, mithin eine Abbreviatur der Weltgeschichte vor Augen gestellt ist. Und .. Auf die Naturphilosophie lean de Meuns bzw. seinen mutmaßlichen Averroismus weisen im Fiore lediglich die Sonette 39, 40 und 183 zurüde. I. Blasphemische Stellen wie in den Sonetten 5, 17, 34 oder 227 sind nicht per se unchristlich. sondern übersteigern den Autonomieanspruch der höfischen Uebesreligion in satirischer Absicht.
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5. Die Minneallegorie als esoterisme form einer neuen ars amandi
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während so die Beschreibung kosmologisch zu der Enthüllung aufsteigt, daa mit der
Madonna im Kreise der sieben Königinnen letztlich die (averroistische) Universalintelligenz bedeutet sei (str.309), vollendet sich allegorisch zugleich die Verinnerlichung der Liebe: die Intelligenza, die den Engeln die erste Bewegung von Gott aus vennittelt, ist die gleiche Krah, die in das Herz des Liebenden gekommen ist, um als Geist im cPalast des Körpers) zu residieren (str. 301). Die Dichter des D 0 I ces t i I n u 0 t1 0 können hier nur in einem Ausblitk auf ihre neue allegorische Sprache ErWähnung 6nden, da sie primär als eine Epoche der ital. Lyrik zu behandeln sind (vid. II G). Sie führen die Tradition der erzählenden Minneallegorie nicht einfach fort; das lyrische Schema ihrer neuen Allegorie setzt vielmehr eine ausdrütkliche Abkehr vom literarischen Kanon der hö6schen Liebe und damit auch vom Vorbild des Roman de la rose voraus. Diese Abkehr wird - wie schon gezeigt - von Brunetto Latini im Tesoretto allegorisch thematisien, zur gleichen Zeit aber auch von dem konvertierten Guittone d' Arez.zo ausgesprochen. Seine geistliche Verurteilung Amors war möglicherweise der Anlaß, auf den sich Guido Guinizelli in seiner programmatisenen Canzone polemisch bezog." Der Dolce stil nuot1o rechtfertigt die hohe Liebe, indem er eine neue, philosophisch und theologisch begründete AmorlehreN an die Stelle der traditionshah abgeschlossenen Mythologie und Topographie der höfischen Minneallegorie setzt und seine Dichtung im Gewand einer neuen Allegorie entfaltet. Mit der Verinnerlichung der /in'amor bauen die italienischen Dichter von Guinizelli bis Dante die bildhahe Erscheinung der allegorischen Welt des Roman de la rose Zug um Zug ab: den Schauplatz des Paradiesganens, die personifizierten Wesenheiten der höfischen Psychomachia, die verkörperte Erscheinung der Geliebten und die sinnbildlichen Stationen ihrer Erringung. Die neue allegorische Sprache des Dolce stil nuOt1o entspringt einer vollkommen veränderten Figuration des Unsichtbaren. Guinizelli verlegt in seiner Canzone: AI cor gentil ripara sempre amore (vid. 11 G) den. Herrschaftsbereich Amors in das Herz des Liebenden, was auch so zu verstehen ist, daß Amor gleich ursprünglich mit dem cedlen Herzen) geschaHen wurde und in ihm als seiner neuen Stätte ins Dasein tritt. In der Lehrcanzone von G u i d 0 Ca val c a n ti: Donna me prega (vid. 11 G) ist die Stätte der Wirkung Amors noch näher durch memoria bestimmt; hier wird auch der Schritt von der objektiven Personifikation zeitloser Wesenheiten zur subjektiven Personifikation nicht mehr körperhaher Seelenkrähe (spiriti) vollzogen." Indem für Paor ein pauroso spirito d'amore, für Leece ein spirito ehe ride, für Tristece ein spirito dolente eintritt, verschwindet der allegorische Horizont überpersönlicher, meist antagonaler Normen und spielt sich das Schitksal der liebe vornehmlich in dialogischen Szenen zwischen den inneren Stimmen der Krähe des Ich ab. Diese Verinnerlichung kommt einer Zuordnung der überpersönlichen Mächte und Wirkungen auf eine neue Polarität von Nach S. SAHTANGELO, La scuola poelica siciliana, in: Saggi crilici, Modena. 1959, 251. Die letzte, die Summe der bisherigen Forschung ziehende Darstellung der Amorlehre des Dolce stil "uova und der Vita nuOtJa gab H. FRJmlllCH 088, 58-66, 109 sqq. .. In der Lyrik 0 i no Fr e 5 co baI dis (vid. 11 G) stehen die alten Personifikationen und die neue Konvention der spiriti noch nebeneinander, cf. L F. BENtDETTO, ZRPHB 21 (1910) 151 sqq. 11
tt
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C. Entstehung und Strukturw"ndel der "llegori,men Dichtung
üebendem und Amor gleich, bei der die Herrin nurmehr auslösendes Medium und transzendenter Zielpunkt des Geschehens ist. Während ihre spiritualisierte Figur in eine bildlose Idealität entrückt wird, nimmt Amor als wirkende Potenz in den Visionen der inneren Welt neue Züge bildhafter Erscheinung und wechselnder Gestalt an, die den Stufengang der Erfahrung und Läuterung des Liebenden symbolisieren. Amor ist in dieser Epoche seiner allegorischen Rezeption transzendente Person und verkörperte Innerlichkeit zugleich. Er befindet sich im eedlen Herzen. als ruhende Potenz, die erst durch die Schönheit der Herrin gewedtt werden muß und dann auch von außen in Erscheinung treten kann: 10 mi send' svegliar dentro a 10 core un spiriro amoroso ehe dormia: e poi vidi venir da lungi Amore aIlegro sl, ehe appena il conoscia.
Dan te (vid. VII A 2), der mit dieser Verknüpfung von innerer Wirkung und äußerer Erscheinung die Amorlehre des Dolce stil nuO'Oo exemplarisch verbildlidu, hat im Kommentar zu den gleichen Versen (Vita nuot:Ja, XXIV) die personifizierende Darstellung des liebesgottes nur noch ästhetisch, als poetische Lizenz gerechtfertigt: Amore non e per se si come sustanzia, ma e uno accidente in sustanzia (ib., XXV). Der Hinweis auf das eals ob. der poetischen Fiktion (si come fosse sustanzia corporale) beantwortet die traditionelle Frage, ob Amor ein Gou oder nur wie ein Gott sei," in einer Weise, die ihre Alternative ganz aufhebt und damit zugleich die naive Einstellung der vergangenen Minneallegorie zum Amormythus bewußt madu. Die Grenzüberschreitung von der Allegorie als Denkform zur allegorischen Kunstform ist aber gewiß nicht zufällig in der Vita nuOt:Ja ausgesprochen - in dem Werk, das auch in anderer Hinsicht eine Schranke allegorischer Darstellung durchbrach. Die Herrin der Vita nuot:Ja ist für Dante weder nur eine reine Allegorie, noch allein die historische Beatriee Portinari, sondern - nach E. Auerbach - eine Inkarnation der Offenbarung und irdische Person zugleich.·7 Ihre Gestalt bedeutet insofern einen Wendepunkt in der literarischen Tradition des Mittelalters, als hier zum ersten Mal eine profane, wirkliche Person zur allegorischen Figur erhoben wird, ohne darum ihre geschichtliche Wirklichkeit einzubüßen. Die geschichtliche Person löst sich in Dantes Allegorie nicht mehr ganz auf, wirkliche Gestalt und transzendente Bedeutung treten im libro de la mia memoria in ein figurales Verhältnis, das man mit der Begrifflichkeit des Co n t:J i t:J i 0 (11, I, 3-4) als eine Anwendung der eAllegorie der Theologen'· auf profane Dichtung bezeichnen könnte und das dann in der Dit:Jina commedia dazu dienen wird, in der Allegorie des status animarum post mortem die Geschichte und Individualität historischer Personen zu bewahren .
.. Cf. H. FIlIEDRlCB °88, 109. 11 Cf. E. AUERBAeH, Neue Dantestudien (Istambuler Schriften Nr.S), Istambul, 1944. 68-71. U Cf. A. VALLom, 5tudi su Dante medievale, Firenze. 1965, 32 sqq.
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VI.
ERNST UND SCHERZ IN MITTELALTERLICHER LITERATUR
In einem 1953 erschienenen Aufsatz: Chdtiments infernaux et peur du diable d'apres quelques textes franfais du Xllle et du XIVe sieeie hat Jean Frappier seine Leser damit überrascht, daß er sein Thema auf eine neue Frage erweiterte. Wie mag es sich wohl erklären, daß die religiöse Literatur des Mittelalters nicht allein die Angst vor dem Teufel, die Häßlichkeit der Sünde und die Schrecknisse der Hölle dargestellt, sondern auch - im Gegensatz zu dem vom christlichen Glaubensbekenntnis geforderten frommen Ernst - die Gestalt eines komischen Teufels hervorgebracht und sich nicht gescheut hat, den Zustand der Verdammten gelegentlich auch einmal scherzhaft zu behandeln? Frappiers Interpretationen erklären diese Erscheinung aus einem vitalen Bedürfnis der frommen Autoren, der ständigen Obsession des inkarnierten Bösen und des unentrinnbaren Gerichts durch eine literarisch am ehesten erfüllbare Kompensation zu entgehen : « L'arme employee contre le terrorisme du Diable a ete celle du comique. ( ... ) un degre de plus a ete franchi par quelques auteurs dans cet effort, plus ou moins conscient, de liberation relative; ils ont cherche a egayer l'enfer, en exploitant la veine de l'humour, en imaginant pour les damnes des supplices d'une teile cocasserie qu'il est bien difficile de les prendre tout a fait au serieux. Ces supplices ne sont pas seulement horribles, ils sont aussi horrifiques, avec la nuance de plaisanterie qu'a le mot chez Rabelais et dans le style marotique. » I Die von Jean Frappier behandelte Frage läßt sich mit einigem Gewinn auch für die allegorische Dichtung des Mittelalters aufwerfen. Denn auch im Bereich ihrer Gattungen erscheint der Ernst einer lehrhaften oder erbaulichen Intention, der ihrem Ursprung aus Formen der Bibelexegese gemäß war, völlig selbstverständlich. Man wird darum kaum erwarten, in der allegorischen Welt personifizierter Wesenheiten, die mit ihren Attributen für den mittelalterlichen Leser vermutlich etwas von der Würde des Numinosen bewahrten, auf Scherz, Ironie oder Komik zu stoßen. Die Forschung ist denn auch der Frage nach scherzhaften Formen der Allegorie m.W. bisher nicht
I. In : Cahiers de l'AssOCÜltion Internationale des Etudes Fran,aises, 1953,
87·96.
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nachgegangen; sie hat diese nicht selten sogar verkannt, weil sie - gewohnt, das ehrwürdige Verfahren der Allegorik und ihren Anspruch auf Enthüllung einer verborgenen Wahrheit ernst aufzufassen - nicht gleich an Scherz dachte, wenn ein Dichter mit diesem Verfahren sein Spiel trieb oder die höhere Wahrheit der Allegorie ironisierte. Die Suche nach solchen Fällen erbrachte aus dem Bereich der romanischen Literaturen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts eine gewiß unvollständige, aber doch wohl repräsentative Reihe von Texten, die der folgende Beitrag vorstellen und im Blick auf das Verhältnis von Ernst und Scherz interpretieren soll. Dabei kann gezeigt werden, daß im Bereich der Allegorik, die sich von der existentiellen Obsession des Bösen schon bald gelöst und ein eigenes Idealreich christlicher oder höfischer Wesenheiten ausgebildet hat, auch die Befreiung vom didaktischen Ernst eine andere Richtung nahm. Hier zielen Scherz, Ironie und Komik weniger auf die Substanz einer Lehre als auf das Verfahren der Allegorie in ihren gattungsbedingten Formen und Spielregeln. Insofern liegt ein Hauptinteresse dieser Untersuchungen in der Feststellung, wie durch die Verkehrung von Ernst und Scherz in unseren Texten der Kanon der Gattung überspielt und zugleich ihre ungeschriebenen, nicht kanonisierten Voraussetzungen und selbstverständlichen Spielregeln ans Licht gerückt werden. So spiegelt sich gerade in den Scherz- und Spielformen der historische Prozess, in dem die objektive Evidenz und geglaubte Realität der Allegorie einer Poesie des Unsichtbaren Raum geben muß, die sich der konventionellen Fabeln und Figuren für den neuen Zweck einer literarischen Fiktion bedient. Da die Wahrnehmung der scherzhaften Intention einer allegorischen Dichtung nach dem Vorgesagten stets eine gewisse Vertrautheit mit der Tradition der Gattung voraussetzt, wurde die Auswahl und Gliederung der Texte so getroffen, daß die Interpretationen eine Perspektive auf drei Hauptgattungen der mittelalterlichen Allegorie eröffnen. Nicht berücksichtigt wurde die scherzhafte Behandlung der Allegorese, da es sich hier um eine bloße Technik der Deutung handelt. die nicht an gattungsbedingte Strukturen gebunden ist. an beliebige Stellen eines Textes angeknüpft werden kann und angesichts ihrer Häufigkeit eine eigene Darstellung verlohnen würde'. 2. Als ein typisches Beispiel für die scherzhafte Behandlung der Allegorese
sei hier der Dit du boudin (ed. P. MEYER, ROP7'UUlUl, 40, 1911, 76-80) angeführt, der sich auf die Buchstabenallegorese bezieht. ihr Verfahren auf drei Bestandteile der Blutwurst anwendet und sich dabei auf eine Lehre der vielle gramaire stützt. derzufolge neun Buchstaben alles Wissen in sich schließen. Weitere Beispiele hat E. ILvoNEN in : Parodies de th~mes pieux dans la po~ie franpme du Moyen Age. Helsingfors, 1914, ediert. - In manchen Fällen ist die Grenze zwischen Ernst und Scherz schwer zu ziehen. So im Falle der provenzalischen Versepistel, die Matfre Ermenpu seiner Schwester zu Weihnachten schrieb (ecl. K. BARTSCH, Denkmäler der provenzalischen Literatur, Stuttgart, 1856, 81-85). Hier werden die brauchtümlichen Festleschenke spirituell auf Christus ledeutet : der Met auf sein Blut, die Honiakucben auf seinen Leib. der sebratene Kapauu
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BRNST UND SCIIBRZ IN IIlnBI.ALTBRLICBBR AU BOORIB
I. Wohl die ehrwürdigste Gattung der allegorischen Dichtung des Mittelalters ist der' Kampf der Tugenden und der Laster'. Die von Prudentius geprägte und von Bemhard von Clairvaux erneuerte Form der Psychomachia ist in romanischer Tradition nicht allein verschiedentlich nachgeahmt und umgebildet worden 3. Sie hat im 13. Jahrhundert auch einen Abkömmling bervorgebracht, der erlaubte, den Ernst des Seelenkampfes hintanzusetzen und auf dem allegorischen Schlachtfeld noch andere, mehr oder weniger ernst zu nehmende Widersacher gegeneinander auszuspielen: die allegorische Bataille 4. Das berühmteste Stück dieser Art, die Bataille de Caresme et de Charnage, führt die aus dem Streitgedicht bekannten Gegner an der Spitze grotesker Heerscharen von Fasten· und Fleischspeisen ins Feld und travestiert dabei den epischen Vorgang der Chanson de Geste. Hier soll indes nicht von der Komik solcher allegorischer Schlachtszenen die Rede sein, die unmittelbar dem Gegensatz der personifizierten Gegnerpaare - Käse gegen Rochen, Würste gegen Aale entspringt. Uns interessiert vielmehr eine andere scherzhafte Behandlung dieses Musters, die den Ernst der Allegorie selbst ironisch anzurühren wagt: die Bataille des vins von Henri d'Andeli '. Der profilierte, Philipp dem Kanzler verbundene Verfasser, der als erster aktualitätsb~zogene Dichtung (Dit) in franz. Volkssprache geschaffen hat, erprobte seinen Witz und seine hohe literarische Bildung darin, daß er in der gleichen Gattung der Bataille zwei im Ton grundverschiedene Stücke schrieb. Während er in seiner Bataille des sept arts die Allegorie zur Satire wendet, um im Streit der Schulen von Paris und Orleans Position zu beziehen, gefällt er sich in seiner Bataille des vins darin, mit dem allegorischen Verfahren der Personifikation selbst sein Spiel zu treiben. Segnor oies une grant fable Qui avint iadis sor la table deI bon roi qui ot non Felipe Qui volontiers moilloit sa pipe Do bon vin qui estoit do blanc (vv. 1-S)
auf den Gekreuzigten. d.h. auf den UDS zuliebe am Kreuze ' Gebratenen' und mit der Lanze Durchstochenen (v. XI sqq.). Die Grenze zum Grotesken scheint dem modemen Leser wenn nicht schon hier. so gewiß dort überspielt zu sein, wo die Bleichen mterpretammta nun auch noch auf die Inkarnation bezoaen werden (Estas neulas pasec sems uperitt / Ins d "mtre de '" "eree Mari4, v. 30 sq.). 3. Hierzu sei auf meine DarstellWlI in vol. VI, tome 1. cap. C 4, des Gnm4rl~ är romaniscMn Uteraturen du MitteWters, He1de1bera, 1968, venviesen. 4. Eine Zusammenstellung von Stücken dieser Gattung, die genetisch auch als eine Erweiterung der Form des Streitgedichts (duputoison, d~bat, conflit) erklärt werden kann. bringt G. LozINUI in seiner Einleitung zur Ed. La bataille de Carume et de Chamaee, Paris. 1933 (BEHE. fase. 262), 85-90. 5. Ed. F. AUGUSTIN, Marburg. 1886 (AA, XLIV).
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- was hier hyperbolisch als grant fable angekündigt wird und die Stilhöhe eines Epos erwarten läßt, zeigt sich gleich in den nächsten Versen im Gewand eines alltäglichen Vorgangs. Der bon roi Philipp 11. August, ganz unehrerbietig in seiner Neigung für einen guten Tropfen vorgestellt, veranstaltet eine Weinprobe. Gemäß der angekündigten grant fable stellt sich diese Weinprobe im ersten Hinblick dann aber als eine allegorische Bataille dar; die Weine werden vom König wie Vasallen entboten, halten in einem conroi (v. 41) ihren Einzug, tragen ritterliche Namen, die sie oft auch schon qualifizieren (Dant Mauvais, v. 51; Dant Petart de Chalons, v. 53), rühmen sich ihrer Vorzüge, geraten in Streit (Oui la veist vins estriver... , v. 151 sqq.), gebärden sich wie Ritter in der Schlacht (s'enfuirent tomant les resnes, v. 74) und werden - von hier an folgt der Verfasser dem Muster des Streitgedichts - von einer höheren Instanz, verkörpert durch einen trinkkundigen englischen Priester, in ihrem Rang erprobt und gerichtet. Der aufmerksame Leser wird indes bald gewahr, daß dieser epische Anblick der Bataille noch nicht den vollen Sinn des Textes erschließen kann. Denn die allegorische Darstellung ist mit Signalen durchsetzt, die neben der Allegorie vom< Streit der Weine> an das Weiterbestehen der alltäglichen Realität erinnern und so immer wieder die Grenze zwischen allegorischer und wirklicher Welt bewußt machen. In der konventionellen Form allegorischer Dichtung bleibt diese Grenze unsichtbar, nachdem eingangs - zumeist mit Hilfe eines entrückenden Traums - der übergang von der vertrauten Wirklichkeit in die andere Welt der Allegorie einmal vollzogen ist; ,uch wenn dort der Leser den Schlüssel der möglichen Auflösung schon vor dem Ende errät und den verborgenen Sinn sukzessive richtig deutet, bleibt dabei die Geschlossenheit der allegorischen Szene und die Evidenz der Erscheinung allegorischer Wesenheiten von der umsetzenden Deutung unangetastet. Henri d'Andeli, der in seiner Bataille des vins nunmehr Allegorie und Realität nebeneinander treten läßt, hebt gerade die Selbstverständlichkeit allegorischer Präsentation auf: die transzendente Realität der Bataille wird bei ihm zur fable (v. 1), die übersinnliche Erscheinung personifizierter Wesenheiten zur kunstvollen Fiktion. Signale. die den allegorischen Vorgang als Fiktion enthüllen, finden sich im Text zunächst in ambivalenten Formulierungen, die sich sowohl auf die alltägliche Realität als auch auf die allegorische Fabel beziehen lassen. Wenn der König Boten entsendet mit dem Auftrag, die besten Weine aufzubieten, kann der Vers: Primes manda le vin de Cipre (v. 15) im Doppelsinn von: < er ließ Wein von Zypern bringen> oder< er entbot den (personifizierten) Wein von Zypern> verstanden werden. Wenn die Ankunft der Weine als ein feierlicher Aufzug: trestot vinrent en un conroi geschildert wird, weist gleich der nächste Vers mit seiner genauen Lokalisierung: sor la table devant le roi (v. 42) die Blickrichtung des Lesers von der episch-allegorischen Ebene wieder auf die Alltagsebene hinab. Und wenn der englische Priester die Stola nimmt, um die
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schlechten Weine zu exkommunizieren, so kann man an den Scherz eines Witzbolds (qui molt avoit la teste fole, v. 50) auf dem Gelage, aber auch an ein bedeutungsvolleres Element der allegorischen Fabel denken. An einer späteren Stelle aber wird der Leser eindeutig aus der allegorischen Fiktion herausgestoßen, se vin eussent pies et mains je sai bien qu'i1 s'entretuassent ja por le bon roi no laissassent (vv. I~S8) Hier hebt der Verfasser eine unausdIÜckliche Spielregel der personifizierenden Allegorie: daß sich die - von ihrem numinosen Ursprung her begründete - Erscheinung personhafter Wesenheiten von selbst versteht, für einen Augenblick auf, mißt die Wahrheit allegorischer Figuration an ihrer Unwahrscheinlichkeit und macht so den Kunstcharakter seiner Bataille sichtbar. Eine andere Konvention allegorischer Dichtung hat Henri d'Andeli dort durchbrachen, wo er sich selbst namentlich als Tischgenosse erwähnt: le vins saint Jehan d'Angeli si dist a Henri d'Andeli qui Ii avoit creves les eus (vv. 123-26) par sa force tant estoit prex. Der Witz dieser Stelle entspringt daraus, daß Henri zunächst von der in der allegorischen Traumerzählung herkömmlichen Ichform abgesehen hat, um sich dann überraschend doch noch in die allegorische Szene mit einzusetzen. Da dieses plötzliche Auftauchen weder auf der allegorischen Ebene der Bataille, noch auf der alltäglichen Ebene der Weinprobe des Königs motiviert ist, kann man nur folgern, daß sich der Dichter diese Lizenz herausnahm, um eine witzige Erklärung seines Augenleidens zu bringen I. Und da sonst die Person des Dichters in der Allegorie nur insoweit gerechtfertigt ist, als sie ein allgemein menschliches Schicksal vertritt, hier aber nur ein wenig rühmlicher, rein privater Defekt im Spiele ist, ironisiert Henri mit dem • quereinlaufenden Detail • 7 seiner biographischen Abschweifung zugleich den didaktischen Ernst der Allegorie. Ähnliches gilt für den Schluß der grant fable. Nachdem erst die wahrhaft epischen Mühen des priesterlichen Schiedsrichters bis zu dem Punkte geschildert werden, an dem er vor Erschöpfung in einen dreitägigen Schlaf versinkt, und dann vom König der Richtspruch in denkbar ehrwürdiger Form, durch Errichtung einer doppelten Hierarchie der Weine analog zu den höchsten geistlichen und weltlichen Würden, verkündet ist, begibt sich der Dichter am Ende augenzwinkernd wieder auf die Alltagsebene zuIÜck und tröstet alle, die an dieser höheren Rang6. Cf. La bataille du tUts, v. 125. 7. Zum Begriff des « quereinlaufenden Details -, den Lessina im 70. Stück der Hturrbur,ischen Dramatur,ie leprägt bat, cf. Nachahmun, lDId Illusion, ed. H. R. JAUSS, München, 1964, p. 241 sqq.
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ordnung der Weine nicht teilhaben können, mit der sarkastischen, der höheren Wahrheit der Allegorie zuwiderlaufenden Weisheit des Sprichworts: Oui miex ne puet si n'a pas tort ades 0 sa vielle se dort soit vin moien per ou persone (vv. 201-4) buvons tel vin com dex nos done. II
Ein zweites großes Muster der mittelalterlichen Allegorie ist der Stationenweg der Jenseitswanderung. Die letztere hat eine doppelte Wurzel in den klassischen Traditionen des Somnillm Scipionis, der Nuptiae des Martianus Capella und der UnterweJtsfahrt in der Aeneis, wie andererseits in den christlichen Visionsberichten, von denen die Visio Pauli an erster Stelle als Vorbild volkssprachlicher Darstellungen zu nennen ist '. Die hier interessierende Untergattung, in der die Stationen der Wanderung allegorisiert sind, findet sich in romanischer Tradition zum ersten Mal um 1200, also wenig später als die allegorischen Epen von Bemhardus Silvestris und Alanus, in der Voie d' Enter von Raoul de Houdenc. Das Gipfelwerk dieser Form, der Tesoretto von Brunetto Latini, hat auch Elemente der< anderen Welt > des Artusromans und der Minnea1legorie, die als konkurrierende Gattungen eine profane Jenseitswanderung entwickelt hatten, in sich aufgenommen'. Das allegorische Schema des Stationenwegs eignete sich zu didaktischen Exkursen. aber auch zur Satire, wie das Werk Raouls zeigt, der den Lasterkatalog zur Satire umkehrte, indem er den Wanderer von den Sündern seiner eigenen Zeit berichten ließ. Derselbe Dichter hat sich für die Szene des Höllenbanketts so groteske Qualen ausgedacht, daß man geneigt ist, seine < Speisekarte> pikant zugerichteter Missetäter für ein frühes Zeugnis des < humour noir> zu nehmen 10. Ein Unicum der Gattung stellt das Fablel de Niceroles eines um die Mitt~ des 13. Jahrhunderts im Vagantenton dichtenden Clerc de Voudoi dar U. Hier wird der Ernst der allegorischen Wanderung dadurch in Scherz aufgelöst, daß der Verfasser die Misere seines eigenen Schicksals am Leitfaden allegorischer Stationen ironisiert. Er gibt sich als ein fahrender Schüler aus, der sein ganzes Vermögen im Glücksspiel verlor und sich nun für das Vorgetragene eine milde Gabe erbittet (Or taites bele chi~re, v. 71). Diese Situation wird allegorisch verbrämt durch den Bericht von der bone escole (v. 7), die er durchlief, als er die Stadt der Einfältigen (Niceroles) betrat. In dieser Stadt ist der Einfältigste (v. 25),
8. Siebe dazu GRLMA, vol. VI, tome 1, cap. C 3 (cf. Anm. 3). 9. Cf. H. R. JAUSS, Bnmetto Latini als allegorischer Dichter, in : Formen· wandel - Festschrift für Ptud Böck1PUl1ln, HambW"l. 1964, pp. 47-92. 10. J. FRAPPIER, op. eit., p. 93. 11. Ed. A. JUBI!W., CEuv,es compl~tes de Rutebtzuf, Paris, 1875, vol. 111, 352-54.
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mon seignor saint Nissart genannt, Bischof. Von hier nahm ein überall verbreiteter Mönchsorden seinen Ausgang, dessen sich der Dichter nach dem Verspielen einer bone rente würdig erwies, bis er schließlich, als der Winter einbrach, von Taverne zu Taverne, allegorice: Trambloi, Vile-poime, Froidure, Poverte und Famine, immer tiefer in Verderbnis geriet. Wie in diesem Fablel wird auch in einem florentinischen Text derselben Epoche die Auszeichnung, die nach der Konvention der Gattung der allegorische Weg und das auf ihm Erschaute für den Wanderer bedeutet, einem Unwürdigen zuteil. Es ist der Detto dei gatto lupesco, dessen Deutung in einer Kontroverse stecken geblieben ist. C. Guerrieri-Crocetti sah in ihm zuletzt (1952) die ernst gemeinte Allegorie einer Wanderschaft von tieferer religiöser Bedeutung: c che il pellegrino... possa essere l'uomo, la povera creatura terrena, ehe, armata di ferocia (Iupo) e di astuzia (gatto), compie il suo viaggio su questo misero mondo (il gran deserto), ove ciascuno vede nell'altro un nemico dal quale difendersi -; er nahm das Ziel des Kreuzes für das letzte Symbol einer Wahrheitssuche und glaubte, gestützt auf die Szene, in der seltsame Tiere dem Wanderer den Weg verstellen, von einer ersten Gestaltung der durch den Anfang von Dantes Inferno berühmt gewordenen Allegorie des camino della mia vita sprechen zu können 12. Dagegen hat Leo Spitzer geltend gemacht, daß dem Text eine durchgehend humoristische Absicht eigen sei, die es erübrige, nach einem verborgenen allegorischen Sinn zu suchen 11. Offen ist auch noch die Frage nach der Gattung, da der Detto zwar an einen vanto giullaresco denken läßt, den bekannten Stücken solcher Prahl reden aber nur stellenweise ähnlich ist 16. Unser Deutungsvorschlag bringt keine dritte Lösung, sondern sucht Spitzers Interpretation anders zu begründen. Sie stieß vornehmlich darum auf Kritik, weil Spitzer die humoristischen Züge der Darstellung auf eine psychologisch modernisierende Erklärung des Zwitterwesens gatto lupesco und dessen subtiler « Selbstanalyse - zugeordnet hatte 15. Was Spitzers Interpretationskunst im Kontext als Elemente eines versteckten Humors sichtbar zu machen wußte, bedarf indes nicht notwendig der Bezugsmitte einer freudianischen Bewußtseinsstruktur. Die von ihm gesehene humoristische Tonlage und Kompositionsform des Detto dei gatto lupesco wird vielmehr gerade dann 12. Gionrale ital. di fililogia 5 (1952) 19-32; die friihere Abhandlung findet sich in : R4ssegna bibI. delll2 leU. itl2lÜlnl2 22 (1914), 202-210. 13. 11 • Delto dei Gatto Lupesco -, in : RomaniscM Literaturstudien 1936-1956, Tübingen, 1959, 488-507. 14. G. CoNTIHI, nach dessen Ausgabe wir zitieren (Poeti dei Duecento, 11, 285-93, Milano/Napoli, 1960), wies zu Recht darauf hin, daß es sich um keinen \'a"to giullaresco im engeren Sinn, wie etwa dem von Ruggieri Apugliese, handeln könne und dachte eher an • una sarta di fatra.sie 0 di frottola (0 anche si pensi aUa filastrocca di Peire Cardinal Sei que fes tot cantes) fettolosamente risacita da un minimo fiJo di affabulazione - (ib., p. 284). 15. Cf. CoNTIHI, op. eit., p. 286; G. FOl.IINA, Rlzssegna del14 leU. ital., 61 (1957),
26>268.
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plausibel, wenn man den Befund seiner Beobachtungen in den Erwartungshorizont eines mittelalterlichen Lesers oder Zuhörers zuriickstellt. Dann läßt es sich erweisen, daß der Humor des Erzählers nicht freischwebend oder ichbezogen, sondern auf eine bestimmte Erwartung gerichtet war - auf das, was sich der Zuhörer nach seiner literarischen Kenntnis von der angekündigten und sodann unter verschiedene Vorzeichen gestellten Reise des gatto lupesco versprechen konnte. Und da der Erzähler diese Versprechen nicht erfüllt, vielmehr die Konventionen der Gattung spielerisch verkehrt, ist der Detto wenn nicht die Parodie einer uns unbekannten allegorischen Reise, so doch eine scherzhafte Behandlung oder Travestie der KompoDie so sitionsform und der berühmtesten Motive dieser Gattung. gegensätzlichen Interpretationen Guerrieri-Crocettis und Spitzers erscheinen in dieser Sicht nicht mehr ganz unvereinbar. Die erstere beschreibt den Horizont der allgemeinen, durch die Gattung bedingten Erwartungen des Zuhörers und gibt damit - sieht man von der Verwechslung von Erwartung und Erfüllung ab - den Rahmen zum historischen Verständnis von Spitzers Stilanalyse. Spitzer übersah bei seiner berechtigten Kritik an der Manie allegorisierender Interpretation lediglich, daß der Verfasser des Detto letztlich mit dem < verborgenen Sinn > der Reiseallegorie selbst sein Spiel getrieben hat. Die Erzählung des gatto lupesco ist durchgängig dadurch bestimmt, daß sein Weg unter Anzeichen einer transzendenten Bedeutung gestellt wird, die sich gegen die Erwartung oder überhaupt nicht erfüllen. Die Eingangsszene hat die konventionelle Funktion, den Aufbruch zur Reise und auch schon den Schritt in die andere Welt des allegorischen Wegs zu schildern. Anders als die namhaften Wanderer und Visionäre hat der gatto lupesco keinen Grund, eigens zu einem andare per 10 mondo aufzubrechen. Er ist weder ein kühner Ritter auf der Suche nach aventure, noch ein schuldbeladener Pilger, sondern bewegt sich durch seine Welt si com' altr' uomini vanno (v. 1). Er erscheint selbstzufrieden (trastullando, v. 5), während er - immer noch alltäglich - d'un mio amor gedenkt. Und wenn der nächste Vers das erste Signal einer bedeutungsschweren Wendung bringt: e andava a capa chino (v. 7), kann der Zuhörer noch glauben, daß diese berühmte Gebärde, die auch der Wanderer im Tesoretto angesichts des Desasters seiner Heimatstadt einnimmt (ib., v. 186 sqq.), hier noch von der Erinnerung an < eine seiner lieben> ausgelöst ist. Doch das Signal trügt nicht: der zunächst namenlose< Held> weicht gleich danach vom gewohnten Weg ab und gerät über den obligaten sentiero der profanen wie auch der geistlichen Aventüre unversehens aus seiner Jedermann-Situation in eine andere, heroische Welt! Bei der nun folgenden Evokation der Welt des Artusromans erinnert Spitzer zu Recht an die Episode des Perceval, in der die Erscheinung der fünf Ritter in dem Knaben das Verlangen erweckt, 16. Sm'zI!:R, ap. eil., p. 494.
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selbst Ritter zu werden 16. Doch diese bekannte Szene wird hier nur < zitiert>, um die traditionellen Rollen auf burleske Weise zu vertauschen. Denn während sonst der Neuling der Suchende ist und nach der Konvention des Ritterromans auch seinen Namen erst durch die Bewährung in der Aventüre finden kann, stellt sich unser < Held> gerade umgekehrt als einer vor, der seinen Namen selbst ausspricht, für seinen dunklen Sinn gleich eine Erklärung parat hat und damit prahlt, daß er die andem sofort durchschaue (Spitzer: , cogliere in flagranti '), wenn sie ihm nicht die Wahrheit sagen: Quello k'io son, ben mi si pare. 10 sono uno gatto lupesco, ke a catuno vo dando un esco, k.i non mi dice veritate. (vv. 14-17) Der gatto lupesco hat es offenbar nicht mehr nötig, für sich selbst die Wahrheit zu suchen, wie es die beiden Ritter taten, die von einer vergeblichen Suche nach dem verschwundenen König Artus (invenire / la veritade di nostro sire, v. 29 sq.) zurückkehren. Ein versteckter Spott über die Unglaubwürdigkeit der hinabgegangenen Artuswelt ist hier nicht zu verkennen. Die Ritter quittieren so viel Prahlerei denn auch damit, daß sie den überschlauen Ser gatto Gott empfehlen und den zweiten Namensteil (lupesco: ' ungestüm und abenteuerlustig wie der Wolf') ironisch unterschlagen (wenn Spitzers Deutung der Verse 35/36 nicht zu weit geht). Was aber mag unseren < Helden> dazu bewegen, seinen Weg fortzusetzen? Auf das profane folgt das geistliche Abenteuer. Mit der Erscheinung des Einsiedlers nel gran deserto (v. 45) rückt der weitere Weg unter das Vorzeichen einer veränderten allegorischen Landschaft, die am Ende durch das Kreuz als Ziel der Pilgerschaft des Lebens überhöht wird. Der gat to lupesco fügt sich indes mitnichten in die erwartbare Rolle des Pilgers. Er benimmt sich vielmehr wie ein neugieriger < Tourist>, wie schon Spitzer zeigte. Spitzers treffender Analyse des < Reiseprogramms > der Orte und Personen, über das sich der Pseudopilger vor dem Einsiedler verbreitet, haben wir nur das eine hinzufügen, daß der Effekt dieser Prahlrede nicht allein der überzeitlichen Komik jener< interessanten Punkte> der Weitsicht des Touristen entspringt. Der humoristische Effekt - sieht man die Szene im Kontext der Handlung - rührt nicht zuletzt auch daher, daß sich der gatto lupesco gerade da wie ein Tourist aufspielt, wo er sich nach der Konvention der benutzten Gattung wie ein Pilger verhalten müßte. Während sich sonst die Begegnung mit dem Einsiedler gemeinhin in der Reihenfolge: Einkehr, Lebensbericht mit SÜDdenbekenntnis, Absolution oder Buße und Wegweisung abspielt, geschieht im Detto nichts von alledem. Hier ist es vielmehr der pilgernde gatto lupesco, der die Rollen umkehrt, von sich aus den Einsiedler beim Abschied Gott empfiehlt, der erst auf Befragen vom Ziel seiner Reise berichtet und der schließlich, aber doch nicht ganz frei von Angst vor seiner eigenen Courage 17, auf einem eigenen, nur 17. Das zejgt auch der Umschlag aus der ehrfürchtig mitfühlenden Wiedergabe der Legende vom ' Ewigen Juden' in den furchtsamen Ausruf cosi ·cci gUllrdi Dio di guerra (v. 80; nach SPITZER, p. 498 sq.).
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der Katze zugänglichen Weg: per un sportello k'avea la porta (v. 85), sein Heil auf der weiteren Wanderung finden will. Doch die via scorta, der für am sichersten gehaltene eigene Weg, führt ins Dunkel, versetzt ihn in Angst, so daß er als uomo pauroso nunmehr zerknirscht zum Einsiedler zurückkehrt und ihn demütig um den rechten, d. h. den allgemeinen Weg fragt. Hier mündet die Erzählung in die christliche Allegorie von den zwei Wegen ein, die auch dem ersten Gesang von Dantes Inferno zugrundeliegt. Nun scheint sich der gatto lupesco ganz in die Pilgerrolle zu fügen: er folgt dem Weg onde va catuno pelegrino (v. 104) und muß ein diserto aspro e dura (v. 110) durchqueren, um zwn Kreuz, dem vom Einsiedler gewiesenen Ziel zu gelangen. Der gewitzte Zuhörer, der sich fragt, wie lange wohl der unheroische Held die ihm auferlegte Rolle durchzuhalten vermag, braucht indes nicht lange zu warten. Gleich die nächste allegorische Station, die Begegnung mit den symbolischen Tieren, die in hagiographischer Tradition oft die Nähe heiliger Stätten anzeigen, löst in dem frommen Pilger eine unerwartete Reaktion aus. Obschon ihr Anblick ganz dazu angetan wäre, selbst ein heroischeres Gemüt zu erschüttern (ke tutte stavaro aparechiate / per pugliare ke divorassero, / se alcuna pasfura trovassero, vv. 114-116), packt den gatto lupesco nurmehr eine hier ganz unangebrachte, unfromme Neugier und artet seine Schilderung in eine neue, dem< Reiseprogramm > ähnliche Prahlrede aus. Die komischen Effekte dieser< Schau> hat Spitzer schon in einer unübertrefflichen Analyse beschrieben 11. Stellt man seine Deutung in den Erwartungshorizont der allegorischen Reise, so gewinnt sie wiederum eine noch schärfere Pointierung: wo der Wanderer angesichts der symbolischen Tiere die Verkörperung von Lastern erkennen und auf seinen sündigen Zustand beziehen sollte 1', hat er nur Augen für die Sensation ihres Anblicks und gefällt sich darin, in seiner Erzählung unter die apokalyptischen Tiere in bunter Reihe selbsterfundene oder durch keine Tradition geheiligte Tiere einzumischen·. Ed io ristetti per vedere, per conoscere e per sapere ke bestie fosser tutte queste ke mi pareano molte alpestre.
(vv. 117·20)
Was unseren gatto lupesco dazu vermochte, sich auf den ungewöhnlichen Weg der Aventüre zu begeben, obschon er als unheroischer Held und unfrommer Pilger dazu keineswegs disponiert war, ist 18. Op. cit., p. 492 sq., 500 sq. 19. GUERRIERI-CROCEm (Filoloeilz rOmlUllG 3, 1956, p. 117) führt als ein Zeupis aus der schon auf die Bibelexeaese ZUlÜcklehenden Tradition dieser Allecorie Fazio decli Uberti, Ditt. 111, w. 19 sqq., an : il mondo l come un bosco I pien di serpenti e di fieri tuaimGli I e ci4.scun JIOrtG iswari4to tosco. 20. Cf. SPITZER, op. cit., p. 493 : • Si pub dunque dennare ehe i1 poeta si dilettava nella creazione verbale di nomi di animaJi fantastici ehe metteYa ciocosamente sul piano delle bestie apoc:a1ittiche tradizionali .•
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weder die religiöse Suche nach der Wahrheit noch das profane Verlangen eines andare per andare, sondern - wie sich erst am Ende enthüllt - die pure Neugier. Und da diese Neugier im Wesen des durch den gatto lupesco verkörperten < durchschnittlichen Menschen> ihre Grenze hat, weiß sie dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen, bevor es zum Schwure kommt: c la poesia che aveva cominciato con uomini vanno... per il mondo finisce con un borghese tomai a 10 mi ostello (questa era la sua maestria) .11. Aber auch diese Umkehr mit dem abrupten Schluß, bei dem der Erzähler seinen Zuhörern die angekündigten Sensationen seiner Reise ironisch vorenthält, gewinnt noch eine letzte Pointe, wenn man sie auf den erwartbaren Ausgang der Reiseallegorie bezieht. Die Allegorie der zwei Wege impliziert an sich das Erkennen des falschen Wegs und die Entscheidung für den rechten, der den Pilger nach der Bewährung oder inneren Einkehr vor den symbolischen Tieren zum Kreuz als Ziel seiner Pilgerschaft hätte fiihren müssen. Die Umkehr des gatto lupesco aber betrügt seine Zuhörer nicht allein um den erst am Ziel ganz enthüllbaren Sinn der Allegorie (meint das Kreuz nach der Legende vom Baum der Versuchung und Kreuzholz Christi das irdischt: Paradies ?). Sie ironisiert auch den allegorischen Sinn der beiden Wege. Der Christ muß sich auf seiner Pilgerschaft durch das Leben für den Weg zur Verdammnis oder für den Weg zur Seligkeit entscheiden. Tertium non datur. Nicht so für den Erzähler des Detto dei gatto lupesco, der uns augenzwinkernd versichert, er sei durch eigenes Geschick noch einmal davongekommen (Ma·ssl vi dico, per san Simone, / ke mi partii per maestria, vv. 138-139), und der es sich herausnimmt, seine Reise ganz unallegorisch an dem Punkt enden zu lassen, ke ·ffa bello.
III Mit der Minneallegorie haben die romanischen Literaturen des Mittelalters gewiß ihre originellste Schöpfung in der Tradition allegorischer Dichtung hervorgebracht. Die Minneallegorie tritt um 1200 gleichzeitig mit der ersten kodifizierten Minnelehre, De amore von Andreas Capellanus, in den Versionen der Altercatio Phillidis et Florae und in der allegorischen Canzone von Guiraut de Calanson hervor. Sie entfaltet im 13. Jahrhundert das Thema von der neuen Herrschaft des Liebesgottes in vielfältiger Gestaltung des paradisus amoTis, das Elemente der antiken Epithalamien in sich aufnahm, zugleich aber auch als eine Kontrafaktur des biblischen Paradieses und der christlichen Liebesmystik anzusehen ist. Im Gipfelwerk der Gattung, dem Rosenroman von Guillaume de Lorris, wird die Didaktik des tin' amor vollständig in eine poetische Welt inkarniert: der Traum des Dichters macht die innere Welt der Liebe, die in den personifizierten Leidenschaften und Normen der provenzalischen Lyrik unanschaubar blieb, 21.
SPITZER,
op. eil., p. 502.
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als allegorisches Geschehen im Vergier d'amor sichtbar. Die esoterische Doktrin der höfischen Liebe fand in der duplex sententia der Allegorik aber nicht allein das Medium ihrer Poesie des Unsichtbaren, sondern auch - das gilt in noch höherem Maße für die spätere AmorTheologie des Dolce stil nuovo - die esoterische Fonn einer SelbstdeutWlg, die sie vor Wlberufener Kritik zu schützen Wld die beanspruchte Dignität ihrer autonomen Ethik sinnfällig zu machen vermochte. Aus diesen Vorbedingungen der GattWlgsgeschichte 11 mag es sich erklären, warum sich in diesem Bereich zwar gelegentlich ein filigranartiges Element der lronisierung, aber keine vollständige Auflösung des Ernstes in Scherz, keine Travestie oder Parodie findet. Die Ironie rührt in den wenigen Beispielen, die hier zu behandeln sind, nie an die Substanz der Minneallegorie - an den spielerischen Ernst, den eine verfeinerte Gesellschaft für ihre Stilisierung der Frauenliebe forderte. Wo immer der Ernst dieses sublimen Spiels offen in Komik umschlägt, wird stets auch der Bannkreis der Gattung verlassen und kommt die primitive Fonn der Erotik unverhüllt, in der zynischen Ostentation des Fabliau-Tons, zum Vorschein -. Auch der bedeutendste Kritiker der Minneallegorie von Guillaume de Lorris, sein Fortsetzer Jean de Meun, hat sich nie des Mittels der travestierenden Komik bedient. Er hat vielmehr die Grenzen des tin 'amor nur durchbrachen, um die platonische Fiktion der Minneallegorie wie auch den erotischen Kommunismus der Vielle mit den gewiß ernst gemeinten Mythen und Mysterien der neuen Metaphysik der Natura zu überbauen. Und wenn es sein italienischer Nachahmer Ser Durante darauf anlegt, im Fiore die Entmystifizierung der höfischen Liebesreligion zu einem Endpunkt zu bringen, zeigt die Weise, in der er am Schluß die Allegorie der Rose in eine kaum noch verhüllte Beschreibung des Aktes der Deflorierung umschlagen läßt, daß dem Zynismus die Waffe der Komik versagt ist. Zu den ironisierten Motiven der Minneallegorie gehört vor allem ihr Eingang. Er hat seit Guillaume de Lorris meist die Gestalt eines im Frühling spielenden Traums; die Vision rechtfertigt zugleich den Anlaß des Dichtens, wenn nicht Amor selbst als die inspirierende 22. Siehe dazu GRLMA, vol. VI, tome 1, cap. C S (cf. Anm. 3.). 23. Wenn man mit P. NUROG im Fabliau seiner Funktion nach ein burlesk verkehrtes « ,enre courtois • sehen will, ist auff"älliJ, daa dort die schwankhafte Verkehrung von Situationen der höfisch idealisierten Liebe offenbar vor der Möglichkeit einer Travestie der Minneallegorie halt gemacht hat. Die Allegorie wird im Fabliau nur gelegentlich als partielles Stilmittel zur Verhüllung des Obszönen (metaphora continua), nicht aber als Darstellungsform verwendet. Eine gewiße Ausnahme bildet das Fahliau du C., des Jongleurs Gautier le Leu, ein virtuoses, schon auf den späteren sermon joyeux vorweisendes Stück, das dem gewitzten Leser eine scherzhafte Allegorese zumutet und ihn so schon lange vor der Enthüllung des Namens Conebers erraten läßt, was mit der Allegorie des allverehrten FeudaJherrn, seinen mirakulösen « Heilunaen ., seinem Kult, seJnem c Palast. Conin4e usw. semeint ist (cf. u jongleur Gt:wtier le Leu, ed. Ch. H. LIvINGS1ON, Harvard Univ. Press, 1951, 233-249). I
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Macht in Anspruch genommen wird. Der schon erwähnte Clerc de Voudoi hat es sich herausgenommen, das konventionelle Inspirationsmotiv in witziger Weise abzuwandeln. Sein nur in einem Bruchstück des Anfangs erhaltenes Fablel du dieu d'amour, d'ete et de mai 14 preist erst die Neuheit dieses Werkes an : es sei kurzweiliger als die zum überdruss gehörten Romane, Schwänke und Chansons de geste (Assez avez oy et contes et fabliaus / Et de cites abatre et de penre chatiaus, vv. 1-2) und besser als sein eigenes Fablel de Niceroles. Er sei auf ganz besondere Weise dazu inspiriert worden (vv. 9-12): Enz ou fons d'un hanap, a Provins, a la foire, Vit Ii elers mai escrit, si com iI voloit boire; I but tretot le vin, ce est parole voire, Puis a leues les letres qui li monstrent I'estoire. Der Topos der an ehrwürdiger oder versteckter Stelle gefundenen Quelle wird hier mit dem Dictum: in vino ventas vertauscht, die im Wein gefundene Wahrheit vorgeblich dem einem clerc zu Gebote stehenden Verfahren allegorischer Wortexegese unterzogen. Nach diesem vielversprechenden Anfang und in Analogie zum Fablel de Niceroles darf man wohl vermuten, daß der Verfasser auch weiterhin aus dem allegorischen Ernst in seinen scherzhaften Ton zuriickgefallen ist; sein hyperbolisches Versprechen: de dire un tel fablel DU nus ne s'aparelle (v. 14) könnte auch in diese Richtung weisen. Das neue Muster des ersten Rosenromans hat ein sonst unbekannter, literarisch geschulter und höchst origineller Autor, Messire Thibaut, in seinem Roman de la poire mit der seit der Mitte des 13. Jahrhunderts offenbar modischen Form des salut d'amour kombiniert %I. Das zu Unrecht vergessene Werk zeichnet sich durch eine Reihe von Besonderhei ten aus: eine dreifache Einleitung, in die eine Reihe von Portraits berühmter Liebespaare (Cliges und Fenice, Tristan und Isolde, Piramus und Tisbe, Paris und Helena) eingerückt ist, die Gegenüberstellung von Amor und Fortuna, Motive wie der Herzenstausch der Liebenden und die Nachtigall als Liebesbotin, und nicht zuletzt der Einfall, Paris als der Stadt zu huldigen, in der Amor geboren wurde, die Menschen heiterer, die Bürger frei und höflich und die Damen schöner seien als andeswo (vv. 1324-1385). Der Verfasser wußte auch den konventionellen Eingang der Minneallegorie glücklich abzuwandeln: erster Beweggrund seiner Liebe, der die ganze estoire zur Folge hatte, sei der Augenblick gewesen, als seine spätere Dame während einer Gesellschaft im Garten unter einem Birnbaum saß, eine Frucht ergriff, von ihr abbiß und sie ihm dann heimlich reichte. Diese Umdeutung des paradiesischen Sündenfalls bringt die unnahbare höfische Dame in die so unangemessene wie reizvolle Rolle der verführerischen Eva - ein heiter-ironisches 24. Ed. G. RAYNAUD, Ronumia, 14 (1885), 178-79. 25. Ed. F. S11OO.ICH, Halle, 1881.
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Abschweifen von der Norm, das in der sodann erst einsetzenden Fabel an mancherlei allegorischen Hindernissen natürlich erst wieder abgebüßt werden muß. Zeigten die bisherigen Beispiele, wie der allegorische Ernst in Scherz überführt oder von Ironie umspielt werden kann, so ist nun auch ein Fall zu erörtern, in dem Ernst und Scherz nebeneinander bestehen hlieben und nur durch Fäden einer Allegorese aufeinander bezogen wurden. Wir denken an die kastilische Razon de amor aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, deren Sonderstellung in der Minneallegorie wohl daraus zu erklären ist, daß sie an Traditionen der lateinischen Vagantendichtung anknüpft -. Der Autor, ein escolar, der auch juglareske Töne anzuschlagen weiß, hat eine Begegnung im Liebesgarten (amorosa visione) und einen Dialogus inter vinum et aquam kunstvoll miteinander verknüpft. Dem Scholaren kommt während der Stunde der Siesta unter dem ölbaum an der Quelle eine doncella entgegen, die ihn schon aus der Feme liebte; he mach belauscht er ein Streitgespräch zwischen Wasser und Wein, die sich schon zuvor im Garten befanden, während der Begegnung von Scholar und doncella auf übernatürliche Weise über der Liebesszene schwebten und - nach der Deutung von L. Spitzer - ihren höheren Sinn enthüllen sollen, nachdem eine Taube beim Trunk aus dem Wasser dieses mit Wein vermischt und den Streit der beiden Wesenheiten ausgelöst hat. Welchen höheren Sinn? An dieser Frage hängt die alte Crux der Forschung, ob der Text als eine mehr oder weniger geschickte Kompilation zweier Dichtungen, die unabhängig voneinander entstanden und der Gattung nach grundverschieden waren (amorosa visione und debat) oder aber als « un tout artistique complet » (Spitzer, p. 667) anzusehen ist. Nach Don Ram6n Ment~ndez Pidal, der auf die Einheit von Ort (Garten) und Zeit (Stunde der Siesta) hinwies, hat ,vor allem Spitzer versucht, die Einheit der Komposition an einem verborgenen Symbolismus zu erweisen. Der übergang von der amorosa visione zum debat sei Schritt für Schritt symbolisch motiviert: im Thema des Durstes, der buchstäblich und metaphorisch (Verlangen nach Liebeserfüllung) zu verstehen sei, in der Erscheinung der bei den Gefäße, die den Streit von Wein und Wasser präfigurieren und zugleich die Liebesszene umrahmen, in der Mischung von Wein und Wasser, mit der die Taube den Willen der duena dei uerto (d.h. der Venus) bekunde, « que les deux principes, l'eau (= chastet~) et vin (= jouissance), se melent » (p. 675) und schließlich im gleichlautenden Sinn des debat, der zur Einsicht in die Vereinbarkeit beider Prinzipien führe: « En tout cas, l'harmonie des contraires est retablie ici comme lla fin du premier ~pisode » (p. 678). Dagegen hat Mario 26. Ed. R. ~ Pmu., RH 13 (1905), 602~18, und ed. M. 01 PlN'IO, Pisa, 1959 (Studi e Testi, 17); dazu J. H. HANFORD, The me4i1uval debate betwtum Wiru and Water, in Modem Laneuaee AssocÜJtion, 28 (1913), 31~7; A. JACOB, Hispanic Review 20 (1952), 282-301, und L SPITZER, op. eit., 664-682.
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di Pinto mit guten Gründen geltend gemacht, daß Spitzers Interpretation zwar den verborgenen Sinn des ersten Teils aufdecke, nicht aber die durchgängige Einheit einer allegorischen Intention rechtfertigen könne. Vor allem deshalb nicht, weil der Ausgang des debat keineswegs die Mischung von Wdn und Wasser empfehle, sondern bei der Moral der lateinischen Vorlage Denudata veritate verbleibe: non sociari debent, immo separari, quae sunt adversaria (p. 72). Gleichviel, ob man den Debat mit Menendez Pidals als eine Digression der amorosa visione, oder ob man mit J. H. Hanford die letztere als einen Einschub in die Vorgeschichte des debat betrachte (wozu er selbst neige), bleibe doch eine Diskrepanz zwischen den beiden Teilen bestehen, für die er nur eine pragmatische Erklärung habe: « Per logica deduzione, iI contrasto che segue potrebbe accettarsi come una glossa, una reminiscenza richiamata dalla situazione preceden te : a proposito dell'acqua edel vino, il giullare conosce anche quest'altro componimento e 10 dice all'uditorio » (p. 74). Der Einwand von M. di Pinto enthält einen unerkannten Ansatz, die Einheit der Razon de amor neu zu begründen, nicht im modemen Sinn einer Kontinuität der symbolischen Motivation, dafür aber im mittelalterlichen Sinn der Beziehung von Text und Glosse, die durchaus eine Inkonsistenz der Motivation zu überbrücken vermag. Wenn sich amorosa visione und debat wie Text und Glosse verhalten, ist die letztere keineswegs an den literalen Sinn des ersteren gebunden. Vielmehr ist es die Aufgabe der Glosse, das Verständnis des Textes durch die < Unterscheidung > des verschiedenen Wortsinns (distinctionesJ, bzw. durch die allegorische Interpretation der proprietates einzelner Dinge zu bereichern. Im Falle der Razon de amor erfordert der Text geradezu eine Glosse, weil sein Literalsinn Elemente von dunkler Bedeutung enthält: wer ist die unsichtbar bleibende duena des Gartens? wer ist ihr Freund, dem sie das Gefäß mit Wein zubereitet hat? warum kann der Scholar im Garten nicht selbst zwischen den bei den Gefäßen wählen? was bedeutet die Taube, die ein geheimnisvolles Attribut - eine kleine goldene Schelle, die ihr an den Fuß gebunden ist - auszeichnet ? Diese Fragen betreffen allesamt die allegorische Szenerie, die die Liebesbegegnung von Scholar und doncela mit Zeichen einer übernatürlichen Welt umrahmt. Die beiden Sphären sind offensichtlich so aufeinander bezogen, daß die übernatürliche Erscheinung einen Schlüssel für das auch unmittelbar verständliche Geschehen der amorosa visione enthält. Der Verfasser hat abweichend von der Konvention der erst am Ende entschlüsselten Allegorie sogleich Fabel und Deutung nebeneinander gestellt, ihre Beziehung ironischerweise aber doch wieder offen gelassen, so daß sein Publikum zunächst nur Mutmaßungen anstellen kann. Eine widerlegbare Mutmaßung Spitzers bestätigt aber, daß die beiden Sphären bis zum debat streng geschieden bleiben. Spitzer wollte auch der doncela eine allegorische Bedeutung zuerkennen, indem er sie als Trägerin einer Mission, wenn
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nicht gleich als Emanation der Venus, auslegte". Diese Auslegung stößt sich indes an dem Umstand, daß der Scholar in der doncela eine aus der Feme geliebte amiga erkennt, der er schon lange vor der Begegnung im Garten Geschenke zugeschickt hatte. Sie erscheint nicht als allegorische Figur (der man schwerlich Handschuhe und ein neues Hütchen schenken könnte ... ), sondern wird als eine durchaus irdische, an Liebespfändern erkennbare amiga (vv. 116-125) eingeführt, die der Scholar ohne höfische Hindernisse in die Arme schließen kann. Dieses Ereignis steht im ironischen Kontrast zu der höfischen Tradition der Minneallegorie. Denn weder die Absicht des von seiner Siesta erfrischten Scholaren: e quis cantar de tin amor (v. 55) noch auch die cantiga des Mädchens, das erst noch seine Liebe aus der Feme beklagt, lassen erwarten, daß gleich die erste Begegnung aus der Idealität des fin'amor und amor de lonh in die sinnenhafte Realität der Liebesvereinigung umschlägt. Dieser ironische Umschlag korrespondiert nun aber gerade mit der Art und Weise, wie der Verfasser von der Episode mit der Taube zum debat zwischen Wein und Wasser übergeleitet und diesen als Glosse auf die amorosa visione bezogen hat. Das Publikum, das auf die Lösung der offenen Fragen gespannt ist und von dem nun einsetzenden übernatürlichen Geschehen die Enthüllung des allep rischen Sinns erwartet, wird zunächst durch einen Wechsel des Tons überrascht. Der ironische Dichter, darin ein echter Nachfahre des übennütigen Geistes der tamilia Goliae, hat für die Deutung der im feinsten höfischen Stil erzählten amorosa visione eine Glosse gewählt, die den derbsten Ton einer « buffonerfa callejera. anschlägt, so daß der erwartete höhere Sinn der Allegorie nunmehr gerade im unangemessenen Gewand eines niederen und burlesken Stils ausgesprochen wird. Dem ironischen Umschlag des Tons folgt eine nicht weniger ironische Lösung des Gegensatzes von Wein und Wasser, Sinnengenuß und Keuschheit. Während auf der natürlichen Ebene der amorosa visione die Liebesbegegnung von Scholar und doncela den Gegensatz der beiden Prinzipien praktisch aufhebt, vollzieht sich auf der übernatürlichen Ebene des debat der umgekehrte Prozeß. Die Lösung der Liebenden, durch die Taube auf der höheren Sinnebene reproduziert, bringt dort den Streit über das höhere Recht von Wein und Wasser erneut in Gang, der im debat erst in der alltäglichen, dann in der sakralen Sphäre durchgespielt wird, ohne ein Ende zu finden. Auch wenn wir nicht wissen. was in der Lücke des Manuskriptes nach Vers 259 stand -, ist doch kaum daran zu zweifeln, daß TI. Op. eil., p. 673 mit Anm. 2.
28. Meine Interpretation würde nicht entscheidend beeinträchtigt, wenn in dieser Lücke nur eine Fortsetzung des d~bQt, nicht aber die Lösung der noch otfengebliebenen Fragen zur amoroSQ visione gestanden hätte. Denn es sc:beint mir mit M. DI PINlO unzweifelhaft, daß der Verfasser zwei heterogene Vorlqen oder Gattunpmuster kombiniert bat, nach meiner MeinUDI mit einipm Witz, was Diebt ausschlie~t, dall er sieb um den unaelösten Rest der AIleaorie Diebt mehr kümmerte.
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der debat keine Lösung zu Gunsten von Wein oder von Wasser allein bringen konnte, sondern ihre beiderseitige Autonomie gegen ihre Mischung und damit gegen die einfache Lösung der Liebenden wiederherstellen mußte. Wenn es sich so verhält, bringt die Glosse in diesem Fall eine ironische Korrektur des Textes, die der Dichter am Ende aber selbst wieder in die Schwebe bringt, wenn er implizit zu verstehen gibt, daß er angesichts des unentscheidbaren Konflikts zwischen Wein und Wasser, Sinnengenuß und Keuschheit, für seine Person indes Wein dem Wasser vorziehe: Mi razon aqui la fino, e mandat nos dar vino. Qui me scripsit scribat, semper cum Domino bibat, (vv. 260-64) Lupus, me fecit, de Moros. Als letztes Beispiel für nicht mehr leicht erkennbare Ironie in allegorischer Dichtung des Mittelalters sei noch ein letzter Ausläufer des Bestiaire d'amour angeführt 21. Die geistliche Tradition der Bestiarien ist schon früh als Beispielrepertoire für die Lyrik ausgeschöpft worden. Es war vor allem der Trobador Rigaut de Berbezieux, der mit seiner berühmtesten Canzone Altresi con l'orifans das Muster einer neuen literarischen Manier geschaffen hat, die bei provenzalischen wie später auch bei italienischen Dichtern große Nachfolge fand. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verschmolz Richart de Fornival die geistliche und die profane Tradition zu seinem Bestiaire d'amour, einem Werk, das die philologische Kritik bis zu der jüngsten. den Zugang erschließenden Würdigung durch C. Segre für abstrus hielt, obschon ihm eine erstaunliche Nachwirkung beschieden war. Richart hat den allegorischen Gehalt, aber auch den poetischen Reiz der so seltsam vielfältigen matire des geistlichen Bestiariums zum ersten Mal vollständig der weltlichen Liebeskasuistik dienstbar gemacht: die 57 Exempla stellen in einer ständigen Verkettung von geistlichem Symbol und lyrischer Exegese die Beziehung von Dichter und Dame als eine mögliche Minneaventüre dar. Wird schon hinter dieser allegorischen Maskerade immer wieder die versteckte Ironie des literarisch hochgebildeten cancellarius von Amiens spürbar, der mit dem Zeremoniell der abgelebten höfischen Konventionen sein Spiel treibt lO, so gilt das in noch höherem Maße für das formal und inhaltlich ungewöhnliche Gedicht 11 mare amOTOSO eines unbekannten Zeitgenossen Chiaro Davanzatis und Brunetto Latinis SI. Es ist von V. Cian als Satire oder Parodie der Manier der Tiersymbole, von G. Bertoni hingegen als < formulario amoroso > und Beispiel einer ars dictandi verstanden worden. Das Werk ist indes weder ausdrücklich satirischen noch rein didaktischen 29. Siehe dazu GRLMA, vol. VI, tome 1, ap. C 2 (cf. Anm. 3). 30. Cf. C. SIIGRB, ed. Richart de Pornival : u butiaire d'amou,., Milano/Napoli, 1957. p. xiv sq. 31. Ed. G. CoNTINI, Poeti dei Duecento, I. 483-500; dort die weitere Literatur.
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Charakters, wie wiederum L. Spitzer zeigte. Seine Deutung erläutert den poetischen Effekt der bunten Verkettung von Tiersymbolen, von Exempla und Romanzitaten am Prinzip des Kaleidoskops : im unaufhörlichen Wechsel der heterogenen Bilder gehe die Vorstellung der geliebten Dame immer neue Beziehungen mit den Dingen des Universums ein, deren summa werde zum Spiegel ihrer Vollkommenheit, die Gesamtbewegung in der strophenlosen Versgestalt zum Ausdruck der Idee des Unendlichen einer Liebe, ehe tanto eresee ehe non truova fine (v. 315) a. Diese poetische Grundidee hat Spitzer indes übersehen lassen, daß der hohe Ernst der Liebesallegorie (. e chiaro che iI tono dei Mare amoroso e seriissimo -. p. 511) immer wieder durch Stilmittel der Ironie gebrochen wird. Dazu gehört die oft ins Groteske umschlagende Hyperbolik der Vergleiche. wie etwa dort, wo der Dichter von der Geliebten sagt. sie wisse ihn mit ihren Armen in einen so sicheren Kreis einzuschließen, daß er sich fühle ehe I' negromante al eerehio de la spada (v. 129). Dazu gehört ferner die burleske Oberbietung, wenn er etwa angesichts der Schönheit seiner Dame erst wie ein Schmetterling in der Flamme verbrennen, dann aber - in genau umgekehrter Assoziation - wie der Salamander Tag und Nacht im Feuer leben will und darauf gleich wieder des Narziss gedenkt. den ihr Anblick gewiß davon abgebracht hätte, sich in sein eigenes Spiegelbild zu versenken (w. 76-89). Dazu gehören schließlich die Beispiele einer spielerischen Profanierung der mystischen Liebe: daß er wie der Sünder sein Paternoster Tag und Nacht bete: Piu v' amo, dea, ehe "on faecio Deo, / e son piu vostro assai ehe non son tneo (w. 44-47) oder daß er schwört, er wolle, wenn sie ihn nicht gnadenvoll anblicke, eine fellonia si erudele begehen. daß Himmel, Sterne und Sonne mit allen Anzeichen des Jüngsten Gerichtes zusammenstürzen würden (w. 302-310). Gewiß ist Spitzer nicht zu bestreiten, daß die bloße Häufung von Vergleichen berühmter Herkunft auf den mittelalterlichen Leser nicht komisch habe wirken müssen~. Wenn aber diese Vergleiche ihre Vorbilder ständig ins Unglaubliche überbieten und wenn ihre Abfolge die summa der für sich vollkommenen Dinge des Universums in einer bizarren Verkettung erscheinen läßt, muß auch der lyrische Ernst als ein virtuos gespielter Ernst wirken, den der moderne Leser mit den Versen des Mephistopheles aus Goethes Faust zu kommentieren versucht ist: So ein verliebter Tor verpufft Euch Sonne. Mond und Sterne Zum Zeitvertreib dem Liebchen in die Luft. Für den mittelalterlichen Leser. der den Text vor dem Hintergrund einer noch aktuellen literarischen Tradition sah, dürfte 11 mare amoroso eher noch reicher an ironischen Beziehungen gewesen sein. 32. Op. eil., ~S34. 33. Op. cit., p. 511.
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ERNST UND SCBBRZ IN IIInBLALTBRUCRBR ALLIIGORIB
451
Denn der Dichter ist noch einen Schritt über Richart de Fornival hinausgegangen und hat eine ausdrückliche Voraussetzung der Gattung Besliaire d'amour: die Partizipation des Liebenden an der höheren Bedeutung der Tierfiguren, in Zweifel gezogen. Wie wenn sich das Staunen des Lesers über die bizarre Verkettung der alles Herkömmliche überbietenden Vergleiche schließlich auf ihren Urheber übertragen würde, läßt der Dichter nach der Evokation der Barke Merlins - in der man den Gipfel des Werks sehen kann - das lyrische Ich zum ersten Mal eine Frage stellen, die seine lyrische Situation von der höheren Welt der Symbole abrückt, als handle es sich um eine nur geträumte, unel'reichbare Realität: Ma poi eh'i' non mi senlo tal natura, ehe faraggio? (v. 234). Mit dieser Frage, die noch zweimal wiederkehrt (vv. 263 sq., 274), ändert sich für den Leser das Vorzeichen des Verstehens. Er wird von nun an im Mare amoroso nicht allein die von Spitzer herausgehobene poetische Idee des amore ehe ~lon truova fine sehen. Er wird von nun an auch ihre ironisch signalisierte Unwirklichkeit begreifen und dann in den letzten Vergleichen zugleich den Ton des höchsten lyrischen Ernstes und seine groteske Entwirklichung genießen können: im Untergang des Dichters auf dem ' Meer der Liebe', der seiner schuldigen Geliebten a simiglianza di Giuda giudeo für immer den Namen Giudea einbringen müsse und der für den agIlisa di Thomas vielleicht ungläubigen Leser durch ein Epitaph bezeugt werden könne (vv. 316-334). So erscheint 11 mare amoroso nicht allein als ein letztes, ironisches Echo der Kasuistik des Bestiaire d'amour, sondern zeigt mit seiner neuen, nach dem bisherigen Gesetz der Gattung illegitimen Frage und mit der praktisch vollzogenen Auflösung der allegorischen Sageweise in poetische Fiktion auch schon einen anderen Begriff von Dichtung an, der der Allegorie als spezifisch mittelalterlicher Denk- und Stilform ein Ende setzen sollte.
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VII.
BRUNETTO LATINI ALS ALLEGORISCHER DICHTER
Das Werk, das die große epische Form der Allegorie von Frankreich nach Italien brachte, das platonische Gedankengut der Schule von Chartres weitertrug und in der Toscana eine neue Tradition lehrhafter Dichtung in allegorischem Gewand eröffnet hat: der zwischen 12.61 und 12.66 entstandene Tesoretto des im französischen Exil lebenden Florentiner Notars Brunetto Latini, fristet in der literarhistorischen Forschung immer noch ein SchattendaseinI. Das ist zunächst gewiß darauf zurückzuführen, daß der Nachruhm Brunettos als Verfasser des Livres dou Tresor, einer Enzyklopädie im französischen Volgare, die das Wissen der Zeit zum erstenmal ausdrücklich an Laien vermittelte, und als sommo maesuo der Rhetorik, der die Florentiner nach dem Zeugnis Giovanni Villanis zuerst in der Kunst der öffentlichen Rede, des höheren Kanzleistils und der politischen Theorie unterwies~, die Bedeutung seiner allegorischen Dichtung fast ganz verdunkelt hat. Die neuere Forschung hat diese Ruhmestitel eines cominciatore nur bestätigen können, indem sie zeigte, daß Brunetto Latini in der Tat den in der Kanzlei Friedrichs 11. ausgebildeten stilus altus in Florenz einführte, die Lehre der öffendichen Rede und der Staatsschrihen mit dem Unterricht in der Politik und Ethik verband und sowohl durch die Vulgarisierung von Reden Ciceros und seiner Schrift De inventione wie auch durch eine aIS dictLUninis im Volgare und vor allem durch seine weitverbreitete Summa des Tresor, die statt der Theologie nunmehr die für das politische Leben der Commune wichtigen Wissensgebiete in den Mittelpunkt stellte, den ersten Grund für eine höhere und selbständige Bildung der Laien gelegt hat3• Wenn demgegenüber Brunettos Leistung als cominciatore der allegorischen Dichtung in italienischer Sprache verblaßte, ist daran das erste Zeugnis seines Ruhms, Dantes Huldigung an seinen "väterlichen Freund und Lehrer.. im 15. Gesang des Inferno. nicht unbeteiligt. 47
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Denn die letzten Worte, die Dante dem für immer scheidenden ser Brunetto in den Mund legte: siete raeeomandato il mio Tesoro nel qual io vivo aneora, e piu non eheggio Iv. II9- I2O) lassen für uns die Frage offen, ob mio Tesoro das frühere lursprünglich von Brunetto selbst so benannte) allegorische Versgedicht oder das spätere Idort als gran Tesoro angekündigte) enzyklopädische Prosawerk bezeichnete, das zur Zeit Dantes auch in der italienischen Obersetzung bekannt geworden war, oder ob mio Tesoro - was nicht von vornherein ausgeschlossen werden darf - etwa beide Werke ITesoretto und Tresor) meinte, als zusammengehörige oder aufeinander bezogene Teile einer nur für uns nicht mehr evidenten Einheit. Sicher ist, daß dem Versepos erst in späterer Tradition der neue Titel 11 Tesoretto gegeben wurde, um es als .. kleinen Schatz .. vom .. großen Schatz .. des weitaus berühmteren, in mehr als 40 Handschriften auf uns gekommenen Tresor Ibzw. Tesoro) zu unterscheiden4 • Die Diminutivform des neuen Titels konnte in der Folgezeit leicht als von Brunetto selbst beabsichtigter Rangunterschied mißverstanden werden und hat wahrscheinlich dazu beigetragen, daß der Tesoretto heute vielfach als eine bloße Vorstufe, als poetischer Kommentar oder italienischer Auszug des Tresor angesehen wirds. Dem Verständnis des Textes, der bisher immer nur zu Vergleichen herangezogen, aber noch nicht selbständig untersucht wurde, standen indes noch andere Vorurteile der modemen Kritik im Wege. Der Tesoretto geriet seit De Sanetis 11870) in den Verruf eines hybriden Gebildes zwischen Wissenschaft und Poesie, das dem plumpen Ver-. such entsprungen sei, einen Berg unverarbeiteten Wissens geradezu in Verse umzusetzen (Quella sua encic10pedia non e che prosa rimata6 ). Auch die scheinbar objektive Methode des Quellenvergleichs gelangte zu keinem günstigen Ergebnis: gemessen an der schon so verfeinerten Kunstform des Roman de la Rose erschien F. Benedetto (1910) der Tesoretto als eine unbeholfene Nachahmung, die alle Schwächen eines ungenialen Dichters verrate7 • Noch weniger hielt der Tesoretto den Vergleich mit der Jenseitswanderung in der Divina Commedia aus: auch dort, wo man das Vorbild Brunetto Latinis ernstlicher als eine mögliche Quelle der Inspiration Dantes erwog, wurde dem problematischen »Vorläufer .. vorsorglich bescheinigt, daß er ·kein schöpferischer Geist und sicher ein schlechter Dichterer gewesen sei8• Die schärfste Kritik an dem mediocrissimo poeta9 findet sich in Vosslers
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Dante-Buch I~I92.51. Sie sei hier ausführlicher ZIttert, weil sie die Voraussetzungen und Folgen einer älteren, darum aber keineswegs schon .. überwundenen .. wissenschaftsgesdlichtlichen Position in beispielhafter Klarheit vor Augen führt und damit wohl am besten die Notwendigkeit einer Revision der bisherigen Urteile einsichtig machen kann: »Aber es waren nicht die Guittonianer allein, die den Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft, Poesie und Prosa verwischten. Dantes Lehrer selbst: Brunetto Latini, der Florentiner Notar, tritt uns als erschreckendes Beispiel einer unbekümmerten Stillosigkeit entgegen. Er preßt den wissenschaftlichen Inhalt seiner französischen Enzyklopädie in einförmige italienische Verse. Was nicht in den Reim paßt, läßt er in Prosa liegen. Man kann sich schwerlich ein roheres Durcheinander von Kunst und Wissenschaft vorstellen als Latinis Tesoretto. Die allegorische Einkleidung ist nur Vorwand, ist ein eilfertig errichtetes Holzgerüst, von dessen Höhe der Verfasser all seine Kenntnisse wie einen Kartoffelsack über uns ausschüttet. Er will, gleichviel auf welche Art, seine Wissenschaft los werden. Guittone und dessen Schule verraten wenigstens in ihrem Ringkampf mit der Sprache und in ihrer Jagd nach neuen Ausdrucksmitteln einen ehrlichen Willen zur Kunst. Brunetto dagegen entlehnt, durchaus gedankenlos, sein poetisches Gewand aus der großen allegorischen Maskengarderobe des Mittelalters. Bald holt er den Schmuck seiner Personifikationen aus der Consolatio des Boethius, bald aus dem Planctus Naturae ad Deum und aus dem Antic1audianus des Alain von Lille, bald aus dem Rosenroman des Guillaume de Lorris, und dazwischen hinein mengt er, ohne übergang, ohne Vermittlung, ohne ersichtlichen Grund, seine eigenen Erlebnisse und vorzugsweise seine politischen überzeugungen. Sein Bestes hatte er in dem großen französischen Tresor gegeben. Nun leiert er wie ein zerstreuter Schulmeister das Wichtigste seiner Kenntnisse in gereimter Vergröberung vor einem weniger gebildeten toskanischen Leserkreis ab. Es scheint ihm selbst so wenig an der Sache gelegen zu sein, daß er sie nicht einmal zu Ende führt 'o ... Es liegt auf der Hand, daß die Kriterien, nach denen Vossler den Tesoretto als ein .. elendes Machwerk .. abfertigte, weder der erklärten Absicht und gewählten Form des Werkes noch der Kunstauffassung und Lehre von der Zweckbestimmung des Schönen einer Epoche entsprechen, der die Scheidung von poesfa und non-poesla wesensfremd war". Auf die historischen Gründe, warum Vossler (und bis heute noch die Croce-Schulel diese Unterscheidung für zeitlos gültig halten konnte, ist hier nicht einzugehen; es genügt, darauf hinzuweisen, daß sie als unerkannte Vorentscheidung selbst wieder eine historisch be-
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stimmte Kunstauffassung: die Erlebnisästhetik der Romantik und die Ächtung des Didaktischen durch das L' Art pour l' Art, methodisch verewigt und bezeichnenderweise auch schon - wie aus den zitierten, fast gleichlautenden Urteilen Oe Sanctis und anderer hervorgeht - von der nationalen Literaturhistorie und vom Positivismus vorausgesetzt wurde. Positivismus und Idealismus in der Literaturwissenschaft teilen hier dasselbe Vorurteil gegen die Kunstauffassung und den Stilbegriff des Mittelalters! Die Berechtigung seiner Frage nach dem ästhetischen, besser gesagt: literarischen Rang des Tesoretto soll Vossler indes nicht bestritten werden. Zu bezweifeln ist nur, ob die Maßstäbe seiner Kritik überhaupt die Gestalt des vorliegenden Textes fassen und nicht vielmehr eine Erwartung beschreiben, die dieser Text nicht erfüllen konnte. Aufschlußreich ist an dieser Kritik nicht so sehr, was Vossler im Tesoretto an -Stillosigkeiten.. auszusetzen fand, sondern das, was er suchte: Reinheit des Stils, Einheitlichkeit des Stoffes, einsichtige Motivation der Fabel, Wahrung eines harmonischen Maßes in den Proportionen der Darstellung, vor allem aber Einheit von Form und Inhalt, Gestalt und Bedeutung. Der Tesoretto in Vosslers Beschreibung ist ein Zerrbild des Ideals klassischer Kunst: er illustriert hier gleichsam, wohin es führen müsse, wenn ein Dichter gegen das klassische Prinzip verstößt, daß -die Form den Stoff vertilgen solle... Die AllegOrie im besonderen widerspricht, da sie auf der Inkongruenz von Gestalt und Bedeutung beruht, dem klassizistischen Kunstgeschmack, der hier ganz unverkennbar als uneingestandene Voraussetzung der ästhetischen Unterscheidung zwischen Poesie und Nicht-Poesie, interesseloser Kunst und belehrender Literatur zum Vorschein kommt. Für die folgende Betrachtung ergibt sich daraus die methodische Folgerung, von solchen Erwartungen abzusehen und zu untersuchen, ob die gerügte Stillosigkeit nicht in einem anderen Lichte erscheinen und vielleicht auch der Tesoretto .. ästhetisch .. genießbarer werden kann, wenn man gerade umgekehrt die allegorische Unterscheidung zwischen Gestalt und Bedeutung, Erscheinung und Wesen zum Maßstab des Urteils erhebt. Für diese Absicht erscheint es zweckmäßig, den Gang der Untersuchung in eine stilistische und eine historische Perspektive zu teilen, d. h. erst einmal Eigenart und Sinn der allegorischen Form des Tesoretto zu beschreiben, um von der Grundlage eines neuen Textverständnisses aus sodann die Frage nach Vorbildern und Selbständigkeit Brunetto Latinis wieder anzuschneiden. Der Leser des Tesoretto steht bald unter dem Eindruck, der sich bis zum Ende des Textes noch verstärkt und auch durch ein vertieftes Studium nur bestätigt werden kann, daß sich die wechselnde allego-
so
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rische Szenerie offenbar nicht zu der anschaubaren Einheit und gestuften Ordnung einer allegorischen Landschaft zusammenfügen will. So kehrt etwa der Wald, obwohl er als Durchgangsort zum Jenseits im Mittelpunkt der Darstellung steht, mehrfach in topographisch unersichtlichem Zusammenhang wieder, so daß man sich nicht vorstellen kann, wie sich das Ganze der Jenseitslandschaft durch diese übergänge gliedern soll und ob es sich am Anfang und am Ende noch um denselben Wald handeltu. Der Eindruck unvermittelter übergänge wird durch das Durcheinander realer IRoncevaux, MontpellierJ und irrealer Örtlichkeiten noch verstärkt. Nicht selten verschwindet auch die Vorstellung eines Ortes der Handlung überhaupt, wie etwa beim Abschied seI Brunettos von NatuIa'J oder während der Belehrung durch die vier höfischen Tugenden. Allein die Figur des Wanderers bleibt in dem kaleidoskopartigen Wechsel der Szenen konstant. Das läßt vermuten, daß sich für seI Brunetto alles Geschaute in einem besonderen Sinne verbindet, der für uns nicht sogleich offen zutage liegt. Diese noch verborgene Verbindung stiftet aber gewiß keine anschaubare räumliche Einheit. Die Figur des Wanderers vermag durch ihren Weg allein den fehlenden, besser gesagt: nicht beabsichtigten Zusammenhang einer Landschaft der .. anderen Welt" nicht herzustellen. Der Tesoretto ist nicht schon, wie Georg Hees, verführt durch trügerische Parallelen, im vorläufig letzten Versuch eines Vergleichs erweisen wollte, .. eine Jenseitsreise im Sinne der Divina Commedia" 14. Das wird am besten deutlich, wenn man das Bild der Reise und die Figuration des Weges durch den Text hindurch verfolgt. Vom Weg des Wanderers ist ausdrücklich an fünf Stellen des Textes die Rede. Es sind zugleich die Wendepunkte der allegorischen Fabel: I. Nachdem ser Brunetto in der Ebene von Roncevaux die Unglücksnamricht von Montaperti ereilt hat, verliert er in seiner Benommenheit den gran cammino und gerät a 10 tlaversa in einen seltsamen Wald Iselva diversa, V.I90)·
Als er das Reich der Natura verläßt, bringt ihn seine göttlime Lehrmeisterin mit ihren Absdliedsworten offensichtlim wieder auf den .. rechten Weg-: guarda ehe 'I gran cammino non tomi esta semmana, ma questa selva piana, ehe tu vedi a sinestra, cavalcherai a destra.
2.
Ivv.
I I 34-11 38)
Der weitere Weg soll zunächst redlts an einem Wald vorbeiführen, der als selva piana offenbar unter einem der früheren selva divelsa entgegengesetzten Vorzeimen steht. Natula weist aber aum smon auf besondere Mühen dieses Weges hin Iv. 1139), warnt vor der Unsimerheit der PortuD4 Ich.! non ha certa via, v. lISI) und stattet ihn für die bevontehenden duri
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passi Iv. I I 62.1 mit einer Art von Amulett aus. In welcher Beziehung aber steht selva piana zu dem angekündigten mühevollen Weg~ Und was hat es zu besagen, daß der Wanderer sodann statt des erwarteten gran cammino einen sdunalen Pfad lun sentielO stretto, v. II841 vorfindet, der sich in eine weglose, völlig leere Einöde verliert Idov'io non trovai eerta I n~ stracUJ n~ sentero, vv. II9Q-l.I911, aus welcher er am dritten Tag wie durch einen Zufall durch ein dunkles Tal in das Reich der Tugenden gelangt~ 3. Um schließlich das Reich Amors zu erreichen, schlägt ser Brunetto wieder .. den Weg nach rechts .. Iv. :1182.1 ein, der dieses Mal - in erneuter Entgegensetzung zu dem paese felO Iv. 11911 vor dem Reich der Tugenden nun aber durch eine Mailandschaft führt. 4- Die Flucht aus dem Reich Amors stellt sich so dar, als ob ser Brunetto durch die Kunst Ovids erst wieder seinen Weg gefunden hätte Isi eh'jo trovai la via I com'io mi trafugai, vv. 2.392.-2393!. Wo aber soll er ihn verloren haben? Davon war nirgends ausdrücklich die Rede. Und warum verläuft der wiedergefundene Weg nun plötzlich durch eine reale Landschaft und ausgerechnet nach Montpellier Icf. vv. 2.394, 2.S41!? s. Nach abgelegter Beichte kehrt seT Brunetto auf seinen Weg zurück Iv. 2.881 sq.1. als ob es ihm freistünde, die Reise nach seinem Belieben fortzusetzen, das Programm der NatuTa abzukürzen lauf die zunächst vorgesehene Station der Portuna legt er nach der Beichte keinen Wert mehr, v. 2.891 sq.1 und den Wald - man sieht nicht wo - selbst aufzusuchen, den er dieses Mal geradezu bis zum Berg Olymp durchquert Iv. 2.893 sq.!.
Obschon Brunetto Latini den sonst immer allgemein Ivia mit bestimmtem Artikel!l verstandenen Weg schon einmal ausdrüddich lmit possessivuml als einmalige Reise bezeichnet Icontar mio viaggio, v. 11971, unterscheidet sich der Tesoretto sehr auffallend von den vergleichbaren Traditionen der Jenseitswanderung. Im Espurgatoire Saint Patrice oder im Songe d'Enfer und seiner Fortsetzung, dem Songe de Paradis, macht der Weg des Wanderers die jenseitige Welt kontinuierlich in ihrer Stufenordnung anschaubar. Auch in der höfisch-weltlichen Allegorie des Roman de la Rose geht die Vorstellung nie verloren, daß der amant das Reich Amors auf einem gerichteten, an keiner Stelle zufälligen Weg durchmißt, dessen Stationen IFluß, Mauer, Pforte, Garten, Narzißquelle, Rosenhagl zugleich für die Geschichte seiner höHsmen Bildung und Einweihung in den amour courtois bedeutsam sind. Im Tesoretto hingegen erscheint der Weg ser Brunettos diskontinuierlich und - wie schon aus der Abänderung der von Natura angekündigten Stationenfolge erhellt - nicht notwendig gerichtet: er wird nur an den übergängen in einen anderen Bereich sichtbar und gibt den Reichen der Natura, der Vertute und Amors eine Art von Umrahmung. Diese besondere Figuration eines Weges, der nur in fünf Stücken, nicht aber im Ganzen anschaubar ist, wird auch nicht durch das in christlicher wie in vergilischer Tradition vorgegebene Thema der Führung durch die -andere Welt.. zusammengehalten und
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überhöht. Anders als in manchen geistlichen Visionen, in denen der Pilger von einem Engel oder Heiligen geleitet wirdis, geht Maestro Brunetto seinen Weg allein! Gewiß erscheint ihm zu Beginn Natura, folgt er später eine Weile dem bel cavalero Iv. 13671, der sich von den vier höfischen Tugenden unterweisen läßt, zeigt ihm Ovidio maggiore Iv. 2.3591 wieder den im Reich Amors verlorenen Weg und wendet er sich schließlich an Ptolemäus Iv. 2.932.1, um sich die vier Elemente erklären zu lassen. Doch der Versuch von G. Hees, aus diesen Gestalten eine Folge von .. Begleitern .. zu machen, die der gestuften Führung Dantes durch Virgil, Beatrice und den hl. Bernhard vergleichbar sein SOÜl6, erweist sich am Text als ein täuschender Rückschluß vom späteren auf das frühere Werk: die erwähnten Gestalten begleiten ser Brunetto gar nicht, sie bilden vielmehr Stationen, zu denen der Wanderer selbst gelangt, um sich von großen Lehrmeistern unterrichten zu lassen. Im Anhören der Lehren von Natura. der vier höfischen Tugenden, von Ovid und Ptolemäus kommt die Reise jedesmal zum Stillstand; wenn sie wiederaufgenommen wird, bleibt der Lehrmeister zurück und muß sich der Wanderer auf eigene Faust seinen Weg suchen. Sehen wir zunächst noch von der Frage nach dem verbindenden Motiv ab, das diese einsame Suche zu einer aventure neuen Stils macht, so wäre jetzt vor allem aufzuweisen, daß den bisher nur im negativen Aspekt erfaßten Eigentümlichkeiten der Komposition des Tesoretto in der Tat auch eine positive stilistische Funktion zukommt. Die Kehrseite der bisherigen Analyse tritt sogleich zutage, wenn man erkennt, daß der Weg ser Brunettos in seiner Zusammenstückung zwar die Erwartung einer Beschreibung der Weltordnung im ganzen nicht erfüllt, dafür aber in seinen kontrastierend ausgeführten Teilen den Blick auf verschiedene Bereiche oder Anblicke des Kosmos eröffnet. Die Figuration des Weges im Tesoretto erhält ihre Bedeutung weniger durch das, was sie beschreibt, als durch das, was sich durch sie ankündigt. Sie ist, wie die allegorische Landschaft überhaupt, dem Stilprinzip der variatio. des immer wechselnden Modus der Darstellung, unterworfen, wie nunmehr an den vier Hauptteilen des Werkes: der Erscheinung des Reiches der Natura Ivv. 191-11811, der Vertute Ivv. 1183-2.1801, Amors Ivv. 2181-2.3951 und - nach der Episode La Penitenza (vv. 2427-2.892.1 - der Begegnung mit Ptolemäus auf dem Berg Olymp Iv. 2.893 sq.I, gezeigt werden soll. Die Erscheinung der Natura wird durch das traditionelle Motiv der Verirrung im Walde eingeleitet, das im französischen Ritterroman, aber auch in Visionsgedichten vorgegeben ist l7 • Der Leser kann nach dem ..Stichwort« der selva diversa Avenruren in der Art des Artus53
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Zauberwaldes erwarten; doch im Abirren des leiderfüllten Wanderers von dem gran cammino zeigt sich auch der Anfang einer Entrükkung an, die einer Jenseitsvision vorherzugehen pflegt. Die geheimnisvolle Ambivalenz löst sich auf, als der Wanderer im Anblick eines Berges wieder zu sich selbst findet. Der Berg ist mit einer großen Schar verschiedener Geschöpfe besetzt: Menschen, Landtiere, Wassertiere, Vögel, Pflanzen und Steine IVV.194-2081. Die Aufzählung ist vollständig und auch hierarchisch gestuft, mithin ein Abbild des Ganzen der gottgeschafienen irdischen Welt. Dem Schauenden zeigt sich diese Ordnung der Geschöpfe sodann in der unaufhörlichen Bewegung ihres Lebens, Vergehens und Wiederentstehens: Ma tanto ne so dire: eh'io le vidi ubidire, finire e comineiare, morire e 'ngenerare e prender lor natura, si come una figura eh'i' vidi, eomandava. IVV.109-1I 51 In der ßguza, die hier erst in der Art ihres Regiments, dann als numinose, bis an den Himmel ragende Erscheinung Iv. 216 sq.1 und schließlich in der vollkommenen Gestalt weiblicher Schönheit dargestellt ist, erkennt ser Brunetto mehr und mehr, bis sie sim - kunstvoll verzögert - am Ende selbst mit Namen nennt Iv. 2981, die Göttin Natura. Der Darstellungsweise dieser Vision ist eigentümlich, daß Brunetto mit dem Bild des hierarmischen Berges erst das Ganze der von Natura regierten Welt vor den Blick bringt, bevor er sie selbst in persona erscheinen läßt. Hier geht die Wirkung der bewirkenden Kraft, der Anblick des Ganzen der Beschreibung seiner einzelnen Aspekte und Bereiche voraus! Auch weiterhin wird das Reim der Natura nimt mehr durch einen Weg durchmessen. Der Wanderer, der in ehrerbietiger Haltung vor sie tritt Iv. 245), hört die große Rede seiner Lehrmeisterin, sieht sie dazwischen wieder in der Ausübung ihres Amtes IVV.503-5181 und wird sodann aufgefordert, er möge nun Flüsse und Meer .. besuchen« lehe sanza dimoranza / vo1esse visitare/ e 1i fiumi e 10 mare, vv. 930 sq.). Dieser Vorschlag erfüllt sich im folgenden indes nicht durch eine Fortsetzung des Weges, sondern durch eine Folge von neuen Visionen. Maestro Brunetto erblickt erst die vier dem Paradies entsprungenen Flüsse Tigris, Phison, Euphrat und Genon te . Dann sieht er sich an, wie 54
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Natura die Länder des Orients mit Edelsteinen und Gewürzen versieht (plOvide per misura, v.990), wie sie für Tiere aller Art sorgt Imise in asetto loco, v. 1006) und wie sie smließlich in einer großartigen Gebärde ihre Hand zum Ozean jenseits der Säulen des Herkules ausstreckt, der alles Land umsmließt und dem Schauenden in seiner ewigen Bewegung von Ebbe und Flut vor Augen steht:
Poi vidi immantenente la regina piagente ehe stendi!a la mano verso 'I mare Uciano, quel ehe einge la terra e ehe la eerehia e serra
Ivv. 102.7 sq.) Die immer wiederkehrende Gebärde des Scbauens und Staunens unterteilt auch die folgende Beschreibung des Mittelmeers von Gibraltar bis zu den Dardanellen, bis hin zu einem letzten Blick, der noch einmal da~ ständige Hervorgehen, Gestaltwerden und Vergehen aller \Vesen umgreift l9 • Mißt man diese Darstellung an der Aufgabe, Kosmogonie und Weltbeschreibung der Schule von Chartres in ein neues allegorisc:hes Gedic:ht einzubringen, so kann man wohl kaum bestreiten, daß Brunetto den lehrhaften Gegenstand gesmidc.t und wirkungsvoll in immer wieder neue Anschauung umzusetzen verstand - wirkungsvoller als Alanus selbst, in dessen Planctus Naturae die Gebärde des Sc:hauens fehlt und der eintönige Monolog der Natura lediglich durch sieben rhetorische Fragen des Dic:hters unterbroc:hen wird 20• Mit dem näc:hsten Hauptteil, dem Reim der Vertute, wechselt aum der Modus der Darstellung. Wir sahen smon, wie Brunetto durm versc:hiedene Vorzeichen auf die Andersartigkeit der nun bevorstehenden Erfahrung vordeutet: die Prädikate des Weges ändern sich kaleidoskopisch, sobald der Wanderer einem neucn Ziel zustrebt. Der Weg zum Reich der Tugend stellt sim - offensic:htlim in Entsprechung zu den dort zu erwartenden dure credenze Iv. 1142.) - als eine sim steigernde Folge von Mühen dar. Aus der -großen Straße- wird ein -sdlmaler Pfad .. , aus der selva piana eine wilde Einöde, die Züge einer gespenstisch leeren Todeslandsmaft annimmt: quivi non ha viaggio, quivi non ha magione, quivi non ha persone, non bestia, non ueeello, 55
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non tlume, non ruscellO, ne formica ne mosca ne cosa eh'io cognosca.
Der Wanderer, der angesichts dieses Ivon Brunetto erdachten?! -Landes der Verzweiflung« Iv. u.lol von Todesfurcht befallen wirdu, entsinnt sich des Amuletts der Natura und findet hinter einem dunklen Tal unerwartet die .. lieblichste und heiterste Ebene der Welt- lun grande pian giocondollo piu gaio dei mondol e 10 piu dilettoso. v. Il2.I sq.). Als ob das Erreichen der Tugend sogleich die Belohnung für die Mühsal des Weges einschließe, tritt hier dem Wanderer .. am dritten Tag., dem Zeitpunkt der Auferstehung nach Christi Höllenfahrt, das Reich der Vertute als ein unerwarteter locus amoenus vor Augen! Daß damit in der Tat nur eine momentane Zuordnung auf den ankommenden Wanderer, dem das Reich der Tugend zuerst so ersmeint. nicht aber eine feste Situierung in der Topographie des Jenseits bedeutet ist, bestätigt der Umstand, daß in der folgenden Beschreibung des Tugendreiches der erste Anblick eines locus amoenus sogleich wieder von der Vorstellung eines feudal gegliederten Staatswesens überdeckt wird. In der bisherigen philologischen Kritik des Tesoretto wurde diese Darstellungsweise als sprunghaft, widersprüchlich und ungeschickt getadelt, weil man das - in der älteren allegorischen Tradition allerdings auch noch nicht ausgebildete - kaleidoskopische Stilprinzip Brunettos verkannten. Es ist im Grunde sehr viel anspruchsvoller als die vertrauten Schemata der allegorischen Beschreibung, denn es hat zur Folge, daß die Visionen einer -anderen Welt" im unvorhersehbaren Wechsel verschiedener momentaner Aspekte ihre Erscheinungshaftigkeit bewahren und nicht gleich wieder vergegenständlicht werden, was im durchmotivierten Kontinuum einer Jenseitswanderung, die nur am Anfang und am Ende auf den Traum aufmerksam macht, schwer zu vermeiden ist. Wie zuvor im Reich der Natura stellt Brunetto Latini auch in seiner Tugendlehre ein Bild des Ganzen einer aufgliedernden Beschreibung des Reiches der Vertu te voran. Der Wanderer sieht Kaiser, Könige, Fürsten, dann Philosophen1J und vieles andere mehr, über allem aber in erhöhter Stellung eine Kaiserin, die den Namen Vertufe trägt. Sie bleibt auch ser Bronetto gegenüber in unnahbarer Distanz, der in diesem Bereich die passive Rolle des Betrachtenden nie aufgibt. Er geht ähnlich wie der amant im Roman de la Rose, der im Vorbeischreiten an der Mauer des Paradiesgartens die Bilder der höfischen Laster wahrnimmt, an den Höfen der Tugenden vorbei, liest die In-
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sduiften und sieht im Innern der Paläste jeweils eine Gruppe von untergeordneten Tugenden in einer der Feudalwelt analogen, herrscherlichen Verrichtung. Das Bild vom Reich der Tugend, das sich auf diese Weise entfaltet, folgt einem streng hierarchischen Prinzip. Die Kaiserin Verrute hat vier königliche Töchter, die Kardinaltugenden. Unter diesen kommt wiederum der Prodenza die höchste Würde zu Iche l'un' e troppo maggio, / e poi di grado a grado / catuna va piu rado, v. 12.S9 sq.l. Name und Wesen der Kardinaltugenden wird dem Wanderer nur durch Inschrift Isentenza, v. 12.711 am Eingang der Paläste bedeutet und sodann mittelbar durch die allein sichtbar werdenden Untertugenden figuriert. Nur Giustizia, die letztgenannte der vier Kardinaltugenden, macht darin eine Ausnahme: sie allein vermag ser Brunetto als donna incoronata, umgeben von vier maestre grandL selbst zu erblidcen:ls• Diese Sonderstellung der Gerechtigkeit läßt erwarten, daß ihr Brunetto Latini besondere Bedeutung zumißt. In ihrem Hause findet der Wanderer denn auch drei der vier höfischen Tugenden, die ihre Lehren vollständig darlegen und den Bildungsgang jenes bel cavalero beschreiben, dem ser Brunetto als stummer Zuhörer folgt16. Hier verwendet Brunetto das einfachste Schema einer allegorismen Fabel: die Belehrung eines Neulings, der, von Station zu Station weiterschreitend 10r ti toma a magione, / ch'omai ala stagione, v. ISS I sq.I, die Unterweisungen der Larghezza. Cortesia, Leanza und Prodezza entgegennimmt17 . Auf anschaubare Örtlichkeit kommt es dabei nicht mehr an; es findet sich noch eine letzte, aber schon unbestimmte Richtungsangabe Ida canto, v. 13631, die offenläßt, nach welcher Seite sich der Wanderer wendet; dann verliert sich die Vorstellung eines Weges so sehr, daß man am Ende überrascht ist zu lesen, die beiden Fremdlinge seien schließlich "zurüdcgekehrt« Iv. 21711, der bel cavalero in sein lungenanntesl Land, ser Brunetto auf seinen großen Weg, der ihn jetzt in das Reich Amors führt. In diesem Hauptteil hat Brunetto Latini den statischen Bildern des streng hierarchisch gegliederten Reiches der Tugenden gewiß nicht ohne Absicht und mit unbestreitbarem poetischem Effekt Bilder eines sehr bewegten und spannungsreichen Geschehens entgegengesetzt. Die Erscheinung Amors spielt in einer allegorischen Landschaft, die den Roman de la Rose in Erinnerung ruft, und wird in drei überraschenden übergängen zugleich angekündigt und dramatisch hinausgezögert. Der "Weg nach rechts", den der maesuo eingeschlagen hat Iv. 21811, wird zum Gang durch den Mai und führt ihn - im offensichtlichen Kontrast zu der Einöde vor dem Reich der Verrute - über Täler, Berge, Busch, Wald und Brüdcen auf eine schöne Wiese. Was sich hier dem Blick des Wanderers darbietet, steht formal in vollende-
vier~
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ter Symmetrie zu dem ersten Anblick der Reiche der Natura und der Vertute: in den erstaunlichen Metamorphosen der Wiese geht wiederum das Ganze der Wirkung Amors seinem Erscheinen als Person und der Beschreibung seiner einzelnen Aspekte und Phasen voraus! Hier macht sich erneut geltend, daß das Fehlen vorgängig motivierter Ubergänge auch schon in einem mittelalterlichen Werk nicht einfach als »Kunstfehler .. anzukreiden ist, sondern ein eigens gewähltes Mittel der Darstellung sein kann, das verschiedene stilistische Wirkungen ermöglicht. io giunsi in un bei prato fiorito d'ogne lato, 10 piu ricco del mondo. Ma or parea ritondo, ora avea quadratura; ora avea Paria scura ora e chiara e lucente; or veggio molta gente, or non veggio persone ; or veggio padiglione, or veggio case e torre;
I'un giace e I'altro corre, I'un fugge e I'altro caccia, chi sta e chi procaccia, I'un gode e I'altro 'mpazza, chi piange e chi sollaza: cosi da ogne canto vedea gioco e pianto. Pero, s'io dubitai o mi maravigliai, be·no deon sapere que' ehe stanno a vedere.
Die blumenreiche »schöne Wiese« (vv. 220I-22021 belebt sich nicht, wie man vom Rosenroman aus erwarten könnte, mit einem Reigentanz höfischer Gestalten. Sie erscheint maestro Brunetto unversehens einmal rund, dann wieder viereckig, einmal dunkel, dann wieder hell, bald reich bevölkert, bald menschenleer, bald voller Zelte, bald mit Türmen und Häusern besetzt; dann sieht er, wie der eine liegt, der andere läuft, der eine flieht, der andere jagt ... wie überall Freuden und Tränen zugleich sind. Angesichts dieser Verwandlungen wird der Schauende von Furcht und Staunen befallen und bedarf der Hilfe seines Amuletts, um wieder Mut zu finden. Der bel prato nimmt im vollkommen kaleidoskopischen Wechsel seines Anblicks auch für den Leser mehr und mehr die Gestalt eines Rätsels an von der Art: »Was ist das? Es ist bald rund, bald viereckig ... bald fröhlich, bald traurig." Die in der Aufzählung zuletzt gebrachten Gegensatzpaare machen die Lösung des Rätsels leichter: es ist der paradoxe Zustand der Liebenden, der in den Metamorphosen des bel prato sichtbar wird! Doch diese Lösung ist erst vom Ende aus erkennbar. Der Leser wird zunächst durch eine scheinbar willkürliche Bildfolge befremdet, die sich auch später mit dem Schlüssel der letzten Gegensatzpaare nicht ganz lösen läßt. Denn was soll der Gegensatz von rund und viereckig, von Zelten und 58
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Häusern mit dem Zustand der Liebenden gemein haben? Diese Frage kann erst beantwortet werden, wenn man das .. tertium comparationis cc zu einer Art von Syllogismus erweitert: die »schöne Wiese .. zeigt sich in Gegensätzen - auch der Zustand der Liebenden zeigt sich in Gegensätzen - also kann auch die "schöne Wiese a , allegoriee: die ganze Welt auf Amor als die Macht zurückweisen, die gegensätzliche Zustände bewirkt. So erscheint der Wechsel der Erscheinungen des bel prato so lange rätselhaft und bizarr, modemen Manierismen ähnlich, bis man am Ende erkennt, daß die scheinbar grundlose Reihung der Gegensatzpaare von rückwärts motiviert ist, daß in den Metamorphosen des bel prato der paradoxe Zustand der Liebenden zur Paradoxie der Welt erweitert wurde und daß Brunetto Latini auf diese Weise die allgemeinste Bedeutung Amors seinem persönlimen Erscheinen und seiner besonderen Wirkung auf den Wanderer vorausgesdlickt hat. Dem Wanderer selbst bleibt die Bedeutung der Szene indes nom versdllossen. Er muß erst vier eilig vorbeireitende Knappen befragen. Aum mit dieser Szene hat es eine besondere Bewandtnis. Die vier Knappen taumen so unversehens auf, wie sie dann gleim aum wieder verschwunden sind. Brunetto gibt vor, auch er könne das Geheimnisvolle ihres Ersmeinens nicht erklären: Cosi furon spariti e in un punto giti, eh'i' non so dove 0 eome, ne la 'nsegna ne '1 nome.
An sich liegt hier ein Motiv der Artusromane vor, in denen wimtige Auskünfte nicht selten von vorüberreitenden Personen eingeholt werden müssen, die es aus unbekannten Gründen sehr eilig haben und sich nur zu einer lakonismen Antwort bereit finden, in der Art, wie sie auch hier dem Wanderer zuteil wird: Sappi, mastro Bumetto, ehe qui sta monsegnore eh'e eapo e dio d'amore; e se tu non mi eredi, passa oltra e si 'I vedi; e piu non mi toccare, eh'io non t'oso parlare.
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Aber im Artusroman, der zumindest in seiner klassischen Form dem Erzählprinzip folgt, .. keine Masche fallen zu lassen", klärt sich das Geheimnisvolle einer solchen Episode rückwirkend auf~. Daß im Tesoretto das Geheimnis der quattro fanti, ihr Name, Woher und Wohin, nie aufgelöst werden soll, müßte den Leser höfischer Romane befremden, da es sich bei den Knappen ja keineswegs nur um Staffagefiguren (wie z. B. den obligaten Zwerg, der im Artusroman nur eine Funktion, aber keinen Namen hatl, sondern um eingeweihte Personen handelt, die den Wanderer sogleich mit Namen kennen und bei ihm das Verlangen wecken, mehr von ihnen zu wissen. Indem Brunetto hier eine Spielregel des höfischen wie auch des allegorischen Romans durchbricht, welcher gleichfalls unter dem ungeschriebenen Gesetz steht, daß alles Figürliche in der Fabel auf spätere Auflösung anzulegen ist, steigert er die Spannung auf das Bevorstehende in ungewöhnlicher Weise. Der folgende dritte Obergang bringt den Wanderer zum Hofstaat Amors. Er erblickt, umgeben von neuen Scharen der von Amor Besiegten, einen nackten Knaben, der auf einem Podest steht und blind seine Pfeile verschießt. Das weitere Geschehen erhält dadurch eine besondere Spannung, daß der Weg durch das Reich Amors in neuer Variation der Darstellungsweise fast bis zum Schluß als stumme Szene verläuft. Nach der lakonischen Auskunft des ersten der vier Knappen wird an maestro Brunetto von niemandem mehr ein Wort gerichtet, noch wagt er selbst, an Amor oder an die ihn umgebenden vier donne valenti eine Frage zu stellen. Die letzteren verkörpern die Zustände dessen, der vom Pfeil Amors getroffen ist (stati ... di Piacere nati, v. 2.319 sq.li doch wird das Wesen von Paura und Disianza, Amore und Speranza dieses Mal weder durch Inschriften noch durch Monologe, sondern rein definitorisch erläutert. Mit einer Frage wendet sich der Wanderer erst hernach an Ovid, als er schon glaubt, dem Reich Amors unbehelligt entronnen zu sein. Aber auch Ovidio maggiore verweigert hier die erbetene theoretische Belehrung, weist lakonisch darauf hin, daß die Macht Amors nur verstehe, wer sie zuvor erfahre (v. 2.372. sq.I, und demonstriert die Wahrheit dieses Satzes sogleich an maestro Brunetto, der nun erst gewahr wird, daß er wie an den Boden geheftet ist, obgleich er zu fliehen glaubte. So hätte ihn der Pfeil Amors also doch getroffen, ohne daß er es ~emerkte? Wir werden auf diese Fragen wieder zurückkommen, wenn wir das Verhältnis des TesoIetto zum Rosenroman untersuchen, und halten dazu noch fest, daß die folgende Episode der Fabel, in welcher seI Brunetto die allegorische Reise unterbricht, um in Montpellier die Beichte abzulegen, mit der Flucht aus dem Reich Amors verkettet ist19, also wohl auch eine Beziehung von Verfehlung und Reue in der 60
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Erfahrung des Wanderers nahelegt. Die Episode La Penitenza Ivv. 2.42.7-2.892.1 galt bisher als ein rein lehrhafter oder erbaulicher Einschub, der aus der Einheit der allegorischen Fabel herausfalle und darum auch in manchen Handschriften fehle oder durch einen besonderen Titel verselbständigt sei30 • Der Eindruck der Herauslösbarkeit ist indes zu einem guten Teil daher bedingt, daß Brunetto für diese Episode wiederum einen anderen modus dicendi gewählt hat. Die Beichte ist in die Form eines Briefes I... 'n queste carte, v.2.4361 gebracht und an einen engvertrauten Freund geridltet, den der Schreiber verschiedendidl ermahnt, seinem guten Beispiel zu folgen, zu erkennen, daß sie beide bisher un poco mondanetti gewesen seien IVV.2.45I, 2.5611, und sich von diesem Lebenswandel abzukehren. Und warum sollte Brunetto Latini, der sommo maestro der Rhetorik, nicht audl schon den Tesoretto dazu benutzt haben, im Wechsel der Darstellungsformen verschiedene Stil- und Gattungsmuster zu geben~ Aber es gibt auch noch inhaldiche Gesidltspunkte, die La Pen: tenza kompositorisch mit dem Ganzen verknüpft erscheinen lassen. Das Thema, mit dem Brunetto zu Beginn seines Briefes den Freund zur Beidlte hinführen will, ist ein kleiner contemptus mundi Ivv. 2.431 bis 2.5181; hier geht die Betradltung über die vanitas der Welt von Fortuna aus Icome Ventura mena / la rot'a falsa parte, v. 2.434 sq.l, die ursprünglich in das von Natura angekündigte Programm der Reise gehörte Iv. 11491, nun aber predigthaft behandelt wird und dann nadl der Beichte auf maestro Brunetto keine Anziehungskraft mehr auszuüben vermag. Im Mittelpunkt des Briefes stehen die sieben Todsünden, in der Weise dargestellt, daß von Hochmut ausgehend die eine Sünde immer die nächste nach sich zieht; die Tugendlehre des zweiten Hauptteils erhält damit eine notwendige Ergänzung, wie immer man auch den biographischen, in der Abwendung von Amor und der Fludlt nadl Montpellier verhüllten Hintergrund beurteilen mag. Soweit es die noch vorliegenden 51 Verse des nächsten Hauptteils erkennen lassen, der an der Stelle abbridlt, wo Brunetto offenbar in Prosa fortfahren wollte Ivgl. v. 2.9001, wäre auch hier ein Anblick des Ganzen der gegliederten Ordnung seiner Teile vorangegangen. Maestro Brunetto, der durch den Wald geritten und auf den Berg Olymp gelangt ist, sieht wiederum die ganze Welt: eh'io vidi tutto 'I mondo, si com'egli e ritondo, e tutta terra e mare, e 'I fuoeo sopra l'äre.
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Doch dieses Mal breitet sich nicht mehr, wie auf der ersten Station bei Natula (v. 927 sq.I, die Erdoberfläche bis hin ZJ.llll Ozean vor seinen Augen aus, sondern erblickt er die Erde als Gestirn, in ihrer Kugelgestalt und in der Ordnung ihrer vier Elemente. Dem entspricht, daß er nun mit Ptolemäus zusammentrifft, den er über die Natur der vier Elemente befragt und der ihn als maestro di storlomia e di ßlosofia vermutlich in die Sternkunde sowie in die den Himmelssphären zugeordneten Septem Altes einführen sollte31 • Dazu bedurfte es nicht notwendig einer Fortsetzung der Reise in die Himmelssphären hineinll. Die Formen der Darstellung, in denen das Reich der NatUla, der Veltute und Amors erschien, sprechen eher dafür, daß auch der neue Gegenstand die beschreibende Form einer Vision erhalten sollte der Wanderer somit seinen Weg, auf den er in seiner Benommenheit angesichts des politischen Unsterns und der Zwietracht seiner Vaterstadt geriet, auf einer letzten Station als contemplator caeli beendet. Wenn im ersten Gang unserer Untersuchung gezeigt werden konnte, wie Brunetto Latini in der Darstellung verschiedener Bereiche der .. anderen Welta stets und mit unbestreitbarer Wirkung dem Stilprinzip wechselnder Darbietungsformen gefolgt ist, so wäre das Voruneil der Uneinheitlichkeit und Stillosigkeit des Tesoretto nun auch im Blick auf die Elemente der Fabel zu widerlegen und zu fragen, ob sich in der Wahl, Umsetzung und Aneinanderreihung der Vorbilder nicht doch eine verbindende Idee verrät. Welche Quellen im einzelnen Brunetto Latini für den Tesoretto benutzt hat, ist seit langem bekanntH . Es sind im Hinblick auf Form und Aufbau die berühmtesten Muster der allegorischen Dichtung des Mittelalters: die Consolatio Philosophiae des Boethius, der Planctus Naturae des Alain de Lille und der erste Rosenroman des Guillaume de Lonis. Dazu kommen alle jene Quellen gelehrten Wissens, die Brunetto in denselben Jahren (1260-12661 in Frankreich studiert, für die Enzyklopädie seines Tresor kompiliert und zum Teil gewiß wohl auch in sein allegorisches Gedicht eingebracht hat. Hier soll uns nur sein Verhältnis zu den ersteren beschäftigen. Doch ist für die Frage, wie Brunetto die Vorbilder des Boethius, Alanus und Guillaume de Lorris aufgefaßt und in die neue Form seiner Visionsdichtung umgesetzt hat, das Ergebnis der Forschungen zu den Quellen des Tresor gleichfalls von Bedeutung. Brunetto war keineswegs ein unselbständiger Kompilator, sondern für die Begriffe seiner Epoche - ein bedeutender Gelehrter, dessen Tresor die meisten Enzyklopädien der Zeit an Methode und Sorgfalt der Auswahl überragte. Wie F. J. Carmody im einzelnen nachwies, muß Brunetto für den Zweck dieser ersten Laienenzyklopädie systema-
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tische Auszüge aus verschiedenen Quellenwerken gemacht haben, so daß er, wenn ihm für seine eigene Darstellung die eine Quelle nicht ausreichend zu sein schien, E.inzelheiten aus anderen Quellen hinzusetzen konnte 34 • Auch zeigt sich die Unabhängigkeit seines Standpunktes darin, daß einige der ersten Abschreiber offenbar an seiner Sachlichkeit Anstoß nahmen und glaubten, dem Text doktrinäres und moralisierendes Beiwerk hinzufügen zu müssen 3S • Sollte derselbe Brunetto Latini nun aber bei dem um dieselbe Zeit entstandenen Tesoretto so völlig unmethodisch verfahren sein und dessen allegorische Fabel rein willkürlich aus verschiedenen Vorbildern zusammengestückt haben? Stellt man die Frage nach dem inneren Sinn des Textes auf diese Weise, so genügt es allerdings nicht mehr, aus einer Liste von mutmaßlichen Entlehnungen oder Parallelen unmittelbar Rückschlüsse auf die »Abhängigkeit.. Brunettos von seinen Vorgängern zu ziehen. Mit diesem positivistischen Verfahren gelangt man im Falle des Tesoretto nicht weiter als bis zu der Feststellung, daß Brunetto zwar die Consolatio Philosophiae, De Planctu Naturae und den Roman de la Rose gekannt haben dürfte und diesen Vorlagen offenbar in seiner Fabel auch stückweise gefolgt ist, sich aber in jedem dieser Stücke auch wieder so weit von seinen Vorlagen entfernt hat, daß man - stünde der hohe Grad seiner Selbständigkeit nicht außer Frage - nach den exakten Methoden der Quellenforschung eine hypothetische Vorlage dazwischenschalten müßte. Um das eigentümliche Verhältnis zu beurteilen, in dem Brunetto Latini zu seinen »Vorläufern« stand, erscheint es hier geraten, bei jeder Parallele die Feststellung seiner .. Abhängigkeit« mit der Bestimmung seiner »Freiheit von der Vorlage« zu verknüpfen, also auch das Nicht-Ubernommene oder Nicht-Weitergeführte zu berücksichtigen. Anders gesagt: Es kommt hier darauf an, über die »Entlehnungen .. auf das Kriterium ihrer Wahl zurückzugehen, den Grund ihrer Aneinanderreihung zu ermitteln und mit der Möglichkeit zu rechnen, daß Brunetto die weithin vorgegebene Struktur der allegorischen Fabel seines Tesoretto nicht nur mit einer eigenen Figuration neu besetzt, sondern auch die meist impliziten Vorfragen seiner Vorgänger anders gestellt oder neu beantwortet haben kann3'. Wenn dem Dichter des Tesoretto zu Beginn seiner Vision eine figura erscheint, die bald mit dem Haupt bis an den Himmel zu reichen, bald die menschliche Gestalt einer smönen, edlen Frau anzunehmen scheint Iv. 1.16 sq.I, weist diese statura discretionis ambiguae unmittelbar auf die Philosophia des Boethius zurück37. Denn der zeitlich viel näher stehende Alanus läßt Natura sogleich in menschlicher Gestalt,
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als rnulier mit dem Haupt einer Jungfrau auf dem sternenhaften Leib erscheinen 38 • Zwar wird man, da sich die figura im Tesoretto später als Natura (und nicht als Philosopbia) zu erkennen gibt (v. 189), dann eher wieder an De Planetu Naturae als nächste Vorlage denken, zumal auch die erste Beschreibung der von Natura regierten Welt und ihre folgende Rede über den Anfang aller Dinge genaue Entsprechungen zu dem Werk des Alanus aufweist. Gleichwohl vermag das näher stehende Vorbild in einem entscheidenden Punkte die Erinnerung an den ferneren Ursprung der allegorischen Tradition, in der Alanus und Brunetto gemeinsam stehen, nicht auszulöschen. Im Unterschied zum Planctus Naturae, wo der Dichter nur eine allgemeine Klage über die Sodomie vorzubringen hat und damit die in ihrem Recht verletzte Natura auf den Plan ruft, ist der Dichter des Tesoretto wie einst Boethius persönlich von äußerster Not betroffen und des Trostes bedürftig. Die entsdleidende Entsprechung zwischen dem Eingang des Tesoretto und dem Beginn der Consolatio liegt in der wiedergekehrten Situation einer Lebenswende durch politisches Unglück. Wie Boethius im Exil seines Kerkers Trost findet, als ihm seine Lehrmeisterin Philosophia zu Hilfe kommt (quid, inquam, tu in has exsilii nostri soli tudines, 0 omnium magisua virtutum, supero cardine delapsa venisti/3 9 1, so läßt auch Brunetto die Trübsal, in die ihn die Nachricht von der Niederlage der Guelfen und seine Exilierung versetzte, angesichts der erhabenen Erscheinung der Natura hinter sich zurück (useio de ·neo pensielO I eb'jo avetJ primero, v. 135 sq.). In vergleichbarer Situation der Verzweiflung über den Tod Beatrices - wird sich auch der gleichfalls im Exil dichtende Dante zu Boethius zurückwenden; nach seiner eigenen Darstellung im Convivio hätte er in der Consolatio nicht nur Trost für seinen Verlust, sondern die Philosophie selbst als gentilissima Donna und damit den Ansporn zu einer neuen Aufgabe und Richtung seines Lebens gefunden40 • Bedenkt man ferner, daß Brunetto auch im Tresor gleich zu Beginn die Consolatio zitiert und sich eigens auf die Vision der Pbilosophia beruh, um sein großes Unternehmen zu rechtfertigen 41 , so wird die - gleichviel ob faktische oder stilisierte - Obereinstimmung in der Situation der schicksalverbundenen Dichter ausdrücklich, an die Dante wohl auch denken konnte, als er Brunetto Latini nachrühmte, er habe ihn gelehrt come J'uorn s'etterna Unf. XV 85).
Brunetto hat die entscheidende Wende seines Lebens im Tesoretto auf eine Weise dargestellt, die auch für die Geschichte der allegorischen Dichtung eine Wendung bedeutete. Während seine unmittelbaren Vorgänger Alanus und Guillaume de Lorris beim Ergreifen der allegorischen Form jede Beziehung zur geschichtlichen Welt von ihrer Fabel
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abstreiften und auch dem Ich als Träger der Handlung eine rein fiktive Rolle gaben, verknüpft Brunetto seine allegorische Fabel mit dem Bericht über seine Gesandtschaft zu Alfons X. und dem Eintreffen der Nachricht von Montaperti. Der Vorwurf der .. Stillosigkeit« oder der »willkürlichen Vermengung eigener Erlebnisse und politischer Oberzeugungen .. mit der allegorischen Fabel hält gerade hier einer Prüfung am Text nicht stand; vielmehr erläutert er wiederum ein klassizistisches Geschmacksideal der modemen Kritik. Denn Brunetto hat den übergang von der historischen Reise zur allegorischen Wanderung sorgsam gestuft und beziehungsvoll darzustellen gewußt, ohne sich selbst dabei über Gebühr in den Mittelpunkt zu rücken. Dem persönlichen Schicksal des einzelnen ist auch hier das überpersönliche Geschick der Allgemeinheit, das heißt seiner Vaterstadt Florenz, übergeordnet. Mit ihrem Lobpreis setzt der Text nach der Widmung ein Iv. II3 sq.), und ihrem Unglück gilt auch wieder der erste Gedanke nach dem Erhalt der Hiobsbotschaft Iv. 166 sq.l. Das Ereignis selbst ist in Phasen gegliedert, deren verschiedene Ausführlichkeit den modemen Leser befremden dürfte: -
Gesandtschaft nach Spanien 14 Verse, 135-1381 Rückweg bis Roncevaux 16 Verse, 139-1441 Begegnung mit einem Scholaren 17 Verse, 14s-lsll dessen Bericht über Montaperti In Verse, 152.-16:1.1 sorgenvolle Gedanken Brunettos 1:1.3 Verse, 163-1851 er verliert darüber den Weg 15 Verse, 186-1901.
Die Art der Stilisierung kann hier am besten nach dem Maß der verschieden ausführlichen Schilderung bestimmt werden. Der Weg nach Spanien und die Gesandtschaft selbst sind am kürzesten abgetan: dieses nicht unwichtige historische Geschehen wird zum Nebenumstand, der an sich selbst nicht interessiert. Vom Rückweg hingegen wird ein Stück Landschaft anschaubar: es ist - nach der Erwähnung Navarras - die Ebene von Roncevaux, die Szenerie des im Rolandslied besungenen Untergangs der fränkischen Nachhut! Die Nennung des Ortes, der die Erinnerung an die Niederlage Charlemagnes bewahrt, kündet bevorstehendes Unheil an. Der Uberbringer der Nachricht ist auf eine Weise beschrieben, die man Brunetto als ungeschickt und überflüssig angekreidet hat'P:
ineontrai uno seolaio su 'n un muletto vaio, ehe venia da Bologna, 65
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e sanza dir menzogna molt'era savio e prode: ma lascio star le lode, ehe sarebbeno assai. 10 10 pur dimandai novelle di Toscana.
Ivv. 145-153) Was soll bier eigentlich das kastanienbraune Maultier des Scholaren, seine Klugheit und Kühnheit oder die Beteuerung, dies alles sei keineswegs gelogen? Diese Häufung uns unangebracht erscheinender Details fällt um so mehr auf, als sie immer noch in dasselbe Satzgefüge gehört, das schon mit der Reise nach Spanien beginnt, alles Folgende überspannt und in der Schilderung des Scholaren gipfeiL Dodl ebendarin liegt eine doppelte Steigerung: die scheinbar -überflüssigen Verseschieben die schon erwartete Unglüdtsnachricht noch etwas hinaus, während sie andererseits den Uberbringer schon mit EigensdJaften aWIBtatten, die seiner Rolle per analogiam angemessen sind. Der Scholar aus Bologna ist weise und kühn, nicht weil es dessen zur Ubermittlung der Nachricht bedürfte oder weil ihn diese Eigenschaften als Person kennzeichnen sollen ler verschwindet ja ohnedies wieder spurlos aus der Handlung), sondern weil seine -Vollkommenheitgerade dadurch, daß sie aus der gewöhnlichen Erwartung herausfällt, auf Rang und Bedeutung dessen vorweist, was er oortesemente mitzuteilen hat4 3• Wie auch am wachsenden Umfang der Abschnitte deutlich wird 14: 6: 7: I I : 2.3), steigert die Darstellung das Ereignis bis zum Hören der Nachricht und gipfelt in den Versen, die ihre Aufnahme durch den Betroffenen schildern. M. Scherillo hat zu Recht hervorgehoben, daß Brunetto gerade bier von jeder Parteilichkeit frei bleibt, seine Feinde nicht einInal erwähnt und mit der Gelassenheit eines Weisen der tiefen Sorge für seine Commune Ausdruck verleiht44. Dabei fällt kein Wort über sein privates Schidtsal. Sein persönliches Leid wird vielmehr in der Gebärde sichtbar, wie er gesenkten Hauptes (pensando a capo dlino, v. 187) die Welt um sich herum vergißt und dabei den -geraden Weg- verlierL So ist der Obergang aus der geschichtlichen Wirklichkeit in die -andere Welt- der Allegorie noch auf natürliche Weise eingeleitet; erst wenn der wieder nach außen gewandte Blick des Wanderers vor sich den geheimnisvollen Berg entdeckt, vermag auch der Leser den übernatürlichen Charakter der Vision zu erkennen. Vom Eingang abgesehen, ist aber ohne Zweifel De Planetu Naturae das eigentliche Vorbild für die allegorische Fabel des Tesoretto gewesen45 •
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Vergleicht man die beiden Texte, so treten zahlreiche Analogien heraus, die im ersten Drittel des Tesoretto am dichtesten sind, aber auch nach dem Abschied von Natura (v. 1183 sq.1 nicht ganz fehlen. In Form und Aufbau entsprechen sich vor allem die Erscheinung und Beschreibung der Nattua. ihre einführende Rede und ihr Dialog mit dem Dichter (Pr. I-Metr. Vi vv. 191-1182.1. Hier wie dort nimmt die erste Schilderung der Natura in Gestalt und eigener Rede einen unverhältnismäßig großen Raum ein (432.A-446 Ci vv. 191-5181. Bei Alanus wie bei Brunetto ist der übergang zum Dialog durch eine auffallende Gebärde motiviert, die als charakteristisches, an der gleichen Stelle erscheinendes Detail eine unmittelbare Endehnung verrät: der Dichter überwindet seinen stupor. kniet vor Natura nieder, die sich ihm zu erkennen gab, und tritt sodann in die Rolle des ehrfürchtig fragenden Vertrauten ein (<<6 Ci v. 519 sq.l. Die Lehren der Nattua. die bei Brunetto dieselbe Stellung im cb.risdichen Kosmos einnimmt wie schon bei Alanus, behandeln verschiedentlich - wenn auch nicht in der gleichen Reihenfolge - dieselben Punkte. Auch hat die weitere Handlung im Planctus Naturae: das Erscheinen des Hymenäus mit den ihm zugeordneten vier Tugenden, im Tesoretto darin eine Entsprechung, daß der Wanderer auf die von vier Königinnen umgebene Kaiserin Vertu te trifft. Die VielZahl, die in allen Figurationen des Tesoretto ständig wiederkehrt, ist im Planctus Nattuae an zentraler Stelle vorgegeben46 • Und schließlich weist auch noch die Amor-Episode im Tesoretto Einzelzüge auf, die als ein Echo auf die cupidinariae artis theoriea des fünften Metrums im Planctus Naturae angesehen werden können. Die Entsprechungen zwischen De Planetu Naturae und 11 Tesoretto sind in der folgenden Tafel im einzelnen zusammengestellt. Uber das Zustandekommen und über die Bedeutung dieser .. Parallelen .. soll damit aber noch nichts entschieden sein: nach dem anderen Vorzeichen, unter dem alle übernahmen oder Entsprechungen erst ihre eigentliche Bedeutung annehmen, kann erst gefragt werden, wenn zuvor das Gleichartige in der Struktur der Fabel und in den Einzelheiten aufgedeckt worden ist. De Planctu Naturae 432.A-433A:
Tesoretto VV·2.48-2.71:
Beschreibung der äußeren Gestalt in übertragung des Kanons weiblicher Schönheit auf die PersonifUtation der Natura. 43S D -439 A :
Abbildung aller Geschöpfe lanimalium .. , conciliuml in hierarchischer
VV. 194-2.08:
Abbildung aller Geschöpfe lturba magna di diversi animaJil in folgen-
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Ordnung IVögel, Wassertiere, Erdtiere, Pflanzen) auf den Gewändern der Natura.
der Reihung: Mensmen, Landtiere, Wassertiere, Vögel, Pflanzen, Steine, auf einem Berg angeordnet.
439C: Natura damit besmäftigt, auf Tafeln die Bilder der Dinge zu zeimnen, die indes schnell wieder erlösmen Iso später aum Genius, cf. 479 CI.
vv. 171-181: Zwar fehlt das Bild der Smreibtafel; doch ist hier Natura ständig damit beschäftigt, e 'n fare e in disfare I e 'n generar di nuovo Idiese Verse folgen gleimfalls auf die Beschreibung der Gestaltl.
443B: VV.77)-836: Analogie zwismen der Funktion der vier Elemente für den Kosmos und der Funktion der vier Körpersäfte Ihumores) für den Körper. vv.83- 1I1 : Eine entspredlende Warnung bringt hier der Dichter im Prolog gegenüber dem Adressaten seines Werkes Ivgl. auch VV. 186-187: e puoi a se m'acolse I molto covertamentel.
445B: Natura hat beschlossen, das Geheimnis ihrer Mamt vor unwürdigen Ohren zu wahren (defendens a vilitate secretum).
44SC Icf. 44lC): vv.189-310: Natura erklärt, wie sie Gott als vicaria untergeordnet sei. 44S D: vv. 617-613, 891-901: In Fragen der christlichen Dogmatik erklärt sim Natura für nimt zuständig und verweist auf Theologie und Kirche. 446C: Der Dimter überwindet seine Ohnmamt la meae mentis confinio stuporis evaporat nubecula), wirft sich vor Natura nieder und küßt ihr die Füße.
VV·5 19-534: Der Dichter fällt fast in Ohnmacht (E jo ... quasi tutto smauiol, überwindet seine Befangenheit und kniet vor Natura nieder.
4500: Der Dimter wird zum Vertrauten und Sekretär der Natura lquasi cum familiari et secretario meal.
v·536: Der Dichter wird von Natura als Amico angeredeL
453C-454A: vv. l.O9 sq., 353 sq., 614 sq.: Aufgabe der Natura ist es, durch die Regelung von Geburt und Tod für Kontinuität der Wesen Irerumque series seriata reciprocatione nascendi ;ugirer texereturl und zugleich für die Wahrung ihrer verschieden ausgeprägten Individualität lex conformibus conformando conformia, singularum rerum reddidi vultas sigillatos) zu sorgen. vv. 1181 -1395: Die Amor-Episode beginnt Init den widersprüchlichen Erscheinungen des
455 V-456C: Das Metrum V, die cupidinariae artis thearica enthaltend, beginnt
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mit den Widersprüchen des Zustands der Liebenden (Pax odio, fraudique lides, spes iuncta timon est Amorl, zeigt, wie Cupido alle Dinge in ihr Gegenteil verkehrt, und gipfelt in der Warnung, die einzige Medizin sei hier die Flucht.
471 C-475 C:
Erscheinen der Tugenden in der Gruppierung 1: 4 (Hymenäus und vier Tugendenl, nachdem zuvor die aus verkehrter Liebe entspringenden Laster beschrieben wurden (460 D bis 471 CI.
478 AlB: Largitas klagt über einen alumnus, der die Ordnungen der Natura schlimmer als andere entehrt habe, obwohl er (die Prodigaütasl von Nobilitas, Prudentia, Magnanimitas aufgezogen und von Largitas am reichsten mit Gaben ausgestattet worden war.
bel prato; die Wirkung Cupidos wird sodann in vier gegensätzlichen Affekten (Desianza und fino Amor, Paura und Speranzal beschrieben; der Dichter glaubt, Amor durch Flucht entgehen zu können (als ob er dem Rat des Alanus folge!!, und fällt ihm doch anheim. VV.
1114-1170:
Der Dichter findet Vertute, die von den vier Kardinaltugenden umgeben ist; dieselbe Gruppierung 1:4 kehrt bei den Töchtern der Giustizia wieder, die den bel cavalero unterweisen; die Laster (hier als die sieben Todsündenl werden später in der Penitenza-Episode beschrieben (VV.2417 bis 28911. VV. 1363- 1369:
Der bel cavalero, dem der Dichter im Reich der Tugend folgt, erhält seine Unterweisung gleidlfalls erst bei Largbezza, dann bei Cortezia, Leanza und Prodezza.
Schon der erste Blick auf die Zusammenstellung zeigt, daß kaum eine dieser Entsprechungen der üblichen Bestimmung einer Entlehnung oder Nachahmung genügt. Brunetto Latini hat zweifellos den Planctus Naturae vor Augen oder - wahrscheinlicher noch - in deutlicher Erinnerung gehabt, als er seinen Tesoretto verfaßte. Doch gab er seiner im Aufbau wie in Einzelheiten so ähnlichen allegorischen Fabel vom Anfang an eine neue Richtung. Die persönliche Note des Dichters, der vom politischen Schicksal seiner' Vaterstadt betroffen ist, rückt an die Stelle der Klage über die gestörte Ordnung der Natur und ergibt einen neuen »epischen Anlaß .. , der auch die Lehre selbst berührt: während Alanus die platonisierende Philosophie seiner Schule gegen die Sodomie ins Feld führt, kommt es Brunetto darauf an, die Kosmologie des Alanus in der allegorischen Form seiner neuen Summa einem italienischen Publikum nahezubringen. Diese Umsetzung hat in der neuen Fabel alles Ubernommene in einer Weise verändert, die mit dem Begriff Nachahmung, Bearbeitung oder Variation nicht angemessen erlaßt werden kann. Denn obschon der äußere Rahmen, die
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Figuren und Requisiten des Planctus Naturae beibehalten wurden,
ist der Tesoretto gleichwohl der Versuch, mit denselben Bausteinen etwas Neues zu schaffen, also nicht Nachahmung, sondern eher Weiterführung einer schon bekannten allegorischen Fabel! Nicht anders, nämlich nachbildend und weiterführend zugleich, hatte sich schon Alanus in die Nachfolge des Bernhard Silvestris und des Claudian gestellt und dann seinem Planctus Naturae mit dem Thema des späteren Anticlaudianus: der Schöpfung eines vollkommenen Menschen, selbst wieder eine Art von Fortsetzung gegeben47 • Die großen Werke der philosophisch-theologischen Epik in der allegorischen Tradition des Claudian und des Boethius können wie eine Reihe von .. Fortsetzungen .. gelesen werden! So hat auch Brunetto Latini, der diese Tradition in die Literatur der italienischen VC?lkssprache einführte, im Tesoretto nicht nur die Allegorie seiner Vorgänger vulgarisiert: auch hier kehrt Natura gleichsam in einer anderen Situation wieder, um einem neuen Dichter den Weg zu weisen, der ihn über die Rollen des secretarius im Planctus Naturae wie über die des amant im Roman de la Rose hinausführen muß. In formaler Hinsicht sind die augenfälligsten Neuerungen Brunetto Latinis, daß er zwei seit Alanus beliebte, doch inzwischen zum Klischee herabgesunkene Beschreibungsweisen allegorischer Epik: das Schema der Allegorie des Kleides und des lehrhaften Dialoges, durch abwechslungsreichere Mittel der Darstellung ersetzt hat. Die Kosmologie, Schöpfungsgeschichte und Erdbeschreibung des ersten Teils ist - wie schon dargelegt - nach dem Stilprinzip wechselnder Darbietungsformen aufgegliedert, so daß der Gegenstand der Lehre bald in unmittelbarer Beschreibung der Werkstätte der Na tu ra Ivv.109-1301, bald in gestalthafter Personifikation Iv. 148 sq.l, dann in Form einer längeren Rede, die aber in ihrer Mitte durch einen neuen Blick auf Natura in Ausübung ihres Amtes abgeteilt wird Iv. 503 sq.l, und am Ende wieder als geschaute Welt vor Augen tritt Iv. 917 sq.l. Bedenkt man, daß Brunetto hier einen Stoff ähnlicher Art und gleichen Umfangs wie Alanus zu beWältigen hatte, so wird evident, wie geschickt er die Proportionslosigkeit der Beschreibungen und die Eintönigkeit der Monologe seiner Vorlage zu vermeiden wußte48 • Im Hinblick auf den Inhalt der Lehre sind Unterschiede, die sich nicht einfach schon durch den Wegfall des Themas der Sodomie erklären49, weniger leicht und nicht so eindeutig zu greifen, daß daraus schon auf einen eigenen Standpunkt Brunettos gesdUossen werden könnte. Die verschiedene Reihenfolge in der Behandlung der Kosmologie ergibt sich aus der verschiedenen Absicht. Alanus geht von der Schöpfung des Menschen aus 1442. CI, legt dar, wie sich Mikrokosmos und Makro70
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kosmos in vielfältiger Weise entsprec:hen 1443 ßJ, um sdllleßllCl1 Clle gestörte Ordnung in den Dingen der Liebe mit Hilfe des Mythus von Venus und Antigamus zu erläutern (456D). Brunetto hingegen beginnt mit der Erschaffung der Welt (v. 32.1 Bq.), läßt Natura sodann die Anfänge aller irdischen Dinge: smöpfungstage, Sturz Luzifers, Sündenfall, erzählen (vgl. v. 884 Bq.) und gelangt erst am Ende zur Darstellung des Menschen als Krone der smöpfung (v. 635 sq.). Bei ihm läuft die Kosmologie im Thema der dignitas hominis aus (v. 62.7 Bq.); auch die an dieser Stelle gebrachte Lehre von den vier Körpersäften. und vom Einfluß der Planeten ist auf die Natur des Menschen bezogen: Ogn'omo ha sua natura e diversa fattura, e IOn talor disphi: ma io li faccio pari, e tutta lor discordia, ritorno in tal concordia, ehe io per lo·ritegno 10 mondo e 10 sostegno, saIva l.a volontade de la Divinitade.
Die angeführte Stelle ist zugleich typisch für die Aufgabe des Ausgleichs aller Gegensätze, die Brunetto seiner Natura im besonderen zuerkannt hat (vielleicht als Gegenpol zu seiner Darstellung von Amor, den er stets wechselnde, gegensätzliche Zustände hervorbringen läßtl). Vergleicht man nämlich die Bestimmungen der Stellung und Punktion der Natwa in heiden Texten, so ergibt sich bei einer weitgehenden Ubereinstimmung im Bild der kosmischen Ordnung doch der eine Unterschied, daß Alanus die Hauptaufgabe der Natura darin sieht, die Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos in jeder Hinsicht zu wahren, während Brunetto seine Natura letztlich dafür Sorge tragen läßt, daß der Widerstreit der humores und der Gegensatz der Elemente im Mikrokosmos je fürsich zurrechtenHarmonie gelangtso. Da Brunetto Latini mit seinem Tesoretto offensichtlich die Absicht verfolgte, eine allgemeine, Kosmologie (Thwrica) und Ethik (Pratica) einschließende Darstellung des Wissens zu geben, das er für die höhere Laienbildung als unerlißlich ansah, konnte er dem Planctus Namrae zwar vielleicht die Anregung entnehmen, seine allegorische Fabel durch eine Begegnung mit den Tugenden fortzusetzen, nicht aber die dort gegebene Gruppierung der Tugenden selbst beibehalten. Denn Alanus 71
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Tugenden (Castit4S, TemperlJIltia, Largit4S, Humilit4S1 aufziehen lassen, die den Gegensatz von Lastern verkörpern, welche Natuza zuvor als Folge der ungeordneten Liebe angeprangert hatte (Gulosit4S, Ebrietas, Avaritia, Arrogantia. Livor, Adulatio, 482 AI. Brunetto scheint statt dessen zunächst den traditionellen Katalog der vier Kardinaltugenden darstellen zu wollen (die ungewöhnliche Gruppierung I: 4, nämlich Verrute mit Prodenza, Temperanza, Fortezza, Guistizia könnte von Hymenäus und seinen vier Tugenden beeinflußt sein); der entsprechende traditionelle Katalog der sieben Todsünden wird dann noch in La Penitenza behandelt (v. 2S64 sq.l. Doch nach einer ersten Aufreihung der vier Kardinaltugenden, die in lapidarer Verkürzung nur die Inschriften ihrer Paläste und den Anblick ihrer ungenannten, Hof haltenden Untertugenden bringt, verweist Brunetto auf den gran Tesoro, wo der Leser Ausführlicheres zu diesem Gegenstand finden könne (v. 134S sq.l, und geht sogleich dazu über, von vier anderen Tugenden zu sprechen, die er besonders verehre. Es sind dies Cortesia. Larghezza, Leanza, Prodezza: vier Tugenden der höfisch-ritterlimcn Kultur also, wie Brunetto selbst hervorhebt (perche '1 lor convenente! mi par piil gIazioso! e a la gente in uso, vv. 1340-1343), die er aber etwas später als Nachkommen der Giustizia bezeidmet (v. 1361 sq.). Uber eine Vorlage oder den Grund dieser Gruppierung, die auch im Tresor kein Seitenstück hatsI, läßt die Quellenforschung nichts verlauten. Hat Brunetto vielleicht an die Figuration der höfischen Tugenden im Roman de la Rose gedacht? Dort finden sich Gegenstücke zu Larghezza und Cortesia in den BeschIeibungen von Ltugece und Cortoisie, ferner zu Leanza einige vergleichbare Züge im Wesen von Franchise, aber keine Entsprechung zu Prodezza P • Sieht man näher zu, so zeigt sich, daß diese Tugenden im Tesoretto zwar noch durch ihre Namen und durch die Figur des bel cavalero auf die alten Normen der höfisch-ritterlichen Erziehung zurückweisen SJ , aber von Brunetto Latini schon nicht mehr dem höfischen Ideal einer feudalen Gesellschaft gemäß beschrieben und exemplifiziert werden: die Ratschläge und Ermahnungen seiner noch im alten Gewand eingeführten Personifikationen lassen die andere geschichtliche Welt und neue Ethik der italienischen Communen mehr und mehr hinter der höfischen Etikette hervortreten S4 ! Ein vergleichender Blick auf die entsprechenden Figuren im Roman de Ja Rose kann das am besten verdeutlichen. Dort wird das Wesen der Freigebigkeit an dem Satz erläutert, daß Avance gar nicht so schnell auf das Nehmen bedacht sein könne, wie es Largece auf das Geben seiSS. Das Wesen der Largece schließt dort jede Einschränkung aus, 80
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daß sich die Frage nach einem rechten Maß des Schenkens gar nicht stellt; Gott läßt Largeee immer mehr Güter zukommen, als sie auszuteilen vermag, und ihre Wirkung ist so unwiderstehlich, daß sie sich selbst ihre Feinde zum Freund zu gewinnen weiß Iv. 1136 sq.). Die Rede der Larghezza im Tesoretto hingegen beginnt sogleich mit der Widerlegung des Zweifels, ob der Freigebige nicht Gefahr laufe, in Armut zu fallen Iv. 1379 sq.), betont die Notwendigkeit des Maßhaltens Ise ti tieni al mio freno, v. 1396) wfd breitet sich dann in oft recht lebensnahen Ratschlägen IWarnung vor Würfelspiel, Bordell, Taverna) darüber aus, wie man mit Verstand sein Geld ausgeben könne. Die Möglichkeit, eine geliebte Dame mit Geschenken zu bedenken, wird hier in einer Weise erwogen, die einem Abraten gleichkommt Ibe'Uo si puote fare, / ma no'] voglio aprovare, v. 1463 sq.). Der Schritt vom .. Realismus .. der höfischen Ethik, die ihre Richtschnur am erfüllten Maß der Vollkommenheit gewinnt, zum .. Nominalismus .. einer neuen Tugendlehre, die das Maß der rechten, oft schon der vorteilhaften Mitte von Fall zu Fall erst zu ergründen sucht, hat indes noch weitere Konsequenzen. Die Rede der Cortesia behandelt zunächst analog zum Roman de la Rose Ivgl. v. Il35 sq.) die Forderung des geziemenden Redens und entwickelt dann Regeln, wie man - nicht ohne gewisse Zugeständnisse - im gesellschaftlichen Umgang eine .. gute Figur.. machen könne s6 • Dabei wird am Ende der Freundeskreis l1a brigata, v. 1815 sq.) als gesellschaftliches Ideal herausgestellt, offensichtlich zu Lasten des Minnedienstes, denn Cortesia warnt den .. edlen Ritter« unmißverständlich vor Amor: E guarda in tutte parti eh'Amor gitl per su' arti non t'inßammi 10 eore: eon ben grave dolore eonsumerai tua vita, ne mai di mia partita non ti potrei tenere, se fo.t;si in suo podere.
Ivv. 1843-1850) Die Norm der Cortesia soll in dieser neuen Auslegung der gesellschaftlichen Tugenden paradoxerweise ein Dienstverhältnis zu Amor geradezu ausschließen! Hier ist der Abstand, aus dem Brunetto das alte, im Roman de la Rose kodifizierte Ideal des amour eourtois schon sieht, nicht mehr zu ve1-kennen. Sein Gegenideal: die Treuebindung 73
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an die Vaterstadt, tritt noch nicht bei Corte.sia. sondern bei den letzten heiden Personiftkationen Leanza und Prodezza heraus. Zunächst will es auch hier scheinen, als ob Brunetto diese der ritterlichen Ethik entnommenen Begriffe einfach entidealisiert und mit einem neuen, den Erfordernissen des täglichen Lebens in der Commune gemäßen Inhalt erfUllt habe. Leanza (LealttJde) erteilt praktischen Rat, wie man sich mit Anstand seinen Verpfiichrungen anderen gegenüber entledigen solle, die Rede der Prodezza behandelt die Frage, wie ein schlauer Kopf mit Erfolg seine Ehrenhändel bestehen könne. Doch diese schon einer praktischen, gelegentlich sogar skeptischen Lebensklugheit entsprungenen Ratschläge, die dem Geist ritterlicher Ethik weithin zuwiderlaufen, gipfeln überraschend in Verpßichtungen gegenüber der Commune, die dann doch wieder ideal aufgefaßt und über die relative Moral des tiglichen Lebens hinausgerüc:kt sind. Während es sonst auch einmal klüger sein kann, die Wahrheit zu verschweigen Iv. 1888 sq.) oder ein Versprechen nicht einzuhalten, wenn daraus ein .größeres übel. entstünde (v. [917 sq.), gilt es, der Commune gegenüber ohne Einsc:hrinkung diritto e le.ale zu sein (v. [9411. Und während es in privaten Händeln keineswegs schmählich ist, dem Kampf mit dem Stärkeren auszuweichen (v. :10:141 und sich nach den Geboten der Schlauheit (mae.stria. v. :109:11 zu richten, stehen die Kämpfe der Stadt unter einem höheren moralischen Gesetz, das vom einzelnen den rüc:khaltlosen Einsatz des eigenen Lebens gemäß der alten ritterlichen Ideale des bamaggio (v. 21511, der frtmchezza (v. 21SS) und der buona prodezza (v. uS6) erfordert. Brunettos Widerspruch gegen das in Frankreich ausgeprägte Ethos des amoUI courtois verdichtet sich im dritten Hauptteil des Te.soretto. dem Weg durch das Reich AmOlS, zur Gebärde der ausdrücklich vollzogenen Abkehr. Wenn Brunetto für diesen Abschnitt der allegorischen Wanderung in der Tat das Werk des Guillaume de Loms vor Augen stand 57, ist das Verhältnis des Te.soretto zum Romtm de la Rose gewiß nicht mehr als Nachahmung eines Vorbilds, aber auch nicht als Neugestaltung derselben Fabel, sondern als kritische Auflösung und Gegenposition zu fassen. Eine Zusammenstellung der Entsprechungen erbringt hier folgendes Ergebnis: Tesoretto
Roman de Ia Rose
vv. 18-la:
vv.
Hinweis auf spätere Auflösung der noch verborgenen Wahrheit (vgl. weiterhin vv. 978 Bq., 1600 Bq., lO67 sq.).
74
[266]
39S-~6:
Ankündigung, die Dinge später in aperto darzulegen, womit hier zugleic:b -Öl Prosa- gemeint ist (vsl· dazu vv. :&87. 913, lila, 2365).
vv. 45-83: Weg durch den Mai.
vv. 2.198-2.l.O3:
Weg durch den Mai.
vv. 591-618:
vv. 2.2.51-2.356: Reich des Igleichnamigen! Piaure.
Garten des Deduiz. vv.72.7-12.78:
vv. 1345 -2.I70:
Reigentanz der höfischen Tugenden, darunter Largece, Cortoisie und Franchise.
Vier höfische Tugenden: Largbezu, Cortesia, Leanza, Prodezza, eigens hervorgehoben. VV. 2.2.60-2.342.:
vv. 865 -984:
Der Liebesgott im Blumenkleid, dessen Wirkung in den Stadien seiner fi1nf Pfeile beschrieben wird.
Der Liebesgott als blinder Cupido, dessen Wirkung in vier Stadien beschrieben wird.
vv. 1175 - 1190: Largece hat sich einen Artusritter zum Begleiter erwählt.
v. 1365 sq.: Largbezza unterweist einen bei valero.
vv. 1681 - 1880: aman t von Pfeilen Amors getroffen.
VV.
CQ-
2.343-2.389:
Der Fliehende wird von Amor ereilt, als er schon glaubt, ihm entronnen zu sein.
vv. 1881-2.764:
VV.
2.3S7 -2.395:
Amor als Lchrmeistcr,derdenamant am Ende mit tröstlichen Ratschlägen ausstattet Ivgl. v. 2.595 sq.!.
Ovid als Lehrmeister, dessen Kunst dem Wanderer zur Flucht vor Amor verhilft.
vv. 192.6 sq.: amant will Amor die Füße küssen, wird statt dessen mit feudalem Zeremoniell Imains ;ointes, Kuß: v. 1955 sq.! sein Lehnsmann.
VV.1365-1379: Natura stauet Dichter mit segna 1= Lanzenfähnchen mit ihrem Emblem?! aus, er küßt ihr zum. Zeichen der Unterwerfung die Füße.
Auch bei dieser Gegenüberstellung könnte man von einem allgemeinen allegorischen Schema sprechen, auf das sich beide Dichter mit ihrer Fabel beziehen: Aufbruch im Mai - Weg des Dichters in eine abgeschlossene .. andere Welt- der Liebe (Deduiz = Piacere) - Erscheinung Amors, Beschreibung der Stadien seiner Wirkung - Dichter selbst von Amor ereilt - seine .. Heilung-. Die Entsprechungen sind hier aber derart, daß gerade an den vergleichbaren Elementen der Fabel die Gegenposition Brunettos sichtbar wird. Auch das besonders auffällige Detail der Doppelheit von Deduiz und Li dew d'Amor, der bei Brunetto das Nebeneinander von Piacere (alias Dio d' Amore) und Fino Amor entspricht, ist mehr als das Indiz einer unmittelbaren Entlehnung. L. F. Benedetto sah darin zu Unrecht einen letzten Beweis für 7S
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die Unselbständigkeit des .. imitatore inespeno u Brunetto Latini, der die wahre Bedeutung von Deduiz mißverstanden, darum Piacere mit dem Dio d' Amore in eine Gestalt zusammengeworfen und sich am Ende in den Widerspruch verstrickt habe, daß Amore zugleich der Liebesgott und eine der aus ihm hervorgegangenen vier donne valenti, nämlich Fino Amor (vv.2.307, 2.3401, sein solle s8 . Aber handelt es sich hier wirklich um einen Widerspruch? Auch der Begriff der Tugend ist im Tesoretto zuvor schon in der Doppelheit von Substanz und Akzidenzien oder des Einen und seiner vier Aspekte, nämlich als Vertu fe und ihre vier regine ßglie, verkörpert worden (v. I2.45 sq.l. Und die Frage, wie sich das Eine in ein Vierfaches ausfalten kann, wie jeder Teil für sich wirkt und alle vier dann doch wieder als Eines erscheinen, wird nicht erst hier, sondern auch schon für Vertu te eigens erörtert und gehört offenbar zu einer philosophischen Thematik, der Brunetto besondere Aufmerksamkeit schenkte s9 • Von einem Widerspruch in dem engeren Sinne, »ehe Amore sia posto intorno ad Amore60 .. , kann aber auch aus dem viel einfacheren Grunde nicht die Rede sein, weil Amore als Piacere einerseits und als Fino Amor andererseits im Kontext keineswegs, wie Benedetto unterstellte, identisch sind. Piacere ist im Tesoretto, genaubesehen, schon gar nicht mehr gleichbedeutend mit Deduiz, noch nimmt Piacere bei Brunetto die gleiche Stelle eines von Amor unterschiedenen Besitzers des Ganens ein, der im Roman de la Rose den Inbegriff der hönschen Kultur im vollkommensten gesellschaftlichen .. Spiel .. verkörpene. Desgleichen bedeutet Fino Amor für Brunetto offensichtlich nicht mehr die Norm des amour courtois im Unterschied zu der Liebe der gewöhnlichen Sterblichen, da Fino Amor jetzt nur noch als einer der vier Affekte erscheint, zwischen denen der Liebende hin und her gerissen wird. Hinter den scheinbaren Mißverständnissen der französischen Vorlage stehen in Wahrheit Bedeutungsverschiebungen, die zusammen mit der Umgruppierung fast aller Personifikationen gesehen werden müssen und die dann auch verraten, welche Absicht Brunetto Latini mit dieser auffälligen Umbesetzung verfolgt haben dürfte. Während Guillaume de Lorris den Deus d' Amors an der Seite von Biautez im Reigentanz der hönschen Tugenden einführt (v. 865 sq., 985 sq.I, löst ihn Brunetto aus diesem Verband heraus und teilt seinem Dio d' Amore ein eigenes, von den Tugenden abgesondertes Reich zu! Amor, in französischer Tradition höchste und unabdingbare Stufe der hönschen Bildung, hat bei Brunetto offensichtlich seinen Rang in der Reihe gesellschaftlicher Tugenden eingebüßt, in denen sich ein bel cavalero bewähren muß. An der Stelle Amors nimmt in der praktischen Tugendlehre des Tesoretto eine andere Norm die höchste Stelle ein, an
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der Brunetto, dem unter dem politischen Schicksal seiner Stadt leidenden, exilierten Patrioten, besonders gelegen sein mußte: Giustizia. Er zeichnet sie unter den Kardinaltugenden, obschon sie dort die vierte und letzte Stelle innehat, dadurch aus, daß er von ihr sagt, sie sei überall unter dem gleichen Namen bekannt I. .. 10 son cbiamata / Giustizia in ogne parte, v. 1314 sq.), während PlOdenza. Temperanza und Fortezza anderenorts versdlieden benannt werde6I • Er ordnet sie dem neuen Kanon der vier gesellschaftlichen Tugenden über, indem er Cortesia, Largbezza. Leanza und Prodezza zu ihren Nachkommen macht, und gibt damit die andere Absicht seiner Ethik zu erkennen. Die Abwertung Amors wird weiterhin in der schon erwähnten Warnung der Cortesia deutlich Iv. 1843 sq.). Sie ist auch der Schlüssel für den dunkelsten Abschnitt der allegorischen Fabel: das Verhalten von maestro Brunetto im Reich des Liebesgottes. Wie im Roman de la Rose geht auch im Tesoretto eine allgemeine Beschreibung des Wesens der Liebe durch ihre personifizierte Gestalt und ihre verschiedenen Erscheinungsformen der Erfahrung des Dichters als einem besonderen Fall voraus. Guillaume de Lorris benutzt dazu das konventionelle Schema der goldenen pfeilebl es sind deren fünf: Biautez, Simplece, Franchise, Compaignie, Biaus Semblanz Ivv. 935 sq., 1681 sq.). Sie versinnbildlichen hier Tugenden der Dame, durch die der amant mehr und mehr, in einer vorstellbaren Abfolge seiner Erfahrungen, in den Bann ihrer Liebe gerät. Brunetto Latini erwähnt in seiner Schilderung Cupidos zwar auch noch die Pfeile, benutzt dann aber wieder eine Vierergruppe von donne valenti, die im Gefolge Cupidos erscheinen, um seine Macht über die Menschen in vier gegensätzlichen Zuständen lquattro stati, v. 2.319) zu verkörpern. Es sind dies Paura und Dislanza. Fino Amor und Speranza. Wie schon die Namen anzeigen, wird hier die unwiderstehliche Gewalt Amors nicht mehr, wie bei Guillaume de Lorris, vom Gegenstand der Liebe aus, durch die normativen Eigenschaften der Dame bestimmt, sondern subjektiv an den wechselnden Gemütszuständen des von Amor in Beschlag Gelegten erfaßt. Vom Roman de la Rose aus gesehen, stellt sich die Behandlung Amors im Tesoretto dar als Schritt aus der Idealität der höfischen Liebesethik in die Psychologie einer versachlichten Beschreibung bloßer Affekte. Denn auch Fino Amor ist hier um die Dimension seiner ursprünglich vergeistigten Bedeutung verkürzt und zum bloßen Gegengewicht von Disianza geworden, deren Mühen und Qualen er süß und leicht erscheinen lasse6l . Aus dieser Entmythologisierung erklärt sich auch am einfachsten, warum Brun'etto so ausdrücklich hervorhebt, daß dem Liebesgott in Wahrheit (al buon ver dire, v. 2.:1.71) der Name Piacere zukomme, auch wenn ihn .. die Leute- aus Furcht Dio 77
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d'Amore zu nennen pflegen Iv. 2.340). Brunetto fühn hier den Anspruc:b des amoUl coUltois auf sinnlic:b-geistige Totalität der Liebe polemisch wieder auf das Normalmaß der vo1uptas zurück. Für ihn ist Amor im Grunde nic:bts anderes als die vereinte Wirkung der Affekte, die das Verlangen nac:b der persona piacuta im Verliebten auslöse: ehe, quando omo 'namora, io dico ehe 'n quell'ora diaia ed ha temore e speranza ed amore di persona piaciutaj ehe la saetta aguta ehe move di piacere 10 punge, e fa volere diletto corporale,
tant'e I'amor corale. Cosi ciascuno in parte aoverar su'arte divisa ed in comunOj ma tutti son pUl uno, eui la gente ha temore, si 'I ehiaman Dio d'Amore, percio ehe 'I nome e I'atto s'acorda piu al fatto. Ivv. 2.32.5-2.342.)
Dieser Theorie entsprec:ben auf dem Plan der Darstellung zwei Neuerungen der allegorisc:ben Fabel, die man Brunetto Latini wahrsc:beinlic:b selbst zuschreiben und dann gewiß auc:b als geistteic:be Einfälle seiner Ironie ansehen kann. Cupido ist im Tesoretto ausdrücklic:b als ein blinder Liebesgott dargestellt Ima neente vedea, v. 2.2.65). Dieser Zug ist um so überrasc:bender, als weder die literarisc:be Tradition des klassischen Altertums noch die des lateinisc:ben Mittelalters, gesc:bweige denn die höfische Dic:btung in Frankreic:b vor Brunetto, soweit ic:b sehe, einen blinden Cupido kennt'4. Das Attribut der Blindheit wird dem Liebesgott vermutlic:b zum erstenmal in Italien von Brunetto Latini und um dieselbe Zeit - ohne daß sic:b eine Priorität ausmac:ben ließe von Guittone d' AIezzo in seinem Sonett DeI cieco esser de l' Amore beigelegt'4a. Daß Brunetto noc:b damit rec:bnete, seine Leser durc:b einen blinden Cupido zu überrasc:ben, zeigt wohl auc:b .der Umstand, daß er seinen Wanderer hemac:b die Frage nac:b dem Grund dieser Blindheit stellen (onde tale incarco / li venne, che non vede, v. 2.370 sq.), sie aber von Ovid nic:bt in einer Weise beantworten läßt, die unsere philologische Neugier auf eine unbekannte Quelle befriedigen könnte. Gleic:bviel ob sic:b hinter der ironischen Auskunft Ovids Brunetto selbst oder ein anderer Urheber der Blindheit Cupidos verbirgt, die allegorische Fabel des Tesoretto tritt damit wieder in eine Gegenposition zum Ethos der höfischen Liebe: während die Norm des ßn'amor dort ein bewußtes Erwählen der Dame fordert, setzt Brunetto dieser Tradition einen blinden Amor entgegen, der seine Opfer nac:b dem Gesetz des Zufalls trifft's. Und damit nic:bt genug,gibterdannauc:bdem neuen Weg durc:b
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das Reich Amors einen Absdlluß, der aller höfischen Tradition der Liebesallegorie widerspricht. Während der Dimter im Roman de la Rose sich unter allen Rosenknospen die schönste erwählt Iv. I6SS sq.) und erst nach dieser Wahl von den Pfeilen Amors getroffen wird, glaubt maestro Brunetto, in der Flucht vor der Liebe den besseren Teil gewählt zu haben Iv. 2.343 sq.). Dieses Motiv braucht an sich noch nicht in einem antihöfischen Sinne verstanden zU werden, so wenig wie seine durchaus erwartbare Folge: daß gerade derjenige die blinde Gewalt Amors zu SpÜlen bekommt, der glaubte, für Liebe nicht anfällig zu sein. Der Widerspruch zu der im Roman de la Rose gipfelnden höfisch-allegorischen Tradition tritt erst in der ironischen Motivation hervor, die Brunetto der erwarteten Wendung vom unbeteiligt fliehenden zum unversehens doch nom ereilten Dichter zu geben wußte. Denn diese Wendung der Dinge wird hier auf höchst überraschende Weise gerade nicht durch einen gezielten, blinden oder verirrten Pfeil Amors ausgelöst". Sondern sie tritt im Kontext als unmittelbare Folge der Fragen nach dem Wesen Cupidos und nach der Bedeutung seiner Blindheit ein, die maestro Brunetto an die just in diesem Augenblick auftretende höchste Autorität, an Ovid zu rimten wagt. Weder von einem Pfeil noch von einer perSODQ piawta ist hier irgendwo noch die Rede: als ob Qvid die Richtigkeit seiner lakonisdlen Antwort: ehe la forza d'amare I non sa chi no·lla prova (v. 2.374 sq.), habe sofort unter Beweis stellen wollen, bemerkt der wissensbegierige Wanderer plötzlich, daß er keinen Schritt mehr weiter tun kann, weil auch er Amor .. auf den Leim gegangen- ist Iv. 2.38S). Wie verhält sich hier Frage, Antwort und Ereignis? Hätte Brunetio damit bedeuten wollen, daß sein Wanderer bei Qvid gerade um seiner theoretischen Frage willen von Amor ereilt, also eigens zur persönlichen Belehrung gleich selbst zum Beispielsfall für den orakelhaften Satz des Lehrmeisters der Ars amandi gemacht worden sei, der ihn dann ja auch gleich wieder per arte (v. 2.390) freikommen und auf den rechten Weg zurückfinden läßt? Für diese Deutung läßt sich vor allem anführen, daß maestro Brunetto nicht erst hier aus Wissensdurst zu neuer Erfahrung gelangt. Sein Weg ist schon von Anfang an dadurch gekennzeichnet, daß er als Wanderer allein von einem edlen, alle anderen Motive aus!!l'bHeßenden Verlangen nach Wissen und Erfahrung immer weiter getrieben wird:
Or va mastro Bumetto per UD sendero stretto, cercando di vedere e toccar e sapere da ehe l'e destinato. (n. II83-II87) 79
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Gehen, um zu sehen, sehen, um zu wissen: darin ist das Schicksal des allegorischen Ims im Tesoretto beschlossen! Daß diese Haltung der CuriosiUJS dem Wanderer wesentlich ist, ja geradezu die neue Rolle des allegorischen Ichs im Tesoretto ausmacht, wird noch deutlicher, wenn man auf das Ich im Planetus Naturae zurückblickt. Dort richtet der Dimter zwar sieben Fragen an Natura. Doch sind diese ohne Beziehung zu ihm selbst, schülerhaft unselbständig und im Grunde nur dazu da, die lange Rede der Natura äußerlich zu untergliedern. Im Tesoretto ist diese veräußerlimte Dialogform vermieden; Brunetto hat hier sein .. alter ego a sogleim in der freieren Haltung eines Mannes eingefühn, der die Bedrängnis seiner Lage durch die Hoffnung auf Bereicherung seines Wissens überwindet. Während der Dichter im Plane· tus Naturae erst der Ermahnung seiner großen Lehrmeisterin bedarf, um seine Ohnmacht zu überwinden und sein Gegenüber wiederzuerkennen67, vermag maestro Brunetto sich von selbst zu erheben, auf Natura zuzugehen und den Mut zur Frage aufzubringen: c fe' proponimento di fare un ardimento per gire in sua presenza con degna reverenza, in guisa ch'io vedere la potessi, e savere certanza di suo stato. (vv. 2.37-2.431 Dieses Verlangen nach neuer Erfahrung (disio, eh'io avea di sapere, v. 512. sq.1 erscheint von nun an ständig und in mehrfach erneuerter Gebärde, so daß sich der durchmessene Weg im weiteren vielmehr als eine Suche und vom Ich des Wanderers selbst getragene Handlung denn als ein passiv hingenommenes Geschehen darstellt". Blieb der Dichter im Planctus Naturae eine für die allegorische Handlung äußerliche, ja zufällige Figur und fiel dem Dichter des Roman de Ja Rose die passive Rolle des amant zu, an dem sich nach vollendeter höfischer Erziehung das Geschehen der Liebe als ein zwangsläufiger Prozeß vollzieht, so ist nun der neue Weg des Dichters im Tesoretto durch keine andere Notwendigkeit mehr begründet als durch die Curiositas dessen, der in seiner Erwanung von Situation zu Situation nur noch von dem Verlangen nach Wissen und Wahrheit bestimmt ist: ... eh'ognora atendo I di saper veritate I de le cose trovate (v. U3O-UP.). Die Begegnung mit Amor macht darin keine Ausnahme: obschon das verhüllte Geständnis der Verse 2.343-2.356 sogar einen besonderen bio80
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graphischen Grund seiner Flucht vor Amor nahelegt69, ist der Punkt der Fabel, an dem maestro Brunetto der Macht Amors preisgegeben wird, nicht mehr von einer erkennbaren privaten .. Verfehlung.. , sondern allein von seinen theoretischen Fragen und Ovids Antwort durch eine .. praktische Unterweisung- bedingt. Damit enthüllt uns das wiederkehrende Motiv der Curiositas70 aber auch die zunächst noch verborgene Idee, die im Tesoretto alles Geschaute in einem besonderen Sinne verbindet. Der Zusammenhang der allegorischen Reise, der in der Diskontinuität von Weg und Landschaft nicht greifbar wird, liegt in der Figur des Wanderers selbst - in der neuen Rolle eines allegorischen Ichs, das für sein .. theoretisches Interesse- an den Dingen und Ordnungen der Welt keiner theologischen Rechtfertigung mehr bedarf, das in seiner neuen, nicht mehr höfisch-romanhaft begründeten Aventüre allein noch einem ständigen volere / di piu eerto sapere / la natura deI latto folgt (vv. n63-n6sl und das derart auf seinem Weg der Erfahrung bereits das laizistische Bildungsideal des Tresor in der beispielhaften Gestalt von maestro Bronetto verkörpert. Dieses Ergebnis unserer Untersuchung kann zuletzt wohl auch noch das Verhältnis zwischen Tesoretto und Tresor in ein schärferes Licht rücken. Das allegorisme Versgedimt ist nach alledem ungleim mehr als nur die aufgegebene Vorstufe, als eine schlecht und remt gereimte zweite Fassung oder als ein unselbständiger poetischer Kommentar des enzyklopädismen Prosawerks, obschon oder gerade weil Tesoretto und Tesoro im großen und ganzen denselben Gegenstand behandeln. Denn die beiden Werke, die auf eine so seltsam enge Weise in ihrer Ursprungssituation, Entstehungszeit und Thematik versmwistert sind, stehen durm ihre versdliedene Gattung, Darbietungsform und Absicht in einem Verhältnis der Ergänzung, das auch dem wahrscheinlim etwas früher konzipierten und nicht vollendeten Tesoretto seine Selbständigkeit wahrt. Für dieses ergänzende Verhältnis ließe sim der Sache nach kaum eine treffendere Formulierung finden als der Wortlaut einer (leider fraglimenl Konjektur zu der ungeklärten Aufzählung von Werken Brunetto Latinis in den Croniehe Fiorentine des Giovanni Villani: 11 Tesoretto feh'e/la chiave deI Tesoro7l • Der Tesoretto ist in der Tat der beste .. Schlüssel" zum Tresor! Denn er erklärt und rechtfertigt den politismen Anlaß, den geistigen Ursprung und den moralismen Sinn des großen Unternehmens, das Brunetto in den Versen des Tesoretto begann, in der Prosa des Tresor fortsetzte und hier wie dort in die Nachfolge der Consolatio Philosophiae gestellt hat. Das sdlicksalsschwere Ereignis von Montaperti, das sein Exil und damit die Hinwendung zu der großen Aufgabe zur Folge hatte, konnte in die unpersönlime Form einer Summa so wenig Eingang finden wie 81
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die geistige E.rfahrung der Philosophie von Charues und die kritische Auseinandersetzung mit den Konventionen des hößsc:hen E.thos. Um das persönliche Schicbal in seiner Beispielhaftigkeit darzustellen, bedurfte es einer Gattung, die ermöglichte, das Biographische in die Fabel aufzunehmen und in eine überpersönliche Bedeutung umzusetzen. Dafür standen Brunetto die Vorbilder des Boethius und Alanus vor Augen. Die Muster ihrer allegorischen Dichtung sind vermutlich auch die Ursache, warum Brunetto zu Beginn der Abfassung seines Tesoreuo noch an die iußere Form eines Prosimetrums gedacht haben mag. Wenn er diesen Gedanken tatsichlich hegte, muß er davon aber schon sehr bald wieder abgekommen sein. Statt des zu erwartenden Wechsels zwischen Vers- und Prosaattlck.en finden sich im Tesoretto nur mehrere AnkUndigungen, die Dinge -spiter- apuwnente in Prosa zu erldiren7:1. Dieser Ubergang wird offensichtlich immer weiter hinausgeschoben, und gerade an dem Punkt, wo Ptolemäus dann endlich seine Lehren in Prosa vorbriD&en soll, bricht der Text ab. Die einfachste Erkliirung für dieses Abbrechen ist wohl die, daß die Anfügung eines Prosateiles aus dem Tesoletto gewiß nicht ein Prosimetrum, sondem ein hybrides Gebilde gemacht hitte, vor dem Brunetto selbst zurückschreckte. Sein Verzicht darauf, den Tesoleuo, wie mehrfach angekündigt, in Prosa weiterzuführen, ist im Grunde nur die spitere Konsequenz der in.zwischen ja schon vollzogenen Abapaltung des Tresor, auf den er seine Leser schon lange vorher eigens verwies Iv. 1351) und der ihm jetzt gewiß als die besser geeignete Gattung erscheinen mußte, reines Wissen In puro StmZQ veste, v. 1346) darzubieten. Andererseits ist gewiß nicht zu bestreiten, daß gerade das Fehlen der angekündigten Auflösung in -offener- Prosa die Trennung zwischen allegorischer und didaktischer Form, zwischen der verhUllten Selbstdarstellung des Tesoletto und der freien Mitteilung ausgewihlten Wissens im Tresor vollendet und damit das erginzende Verhiltnis zwischen den beiden Werken gestiftet hat. Der Tesoretto ist insofern der allegorische Schlüssel des Tresor, als er zeigt, auf welchem Wege mtJestlO Brunetto zu dem neuen Ethos jenes Wissens gelangte, das die berühmte &anzösische Enzyklopidie Brunetto Latinis der in seiner Heimat führenden Schicht von Laien als abgeschlossenes System vermitteln sollte. Wenn sein größter Schüler, Dan te Alighieri, seine Huldigung im 15. Gesang des Inferno auf beide Werke in ihrer damals noch evidenten Zusammengehörigkeit bezog, würde das Werk Brunetto Latinis damit zwar nicht zur unmittelbaren Quelle oder zum - Vorliufer- der Divina CommeditJ au&ücken, aber doch den großen Schritt vermitteln und besser ermesaen lassen können, der zwischen der allegorischen Tradition in Frankreich und der neuen Jen-
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seitswanderung Dantes liegt. Während die vergleidlbaren Visionsdidltungen vor dem Tesoretto meist unmittelbar mit der Situation einer Entrückung im Traum einsetzen, greift Brunetto über diesen konventionellen Anfang zurück und benutzt das Motiv der Verirrung im Walde, um sein -alter ego- aus der geschidltlidlen Wirklichkeit in die -andere Welt- der Allegorie hinüberzuführen. Brunetto hält sich hier nicht mehr an die ungeschriebene, von Alanus und Raoul de Houdenc bis zu Guillaume de Lorris fast immer gewahrte Regel allegorischer Dichtung, daß die geschichtliche Welt wie auch das biographische Ich nur figürlich zu der allegorischen Fabel in Beziehung zu bringen sei73. Brunetto Latini hat die Scheidewand zwischen Historie und Allegorie, irdisch-geschichtlicher Welt und jenseitigem Reich der Wesenheiten schon in einer Weise durchbrachen, die in der Fabel seines Tesoretto die ersten Züge einer persönlichen Haltung Gestalt werden IIßt. Dante wird in dieser Richtung noch sehr viel weiter gehen und die Historie in bisher nie versuchter Weise seiner Jenseitedichtung einverleiben, dabei aber sein biographisches Ich noch in einer allegorischen Verhüllung einführen, die als eine aufschlußreiche Umbesetzung der Fabel des Tesoretto (wenn nicht als eine ausdrückliche Bezugnahme) anzusehen ist. Im ersten Gesang der Divina Commedia dient die gleiche Motivreihe: Abirren von der diritta via - Sichverlieren in einer selva OSCUla - Ankunft am fuß eines Berges, mit der Brunetto den Obergang aus einer unverhüllten geschichtlichen Situation vollzog, gerade zur Verhüllung von Dantes persönlichem Schicksal; dafür erscheint die irdisch-geschichtliche Welt, der ser Brunetto beim Eintritt in das Reich der NatlUa den Rücken kehrt, nunmehr in der Schilderung des Jenseits, in den Gestalten und Reden der Toten wieder, die Dante mit ihrer Gesc:hichte und Individualitit an die Stelle der zeitlosen allegorischen Wesenheiten treten llßt.
Anmerkungen I
Zitiert wird nach der letzten Ausgabe des "Tesoretto von GIOVANNJ POZZI, in Poeti deI Dueunto. a cura di G. Contini, MUanolNapoli 1960, t.1I16f}-2.77. Gelegendich wird auch Ausgabe und Kommentar von GIUSUPE nTRONIO: P~metti
del Dueunto, Torino
1951, 9-174,
heran-
gezogen. :1
••• tu gran filosofo e fu sommo maestro jn rettoriClJ. tanto jn bene Stlpere dire come jn bene dittare•... comincjatore e maestro in digosStlre j Piorentini e farglj scorti jn bene parlare. e in sapere guidtus s
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laggela 1a nosua lapubl1Cd sacondo 1a POlitiCd ICronicha Piolantina VII eap. 10). 3 Siehe zuletzt IDUNI WIUUSZOWSItI: Brunetto Latini als Lehrer Dantes. in Archivio HaI. p~r la storia della pietll :1 119591, 171-198. bcs. p. 186sq., wo der Nachweis gefUhn wird, daß Brunetto Latini die sogenannte Sommetta (,. dictamen im Volgarel zuzuschreiben ist. Die Bedeutung des Tresor für die Anfänge der Laienbildung hat vor allem WAlYU COETZ: Danre und Brunelto Latini (19381, jetzt in Dante - Gesamma1u Aufsätze. München 1958. 14-3:1, herausgestellt. 4 Der alte Titel Tesoro ist vv. 7S und 113 genannt; auf den gran Tesoro wird v. 1351 verwiesen. Der neue Titel 11 Tasoretto findet sich zuerst im ältesten Manuskript lEnde des 13. Jahrhundertsll, vgI. NtCOLAUS DELIUS: Dantes Commedia und Brunetto Latini. in lahrbuch der deut· schen Dantegesellsma(t 4 118771, p. l., Anm. I: -Wahrscheinlich wurde das Gedicht Brunettos erst Tesoretto genannt, nachdem Li livres dou Trasor in Giambonis übersetzung unter dem Namen 11 Tesoro di Bm· netto Latini auch in Italien eingebürgen war.- Die Zusc:hreibung der letzteren an Bono Giamboni ist inzwischen von CESAU. SECn (La Prosa deI Duecento. MilanolNapoli 1959, p. 311 sq.1 mit triftigen Cründen in Frage gezogen worden. 5 So etwa fIlANCIS J. CARMODY IEd.I: Li livres dou tresor de Brunetto La tini, Univ. of Califomia Press 1948, p. XX: -Le Trisor est partout mieux documente que le Tesoretto. et celui-ci ressemble a un commentaire poetique, composc d'une serie d'extraits de I'encyclopedie francaise.- In welchem Sinn der Tesoretto als Kommentar des Tre..mr anzusehen ist und ob der erstere auch noch andere Quellen voraussetzt als der Tresor. hat Carmody nicht untersucht. Von einem -italienischen Auszug- des Tresor spricht HIJlMANN CMELIN in seinem Dantekommentar (Bd. I. Stuttgart 1954, p. ~51 und unterstellt damit. daß der Tesoretto nam dem Tresor entstanden sei. - Die Möglichkeit, daß Dante Inf. XV 119 mit sie te raccomandaro il mio Tesoro beide Werke gemeint haben könne, erwähnte schon MICHlU SCHEIUt.LO: Alcuni capitoli della bio· gana di Dante. Torino 1896, p. 168: .. si ponebbe tutt'al piu supporre ehe la citazione di questo non escludesse anche quello. ehe sotto eerti rispetn ne era un artistico eompendio (Gia il LOMBAIU>I: .e forse per Tesoro intende anche I'altro Iibro intitolato Tesoretto,I.6 Storia della letteratura italiana. a COla di BENlDETlO CROC!. Bari '1958, p. 43 sq. Ähnlich A. BARTOll : Storia della letterarura iraliana. Firenze 1879, t. 11 :191 sq.: -~ un genere ibrido, ~ scienza in versi, ~ il vecchio simbolismo medievale ehe entra anche nella nostra letteratura. ma ehe ci entra senza grazia, senza neppOl quella grazia ehe ~ nel Romanzo della Rosa.11 .. Roman de la Rose·, e la letteratura italiana. Halle 1910, p. 100: -Nato 7 come riflesso di una forma artistica gia progredita, esso ci presenta i difetti di un'imitazione malaeeorta, accusa l'assenza di un ingegno pronto, elevato.· 8 WALTU. COETZ: Dan~ und Brunetto Latini. op. eit. P.19. 9 CIUUO BUTom: II Duecento, Milano 1960 (quinta ristampa della terza edizionel, p. 34:1. 10 Die (;ljttlidJ.e Komödie. Heidelberg 119:15, 11 478 sq. 11 Zur Lehre von der Zweckbestimmung des Schönen und zur Nichtunter-
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scheidung der Kategorie des Kunstschönen von der Kategorie des Nützlichen in der Kunstauffassung des Mittelalters siehe jetzt ROSAlUO ASSUNTO: Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Köln 1963, p. :16 sq. Vgl. vv. 190, II36, :1:100, :1894 /dort la foresta, also = der schon bekannte Wald~l.
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Man weiß nicht, von wo aus er v. 9:17 sq. Flüsse und Meer sieht und warum und wo er v. IUS sq. noch ein zweites Mal verabschiedet wird.Mit ser Brunetto oder maestro Brunetto bezeichnen wir von nun an die Figur des Wanderers im Unterschied zu der biographischen Person des Dichters. Der Einfluß von Brunetto Latinis ..Tesoretto« auf Dantes .. Divina Commedia«. Diss. /masch.l, Hamburg 195:1, p. II6. Beispiele bei M. SCHERILLO, op. eit. p. 19:11 doch gibt es auch Visionen, in denen der Pilger seinen Weg allein gehen muß, wie z. B. den Espurgatoire S. Patrice der Marie de Franee. Op. eit. p. 44; lediglich der bel CQvalero teilt mit ihm ein Stück seines Weges, doch kann von Führung keine Rede sein, da ser Brunetto lediglich als unbeteiligter und überhaupt nicht angesprochener Zeuge verfolgt, wie der Ritter in die höfische Ethik eingeführt wird. Vgl. ERNST ROBUlT CURTlUS: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bem 1948, p. 36S, wo indes nicht klar wird, wieso die Verirrung im Walde eine -Variation des bukolischen Lagerungsmotivssein soll. Vgl. v. 9
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ciascuna per un attimo, per dare il passo ad altre linee in momenti succesaivi. 11 ca1eidoscopio non rimane tranquillo, cambia ad ogni momento, e ,ende feIice 10 spettatore precisamente per le sue forme proteiche- IRolD4l1isme UWdtulstudien 193&-19S6, TUbiDgen 1959, p. 513). Zur ZuweisUDI des Mdre dlDoroso siehe a5AU neu in Poeti dei Duecento, ed. e. CONTINJ, Milano-Napoli 1960, t. I p. 485 sq. MdStzi di scienze I cbe dittdYdD SellWlU, V. u31 sq. Die Philosophen oder Morallehrer enc:heinen hier also keineswep eigeDltindig, als ein Programmpunltt für sich, sondern als Gruppe unter anderen Gruppen im hierarchisdlen Bild der Vertu te verpftichteten Wesen. Darum kann in der großen Vorschau, die NatUla v. 1139 sq. auf den weiteren Weg Brunettos gibt, mit tutte le grdD sentenze I e le dwe credenu schwer· lich die besondere Gruppe der Morallehrer gemeint sein, wie e. POZZI zu v. 1140 lmit Bezugnahme auf v. u32.1 anmerkt. Die Vene: Non ti ptJia utJVaglia. I ch~ tu vedld1 san' faglia I tutte le gran smtenu I e le dure crwnu dUrften vielmehr ganz allgemein auf die bevorstehende Erfahrung im Reich der TUlCDden vorweisen, die ja dann auch aus· drtlddich in Form von -Sentenzen-, d. h. Inschriften, UD Eingang ihrer Paliste darpstellt werden Ivgl. v. U70: ehe v'~ seritto 'I tenore I d'una cotal sentenza). Der von e. POZZI zu v. 1140 angemerkte Widerspruch zwischen dem Programm der Natula und der im weiteren Tat folgen· den Darstellung der Jenseitsreise ließe sich vielleicht zu einem guten Teil beheben, wenn man den nichsten Punkt des Programms: e poi CÜJ I'alua via I vedld1 Pilosofia I e tutte sua sorelle nicht auf die Altes Li· berales bezieht, sondern sich daran erinnert, daß die Philosophie schon bei Boethius in ein enges Verhältnis zu den Tugenden gebracht Ivirtu· tum omnium nuuix. vgl. ed. eOTHIIN, p. 901 und auch von Bono Giam· boni Maesua thlla Virtudi oder Mathe delle Virtudi genannt wird Ivgl. PrOSlJ thl Duecento, ed. c. neu und M. MAan, 1959, p. 743 sq.l. Bezieht man im Tesoretto die Verse: PilosOfjd e tutte sue sorelle auf Vertute und die vier Kardinaltugenden, so entspriche der nichste Punkt im Programm: e poi uthd1 novelle I de le qutJtUO vertute den expliziten Lehren der vier höfischen Tugenden (vgl. v. 1343 sq.l. Mit der Ausnahme, daß TemperdDZtJ von fünf gran principesse um· geben ist Iv. 12.891, wenn Brunetto v. 132.2. von insgesamt 2.0 Tu· genden spricht, obwohl er de facto 2.1 14 + 17) erwihnt hat, könnte diesem Rechenfehler zugrunde liegen, daß Brunetto die symbolische Vierzahl (4 + 161 vorschwebte, an die er sich v. 12.89 Inur versehentlichn nicht gehalten lutte. Maestre grdDdi ist das letzte Glied in der absteigenden Stufung der Untertugenden, denn Prodenu war von vier donne reali (v. 12.771, TemperdDZtJ von fünf gran prineipesse Iv. u891 und PorUZ%d von vier rieche contesse Iv. 1301) umgeben. Nach dem Sinn dieser Distanzierung wird bei der inhaltlichen Analyse von BrunettOl Ethik noch zu fragen sein. Der Stationenweg ist in französischer Tradition seit dem Songe d'En/er von hou! de Houdenc (Anfang 13. }h.1 als allegorische Fabel beliebt. Für die UnterweisUDIen selbst verzichtet Brunetto ausdrüddich auf allegorische -Einkleidung., vgl. v. 1345 sq.: Di tutte e qutJtuo queste I jJ PUIO SdDZtJ veste I dilO. Hierzu kann gleich an das berühmte Beispiel. die vortlberfahrende
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Karre mit dem Zwerg, der Lancelot nur eine lakonische Antwort gibt erinnen werden, cf. Chrestien de Troyes: Le meytdjer de la marrette, cd. MAIlIO ROQUIS, Paris 1958 (CFMA 86), v. 345 Bq. Die Einfügung einer Beichtepisode nach der Begegnung mit Amor ist keinesfalls ungewöhnlich: so wird auch schon der Dichter des Townojemenz Antecrit durch eine Beichte wieder geheilt, nachdem ihn unveISehens ein PfeU der Venus getroffen hat. Da zwischen dem Tesoretto und dem allegorischen Roman von Huon de Mery noch weitere formale Parallelen bestehen (Icherzählung, politisches Ereignis als Ausgangspunkt der Allegorie, vgl. Anm. 66 und 73), ist es nicht ausgeschlossen, daß Brunetto Latini dieses sehr verbreitete, zwischen 1114 und I~ entstandene Werk gekannt hat. Vgl_ die Anm. des Hng. zu v. ~7. Nach v. ~7 sq. ist die Episode La Pemtenza auch dadurch motiviert, daß der Verfasser glaubte (oder vorgab), den Tesoretto und sein weiteres literarisches Werk der kirchlidlen Autorität zur Prüfung vorlegen zu sollen, ob der Text Irrtümer im Verhältnis zum chriatlidlen Glauben (s'alcun vizio tenesse, v. ~IO) enthalte. Ob sich diese Absicherung auf die im Tesoretto vermittelte Philosophie der Schule von Chartres bezog, wagen wir nicht zu entscheiden. Diese Annahme stützt sich auf eine Vonc:bau der Natura, vv. 869-876, 905-914- Die Zuordnung der sette arti (n. 876, ~83) zu den Himmelssphiren war traditionell und findet sich auch in Dantes Conviyio (11 XIII und XIV), worauf schon c. BUS, op. eit. p. 68, hinwies. Brunetto Latini ist eigentümlich, daß er der Astronomie im Tesoretto den Vorzug unter den Sieben Freien Künsten gibt, vgl. H. WIUUSZOWSKI, op. eit. p. 178. P. J. CAaMODY sieht diese Bewunderung für Ptolemlus, den Brunetto Latini hier als Autoritlt in allen physischen Wissenschaften ansieht, im Zusammenhang mit der Tendenz einer Abkehr von AristoteIes, dessen Theorien B. L vemachllssigt habe (vgl. Speculum 12, 1937, p. 36~1. Wie c. BEES, op. eit. p. 68, glaubhaft machen wollte. Auch zu dieser Annahme hat H. der RUcksdüuß von der Divina Commedia verfUhrt, wie schon zu seinen Versuchen, zu den anderen 'enseitsbereichen Analogien im Tesoretto zu Bnden. So mutet ihn der Weg durch den paese fero vor dem Reich der Tugend -wie eine Höllenfahrt- an (p. 106) und sieht er in der Penjtenza-Episode eine An von Purgatorio (p. 671. Die Formel: -Die Erlebnisse, die der Wanderer hat, fUhren aus dem Zustande der Sünde durch Läuterung und Buße in den der Seligkeit. Es wird also in heiden Werken nichts Geringeres als die reale geistigseelische Wiedergeburt des Menschen dargestellt- (p. 1151 deckt sich indes nur zum geriDpten TeU mit der Fabel des Tesoretto, wo der Wanderer sogleich der Begegnung mit Natwa teilhaftig wird, also mitnichten den Zustand der Sünde verkörpern kann. Und zwischen den kleinen Textstücken, die H_ analog zu Inferno und Purgatorio sehen will, llge dann unerkllrbar das Reich der Vertute und Amors! Vgl. M. SCHIlULLO, op. eit. pp. U4-130j L VOSSLER, op. eil. p. 478 1 C. PO~ in den Anmerkungen zu seiner Ausgabe. Latin Sowces of Brunetto Latini's World History, in: Speculum 11 (193 6), P·3 6o· Brunetto Latini's Trbor: Latin sowus on natural scienu, in: Speculum I~ (19371, p. 359·
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Ich versuche hier, mit philologischen Methoden des Textvergleiches Forderungen gerecht zu werden, die HANS BLUMINJIUC für die Philosophiegeschichte aufgestellt hat. Vgl. seine Abhandlung: Die Vorbereitung der Neuzeit (in: Philosophische Rundsdlau 9, 1962., pp. 81-133), wo B. eine Logik der historischen Erkenntnis vor Augen führt, die ermöglicht, geschichtlic:he Vorgänge - im Unterschied zu der substantialistisc:hen Geschic:htsmeuphysik, die der herrschenden Traditions- und Toposforsc:hung zugrunde liegt - gerade im Moment ihrer Diskontinuität zu erfassen, was erfordert, Problemgesc:hic:hte in den Systemzusammenhängen von Frage und Antwort zu sehen und den Obergang zum Neuen als "Umbesetzung von Funktionen-, d. h. nic:ht mehr substantialistisc:h als Transposition von Inhalten zu bestimmen_ Wie schon M. SCHUULLO, op. cit. p. J:l9, vermerkte. mulier ab impassibilis mundi penition dilapSQ palatio, ad me maturare videbatur acussum: eu;w erinis non mendicata luee, sed propria seintillans, non similitudinarie radiorum repraesentans effigiem, sed eorum claritate nativa naturam praeveniens, in sullare corpus caput effigiabat pueUae (PL, ed. MICNI, t. CCX, 432. AI. Boethiw Consolationis Philosophiae Libri Quinque, ed. EBIRHARD CO~N,ZÜric:h 1949,P.~
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Convivio 11 XII: E SI come esse re suole ehe l'uomo va urcando argento e luori de la 'nunzione truova oro. 10 quale occulta cagione presenra, non lorse sanza divino imperio ; io, ehe eercava di eonsolarme, rroval non solamente a le mie lagrime rimedio, ma vocabuli d'autori e di seienze e di libri: li quali considerando, giudicava hene ehe la filosolia, ehe era donna di questi auron, di queste seienze e di questi libri, fosse somma casa. E imaginava lei latta come una donna gentilissima ... Auf das Gleidmis von Silber und Gold bezieht sich auch schon Brunetto Latini bei der Erliuterung des Titels Tesoro, vgl. v. 74 sq. Pour cou dist Boesces el livre de la Consolation que il le vit en samblanu de dmne, en tel abit et en si tres mervilleuse poissance qu'ele croissoit qwmt il li plaisoit, tant ke son miel montoit sor les estoiles et sour le del, et porveoit amont et aval selone droit et selone vente. A ee commenee mon conte, car apres bon comeneement ensiut bone lin (I 1.61. L. P. B!HEDITTO, op. cit. p. 91: -Lo smarrirsi deI poeu nella selva deI dolore a raccontato in maniere deI tutto infantile, quell'imbattersi in uno -scholaio sovr'un muletto baio-, quell'inutile parentesi 8ui meriti di lui, quel pensare a sillogismi in luogo deI prorompere impetuoso deI sentimento all'udire la dolorose notizia, sminuiscono, sciupano un' ideazione che in se era abbastanza leggiadra.· Auf die gleiche, unserer Vorstellung von -Wahrscheinlichkeit- widersprechende Weise hat Brunetto auch spiter den Sprec:her der quattro fanti ausgezeic:hnet (E I'un, eh'era piu saggio I e d'ogne cosa maggio, / mi disse ..., v. 2.2037 sq.l. Die beiden Beispiele lassen sich auc:h nac:h einem Stilisationsprinzip erklären, das LEO SPITZEIl in seiner Abhandlung über 11 Mare AmOIOSO als spezißsch mittelalterlich erkannt hat: eine Sache so darzustellen, daß jeder Einzelzug für sic:h schon der Vorstellung höchster Vollkommenheit entspricht (op. eit. p. S16, S18, 5301. Op. cit. p. ISS· Darauf hat vor allem CESAllI SICU hingewiesen (Giomale Stonco della
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Letterature lta1iana 138, 1961, p. 2.92.), dem ich an dieser Stelle für sachkundigen Rat und freundschaftliche Anregung Dank sagen möchte. Hymenäus mit vier Tugenden erscheinend (443 B). Im Tesoretto ist Vertu te (v. 1147) von vier Kardinaltugenden und diese wiederum von je vier Untertugenden umgeben {mit Ausnahme der Temperanza, (so Anm. 2.4); der Erscheinung Amors geht das Vorbeireiten der QWJttl0 fanti voraus (v. 2.2.2.8), an der Spitze seines Hofstaates stehen quattro donne valenti (v. 2.2.75). Die gleiche Figuration I : 4 findet sich auch bei Matthäus von Vendöme, der Philosophia in einem frühlingshaften Rahmen mit Tragoedia, Sa tura , Comoedia, Elegia auftreten läßt (siehe 1.. CE LAGE, op. eit. p. IIO), gehört also wohl in eine weitere, noch festzustellende Tradition. Siehe zum Ganzen E. 1.. CUR.nus, op. eit. Kap. VI: Göttin Natura. Hierzu kann auf die Stilanalyse des Planetw Naturae von 1.. CE LAGE, op. eit. p. III-1I7, verwiesen werden, auch wenn sich der Vf. der modernistischen Voraussetzungen seiner Kritik meist nicht bewußt zu sein scheint. Wie z. B. das Fehlen der berühmten Präge-Metaphorik, die Alanus für das Thema der Fortpflanzung benutzte. Vgl. vv. 799-810, 817-82.6 mit De Planctu Naturae 443 B. Ein weiterer Unterschied ist wohl auch darin zu sehen, daß Alanus in der Kosmogonie 453 B nur zwei Modi unterscheidet: Gott erschaftt als ardlitectw seinen mundiale palatium mit varias rerum species, sodann muß Natura ftlr deren Fortpflanzung wie auch ftlr die Ausprägung einer Vielheit von Arten sorgen. Brunettos Darstellung vv. 32.1-364 nimmt sich demgegenüber wie eine chrudich-dogmatische Retuschierung aus: er unterscheidet vier Modi (Welt der Archetypen im Geist Gottes - ungeformte Materie - Erschaffung der Welt in 7 Tagen - Einsetzung der Natura, um für Kontinuität und Vielfalt der Geschöpfe zu sorgen) und weist Natura ihre Funktion erst nach vollendeter Schöpfung der Welt zu. Zu der parallelen Darstellung im Tresor (I 6,8) verweist CARMOCT allein auf den Tesoretto als Quelle. Im Tresor 11 91 sind die Untertugenden der Geredltigkeit Reddeur (a Severitas) und Liberalit~; von der letzteren werden dann wieder Cortoisie, Benjgnit~ und ullgece abgeleitet (ß 94), aber hier in einem nicht höfischen Sinn. Zu Largece vgl. vv. II2.7-1I90, zu Cortesia vv. I2.2.9-I2.50, zu Pranchise vv. 1I99-I2.Q9, mit Tesoretto vv. 1877-1883, 1895-1910. BENEDETTO (op. eit. p. 93) machte schon auf das Detail aufmerksam, daß im Roman de la Rose gerade Largece sich einen Artusritter zum Begleiter erwählt hat (vv. 117S-II90); der bel cavalero des Tesoretto kann aber auch als ein Pendant zu dem alumnw der Largitas im Planetw Naturae (478 AlB) angesehen werden. Wie schon G. PETRONIO an einzelnen Beispielen zeigte, die wir zum Teil wieder benutzen (vgl. Ein!. zu seiner Ausgabe, pp. 2.2.-2.5). Nes Avance la maitive I N'iert pas si a prendre ententive I Con Largece estoit de doner, vv. 1133-1135. Siehe dazu G. PETRONIO, op. eit. p. 2.4Daß Brunetto auch schon den zweiten Rosenroman des Jean de Meun gekannt haben soll, wie Benedetto noch glaubte, wird heute von niemandem mehr vertreten. Dagegen spricht nicht allein die spätere
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Datierung des zweiten Rosenromans (nach 12.701. Auch die von B. hervorgehobenen Entspremungen erklären sich viel einfacher aus dem faktisch ganz unbestreitbaren Vorbild des Planctus Naturae (vgl. op. eit. p. 93, 97~81. Was B. im übrigen als wörtliche übernahmen oder Anklänge ansah, ist in so hohem Grade Allgemeingut der höfischen Traktatliteratur (vgl. p. 941. daß ich solche Stellen nicht in die folgende Tafel der Entsprechungen zwischen Roman de la Rose und Tesoretto aufgenommen habe. s8 Op. eit. p. 95. S9 Vgl. Tesoretto, vv. 799-810, 817 sq., 827-836 sq., 12.45 sq., ~335-~342, wozu man wohl auch die Ausführungen über die Vielfalt in der wemselnden Erscheinung des Einen beim Anblick der Naturae (vv. ~16-~30, ~7"-"781 und des bel prato (vv. nOI-u181 stellen kann. Die Frage, in welchem Verhältnis Brunettos Ausführungen über das Thema De eodem er diverso (Titel eines Werkes von Adelard von Bathl zu der platonisierenden Philosophie des 12.. Jahrhunderts steht, bedUrfte der Untersuchung. - Auch Alanus hat die Einheit bzw. Gott-Vater in der Dreifaltigkeit besonders herausgehoben, wie J. HUIZINGA in seiner Darstellung des Platonismus von Alanus zeigte (Uber die Verknüpfung des Poetisdten mit dem Theologisdten bei Alanw de lnsulis, Amsterdam 1931, cap. V und VII. 60 BAJlTOU, zitiert von BENEOETTO, op. eit. p. 9S. 61 Vgl. v. 12.7~ sq.: ProdenZiJ, / cui la gente in volgare / suole Senno chiamare, ferner v. 12.84 sq.: TemperanZiJ, / cui la genre talora / suol chiamare Misura, und v. 12.96 sq.: Fortuza, / cui talor per waggio / ValenZiJ-di-coraggio / la chiama alcuna gente. 61 Von den dazugehörigen fünf eisernen Pfeilen der force contraire (vv. 9S7~771 kann hier abgesehen werden, da sie für die allegorische Fabel keine Bedeutung haben. 63 Die Abwertung liegt darin, daß Fmo Amor die Mühen nur angenehm erseneinen läßt, also auf Selbsttäuschung beruht, vgl. vv. ~307-~312.: ma Fino Amor solena eleve a sostenere, deI gran disio la pena, 10 travaglio e l'alanno e fa dolce parere, e la dogIia e 10 'nganno. 64 G. POZZI merkt zu v. n6s zwar an: La tradizionale cecitil d'Amore, bleibt dafür aber einen Nachweis schuldig. In der antiken Tradition finden sich zwar zahlreiche Beispiele für Liebende, die durch ihre leidenschaft mit Blindheit geschlagen sind, aher keine Rückübertragung dieses Bildes auf den verursachenden Amor selbst in der Art des .. blinden Cupidos- aus dem Tesoretto. Vgl. Catull 67, lS: Sive quod impia mens caeco flagrabat amore; Vergil Aen. 4,": caeco carpitur igni (Didol) ferner Horaz earm. 1,18,14; Vergil Georg. 3,110) Ovid Fasti 1, 76~) Ovid Met. 3,6w; Prop. ~, 14. 3"; Luerez 3, S9 u. a. m. Für diese Mitteilung bin ich meinem Kollegen VINZINZ BUCHHEIT zu besonderem Dank verpflichtet. Ferner habe ich Herrn Oll.. NICOLO PASUO für mancherlei Anregung in einem gemeinsamen Seminar über französischitalienische Literaturbeziehungen im 13. Jahrhundert zu danken. 64a ed. FJlANCESCO EGIDI, Bari 1940, p. ~71. Diesen wertvollen Hinweis verdanke ich CESAJlE SEGJlE, wie auch den folgenden Beleg aus der späteren Geschichte des Motivs: Nudo con ali, ciecho e fanciul (ue, Saviamente
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ritratto a saettare, Deritto stallte in mobile sosugno (Prancesco da Barberino, Docummti d'amore, vol. IV, p. 4101. Zu den Normen des fin'amor siehe JEAN .IlAPPI1R: Vues sur les con· uptions courtoises dßns les lituratures d'oc et d'oil au u- sikle, in Cahiers de Civjlisation M~~ale l (19S9), bes. p. 140. Das Thema der Flucht vor Amor ist im Antielaudianw vorgegeben, wo sich iuvenis der Macht der Venus nur durch Flucht zu entziehen weiß, die scheinbar Unüberwindliche dann aber durch einen Partherpfeil zu Tode trüft. Von einem verimen Pfeil der Venus wird der Dichter im Toumoiemenz Anucr1t von Huon de Mery (Zeitgenosse von Guil· laume de Lonis) getroffen. Siehe dazu Vf.: Porm und Auffassung der Allegorie in der Tradition d~r Psychomadtia, in Medium Aevum Vi· vum - Pestschrift füz Walther Bulst, Heidelberg 1960, p. 198-201. 446 CI Alanus hat diese Szene offensichtlich der Consolatio Philoso· phia~ nachgebildet, wlhrend Brunetto hier (und ebenso v. sn sq.1 von heiden Vorbildern abweicht. Vgl. vv. l4I, sn, 1099, 118S, Il63, U30, l364, l88l, 19l4 sq. Der Anfang dieses Gestindnisses: As.W mi volsi intamo I e di noue e di giomo, I eredendoIni cmnpire I del fanu ... (v. l343 sq.1 fillt offensichtlich aus dem augenblicklichen Nexus der Pabel, d. h. dem Weg durch das Reich Amors, heraus, zumal dieser Nexus nach dem Gestindnis mit v. l3S7: Poi mi tomm dß canto ausdrücklich wieder· aufgenommen wird. Darum muß der Kem des Gestindnisses: eh'io fui messo in podere I e in foTZIJ d'Amor~ (v. :l3S0 sq.1 zunlc:bst wie ein Exkun des E.rzihlen über ein früheres, der allegorilc:ben Fabel voraus· liqendes Ereiplia anmuten. Was dann im weiteren mit s~r Brunetto, der Person der Handlung, geschieht, steht in keinem sichtbaren Moti· vationszusammenhang mit dem Gestindnis des ErzIhlers Brunetto. Wollte man annehmeJ:., das letztere werde irgendwie von der Erfah· rung des Wanderers bei Ovid reprisentiert oder allegorilc:b gedeutet, so müßte diese Ann.bme einschließen, daß Brunetto Latini diese Beziehung ungeschickt gestaltet oder aber absichtlich verdunkelt hat. Der Geschichte dieses Begriffs ist HANS ILUMINIlaC nachgegangen, vgl. Augwtins Anuil an der Gesdtichu des Begriffs der theoretischen Neu· gierde; in: Revue des .Etudes Augwtiennes 7 (1960), p. 3S-70. Die Lesart der wichtigsten Handschrift der Croniehe Piormtine lautet: Pu queUi ehe spuose la Retorica di Tullio, e f~ il buono e utile libro del Tesoro ~ 'I Tesoretto, e lD chiave del Tesoro, e piu altrl libri in Pilosophia, e di vizj e di virtU. Da von einem Werk mit dem Titel La Chiav~ d~l Tesoro in der weiteren Tradition nichts verlautet, brachte MANNI 11734~1 die Konjektur: 11 Tesoretta [eh'e/la ehiave del Tesoro in Vor· sc:blag, von der aber nicht sicher feststeht, ob er sie in einer (nicht mehr erhaltenen ~I Handschrift fand. Siehe dazu THoa SUNDIT: Della Vita e delle Opere di Bruneuo Latini, Firenze 1884, p. 41-4l. Vgl. w. 3l1-4l6, 874-876, III6-IIl4, 134S-13S6 (Verweis auf den Tre· sor, auf welchen sich auch vv. lO44, :nl8 beziehen könnten), 1900 sq. Der Gegensatz zwischen verhüllter und offener Mitteilung spielt aber auch innerhalb der Verserzählung eine Rolle: der Prolog warnt davor, das Mitgeteilte an Unbefugte weiterzugeben (v. 83 sq.11 NatUla beginnt ihre UnterWeisung molta covertammu (v. l871; sie verspricht, das Gesagte später -offen- zu erläutern (diurlo in aperto. V.409); der Wan· 91
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derer sieht die von ihr regierte Welt apertmnente (vv. 943, 11031; der Erzähler kündigt an, die Lehren der vier hö6schen Tugenden ohne allegorisches Gewand zu bringen (il puro S4llZß veste. v. 1346; mostrMe con pianezza. v. 1366 und 19781; ProdeZZß beginnt ihre Rede -offen-: Dicoti apertmnente Iv. 19851; der Wanderer bittet Ovid, ihn apertamente über Amor zu belehren Iv. 2.3651. Dieser Wechsel des -modus dicendi- findet sich auch im Roman de la Rose Ivgl. vv. 3 sq., 978 sq., 1600 sq., 2.067 sq.1 und gehört zu den Konventionen der allegorischen Form. Man kann sich darum fragen, ob Brunetto Latini mit seinen Ankündigungen einer späteren -offenen- Erklärung in Prosa nicht einfach dieser Konvention folgte, also gar kein Prosimetrum beabsichtigt hat. Aus der allegorischen Tradition in Frankreich ist mir vor Brunetto Latini nur ein Fall bekannt, in dem diese Regel schon einmal durchbrechen wurde: das Toumoiemenz Antecrit von Huon de Mery (um u341, der ent von seiner Teilnahme am Feldzug gegen den Grafen Pierre de Dreux berichtet und dann durch den Wald von Broceliande in die -andere Welt- seiner neuen Psychomachia gelangt Ivgl. Vf., op. eit. p. 1941.
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VIII.
ALLEGORESE, REMYTHISIERUNG UND NEUER MYTHUS
ohl auf keinem Feld der Tradition wird die historiographische Formel vom )Nachben der Antikee so sichtbar als mißbrauchte Metapher enthüllt als auf dem der 'ttelalterlichen Rezeption antiker Mythen·. Hier muß sich der Anschein einer von aus weiterwirkenden, sich selbst tradierenden Tradition an jedem Umschlagspunkt historischen Kontinuität als Truggebilde einer substantialistischen Geschichtsetaphysik erweisen. Die antiken Götter überlebten den Untergang ihrer Welt nicht us eigenem Vermögen, nicht dank ihrer Urbildlichkeit, sondern allein dort, wo sie 't der antiken Bildung .gleichsam als Gefangene im Triumphzug der neuen Epoche. 'tgeführt wurden·. Wo immer in mittelalterlicher Literatur und Kunst das )Wiedercheinene der Götter6guren und Geschichten zu verzeichnen ist, setzt solche )Nach'rkunge stets einen Akt der Rezeption voraus, der vom bloßen Zitat über die assimirende Umdeu~g bis zur provokativen Neusetzung reichen kann. Hans Blumenberg t für die Rezeptionsgeschichte der antiken Mythologie zwei historische Wendearken herausgestellt: die auf poetische Gattungen bezogene Zulassung der Myth'ogie im S. Jahrhundert, ein .Zeichen des gesicherten Sieges .. , und ein Jahrtausend äter der für die )Renaissancec kennzeichnende Umschlag, daß aus den einstigen Trophäen des epochalen Triumphes ... die Symbole eines neuen Trotzes werden onnten).-. Der so gezogene Rahmen umschließt das christliche Mittelalter als Zeit • er )babylonischen Gefangenschafte der antiken Mythologie. Welcher Spielraum der tenden Veränderung ist ihr dabei erwachsen und welche Funktionen hat sie in Ich er Dienstbarkeit für das zur Herrschaft gelangte christliche Weltverständnis
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Dieser Beittag ist erst nach dem Kolloquium ausgebaut worden; er nimmt daher schon Perspektiven auf, die ich der Diskussion meinet ursprünglichen Vorlage Die Minneallegorie als esoterische Form einer neuen Ars amandi verdanke. Diese Vorlage war das S. Kapitel aus meiner Darstellung der allegorischen Literatur im Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. BeL VIII. Heidelbcrg 1968. p. 2~244 (- GRLMA). aus der einige Absätze direkt übernommen sind. Auf die Darstellung im GRLMA sei hier für alle Einzelheiten und auch für weitere Beispiele verwiesen (der Einfachheit halber benutze ich auch hier die Dolcumentationsnummern des GRLMA). - Die einschlägige Literatur zur Rezeption antiker Mythen im romanischen Mittelalter 6ndet sich in der Konstanzer Dissertation von D. RUHE., Amor in den altfranzösischen MinneaIlegorien (1968), deren Ergebnisse meine Thesen wieder aufnehmen und weiterführen. Da die ältere Fachliteratur (BEZOLD, DORIN, FARAL, FREy-SALLMANN, PATCK, SEZNEC) im .Nachleben. der antiken Mythen noch kaum ein Rezeptionsproblem sah, wurde auf eine Polemik venichtet. S. Vorlage H, BLUMENBERG, p. 66. 'b I.
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Dieser Frage gelten die folgenden Bemerkungen, die sich zeitlich auf die Epocht zwischen A1anus ab Insulis und Dante beschränken und materieU auf meine Darstel· lung der Entstehung allegorischer Dichtung in romanischer Volkssprac:h.c gestützt sind. In diese Epoche fällt die rczcptionsgcschichtlich bedeutsame Wende, in der die lanll gcwahne Grenze des ornamentalen Gebrauchs der Mythologie überschritten wurdt und sich in der allegorischen Aneignung antiker Mythen und Fabeln ein gegenläu6gel Prozcß der Remythisierung personi6zierter Wcscnheiten abzeichnet. Um die Wendt vom 12. zum 13. Jahrhundert werden im besonderen die antiken Mythen von Amol und Venus zum Kristallisationskern, um den sich die hö6sche Liebe ritualhaft ver· festigt und ihre neue Mythologie ausbildet. Während Alanus die antiken Licbcsgöttel der Naturll hierarchisch beiordnet und ihnen so im kosmischen System des Platonismul von Chartrcs eine nicht mehr entbehrliche Funktion gibt, stellt Andrcas Capcllanw seine Kodifizierung der hö6schcri Liebe vor den Hintergrund des neuen Mythos VOll Jenscitsrcich Amors. In der bald danach cinscaenden Gattung der Minncallcgori4 erheben andere Dichter die Personifikationen jener innerscclischen Mächte zu vollel mythischer Präsenz, die in der Troubadourlyrik des 12. Jahrhunderts zwar schon z\ einer Art von Psychomachie hö6scher Tugenden und Laster zusammentraten, abel noch gcstaldos und unsichtbar wirkend geblieben waren. Die Ritualisierung und mythi, sche Sublimierung des hö6schen Liebcscthos gipfelt im R.o""," tU 14 Rau (ca. 1234, von Guillaume de Lorris. In der Laiencnzyldopädie seines Fortsctzcrs Jcan de Mew nimmt der ProzcB dieser Remytbisicrung der Liebe mit der Einführung von Nllt.m und Genius eine antiplatonische Wendung. Im Tesoreno (1261/1266) Brunctto Latinil wird die mythische Idealität der hö6schen Liebe durch den mythischen Kontrapost de .blinden Amorc nicht weniger radikal in Frage gestellt und schließlich in Dantes Vi" nuOVIl durch den neuen, schon subjektiven Mythos von Beatrite verabschiedet (wem auch nicht unwiderruflich, wie die in Frankreich üppig weitcrwuchemde Minncalle gorie des Spätmittelalters zeigt).
II Die neue Mythologie der Liebe im Platonismus von Chartrcs wie in der vo1kssprach· lichen Minnedichtung hat die besondere historische Ausprägung eines post-allegorischen Mythos. Hier ist nicht nur die Wiederaufnahme femgerückter Mythen, ihr nel ausgelegtes archetypisches Potential zu bedenken, sondern auch das dazwischcnliegendl Substrat der chrisdichcn Allegorese, der die antike Mythologie ihre Erhaltung un< Tradicrung verdankt. Der post-allegorische Mythos des Hocbminclalters bleibt stet: auf die Zwischcnwelt allegorischer Per s 0 n i f i kat ion e n bezogen, nicht also au die crzählbare Struktur kulthafter oder tcxtgcbundener G e s chi c h t e n von GÖt tern und Menschen. Historisch vorauszuscaen ist hier- der von C. S. Lewis beschrie bcne, schon vor der christlichen Ara einsetzende Prozeß, daß die antiken Götter - ir der stoischen Interpretation z. B. als Aspekte oder Manifestationen des Einen - mch: und mehr zu Personifikationen herabsanken, während die menschlichen Affekte wie • GRLMA, VIII, p. 1~244.
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ALLECORE.SE, REMYTHISIERUNC UND N1U1R MYTHOS
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alle seelischen Kräfte - es braucht hier nur an das berühmteste epochale Bildfeld des hilum ;,.test;""".. der PsychOnulchia. erinnen zu werden - über die psychologische Beschreibung zu personifizierten Wesenheiten von fast mythischem Rang hinauswuchsen'. Diese weitverbre.itete, Christen wie Heiden erfassende »moral revolution« einerseits, »(which) forces men to personify their passions«', und der Monotheismus andererseits, zu dem auch der heidnische Polytheismus in seiner Spätphase gelangt war', fanden sich auf halbem Wege in der personifizierenden Allegorie: sie ermöglichte - in der glücklichen Formulierung von l..ewis - einen )modus vivendie zwischen Monotheismus und Mythologiel. Die antike Mythologie erlitt beim Absinken in den allegorischen Status der Personifikation eine Schrumpfung: der Erzählzusammenhang der Mythen wurde überflüssig, wo es nur noch darauf ankam, in dem fremd gewordenen Gott die Verkörperung einer Eigenschaft, das moralisch Beispielhafte einer Tugend oder eines Lasters zu finden. Wir stehen hier wieder vor der schon von Weinrich treffend beschriebenen Erscheinung: in der Allegorie ist der Mythos zum Stillstand gebracht'. Dieser Reduktion ist im mittelalterlichen Gebrauch der Mythologie nicht allein das Erzählbare der Mythen bis auf jenen Erzählrest anheimgefallen, den auch die Personi6kation in der Verbindung von Name und Eigenschaft noch erraten läßt. Die allegorische Reduktion hat auch zur Folge, daß die ursprüngliche Bedeurungstiefe des Archetyps - wie seine in der Rezeptionsgeschichte erlangte Vieldeutigkeit - in der Gestalt der Personifikation oder im Mythenzitat auf ein e n charakteristischen Zug vereindeutigt erscheint. Die allesorische Mythenrezeption des Mittelalters hat den Bedeutungsüberschuß der Archetypen auf das reduziert, was sich im Horizont der chrisdichen Moral eindeutig erklären und als Beispiel benutzen lieB. Gleichwohl muß der im moralischen Typos vereindeutigte mythologische Rest noch einen Anreiz geboten haben, die )l..eerformc der vergessenen Geschichten wieder durch erklärende Fabeln auszufüllen. Und mit der allegorischen Fabel kam nicht selten auch der die Erklärung überragende mythische Bedcutungsüberscbuß wieder zur Geltung.
m Die Frage, wie es im 13. Jahrhundert auf christlichem Boden wieder zu einer Ingebrauchnahme des Mythos in Gestalt neuer Geschichten von Amor und Venus, Natura und Genius kam, läßt sich am besten beantwonen, wenn man sich zuvor das Ver-
• c. S. LlWJs,
Th. AlJ.gory 0/ Lew., Oxford 71953, p. ~3. , ib., p.63. 7 ib., p. 57: • Tbc twilighr of the gods ... musr not be supPOscd to be in any sense a rcsult of Christianity. Ir is alre3dy fu advanccd in Statius. and Statius. as a poet, bur fecbly re8ects what philosophy had done long before him. Ir represcnrs. in fact, the modus l!iwndi betwecn monothcism and mythology. MODotheism should not be regarded as the rival of polytheism, but rarber as irs maturity«. • ibo • s. Diskussion IV, p.611.
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hälmis von Allegorese und Dichtung im noch mythenfreien Status vor Augen hält. Denn der post-allegorische Mythos hat sich in dieser Epoche nicht allein und geradezu aus den Reduktionsformen der antiken Mythologie entwickelt. Er setzt auch die allegorischen Fabeln der christlichen Dichtung voraus, die ihrerseits der christlichen Bibelund Textallegorese entsprungen waren. Ich habe anderweitig gezeigt, wie sich seit der Mitte des 12. Jahrhunderts allegorische Dichtung in der Volkssprache aus der historia der Bibel entwickelt hat und dabei der augustinischen und viktorinisc:hen Tradition gefolgt ist: ihr Nährboden war die G e s chi c h t e, das Drama von Fall und Erlösung der Menschheit, nicht die N a t ur, in der die per integumenta sich darstellende Theologie des Platonismus von Chartres ihr großes allegorisches Sujet fand 1o• Für den Ursprung allegorischer Dichtung im Verfahren der Bibelexegese mag hier das Beispiel der )Vier Töchter Gonese stehen, eines Themas, das in der literarischen wie in der ikonographischen überlieferung weit verbreitet war lt • Die minelalterlichen Versionen der schon im Midrasch und im Talmud ausgelegten Parabel gehen auf Vers 11 des Psalms 84 zurück: Misericordia et veritas obviaverunt sibi; ;ustitia et pax osculatae sunt. Die allegorische Dichtung soll den )dunkJen Sinn< dieses Psalmverses enthüllen (pour I'oscune de la leure, descouvrir et en clane metre). Der Verfasser der Version I bedient sich dazu einer Fiktion, die er folgerichtig fable nennt, dann aber sogleich - in polemischer Absetzung gegen die weltliche Dichtung - als )Fabel und Nicht-Fabele bezeichnet (Or escoutez fable et non-fable. Mais vraie chose et veritable). Ein Lehnsmann hat sich an seinem Lehnsherrn durch einen Treubruch (felonnie) vergangen und wird in einen Kerker geworfen; die vier Töchter des Lehnsherrn greifen in den rechtlichen Prozeß ein: während Gerechtigkeit und Wahrheit den Lehnsmann verurteilen, erreichen Barmherzigkeit und Frieden, daß der Sohn des Lehnsherrn mit dessen Einwilligung den Gefangenen aus seinem Kerker befreit. Das Publikum mußte diese Fabel zunächst als eine Begebenheit der Feudalzeit verstehen, denn der Schlüssel der Allegorie blieb ihm bis zum Schluß der Fiktion vorenthalten; erst dann (v.411-418) leitet der Erzähler von der fable (sensus litteralis) zur non-fable (sensus allegoricus) über: der Lehnsherr bedeutet Gon, sein Lehnsmann Adam, sein Sohn Christus und die Intervention der vier Töchter das Geschehen der erlösenden Rechtfertigung des Menschen. Wir haben hier ein Musterbeispiel dessen vor Augen, was zuvor »verselbständigte Allegorese« genannt wurde; der ursprüngliche biblische Text ist verschwunden, das Deutungsschema zu einer eigenen Erzählsttuktur aufgefüllt worden 11. Was hier nach dem Wegwerfen der exegetischen Krücke entstand, ist selbstverständlich noch nicht Mythos, sondern wiederum Allegorie. Der Verfasser, der die Bindung an den Text als Legitimation der Allegorese aufgegeben hat, benutzte das Prinzip der Allegorese, die duplex sententia von wörtlichem und höherem Sinn, für seine geistliche Dichtung. Sein so treffend formulierter Anspruch, daß sie )Fabel und Nicht-Fabel< ineins sei, rechtfertigt den für die Epoche noch ungewöhnlichen Gebrauch der Fiktion in geistlicher
1. In GRLMA, VIII C, cap.l: Die Ablösung der volltsprachlichm Alkgorie von der Bibel11
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exegeH. Dit des quatre filles de Dieu, GRLMA, VI C, Nr. 4136. s. Diskussion III, p. 585.
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Dichtung und beschreibt zugleich die eigentümliche Erzählstruktur der AUegorie. Diese unterscheidet sich vom poetischen Mythos dadurch, daß sie ihre Deutung nicht schon einschließt, sondern von vornherein auf doppelte Bedeutung angelegt ist. Hier braucht der Hörer oder Leser erst einen Schlüssel, um die hinter dem wörtlichen Sinn verborgene, andere Bedeutung zu verstehen; hat er den Schlüssel, so ist die ,Dunkelheit des Buchstabensc (oscurte de la lettre) mit einem Mal aufgehoben, der verborgene Sinn in tagheller Klarheit und unwidersprechlicher Eindeutigkeit enthüUt. Die allegorische Erzählung unterscheidet von der mythischen sowohl ihre geringere Anigmatik als auch ihre größere Esoterik. Das Allegorische der Fabel ist ein Rätsel mit zugesicherter Lösung: wer den rechten Schlüssel besitzt oder am Ende in die Hand bekommt, kann die Fabel Zug um Zug und ohne Rest aus dem wörtlichen in den höheren Sinn übersetzen, dem vorgezeichneten Verfahren der Exegese folgend, das eigener Deutung keinen Spielraum mehr beläßt. Wer aber den rechten Schlüssel nicht besitzt, kann - und soll - nur die vordergründige Handlung verstehen; ihm muß der in der Erzählung verborgene andere Sinn wie ein dunkler Mythos vorkommen. Solange der allegorischen Erzählung der Schlüssel fehlt (oder noch fehlt), ist die Wirkung der Allegorie durchaus der eines Mythos aus einer fremden, dem unmittelbaren Verständnis verschlossenen Welt vergleichbar: die Ereignisse, Figuren und Motivationen der Handlung verweisen ständig auf ein Geheimnis, das zu immer neuer Lösung herausfordert, weil keine Deutung von sich aus die verschlüsselte oder verlorene Wahrheit mit Gewißheit beanspruchen kann. Das Faszinosum dieser Wirkung dürfte auch mittelalterlichen Dichtern bewußt geworden sein. Das bezeugt u. a. der Verfasser unseres Textbeispiels. Während seine Quelle schon eingangs die Bedeutung der vier Töchter Gottes erklärte und damit die Lösung der Allegorie im vorhinein und Zug um Zug sehen ließ, legt dieser Erzähler sein ,Gewebec so an, daß für das Publikum das Geheimnis und seine überraschende Lösung gewahrt bleibtlI. Das neue Verfahren, die Auflösung der duplex sententia hinauszuzögern, um aus der ,Dunkelheit des Buchstabensc einen poetischen Effekt geheimnisvoller und beziehungsreicher Spannung zu gewinnen, hat sich um diese Zeit offenbar in Frankreich allgemein in der allegorischen Dichtung durchgesetztl. . Die höfische Liebesallegorie hat dieses von der geisdichen Dichtung übernommene Verfahren zu einem bewußten Spiel mit der poetisch-mythischen Wirkung von Dunkelheit, esoterischer Lehre und gestufter LOsung gesteigert: der Dichter des Rosenromans zumal, der in seinem Prolog ausdrücklich die doppelte Wahrheit der Schriftexegese für die poetische Fabel der von ihm kanonisierten höfi11
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cf. v. 411~18: Or primes est ma toile ourdie. Or cst il drois que je vous die Dont et comment c1e est cousue, Et de J'entree et de J'issue Est raisons que je vous responde Et mot a mot Je vous desponde Et face entendre apertement Ce que j'ai dit couvertement.
cf.
GRLMA,
VIII, p. IS9.
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schen Liebe beansprucht. Und da er sein Werk nicht selbst vollenden konnte, fehlte dem Roman ck Ia rose der versprochene allegorische Schlüssel - ein sinnreicher Zufall der überlieferung, der die Mythisierung der höfischen Liebe gewiß noch gefördert had Denn die so entstandene Struktur einer quasi-mythischen Fabel, deren für immer verschlüsselter Sinn irritierte und ständig zu neuen Lösungen und .Umerzählungenc herausforderte, war gerade dem Werk eigen, das um 1234 den allegorischen Stil der Minnedichtung durchsetzte, eine Fülle von Nachahmungen und Variationsformen auslöste und damit der Sprache wie dem gesellschaftlichen Ritual der aristokratischen Liebe für zwei Jahrhunderte das Gepräge gegeben hat.
IV Wo die antiken Liebesgötter in der Fabel der Minneallegorie wieder ins Spiel gebracht werden, zeigt sich ihre besondere Erscheinung inmitten der zeitlosen Personi.filcationen hö6scher Tugenden und Laster nicht allein in Prädikaten ihrer wiedererlangten sichtbaren Gestalt, sondern auch unter dem Zeichen mythischer Intervention oder Wiederkehr an. Auf einem Höhepunkt der Fabel des Rosenromans, als der Amant vergeblich bei &1 Acwil einen Kuß von der Rose zu erlangen sucht, kommt ihm Venus unvermutet zu Hilfe: .Aber Venus, die Tag für Tag mit Chaste. (der Keuschheit) im Krieg liegt, kam mir zu Hilfe: Sie ist die Mutter des Uebesgom, die manchem Uebenden beigesprungen ist. Sie hielt eine brennende Fackel in ihrer Rechten, deren Flamme manche Dame erhitzt hat; sie war so vornehm und elegant, daß sie eine Göttin oder Fee zu sein schien; an dem großen Aufputz, den sie trug, konnte jeder, der sie sah, gleich erkennen, daß sie aus keinem Nonnenkloster kamel'.
Die Erscheinung der antiken Göttin fällt offensichtlich aus der Konvention der Welt allegorischer Personifikationen heraus. Wo sonst deren Beschreibung mit jedem Zug der äußeren Gestalt das verkörperte Wesen klarer enthüllt und umgrenzt, wird Venus
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Mais Venus, qui toz jon guerroie Chasth, me vint au secOtS: Ce est la mere au deu d' Amon, Qui a secoru maint amant. Eie rint UD brand on flamant En sa main destre, don la flame A eschaufee maintc dame; Si Eu si cointe e si tifee Qu'el resembla deesse ou fce; Dou grant ator que eie avoit Bien puet conoisuc qui la voit Qu'el n'est pas de religion! (v. 3420 sq.)
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in der Unbestimmbarkeit einer .Göttin oder Feec eingeführt; der ironische Hinweis auf die nicht-klösterliche Herkunft tut noch ein übriges, um das Außergewöhnliche und Unheimliche ihrer Erscheinung zu verstärken. Vor allem kann Venus nicht wie Bel Acueil, Chastee oder andere der agierenden Personifikationen als einer jener wechselnden Aspekte ausgelegt werden, unter denen sich die geliebte Dame dem sie umwerbenden Dichter zeigt. Venus ist es vorbehalten, von außen kommend einzugreifen; sie übt unwiderstehlich die durch die Fackel bedeutete Wirkung aus, führt die Peripetie in der Handlung herbei, hinterläßt die größte Verwirrung und signalisiert derart durch ihr Erscheinen, Intervenieren und Wiederverschwinden das Numinose einer überpersönlichen, mythischen Macht. Die Remythisierung der antiken Liebesgötter geht von Reduktionsformen der antiken Mythologie aus, die im 12. Jahrhundert in der Oberlieferung verschiedener Gattungen greifbar sind. Der Obergang der .stillstehenden Mythenc von Amor und Venus aus dem Status der Allegorese in neue Funktionen des postallegorischen Mythos soll nun in den Traditionen der Psychomachia, des Epithalamiums und der kosmologischen Epik betrachtet werden. Die Intervention der Venus im Rosenroman steht in der mittelalterlichen Nachfolge der Psychomachia. Dort hat Prudentius die antiken Liebesgötter so weitgehend dem christlichen Tugend- und Lastersystem assimiliert. daß Venus gar nicht genannt, sondern nur hinter Zügen der Gestalt des Lasters Luxuria erratbar ist", während Amor zwar neben anderen Personifikationen (loeus, Petulantia, Pompa, Venustas, Voluptas) zum Gefolge der Luxurja gehört, aber sogleich in der Haltung eines Besiegten (Dat tergum /ugitivus Amor . .., v. 436 sq.) erwähnt wird. Die Rolle der Luxuria, daß sie durch eine neue An des Kämpfens (sed violas lasciva iaeit, /o/iisque rosarum dimicat, v. 326) in den Reihen der christlichen Tugenden Verwirrung stiftet, ist im epischen Aufbau der Psychomachia aber auch der kritische Höhepunkt, der die Eintönigkeit der Zweikämpfe und vorentschiedenen Siege der Tugenden über die Laster dramatisch und spannend durchbricht. Gerade an diesem Punkt der allegorischen Fabel hat Alanus ab Insulis in der Psychomachia, die seinen Anticlaudianus beschließt, Venus ausdrücklich in die epische Funktion der Luxuria eingesetzt. Die mythisierende Absicht dieses Rollentausches erhellt nicht allein aus den Versen, in denen Alanus der Venus größere Macht zuschreibt als allen übrigen Lastern (cui /oreior ira nephasque I maius et insultus peior graviorque potestas, IX, 228 sq.). Sie wird auch daran sinnfällig, daß der Jüngling oder hOmD per/eaus als neuer Vorkämpfer der Tugenden (eine von Alanus geschaffene mythische Figur) der Göttin nicht von Angesicht zu Angesicht widerstehen ka,rm. Er weiß sich ihrer Fackel nur durch Flucht zu entziehen, so daß ihr Brand ohne Nahrung erlischt, während er hinterrücks einen Partherpfeil auf die Göttin richtet und sie so auf paradoxe Weise überwindet (vincit, dum vindtur; audet, I dum timet; expugnat, dum pugnam deserit . ..,IX, 249 sq.). Die Episode ist charakteristisch für den spielerischen Umgang mit dem .gefangenen Mythos.: der Bannkreis der antiken Liebesgöttin wird evoziert, die Obermacht ihrer WirJI
Nach L. COTOGNI, Sovrapposi%ione di vision; e di allegorie nella Psyehomachia di Prudenz.io, in Rendiconti deUa Reale Accademia nazionale dei Lincei, Classe di scienu morali, storichi e lilologiche, Ser.6, 12 (1936), p.447.
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kung in Szene gesetzt, dann aber gleich wieder in einer Manifestation des überlegenen Christentums (Dum moriturl sua fata stupet Cythereal IX, 252) aufgefangen. Was Alanus aber nicht hindert, den Sieg seines homo perfeaus über die eigens aufgebotene antike Mythologie selbst wieder zu einem mythischen Ereignis zu erheben - dem Wiederbeginn des goldenen Zeitalters, in dem Natura triumphiert, Amor herrscht, alle Zwietracht verschwunden ist und der beatus homo selbst die .Zügel der Gesetzec hält und die Welt regiert (IX, 384 sq.). Dieses Ereignis, das im Rahmen der christlichen Heilsgeschichte schwer zu lokalisieren wäre, kann mit demselben Recht .mythischc genannt werden wie die Figur des iuvenis die sich nur gewaltsam auf Christus beziehen ließe. Der Verdacht, daß es sich hierbei um einen neuen Mythos auf christlichem Boden handelt 171. verstärkt sich, -wenn man bedenkt, daß man den iuven;s offenbar schon im 13. Jahrhundert nicht mehr sicher zu deuten wußte, wie vc.r allem durch Adam de la Bassee bezeugt ist, der ihn in seinem Ludus super Anticlaud;anum wieder verschwinden ließ, indem er ihn am Ende kurzerhand ins Kloster schickte. Hat Alanus die Mythologie wieder ins Spiel gebracht, um den Sieg über die antiken Götter noch vollständiger zu machen, indem er ihren leergewordenen Raum durch den neuen christlichen Mythos vom vollkommenen Menschen besetzte? Die erste volkssprachliche Reprise der Psychomachia illustriert auf andere Weise, daß man Mythen nicht ungestraft in Bewegung setzen und wieder arretieren konnte. Huon de Mery, der Verfasser eines Tourno;ement de Antechrist (1234/35), hat gleichfalls die antike Mythologie aufgeboten, heidnische Götter und Ungeheuer in das vom Antichrist angeführte Heer der Laster eingereiht und am Ende in dessen Niederlage mit einbezogen. Aus dieser Motivation fallen zwei antike Gottheiten offensichtlich heraus, die in der nun schon erwartbaren Gipfelszene der allegorischen Schlacht wiederum über ihre moralisch neutralisierte Bedeutung und allegorische Funktion hinauswachsen: Amor und Venus. Diesmal wird die Peripetie dadurch ausgelöst, daß Amor, der erst in dem von höfischen Tugenden wie Proesce. Corto;s;e und Largesce angeführten christlichen Heer in die Schlacht zog, unversehens die Fahne wechselt, um an der Seite von Venus und Cupido der von VirginitJ fast schon besiegten Forn;cacion (Hurerei) beizuspringen. Gleichviel ob sich hinter dieser Episode eine geistliche Kritik am Ideal der höfischen Liebe verbirgt, signalisiert der Frontwechsel Amors auch etwas von der mythischen Potenz des antiken Liebesgottes, die weder im christlichen noch im höfischen System der Tugenden und der Laster ohne Rest aufging. Der Autor hat diese mythische Intervention, die quer zur Motivation seiner allegorischen Fabel stand, in der Tat dann auch auf eine Weise bereinigt, die den Motivationszusammenhang vollends durchschlug: er läßt den Pfeil, den Venus auf Virg;nitJ zielt, fehlgehen, weil sich Virg;n;tJ gerade noch rechtzeitig mit ChastJe in ein Kloster zurückzieht, und statt ihrer einen ahnungslosen Schlachtenbummler treffen - den Erzähler in höchsteigener Person, der sich daraufhin einer langwierigen Heilung unterziehen muß, was allenfalls noch eine biographische Auslegung zuläßt. l
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Zum Problem des iuvenis bei Alanus s. Medium Aevum ViI/um - Festschrift für Walther Bulst, ed. H. R. JAUSS und D. SCHALLER., HeideJberg 1960, p.198; zum Begriff iuventus (joven) in der Troubadourlyrik E. KÖHLER. in Mllanges R.. C,out. Poitien 1966.
p.569-583.
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Die Beispiele aus der mittelalterlichen Tradition der Psychomachia erlauben nunmehr, an der Rolle der Liebesgötter die mythische Funktion von der allegorischen abzuheben und zu bestimmen. Die Remythisierung macht die allegorische Festlegung des mythischen Wesens auf eine moralische Eigenschaft wieder rückgängig. Das Wesen von Venus und Amor geht nicht mehr, wie das Wesen von Luxuria. Sobrietas. Bel Acueil oder Chastee. in der vorgegebenen Bedeutung eines verkörperten Begriffs oder im reinen Kontrast zu dem moralischen Gegenbegriff auf. Während die allegorische Personifikation innerhalb eines vorgezeichneten Handlungszusammenhangs immer nur das aussprechen oder durch Gebärden verbildlichen kann, was schon vorgängig durch ihren Namen begrifflich festgelegt ist, vermag die mythische Personifikation wieder selbständig, aus eigenen - oft uneinsichtigen - Motiven zu handeln. Sie kann Handlungen in Gang setzen, in den Ablauf eines Geschehens von außen eingreifen, unversehens wiederkehren und sich wieder entziehen l8 • Sie gewinnt gegenüber den Allegorien, die immer nur die eine Wesenseigenschaft wiederholen können, Anfänglichkeit und Singularität im Handeln zurück. Das Wesen von Amor oder Venus läßt sich in ihrer mythischen Funktion nicht mehr zureichend definieren, sondern eher aus ihrer Vorgeschichte erkennen. Solche Vorgeschichten werden in mittelah:erlicher Tradition zu den stillstehenden Mythen oft wieder hinzugedichtet. Im Rosenroman finden sie sich in der rudimentärsten Form. Dem Erzähler des ersten Teils erscheint Amor wie ein Engel, ,der geradewegs vom Himmel kamc (11 sembloit que ce lust uns anges I qui lust tot droit venuz dou eiel, v. 902 sq.). Im zweiten Teil erklärt Amor sein Verhältnis zu Venus wie folgt: .Ihr Herren, meine Mutter, die Göttin, die meine Dame und meine Herrin ist, steht mir keineswegs zu Gebote ... und tut nicht, was immer ich will. Sie pflegt wohl herbeizueilen, wenn es ihr gefällt, um mir zu helfen, meine Geschäfte zu Ende zu bringen.·' .
Der Herkunftsmythos beschränkt sich hier auf das genealogische Verhältnis und auf das Zusammenwirken von Mutter und Sohn, bei dem die Unabhängigkeit der Liebesgöttin eigens hervorgehoben ist. Alanus, der im Erfinden oder Umerzählen von Ursprungs mythen - wie wir am Planctus Naturae noch sehen werden - viel weiter geht, hat auch der intervenierenden Venus eine höhere Macht zugemessen. Wenn der iuvenis im Antidaudianus (wie später auch der Erzähler im .Tournier des Antichrist c) in den Bannkreis der Liebesgöttin gerät, durchbricht das mythische Geschehen die erwartbare 18 11
Soweit folge ich LEWIS, op. eit., p. SO sq. Scignors, ma mere la deesse, Qui ma dame est et ma mesuessc, N'est pas du tout a mon desir ... N'en fait quanque je des ire. Si suclt-ele moult bien acorre, Quant iIli pier, por me sccorre A mes bcsoignes achever. Mais ne la voil or pas grever. (v. 11 131)
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oder psychologisch wahrscheinliche Motivation der Fabel und versetzt die Betroffenen in eine abweichende, nicht gewollte Richtung des HandeIns. Dieses Nicht-Gewollte kann den Aspekt einer mythischen Wiederkehr annehmen, so daß der längst assimilierte, nur eben zitierte Mythos unversehens in einer höheren, die allegorische Fiktion übersteigenden Mächtigkeit erscheint. Neben der mythischen Erzählung gibt es also auch mythische Rekurrenz in der allegorischen (aber auch in der nicht-mythischen) Enählstruktur, wo sich das Mythische oft überraschend durch quereinschießerlde Motive ankündigen und sich dem rational Auflösbaren der Allegorie als eine höhere Realität entgegensetzen kann, die sich moralisch nicht ganz verrechnen, also auch nicht ohne Rest zur Belehrung ausmünzen läßt.
v In der Tradition der Minneallegorie ist die Remythisierung der alten Götter am weitesten gediehen. Die Minnedoktrin des Mittelalters hat eine eigene Mythologie ausgebildet, deren Elemente zu einem guten Teil aus der spätantiken Gattung der Epithalamien übernommen sind. Dieser Rezeptionsvorgang steht unter der historischen Vorbedingung, daß die Herausbildung und Kodifizierung einer autonomen höfischen Liebeserhik und der sie überbauenden Mythologie ihren ernsten Widerpart im Glaubensgebäude der chrisdichen Religion hatte und als deren Kontrafaktur ihre eigentümliche Form und Bedeutung gewann. Hier kann verfolgt werden, wie der mittelalterliche Amor in dem Maße über den zur bloßen Personifikation herabgesunkenen antiken Liebesgott hinauswuchs und mythische Gestalt annahm, wie er in spiegelbilaliche Funktionen des christlichen Gottes eintratl°. Wie schon C. S. Lewis zeigte, hat das Epithalamium in den Jahrhunderten zwischen Antike und Mittelalter nicht allein ein Stück der antiken Mythologie an die christliche Poesie vermittelt. Es hat auch unter dem Schutzmantel der Allegorese eine heterodoxe Bildwelt in sie hereingeschmuggelt, aus der eine ganze mythologische Landschaft: erstehen konnte, die als )andere Weltc der Imagination neben die andere, jenseitige Welt der Religion trat: das Reich Amors, von dem der Lustgarten im Rosenroman (vergier de Deduiz) nur eine seiner Gestalten istl 1• In der Beschreibung des Liebesparadieses finden sich in veränderter Konstellation folgende Elemente wieder, die in der Tradition der Epithalamien vorgegeben waren: die Erscheinung von Venus und Amor, die bei Statius sich mit dem Schwanen wagen von ihrem Göttersitz nach Rom begeben, um dem Dichter Stella die umworbene Violentilla zur Hochzeit zuzuführen"; der Palast und Garten der Venus, der bei Claudianus als ein auf einem Berg in Zypern gelegener, mit einer goldenen Hecke umfriedeter locus amoenus beschreiben wird, in dem zwei Quellen, die eine süß, die andere bitter, fließen und wo sich luventus. die Senium aus• d. GRLMA, VU1, C, cap. 5, und RUHE, op. cit., p. 9 und 12 (Beispiele passim). Nach LEWIS, op. cit., p. 75 . .. Süvae I, 2, v. 140 sq. 11
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lossen hat, mit den Amores. Metus und Voluptlls aufhältu; die Frühlingsschilerung, die bei Ennodius das Erscheinen der Venus umrahmt, die Verbindung zur !Landschaft der Pastorale schlägt und später als topischer Eingang der Liebesdichtung unendlich variiert wird". Der Ausbildung einer hö6schen Mythologie um den Liebesgott und sein paradiesisches Reich geht die Rezeption Amors bei den Troubadours und Romanerzählern voraus. Schon seit Wilhelm IX., dem ersten uns bekannten Troubadour (1071-1126), findet sich Amor als Unterwerfung fordernde Macht und Inbegriff aller hö6schen Verpßichtungen in der Troubadourlyrik; seine paradoxen Wirkungen werden nicht allein in Ovidianischer Manier beschrieben, sondern auch als sich widerstreitende innere Stimmen (Dialog im Monolog, z. B. Amor gegen Raison) personi6ziert dargestellt. Besonders bemerkenswert ist für diese Rezeptionsstufe, daß Amor und Venus wie alle anderen Personi6kationen zunächst als unsichtbar wirkende Wesenheiten oder Stimmen thematisiert, nicht aber gestalthaft beschrieben werden. Erst die Minneallegorie, die schon das Ende der Blütezeit der Troubadourlyrik und des hö6schen Romans anzeigt, hat die innere Welt der Liebe, die in den personifizierten Leidenschaften und Normen und in dem verheißenen Paradies des Joi (Freude) unanschaubar blieb, in die mythologische Landschaft des vergiertl Amor übersetzt; sie hat diesen mitpersonhaft anschaubaren Begriffen und Figurationen bevölkert und so dem unsichtbar Wirkenden die unmittelbare mythische Präsenz verliehen. Der Neueinsatz der mittelalterlichen Minneallegorie wird am Ende des 12. Jahrhunderts in zwei lateinischen Werken sichtbar, von deren Wirkung auf die volkssprachliche Dichtung spätere Zitierungen, Endehnungen und Bearbeitungen gewiß ein unvollständiges Bild geben: De Ilmore von Andreas Capellanus und die AlterClltio Phil/idis et Florlle. Sie bringen den antiken Mythos in einem neuen allegorischen Gewand, das noch andere Traditionen, die Form des Streitgedichts und Elemente der ,Anderen Weite des Artusromans voraussetzt. Mit der veränderten Topographie des neuen pllrlldisus Ilmoris erscheint auch die Rolle der Liebesgötter in einem anderen Licht. Amor hatte in antiker Mythologie die Funktion, zwischen Venus, seiner göttlichen Mutter, und den Menschen zu vermitteln. Dieses triadische Prinzip wird in der mittelalterlichen Rezeption ganz umbesetzt: nicht mehr Venus, der seit Statius im Epithalamium der höchste Rang zugekommen warD, sondern ihr Sohn Amor hat nun die hierarchische Spitze im Reich der Liebe inne, während der Liebesgöttin eine intervenierende, dem mythologischen Attribut ihrer lodernden Fackel gemäße Rolle verbleibt. Die vermittelnde Instanz ist aufgegeben: der Liebende, der .den Dienst Amors aufnimmt, tritt in eine unmittelbare Beziehung zu dem Numinosen. Damit ändert sich aber auch das epische Schema: statt der Reise, die Venus und Amor von Zypern aus unternahmen, um das Paar zu vereinigen und seine Hochzeit zu sanktionieren, begibt sich jetzt der • Epithalt:mium de "uptiis Ho"orii August;, v. 49 sq.; in De amore von Andreas CapeUanus ist die QueUe an ihrem Unprung rein und süB. im weiteren Verlauf aber - mit dem Eintritt in den Bereich der hum;ditas - eiskalt und verderblich (cd. E. TROJEL, Kopcnhagen 1892. p. 100 sq.) . •• d. E. FAYE WILSON. Pastoral arrd epithalamium in "'ti" litnature, Sp,crJum 23 (1947) 3~57. U
Bei Catull. Ca"". 61. blieb Venus noch dem Hymenaeus untergeordnet.
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Liebende selbst, der miles in De amore wie auch Phillis und Flora. auf den Weg, um den Liebesgott in seinem Reich aufzusuchen. in seinen Dienst zu treten oder seinen Rat einzuholen. Das mittelalterliche Reich Amors ist nur - wie die .Andere Weite der Anusromane - über eine Jenseitsschwelle zu erreichen. die durch traditionelle Motive wie: Verirren im Walde. seltsame Brücke, Pforte in einer Mauer. oft: aber auch nur durch einen Traumübergang bezeichnet ist. Das Innere des paradisus amoris entspricht in vielen Zügen dem antiken locus amoenus der bukolischen Dichtung oder der Schilderung der elysischen Ge6lde, weist aber nicht weniger deudich auch auf chrisdiche Traditionen der Paradiesbeschreibung zurück". Genetisch ist der Anteil beider Traditionen kaum zu entwirren. zumal der Motivund Wortbestand des antiken l.ustortes schon früh von christlichen Dichtern verwendet wurde, um das biblische Paradies als Schauplatz für das conubium des ersten Menschenpaares auszuschmücken". Doch zeigt die Geschichte der Minneallegorie von Andreas Capellanus bis Jean de Meun. wie das Paradies der hö6schen Liebe in Anlehnung an christliche Vorstellungen der terra beata gebildet und mehr und mehr zu ihrer Kontrafaktur ausgebaut wurde. Der paradisus voluptatis der Genesis (2. 8-17) hat im hö6schen paradisus amor;s sein genaues Seitenstück: es ist ein umgrenzter Garten" oder Hain mit blühenden und Früchte tragenden Bäumen. hier wie dort mit einer Quelle". die der aqua rqeaionis des 22. Psalmes, eschatologisch dem Ions vitae des neuen Jerusalem (Apoc. 21,6; 22, 1) entspricht, und mit einem Baum in der Mitte, der als /ignum vitae, aber auch als /ignum scient;ae boni et maU zu deuten ist. Bei Andreas Capellanus hat das Reich Amors den Charakter eines vollständigen Weltmodells: der Palast des Liebesgottes mit seinen vier Pforten, Allegorie der verschiedenen Einstellungen zur Liebe, be6ndet sich in medio mundi (p. 89), sein Thron neben Quelle und Baum im Innersten von drei konzentrischen Kreisen: amoenitas. humiditas und siccitas, die als Totenreich in vollendeter Kontrafaktur zu den drei chrisdichen Jenseitsbereichen das Endschicksal der .Gerechtene und der ,Sündere in der Liebe versinnbildlichen". Hier hat der antike Liebesgott - fern aller antiken Tradition - die neue Funktion einer höchsten richterlichen Instanz erhalten, die auch mit der Streitfrage und Entscheidung der Altercatio. ob der Kleriker oder der Ritter in der Liebe vorzuziehen ist, in die romanische Tradition eingeht. Auf ihrem Gipfel. in der Minneallegorie des ersten R.oman de la rose. wird die terra beata der hö6schen Liebe ausdrücklich dem verlorenen Paradies Adams gleichgesetzt,
Terre n paradis che~ /es pnes de l'lglise, in F.ra"os-Jahrbuch 22 (1953). p.433-472. 17 So bei Avitus, Oe spirihuIÜs historiu gUfis; d. R. GRUENTEJI.. On paradisus tkr Winan Gmesis, in F.",ho';on 49 (1955). p. 119-144. bes.• p. 129. • Der hortus condusus, mit dem in Cant. 4. 12 die Sponsa verglichen wird. ist gleichfalls ein Ausgangspunkt für die Tradition des aUesorischen Ganens im Mittelalter. Cf. W. STAMMLER. On allegorische Garten, in id., Wort und Bild. Berlin 1962. p. 107. • Nach Gen. 2, 10 Unpruns der vier ParadiesBüsse. .. d. cd. eit., p. 91-108; die konzentrische Verequng zu einem innersten Kreis steht im Gegensatz zum christlich-ptolemäischen WeltmodeU, in dem das himmlische Paradies in der iuBcnten. alles umfassenden Sphire liest.
.. J. DANIELOU.
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Und wißt, daß ich fürwahr im irdischen Paradies zu sein glaubre; So sehr war der Ort zum Ergönen, daß man ihn für spiriruell halren konntel l ,
ja der ;ardin de Deduit will dem Amant sogar noch schöner vorkommen (v. 640-642.1 1299 sq.). Der Traumcharakter, der das Ausspredten solcher Vergleiche erlaubt, bleibt bei Guillaume de Lorris durchgängig gewahrt. AnCl,,'re Dichter verfahren naiver oder auch kühnerli und machen so das Problem der Vereinbarkeit von weltlich-höfischer und christlicher Liebe deutlicher sichtbar, deren Nebeneinander durch eine beziehungssuchende Allegorie zu vermitteln der verschwiegene Ansatz mancher Texte gewesen sein dürfte. Stellt man sich die neuen Geschichten insgesamt vor Augen, die in dieser Spätphase der Minnedichtung des Mittelalters um die ,stillstehenden Mythen( der Antike gebildet wurden, so erreicht die höfische Mythologie der Liebe als Kontrafaktur der christlichen Liebesauffassung eine dieser nicht nachstehende Geschlossenheit. In der esoterischen Ars amandi findet der Adept seit Andreas Capellanus nicht allein die praecepta und regulae einer alle erdenklichen Fälle umgreifenden Kasuistik, sondern auch die mythisch überhöhte Antwort auf .Ietzte Fragen« nach Rechtfertigung und Gnade, Sühne und Glücksverheißung, die sich ihm angesichts der Strenge der höfischen Liebesethik stellen können. Das Problem der Häresie ist schwer zu lösen, da von kirchlicher Seite nur eine allgemeine Polemik gegen die Lügen der weltlichen Dichter, aber keine ausdrückliche Kritik an der höfischen Liebesreligion überliefert ist. Hier soll darum nur die Mythenkritik referiert werden, die von Dichtern der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, Brunetto Latini und Jean de Meun, aus verschiedener Sicht gegen den ersten Rosenroman vorgebracht wurde und das Mythische der höfischen Liebesreligion durch ihre Negierung erst eigentlich hervorkehrt. Guillaume de Lorris hatte der neuen ars amandi eine entschieden platonisierende Richtung gegeben. Seine Minneallegorie entfaltet das Ethos der höfischen Liebe von den einfachsten Regeln des gesellschaftlichen Verhaltens bis zur höchsten Sublimation der Liebesbeziehung (vor allem im Mythos von der Quelle, einer Umkehrung des Narzissmotivs, die dem Liebenden zu verstehen gibt, wie die Idee der Liebe ihrer Erfahrung vorausgeht) und im allegorischen Spiel vom Rosenhag, das die wider11
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E sachiez que je cuidai estre Poir voir en parevis terrestre; Tant estoit illeus delitables Qu'il sembloit estre esperitables, (v. 63~38) In dem provenzalischen Text La cour d'amour (GRLMA, VI C, Nr. 4648) wird z. B. Amor .nächsr Chrisrus, dem allmächtigen. als König über alle Menschen bezeichnet (v. 839); in Venus La düsse d'amour (GRLMA, VI C, Nr.4712) wird die widerspenstige Dame unter Berufung auf Li deu d'amor e Ihesu Christ mir Höllenstrafen bedrohr, wenn sie dem Amant weiterhin ihre Gunst verweigert; in Le Novelet (GRLMA, VI C, Nr.4682) findet sieb die lehre, daß Mann und Frau, wenn sie parfait amant sind, aller Todsünden ledig seien (v. 954); in Chretiens LanuLot gipfelt die Liebesszene darin, daß der langgeprüfte Liebende an das Bett Guenievres rritt, sie anberet und vor ihr das Knie beugt, odenn an keine Reliquie glaubt er in diesem Maße. (car an nul cors saint ne croit tant, v. 4653).
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streitenden Neigungen der Dame zugleich offenbart und wieder idealisiert. Guillaumes Amor ist der Gott des verfeinerten Liebesgefühls, dem Venus, obschon seine Mutter und die an sich größere mythische Gewalt, untergeordnet bleibt. Die mythische Dimension des ersten Rosenromans, der von den neuen Mythen der Schule von Chartres nichts weiß (oder sie verschweigt?) und von den drei Jenseitsbereichen des Andreas CapeUanus nur den paradisus amoris evoziert, wahrt ihre Idealität um den Preis aUer Schatten - jener dunklen Mächte des Liebestriebs, die Alanus in Gestalt der Venus remythisiert und die Jean de Meun wie Brunetto Latini wieder aufbieten, um die poetische Freiheit, mit der Guillaume de Lorris aus seinem Reich Amors alle anderen Wirklichkeiten der Welt ausschloß, wieder in Frage zu stellen.
VI Die italienische Rezeption der aus Frankreich übernommenen Minneallegorie beginnt mit Brunetto Latinis Tesoretto (1260/66) im Zeichen der Weigerung, die Idealität der höfischen Liebe und ihres Amonnythos anzuerkennen". Brunetto hat schon in der Topographie der allegorischen Reise seinen Widerspruch daran sinnfällig gemacht, daß er das Reich des Dio tI Amore von dem der Tugenden absonderte und gerade der ehedem höfischen Kardinaltugend Cortnia die Warnung des Wanderers vor Amor in den Mund legt (v. 1843-50). Seine neue Erklärung des Wesens der Liebe vollzieht sodann den konsequenten Schritt aus der Idealität der höfischen Liebesethik in die Psychologie einer versachlichten Beschreibung bloßer Affekte (v. 2273-2342). Diese werden allesamt aus Piacere abgeleitet, mit dem ironischen Kommentar, daß dieses der Name sei, der dem Liebesgott in Wahrheit zukomme; denn wenn ihn die Leute Dio d'Amore zu nennen pflegten, geschehe dies nur aus Furcht (v. 2339). Brunetto hat schließlich den Liebesgott - wiederum im Gegenzug zur Norm des (in' amor. die ein bewußtes Erwählen der Dame forderte - als blinden Cupido dargestellt und damit einen im Mittelalter selten zitierten Mythos gegen den höfischen Amor ausgespielt". Die letzte Pointe in diesem Prozeß der Decouvrierung zielt auf die höchste antike Autorität in Liebesdingen: Brunetto läßt sein wanderndes ,alter egoe an Ovid die Frage nach dem Grund der Blindheit Cupidos richten. Doch statt des erwartbaren Ursprungsmytbos wird ihm nur die lakonische Antwort zuteil, daß niemand von der Macht der Liebe wissen kann, der sie nicht erst erfuhr (ehe la (OIU t/amare / non sa chi no'lla prova. v. 2374 sq.). Und als ob Ovid die Wahrheit seiner Sentenz sogleich
handgreiflich beweisen wollte, muß der neugierige Wanderer plötzlich feststellen, daß er sich nicht mehr vom Platz bewegen kann, weil auch er Cupido ,auf den Leim gegangen iste (v. 2385). Den biographischen Schlüssel für das Ereignis und seine Folgen (der Dichter, durch die Kunst Ovids wieder auf seinen Weg gebracht, muß in Montpellier eine umfassende Beichte ablegen) hat Brunetto der Nachwelt vorent.. S. dazu Vf., Brunetto un;,,; als allegorischer Dü:hter, in Pormmwarulel - Festschrift für Paul Bödanann, HamblUJ 1964, 47-92, bes. 74aq• .. d. ib., p. 78 und V. BucHHErr, Amor uecus, in Classiu et Medievalia 2.S (1964), p.129-137.
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lten. Vom Witz dieser Episode ist gleichwohl so viel erkennbar geblieben, daß hier 'e theoretische Frage nach der Bedeutung des Mythos geradewegs an den Mythoeten gerichtet wird und dieser das gefährdete Geheimnis der mythischen Fiktion nur en kann, indem er statt einer Antwort die überlegenheit der Praxis über alle theorie ad oculos demonstriert. Auch die Kritik Jean de Meuns an dem von ihm weitergeführten Rosenroman des Guillaume de Lorris decouvriert die höfische Mythologie der Liebe als eine fiktionale Welt. Ihr begrenzter Spielraum wird dem Amant zunächst durch die Belehrung deut~ch gemacht, daß es noch andere Bereiche der Liebe wie Freundschaft, Nächstenliebe, Mutterliebe und Liebe zur Weisheit gebe (v. 4663 sq.). Dann wird die Kritik auf der lDythologischen Ebene ausgetragen: Jean de Meun spielt die neuen Mythen der Schule von Chartres gegen den Amor und das sublimierte Liebesethos seines Vorlängers ausSlI. Die Konstellation der mythischen Figuren wird umbesetzt: Venus als Göttin der sexuellen Begier und generativen Kraft und nicht mehr Amor, der Gott des verfeinerten Liebesgefühls, der ohne Venus im Kampf gegen Jalousie unterliegen würde, hat jetzt wieder den Vorrang. Venus erscheint in einer Triade als Helferin der Natura und ihres Priesters Genius, der den Getreuen im Heer Amors das Paradies verheißt, die das vornehmste Gebot: die Fortpflanzung der menschlichen Gattung gegen die Macht des Todes, erfüllen. An diesem Punkt erreicht die Kritik Jean de Meuns ihre polemische Spitze. Er läßt Genius aussprechen, daß der Paradiesgarten der höfischen Liebe im Vergleich zu dem )Park der guten Weidet, dem verheißenen wahren Paradies, nur ein vergängliches, ja täuschendes Abbild sei (v. 20 288). Sehen wir darin, daß Jean de Meun die mythische Trinität Venus, Natura und Genius der Allegorie seines Vorgängers Guillaume de Lorris als eine höhere Realität entgegensetzt, um die höfische Liebesreligion als eine in sich selbst beschlossene Fiktion zu enthüllen, eine mythische Struktur des zweiten Rosenromans, so stellt sich die Frage nach der mythischen Dimension des vorgängigen Werkes, De planetu NaturaeS 8 von Alanus ab Insulis. Wie kommen in der kosmologischen Epik von Chartres die stillstehenden antiken Mythen wieder in Bewegung? Haben wir hier den im Mittelalter seltenen Fall der Entstehung eines neuen Mythos auf christlichem Boden?
VII Unter )neuer Mythos( soll hier eine Erzählung verstanden werden, die das Ganze der Welt betrifft, das Verhältnis des Menschen zu höheren Mächten verbildlicht und auf eine elementare Frage antwortet; sie kann diese Antwort figürlich erteilen, indem
.. d. LEWIS, op. cit., p. 121: .. In the Romanee Venus is the sexual appetite - the mere natural fact, in contrast to the god of Love who is the refined sentiment. She is the generative force in nature whom ehe school of Chartres had taugbt men to contemplate philollOphically, to look upon with the eyes of a Lucretius, not with the eyes of Ovid or Jerome.• .. Zitiert nach: The Anglo-Latin satirical poets and epigrammatists of the twelfth century, ed. TH. WRIGHT, London (ISn) 1964, Bd. 2. Stellenangaben nach Seiten- und Zeilenzahl.
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ein neuer Gott (wie N""'ra und Genius bei Jean de Meun) an die Stelle eines alteD (Guillaumes Gott Amor) gesetzt wird, oder auch polemisch, als neue Antwort auf eine alte, nun aber anders gefaßte Frage vorbringen. De planctu Natur" zeigt diese Bestimmungen in einer eigentümlichen Oberformung des Mythischen durch Ver· fahren und Figurationen der christlichen Allegorese. Die Personen der Handluna werden erst in ihrer äußeren Erscheinung beschrieben, dann in ihrer allegorischen Bedeutung entschlüsselt, so daß mit der meist verzögerten Namensnennung (cf. 456, 28: ego $11m Natura. 504, 7: Hymenaeus. SOS, 27: CastittJs etc.) ihr Wesen vollständig offenbart ist. Die allegorische Bedeutung einer Person kann auch durch die Zuordnung weiterer Wesenheiten entfaltet werden, so wenn Hymenaeus gefolgt VOD CastittJS. TemperantÜJ. LargittJs und HumilittJS erscheint (503, 14 sq.) oder wenD Natura. Genius und Veritas zu einer allegorischen Figuration zusammenueten (518, 15 sq.). Dem Kanon der vier Tugenden der legitimen Liebe wird eigens ein rnn lehrhafter Lasterkatalog entgegengestellt (484,8 - 502,10). Wird dem Leser in alledem die Bedeutung bis ins letzte Detail entschlüsselt, so bleiben andererseits aber doch einzelne Figurationen (wie z. B. die von Natura. Genius und VerittJS) und vor allem das Rahmengeschehen der rationalen Auflösung in einer Weise entzogen, die eine ver· deckte mythische Fabel signalisiert. Den philosophisch-theologischen Epen der Schule von Chartres liegen zwei mythi· sche Erzählstrukturen zugrunde: die emanatistische (Erscheinung eines göttlichen ode! himmlischen Wesens, das in den Weltprozeß eingreift) und die - nennen wir sie viatorische Uenseitswanderung, die ein privilegiertes irdisches Wesen ad intuitum supercoelestium formarum'7 führt). De planau Naturae hat, wie schon der Titel anzeigt, die emanatistische Struktur; die zweite, viatorische wird durch die Entsen· dung des Hymenaeus zu Genius nur angedeutet. Doch hat A1anus eine Funktion deI viatorischen, die Beschreibung der kosmischen Ordnung, mit Hilfe der Allegorie vom Kleid der Natura in seinen emanatistischen Mythos übernommen. Dieser antwortet offensichtlich auf eine elementare Frage, die das Ganze der Welt betrifft, die Frag~ nämlich, warum die Welt mehr und mehr degeneriert, ihr goldenes Zeitalter ent· schwunden und die Gegenwart in die )Annut des Eisensc gekleidet ist". Um das Verhältnis von mythischer Erzählung, Frage und Antwort in De planau Natura, genauer zu fassen, muß aber erst die übergreifende Tradition berücksichtigt werden, in der die Version der Natura plangens von A1anus steht. Nicht allein die vorgängigen Epen, De raptu Proserp;nae von Claudian und D, un;lIersitllte mundi von Bernhard Silvestris, auch die in der Nachfolge von Alanu! Zitiert aus dem Prolog des Antidaudia"usj d. E. R. CURTIUS, Europäische Literatur un4 lateinisches Mittelalter. Dem 1948, p. 127: .Alanus wiinscbt sich Leser, die auf dem Wep der Vernunft zur Schau der göttlichen Ideen (ad inluitum supercoelestium lormarumJ aufsteigen möchten. Hier haben wir das Programm einer neuen Dichtungsgattung. deI philosophisch-theologischen Epik.• In der Formulierung von metrum VI:
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Mundus degenerat, aurea mundi Jamjam degenerant saecu1a, mundum Ferri pauperies vestit, eundem Olim nobilitas vestiit auri (483, 13 sq.).
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tstandenen allegorischen Werke, der Tesoretto von Brunetto Latini und der zweite osenroman von Jean de Meun, stehen in einer eigentümlichen Verkettung. Hier hat er Nachfolger nicht einfach das Muster eines Vorgängers nachgeahmt oder variiert, ndern eine schon bekannte mythische Fabel neu ausgelegt oder um erzählt. Die age der Natur bekommt immer wieder einen neuen Grund: bei Claudian ist es die rägheit der Menschen, die mit der Stiftung des Ackerbaus überwunden werden soll; ei Bernhard der formlose Zustand der Materie, die einer harmonischen Ordnung edarf; bei Alanus die Sodomie, die der Regeneration des Menschengeschlechts entjlCgensteht. Das zweite Werk von Alanus, sein Anticlaudianuslt , kann geradezu wie !tine Fortsetzung des Planetus Naturae gelesen werden. Denn der neue Mythos von lIIem humani generis naufragium (511, 23) hat die Frage zur Folge, wie die Degene~tion der Menschheit behoben werden und Natura, die in allen ihren Werken nichts !finden kann quod in omni parte beate / vivat (I, 216), ein Werk schaffen könnte, das in seiner Vollkommenheit alles Verfehlte zurückkauft und erlöst: den divinus homo, der Mensch und Gott zugleich werden soll (cl. I, 228 sq.). An die Stelle der gestörten iOrdnung der Natur wird Brunetto Latini schließlich die Klage über das Unglück leiner Vaterstadt Florenz nach der Niederlage von Montaperti rücken, nur daß hier die (schon von Boethius gestellte) Frage, wie der Mensch sich über politische KataItrophen oder allgemeiner: über die ständige Gefährdung durch seine Geschichte erlieben kann, nicht mehr mythisch, sondern rational durch die Rechtfertigung der I.:uriositas, des theoretischen Interesses an den Dingen, beantwortet wird·o. i Wenn damit die Position von De planetu Naturae im historischen Kontext einer !übergreifenden mythischen Frage- und Antwortstruktur bezeichnet ist. muß aber !Bleich eine Einschränkung gemacht werden. Alanus hat das mythische Schema offenbar taur aufgegriffen, um die mythische Wirkung sogleich wieder auhufangen. Er umstellt ~icht allein die mythische Fabel mit allegorischen Konstellationen, sondern bringt auch ie mythische Frage- und Antwortstruktur in eine reflexive Distanz, indem er sie iskursiv in einen Dialog zwischen Dichter und Natura mit sieben Fragen und Antorten auflöst. Die mythische Fabel vom adventus Naturae und dem tEQOIi yaJ.lOIi er Erde (447,21 - 449,6), ihrer Klage, ihrem Dekret und der Exkommunizierung ler Laster durch ihren Erzpriester Genius wird damit in einen umrahmenden Vorng abgedrängt und, so weit es irgend geht, zu handfester Belehrung ausgemünzt. Das igt schon der schülerhafte Tenor der Fragen (459,21 - 484,12): 1. warum kam atura, die peregrina coelis, zur Erde? 2. was bedeuten ihre Tränen? 3. warum ·elen ihre Vorwürfe nur gegen das Menschengeschlecht und nicht auch gegen die ötter? 4. warum ist ihre Tunica an einer bestimmten Stelle beschädigt? 5. was hat den Menschen dazu gebracht, sich gegen die Gesetze der Natur aufzulehnen? 6. wie ist das Wesen Cupidos zu erklären, dessen Herrschaft sich niemand entziehen kann? 7. welche Laster sind in die Degeneration der Menschheit verwickelt? In der Reihe dieser Fragen läßt die dritte und die sechste etwas von der Problematik erkennen, die der Gebrauch antiker Mythologie für einen Theologen wie L
• Ziti~rt nach Alain de Lilie. Ant;cla"dianus, cd. BOSSUAT. P~ris 1955. . . • cf. Vf., Brunetto Latin;, op. eit., p. 79 sq.; dort (p.70) habe Ich auf das auch In mltte.lalterlieher Epik (besonders im Roman d~ R~IIa't) verbreitete Prinzip der .Fortsetzung In der Nachahmung. aufmerksam gemacht.
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Alanus mit sich brachte. Die dritte Frage dient offenbar dazu, dem Verfasser selbl einen Freibrief auszustellen. Er läßt Natura die Frage nach den Ausschweifungen dc antiken Götter barsch zurückweisen: wie könne der Fragende auch nur einen AUgell blick solche traumhaften Fiktionen der Dichter (umbratilibus poetarum fi~ 465, 16/17) ernst nehmen und nicht der Philosophie folgen, die längst mit den Am menmärchen der Poesie (u quae in puerilibus cunis poeticae diseiplinu disCUntul 465, 16/17) aufgeräumt habe. Dieser dogmatischen Abfenigung der antiken Mythe als )Lügen der Dichtere läuft indes die sechste Frage zuwider. Mit ihr unterbricht dc Gesprächspanner der Natura ihre wohlgesetZte Erklärung der Weltordnunt zieht sich ob seiner puerilitIU ~ine Rüge zu (471,9 sq. 475,4 sq.) und wird dm doch über das Wesen Cupidos aufgeklärt, obschon es sich hierbei um eine )nid! bescbreibbare Sachee (rem immonsfrabilem demonstrabo. iMxtrabilem extricabc 471, 23/24) handle. Natura bedient sich nun selbst der zuvor diskreditierten lictur der Dichter, in einem Gedicht in Distichen (metrum V). Dem als paradox ausgegc benen Gegenstand gemäß entfaltet ihre Definition (Pax OOio. Iraudique fitks. sp. iunctll timori, / est amor, et minus cum ratione luror. 472, 1/2) und die folgend Beschreibung Wesen und Wirkung Amors in einer langen Verkettung von Paradoxier Darunter findet sich eine Folge von zitierten Mythen, die zur Beispiel6gur verkürz, aber zugleich bed.eutungsverkehrt sind, um zu illustrieren, wie Cupido alle Dinge ~ ihr Gegenteil wenden kann: Et pius AeMas incipit esse Nero. / fulminat ense Pari~ Tydeus molleseit amore, etc. (472, 26/27). Im Schutz der poetischen Form kann di mythische Gewalt der antiken Gottheit unvermindert und ohne moralischen Filte demonstriert werden. Denn der weise Ratschlag: angesichts der Macht Cupidos lieg das einzige Heil in der Flucht (474, 7 sq.), bestätigt hinterrücks wieder, wovor er ers warnte. Weit entfernt, den gefangenen antiken Mythos als bloße Fiktion der Dichte zu endarven, gibt ihm Alanus vielmehr eine ernste und zugleich zwielichtige Funktiol in seiner Kosmologie. Denn Cupido figuriert nicht allein in dem seinen Künsten gewidmeten poetische: Traktat (cupidinariae anis . .. theorica. 474, 13/14). Er hat auch seine Stelle in dc ernsten Erzählung, der sich Natura wieder zuwendet, um die fünfte Frage nach der Grund der eingetretenen Unordnung zu beantworten. Bei dieser Antwort verläfi Alanus den Umkreis der zitierten und auch der umerzählten Mythen, um einel Mythos eigener Schöpfung vorzutragen". Er macht Hymenaeus zum Gemahl de Venus und Vater des Cupido und stellt dieser Figuration der gottgewollten Fortpflan lung eine zweite Figuration der unerlaubten Liebe gegenüber, Venus und Antigamu! aus deren Konkubinat ein zweiter Sohn, Iocus, hervorgeht. Die bei den gegenbildlichCl Figurationen könnten für sich genommen noch rein allegorisch als Verkörperung de erlaubten und der unerlaubten Liebe verstanden werden, erschienen sie nicht i, einem Erzählzusammenhang, der mythischen Charakter hat. Denn Natura beanc wortet die fünfte Frage, wie es kam, daß der Mensch ihren Gesetzen abtrünnig wurde nicht direkt und moralisch, indem sie seine widernatürliche Auflehnung etWa de Ü
a. J. HUlZINCA, Ober die Verlunipfrmg des Poetisch.,. mit tkm Theologiu:h.,. bei AL".,. ab IPISIIÜs. in Medetkeling.,. der KoninJW;/u AluuUmie 111111 VI.m.schapp.,., Afdelin LnterIulluU, Deel 74, Serie B, Nr. 6, Amstcrdam 1932, p. 46 sq.
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Rückfälligkeit des Sünders zurechnet. Sie antwortet vielmehr in .mythischer Umständlichkeit«" mit einer Geschichte, in der die Wendung vom Gesetz zur Ungesetzlichkeit auf die Pflichtverletzung eines übermenschlichen Wesens zurückgeführt wird: Venus, die subv;caria der Natura, habe aus Oberdruß an der immergleichen Arbeit, die von den Parzen durchschnittenen Fäden im Gewebe der menschlichen Gattung weiterzuknüpfen, ihre Ehe mit Hymenaeus gebrochen und eine Buhlerei mit Antigamus begonnen (479,9 sq.). Huizinga sah in dieser mythischen Erzählung nicht viel mehr als ein .poetisches Ausdrucksmittelcc und maß auch Venus, Hymenaeus und Cupido .bloß poetischen Wert« bei, während die Tugenden und Natura, obschon ebenfalls ganz allegorisch verwendet, doch .begrifflich tief in der philosophischen Weltanschauung verankert« seien43 • Doch eine solche Trennung des Poetischen und des Philosophischen ist nicht rein durchzuführen. Denn A1anus hat sich offensichtlich des Poetischen, Allegorischen und Begrifflichen gleichermaßen bedient, um sein kosmologisches System darzustellen. Und dieses nimmt sich neben dem christlichen Dogma eigentümlich mythologisch aus, weil es - wie Natura von ihrem Verhältnis zur Theologie sagt - zwar nicht Entgegengesetztes, aber doch Verschiedenes (non adversa. sed d;versa. 456, 9) darlegt. Wäre De planetu Naturae nurmehr ein Lehrgedicht oder polemisches Werk gegen die im 12. Jahrhundert literarisch mehrfach bezeugte Sodomie44, so erschiene das feierliche Prosimetrum allzu schwer befrachtet und seine lange, bis Jean Lemaire ae Belges, Gower und Spenser reichende Wirkung kaum erklärlich. Das spätere Um- und Weitererzählen knüpft indes an einen mythischen Kern, die Klage der Natur und die geheimnisvolle Erscheinung ihres männlichen .alter ego( Genius an. Darum kann man sich schon bei Alanus fragen, ob nicht die Sodomie für ihn eher ein äußerer Anlaß gewesen ist. um die tiefer gehende Frage nach der Fortdauer der Welt in mythischem Gewand zu beantworten. Die Episode vom Oberdruß der Venus an Hymenaeus und ihrem Abfall zu Antigamus ist als mythologische Vorgeschichte für die Logik der Fabel unentbehrlich und darum nicht bloß poetisches Beiwerk: sie bringt den Grund für die Verkehrung der naturhaften Ordnung und erklärt damit im kosmologischen System dieses Textes den Ursprung des Bösen. Hingegen ist vom Sündenfall Adams, der Erbsünde des Menschen und der Erlösungstat Christi an keiner Stelle die Rede. Muß man nicht vermuten, daß diese Ereignisse des christlichen Dogmas durch den neuen Mythos von Natura als der sublunarischen Mittelinstanz zwischen Mensch und Gott (mundanae c;v;tatis v;car;a procuratr;x. 511, 11/12), Genius als ihrem priesterlichen Beistand und Venus als ihrem ausführenden Organ ersetzt werden sollten? Hier ist die Kluft zur orthodoxen Theologie nicht mehr zu übersehen. Schon C. S. Lewis hat auf unorthodoxe Züge in den Dichtungen des Platonismus von Chartres hingewiesen: .. Nature appears, not to be corrected by Grace, but as the goddess and the vicaria of God, herself correcting the unnatural .. n . Und mit der Natur, die als wesenhaft gut erscheint, gewinnt auch die natürliche Liebe eine für das Vorlage H. BLUMENBERG, p. 43. op. eiL, p.47. 44 Dazu cf. CURTlUS, op. eil., p. 121-125. • op. eil., p. 88. 4.
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christliche Verständnis überraschende Bedeutung: -tbe earthly Cupid, alter being for ages contrasted with the celestial Cupid, suddenly finds himself in contrast with an infernal Cupidc t'. Dazu kommt die noch unaufgeheUte Trinität von Natura, Genius und Veritas, die beim Weltanfang aus einem Kuß von Natura und .ihrem Sohne als dritte Person hervorging (518, 15 sq.)t7. Die Frage der Heterodoxie braucht hier nicht erneut erörtert zu werden, um feststellen zu können, daß die kosmologische Fabel von De planetu Naturae trotz aller Allegorese, die sie umkleidet und moralisiert, den interessanten Fall eines neuen Mythos auf christlichem Boden darbietet.
vm Das Werk des Alanus entfaltet um Natura, die als jüngste antike Göttin im Mittelalter weit über ihre Rolle in der antiken Mythologie hinauswuchs", alle Möglichkeiten der spielerischen wie der ernsten Gebrauchnahme des gefangenen Mythos. Auf einer ersten Stufe werden Mythen als Exempla zitien, einzeln wie gleich zu Beginn die Kinder der Leda auf dem dritten Stein in der Krone der Natura (434, und sq.) und dann in ganzen Reihen. Zunächst sind es die zitatbaft abgekürzten Geschichten des Physiologus, vom Adler (lilie aquila primo iuvenem, secundo senem induens, tertio iterum reciprocata priorem, in Adonidem revertebatur a Nestore. 437, 24 sq.) bis zur Nachtigall (lilie philomma, de!lorationis querelam reintegrans. 439, 16; von Alanus den christlich-typologischen Beispielen angefügt), die auf dem Gewand der Natur die Ordnung der Lebewesen durch eine histrionalis formae repre· smtatio (443, 9) anschaubar machen. Dann werden ]uno, Eolus, Thetis, Flora, Pro· serpina mit Hochzeitsmetaphern in den heiligen Frühling der Ankunft Naturas ein· bezogen (446/447). Im weiteren müssen Helma, Pasiphae, Mi"ha, Medea und NanisJ den Mißbrauch des Privilegs menschlicher Schönheit vor Augen stellen (462, 30 sq.), Eine spielerische Umkehrung der mythologischen Attribute (der fromme Aeneas wir~ ein Nero, der feige Paris ein Schwertheld, der tapfere Tydeus ein Weichling, etc.J zeigt die schon erwähnte Reihe der Mirakel, die allein Cupido zu vollbringen verma! (472, 21/22). Die im Gefolge von Hymenaeus auftretende weinende Castitas, obscholl christliche Tugend, ist nur von heidnischen Beispiel6guren wie Hippolyt, Daphne, Lucretia und Penelope umgeben, die brevi na"ationis tramite (505, 11/1"2) in ilu Gewand eingewebt sind (die Formulierung bezeugt auch, daß die ständig in Ge· mälde- oder Spiegelmeraphorik gefaßten Beispiel6guren von Alanus in der Tat al! abgekürzte Erzählungen verstanden wurden). Und wenn am Ende Genius die Bildel der Dinge so auf Pergament zeichnet, daß ihr Werden und Vergehen und ihre Wieder· geburt sinnfällig wird, kommt einer letzten Reihe von wiederum nur antiken Mytheli die auszeichnende Bedeutung zu, in der Abbreviatur des Zitierten die Ideen des Wah· .. ib., p. 106• • 7 Dazu d. HUlZlNGA, op. ct., p. 43-51. G. XII- si~de, MonaUlJParis 1951, p. 89-93.
RAYNAUD D!. LAG!.,
AJain de Lille -
Po~te
d.
.. Nach C. S. LEWIS, The disCllrded image, Cambridge 1964, p. 36; vgl. ferner seine Studie: in Words, Cambridge 1960, deren erste Natura gewidmet ist.
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AiticollEU,
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ren und des Verkehrten zu präfigurieren: »Helena repräsentiert die Schönheit, Turnus die Kühnheit, Herkules die Stärke, Capaneus die Riesengröße, Odysseus die Schlauheit, Cato die Enthaltsamkeit, Plato den Geistesglanz, Cicero die Beredsamkeit, Aristoteles die Philosophie. Als Beispiele des Verkehrten treten dazu Thersites, der Buhler Paris, der Lügner Sinon, die von den Augusteern geringgeschätzten altrömisehen Dichter Ennius und Pacuvius«41. Nimmt man alle Beispielreihen zusammen, so ergibt sich eine eindrucksvolle Gesamtschau der antiken Mythen, die von Natura versammelt und in den Rollen ihrer Botmäßigkeit für den christlichen Kosmos vorgeführt, damit aber auch als M y t hol 0 g i e unifiziert werden. Auf einer zweiten Stufe werden die in der Personifikation zum Stillstand gekommenen Göttergeschichten durch Umerzählen wieder in Bewegung gebracht. Gleich das erste Metrum kündigt als Grund der Klage an, daß die Welt durch die magische Kunst der Venus in Ruin geraten sei: Cum Venus in Venerem pugnans illos fadt illasj / Cumque suos magica devirat arte viros (429, 5/6). Diese Ankündigung wird durch den aitiologischen Mythos vom Ehebruch der Venus mit Antigamus eingelöst, der auch die Remythisierung Cupidos sichtbar macht. Denn er begründet die Legitimität der natürlichen Liebe durch die Abkunft Cupidos von Hymenaeus wie durch die neue Geschichte von der Existenz eines illegitimen Cupido, des auf der Seite des Bösen mit Antigamus gezeugten anderen Sohnes der Venus, loeus. Diese eingelegte Geschichte hat, wie wir sahen, Konsequenzen für die Rahmenfabel von De planetu Naturae. der dritten Stufe in der Artikulation des Mythischen. Die Rahmenfabel bleibt in ihrem mythischen Kern aus der moralischen Allegorese ausgenommen, die ihrerseits in der durchaus orthodoxen Beschreibung der Laster (prosa VI) und der vier Hymenaeus zugeordneten Tugenden (Castitas. Temperantia. Largitas. Humilitas. prosa VIII) gipfelt. Die Rahmenfabel ist ein kosmologischer Mythos, der auf die nicht ausdrücklich formulierte, durch die Polemik gegen die Sodomie verdeckte Frage nach der Erneuerung des Lebens im Fortgang der Welt antwortet. Sie ist ein neuer Mythos, weil neue Gottheiten, Natura und Genius. denen sich alte Götter wie Venus und Cupido unterordnen müssen, die Ordnung und den Fortbestand der Welt garantieren. De planetu Naturae ist ineins damit ein christlicher Mythos, weil Alanus neben das christliche Dogma einen weiteren Instanzenweg setzt, Natura als weibliche Potenz und generatives Prinzip in die männliche Figuration der Heilsgeschichte einführt und so eine vom christlichen Dogma selbst genährte Neugier mythologischen Fragens befriedigt. Und da der transzendente »Superlativ« der göttlichen Allmacht durch die Unterordnung der vicaria Dei nicht vermindert, sondern eher noch gesteigert wird,
(Et sie in quodam eomparationis tric/inio tres potestatis gradus possumus invenire. ut Dei potentia superlativa. naturae eomparativa. hominis positiva dicatur. 456, 22 sq.), kann Alanus durch den »mythologischen Komparativ«50 für die mythische Geschichte der Natura im sublunarischen Bereich desto größere Freiheit gewinnen. Die weitere Frage, ob die mythopoetische Freiheit, mit der in De planetu Naturae die christliche Heilslehre nicht mehr geschichtlich, sondern naturhaft gedacht ist, den Auslegungshorizont des christlichen Dogmas nicht überhaupt durchbricht und ob .. CURnrs, op. eit., p. 126. M
Vorlage H. BLUME.NBERC, p. 43.
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HANs ROIßT JAUS'
der neue christliche Mythos des Alanus - wie jeder .christliche Mythos( - der christlichen Theologie nicht per se als eine .contradictio in adjectoc gelten muß, fällt nicht mehr in die Kompetenz des Verfassers. Daß Alanus sein poetisch-philosophisches Werk selbst nicht als einen neuen, mit der Theologie konkurrierenden Mythos ansah, nimmt den aufgezeigten mythischen Strukturen nichts von ihrer Bedeutung. Was die Rezeptionsgeschichte am Bedeutungspotential eines Textes allmählich sichtbar werden läßt, braucht sein Autor noch nicht ausdrücklich reflektiert zu haben. Die mythische Dimension solcher Texte wird oft - und unter der mythenfeindlichen Herrschaft der christlichen Dogmatik zumal erst aus dem Abstand oder aus der kritischen Gegenposition eines Nachfolgers der Allgemeinheit zu Bewußtsein gebracht. Wir sahen schon, wie Jean de Meun den mythischen Faden des Alanus weiterspinnt, die mythische Trinität von Venus, Natura und Genius gegen den Liebesgott seines Vorgängers Guillaume de Lorris wendet und damit die höfische Liebesreligion als eine nunmehr durchschaute Mythologie entlarvt. Ein vergleichbarer Umschlag findet sich in der Gattungsgeschicbte der Minneallegorie noch einmal in Dantes Vita nu ova, einer Gipfelaussage der Dichterschule des Dola stil nuovo, die eine .Art Amor-Theologie« mit geheimnisvoll rituellen Bindungen entwickelt hat". Der Liebesgott ist auf dieser Rezeptionsstufe des Mythos transzendente Person und verkörperte Innerlichkeit ineins. Er befindet sich im .edlen Herzen( als ruhende Potenz, die erst durch die Schönheit der Herrin geweckt werden muß und dann auch von außen in Erscheinung treten kann: 10 mi senti' svegliar dentro a 10 core un spirito amoroso ehe donnia: e poi vidi venir da lungi Amore allegro si, ehe appena iI conoscia.
Dante Alighieri, der mit dieser Verknüpfung von innerer Wirkung und äußerer Erscheinung die Amorlehre des Dola stil nuovo exemplarisch verbildlicht, hat im Kommentar zu den gleichen Versen (Vita nuova, Kap. 24) die personifizierende Darstellung des Liebesgottes nur noch ästhetisch, als poetische Lizenz gerechtfertigt: Amore non per sJ SI come sustanda. ma uno accidente in sustanda (ib., Kap. 25). Der Hinweis auf das .als obc der poetischen Fiktion (SI come fosse sustanzia corporale) beantwortet die traditionelle Frage, ob Amor ein Gott oder nur wie ein Gott sei, in einer Weise, die ihre Alternative ganz aufhebt und damit zugleich den Amor-Mythos der vorangegangenen Minneallegorie als einen naiven, nunmehr vergangenen Mythos bewußt macht. Die höhere Realität, aus der als seinem Anfang der neue, verinnerlichte Amor Dantes hervorgeht, ist die geschichtliche Wirklichkeit einer individuellen Person, die der Dichter zum subjektiven Mythos erhoben hat. Denn wenn mit Beatrice zum ersten Mal in der literarischen Tradition des Mittelalters eine profane, wirkliche Person allegorisiert zu einer Figur der Offenbarung erhoben wurde, ohne darum ihre historische Individualität ganz einzubüßen, konnte Dantes Geliebte in
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Dazu cf. H. FR.lEDlUCH. Epochen tkr italienischen Lyrik., Frankfurt 1964, p. SO.
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ALLEGOIlESE, REMYTHISIEIlUNG UND NU •.1l MYTHOS
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dieses figurale Verhältnis zwischen wirklicher Gestalt und transzendenter Bedeutung nur um den Preis einer Mythisierung des Privaten eintreten, die in der politischen Mythenbildung der Div;na Commedia ihre Entsprechung findetli und am Anfang aller subjektiven Mythen der modernen Ära steht.
I.
Nach dem Kap. 25, in dem Dante den Amor-Mythos deran zu Ende führt, erscheint der Liebesgott bezeichnenderweise nicht mehr in den Visionen der Vita Nuofla. - Der Frage des Mythischen in Dantes Werk, an die meine Vorlage nur eben noch heranführen kann, ist Band 11 der Zeitschrift Revue des etudes it4/iemres (Darrte et les mythes) gewidmet, dessen Beiträge eine weitergehende Interpretation unter aUgemeineren FragesteUungen verlohnen würden.
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Zur Theorie der literarischen Gattungen
IX.
EPOS UND ROMAN - EINE VERGLEICHENDE BETRACHTUNG AN TEXTEN DES XII. JAHRHUNDERTS
I. "Die Literatur der Zukunft *) wird sich von der Orthodoxie der alten Poetik freimachen; sie wird sich nicllt mehr an die überlieferten Regeln der klassiscllen Gattungen halten, sondern die Prosa an die Stelle des Verses und den Roman an die Stelle der epischen Poesie setzen." So beginnt die berühmte Prognose. in der vor hundert Jahren FhlUb('rt das bis in unsere Tage maßgebliche Programm eines modernen Romans entwickelt hat 1) - eines Romans ohne allwissenden Erzähler, ohne tragende Handlung und ohne einen echten HeIden, um gleich einige Bestimmungen zu nennen, die für den Bruch lwiscllen der episcllen Erzählform Balzacs und dem autonomen Stil der Romanform Flauberts cllarakteristiscll sind. Der Gegensatz von Epos und Roman, in dem Flaubert den Ansatzpunkt einer spezifisch modernen Entwicklung zu sehen glaubte, ist indes so alt wie die abendländische Literatur. Er trat - nacll Hermann FriPnkel!) schon im Schritt von der IUns zur Odyssee zutage und kehrte in t'pocllaler Abwandlung mit jeder großen Zeitenwende der literarischen Tradition wieder, wie etwa im Don Quijote des Cervantes. dessen Romanform der ausdrücklichen Kritik an den alten, epischen Ritterbüchern entsprungen ist. Die mittelalterlichen Vorbilder und Quellen dieser spaniscllen Ritterbücher wiederum waren zu ihrer Z('it für ihr Publikum keine Epen, sondern Versromane höfischen Charakters, in die ursprünglich bretonisch-keltisclle Erzählungen der Tafelrunde des König Artus eingegangen waren. Die höfischen Romane sclllieBlicll standen selbst wieder in formalem Gegensatz zu einer älteren Gattung romanischer Epik, der Chanson de Geste, die als Heldenepos nach dem Vorbild des Rolandsliedes Ereignisse der nationalen Vergangenheit, der Heidenkriege Karls des GroBen und s('iner Paladine besang. Das XII. Jahrhundert, in dem die Dichtung in romanischer Volkssprache zunächst in Frankreich sich von den Traditionen des lateiniscllen Mittelalters abzulösen beginnt. ist auch die Zeit, in der Chamron de Geste und Roman Courtois in ein kon*) Öffentliche Antrittsvorlesung. gehalten am 9. November 1961 an der Ludoviciana. Der vorliegende Text geht auf meinen Diskussionsbeitrag zu einem internationalen Kolloquium über Probleme altromanischer Epik zurück, das am 30. Januar 1961 vom Romanischen Seminar der Universität Heidelberg veranslaltel wurde; das demnächst erscheinende Heft 4 der Reihe Sludia Romanica (Carl Winler, Heidelberg), in welchem das Kolloquium publiziert wird, bringt sowohl die französische Fassung meines Beitrags wie auch die anschließende Diskussion, auf die ich hier angelegentlich verweisen möchte. 1) Correspondance, Nouvelle ~dilion augmenl~e, Conrad, Paris 1926-1933, Bd. 11, p. 342 sq. I) Dichtung und Philosophie des trühen Griecheniums, Frankfurt 1951. besonders p. 119 sq.
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kurrierendes Verhältnis treten, das für die allgemeine Geschichte und Poetik der Gattung höchst lehrreich ist und darum als Thema der heutigen Betrachtungen gewählt wurde. Die moderne Theorie des Romans seit Georg von Luk'cs und Ortega y Gasset hat der mittelalterlichen Ausprägung des Gegensatzes von Epos und Roman noch kaum Beachtung geschenkt, darin Hegel folgend, der die altromanische Epik in seinen Vorlesungen zur Ästhetik nach dem MaBstab des homerischen Epos beurteilte, ihren Gegenstand unter den Begriff des Romanhaften oder der Abentt-uerlichkeit faßte und sie damit schon der romantischen Kunstform einordnen konnte, die er in den Ritterromanen des Ariost und des Cervantes gipfeln lieB I). Aber auch die philologische Forschung ist angesichts der Schwierigkeit, daB die Ablösung des höfischen Romans von der Chanson de Geste im XII. Jahrhundert auf keine normgebende Poetik bezogen werden kann, noch zu keiner Abgrenzung gelangt, die durch Beispiele formaler Annäherung und wechselseitiger Beeinflussung nicht leicht hätte erschüttert werden können. Ernst Robert Curtius hat darum geglaubt, eine Entgegensetzung von Heldenepos und höfischem Roman überhaupt als irreführend ablehnen zu müssen, und schlug vor, statt dessen nur von nationalen, antiken, orientalischen und keltischen 'Ritterromanen' zu sprechen. Ihm zufolge wären allein die Chanson de Roland und Gormont et Isembard als "Epen im wahren Sinne" anzusehen; in der weiteren Entwimlung werde .die Chanson de Geste zur Geschlechterdichtung und müsse sich der alte 'Ritterroman' durch immer größere Aufnahme von \Vellerzählstoffen auffrischen. Was wir in Frankreich 'höfischen Roman' nennen, unterscheide sich vom 'Ritterroman' lediglich durch die neue Versform des gepaarten Achtsilbers und durch neue Stoffquellen, sowie durch verfeinerte rhetorische Technik und Liebeskasuistik, insgesamt also durch Besonderheiten, die durch das .. Einströmen der Renaissance des XII. Jahrhunderts in die französische Dichtung" bedingt seien t). 11. Demgegenüber soll hier eine neue Abgrenzung versucht werden, die nicht von der retrospektiven Sicht geistesgeschichllicher Traditionsforschung, sondern von dem spezifischen Erwartungshorizont des Publikums ausgeht, für das die uns überlieferten Texte eigentlich bestimmt waren. Dabei wird sich zeigen, daB die '·on Curlius in Frage gestellte Unterscheidung zwischen Chanson de Geste und höfischem Roman den Verfassern des XII. Jahrhunderts und ihrem Publikum noch durchaus selbstverständlich war und daß ihr in der Tat aum Unterschiede der äußeren und inneren Form entsprechen, die durch einen verschiedenen modus dicendi der bei den Gattungen bedingt sind. Der formale Gegensatz dieser Gattungsbestimmungen läßt sich selbst noch an einem Text wie dem Fierabras aufweisen, der in der Tradition der Chanson de Geste als I) J{slhelik, ed. F. BASSENGE, Berlin 19M, pp. 552-58, 993-95. t) Ober die alllramösische Epik I, Zei18chritl tar romaniache Philologie &I
(19UI, p. 318 sq.
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Prototyp romanhafter Epik und als Beispiel für die .. Auflösung der epischen Erzählkunst in gewollte romantische Unfaßbarkeit" gilt I). Wir werden diesem Text einen Artusroman, den Bellneonnu, gegenüberstellen, der um dieselbe Zeit, am Ende des XII. Jahrhunderts, entstand und sich als ein ebenso durchschnittliches und erfolgreiches Werk der unterhaltenden Literatur für eine solche Abgrenzung methodisch besonders gut eignet '). Wir können dabei die Unterschiede der äußeren Form kurz abmachen, da sie zu den gesicherten Ergebnissen der bisherigen Forschung gehören, um uns sodann den Bestimmungen der inneren Form zuzuwenden. die den neuen Ansatz unserer Betrachtung erfordert haben. Der formale Gegensatz von Chanson de Geste und höfischem Roman tritt vor allem in einer Erscheinung zutage, die Curtius völlig unterschätzt hat: obschon sich die bei den Gattungen seit der Mitte des XII. Jahrhunderts gleichzeitig entfalten und auch wechselseitig beeinflussen, bleiben sie formal (bis auf seltene Ausnahmen) stets durm die Versform der assonierenden Laisse und des paarweise gereimten Achtsilbers gesmieden. Dahinter steht nicht nur ein zufälliger Wechsel der äußeren Form des Verses, sondern der folgenreime Schritt von gesungener epischer Dimtung zu gelesener oder vorgelesener erzählender Literatur - ein Schritt, durch den sich mit den veränderten Bedingungen der Rezeption durch ein anderes. exklusiv höfisches Publikum zugleich auch alle scheinbar ähnlichen Strukturmerkmale verändert haben. Mit den äußeren Bedingungen der Rezeption hat sich hier aber auch das Verhältnis von Dichtung und Geschichte und damit die Auffassung der Fabel durch Verfasser und Publikum verändert. Chanson de Geste und höfischer Roman stehen sich von nun an in einem Gegensatz der inneren Form gegenüber, der bestimmbar wird, wenn man erkennt, daß er letztlich auf der Verschiedenartigkeit zweier poetismer Sageweisen beruht: der einfachen Formen von Sag e und M ä reh e n, wie sie schon Jacob Grimm in unübertroffener Weise bestimmt hat: Das märchen Ist poetischer, dIe sage historischer; Jenes stehet beinahe nur in sIch selber fest, In seiner angeborenen blate und vollendung; die sage, von einer geringern mannigIaltlgkelt dE>r farbe, hat noch das besondere, daß sie an etwas I) Ph. A. Decker: Grundriß der altfranzösischen Literatur 1: Alteste Denkmäler - Nationale Heldendichtung, Heidelberg 1907, p. 70: .Der Fierabras be· deutet die Auflösung der epischen Erzählkunst in gn,oollte romantische UnfaB· barkeit; Ortlichkeil, Handlung, alles verschwimmt, und nicht aus Unwissenheit noch Unfähigkeit. im GegenteilI sondern weil der Verfasser mit allem scherzt, auch mit der herzlosen Grausamkeit und mit dem religiösen Ernst." ') Zitiert wird nach Fierabras, publ. par A. KROEBER et G. SERVOIS, Paris 1860 (Les anclens poltes de la France, 4), und Renaut de Beaujeu, Le Bellneonnu, ed. G. Perrie WILLIAMS, Paris 1929 (eiasliquel franrall du Moyen-Age, 38). Zur Literatur siehe BOSSUAT, Manuel bibliographique de la litterature franralle du Moyen-Age, Melun 1961, No. 339--366 und No. 2066--2076. Der Fierabras wird gewöhnlich auf ca. 1170 datiert (cl. Martin de RIQUER, Los cantares de ge"ta Iraneelel, Madrid 1952, p. 241); der Bellneonnu dürfte zwischen 1186 und 1190 entstanden sein (cl. G. MICIIA, nach J. K. BmDER, in Arthurlan Uteralures In 'he Mlddle Agel, ed. R. S. LooMlS, Odord 1959, p. 370).
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bekanntem und bewustem halle, an einem ort oder einem durch die geschichte gesicherten namen 7).
111. Auch der Fierabras hat - wie jede Chanson de Geste einen historischen Sagenkern und haftet an etwas Bekanntem, das die kollektive Erinnerung bewahrte. Denn der Fierabras setzt ein verschollenes Lied, Bafan, fort, dessen Inhalt wir durch Philippe Mousquet kennen, und hat wie dieses den "epischen Nachklang bestimmter historischer Ereignisse, nämlich der Plünderung der Peterskirche durch gelandete Sarazenen und deren Vertreibung durch Guido von Spoleto im Jahr 864" zur Grundlage 8). Dieser historische Sagenkern verwob sich wahrscheinlich mit einer römischen Lokalsage von einer Passionsreliquie - dem Balsam, mit dem Jesus zu Grabe gelegt wurde. Von diesem Balsam wußte die Lokalsage zu berichten, daß er "in die Tiber geworfen wurde. dort alljährlicll zu Johannis aufsteigt und auf dem Spiegel des Flusses schwimmt" 8). In unserer Chanson de Geste spielt dieser Balsam eine entscheidende Rolle: er verhilft Olivier in seinem Zweikampf mit Fierabras zum Sieg, worauf sich dieser durch eine Erleuchtung dem Christentum zuwendet ("er soll der heilige Florant von Roye geworden sein") S). Die weitere Handlung der Chanson ist ohne erkennbare historische Grundlage: Olivier gerät mit den Pairs in Gefangenschaft; Floripas, eine schöne Heidenprinzessin, rettet sie in einen Turm, in dem sie schließlich durch die Streitmacht Karls entsetzt werden. Durch die Verbindung von historischem Ereignis, Legende und phantastischem Geschehen wird der Sagenkern des Fierabras aber keineswegs weniger 'historisch'. Denn 'historisch' hat für das Publikum der Chanson de Geste noch nicht den modernen Sinn des historisch Getreuen oder Beglaubigten, sondern meint nur mehr eine Begebenheit oder Erfahrung, "die geglaubt werden will" I). Die Sage will geglaubt und für ein wahres Geschehnis genommen werden, obschon in ihr das übernatürliche der Legende als ein 'Ganz anderes' in die Diesseitswelt hineintreten kann. Ce n'est mie menchoigne, lIIais fine verites: so beginnt der Fierabras 10), und wie hier haben die Verfasser der Chanson de Geste stets die ~reine Wahrheit' ihrer 7) Vorrede zu Deutsche Sagen (1816), in: Kleinere Schrillen, Bd. 8 (1890).
p. 10. 8) Nach Ph. A. BECKER, op. eit. p. 69 sq.; zur Quellenfrage vergleiche zuletzt G. A. KN017, The Modern Language Review 52 (1957), 504-509. I) Nach der Definition der Sage von F. RANKE: "ein Bericht über ein phan· tastisches Erlebnis, der geglaubt werden will'" vgl. M. LOTHI, Märchen und Sage, in Deutsche VierteljahrsschrIll Jar Llleraturwissenschalt und Geistesgeschichte 26 (1951) p. 159. Die so gedankenreiche wie scharfsinnige Abhandlung Lüthis ist
leider durdl eine überflüssige Polemik gegen A. Jolles belastet, dessen Formbestimmungen des Märchens Lüthi im Grunde nur verfeinert hat, um sie seiner neuen Definition der Sage entgegenzusetzen. Bei dieser hatte L. offensichtlich die späte, vom Kern ursprünglich geschichtlicher Erfahrung schon abgelöste Form der deutschen (Volkssage) im Blick, mit der die mittelalterliche Form der Sage nicht mehr zu fassen ist. Wir sind demgegenüber wieder auf die einfachere und allgemeinere Unterscheidung von Jacob Grimm zurückgegangen, die den ver· schiedenen .poetischen Sageweisen", welche der Chanson de Geste und dem böfischen Koman zugrundeliegen. am meisten gerecht wird. 11) • Was ich bringe ist keine Lüge, sondern reine Wahrheit ...
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Epen beteuert, auch wenn diese für unsere Begriffe Legendäres und Historisches unentwirrbar vermischten. Jean Bodel, ein Zeitgenosse unserer bei den Verfasser, hat dieses Kriterium epischer Wahrheit zu einer Unterscheidung von Chanson de Geste, antikem und höfischem Roman benutzt, die uns als frühestes Zeugnis einer Scheidung dieser Gattungen nach der Vorstellung ihres Publikums von besonderem Wert ist: N'en sont que trois materes a nul horne entendant: De Franee et de Bretaigne et de Romme la grant; Ne de ees trois materes n'i a nule samblant. Li eonte de Bretaigne s'il sont va in et plaisant Et eil de Romme sage et de sens aprendant, Cil de Franee sont voir chaseun jour aparant").
Chanson de Geste und Artusroman haben demnach nicht ein und dieselbe epische Wahrheit. Im Vergleich zu der Wahrheit der Chanson, die für ihr Publikum von der Wahrheit historischer überlieferung nicht geschieden ist, weil sie als Sage in der kollektiven Erinnerung an etwas Bekanntem und Bewußtem haftet, erscheint die Wahrheit des Artusromans als eitel, nichtig und nur unterhaltsam, weil sie wie das Märchen "beinahe nur in sich selber feststeht", ohne un etwas Bekanntem oder Erinnertem der wirklichen Welt zu haften. Hinter den abwertenden Kennzeichnungen, die Jean Bodel für die matiere de Bretagne findet, verbirgt sich eine Ablehnung der nur poetischen Fiktion im Namen der episch-geschichtlichen Wahrheit. Das schließt aber keineswegs aus, daß auch die Verfasser der Artusromane den Anspruch erheben, ihre Erzählungen seien wahr. Doch die Wahrheit ihrer contes kann nicht auf einer Gleichsetzung von «sensus litteralis» und «sensus historieus» beruhen, sondern muß aus dem «sellSUS moralis», aus einer Auslegung der fiktiven Fabel gerechtfertigt werden. Wie aber kam es zu dem Fiktiven und Märchenhaften dieser Fabeln, zu der Entstehung eines rein imaginären Bereichs innerhalb der alten, episch-historischen Sagenwelt? IV. Das Märchenhafte des Bel Inconnu von Renaut de Beaujeu wird sogleich an seiner Fabel deutlich, die für das Publikum nichts 11) "Es gibt nur drei Sagenkreise für den, der sich darauf versteht:
Von Frankreich, von der Bretagne und vom großen Rom; Und diese drei Sagenkreise unterscheiden sich ganz und gar. Die Erzählungen der Bretagne sind nichtig und bloß unterhaltsam, Die von Rom lehrreich und voller Sinn, Die von Frankreich sind wahr, wie jedweden Tag offenkund wird." Jean BodeJs Sachsenlied, Teil I, ed. F. MENZEL und E. STF.NGEL, Marburg 1906 (Ausgaben und Abhandlungen . .. ,99), vv. ~ll; vgl. dazu E. R. CURTIUS, Uber die altfranzösische Epik IV, Romanische Forschungen 62 (1950) p. 307, der über diese Stelle das folgende, mir unverständlidle Urteil fällte: • Wir erwähnten ... die um 1200 üblich werdende Unterscheidung von drei ,Gesten'. Unser Autor ersetzt sie durch eine Einteilung in drei Stoffkreise, die ihrem Wert nach abgestuft werden ... Wenn Jean Bodel die traditionelle epische Systematik durdlbricht, um die bretonischen Stoffe einbeziehen zu können, so haben wir darin das deutliche Symptom für die Vermischung der Gattungen (siel) zu sehen."
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mehr enthält, das sich in seiner gegenwärtigen Welt mit etwas Bekanntem oder Erinnertem verbinden könnte. Eine Demoiselle erscheint mit einem Zwerg am Hofe des Königs Anus und sucht einen Helden, welcher ihre Herrin, die Tochter des Königs von Wales, befreien soll, die zwei Zauberer, Mabon und Evrain, in einen Drachen verwandelt hatten; Guinglain, ein junger und noch namenloser Ritter, nimmt diesen Auftrag an, besteht eine Reihe von Aventüren und erlöst die verzauberte Dame durch einen Kuß, LI.' Fier Bai6er, um sie alsdann. nach einem Zwischenspiel mit einer Fee, zu heiraten. Diese Fabel geht letztlich auf eine irische Tradition zurück (die Quelle ist vor 1024 datiert) 11), entstammt ursprünglich also der allen Artusromanen gemeinsamen keltischen Mythologie und Sagenwelt. Das Märchenhafte der Fabel des Bel Inconnu war demnach nicht von Anbeginn rein 'märchenhaft' im Sinne der Entgegensetzung "on Jean Bodel. Wir haben keinen Grund zu bezweifeln, daß diese Fabel in ihrer ursprünglichen Form als Sage oder Mythe nicht auch geglaubt wurde und - wie der Sagenkern des Fierabras - für das Publikum an etwas Bekanntem oder der "m~moire collective" Bewußtem angeknüpft hat. Doch als sie mit der matiere de Bretagne auf das Festland gebracht, nach der Vermittlung durch hretonische Erzähler von französischen Verfassern aufgenommen und in der neuen Form des Versromans einem Publikum wiedergegeben wurde, das die fremde Mythologie nicht verstand und infolgedessen auch nicht mehr an die episch-historische Wahrheit dieser Fabeln glauben konnte, setzte der Prozeß einer Fiktionalisierung ein - ein Prozeß, in dem aus der nicht mehr verstandenen Wahrheit der Sage die andere, in sich selbst ruhende \Vahrheit des Märchens wurde. Das Märchenhafte des Artusromans wurzelt in einer fremden, nicht mehr geglaubten Mythologie; es erscheint in der Folge einer übernahme fremder Stoffe und Motive durch eine andere gesellschaftliche Zivilisation, als Ergebnis einer Fiktionalisierung, die von der bisherigen keltomanen oder keltophoben Quellenforschung noch kaum berücksichtigt worden ist. Das Ergebnis dieser Fiktionalisierung, durch die sich der Artusroman von vornherein von der gleichzeitig aufblühenden geschichtlichen Epik der Chanson de Geste scharf unterscheidet, läßt sich an verschiedenen Eigenheiten zeigen, die der Artusroman mit dem Märchen gemeinsam hat. Daß sich bei der Entstehung dieser neuen Form des Romans das Stilisationsprinzip des Märchens mit d~m in der matiere de Bretagne nicht vorgegebenen höfischen Liebeskasus verbunden hat, wie andererseits die Entstehung des altfranzösischen Heldenepos nicht ohne die Verbindung "on historischer Sage und Mänyrerlegende zu denken ist, darf hier als relativ gut erforschter Tatbestand wohl für die weiteren Ausführungen vorausgesetzt werden. In diesen sollen in der gebotenen Kürze drei Strukturmerkmale erörtert werden, nach denen sich Chanson de Geste und höfischer Roman als verschiedene Gattungen scheiden lassen: einmal die ver11) Arlhurian Ulerature
In 'he M/ddle Ages, ed. LOOMIS, Odord 1959, p. 371.
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schiedene Funktion des Wunderbaren, zum andem der Gegensatz ,'on Ethik des Handeins und Ethik des Gesmehens und schließlich die verschiedene Einstellung des Sängers und des Erzählers zu seinem Gegenstand.
v. Das Wunderbare ist nach Andre Jolles, dessen Bum Die einlachen Formen (1929) im die Anregung zu dieser Betramtung verdanke, das entsmeidende Stilprinzip des Märchens: "Sobald wir in die Welt des Märmens eintreten, vernichten wir die als unmoralisch empfundene Welt der Wirklidlkeit." Im Märchen, das unausgesetzt mit dem \Vunderbaren arbeitet, "darf keine Begebenheit der Wirklichkeit gleichen". Diese Bestimmung ist aber sogleicll durcll das scheinbare Paradoxon zu ergänzen: "Das Wunderbare ist in dieser Form (des Märmens) nicht wunderbar, sondern selbstverständlich" 11). Dieses Strukturmerkmal ist darum nur scheinbar paradox, weil dem unalltäglim-wunderbaren Geschehen im Märchen nicht mehr eine selbstverständlich vertraute, geschichtliche Wirklidlkeit gegenübersteht, an der gemessen das Märchengeschehen als nicht selbstverständlime, wunderbare Ausnahme erscheinen müßte. So spiegelt sich auch in unserem Roman die für das Publikum des XII. Jahrhunderts vertraute, geschiclltIicll gegenwärtige Welt zwar vor allem noch im Bild des Artushofes, seinem Zeremoniell, seinen Festen und Turnieren; doch dieser Aspekt der vertrauten höfischen Welt wird vom Dimter zu Beginn der Erzählung sogleim in die Erwartung einer geheimnisvoll drohenden Gefahr gestellt. Dieses Unbekannte gefährdet die Harmonie der durm den Artushof repräsentierten gesellsmaftlichen Ordnung und erfordert den Auszug eines einzelnen Ritters, der die neue AventÜfe in einer langen Reihe von unalltäglich-wunderbaren Begebnissen bestehen muß und damit allein die verlorene Harmonie und vertraute Ordnung der Welt wieder herzustellen vermag, die in unserem Text durch das abschließende Turnier versinnbildlicht ist. Das eigentliche Geschehen des Romans vollzieht sich also in der märchenhaften, anderen Welt der Aventüre, auf einem Weg, auf dem nichts gesmieht, was nimt ein Geheimnis birgt und eine Lösung findet, wie sie in der gegenwärtigen Welt des Publikums nicht vorstellbar wäre - in einer anderen Welt, wo selbst die ritterlichen Kämpfe, die das zeitgenössische Publikum in der Chanson de Geste gewiß mit samkennerischen, ja sportlichen Interessen aufnahm, unter Bedingungen stattfinden, die nicht mehr nach dem Normalmaß des auch in der überbietung noch Wahrscheinlichen zu werten sind. Der Schritt aus dem Wahrsrheinlirhen in das MärcllenhaftUnwahrsclleinlime setzt im Bel Inconnu sogleich mit der Ankunft der von einem Zwerg begleiteten Botin ein. Mit dem übergang über die gefährliche Furt (Le Gul Peritleu., v. 323 sq.) erscheint die dargestellte Welt wie verwandelt: von nun an steht alles Geschehen unter dem Stilprinzip der Märchenwelt, in der keine Begebenheit der 11) BlnJache Formen: Legende/Sage!Mythe/ RiJt.el/Spruchl KG6U8/ Memorablle/ Märchen/Wltz, HaUe 19661. p. 203.
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Wirklichkeit gleichen kann. Einzig der Artushof, an den im Verlauf des Geschehens immer wieder die vom Protagonisten besiegten Ritter zurückgesandt werden, wird als fester Punkt der vertrauten und sichen'n Welt dann und wann siclltbar und bringt in solcllem Kontrast die märchenhafte Wahrsclleinlichkeit der Aventüre noch mehr zur Geltung. Die Abfolge der einzelnen Aventüren macht dabei nicht allein eine Steigerung des sich bewährenden Helden sinnfällig, sondern führt auch zu einer fortschreitenden Erhöhung der märchenhaften Wahrsclleinlichkeit des unwirklicllen Geschehens. In dem Maße, in dem der Leser von der imaginären Welt des märchenhaften Geschehens mehr und mehr gefangen wird, so daß er es unmerklicll für selbstverständlich nimmt, kann sicll aucll das Zauberhafte der Aventüre steigern und in den an sicll höchst befremdlicllen Motiven der keltischen 'anderen Welt' (in unserem Fall: dem Feenscllloß der ble d'Or und den gespenstischen Szenen der Gaste Cile) seinen unwirklichen und doch selbstverständlicllen Höhepunkt finden, auf dem sich das vom Publikum erhoffte Märcllenglück des Helden erfüllt. Während nun aber das Stilprinzip des Märcllens im Artusroman derart unausgesetzt mit dem Wunderbaren arbeitet, so daß hier ein nicht fiktionalisiertes Element der wirklicllen Welt als störend empfunden würde, ist es umgekehrt gerade das Märcllenwunder, das in der Welt der Chanson de Geste wie ein Fremdkörper ersclleint, sofern überhaupt, wie im Fierabras, von ihm Gebraucll gemacllt wird. Das Märcllenwunder gehört zu den Zügen, die in die Chanson de Geste erst später und offensiclltlich unter dem Einfluß des höfischen Romans hineingebracllt wurden. Die ältere Chanson de Geste kennt nur das "merveilleux chretien", das Reliquienwundt'r und andere übematürliclle Motive, die ihr aus der hagiograph ischen Tradition 7.ukamen IC), wie z. B. in unserem Text der Engel, der Karl in einem prophetiscllen Traum die Zukunft enthüllt (v. 1236 sq.), die freischwebende Dornenkrone (v. 6063 sq.) oder der goUgesandte Hirsch, der dem verfolgten Boten Ricllard in höcllster Bedrängnis die Furt über einen Fluß zeigt (v. 4370 sq.). Diese Art des Wunderbaren unterscheidet sicll indes vorn Märcllenwunder der Romane von vornherein dadurch, daß es die Wahrscheinlichkeit der epischen Handlung nur zeitweilig durchbricht, um ihren höheren providentiellen Sinn - die letztliche überlegenheit des Christengottes über die falschen Götter der Heiden - sichtbar zu machen. Die epische Handlung im Ganzen wird in der Chanson de Geste durch das "merveilleux chretien", durch die gelegentlichen Eingriffe der Providenz lediglich überhöht, keineswegs aber - wie im Artusroman das Märchenwunder bewirkt - in den imaginären Raum einer anderen Welt versetzt. Das Wunderbare in der Chanson de Geste ist nicht weniger wahrsdleinlich als die ritterlichen Taten seiner episch-geschichtlichen Helden, denn es erscheint für das Publikum ganz so wie das Wunder IC) Hierzu sei auf zwei ältere DantelluDgen verwiesen, R. C. WILLIAMS: The 'mervellleux' in 'he Epic, Paris 1925, und A. J. DICDlANN: Le r6le du Burnaturel dans leB Chansons de geste, Paris 1926.
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der Legenden, das sich in der Dichtung nicht anders ereignet als in seiner religiösen Erfahrung und darum als notwendig und fraglos wahr hingenommen wird. Es ist darum bezeichnend, daß das anders geartete Märchenwunder, das keiner Begebenheit der Wirklichkeit gleichen darf, den Verfasser des Fierabras offensichtlim in Schwierigkeiten bringt, wo er versucht. es in die epische Handlung einzubauen. So etwa im Falle eines Zaubergürtels, den die Heidenprinzessin Floripas besitzt und der zunämst auf wunderbare Weise bewirkt, daß die eingeschlossenen Pairs nicht verhungern. Doch bald gelingt es einem Dieb, in die Gemämer einzudringen und sich Floripas in unziemlimer Weise zu nähern; er wird im letzten Augenblick. von Guy de Bourgogne überrascht, mit dem Schwert in zwei Hälften gespalten und durch ein Fenster ins Meer geworfen. Dabei übersieht man indes zum groBen Leidwesen der Pairs, daß der Dieb zuvor den Zaubergürtel an sich gebramt hatte, der auf diese Weise verlorengeht, so daß die Eingeschlossenen erneut der Gefahr des Verhungems ausgesetzt sind (vv. 3043--3111). Im Märchenroman pflegen solche Gürtel oder ähnliche übernatürliche Gaben zwar gelegentlich versmerzt zu werden, aber nicht auf so zufällige und abrupte Art einfach aus der Handlung zu verschwinden; dort ist solch eine übernatürlime Gabe nur eines unter anderen wunderbaren Elementen des Gesmehens und tut es dem Helden keinen Eintrag, wenn er seine Gefährdung vom Anfang bis zum Ende mit übernatürlicher Hilfe besteht. So wird z. B. im Bel Inconnu dem Helden am Ende von der Fee erklärt, daß sie selbst die Botin an den Artushof sandte, er also immer schon in ihrer Obhut stand (v. 4962 sq.). Im Fierabras hingegen stehen die Dinge unter einem anderen Gesetz. Die eingeschlossenen Pairs wären ihres Rufes nicht würdig, wenn sie ihre Gefährdung nur durch übernatürliche Hilfe und nicht vielmehr durch die heldische Mühsal ihrer Taten bestünden 111). Heldische Größe nimmt dort ihr Maß am geschichtlich Wahrscheinlichen einer exemplarischen, nachahmbaren Handlung, die durch das gelegentliche Hereintreten des übernatürlichen nur providentiell bestätigt wird; sie läßt sich darum nicht mit dem märchenhaft Wunderbaren eines Geschehens vereinen, das in der Aventüre ganz auf den unnachahmlichen Weg eines erwählten und damit bevorzugten Einzelnen zugeordnet ist. Es ist darum nicht zufällig, sondern entspricht dem verschiedenen Prinzip der Stilisation der Chanson de Geste, wenn der Verfasser des Fierabras das Märchenwunder in Gestalt des Zaubergürtels (wie zuvor schon den wunderbaren Balsam, der vor dem 11) Der Verfasser des Fierabras bringt das traditionelle epische Thema der labores seiner Helden gerne in Verbindung mit einem epischen Vorgriff:
Or cevauce tous Ii~s, bielement et sou~; Damediex le conduie, li rois de maIsMI Ains k'i1 aient les contes de prison delivr~, Seront iI moult forment travilli~ et pen~, Ke I'amirans Balans a ses os aün~s; De .xiiii. langages i furent aün~. (v. 5128 sq., cf. v. 5554 sq.)
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Höhepunkt des Zweikampfes aum in ein Gewässer geworfen wird, v. 1029 sq.), smnell wieder beseitigt, damit die epische Handlung ihren gewohnten .Fortgang nehmen kann. Beispiele dieser Art ließen sicll unscllwer vermehren; wir wenden uns statt dessen einem zweiten Strukturunterscllied zu, der im Vorgesagten smon mit sichtbar wurde: dem Gegensatz von Ha nd 1 u n g und Ge s ehe he n. VI. Dieser Gegensatz läßt sim am besten an der versmiedenen Auffassung des Helden erkennen, die sogleich deutlim wird, wenn man versucllsweise eine Gestalt aus der Chanson de Geste in einen höfischen Roman versetzt. Stellt man z. B. Olivier und Guinglain. die Heidenprinzessin Floripas und die Pucele as Blances Mains, oder auch Charles li reis und den König Artus nebeneinander, so wird ein Unterschied spürbar, auf den smon Chrestien de Troyes im Erec, seinem ersten Artusroman, mit einer Reihe von Vergleimen hindeutet, die mit dem bloßen rhetorischen Schema der Oberbietung noch nicht zureichend erklärt sind 11). Dort ist davon die Rede, daß sich die Freigiebigkeit Alexanders, Cäsars et tuU li roi que l'en vo, norne an diz et an chanrons de geste 17), also aum Charlemagnes, nimt mit der des Königs Artus und seiner Hofhaltung messen könne (\.. 6611 sq.), daß die Schönheit Lavinias und Helenas von der Enides und ihrer Base übertroffen würde (v. 5838 sq., 6292; die Damen der Chanson de Geste verdienen keinerlei Erwähnung) und daß Erec in der AvenUire der Jaie de la Cort eine Gefahr zu bestehen habe, welche die gewaltigsten Redten der Chanson de Geste (nu plu., riche conbatear; genannt sind Tiebauz li Esc1avons, Opiniaus, Fernaguz) in Schrecken versetzt hätte (qui poist faire grant peor, v. 572fi sq.). Wenn Chrestien de Troyes derart hervorhebt, daß die Helden und Damen seines Romans die vergleichbaren Gestalten der Chan,on de Geste und der antiken Romane überträfen 18), so setzt diese Unvergleicbbarkeit wohl schon das Wissen eines Dichters voraus, der sich bewußt ist, daß sich seine Gestalten nicht einfach in das Handlungsschema der anderen Gattung übertragen ließen. In einem Artusroman von der Art des Bellneonnu, wo es zugeht wie im Märchen, oder - mit Andre Jolles zu sprechen - "wie es unserem Empfinden nach in der Welt zugehen müßte" 11), fragen 11) Es handelt sich hier um eine besondere Form des Vergleiches (amplllleallo . . ., quae fit per eomparatlonem, lnerementum ex mlnorJbu. petlt; Quin. tilian VIII •• 9), die E. R. CUBTIUS 'Oberbietung' (nach der Formel: eedat nune) genannt hat; cf. Europäl.che Uteratur und lateinlache. Mittelalter, Bem 1948. p. 169. 17) 'und aller Könige, die man euch in Erzählungen und Heldenepen zu nen-
Den pflegt'. 18) Dazu wären noch die Verse aus Yvaln zu stellen: Onques ne fist de Durendart Rolanz des Turs si grant essart An Roncesvaus ne an Espaignel (vv. 323~7) Leider fehlt uns immer noch eine Zusammenstellung aller Zilierungen und Er· wähnungen anderer Werke in Texten der romanischen Literaturen des Millelalters, die für eine künftige Gatlungsgeschichte von unschätzbarem Wert wärel 10) Einfache Formen, a. a. O. p. 200.
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wir uns nidlt wie im Fierabras: 'was tat Olivier oder Fierabras?', sondern: 'was gesdlah mit Guinglain?' Die Ethik in der Chanson de Geste antwortet auf die Frage: 'was· muS ich tun?', die des Märchenromans auf die Frage: 'wie müßte es eigentlich in der Welt zugehen?' So stellt sidl in den beiden Gattungen das moralische Problem auf versdliedene Weise, der Untersdleidung entsprechend, die Jolles zwischen einer Ethik des HandeIns und einer Ethik des Geschehens getroffen hatte 18). Die Frage: 'was muß ich tun?' und die daraus entspringende, entsdleidende episdle Tat wäre Olivier in der Situation des Bellnconnu nidlts nütze; er würde wie alle Vorgänger Erecs oder Guinglains an der Aventüre scheitern, nidlt aus Mangel an ritterlidlem Mut und heldisdler Größe, sondern einfach darum, weil die in der Aventüre waltende 'Sinnerfüllung des Zufalls' nur für den einen, erwählten Ritter eintreffen kann. Denn für den neuen Romanhelden der Table Ronde gilt, daß er auf seinem unvertretbaren Weg paradoxer- oder wunderbarerweise nicht eigentlich handelt, sondern mit märcllenhafter Sicherheit einfach alles besteht, was ihm das Geschehen zuträgt. Die wahrhaft epische Begebenheit schließt nach Hegel, auf dessen Scheidung von Epos und Roman nach den Kategorien von Handlung und Geschehen wir uns hier stützen können, sowohl ein .. bloß zufälliges Geschehen" als auch seine Zuordnung auf eine ..einzelne, willkürliche Tat" aus 11). Demgemäß entspringt in der Chanson de Geste die Begebenheit einer entscheidenden Handlung des Helden und geht nicht einfach, wie im Artusroman, aus dem sinnreicllen Zufall eines bloSen Geschehens hervor, das dem aventüresuchenden Ritter in seiner Isolierung widerfährt und nur ihm widerfahren kann. Desgleicllen wird aber auch die Handlung der Chanson de Geste erst da:durch zur epischen Handlung, daS sie die einzelne Tat IU} "Sagen wir mit Kant, daS die Ethik antwortet auf die Frage: 'was muS ich tun?' und daS unser ethisches Urteil demzufolge eine Wertbestimmung des menschlichen HandeIns umfaßt, so gehört das Märchen nicht hierher. Sagen wir aber, daß es darüber hinaus eine Ethik gibt, die antwortet auf die Frage: 'wie muß es in der Welt zugehen?' und ein ethisches Urteil. das sich nicht auf Handeln, sondern auf Geschehen richtet, so sehen wir, daß dieses Urteil in der Form Märcllen von der Sprache ergriffen wird. Im Gegensatz zur philosophischen Ethik, zur Ethik des HandeIns, nenne ich diese Ethik die Ethik des GeschehellB oder die naive Moral, wobei ich das Wort naiv in demselben Sinne gebrauche wie Schiller, wenn er von naiver Dichtung redet" (op. eil. p. 201). 11) .. Wir haben gleich anfangs gesehen, daS sich in dem wahrhaft epischen Begebnis nicht eine einzelne willkürliche Tat vollbringe und somit ein bloß zufälliges Geschehen erzählt werde, sondern eine in die Totalität ihrer Zeit und nationalen Zustände verzweigte Handlung, welche deshalb nun auch nur inner-
halb einer ausgebreiteten Welt zur Anschauung gelangen kann und die Darstellung dieser gesamten Wirklichkeit fordert" (op. eil. p. 947). Zum Gegensatz von Handlung und Geschehen vgl. ferner p. 979: ftEbensowenig . . . kann ein Individuum als solches den alleinigen Mittelpunkt abgeben, weil von diesem die mannigfaltigsten Ereignisse ausgehn und demselben begegnen können, ohne untereinander irgend als Begebenheiten in Zusammenhang zu stehn." Der im folgenden entwickelte Gegensatz von .bloßem Geschehen" und einer .bestimmten Handlung" ergibt implizit Formbestimmungen von Roman und Epos, die Hegel später (p. 988 sq.) auf den Gegensatz zwischen Homer und den nachfolgenden zyklischl'n Dichter angewendet hat.
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des Helden als eine besondere Begebenheit mit einem allgemeinen nationalen Weltzustand verwebt. Wie im Rolandslied, wo die epische Handlung nicht allein von Roland selbst getragen, sondern auch von Olivier und Turpin bestimmt wird und nach dem Untergang der Pairs auf den Lehnsherr Charlemagne übergeht, ist auch im Fierabras die epische Begebenheit nicht allein auf die Titelfigur zugeordnet. Unsere Chanson, die inhaltlich die Vorgeschichte des Rolandsliedes - Ganelons Gesandtschaft - ausspinnt, hat ihren epischen Anlaß in einem Streit zwischen Karl und Roland. in den Olivier eingreift und damit zunächst zum Vorkämpfer der christlichen Streitmacht wird. Erst dann wird der Titelheld Fierabras als prominenter Gegner Oliviers eingeführt. Nach seiner Besiegung und Bekehrung wird die Handlung von den Pairs getragen, aus deren Kreis immer wieder ein anderer Held in den Mittelpunkt ruckt. Und schließlich ist es Charlemagne, der am Anfang seine Paladine leichtfertig in Gefahr gebracht hatte, und nun am Ende selbst durch einen Zweikampf mit dem ranggleichen Herrscher Balant den Sieg für die Christen auf höchster Ebene herbeiführen muS. Chanson de Geste und höfischer Roman treten also auch an dem verschiedenen Bezugspunkt auseinander, in dem Handlung und Geschehen ihre Einheit finden. Im Fierabras ist die epische Handlung des Einzelnen der übergreifenden christlich-nationalen Gemeinschaft und in eins damit einem überpersönlichen, objektiven Geschehniszusammenhang untergeordnet, durch den die besondere Begebenheit mit dem allgemeinen Weltzustand des Glaubenskriegs verwoben wird. Im Bel Inconnu hingegen bleibt das romanhafte Geschehen in der kontingenten Abfolge aller Begebnisse auf die Einheit der Person des Aventüre-Ritters bezogen, so daß der besondere Weg des Helden gerade durch seine Vereinzelung und 'Reintegration' in die Gesellschaft exemplarisch wird 11). Der hier aufgezeigte Strukturunterschied von Handlung und Geschehen gilt nicht allein für die verschiedene Auffassung des Helden in Chanson de Geste und höfischem Roman, sondern auch für die verschiedene Funktion der Herrschergestalten. Denn Charlemagne und Li rei Artus sind nicht allein durch ihre andersartige Herkunft in episch-geschichtlicher oder in fabulös-mythologischer Tradition und durch das jeweilige Idealbild des Herrschers in einer veränderten geschichtlich-gesellschaftlichen Konstellation verschieden. Während Charlemagne die Mühsal immer neuer Taten im Dienste des Glaubenskrieges zu tragen hat, verkörpert Artus in seinem Kreis der Table Ronde das Idealbild einer statischen Ordnung der höfischen Welt, ohne jemals Dom eigene Taten zu verrichten. So finden wir auf der einen Seite die Herrsc:hergestalt, die das epische Geschick in letzter Instanz handelnd selbst entsmeidet, auf der anderen Seite die Königsfigur, die in tatenloser Idealität verharrt und auf den immer neuen Auszug eines Ritters angewiesen ist, welcher allein die 11) Hierzu kann im weiteren auf die Strukturanalyse der höfischen avenhue "on Erleb KÖHLER: Ideal und WI,lcJldalcelt In de, h611adaen EpIk, Tübin,en 1968, verwiesen werden, an dessen Kap. 111 wir anknüpren.
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Gefährdung durcll das Unbekannte der Aventüre bestt'hen und abwenden kann. Auch dieser Gegensatz weist wiederum auf eine Verschiedenartigkeit von Sage und Märdlen zurück. Denn der König der Sage, gleichviel ob er als gut oder böse ersdleint, kann nur durch sein Handeln exemplarische Geltung erlangen, während im Märchen das Geschehen nie vom alten König, sondern immer nur vom jungen Prinzen getragen ist und sich in seinem Märchenglück erfüllt. Gerade für diesen Strukturunterschied läßt sidl audl eine literarhistorisdle Bestätigung erbringen: in der Tradition vor Chrestien, bei Geoffroy von Monmouth und Wace, ersclleint auch Artus noch durchaus als selbst handelnder Sagenheld, der sidl ein groBes Reim erobert, sdllieBlicll König Frollo von Gallien besiegt und im Begriff, sicll am Ende auch noch Rom zu unterwerfen, durch den Verrat Mordrets von der Höhe seines Ruhms gestürzt wird. Bei Chrestien hingegen ist die epische Vergangenheit des Königs Artus fast spurlos in dem von ihr abgelösten Idealbild seines fraglos vorausgesetzten Ruhms aufgegangen 11), anders gesagt: einer Fiktionalisierung anheim gefallen, die wir in den Romanen Chrestiens sogleich schon in ihrem Ergebnis vor Augen haben, so daS wir nicht wissen, ob der ursprüngliche Sagenheld Artus erst nadl und nacll seinen Sagencharakter verloren hat oder ob seine neue Gestalt als Märchenkönig allein ehrestien zuzuschreiben ist. VII. Zum Abschluß soll nun noch auf ein drittes Strukturmerkmal eingegangen werden, nach dem sich Chan,on de Ge,te und höfischer Roman im XII. Jahrhundert scheiden: die Einstellung des Auto..s, bzw. des epischen Rhapsoden und des Erzählers zu seinem Gegenstand. Im Fierabra, tritt der durch den Jongleur vertretene Autor fast ganz hinter seinen Stoff zurück U), dem schon von J. Grimm und nach ihm von Hegel betonten Stilprinzip des Epos entsprechend, in welchem "sich das Werk für sich fortzusingen scheint und seih11) V,I. J. FIlAPPIEa, Chr'lIen de Troye., Pari. 1957 (ConnaJllance des leure., 50), p. 3ft .q.: .Un hiatus ~norme .~pare la I~.ende arthurienne, teile qu'elle vient d'~tre retraue d'apr~. Geoffroy et Waee, des fietioDS utili.us par UD Chr~tien de Troye•. (. . .) Chez Chr~tien, Arthur n'e.l pu le cODqu~ranl .Iorieux qui humiliait I'orgueil de Rome, pui. deveDait lOudain la victime encore h6rolque de la lrahi.ion et du de.tin. 11 .e change en une figure eomposite o~ s'uoissent les traits d'un .ouverain loyal, ju.te, g~n6reux. et eet Bir de 'aDtaisie ou d'~traDset' qui sied a un roi d~bonnaire et un peu d~eoDeertant de conte merveilleux." I.) Hier darf indes nicht unerwähnt bleiben, daß .ich der Verfasser des FlerabrCJB .ele.entlich Ichon ein ironilches Spiel mit dem hohen Ernst des epischen Tones erlaubt und lich damit all ein Epi.one von seltener parodistilcher Be.abun. erweist. V.1. elwa die Szene, in der lich die 10 schöne wie wackere
Heidenprinzessin eines hinderlichen Wädlters entledigt (Vy. 2089--2(94): Et Floripas le fiert, bien le sot aviaer, Si que les ex Ii filt de la teste voler; Devant lui a sei pi~s le fist mort eraventer, Si que onques nel aeurent Sarradn ni Eselei_ En la eartre parfonde fist le eors avaler; Cil fu losl affoDdr~., car 11 ne .ot noer (I). Oder die SchilderuD, ihrer Taufe nach vollbrachtem Sie. über die Heiden (vv. 6999 60(4):
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ständig, ohne einen Autor an der Spitze zu haben, auftritt" U). Im B~l Inconnu hingegen tritt der Autor als Erzähler nicht allein mit herkömmlimen epischen Formeln der "interiectio ex persona auctoris" wie Wahrheitsbeteuerung, Teilnahme am Gesmick des Helden und Vorblick auf einzelne Phasen des Gesmehens hervor"), sondern gibt darüber hinaus aum immer wieder eine Auslegung der Fabel, die er nun aber smon - darin über Chrestien de Troyes hinausgehend - auf seine persönliche Situation gegenüber einer ungenannten Dame zu beziehen sucht.t7). Im Fierabras hingegen, wie in der Chanson de Gest~ überhaupt, finden sich nur die erstgenannten epischen Formen der Einschaltung des Autors, und zwar in einer Weise, die für das unpersönlime Verhältnis des epischen Dichters zu seinem Werk und dessen fraglos eindeutigen Sinn bezeichnend ist. Denn die Einschaltungen des Jongleurs haben im Fiernbra!c fast ausschließlich die Funktion einer Bekundung der Teilnahme oder eines epischen Vorgriffs, nimt aber die einer Auslegung der Fabel oder eines Kommentars, der auf die Person des Autors oder auf seine subjektive Ansiml von seinem Gegenstand zurückwiese. Sie machen die emotionale Einheit von Jongleur und Publikum ausdrüdd ich , insofern sie die epische Handlung immer neu in die Spannungspole von Furcht und Mitleid rücken - eine Spannung, die in der Chanson d~ Geste aber schon vom Prolog an durch die Gewißheit eines Ausgangs im Sinne einer höheren epischen Gerechtigkeit getragen ist. Im Fi~rabras wird dieses Vertrauen, das der nie angefochtenen, inneren Sicherheit des Helden entspricht, vor fast allen für Olivier und die Pairs gefährlichen Situationen durch Vorblicke erneuert 11). Dieses Vertrauen, in welchem sich der Jongleur mit seinem Publikum eins weiS, grundet letztlich auf dem objektiven Sinn der La pudele despoullent, voiant tout le barni. La ear avoit plus blanee que n'est nours en esti, Petites mameletes, le eors grant et plani; Si cheveil resambloient fin or bien esmeri. A mains de nos barons est Ii talens muis. L'empereres miismes an a .i. ris jeti. Aber auch an solchen Stellen tritt der Autor nicht in persona hervor, sondern ist der Ausdruck der Ironie in die objektiven Darstellungen einbezogen, also dem epischen Stil untergeordnet! U) op. eil. p. 945. 11) d. VV. 29 (Je ne mene mle), S89 (or pe,..' Dlu, de eelul garder!), 804 sq. (Alncol, que 11 1'011 reeeae, Avra, Je eule, per'e eneon'ree); im Unterschied zu Flerabra, beziehen sich die traditionellen Formeln des epischen Vorgriffs im Bel Ineonnu immer nur auf die nichste Episode, niemall aber auf den Ablauf und Ausgang des Gesamtgesdlehens. 17) Zur Interpretation der Fabel in Form von allgemeinen oder sprichwört. lithen Kommentaren, wie sie sich auch bei Chrestien linden, cl. vv. 196 sq.,91f Bq. 1071 sq., 1730 sq., 2168 Bq., 3036 Bq., 32f9; Kommentare, die auf die persönlicbe Erfahrung des Erzihlers bezogen werden, finden sich vv. 1 sq., 1231 sq., 4771 sq., f828 sq., 5377-78, 62f7 sq. 18) cf. vv. 1235 Bq., 1756-1778, 2861 sq., 3238 Bq., 3676 Iq., fOf9 sq., f737 sq., :»128 sq., 5S56 sq. Als ein typiscbes Beispiel für den Wechsel der Spannung zwi· Ichen Furcht und Hoffnung lei bier die Szene der Gefangennahme Oliviers und einer Gruppe der Pairs angeführt. Sie schließt mit Versen, die das Publikum um ihr Leben bangen lassen (v. 1760 sq.):
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episcl1en Begebenheit, der so fraglos gültig und selbstverständlich vom Anfang bis zum Ende durcl1 die Fabel vor Augen gestellt ist, daß ihre Wiedergabe die ungeteilte, nicl1t auf die äußere Spannung eines ungewissen Ausgangs eingeengte emotionale Teilnahme des Publikums freisetzt und keiner besonderen oder gar persönlichen Auslegung mehr bedarf. Dem gleicl1zeitigen Roman hingegen fehlt dieser fraglos eindeutige Sinn einer episcl1en Fabel; hier gehen «sensus litteralis» und «sensus historieus», Poesie und Geschicl1te nicl1t einfacl1 ineinander auf, sondern muß die Wahrheit der fiktiven und darum mehrdeutigen Fabel immer erst durcl1 eine Auslegung nacl1 dem «sensus moralis» gefunden werden, die einen vermittelnden, im Bel Inconnu schon sehr selbständig hervortretenden Erzähler voraussetzt. Diese Deutungsbedürftigkeit der Fabel beruht im höfiscl1en Roman seit Chrestien de Troyes vor allem darauf, daß - wie Reto R. Bezzola zeigte") - alles, was dem Helden auf dem Weg seiner Aventüre widerfährt, in einer impliziten, nie direkt ausgesprochenen Beziehung zu seiner Wesenssuche steht, durch die er sich mehr und mehr seiner Dame und damit am Ende der Aufnahme in die Idealität der Table Ronde würdig zu erweisen hat. Ein Leser, der sich hier - wie das Publikum der Chanson de Geste - allein an den «sensus litteraliS», an die äußere Abfolge der Aventüren hielte, verriete damit nur, daß ihm die für ein wahres Verständnis vorausgesetzte Einstellung, die Initiation in die höfische Liebe mangelt. Denn die Auslegung des Erzählers kann und soll ihm diese Einweihung nicht einfach ersetzen; seine Auslegung wendet sich an den Kreis der schon Eingeweihten und ist gerade im Bel Inconnu schon so persönlich, daß sie auch noch den eingeweihten Leser nötigt, sich selbst seinen Vers auf den verborgenen Sinn der Fabel zu machen. Denn hier fällt zum ersten Male in der für uns sichtbaren Geschichte des Artusromans am Ende des Werks der allgelOeinverbindliche Sinn der Fabel und die persönliche Auslegung des Erzählers nicht mehr zusammen. Nachdem Guinglain am Ende des großen Turniers in den Vorschlag des Artus eingewilligt hat, die von ihm erlöste Dame, La Blonde Esmeree, zu heiraten, beschließt der Erzähler den Roman mit einer ingeniösen Drohung, die er an seine eigene Dame richtet: es liege ganz bei ihr, ob er den Roman weiterführe und Guinglain seine amie, die von ihm Or puist Diex les prisons maintenir et aidier, Car durement se painent paien de l'esploitierl D'une liue ne pueent no Fran<;ois aprocier; Du rescoure les contes n'i a nul recouvrier.
Doch schon die nächste Laisse stelll das emotionale Gleichgewicht mit einem Gelöbnis Rolands wieder her, das der Jongleur durch einen epischen Vorgriff bestätigt (v. 1714 sq.): Rollans, li ni~s Karion, a moult forment jure K'il ne retournera en trestout son d Si ara les barons, se Dius plaist, aquite; Mais ce ne sera mie dech&. .ii. mois passe, Car Sarrazin s'en vont, qui vuident le regne. ") Les sens de l'aven'ure e' de I'amour, Paris 1947.
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schnöde verlassene schöne Fee as blanches mains, wiederfinden lasse - wenn ihn seine Dame nicht erhöre, so werde er sich als Autor rächen, indem er dafür sorge, daß der Romanheld seine wahre Freundin niemals wieder in den Armen halten werde 10) • Der hier vorliegende, ironische Romanschluß ist in unserem Zeitraum einzig dastehend und damit zu isoliert, um schon modernisierende Rückschlüsse auf ein neues Bewußtsein der Individualität des Autors zuzulassen 11). Für unsere gattungsgeschichtliche Betrachtung ist dieser Schluß des Bel lnconnu aber in anderer Hinsicht bedeutsam. Hier bekundet sich zum ersten Male in ausdrücklicher Formulierung, daß einem Autor jenes fiktionale Stilprinzip der Gattung bewußt war, welches die märchenhafte Wahrscheinlichkeit des neuen Versromans am schärfsten von der ungeschiedenen episch-geschichtlichen Wahrheit der alten Chanson de Geste unterschied. Zugleich wird darin sichtbar, daß diese neue Form des Romans für das Publikum in der Tat durch eine andere poetische Sageweise, die freischwebende Wahrheit des Märchens im Unterschied zu der historischen Wahrscheinlichkeit der Sage, bestimmt war. Denn der Effekt, den der Autor des Bel lnconnu mit seinem ungewöhnlichen Schluß erzielt, wäre verloren, wenn er nicht voraussetzte, daß sein Publikum die letzte, noch ausgebliebene märchenhafte Wunscherfüllung, daß es zu einer Vereinigung des Romanhelden mit der schönen Fee Quant vos plaira, dira avant, U iI se taira ore a tante Mais por un biau sanblant mostrer Vos reroit Guinglain retrover S'amie, que iI a perdue, Qu'entre ses hras le tenroit nue. Se de tou Ii faites delai, Si ert Guinglains en tel esmai Que ja mais n'avera s'amie. D'autre vengeance n'a iI mie, Mais por la soie grant grevance Ert sor Guinglain ceste vengance, Que ja mais jor n'en parlerai Tant que le bel sanblant avrai (vv. 6263--66). 11) A. FIERZ-MoNNIER: Initatlon und Wandlung: Zur Ge,ehJehte de, altlranz6,J,ehen Roman, Im zw6l1ten Jahrhundert von Chr~tlen de Troye, zu Renaut de Beaujau, Bern 1961, vgl. bes. p. 201 sq. - Erst nachträglich kam mir der Aufsatz von Alfred ADLER: Thematlc development 01 Olivler', duel wlth Flerabras, RomanJ,che Forschungen 70 (1968) pp. 267-277, zur Kenntnis. Diese ausgezeichnete Interpretation, in der auf methodisch beispielhafte Weise der Schritt von der Beschreibung des nur 'Topischen' zu der Aufdeckung des ästhetisch Einmaligen im scheinbar stereotypen 'style formulaire' vollzogen wird, bat mich von dem besonderen literarischen Rang des Fierabras-Verfassers vollauf überzeugt. War ich bei meiner Strukturanalyse, die auf die unterscheidenden allgemeinen Merkmale der Gattung gerichtet blieb, nur beiläufig auf die parodistische Begabung des Autors gestoBen (vgl. Anm. 24), so findet diese Beobachtung nun in Adlers Interpretation. die dem Einmaligen der ästhetischen Leistung zugewandt ~-ar, ihre richtige Stelle. Das komplementäre Verhältnis der heiden Untersuchungen tritt besonders auch an dem Punkt zutage, wo ich für das Wegwerfen des Wunderbalsams eine rein funktionelle Erklärung gebe (nach Anm. 16), wäbrend A. diesen Zwischenfall im Zusammenbang des von ibm aufgedeck. ten Leittbemas einer .uncertainty as to wbat one should love or hate" (p. 269) zu deuten sucht. 10)
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kommen möge, erwartete und vermißte. Die programmatische, von König Artus angeordnete Heirat mit der zwar märchenhaft erlösten, aber nicht geliebten anderen Dame mußte den Leser des Bellnconnu als nicht märchenhafter Schluß enttäuschen. In der vorangegangenen Tradition des Artusromans war die erlöste Dame immer zugleich die geliebte; den nellen Kasus des Bel Inconnu wußte Renaut de Beaujeu offensichtlich noch nicht als Konflikt zu gestalten. Er fand statt dessen einen Ausweg, der ein weiteres Mal bestätigt, daß dem im XII. Jahrhundert entstehenden abendländischen Roman die poetische Sageweise des Märchens vorauslag, der zugleich aber auch die zukünftige Entwicklung der Gattung anzeigt, die von Cervantes über Sterne und Flaubert bis zur Gegenwart gerade aus der ironischen Auflösung märchenhafter Erwartun~en ihre neue poetische Substanz gewinnen sollte. Wenn ich hoffen dürfte, Sie - meine verehrten Zuhörer - mit diesen Ausführungen wenn nicht von meiner These, so doch viel· leicht von dem eigentümlichen Reiz überzeugt zu haben, den die altromanische Dichtung gerade durch ihre Gegenwartsferne auch heute noch auf uns auszuüben vermag, so hätte meine Vorlesung das eine ihrer beiden Ziele erreicht. Das andere lag in der Absicht, Ihnen durch die methodische Verbindung von romanischer Philologie und allgemeiner Theorie der literarischen Gattungen eine Vorstellung von den Fragestellungen zu geben, die durch den Plan einer zwischenfachlichen Schwerpunkt bildung im Grenzbereich der Poetik, Hermeneutik und Literaturkritik im nächsten Jahr von Kollegen der neuentstehenden Philosophischen Fakultät in Angriff genommen werden sollen - ein Plan, für den die besondere Gunst von Ort und Stunde des Wiederaufbaus der alten Ludoviciana eine gewiß seltene Voraussetzung bietet.
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x. THEORIE DER GAITUNGEN UND UTERATUR DES MITTELALTERS Inhalt 1. Zur Situation der Fonmung; 2. Funktionale Begründung des Begriffs Uterarischer Gattungen; 3. Bestimmbarkeit von Gattungen in synmronismer Simt; 4. Bestimmbarkeit von Gattungen in diamronischer Simt; 5. Uterarisme Gattung und gesellschaftsgeschimtlime Situation; 6. Gattungsgesdtimte als Prozea fortgesetzter Horizontstiftung und Horizontveränderung; 7. Ansätze zu einer historismen Systematik; 8. Die Gattungstheorie der theologismformgesmidnlichen Schule; 9. Die Literaturgesmimte der Bibel und das Problem der Literarisierung kultismer Formen; 10. Die Gattungstheorie der russismen Formalisten; 11. Erkenntnisinteresse der Uterarischen Gattungen des Mittelalters.
1. Die Bildung einer Theorie steht nicht selten in einer unerkannten oder nicht eigens reßektierten Abhängigkeit von der Art und Beschränkung des Gegenstandes, an dem sie exemplifiziert wurde oder auf den sie angewendet werden 5011. Das gilt in besonderem Maße für die Theorie der literarischen Gattungen. Sie wurde einerseits von den traditionellen Philologien mit Vorliebe an Beispielen der klassischen literaturperioden entwickelt, die den Vorzug hatten, daß die Form einer Gattung nach kanonisierten Regeln bestimmt und ihre Geschichte von Werk zu Werk nach Absicht und Leistung der Autoren verfolgt werden konnte: Dieser individualisierenden Betrachtung hat die strukturalistische Forschung eine Theorie entgegengesetzt, die vornehmlich an primitiven Gattungen wie z. B. der mythischen Erzählung oder dem
Diese wurde durch den im Mai 1939 in Lyon abgehaltenen .3e Congra international
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Eine Geschichte und Theorie der volks sprachlichen Gattungen stößt im Mittelalter auf die besondere Schwierigkeit, daß die Strukturmerkmale der literarischen Formen, von denen sie ausgehen soll, selbst erst an einem chronologisch meist diffusen Textmaterial erarbeitet werden müssen. Es handelt sich hier um neu entstehende Literaturen, die weder durch ein humanistisches Prinzip strenger Nachahmung noch durch den Kanon einer verbindlichen Poetik von der vorangehenden lateinischen Literatur unmittelbar abhängig sind. Für die Gattungen in romanischer Volkssprache findet sich zunächst kaum eine poetologische Reflexion. «Die Vulgärsprachen und ihre längst ausgebildeten Typen treten erst seit 1300 mit Dante, Antonio da Tempo, Eustache Deschamps in den Blick der Theoretiker.»1 Die mittelalterlichen Theoretiker aber haben Dichtung vornehmlich nach Stilen, nicht nach Gattungsnonnen beurteilt. Andererseits würde die modeme Systematik der drei Grundarten oder nicht allein die Mehrzahl mittelalterlicher Gattungen als unreine oder pseudopoetische Formen ausschließen.· Auch die volkssprachliche Epik oder Lyrik ist schwer, das geistliche Spiel überhaupt nicht mit Bestimmungen der modernen Triade des Epischen, Lyrischen und Dramatischen zu beschreiben. Wo Grundunterscheidungen wie: zweckbestimmt oder zweckfrei, lehrhaft oder fiktiv, nachahmend oder schöpferisch, traditionell oder individuell, die seit der Emanzipation der Schönen Künste das Literaturverständnis regeln, noch nicht empfunden und reflektiert wurden, hat es auch keinen Sinn, mit einer diesem Emanzipationsprozeß verdankten Dreiteilung der Dichtung zu arbeiten und den darin nicht aufgehenden, im Mittelalter gewiß größeren Rest einer problematischen vierten , dem Didaktischen zuzuschlagen. Angesichts solcher Schwierigkeiten bekam die bald nach 1900 einsetzende Kritik an dem pseudo-normativen, durch Brunetiere evolutionistisch ausgelegten Gattungsbegriff der positivistischen Literarhistorie erhöhte Bedeutung. Croces Ästhetik, die der expressiven Einzigartigkeit jedes Kunstwerks gegenüber allein noch die Kunst (oder Intuition) selbst als anerkannte, schien die Philologien vom Gattungsproblem, das Croce in die einfache Frage nach der Nützlichkeit verschiedener Klassifikationen von Büchern auflöste, überhaupt zu befreien. Doch das Durchschlagen eines gordischen Knotens führt bekanntlich zu keiner Dauerlösung eines wissenschaftlichen Problems. Croces wäre darum gewiß auch kein so zählebid'histoire Iitt~raire modeme. °820 wieder belebt, der den von Crace totgesagten Gattungsproblemen gewidmet war und darum seinen spöttischen Protest auslöste. Cf. G. ZACHAaIAS, B. Croce und die literarischen Gattungen. Diss. Hamburg, 1951. Zur weiteren Diskussion cf. POMMID. °800, WElWC °832 und das durch seine Bibliographie nützliche Buch von RUlTICowsltl °808. I KUHN °796, 45. • Cf. KUHN °796, 7: cWohin aber mit dem nicht gesungenen Spruch, der Reimrede, mit der Fabel, mit all den Typen, die ohne Grenze Didaktik, Novellistik, Allegorie von Kleinltformen bis in GroBformen hinüberspielenl Soll du geiJtliche Spiel als Tragödie, das Funachtlpiel als Komödie funsierenl Können die Didaktik und die religiöse Uteratur aller Formen eigene Gattungen bilden, da sie doch als cepiJch., clyrisdt. oder cdramatisch. nur Pseudotypell sindl Und wieder die Prosa aller Art, literariJch und pragmatisch, religiös und wissenschaftlich und praktisch, mit verschiedensten übergingen in Poesie: Reimvorreden zum LKcidarill$ und Sachsenspiegel, Reim- und Prosachroniken sowohl wrlt- wie lokalgadUchtlich, die Braachtwnsliteraturh
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Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters
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ger Erfolg bei Anhängern und Gegnern beschieden gewesen, wenn der Widerspruch gegen den nonnativen Gattungsbegriff nicht vom Aufkommen der modemen Stilistik begleitet gewesen wäre,· die das <Wortkunstwerk> gleichfalls autonom setzte und Methoden ahistorischer Interpretation entwickelte, für welche eine vorgängige Ansc:nauung der historischen Gattungsfonnen entbehrlich schien. Mit der Wendung gegen den Ästhetizismus der werkimmanenten Methode, die eine Hochblüte monographischer Forschung zeitigte, aber die Frage nach dem diachronischen und synchronischen Zusammenhang der literarischen Werke unbeantwortet ließ, begann der Prozeß einer neuen, historisch-henneneutischen und strukturalistischen Theoriebildung, in dem wir heute noch stehen. Die Theorie der literarischen Gattungen ist dabei, sich zwischen der Scylla der nominalistischen, nur Klassifikationen aposteriori zulassenden Skepsis und der Charybdis des Rückzugs in zeidose Typologien einen Weg zu suchen, der dort wieder einsetzen kann, wo die Historisierung der Gattungspoetik und des Fonnbegriffs innehielt. 5 Bei einer Rechtfertigung dieses Weges, den auch der mit diesem Band begonnene GRLMA eingeschlagen hat, von der Kritik Croces auszugehen, empfiehlt sich nicht allein aus Gründen einer fachinternen Diskussion. Denn Croce hat die seit dem XVIII. Jh. angewachsene Kritik an der nonnativen Allgemeingültigkeit des Gattungskanons bis zu einem äußersten Punkt vorangetrieben, an dem bereits wieder die Notwendigkeit sichtbar wird, eine historische Systematik der literarischen Gattungen zu begründen. 2. «Jedes wahre Kunstwerk hat eine festgelegte Gattung verletzt und auf diese Weise die Ideen der Kritiker verwirrt, die dadurch gezwungen wurden, die Gattung zu erweitern ... Was hier von Croce als vernichtender Einwand gegen den normativen Gattungsbegriff vorgebracht wurde, setzt unvennerkt schon wieder den Tatbestand voraus, mit dem die historische Realität, die produktionsästhetische Funktion und die henneneutische Leistung der Gattungsbegriffe geradezu beweisbar wird. Denn wie anders ließe sich die für Croce einzig legitime Frage, ob ein Kunstwerk eine vollkommene, eine nur halb oder gar nicht gelungene Expression sei,1 auf eine kontrollierbare Weise beantworten, wenn nicht durch ein ästhetisches Urteil, das im Kunstwerk den einmaligen Ausdruck vom Erwartbaren und Gattungshaften zu sondern weiB? Auch ein Kunstwerk, das - in Croces Begriffen - als Einheit von Intuition und Ausdruck vollkommen wäre, könnte nur um den Preis der Unverständlichkeit absolut, d. h. von allem Erwartbaren isoliert sein. Das literarische Werk ist auch als Kunst des rein individuellen Ausdrucks (in der epoc:hal begrenzten, von Croce zu Unrecht verallgemeinerten Gestalt der Erlebnis- und Genieästhetik) durch , d. h. durm die Beziehung auf ein anderes, verstehendes Bewußtsein bedingt. Es setzt selbst dort,
»'
, Croces Asthetik ist durch SPINCAIN, der zu den Wegbereitern des New Criticism zählt, in die USA vermittelt worden, d. °812, ferner HEaMAND °782. I Zur Grundlegung einer historischen Asthetik cf. P. SZONDJ, Theorie des modemen Dramas. Frankfurt, 1956, Einl., und id., La theorie des genres poetiques chez Fr. Schlegel. Critique, mars 1968, 2~292. • (ioa °766, 40. ., (ioa °766, 40, 75.
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A. Unite des litterahlres romanes
wo es als SpramschöpEung alles Erwanete negiert oder übertrifft, noch Vorinformationen und eine Erwartungsrimtung voraus, an der sim die Originalität und Neuheit bemiBt - jenen Horizont des Erwartbaren, der sich für den leser aus einer Tradition oder Reihe der ihm zuvor bekannten Werke und aus einer spezifischen, vom neuen Werk ausgelösten und durch eine Gattung (oder aum mehrere) vermittelten Einstellung konstituien. Wie es keinen Akt spramlimer Kommunikation gibt, der nicht auf eine allgemeine, sozial oder situationshah bedingte Norm oder Konvention zurückbeziehbar wäre,8 so ist auch kein literarismes Werk vorstellbar, das geradezu in ein informatorisches Vakuum hineingestellt und nicht auf eine spezifische Situation des Verstehens angewiesen wäre. Insofern gehört jedes literarische Werk einer (Gattung) an, womit nicht mehr und nicht weniger behauptet wird, als daß für jedes Werk ein vorkonstituierter Erwanungshorizont vorhanden sein muß (der auch als Zusammenhang von Spielregeln verstanden werden kann), um das Verständnis des Lesers (Publikums) zu orientieren und eine qualifizierende Aufnahme zu ermöglichen. Die immer neuen «Erweiterungen der Gattung» aber, durch die Croce die Geltung definitorismer und regelsetzender Gattungsbegriffe ad absurdum geführt sah, beschreiben andererseits die prozeBhafte Ersmeinung und «legitime Obergänglichkeih literarischer Gattungen,' sobald man bereit ist, den klassischen GattungsbegriJf zu entsubstantialisieren. Das erfordert, den (dann allerdings nur noch metaphorisch so zu nennenden) literarischen (Gattungen) keine andere Allgemeinheit zuzuschreiben als die, die sich im Wandel ihrer historischen Erscheinung manifestiert. Mit der zeitlosen Geltung des Wesensbegriffs der klassischen Gattungspoetik muB keineswegs auch alles gattungshah Allgemeine, das eine Gruppe von Texten als gleichartig oder verwandt ersmeinen läßt, hinfällig werden. Hier sei darauf verwiesen, daß aum die Linguistik eine Allgemeinheit untersmeidet, die zwischen dem Universalen und dem Individuellen eine MittelsteIlung einnimmt. 1o Demzufolge sind die literarischf'n Gattungen nicht als genera (Klassen) im logischen Sinn, sondern als GTIlppen oder historische Familien zu verstehen. tl Sie können als solche nicht abgeleitet oder definiert, sondern nur historisch bestimmt, abgegrenzt und beschrieben werden. Sie sind darin den historischen Spramen analog, für die gleichermaßen gilt, daß sich z. B. das Deutsche oder das Französische nimt definieren, sondern nur synchronisch beschreiben und historisch untersuchen lassen. Man kann die Allgemeinheit literarischer Gattungen, die sich nicht auf eine vorgängig bestimmte und invariante Norm bringen läßt, aum mit Hilfe von Bestimmun-
• STDO'El °814, 56S, zur Grundbedingung jeder Theorie der Rede: dout arte de communicauon linguistique est riductible 1 une norme g~~rique et conventionelle dont la compotants, sur le plan de la langue parl~, sont I'indice lOciai et I'indice de la situation en tant qu'uni~ de componement.a • SDfCU °810, 19. I' Nach Cosnro °764, besonders Abschnitt 11 2; d. S1'DII'El. °814: cLe gente donc, si I'on veut, tient lJa lois du sy.~me et de la parole, statut qui correspond 1 ce que Coseriu a appel~ (norme).a 11 Wu Caoa °766, 78, zur Kennzeichnung von AhnIidtkeiten der Expressionen cFamilienatmosphärea genannt und gegen den Gattungsbegriff ausgespielt hat, erhält damit einen positiven Sinn.
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Tlleorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters
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gen erlassen, die Kant für das ästhetische Urteil entwickelt hat. Demnach kann die Modalität eines Geschmacksurteils nicht die notwendige Folge eines objektiven Gesetzes sein, sondern nur exemplarisch genannt werden, weil sie notwendig die Bei-
stimmung aller zu einem Urteil er/ordert, was als Beispiel einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann, angesehen wird. Diese Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem durch das Exemplarische gilt oHensichdich auch für die rezeptive wie produktive Kontinuität einer literarischen Gattung, die als «unbestimmte Norm», _deren oHener Sinn sich im einzelnen Gesdunacksurteil und im einzelnen Kunstwerk erst jeweils erfüllt und bestimmt», zugleich Beispiel und Muster ist. Die so verstandene Kategorie des Exemplarischen hebt das Regel-Fall-Schema auf und ermöglicht es, den GattungsbegriH im Bereich des Ästhetischen prozeßhaft zu bestimmen. Denn «dasjenige, worau"f das Exemplarische verweist, ist unbestimmt, es hat DynamisCharakter, d. h. es wird durch jede neue Konkretion weiterbestimmt.»I1& Die Vorzüge einer solchen Bestimmung, die das Allgemeine der Literaturgattungen nicht mehr normativ (ante rem) oder kIassifikatorisch (post rem), sondern historisch (in re) ansetzt, d. h. in einer «Kontinuität, in der jedes Frühere sich erweitert und ergänzt durch das Spätere»,I! liegen auf der Hand. Sie befreit die Theoriebildung von dem hierarchischen Kosmos einer begrenzten, durch das antike Vorbild sanktionierten Zahl von Gattungen, die sich weder vermischen noch vermehren durften. Als Gruppen oder historische Familien verstanden können nicht allein die kanonisierten Haupt- und Untergattungen, sondern auch andere Reihen von Werken, die durch eine kontinuitätsbildende Struktur verbunden sind und historisch zutage treten, eine Gruppe bilden und gattungsgeschichdich beschrieben werden"· Gattungsbildende Kontinuität kann in der Reihung aller Texte einer Gattung wie der Tierfabel oder in den opposition'ellen Reihen von Chanson de geste und höfischem Roman, in der Folge der Werke eines Autors wie der Rutebeufs oder in den querdurchlaufenden Erscheinungen eines Epochenstils wie der allegorischen Manier des XIII. Jhs, aber auch in der Geschichte einer Versart wie der des gepaarten AchtsUbers, in der Entfaltung eines Einzelphänomene übergreifenden (literarischen Tons>l.a wie dem der epischen Hyperbolik oder in einer thematischen Struktur wie der Sagengestalt des mittelalterlichen Alexanders liegen. Ein' Werk kann aber auch unter verschiedenen gattungshaften Aspekten erfaßt werden, wie z. B. der Rosenroman von Jean de Meun, lIaKant, Kritik der ästhetischen Urteilskrah, § 18; ich folge hier der Interpretation von G. BuCK, Kants Lehre vom Exempel, Archiv für BegriRsgeschichte 11 (1967) 182, aem ich
diesen Lösungsvorschlag des GattUngsproblems verdanke. 11
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Mit dieser Formulierung umschrieb J. G. DaOYSEN in seiner Historik (ed. R. HUBNER, München, 1967,9 sq.) die aristotelische Bestimmung der Art des Menschen (iTti&oatt; Eit; (I~6) im Unterschied zum nur Gattungshaften von Tier oder P8anze (De anima 11, 4.5). Droysens Formulierung, die seine Vorstellung von der Kontinuität der fortschreitenden geschichtlichm Arbeit begründet. ist gegen den organologischen Entwidtlungsbegriff gerichtet und eignet sich darum auch für den vergeschichtUchten Begriff der literarischen Gattung.
Cf. STEMPn 0814.
"aAusgehend von der hier entwickelten Gattungstheorie hat H. U. GUMBItECHT 0565, auf der Grundlage einer Statistik hyperbolischer Ausdrücke in Texten des XII. und XIII. Ihs, die WahrscbeinUchkeitsgrenzen und die .literarischen Töne, verschiedener Gattungen unter-
eudat.
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in dem sich - zusammengehalten durch den traditionellen Rahmen der Minneallegorie - Satire und Travestie, Allegorie und Mystik im Gefolge der Schule von Chartres, der philosophische Traktat und komödienhahe Szenen (Rolle des Amis und der Vi elle) kreuzen. Eine solche Aufgliederung enthebt den Kritiker aber nicht, die Frage nach der gattungshaften Dominante im Bezugssystem des Textes zu stellen (in unserem Beispiel ist es die Laienenzyklopädie, deren Darstellungsfonnen Jean de Meun genialisch kühn zu erweitern verstand). Mit der Einführung des Begriffs der systemprägenden Dominante 14 kann die sogenannte Gattungsmischung, die in der klassischen Theorie das bloß negative Seitenstück zu den war, zu einer methodisch produktiven Kategorie gemacht werden. Es ist dann weiter zu unterscheiden zwischen einer gattungshahen Struktur in selbständiger oder konstitutiver und unselbständiger oder begleitender Funktion. So erscheint z. B. das Satirische im romanischen Mittelalter zunächst und lange Zeit nur in unselbständiger Funktion: in Verbindung mit der Predigt, dem moralischen Lehr- und Strafgedicht (z. B. La Bäble Guiot) und der Standesliteratur (Etats du monde, Fürstenspiegei), mit dem Tierepos, dem Versschwank und der poesia giocosa, oder auch mit dem Streitgedicht, der polemischen Lyrik und all der Formen, die A. Adler dem historicum zugeordnet hat (vid. VI D und E). Wo es dann konstitutive Funktion gewinnt, wie z. B. in den satirischen Werken Peire Cardenals, Rutebeufs oder Cecco Angiolieris, entstehen selbständige Gattungen der Satire, die aber im Unterschied zur antik-horazischen Tradition, an welche erst die Literatur der Renaissance wieder anknüpfen wird, nicht in der Kontinuität einer übergreifenden Gattung aufgehen. Es gibt aber auch Fälle, in denen eine gattungshafte Struktur immer nur in begleitender Funktion erscheint, wie z. B. der sogenannte gap oder wie das Groteske, das im romanischen Mittelalter nie die Gestalt einer selbständigen literarischen Gattung erlangt hat. 1I Eine literarische Gattung im nicht-logischen, gruppenspezifischen Sinn ist demnach in Abhebung von dem weiteren Umkreis der unselbständigen Funktionen dadurch bestimmbar, daß sie Texte selbständig zu konstituieren vermag, wobei diese Konstitution sowohl synchronisch in einer Struktur nicht ersetzbarer Elemente als auch diachronisch in einer kontinuitätsbildenden Potenz faßbar sein muß. 3. Fragen wir zunächst nach der Bestimmbarkeit von literarischen Gattungen in synchronischer Sicht, so ist davon auszugehen, daß die Abgrenzung und Differenzierung nicht nach einseitig formalen oder thematischen Merkmalen vorgenommen werden kann. Es ist eine schon alte, zuerst von Shaftesbury formuliene Erkenntnis, daß die prosodische Form nicht für sich allein die Gattung ausmacht, vielmehr eine (innere Form> der äußeren Gestalt entsprechen muß, aus der erst das besondere (Maß>, die eigentümliche (Proportion> einer selbständigen Gattung sich erklären läßt. 1I Diese wiederum ist nicht in einem einzigen Kriterium zu fassen. Was eine
°822; d. ed. STltIEDTU, p. Ixii. Zum gap d. FECIINEJl °858, zum Grotesken cf. Die nicht mehr schönen Künste, ed. H. R. }AUSS, München, 1968 (Poetik und Hermeneutik, III), ,. v. das Groteske. 11 In der Schrift The /Ildgement 0/ Hercules, d. ViiToa °826, 296-300. "
TYNJANOV
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literarische Gattung in ihrer eigentümlichen Struktur oder konstituiert, zeigt sich zunächst in einem Ensemble von formalen wie inhaltlichen Merkmalen an; diese müssen erst auf ihre Funktion im Regelzusammenhang untersucht werden, bevor ihre system prägende Dominante erkannt und damit die Abgrenzung zu anderen Gattungen vorgenommen werden kann. Ein Mittel zur Feststellung konstitutiver Gattungsunterschiede ist die Kommutationsprobe. So kann etwa die verschiedene Struktur von Märchen und Novelle nicht allein in den Oppositionen von Ir~alität und Alltäglichkeit, von naiver Moral und moralischer Kasuistik, von selbstverständlichem Märchenwunder und , sondern auch in der verschiedenen Bedeutung gleicher Figuren faßbar werden: «man stelle eine Prinzessin im Märchen neben eine Prinzessin in der Novelle und man spürt den Unterschied».11 - Als ein weiteres Beispiel sei die Unvertauschbarkeit der Personen zwischen Chanson de geste und höfischem Roman angeführt. Helden wie Roland oder Yvain, Damen wie Alda oder Enide, Herrscher wie Charlemagne oder Artus wurden trotz der allmählichen Angleichung des Heldenepos an den Ritterroman in französischer Tradition nicht aus der einen in die andere Gattung gebracht; es bedurfte erst einer Rezeption durch eine andere, die italienische Tradition, um mit einer Verschmelzung der beiden französischen Gattungen zu einer neuen, dem sogenannten romantischen Epos, die ursprünglich geschiedenen Personenkreise in ein gleiches Handlungsgefüge zu versetzen. Die ursprüngliche Sd,eidung wird bei 'Chretien de Troyes mehrfach greifbar, sobald man hinter dem rhetorischen Schema der Oberbietung Signale der Unvertauschbarkeit erkennt. 18 - Ein anderes auffälliges Indiz von Strukturunterschieden ist die regelwidrige Anwendung von Verfahren in Fällen, wo sich der Autor selbst wieder korrigiert. So benutzt etwa der Verfasser des Fierabras zwei Motive des für den Artusroman konstitutiven Märchenwunders (Zaubergürtel, Wunderbalsam), die eine Spielregel seiner Gattung, der Chanson de geste: die auch in der heldischen Hyperbolik noch zu wahrende Wahrscheinlichkeitsgrenze einer exemplarischen Handlung verletzen würden und darum jedesmal bald wieder fallen gelassen werden, d. h. als folgenlose Motive einfach aus der Handlung verschwinden." Die synchronische Bestimmung literarischer Gattungen kann heute der Frage nach ihren nicht mehr ausweichen. Gibt es in der Vielfalt der Kunst- und Gebrauchsgattungen einer Literatur nicht eine begrenzte Zahl von wiederkehrenden Funktionen und damit etwas wie ein System literarischer Kommunikation, innerhalb dessen Gattungen als partielle Systeme oder Abwandlungen eines Grundmusters beschreibbar sind? Die typologische Poetik hat uns in dieser Frage mit ihrem Rückgriff auf anthropologische Kategorien (wie Zeit- oder Raumerfahrung) weniger weit gebracht als die Tradition der aristotelischen Poetik. Deren Normen und Regelzusammenhänge bewahren offensichtlich soviel an empirischer Anschauung, daß sie heuristischen Wert behalten, wenn man daran geht, auf induktivem Wege vom epochalen Grundmuster einzelner Gattungen zur Hypothese eines literarischen Kommunika-
°786, 196. Cf. °848, 70sqq. Ib., 69-70.
17 JOUES 18 11
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tionssystems zu gelangen. Als ein erster Schritt zu diesem Ziel soll im folgenden versucht werden, am Beispiel des mittelalterlichen Epos (Chanson de geste), Romans (roman arthurien) und der Novelle (Decameron) ein partielles System von Gattungsfunktionen aufzustellen. Das Grundmuster, das den mittelalterlichen Gattungen von Epos (= E), Roman (= R) und Novelle (= N) gemeinsam ist, läßt sich in vier Modalitäten beschreiben, die sich in feinere Bestimmungen differenzieren lassen und von den drei Gattungen auf verschiedene Weise besetzt werden:"·
1.
Autor und Text (Narration)
1.1 Rhapsode vs. Erzähler vs. abwesender Erzähler E: Sprechender Dichter üongleur) und hörendes Publikum; Autor hinter Stoff zurücktretend, so daß sich das Geschehen selbst zu erzählen scheint. R: Schreibender Dichter und ungesehenes Publikum; Autor als vermittelnder Erzähler hinter Stoff hervortretend. N: Schreibender Dichter und ungesehenes Publikum; der vermittelnde Erzähler verbirgt sich zumeist im Erzählten. 1.2 epische Objektivität v:.. auszulegende Fabel vs. zu diskutierendes Ereignis E: Epische Formeln wie Wahrheitsbeteuerung, Teilnahme am Geschick des Helden, epischer Vorgriff stellen emotionale Einheit von Jongleur und Publikum her. R: Einschaltungen des Erzählers (signes du narrateur) dienen der Auslegung der Fabel (matiere et sens treten auseinander). N: Kommentare des Erzählers lassen den Sinn des Ereignisses oft ungedeutet; dieser bleibt der Diskussion des Publikums überlassen. 1.3 epische Distanz vs. Aktualität; Wie-Spannung vs. Ob-überhaupt-Spannung E: Aus der epischen Distanz erscheint das Geschehen als ein vollkommen vergangenes; der epische Vorgriff ermöglicht das Pathos der Wie-Spannung. R: Zwar wird aus epischer Distanz im <passe du savoin erzählt; doch zieht eine Ob-Spannung in die Fabel ein, ausgewogen durch die sichere Erwartung des guten Ausgangs. N: Erzählt auch das räumlich und zeitlich Feme, als ob es gegenwärtig wäre; Obüberhaupt-Spannung, ohne erwartbaren guten Ausgang. ".Nachweise des synchronischen Systems sind den Paragraphen der Untergliederung zugeordnet: 1.1: cf. N. FaYE, Analyse der Literaturkritik (dt. Ausgabe von: Anatomy of Criticism, 1957), Stuttgart, 1964, 249 sqq., der unterscheidet: sprechender Dichter und Zuhörerschaft (Epos), schreibender Dichter und ungesehenes Publikum (Roman). Sich-Verbergen des Autors vor seinem Publikum (Drama), Sich-Verbergen des Publikums vor dem Autor (Lyrik); 1.2: zu den csignes du narrateuu d. R. BARmES, Introduction a I'analyse structurale c!es rkits, Communications 8 (1966) 19; 1.3: die Opposition von Wie-Spannung und Ob-überhaupt-Spannung entwickelt C. Lu-
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2.
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Modus dicmdi (Formen der Darstellung)
2.1 sduiftlos (litt~rature orale) vs. sdtriftlidt (Budt) E: Mündlidter (improvisierender?) Vonrag für ein nidttlesendes Publikum. R: Schriftlidt abgefaßter, zum Lesen (oder Vorlesen) bestimmter Text, der aUdt sdtrihlidter überlieferung (romanz: in die Volksspradte umgeschrieben) entspringt. N: Während der romanz sdtriftlidter (ursprünglidt lateinisdter) Tradition entspringt, kommt die sdtriftlidt fixierte ncroella aus mündlidter Tradition und geht wieder in sie ein. 2.2 Vers vs. Prosa E: Assonierende Laisse, deren <style formulaire> audt Improvisation erlaubt. R: Stidtische Erzählform (gepaarte Adttsilber). N: Umgangsspradtlidte, durdt Boccaccio zur Kunstform erhobene Prosa. 2.3 Stillagen: sermo sublimis vs. medius vs. humilis E: Hoher Stil, in der durm die Bibel vorgegebenen parataktisdten Fügung. R: Mittlerer Stil, behaglidt erzählend, durm Filter der höAsdten Spradte restriktiv gegenüber alltäglidter Wirklidtkeit. N: Konversationston, mit neuer Lizenz, audt Dinge der niedrigen Wirklidtkeit in schidclidter Form (Boccaccio: con onesti vocaboli) zu sagen. 2.4 Abgesdtlossenheit vs. Fortsetzbarkeit; Länge vs. KÜJZe E: Epische Breite, weder erster Anfang nodt deAnites Ende (genealogisdte Zyklenbildung) . R: Auszug, singulare Aventürenfolge und Erhöhung (Tafelrunde) geben der Geschichte des Romanhelden eine Gesdtlossenheit, die auf kein Vorher oder Nadther mehr verweist. N: Der Kürze entspricht zeitliche Gespanntheit (von beliebigem Anfang ohne Mitte auf lösendes Ende zulaufend); der NovellenschluB als impliziert weitere Novellen.
3. Aufbau und Ebenen der Bedeutung (Einheiten des Dargestellten) 3.1 Handlung (argumentum) : epische Begebenheit vs. romanhaftes Geschehen vs. unerhörtes Ereignis COWSKI, Die Fonn der Individualität im Roman. Berlin, 1932, 41 sqq.; zur epismen Distanz und der Opposition von cpass~ du savoir. vs. cpass~ du r~cit. (futur dans le passe) d. H. R. }AUSS, Zeit und Erinnerung im M. Prousts cA la remerme du temps perdu •. Heidelberg, 11970, 18 sqq.; 2.1: zur Etymologie von romanz und nOt1ela siehe K. V05SlEJl °828,305 sq.; 2.3: nach AuerbacJa, cap. v/vi; Boccaccio, Decameron, Conclusione, 3: (auf den Vorwurf, er habe troppa licenzia usata und den Damen cose non assai cont1enienti gesagt) lA qual cosa io nego, per da me niuna si disonesta n'e, ehe, con onesti t1ocaboli dicmdola, si disdica ad alcuno; 3.1: Zur Opposition von Handlung und Gesmehen, die auf Hegels Ästhetik zUlÜdcgeht,
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E: die epische Handlung. die aus oft geringem Anlaß unaufhaltsam zur Katastrophe anwächst, hat ihre Einheit in einer objektiven, den Weltzustand umgreifenden Begebenheit; ihr Held ist Repräsentant des Schicksals seiner Gemeinschaft. R: Das romanhafte Geschehen, der Aventüre als Struktur der Sinnerfüllung im Zufall entspringend, hat seine Einheit in der singularen Person des beispielhaften Helden. N: Der Vorgang der Novelle ist weder Teil einer höheren Ordnung noch eines singularen Lebensweges, sondern «eine sich ereignete unerhörte Begebenheit» (Goerbe), die einen mOr:llischen Kasus aufwirft. 3.2 Personen, sozialer Status: hoch vs. mittel vs. niedrig E: Exklusiv aristokratisch (hochfeudal) ; die Spitze der heldischen Hierarchie nimmt der oft mythisierte König «Halbgott) ein, dann folgt der Kreis der Besten (zwölf Pairs), umgeben von meist namenlosen Normalrittern; die heidnische Gegenmacht spiegelt dieselbe Hierarchie. R: Exklusiv aristokratisch, der ausgeschlossene niedrige Stand erscheint in der Kontrastfigur des häßlichen (vilain); Opposition zwischen dem tatenlos idealen König (Artus) und dem allein ausziehenden Ritter, dessen Aventüre in Beziehung zur Erringung seiner Dame steht. N: Die Personen der Novelle, alle bürgerlichen Rollen umgreifend und Vertreter anderer Stände nicht ausschließend, setzen sich von dem heroischen Kanon des Schönen und Edlen ab. 3.3 Dargestellte Wirklichkeit: symbolisch vs. exemplarisch vs. deskriptiv E: Nur wenige Symbole für die äußere Welt (pin, oli'Oier) umrahmen die Schilderung heroischer Taten; diese werden durch symbolische Gebärden differenziert und durch typologische Beziehungen überhöht. R: Die exemplarisch stilisierte höfische Welt bildet den Rahmen, in dem die ausgeschlossene unideale Wirklichkeit in Elemente einer zauberischen Gegensphäre transformiert und durch das Märchenglüdt der
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ständlichkeit der Besdueibung die äußere Welt als Umwelt mannigfaltiger Dinge darzustellen. 4.
Modus recipiendi und gesellschaftliche Funktion
4.1 Realitätsgrade: res gesta (historia) vs. res fieta vs. argumentum qui fieri potuit E. Anspruch auf historische Wahrheit und Bewahrung vergangener Taten zur bleibenden Erinnerung; das Substrat der Chanson de geste, die Sage, haftet an einem Ort oder an durch die Geschichte bekannten Namen. R: Zwar folgt der Roman dem fiktionalen Prinzip des Märchens, daß in der Aventüre keine Begebenheit der Wirklichkeit gleichen dad; doch erhebt der höfische Erzähler den Anspruch, in der (res ficta) einen (sensus moralis) aufzudecken. N: Die Novelle fragt nicht nach dem Sinn der Geschichte und schließt das Wunderbare des Märchens aus, weil sie stets mitten in der Zeit und mitten im Ort steht und darum der Wahrscheinlichkeit eines gesellschaftlichen Ereignisses bedad. 4.2 Rezeptionsweise: Bewunderung und Rührung vs. Unterhaltung und Belehrung vs. Erstaunen und Reflexion E: Heroische Idealität, die unentrinnbare Tragik wie befreiende Komik ausschließt und in der Polarität von Bewunderung und Rührung (Märtyrerzüge des Helden) eine nachahmungswürdige Ethik des Handeins impliziert. R: Die märchenhafte Idealität der Aventüre erlaubt nicht allein den Genuß einer (schon ironisierbaren) literarischen Fiktion, sondern vermittelt durch ihre Ethik des Geschehens die Lehren der höfischen Bildung. N: Die moralische Kasuistik, die das erstaunliche Ereignis im einzelnen und das (plurale tantum) der Novelle im Reeueil im ganzen ins Licht rückt, problematisiert im Tragischen wie im Komischen die ethischen Normen des Alltags und fordert die Reflexion des gebildeten Lesers heraus. 4.3 Gesellschaftliche Funktion: Geschichtsdeutung (memoire eollective) vs. Initiation vs. Konversation (Urteilsbildung) E: Primäre Form der geschichtlichen überlieferung für Nichtleser, in der die
4.1: zu den Realitätsgraden siehe unten JohaMes de Garlandia, 126; zu den verschiedenen Substraten der Sage (für das Epos) und des Märchens (für den Roman) und ihrer Bestimmung durch Jakob Grimm siehe JAUSS 0848, 64 sqq.; zum gesellschaftlichen Charakter der Novelle siehe E. AUD.BACH, Zur Tedmik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich. Heidelberg, 1921, 1. 4.2: die Opposition von Ethik des Handelns und Ethik des Geschehens entwickelt A. JOLLES 0786, 201 ; 4.3: zum Verhältnis von Epos und memoire collectiTJe siehe M. BLOCH, La sociere feodale. vol. I, Paris, 1949, 147-163; zur gesellschaftlichen Funktion des Romans siehe J. FRAPPI'EJI., Etude 8ur Yvain ..., Paris, 1969, 185 sqq.; das Zitat zur Novelle jst E. AUUBACH, op. eit., 3, entnommen.
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nationale Geschichte in eine ideale Vorzeit (le passe tel qu'il eilt du etre) transponien und zum episch-mythischen System der Welterklärung erhoben wird. R: Der späteren Funktion einer Unterhaltung des privaten Lesers ging die ursprüngliche Funktion der Initiation in höfisches Leben und höfische Liebe voraus: «quete legitime d'un bonheur terrestre regle par une discipline soeiale et un style de vie:t. N: Konversation als Form der «leidenschaftlichen Betrachtung des irdischen Lt:bens. und der Reflexion gesellschaftlicher Normen. llb Strukturale Analysen solcher An, die für viele literarische Gattungen noch fehlen, könnten allmählich zu einem synchronem Schnitt führen, in dem das Gefüge der traditionellen und der nicht kanonisienen Gattungen nicht als logische Klassifikation, sondern als literarisches System einer bestimmten geschichtlichen Situation erscheint. Da aber «jedes synchrone System ... seine Vergangenheit und seine Zukunft als untrennbare Strukturelemente dieses Systems» hat," erforden eine historische Systematik der literarischen Gattungen weitere Schnitte durch die literarische Produktion im Vorher und Nachher der Diachronie. 4. Fragen wir nach der Bestimmbarkeit von literarischen Gattungen in diachronischer Sicht, so ist von dem Verhältnis des einzelnen Textes zur gattungsbildenden Textreihe auszugehen. Der Grenzfall, wenn ein Text das einzige bekannte Beispiel einer Gattung ist, beweist nur, daß es schwerer, aber keineswegs prinzipiell ausgeschlossen ist, eine Gattungsstruktur ohne Rekurs auf Gattungsgeschichte zu bestimmen. Was etwa an der allein durch Aucassin et Nicolette überlieferten Gattung der chante-fable gattungshaft ist, ergibt sich hinreichend klar aus dem Strukturunterschied zu verwandten Gattungen, wie dem lateinischen Prosimetrum oder Oantes Vita Nuova, von denen sie sich ganz abgesehen \'on ihrer anderen Stillage und Oarbietungsfonn (Mimus?) durch die Vers- wie Prosastücke durchlaufende Erzählung abhebt, und andererseits aus dem Verhältnis zu den lyrischen und epischen Gattungsmustern, die sie zitien, kombiniert und nicht selten parodiert. Die Aucassin ef Nicolette eigentümliche Anspielungs- und Montagetedmik mag, da sie vom Verfasser wie vom Publikum eine größere Kennerschaft der aktuellen literarischen Formen erforderte, die Reproduzierbarkeit der chante-fable erschwen haben - prinzipiell zu bestreiten ist die Möglichkeit, daß weitere Stücke in dieser Gattung existiert haben, nicht. Nur in diachronischer Sicht feststellbar ist hingegen das erst im geschichtlichen Wandel zutage tretende
Verhälmis von konstanten und variablen Stru.kturelementen. Die Variabilität in der historischen Erscheinung hat der Gattungstheorie solange Schwierigkeiten bereitet, als man noch einer substantialistischen Auffassung anhing oder versuchte, GattungSgeschichten in das evolutionisc:he Schema von Wachstum, Blüte, Verfall zu fassen. Wie kann der historische Wandel einer Gattung beschrieben .lbMeme Bestimmuns des Romans berOhrt sich in manchen Punkten mit P. ZUMTBoa, Le •
r0-
man counois: Essai de d~&nition. Dans: Etude. litteraire, 4 (1971) 75-90. J. 'rrNJAJlfOV und R. JACOISOH, Probleme der Uteratm- und Sprachforschung (1928), Ku"hda 5 (1966) 74-76; d. JAUSS °784,60.
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werden, wenn das gattungshaft Allgemeine weder als zeitlose Norm noch als willkürliche Konvention zu verstehen ist? Wie kann sich die Struktur einer Gattung verwandeln, ohne ihre Eigenart zu verlieren? Wie ist der zeitliche Prozeß einer Gattung zu denken, wenn nicht als Entwicklung auf ein Gipfelwerk zu und als Niedergang in der Phase der Epigonen? Setzt man an die Stelle des naturhaften Gattungsbegriffs (Gattung als Idee, die in jedem Einzelwesen erscheint, sich als Gattung nur wiederholt) den geschichtlichen Begriff einer Kontinuität, ein der sich jedes Frühere erweitert und ergänzt durch das Spätere» (die nach Aristoteles die Menschenart vom Tier unterscheidende t"ltlOoatt; Elt; atho VI so stellt sich das Verhältnis vom einzelnen Text zur gattungsbildenden Textreihe als ein Prozeß fortgesetzter Horizontstiftung und Horizontveränderung dar.!! Der neue Text evoziert für den Leser (Hörer) den aus früheren Texten vertrauten Horizont von Erwartungen und Spielregeln, die alsdann variiert, erweitert, korrigiert, aber auch umgebildet, durchkreuzt oder nur reproduziert werden können. Variation, Erweiterung und Korrektur bestimmen den Spielraum, Bruch mit der Konvention einerseits und bloße Reproduktion andererseits die Grenzen einer Gattungsstruktur. Wo ein Text die Elemente der Gattungsstruktur einfach reproduziert, nur einen anderen Stoff in bewährte Muster der Darstellung einsetzt, die herkömmliche Topik und Metaphorik lediglich übernimmt, entsteht jene stereotype Art von Literatur, in die gerade erfolgreiche Gattungen wie etwa die Chanson de geste im XII. oder das Fabliau im XIII. Jh. bald abgesunken sind. Die damit erreichte Grenze ist die des bloßen Gebrauchswerts oder (Konsumcharakters). Je stereotyper ein Text das Gattungshatte wiederholt, desto geringer ist sein Kunstcharakter und desto geringer ist auch sein Grad an Geschichtlichkeit. Denn auch für literarische Gattungen gilt: esie verwandeln sich in dem Maße, als sie Geschichte haben, und sie haben Geschichte in dem Maße, als sie sich verwandeln». 21 Die Geschichtlichkeit einer literarischen Gattung zeichnet sich in einem Prozeß der Prägung einer Struktur, ihrer Variation, Erweiterung und Korrektur ab, der bis zur Erstarrung führen oder auch mit der Verdrängung durch eine neue Gattung enden kann. Als Beispiel soll hier die Unsinnspoesie dienen, die in Frankreich während des XIII. Jhs mit zwei selbständigen Gattungen, der Fatrasie und der Resverie hervortrat. 14 Genetisch betrachtet kann die Fatrasie als eine Abart, besser Umbildung einer erzählenden Gattung, des Lügenmärchens bestimmt werden." Die neue Gattung ist durch Weglassung des umhüllenden, die kunstvolle Lüge signalisierenden Kontextes, Cf. n. 12; das gleiche Prinzip meint Andr~ JOLLES, wo er von der eSprache als Arbeit» spricht, cf. 0786, 7: eden Weg festzustellen, der von der Sprache zur Literatur führt ... indem wir vergleichend beobachten, wie eine selbe Erscheinung sich auf einer anderen Stufe sich anreichernd wiederholt, wie eine gestaltbildende, formbegrenzende Kraft, jedesmal sich erhöhend, das System als Ganzheit beherrscht.» a Linguistisch formuliert: als Expansion eines semiologischen Systems, die sich zwischen Systementfaltung und Systemkorrektur vollzieht; cf. STEMPEl. 0814. a Von DKOYSEN, Historik, p. 198 (cf. n. 12), auf die Völker als eindividuelle Gestaltungen. bezogen. JA KE1.UltMANN 0880, der dort die einschlägigen Forschungen von A. M. Schmidt, P. Zumthor. L. C. Porter und dessen Rezensenten zusammenfaBt. 11 Darauf hat W. HEMPEL, RE 73 (1961) 450, aufmerksam gemacht.
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durch die Zerreißung (brisure) jedes Erzähl- oder Sinn-Nexus in dedatrasischen Handlung, durch die strenge, zweiteilig asymmetrische Bauform der Gedichte und die damit entstehende Paradoxie einer Struktur der evölligen Aufhebung aller sachlichen Logik, außerhalb eines vernünftigen Kontextes, aber innerhalb einer absurden metrischerzählerischen >> marakterisiert. 2I Die Erfindung der Fatrasie als Gedimt fester Form ist möglicherweise Philippe de Remi zuzusmreiben. Wenn diese Hypothese von W. Kellermann zutrifft, zeigen die aus der gleichen Epoche stammenden Fatrasies d'Arras bereits die erste Variation und stoffliche Erweiterung an: die zeitlose Motivik Philippes wird mit satirischen Nebenabsimten (Degradierung des Sakralen und des Heroischen) und mit der Komik des Skabrösen durchmischt. Diese Tendenz wird in einer weiteren, von Raimmondin und Watriquet de Couvin geschaffenen Variation so weit getrieben, daß sim von der Fatrasie als reinen Form der Unsinnspoesie eine neue, parodistisme Gattung: der Fatras abspaltet. Hier ist dem fatrasischen Elfsilber ein spruchartiger Refrain meist amourösen Inhalts vorangestellt, der den Rahmen des Gedichtes abgibt, das seine möglime Aussage sodann in Form einer unmöglichen Rede parodiert. Damit wird der von der Fatrasie wegentwickelte fatras impossible zum eparodistismen Zwittergebilde einer Glosse», dem später Baudet Herenc mit dem fatras possible ein ernstes Seitenstück mit meist geistlicher Thematik gegenübergestellt hat, 17 das in dem skizzierten Prozeß wohl schon als eine Korrektur der Unsinnspoesie anzusehen ist. Zu dieser gehört die gleichzeitig mit der Fatrasie auftretende, nur in drei Beispielen überlieferte Gattung der ReSt1erie, die erst unlängst von W. Kellermann in ihrer eigenständigen Struktur erkannt und beschrieben wurde. 18 Die Resverie zeigt den Fall, wie die gleime Intention - das Sprachspiel der Herstellung unsinniger Aussagen - durch Erfindung einer neuen Spielregel zu einer anderen Gattung umgebildet werden kann. Denn hier ist eine dialogische Situation vorauszusetzen, in der auf einen vom Dimter vorgespromenen Siebensilber mit einem Viersilber geantwortet werden muß, wobei dieser zwei Bedingungen zu genügen hat: «Er muß mit dem Vorvers eine Sinneinheit bilden und dem Dimter ein neues Reimwort zuspielen für eine inhaltlich von der vorausgehenden völlig versmiedene neue Zeile».11I Aum in dieser Gattung stoßen wir auf Philippe de Remi, der ihre Form durch Reimakrobatik erschwerte; sie scheint mit dem sog. Dit des traT1erces (1303) erloschen zu sein. Sie kehrt aber anderthalb Jahrhunderte später wieder, in der Sottie des menus propos (1461), die das Sprachspiel der ReSt1eries auf die Figur des Narren zugeschnitten und mit der Vorstellung der närrischen Welt verbunden wieder aktualisiert hat. aG Das Sprunghafte dieses Prozesses, in den auch noch die spätere Form des Coq-a-l' gne einzubeziehen wäre, die ständigen erschwerenden oder vereinfachenden Variationen, die Differenzierung durch neue Spielregeln, die Umsetzung der Struktur in die Darbietungsform
11
0880, 14. Die Charakteristik des fatras als (Glosse> stammt von P. LE GENTll., cf. KELLERMANN 0880,4. KELLEJlMANN 0882.
11
Ib., 1335-36.
11 KELLERMANN t7
.. Garn 0866, 37 sqq.
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Theorie der Gattungen "nd Literatur des Mittelalters
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einer anderen (hier der dramatischen) Gattung - all dies charakterisiert das geschichtliche Leben literarischer Gattungen und widerlegt zugleich das organologische Schema, da in dieser nicht teleologischen Kontinuität zweifellos nicht edas Resultat am Ende ... zum Zweck des Anfangs gemacht» werden kann. 31
s. Das Beispiel der Unsinnspoesie zeigte indes erst den
literaturimmanenten Prozeß einer Gattung, nicht aber die - hier schwer feststellbaren - geschichtlichen oder lebens· weltlichen Situationen, die diesen Prozeß in der Interaktion von Autor und Gesellschaft, Publikumserwartung und literarischem Ereignis bedingt haben könnten. Nach solchen Verflechtungen zu fragen ist unerläßlich, wenn mit der Historisierung der Gattungspoetik und der Verzeitlichung des Formbegriffs Ernst gemacht werden soll. Das methodische Postulat, daß die Neuprägung oder das Ende literarischer Formen, ja letztlich jede gattungsgeschichtliche Wendung eine Entsprechung in der gesellschaftsgeschichtlichen Situation oder zumindest einen aus ihr kommenden Anstoß haben müsse, wird von der marxistischen Theorie wie von der Literatursoziologie längst nicht mehr mit der Naivität der klassischen Widerspiegelungstheorie aufrechterhalten. 32 Auch diese Methoden anerkennen heute, daß die Gattungen «gewissermaßen einen Apriorismus der literarischen Wirklichkeit darstellen». as Sie suchen die Interdependenz von Unterbau der Gesellschaft und überbau der Literatur vor allem dort, wo Veränderung der ökonomischen und politisch-gesellschaftlichen Grundverhältnisse eden Charakter eines geschichtlichen Umbruchs tragen», sich in Strukturelemente der Kunst verwandeln und dann die «traditionell verfestigten Formen, Stile und WertbegriHe der literatur (durchbrechen)>>. 34 Sie sehen andererseits, wie literarische Gattungen nach dem Moment ihrer gesellschaftlichen Prägung cein Eigenleben und eine Autonomie erlangen, die über ihre geschichtliche Schicksalsstunde hinausgreift».85 Sie sprechen von einem «oft anachronistischen überleben» und vom historischen Ende der literarischen Gattungen, 811 neuerdings sogar - unter dem Einfluß der Brecht'schen Ästhetik - von der Möglichkeit, schon vergangene Gattungen und Kunstmittel unabhängig von ihrer ursprünglichen gesellschaftlichen Bestimmtheit und einer neuen ästhetischen und sozialen Funktion dienstbar zu machE'n. 87
DROYSEN, Historik (cf. n. 12), 209. sr Dazu W. KRAUSS, Studien zur deutschen und französischen Aufklärung. Berlin, 1963, 73-74: "Der Versum, den gesamten Verlauf einer literarischen Epoche durch den fortwährenden EinfluU der ökonomischen Grundverhältnisse zu erklären, würde nimt nur den Sinn der Literaturgesmimte in Frage stellen, sondern überhaupt die Existenz der Literatur als eines innerlich zusammenhängenden Schöpfungsbereiches zunichte machen. Die literatur wäre nur nom eine unorganische Folge von bloUen Reflexen. Die vulgärmaterialistische Auflösung der literatur in Soziologie muU ebenso wie die idealistische Souveränitätserklärung der geistigen Schöpfung das wirkliche Wesen der literarischen Phänomene verfehlen.» aa Kuuss °792, 13. u KÖHlU °790, 86. 11 KIlAuss °792, 9 . .. Kuuss °792, 8-9 . • 7 W. MrITENzWD, Die Brecht-lukacs-Debaue, Das Argument, März 1968, 12-43; ferner K. KosaK, Die Dialektik des Konkreten. Frankfurt, 1967; cf. SntJEDTU °816, p. lXXVIII. 11
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Aus dieser Forsdtungsriduung sei hier die letzte Arbeit von E. Köhler zur Gattungsgesmimte der Pastourelle als Beispiel gebramt. 18 Der Ausgangspunkt ist eine einschneidende Richtungsänderung der Gattung. Der Trobador Gavaudan setzt sich in seinen beiden Pastourellen bewußt (seine Hirtin stellt die Summe der Erfahrungen aller ihrer Vorgängerinnen vor) über die konstitutive Gattungsregel: den unaufhebbaren Wesensunterschied zwismen cnobilitas) und crusticitas) hinweg. In dieser Begegnung von Ritter und Hirtin wird hohe und niedere Minne vermittelt und versöhnt, wobei Gauvaudan auf versmüttete Elemente der Bukolik, auf die Vorstellung eines irdismen Paradieses vor dem Sündenfall zurückgreift. Sieht man in der Pastourelle mit E. Köhler mehr als ein Spiel mit Iiterarismen Rollen, so verbergen sim in der utopismen Lösung Gavaudans ungelöste Widersprüme der gesellschaftlimen Wirklichkeit. Gavaudans Lehrer Marcabru hatte die SeibstverständJimkeit in Frage gezogen, mit der sim die aufsteigende Klasse des niederen Rittertums im Medium der Pastourelle von ihrem Ursprung distanzierte. Gavaudan versumte, die Kluft zwisdten Rittertum und Volk durm das neue Thema der Freundsmaft (amistat) zwischen Ritter und Hirtin zu überbrücken. Der Preis war eine Erhöhung des Illusionären, so daß Gavaudans Utopie der Versöhnung smon den Grenzfall der Pastourelle darstellt, der die Selbstaufhebung der Gattung vorwegnahm. 6. Ein zweites Beispiel der Iiteratursoziologismen Forschung kann die jetzt noch zu behandelnde Kategorie von Strukturänderungen einleiten, die zur Abspaltung einer neuen Gattung führen. Die Existenz der Sirventes-Kanzone, einer durm neunundvierzig Stücke und ihre von Folquet de Romans geprägte Bezeimnung historisch gesimerte Gattung, war Wolge ihres cMismmarakters) eines der ältesten Ärgernisse der Provenzalistik. Denn die chanso-siroentes verknüpft das Thema der Liebe mit dem der Politik. Sie stellt mit dieser Doppelthematik indes - wie E. Köhler zeigte - die ursprünglime Einheit von Frauenlob und Herrendienst wieder her, die in der Gattung vers der ältesten Trobadordichtung thematisch noch ungesmieden waren, dann aber in dir damit neu entstehenden Gattungen der chan so und des siroentes auseinandertraten. Das historisme System dieser Lyrik zeigt somit erst den Fall, wie durch eine Strukturänderung (Trennung von Minne- und moralsatirismer Thematik) zwei neue, creinere) Gattungen entstanden, und dann den zweiten Fall, wie aus dem Bedürfnis, die in den vereinseitigtcn Strukturen der beiden Gattungen verlorene Einheit wieder bewußt zu machen, das antithetisme Strukturgesetz einer selbständigen Gattung entsprang... Die Form einer neuen Gattung kann auch aus Strukturvcränderungen hervorgehen, die bewirken, daß eine Gruppe schon vorhandener, einfacher Gattungen in ein höheres Organisationsprinzip einrückt. Der klassische Fall dafür ist die von Boccaccio geprägte Form der toskanischen novella, die für die ganze spätere Entwicklung der modemen Gattung Novelle normgebend wurde. In Boccaccios Decameron ist • KöH1.EJt °888,67-82 . .. KöH1.EJt °890,172: cWährend die Kanzone im joi d'amor von liebesglück und Uebesleid jubelnd oder aum klagend das Ideal der individuellen Erfüllung preist, das Sirventes hingegen alles brandmarkt, was sim diesem Ideal widersetzt, es ist da. Strukturgesetz der Sirventes-Kanzone, jenes Ideal zu behaupten durch die Darstellung von möglimen Erfüllungen und tatsiimlimen Hindernissen.•
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- genetisch betrachtet - eine erstaunliche Mannigfaltigkeit älterer erzählender oder belehrender Gattungen eingegangen: mittelalterlichen Formen wie Exemplum, Fabliau. legende, Mirakel, Lai, Vida, Nova, Liebeskasuistik, orientalische Erzählliteratur, Apuleius und die milesische Liebesgeschichte, Florentiner Lokalgeschichten und Anekdoten. Boccaccio hat - wie H.-J. Neuschäfer zeigte·' - die vorgefundene thematische und formale Vielfalt in die unverwechselbare Struktur einer neuen Gattung umgesetzt, durch eine feststellbare Transformation, deren Regeln sich formal als Verzeitlichung der Handlungsschemata,. inhaltlich als Problematisierung der moralischen Normen bestimmen lassen. Der Schritt von den älteren erzählenden und lehrhaften Formen zu der sie integrierenden neuen Gattungsstruktur der Novelle kann durch Oppositionen wie: Einpoligkeit oder Doppelpoligkeit der Personen, Handlung als typischer oder als einmaliger Fall, Endgültigkeit oder Ambivalenz moralischer Normen, transzendente Fügung oder menschliche Selbstbehauptung, beschrieben werden. Gattungsbestimmungen der späteren Novellentheorie wie etwa die der (unerhönen Begebenheit) oder der Lösung eines moralischen Kasus, die für sich allein nicht hinreichen würden, die Gattung zu charakterisieren, erlangen im Zusammenhang der von Boccaccio geprägten Struktur ihre spezifische Bedeutung. Das heißt natürlich nicht, daß sich alle Elemente dieser Gattungsstruktur von nun an auch in allen späteren Novellen finden müßten. Die Nachfolger Boccaccios setzen eine initiale Struktur nicht einfach wiederholend fon: cVielmehr kann man don einerseits einen gewissen Rüdcgriff auf die durch Boccaccio keineswegs ein für allemal (überwundenen) exemplarischen und schwankhaften Erzählformen des Mittelalters feststellen, andererseits aber auch ... neue und eigenständige Erzählweisen entdedcen.lt CI In ihrer historischen Erscheinung akzentuien die Novelle in bald vereinfachenden (z. B. im schwankhaften conte), bald komplizierenden Varianten (z. B. in der mehrfachen Kasuistik bei Mme de La Fayette) die verschiedenen Formen, die ihre Polygenese einbegriff. Wenn die Novellentheorien einzelner Autoren zu eng oder zu panieIl sind, um sich mit dem vielgestaltigen Prozeß dieser fonschreitenden Systementfaltung und Systemkorrektur der Gattung zu dedcen, darf aus der Diskrepanz von poetischer Theorie und literarischer Produktion nicht einfach gefolgen werden, daß es eine gattungstypische Form der Novelle eben nicht gäbe. CI Vielmehr gehön die nie vollständig erreichbare Kongruenz zwischen Theorie und Praxis, genauer gesagt: zwischen expliziter Theorie, immanenter Poetik und literarischer Produktion selbst wieder zu den Faktoren, die den Prozeß der historischen Erscheinung einer literarischen Gattung bedingen. Darum kann eine kanonische oder für eine gewisse Zeit kanonisierte Theorie nicht unmittelbar als gattungshafte Norm der Reihe praktisch verwirklichter Werke gegenübergestellt werden. Zwischen normsetzender Theorie und literarischer Reihe vermittelt vielmehr die immanente, die Struktur des einzelnen Werkes bestimmende und an ihm abzulesende Poetik. Und in Fällen, wo eine theoretische Norm allgemeinverbindliche Geltung beansprucht wie z. B. die aristotelische Poetik für die nadunittelalterliche Literatur, kann der Widerstreit zwischen autoritativer Gattungs.0 NruSCHÄrEK 41
1I
Ib.,8. So W.
0914.
PABST,
Novellentheorie und Novellendidltung. Heidelberg, 11967.
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norm und immanenter Poetik geradezu das Movens werden, das den gattungsgesmimtlimen Prozeß im Gang hält. Da sim die volkssprachlimen Gattungen der mittelalterlimen Literatur nimt aus einem vorgegebenen Kanon und im Widerstreit mit ihm entwickelt haben, kann ihr System nur aus der immanenten Poetik abgelesen und an der Konstanz oder Variabilität einzelner Strukturelemente in der gattungsbildenden Kontinuität verifiziert werden. Dieses Verfahren setzt notwendig den hermeneutischen Zirkel, nimt aber den organologismen Zirkel der Vollkommenheit voraus. Wo es keine zuvor gesetzte und besmriebene Gattungsnorm gibt, muß die Feststellung einer gattungshahen Struktur aus der Ansmauung einzelner Texte, im immer neuen Vorgriff auf ein erwartbares Ganzes oder regulatives System der Textreihe gewonnen werden. Dieser Vorgriff benötigt kein Telos der Vollkommenheit. Er setzt ein ästhetismes Prinzip, das den Spielregeln Sinn verleiht, nimt ihr Vollkommensein voraus. Die prozeßhahe Ersdteinung einer Gattung in der Zeit hat - wie smon K. Vietor hervorhob - egar kein Ziel; sie will nimt in einer Vollendung zur Ruhe kommen, sondern in immer neuer Verwirklimung da sein. Es gibt nur ein gesmimtlimes Ende einer Gattungsgesmimte, wie es bei ihr einen Anfang in der Zeit gibt». Da das Gattunghahe einer Tradition nimt an sim selbst smon den ästhetismen Wert ihrer Texte zu begründen vermag, ist die Vorstellung, die Vollkommenheit eines Werkes sei gleimbleibend mit der Reinheit, in der es den Typus einer Gattung erfülle, eine spezifism klassizistisme Erwanung. In der mittelalterlimen Literatur hingegen zeigt es sim gerade an Gipfelwerken wie z. B. der Chanson de Roland, den Romanen Chretiens, den ersten Renart-Branchen, der Minneallegorie des Guillaume de Lorris, der Di'Oina Commedia, daß sie die Konventionen ihrer Gattung weit überragen. Weder haben sim hier die vorangegangenen Texte der Gattung mit vorhersehbarer Notwendigkeit auf ihre vollkommenste Ausprägung hin entwickelt, noch haben die Gipfelwerke ein Muster der Gattung abgegeben, dessen Reproduktion allein smon den später Gekommenen Erfolg verbürgt hätte. Folgt man dem Grundsatz der Historisierung des Formbegriffs und sieht man die Gesmimte literarischer Gattungen als einen zeitlimen Prozeß fortgesetzter Horizontstiftung und Horizontveränderung, so kann für die Metaphorik der Entwicklungs-, Reife- und Verfallsabläufe die teleologiefreie Begrifflimkeit des Durc:bspielens einer begrenzten Zahl von Möglimkeiten eintreten. U In dieser Begrifflimkeit ist ein Gipfelwerk durm eine so unerwartete wie bereimemde Horizontveränderung der Gattung, deren Vorgesmimte durm ein Versumen und Erproben von Möglichkeiten, ihre Annäherung an ein gesdtimtlimes Ende durm formales Erstarren, durc:b Automatisierung oder durch ein Aufgeben oder Mißverstehen von Spielregeln bestimmbar, wie es sich häufig bei den letzten Epigonen findet. 45 Gattungsgeschimte in dieser Perspektive setzt aber aum Reflexion auf das voraus, was erst dem rückblickenden Betrachter sichtbar werden kann: die Anfänglichkeit der Anfänge und das Definitive eines Endes, die
4.
d VIErOR °826, 304 . .. Cf. KUHN °796, 46, 56 sq., 61. ,. Zum letzteren Aspekt kann ich auf meine Arbeiten zu den Renart-Epigonen hinweisen, d. °872, cap. V. ferner CN 21 (1961) 214-219 und Mel. Delbouille, 1964, 11, 291-312.
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normstiftende oder normdurchbrechende Rolle einzelner Exemplare und schließlich die historische wie ästhetische Bedeutung der Gipfelwerke, die sich mit ihrer Wirkungsgeschichte und späteren Interpretation wandeln und damit auch den erzähl baren Zusammenhang der Geschichte ihrer Gattung anders beleuchten kann. Denn auch literarische Gattungen stehen in der Dimension ihrer Rezeption unter der Dialektik von Nachgeschichte und Vorgeschichte, insofern - nach Walter Benjamin - kraft ihrer Nachgeschichte cauch ihre Vorgeschichte als in ständigem Wandel begriffen erkennbar wird».·' 7. Die Theorie der literarischen Gattungen kann nicht bei den Strukturen in sich abgeschlossener Gattungsgeschichten innehalten, sondern muß auch die Möglichkeit einer historischen Systematik bedenken. Wenn seit Jahrzehnten kein Versuch unternommen wurde, die literarischen Gattungen eiDer Epoche insgesamt in ein System der gleichzeitigen Erscheinungen einzubringen, mag dies auch daran liegen, daß die normative Gattungslehre tief in Mißkredit gefallen und mit ihr jede Systematik als spekulativ verschrien worden ist. Die Einsicht, daß die moderne Gattungstheorie nur deskriptiv und nicht definitorisch verfahren kann, schließt indes keineswegs aus, daß man auf dem Wege synchronischer Beschreibung und historischer Untersuchung wenn nicht zu einem gattungsbedingten Kommunikationssystem, so doch zu einer historischen Folge solcher Systeme gelangen kann. Auch die Literatur des Mittelalters ist keine willkürliche Summe, sondern eine latente Ordnung oder Folge von Ordnungen literarischer Gattungen. Auf diese Ordnung weisen immerhin einige Zeugnisse mittelalterlicher Autoren und die in dieser Hinsicht noch nicht ausgewertete Auswahl und Anordnung von Texten und Gattungen in Sammelhandschriften. Auch könnte die lateinische Poetik, obschon sie zumeist nur weitertradiertes Lehrgut enthielt und für die volkssprachliche Literatur nicht normgebend war, mit ihren rhetorischen Kategorien und Stilklassifikationen doch wohl heuristisch für eine Feststellung und Abgrenzung von Gattungsmerkmalen herangezogen werden. Aus der überlieferung der antiken Rhetorik und Dichtungslehre standen im Mittelalter hauptsächlich vier Einteilungsschemata zu Gebote, die als Arten der Rede (genus demonstratiT1um, deliberatiT1um, iudicialis), der Stillage (genera dicendi: h,,mile, medium, sublime), der Darbietungsform (genus dramaticum, narratiT1um, mixturn) und schließlich der Gegenstände (tres status hominum: pastor otiosus, agricola, miles dominans) in verschiedenem Maße der Gattungserklärung dienen konnten. 47 Die Lehre von den drei Arten der Rede und ihren je zwei Unterarten ist in den rhetorischen Lehrbüchern offenbar nicht zu einem Einteilungssystem entsprechender literarischer Gattungen ausgebaut worden; ob sie für die zuerst in Italien einsetzende oratorische Literatur etwas hergibt, bleibt zu untersuchen. Die drei genera dicendi wurden in antiker Tradition vornehmlich nach formalen Elementen der Stillage (Wortwahl, Metrum, Bilder, Ornatus) unterschieden. Hier gelangte die mittelalterliche Rezeption einen Schritt über die antike Theorie hinaus. Autoren des XII. und XIII Jhs führen den Begriff des <Stils) ein «sunt igitur tres styli: humilis, mediocris, grandiloqus», Eduard Fums, der Sammler und Historiker, in: Angelus Novus, Frankfurt, 1966, 303. n BemENs °756, FAUL °772, DE BaumE °760, besonders 11 42.
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den sie nun nicht mehr allein nach den Mitteln der Darstellung, sondern auch nach ihrem Gegenstand (d. h. dem sozialen Rang der dargestellten Personen und der Dinge ihrer Umwelt) definieren. 48 Muster war die auf Servius und Donat zurückgehende Deutung der Werke Vergils, der in Bucolica, Georgica und Aeneis drei Stufen der menschlichen Gesellschaft (Hirten, Ackerbauer, Krieger) in der gemäßen, d. h. ebenso gestuften Stilart dargestellt habe. Gewiß ist im Mittelalter von den virgilischen Gattungen nur die Bukolik, nicht aber die Georgik gepflegt und auch die Aeneis nirgends mit der Chanson de geste identifiziert worden. 411 Doch hat das von Johannes de Garlandia ausgeführte Klassifikationsprinzip nach dem sozialen Rang der Personen zumindest in den streng ständischen Spielregeln des altfranzösischen Epos und Romans seine Entsprechung, wenn man von der fehlenden Stufung in Stilarten absieht. Die Theorie der drei Darbietungsformen ist nach dem System des Grammatikers Diomedes (narrativum wenn der Dichter selbst spricht, dramaticum wenn die Personen allein sprechen, mixtum wenn Dichter und Personen abwechselnd das Won ergreifen) über Beda und Isidor im Mittelalter zu besonderer Wirkung gelangt. Die vom äußerlichsten formalen Merkmal ausgehende diomedische Dreiteilung hat mehr Verwirrung über die Funktion der antiken Gattungen angerichtet (z. B. über die des antiken Theaters, so daß die Struktur aufführbarer Stücke neu gesucht und entwickelt werden mußte) als tragfähige neue Unterscheidungen begründet. llo Ordnung hat in diese überlieferung Johannes de Garlandia hineingebracht. Seine Poetria, eine Synthese der Artes dictaminis und der Artes poeticae, fügt die diomedische Dreiteilung in eine neue Summa der literarischen Gattungen ein, die systematisch nach vier Gesichtspunkten gegliedert ist: 1. nach der sprachlichen Form (prosa und metrum, die erstere in vier Gattungen gegliedert: die technographische oder wissenschaftliche, die historische, die epistolarische, die rhythmische und in Musik gebrachte), 2. nach der Darbietungsform (quicumque loquitur: die diomedische Dreiteilung), 3. nach dem Realitätsgrad der Erzählung (drei species narrationis: res gesta oder historia, res ficta oder 'abula, res ficta quae tarnen fieri potuit oder argumentum), 4. nach den in der Dichtung ausgedrückten Gefühlen (de differentia carminum, eine Viergliederung, die eine von Diomedes und dem Tractatus coislinianus erwähnte Unterscheidung der genera tragica, comica, satyrica, mimica ausbaut).lu Daß das Gattungssystem der Poetria von Johannes de Garlandia nicht rein deduktiv entstanden ist, sondern mit seinem Reichtum an inhaltsbezogenen Bestimmungen vielleicht einen in der Realität des XIII. Jhs erreichten Stand der literarischen Gattungen zu ordnen suchte, ist eine Hypothese, für die wenigstens zwei Argumente zu sprechen scheinen. A. Adler hat nachgewiesen, daß das historicum (d. h. die satirische Gattung der vierten Rubrik) in der von Johannes gegebenen Definition recht gen au den Umkreis und die Funktion der literarischen Formen des XIII. Jhs umschreibt, die man als Anfänge der poli48
.. 10 1I
Nadt FAUL °772, 82: cCe qui pour les premiers critiques, etait affaire de style, est devenu pour I'ecole du XIIc et XIIIe siede, affaire de dignite soeiale. C'est la qualite des personnes, et non plus celle de 1'.Hocution, qui foumit le principe de la classification», und OE BauYNE °760, 11 41 sqq . KRAUSS, °792, 15. Curtiu" Exkurs V: Spätantike Literaturwissensdtaft. OE BRUYNE °760, 11 18 sqq.
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tischen Satire qualifizieren kann. Und die sowohl thematische wie stilistische Unterscheidung von Tragödie (carmen quod incipit a gaudio et terminat in luctu) und Komödie (carmen iocosum incipiens a tristitia et terminans in gaudium) kehrt in der Gattungstheorie von Dantes Brief an Can Grande wieder und entspricht der Struktur wie auch dem (späteren) Titel der Divina Commedia. 62 Zeugnisse volks sprachlicher Autoren, die synchronische Beziehungen oder partielle Systeme literarischer Gattungen sichtbar machen, sind bisher noch nicht eigens gesammelt worden. 61 Eines der eindrucksvollsten Beispiele bietet der Prolog der ältesten Branchen des Roman de Renart : Seigneurs, oi avez maint conte Que maint conterre vous raconte, Conment Paris ravi EIaine, Le mal qu'ü en ot et la paine: Oe Tristan dont la Chievre fist, Qui assez bellement en dist Et fabliaus et chancon de geste Maint autre conte par la terre. Mais onques n'oistes la guerre, Qui tant Eu dure de grant Ein, Entre Renart et Ysengrin.
(Br. II 1-11)
Der Jongleur, der seinen Gegenstand als eine Novität anpreist, hebt ihn von einer Reihe wohlbekannter Einzelwerke und Gattungen ab: Troja (antiker Roman), Tristan (bretonischer Roman), Fabliau, Chanson de geste, dazu eine nicht identifizierte Tierdichtung (vielleicht eine volkssprachliche Version des Ysengrimus?). Diese Liste der um 1176/77 modischen Werke macht insofern ein literarisches System faßbar, als die aufgeführten Gattungen nicht nur zufällig gewählt sind, sondern den spezifischen Erwartungshorizont bilden, vor dem sich der neue, zur Heldendichtung höfischen Liebesauffassung gegenläufige, oft auch parodistische conte vom Anfang der Feindschaft zwischen Fuchs und Wolf abspielen muß.54 - Gegen Ende des XII. Jhs beginnt Jean Bodel seine Saisnes mit der Feststellung, daß es für den Kenner nur drei große epische Gattungen gäbe, die er nach den Stoffen (materes) benennt und sodann nach dem Realitätsgrad einstuft, wobei die Gattung seines eigenen Werkes offensichtlich an die Spitze rückt: u Li conte de Bretaigne sont si vain et plaisant. Cil de Rome sont sage et de sens aprendant. Cil de France sont voir chascun jour aparant. (vv. 9-11)
In dieser Skala entsprechen Chanson de geste und bretonischer Roman der Opposition von res gesta und res ficta (hier mit dem Zusatz: <wunderbar und ergötzlich»), Curtius, cap. 17, § 3: Die Commedia und die literarischen Gattungen. Für diesen Beitrag konnten die Ergebnisse der erst nach Band I erscheinenden Gattungsmonographien des GRLMA noch nicht ausgewertet werden. Die Bedeutung der überlieferten Jongleur-Repertoires (p. ex. das von Guiraut de Cabreira, d. LEJrom °898) und der Gattungsgruppierungen in den Sammelhandschrihen für eine historische Systematik der literarischen Gattungen bedürfte einer umfassenden Untersuchung. " Cf. JAUSS °872, cap. IV A. 11 Zur Interpretation dieses Prologs cf. R. GUIETTE, R 78 (1967) 1-12. 11
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die uns in den species narrationis bei Johannes de Garlandia begegnete; für das (wahrscheinlime) argumentum könnte der dehrreime) antike Roman eintreten. Für die Lyrik sei hier Dantes De vulgari eloquentia erwähnt, dessen zweiter Teil eine auf vulgärspradtlime Dimtung bezogene Poetik ist und als Gattungen der Lyrik den modus der Canzone, der Ballata, des Sonetts und anderer iIIegiptimos et irregulares modos erwähnt (11, 3). Dabei fühn Dante als Themen, die des hohen Stils würdig seien, das öffentlime Wohl (5alus), die Liebe (Venus) und die Ethik (Virtus) ein. Dom diese Ordnung entspringt nimt primär einer Gattungseinteilung, sondern selbst wieder einer Poetik der Stilarten. Denn solme Themen «werden nimt als Ursamen des hohen Stils angesehen, sondern als Mittel seiner Verwirklimung»." Das sprimt aber nimt gegen die Existenz gattungshafter Strukturen. Die von den Provenzalen gesmaffenen neuen Gattungen der Lyrik in romanischer Volkssprame haben sim gewiß nimt isoliert voneinander, sondern in wemselseitiger Abhängigkeit und Funktionsaufteilung entwickelt. Solme Aufteilungen und Umbesetzungen innerhalb eines lyrismen Systems lassen sim erfassen, wenn erst die Geschimte aller festgestellten Gattungen gesmrieben und im Zusammenhang mit den späteren Poetiken: der Razos de trobar von Rainton Vidal, der gleimfalls zu Beginn des XIII. Jhs in Toulouse entstandenen Leys d'amor, der Dreita manera de trobar des 1387 in Barcelona gegründeten Consistorio dei gay saver, dem auf den Kanon von Toulouse zurückgehenden Traktat L' art de dictier et de fere chan~ons von Eustache Desmamps und dem spanischen Art de trovar von Enrique de Villena untersumt ist. Daraus sei hier nodt die älteste Bestandsaufnahme der provenzalischen Poesie angeführt, die Guilhem Molinier zwismen 1328 und 1355 in seine Leys d'amors eingebramt hat. Er unterscheidet zwischen zehn Hauptgattungen und siebzehn Nebengattungen. Zu den ersteren gehören: canso, sirventes, dansa, descort, ttnso, partimen, pastorcla, retroncha, planlz, escondig. Von den letzteren dienten einige zur Begleitung von Tänzen; von einigen anderen sind noch keine Beispiele bekannt, so daß die Identifikation auf Smwierigkeiten stößt. 57 Dieses System der lyrismen Hauptgattungen wurde um die Wende vom XIII. zum XIV. Jh. abgelöst von dem neuen System der sogenannten
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H. FIlIEDRICH, Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt, 1964, 90. JEANIlOY 0874; neue Bestimmungen des escondig (Rec:htfertigungslied) und des comiat (Abschiedslied) bringt ehr. FEY, Bild und Funktion der dompna in der Lyrik der Trob.don. These Heidelberg, 1971. POIIlION 0922,313-16.
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wird, während vom erzählenden Dit aus eine freiere Entwicklung zu jenem moderneren Typus subjektiver Poesie einsetzt, den vor allem das Werk Villons repräsentieren wird. 8. Die Frage nam der Realität der literarismen Gattungen im gesdtimtlimen Alltag oder nam ihrer gesellsmaftlimen Funktion ist von der mediaevistischen Forsmung nimt allein aus Mangel an Dokumenten vernadtlässigt worden. Die humanistisme Obersmätzung der gesmriebenen und gedruckten überlieferung, eine platonisierende Ästhetik, der zufolge vergangene Dimtung für uns im Buch jederzeit , die epische Technik und mündliche Verbreitung der altfranzösischen Epik bezogene Forderung: cLa manson de geste, diffusee dans ces conditions, doit avoir ete composee pour ces conditions»,81 ist auch für die meisten anderen Gattungen der volksspradtlichen Literatur zu erheben, bei denen das Problem der Wirkungs bedingungen und der gesellschaftlichen Funktion noch offen steht. Für diese Forschungsaufgabe kann sim die romanisme Philologie bei einer Disziplin Rat holen, die seit mehr als fünfzig Jahren dafür Methoden ausgebildet und an einem für die Literatur des Mittelalters ohnedies exemplarischen Stoff erprobt hat: die theologische Forschung zur literarischen Kritik der Bibel. In derselben Zeit, während der die romanische Philologie im Banne der werkimmanenten Methoden stand und Croces Ämtung der literarismen Gattungen kaum widersprochen wurde, blühte in der Theologie eine Forschungsrimtung auf, die sich ein philologisches Prinzip zu eigen machte: daß nämlim «die Literatur, in der sich das Leben einer Gemeinschah, also auch der urmristlimen Gemeinde abspielt, aus ganz bestimmten Lebensäußerungen und Bedürfnissen dieser Gemeinschah entspringt, die einen bestimmten Stil, bestimmte Formen und Gattungen hervortreiben».12. Literarische Formen und Gattungen sind darum weder subjektive Schöpfungen der Dichter nom bloß nachträgliche Ordnungsbegriffe, sondern primär soziale, d. h. auf lebensweltlichen Funktionen beruhende Erscheinungen. Die Bibel ist auch ein literarisches Monument, das vom Leben einer Gemeinsmah Zeugnis ablegt; sie kann nicht länger als «genus illud singulare, transcendens, nullam cum allis comparationem ferens, quod est ipsa Scriptura sacru dem historismen Verstehen entrückt bleiben. 13 Das Verstehen der Bibel ist demnam ohne eine üterarism-kritisme ForZur Kritik dieser Prämisse der Traditionsforschung von E. R. CUllTIUs (°768, cap. 1) cf. W. BU1.ST, Bedenken eines Philologen, in: Medium Aevum Vivum, ~d. H. R. JAUSS und W. ScHAlLER, Heidelberg, 1960, 7-10 und JAUSS °784, 26 sqq . .. RVCHNER °926; cf. la tedmique litteraire des Chansons de geste,Actes duColloque de U~ge (sept. 1957), ed M. DrulOUIL1.E, Paris, 1959 (BFUL, CL); ferner den Bericht des Congres de Poitiers Quillet 1959) der Societe Rencesvals in: BBSR 2 (1960) 59-122. I. R'rCHNEa °926, 48. Ja BULTMANN °762, 4 . .. Cf. °762, p. vii. 11
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schung nicht mehr denkbar, die die Umwelt und deren Sprachen, die Persönlichkeit des Verfassers und die bei den ursprünglichen Adressaten der Bücher bekannten literarischen Gattungen in Rechnung stellt." Diese literarisch-kritische Forschung ist von der sogenannten (Gunkel)>> vorausgehen.- Unter dem <Sitz im Leben) werden eine typische Situation oder Verhaltensweise im Leben einer Gemeinschah wie z. B. das Opferfest an heiliger Stätte für die literarische Form des Hymnus, aber auch auß&kultische Situationen der Arbeit, der Jagd, des Krieges verstanden, von denen aus die vorausliegenden Motive erst faßbar werden, die für Form und Absicht einer Gattung konstitutiv waren. Der Aufweis der Motive, die zur Formgebung geführt haben, ermöglicht die synchronische Bestimmung und Abgrenzung einer literarischen Form; ihr Gattungscharakter im vollen Sinn kann indes erst an ihrer Geschichte gewonnen werden. Denn enur die Geschichte einer Gattung beweist, ob die Gestalt eines Literaturwerks nicht ein Zufallsprodukt ist, sondern eine entwicklun,sEähige Form, die Eigenleben hah.·· Als beispielhah für die daraus entwickelte formgeschichtliche Methode, zunächst den c Ursprung und die Zugehörigkeit einer bestimmten literarischen Gattung in und zu typischen Situationen und Verhaltungen einer Gemeinschah» zu bestimmen und sodann die Entstehung, Ver-
M
ROBEKT
et FEUJLLET °806, 150.
.. Ib.150. et FEUILLET °806; Los g~neros litterarios de la sagrada escritura °776; ferner ist noch hinzuweisen auf A. Laos, Historire de la litt~rature h~braique et juive, Paris, 1950; A. BENIZEN, Introduction to the Old Testament, Kopenhagen, 1J952; H. C. DODD, The apostolic preaching and its developments, '1957; KOCH °788. ROBEJlT et FEUILLET °806, 123. KUHl und BoRNKAMP °794, 998 . BUL11dANN °762, 400.
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änderung und übergänge der so konstituierten Form in ihrer Geschichte als literarischer Gattung zu verfolgen, sei hier die Darstellung der Apophthegmata durch R. Bultmann angeführt. 70 9. Die ist für die romanische Philologie des Mittelalters aber auch noch unter einem inhaltlichen Gesichtspunkt von erheblicher Bedeutung. Bei der Frage nach den Ursprüngen der romanischen Literatur wurde in den letzten Jahrzehnten vornehmlich auf das Vorbild des klassischen Altertums, seiner Rhetorik und literarischen Topik und seiner Musterautoren geblickt. Aus dieser Tradition sind die neuen literarischen Gattungen in romanischer Volkssprache indes keineswegs in geradliniger Entwicklung oder unmittelbarer vor Augen, so kann man sich nur wundem, warum die mediaevistische Forschung noch keinen systematischen Versuch unternommen hat, das mögliche Vorbild der in der Bibel vorgegebenen literarischen Gattungen für die mittelalterliche Literatur zu untersuchen. Die Fülle der im Alten und Neuen Testament feststellbaren literarischen Formen und Gattungen ist erstaunlich und fordert zur Entdeckung von romanischen Parallelen geradezu heraus. Die Bibel kennt weltliche Lyrik (Arbeits-, Spott-, Trink-, Grab-, Kriegslieder), wie auch geistliche Lyrik (z. B. den Hymnus oder das Klagelied). Sie hat die verschiedensten Formen erzählender Prosa entwickelt: aetiologische, historijD
Ib., 40/41.
11 AUDBACH 0
752, 32.
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sche und auch Heldensagen (Sagenkranz um Simson) ; Märtyrerlegende, Novelle (Königsnovelle, aber auch das Buch Ruth). Sie enthält Muster von verschiedenen Formen der Historiographie (Stammessage, Genealogie, Königschronik), der historischen Prosa (Urkunden, Briefe, Verträge, Kriegsberichte) und der Biographie (Selbstberichte der Propheten). In ihr finden sich alle erdenklichen Formen der Weisheitsliteratur (Spruch, Rätsel, Parabel, Fabel, Streitgespräch, Allegorie) und der religiösen Unterweisung (Predigt, Mahnrede, Epistel). Die Methode der formgeschichtlichen Schule rückt schließlich auch die immer noch geläufige Unterscheidung zwischen den Gattungen und <weltlicher> literatur in ein problematisches Licht. Mit dieser Unterscheidung wird ein Literaturverständnis, das erst durch die Emanzipation der Schönen Künste aus ihrer Bindung an kultische und gesellschaftliche Funktionen geschaffen wurde, in eine Epoche übertragen, die zwischen religiösem Leben und literarischer Kultur, den Gehalten des Glaubens und den Formen der Kunst, noch keine Trennung empfand. Im Mittelalter ist alle Literatur noch funktional durch ihren <Sitz im Leben> bestimmt. Was an ihr gattungshaft ist, entspringt solchen unmittelbar verwirklichten, selbstverständlichen und darum zumeist unreflektierten Funktionen, nicht also einem reflektierten Verhältnis zur Form als ästhetischem Mittel, das erst mit dem ausgebildeten Gattungsbewußtsein einer autonom gewordenen Dichtung eintreten kann. 7: Daraus sind - mit M. Waltz - zwei methodische Folgerungen zu ziehen: Gegenstand der Forschung ist hier «nicht die Gattung, wie sie im Bewußtsein der Zeitgenossen bestand, sondern die Funktion der Werke», sodann aber der schon im Mittelalter mit der höfischen Lyrik beginnende Prozeß, in dem mit dem Problematischwerden der Funktion ein reflektiertes Gattungsbewußtsein einsetzt, das sich in der Renaissance zur Autonomie der Dichtung befreit. 73 Die Unterscheidung von und <weltlich>, Funktionsgebupdenheit und , bekommt im Mittelalter erst ihren Sinn, wenn sie als Prozeß einer allmählichen Literarisierung der im Ursprung an kultische, religiöse und gesellschaftliche Funktionen gebundenen Gattungen verstanden wird. Für die Anwendung der form geschichtlichen Methode auf mittelalterliche literatur ist zu Recht gefordert worden, daß es nicht genüge, die Form einer Gattung geradezu aus ihrem <Sitz im Leben> zu erklären. Einmal weil die Gattung ebenso den <Sitz im Leben> formen kann wie dieser die Gattung. Zum andem weil die Funktion einer Gattung nicht allein von ihrer Beziehung, auf einen realen Lebensvorgang, sondern auch von ihrer Stellung in einem «umfassenden, den Zeitgenossen vertrauten
71
7S
Vgl. ButTMANN 0 762,4: cWie der Sitz im Leben nicht ein einzelnes historisches Ereignis, sondern eine typische Situation oder Verhaltensweise im Leben einer Gemeinschaft ist, so ist auch die literarische Gattung bzw. die Form, durch die ein Einzelstück einer Gattung zugeordnet wird, ein soziologischer Begriff, nicht ein ästhetischer, so sehr in einer weiteren Entwicklung solche Formen als ästhetisme Mittel in einer individualisierenden Dichtung verwendet werden können.» WALTZ 0830, 32 und 33, n. 17, zur früh einsetzenden Autonomie der höfischen Dichtung: «Die höfischen Formen präfigurieren auch in anderer Weise die stabileren Gattungen der späteren Zeit: sie leben in einer (wesentlim von ihnen mitgetragenen) Symbolwelt, die von der offiziellen religiösen abgetrennt ist und deren soziokulturelle Funktion weniger unmittelbar faBbar ist.»
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Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters
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symbolischen System» abhängt. 7t Die Frage nam dem <Sitz im Leben> hat für die literarische Gattung sowohl eine synchronisme als aum eine diachronische Dimension: sie implizien ihre Funktion innerhalb der umfassenden Ordnung der symbolischen Ausdrucksformen einer Kultur und zugleim ihre Stellung im geschimtlimen Wandel dieses symbolismen Systems, d. h. für unsere Epoche: im Prozeß der beginnenden Literarisierung und Individualisierung gattungshafter Konventionen. Dieser Prozeß darf nimt als organisme Entwicklung oder als Säkularisation mißverstanden werden. Vielmehr ist damit zu rechnen, daß sich die spätere, profane Geschimte einer ursprünglim an religiöse oder kultische Funktionen gebundenen Gattung nicht immanent und folgerimtig aus ihren ursprünglimen Struktureigenschaften entwickeln muß, sondern durm heterogene Anstöße in Gang gebramt wird, so daß sim der Prozeß der Literarisierung oder Subjektivierung gerade gegen die ursprüngliche Zweckbestimmung der Gattung, d. h. gegen ihre geistlich-erbaulime Konvention vollziehen kann. Obwohl z. B. der Roman de la rose von Guillaume de Lorris die geistlimen Traditionen des bellum intestinum (Psychomachia) und der allegorischen Dichtung in der An des Roman de miserere (von Reclus de Molliens, mit zahlreimen motivischen Analogien) in mancher Hinsimt unter profanen Vorzeimen nur weiterzuentwickeln smeint,75 entspringt die strukturverwandte erste große weltliche Allegorie dom einem gegenläufigen Prozeß. Stand gegen Ende des XII. Jhs die Ablösung der allegorischen Dichtung von der Bibelexegese im Zeichen des Widerspruchs, den die geistlichen Verfasser mit der neuen allegorischen Form (duplex sentcntia) des dit (von veritatem dicere) gegen die nur erfundenen contes und fables der weltlich-höfismen Dichtung verbanden, so nahm nun Guillaume de Lorris diese Herausforderung auf, indem er für die Poesie des amour courtois dieselbe allegorische Wahrheit beanspruchte, die sim die geistlime Tradition der Schriftexegese vorbehalten hatte: «Face au Livre absolu, a la fois le modele et le rival, la poesie, la remerche de son autonomie, s'efforce de tirer elle-meme une parole d'autorite (Amor, par ex.) qu'elle dispute a celle de la Bible.»78 Die im XIII. Jh. einsetzende Allegorisierung der Poesie ist weder eine immanente Gattungsentwicklung noch eine bloße Verweltlimung religiöser Gehalte, sondern die ostentative Inbesitznahme und bewußte Literarisierung eines der geistlichen Tradition eigenen Verfahrens durch Dimter wie Guillaume de Lorris, die eine autonome weltliche Dimtung erstrebten. Ein weiteres Beispiel bietet die Entstehungsgesmimte des geistlidten Spiels. Seine Entwicklung, die ab ovo von der berühmten Interpolation der Ostermesse (Quem quaeritis in sepulchro . ..) im X. Jh. bis zu den monströsen volksspradtlidten Passionsmysterien des XV. Jhs verfolgt werden kann, gilt gemeinhin als das Urbild eines homogenen Prozesses fonsmreitender Säkularisation, in dem der ursprünglim liturgisdte Vorgang durch Szenen von zunehmender Welthaltigkeit mehr und mehr säkularisiert wurde und schließlich zum bloßen Smauspiel ausartete. Demgegenüber hat R. Waming heterogene Impulse in der Gesmimte der Gattung simtbar gemamt,
a
7. 711
7.
Wurz 0830,35. Vid. VI C, 160, 233. R. DRACONETTI, RBPh 43 (1965) 118; vid. VI C, 151.
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die sich nicht auf den Nenner eines Säkularisationsprozesses bringen lassen. 77 Das geistliche Spiel verlagert die sakrale Handlung nicht nur beiläufig extra muros: als <Messe auf dem Marktplatz> bringt es rituelle Formen hervor, die sich von der kirchlichen Doktrin entfernen, ihr letztlich sogar widersprechen. Mimetisches Ins-BildSetzen zog schon dem liturgischen Spiel kirchliche Kritik zu; mit dem Einsetzen der volks sprachlichen Tradition wird der Teufel als dramatisch-dualistischer Widerpart eingeführt, was vor dem Hintergrund der Satisfaktionslehre Anse1ms von Canterbury einer Remythisierung des Inkarnationasdogmas gleichkommt; in der Konsequenz dieser dualistischen Struktur steht schließlich die drastische Ausgestaltung des Kreuzigungsmartyriums, welche die vermeintliche Darstellung der Inkarnation in das theologische Zwielicht eines archaisch-magischen Sündenbodcrituals bringt: ein dem Maße, wie Spiel und Wirklichkeit verschmolzen, wurde in der Bühnenngur Jesu Gott selbst verspottet, bespien, gegeißelt und ans Kreuz geschlagenlt. 78 Die Geschichte der Gattung zeigt im Lichte dieser Deutung hinter der vermeintlichen Säkularisation einen gegenläufigen Prozeß, der dem latenten Protest der dualistisch-paganen Volksfrömmigkeit gegen die monotheistische Dogmatik entsprang und den tendenZiell häretischen Charakter der Spiele erklärt, welcher zu dem Verbot weiterer Aufführungen durch das Pariser Parlamentsedikt von 1548 geführt haben könnte.
10. Der letzte Schritt einer Theorie der literarischen Gattungen kann von der Feststellung ausgehen, daß eine literarische Gattung so wenig wie ein einzelnes Kunstwerk für sich allein existiert. Diese Feststellung ist weniger selbstverständlich als es zunächst scheinen mag, wenn man sich vor Augen hält, wie Gattungen gemeinhin in Literaturgeschichten erscheinen, nämlich als ein Nebeneinander in sich abgeschlossener Gattungsentwicklungen, die zumeist nur durch den äußeren Rahmen einer allgemeinen Charakteristik der Epoche zusammengehalteI} werden. Der Grundsatz einer Historisierung "des Formbegriffs erfordert aber nicht allein, für die einzelne Gattung die substantialistische Vorstellung einer konstanten Zahl unveränderlicher Wesensmerkmale aufzugeben. Er erfordert auch, die korrelate Vorstellung eines Nebeneinanders von in sich abgeschlossenen und gegeneinander abgekapselten literarischen Gattungen abzubauen und nach wechselseitigen Beziehungen zu fragen, die das System der Literatur im gegebenen historischen Augenblick ausmachen. Für die Aufgabe, diachronische und synchronische Interrelationen zwischen den literarischen Gattungen einer Epoche aufzudecken, haben die russischen Formalisten methodische Ansätze gefunden, die auf das Gebiet der mittelalterlichen Literatur anzuwenden sich wohl verlohnte. 78 Die formalistische Auffassung der Gattung als eines historischen Bezugssystems steht im Zusammenhang des Versuchs, die klassische Vorstellung der literarischen Tradition als eines stetigen, unilinearen und kumulativen Ablaufs durch das dynamische Prinzip der literarischen Evolution zu ersetzen, womit gerade nicht ein Analogon zum organischen Wachstum oder zur darwinistischen Selektion gemeint ist.
77
WARNrNG 0938.
r8
Ib., 102.
7. Zusammensefaßt bei [354]
STlUEDTEll
°816, p. LX-LXX.
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Denn <Evolutiom soll hier das Phänomen der literarischen «nicht im Sinne kontinuierlicher <Entwicklung>, sondern im Sinne eines und mit den unmittelbaren Vorgängern bei gleichzeitigem Rückgriff auf Älteres» kennzeichnen.so In der so gesehenen historischen Evolution der Literatur können literarische Gattungen im periodischen Wechsel der dominierenden Rolle wie im rivalisierenden Nebeneinander erfaßt werden. Dem liegt die Vorstellung einer sich wandelnden ist für die Formalisten ein System mit ejner systemspezifischen <Einstellung> und ihr entsprechenden . Auf Grund der generellen Einstellung oder Intention rücken Genres, die ihr in besonders hohem Maße Ausdruck zu verleihen vermögen, an die Spitze der Genre-Hierarchie und werden zu <dominierenden> Genres der Epoche. Das können ganz neue Genres sein, aber auch traditionsreiche Genres, die im Hinblick auf die neue Grundintention umstrukturiert worden sind».sl In diachronischer Hinsicht zeigt sich der historische Wechsel der dominierenden Gattung im Dreischritt von Kanonisierung, Automatisierung und Umbesetzung. Erfolgreiche Gattungen, die den der Literatur einer Epoche innehaben, verlieren durch ständige Reproduktion allmählich ihre Wirkungskraft; sie werden von neuen, oft aus einer vulgären Schicht aufsteigenden Gattungen an die Peripherie verdrängt, wenn sie nicht durch Umstrukturierung - sei es durch das Hochspielen bisher unterdrückter Themen oder Verfahren, sei es durch Aufnahme von Materialien oder übernahme von Funktionen anderer Gattungen - wieder belebt werden können. sl Für eine Erklärung im Sinne der Höhenkammtheorie bieten sich im Bereich der romanischen Literatur des Mittelalters folgende Beispiele an: der Neueinsatz des höfischen Romans, der um die Mitte des XII. Jhs der älteren Chanson de geste den dominierenden Platz streitig macht, sodann das Heraufkommen des Prosaromans, der sich um die Wende des XIII. Jhs mit einem neuen Wahrheitsanspruch durchsetzt,lS und schließlich der Sieg der Allegorie, die um 1234/35 - wie neben Guillaume dc Lorris auch Huon de Mery im Prolog zum TOllrnoiement de l'Antechrist bezeugt als novel pense und noch nie gebrachte matire die als vergangen empfundene höfische Epik und Artuswelt der Vorbilder Chretien de Troyes und Raoul de Houdenc und ihrer Epigonen ablöst. Im Untersdlied zu den meist aus der neueren Literatur gewählten Beispielen der Formalisten fehlt der Gattungsgeschichte des XII. und XIII. Jhs aber eine vergleichbare Schicht der Subliteratur. Die neuen Gattungen des höfischen Versromans, der ersten Prosa romane und der allegorischen Epik sind keine Kanonisierung niederer Gattungen, sondern aus einer Funktionsverlagerung hervorgegangen
(der stidtische, bzw. erzählende Achtsilber war in den Reimchroniken, die Prosa in der Historiographie, die allegorische Form in der geistlichen Dichtung vorgegeben). Die Verlagerung oder übernahme von Funktionen anderer Gattungen macht
I. BI
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Ib., p. LXVI. Ib., p. LXV. Das Muster einer solchen gattungsgeschichtlichen Analyse hat TYNJANOV für die Ode gegeben (0936); Beispiele für die cpen~tration des proc~d~s du genre vulgaire dans le genre ~lev~. bringt TOMAJEVSKIJ 0818,304 sq. Cf. KÖHLER, Zur Entstehung des altfranzösischen Prosaromans, 0884, 213-223.
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die synchronische Dimension im literarischen System einer Epoche sichtbar. Literarische Gattungen existieren nicht einzeln, sondern bilden die verschiedenen Funktionen des gegebenen epochalen Systems, zu dem sie das einzelne Werk in Beziehung setzen: «Ein Werk, das aus dem Kontext des gegebenen literarischen Systems gerissen und in ein anderes überführt wird, erhält eine andere Färbung, überzieht sich mit anderen Merkmalen, tritt in eine andere Gattung ein, verliert seine Gattung, mit anderen Worten, seine Funktion wird verlagert».u Das ließe sich auch an der Rezeption der <matiere de Bretagne) zeigen: ihre Fabeln erhielten dadurch, daß ihre Bedeutung im System der keltisch-kymrischen Mythologie und Sagenwelt von den französischen Erzählern und ihrem Publikum nicht mehr verstanden wurde, den anderen
11. Die formalistische Theorie hat sich selbst die Beschränkung auferlegt, die Evolution der literarischen Gattungen und Formen als einen innerliterarischen Prozeß anzusehen und zu beschreiben. Sie hat von der Funktion der literarischen Gattungen in der alltäglichen Geschichte abgesehen und die Fragen nach ihrer Aufnahme und Wirkung bei dem zeitgenössischen späteren Publikum als bloßen Soziologismus und Psychologismus ausgeklammert. Die Geschichtlichkeit der Literatur geht indes nicht in der Abfolge ästhetisch-formaler Systeme und dem Wandel der Gattungshierarchien auf. Es genügt nicht, die
(Sitz im Leben> und damit ihre gesellschaftliche Funktion haben, muß auch die literarische Evolution über das ihr eigene Verhältnis von Diachronie und Synchronie hinaus durch ihre gesellschahliche Funktion im allgemeinen Prozeß der Geschichte bestimmbar sein. Diese Weiterentwicklung der formalistischen Theorie hat J. Mukaiovsky und der sogenannte Prager Strukturalismus seit den dreißiger Jahren in bahnbrechenden Arbeiten vollzogen, deren Rezeption durch die westeuropäische Forschung
°936. °786.
IM TYNjANOV
IS JOUES
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4--·4-4·;
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noch aussteht. BI Für eine Theorie der literarischen Gattungen ist dieser Schritt vom Formalismus zu einem dialektischen Strukturalismus vor allem dadurch interessant, wie hier das Kunstwerk als Zeichen und Bedeutungsträger einer sozialen Realität verstanden und das Ästhetische als Prinzip der Vermittlung und Weise der Organisierung außerästhetischer Bedeutungen bestimmt wird. Andererseits vermag eine rezeptionsäsmetisch begründete Gattungsmeorie die Erforschung der strukturellen Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft, Werk und Publikum don notwendig zu ergänzen, wo das historische Normensystem einer in einer ferneren Vergangenheit verborgen ist und am ehesten nom über den Erwartungshorizont eines Gattungssystems rekonstruien werden kann, das die Intention der Werke wie das Verständnis des Publikums vorkonstituien hat. Auf die Fragen, die zu stellen sind, um Aufschlüsse über die Funktion, Aufnahme und Wirkung literarischer Werke und Gattungen in ihrer gesmichtlimen Realität und gesellschaftlichen Umwelt zu erhalten, bleiben die Zeugnisse der älteren Literaturen oft stumm und geben auch die Dokumente der Sozialgeschimte selten eine direkte Antwon. Darum sind hier Strukturalismus und Hermeneutik in besonderem Maße aufeinander angewiesen. Es bedarf ihrer Vermittlung durm rezeptionsäsmetisme Methoden, um der gesellschaftlimen Funktion (mittels des synchronen Systems von Gattungen, Normen und Werten) und in eins damit des Antwortmarakters (mittels rezeptionsgesdtichtlicher Analyse) von Werken vergangener Kunst überhaupt ansimtig zu werden. Auf dit'sem Wege ließe sich wohl auch unser Erkenntnisinteresse an der Literatur des Mittelalters neu begründen: die Chance einer Renaissance der ihr gewidmeten Studien scheint heute weniger in ihrer Bedeutung als homogenes Glied der uns vertrauten abendländischen Tradition als vielmehr darin zu liegen, daß ihre Monumente nur ein fragmentarismes Bild einer gesmichdim femen, für uns oft befremdlimen Kultur und Lebenswelt bewahn haben. Blickt man auf die Forschung der letzten Jahrzehnte zurück, so läßt sim nicht mehr verkennen, daß uns der humanistische Glaube an die unzerreißbare Tradition literarischer Formen und an die zeitlose Gegenwart der Meisterwerke über die geschichtliche Distanz und Andersartigkeit der mittelalterlichen Literatur hinweggetäuscht hat. Zwischen den Formen und Gattungen des Mittelalters und der Literatur unserer Gegenwart besteht keine ansmaubare geschimtliche Kontinuität. Hier hat die Rezeption der antiken Poetik und des antiken Gattungskanons in der Renaissance unübersehbar den Faden der Traditionsbildung durmsmnitten. Die Wiederentdeckung der mittelalterlichen Literatur durm die Philologie der Romantik zeitigte nur die Ideologie neuer Kontinuitäten in Gestalt der wesenhaften Einheit jeder Nationalliteratur, vermochte aber den mittelalterlimen Kanon der Gattungen und Werke nicht in eine neue literarische Produktivität zurückzuholen. Die Formen und Gattungen der modemen Literatur sind im Gegenzug zum Kanon der klassisch81
81
J. MUJWlovs...'Y, Kapitel aus
der Poetik. Frankfurt, 1967 (00. Suhrkamp, 230) und id., Kapitel aus der Ästhetik. Frankfurt, 1970 (00. Suhrkamp, 428); siehe dazu SnUEDTEll °816, p. LXI, LXXIX, JauB °784, 246sqq. und H. GONnmt, Poetica 4 (1971) 224-243. Zum Antwortdtarakter des Kunstwerks wie zur hermeneutischen Logik und traditionsbildenden Funktion von Frage und Antwort verweise ich auf meine Schrift °784, bes. p. 240 sqq.
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humanistischen Ästhetik entstanden: die Lyrik der Troubadours war so wenig ein Anstoß für die FleuTs du Mal wie das ritterlime Epos für die Education Sentimentale oder wie das geistlime Spiel für das modeme enichtaristotelisme) Theater. Daraus ist nun aber nimt zu folgern, daß die Theorie und Geschimte der literarismen Gattungen des Mittelalters zum Verständnis der Literatur unserer Gegenwart nichts mehr beitragen könne. Was sie zu leisten und worin sie wieder Aktualität zu gewinnen vermag, kann sich vielmehr erst zeigen, wenn unser Verhältnis zum Mittelalter aus der Illusion der Anfänge, d. h. aus der Perspektive befreit ist, daß in dieser Epoche die erste Vorstufe, der alle weitere Entwicklung bedingende Anfang unserer Literatur zu finden sei. Nicht als Anfang, der erst durch ein ihm fernes Ende, durch die entfaltete Nationalliteratur seine Bedeutung erhält, sondern durch ihre an sich selbst bedeutsame Anfänglichkeit kann die Literatur des Mittelalters wieder zu einem unersetzbaren Paradigma werden - durch die Anfänglichkeit einer in den Volkssprachen neu sich formierenden Literatur, deren archaische Gattungen von Ideal und Wirklichkeit einer eigentümlichen politisch wie kulturell in sich geschlossenen geschichtlichen Welt Zeugnis ablegen und für uns elementare Strukturen sichtbar machen, in denen sich die gesellschaftsbildende und kommun ikationsstittende Leistung der Literatur bekundet hat.
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XI.
PARADIGMENWECHSEL IN DER REZEPTION MITTELALTERLICHER EPIK
Angesichts der längst publiken Erwartung, ihr dereinst unsterblicher Gegenstand sei nunmehr vom sanften Dahinscheiden ins nur noch Antiquarische bedroht, pflegen sich Darstellungen mittelalterlicher Literatur heute mehr und mehr ihrer positivistischen Gelehrsamkeit zu schämen. An deren Stelle ist der Ruhmestitel neuer methodischer Tugenden getreten, die in der zünftigen Philologie vor nicht allzu langer Zeit noch als "'erkleidete Laster' galten. Man empfiehlt sich strukturalistisch, rezeptionsästhetisch oder textlinguistisch. Man überwindet die alte Geistesgeschichte durch Reprisen des historischen Materialismus, der nicht davor zurückschreckt, sich in letzter Stunde sogar den ,heilsgeschichtlichen Gesichtspunkt' als notwendigen Maßstab einzuverleiben. Vor allem bemißt man den Rang einer Darstellung weniger an der Originalität des interpretatorischen Zugriffs als an der Strenge methodischer Reflexion. Von solchen Ansprüchen und methodologischen Bekenntnissen ist in dem vorliegenden Buch nicht die Rede, obschon es die Abkehr von der traditionellen Philologie und dem ästhetischen Kanon der bürgerlichen Bildung nicht weniger entschieden, aber auf stillere Weise vollzieht. Alfred Adler präsentiert seine Epischen Spekulanten mit dem bescheiden klingenden und doch riskanten Vorschlag an seine Leser, die Wette einzugehen, ob das mittelalterliche Epos romanischer Sprache nicht auch einmal anders, nämlich als synchronische Geschichte dargestellt und lesbar gemacht werden könnte. Für den notwendigen Schritt, von der diachronischen zur synchronischen Betrachtung einer geschichtlichen Manifestation, anders gesagt: von der alten Ereignisgeschichte zu einer noch unerprobten Strukturgeschichte überzugehen, findet sich gegenwärtig in den historischen Disziplinen mehr Aufwand an Theorie als Mut zu ihrer praktischen Einlösung. Adters jüngstem Werk könnte man den umgekehrten Vorwurf machen. Es krönt eine lebenslange, auf oft abseitigen Pfaden geführte Epenforschung, ohne nochmals auf die ungewöhnliche
Vorgeschichte seiner Erkenntnisse zurückzublicken, geschweige denn die implizite Theorie der jetzt erreichten Praxis innovatorischer Interpretation eigens auszubauen. Bedenkt man indes, daß in dieser Darstellung, die analytischen Scharfsinn mit Vorliebe auf den Plauderton des Wiener ,Homme de lettres' herunterspielt, die Kluft zwischen zeitloser Struktur und historischer Individualität, strukturaler Logik und hermeneutischer Reflexion in praxi so elegant wie sicher überbrückt ist, so wird man sie nicht einfach über den abstrakten Leisten der Methodenreflexion schlagen. 7 [359]
Ihr wahrer Maßstab ist das Paradigmatisme, wenn darunter die Veränderung einer wissensmaftlimen Denkgewohnheit oder ,Sehweise· verstanden werden kann. Damit meine ich den seltenen, hier eingetretenen Fall, daß es gelang, nicht allein die Simt der Fachwelt auf smeinbar längst Bekanntes zu erneuern und einen vorgegebenen Textbestand überrasmend zu ersmließen, sondern aum dem fachlich nicht bornierten Leser ein aktuelles Interesse an der Same zu eröffnen, kurzum: ein Stück Vergangenheit aus dem Status des Vergessenen wieder in weitersmreitende Erfahrung einzubringen. Die Gesmimte der Rezeption und Interpretation des mittelalterlichen Heldenepos hat seit seiner Wiederentdeckung durm die historism-philologisme Schule der Romantik nicht gerade häufig produktive Veränderungen des forsmungsorientierenden Paradigmas zu verzeichnen. Blickt man heute auf die anderthalb jahrhunderte romanistismer Epenforsmung zurück, so wird der Forsmerfleiß im philologism institutionalisierten Beuieb nur dreimal durm eine provokative Erneuerung der Sehweise aufgesmreckt: zu Beginn dieses jahrhunderts, als Philipp August Becker mit der sogenannten ,jungepen-Theorie· die Autorität des evolutionistischen Paradigmas in Frage stellte; in den dreißiger jahren, als Ernst Robert Curtius die altfranzösisme chanson de geste über die Tradition der antiken Rhetorik in die Kontinuität des lateinismen Erbes einstellte; in den fünfziger jahren, als jean Rychner die Spuren einer ,tradition orale· in der Textüberlieferung entdeckte und das zählebige Vorurteil ersmütterte, das mittelalterlime Epos sei am Smreibtisch verfaßt worden, um hernach von Philologen am Schreibtisch gelesen zu werden. Im Wemsei der Paradigmen von der genetismen über die historisme zur ,topologismen· und smließlich zur funktionsgeschimtlichen Erklärung: von der chanson de geste als Traditionsbrücke zur Vorzeit über ihre Funktion als Geschichtsdichtung der Kreuzzugsepoche zum Glied in der Traditionskette abendländischer ,&riture· und smließlich zur lebensweltlichen Funktion der Vortragsdichtung blieb eine Vorentscheidung all dieser Paradigmen unangerührt. Die seit dem Historismus der Romantik selbstverständliche Geltung dieser Prämisse setzt Alfred Adlers ,Wette a La Pascal· aufs Spiel und deckt sie eben damit als bisher unerkannte, spezifisch moderne Norm des Verstehens auf. Es ist die dem mittelalterlichen Publikum zweifellos fernliegende historisme Einstellung, ein Heldenepos an seinem historisch-diachronischen Ort, im Nameinander der Gesmimte einer literarismen Gattung zu betrachten. Von dem hochgradig hypothetismen Charakter einer solchen in ihren Daten, Ereignissen und Personen weithin ungesimerten ,Geschimte· einmal ganz abgesehen - ist es nicht verlockend und an der Zeit, den gerade auch auf diesem Gebiet erschöpften Erkenntnisvorrang der Diamronie aufzugeben, die vertikale in eine horizontale Betrachtung zu überführen und eine synchronisme ,Geschichte· zu versumen? Wie kann der bequeme aristotelisme Leitfaden von Anfang, Mitte und Ende einer gauungsgeschimtlimen Fabel, auf die so viel Forschungsenergie bei der
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Suche nach unauffindbaren Anfängen, vermißten Zwischengliedern und anonymen Autoren vergeudet wurde, durch ein darstellbares Beziehungssystem im Gleichzeitigen ersetzt werden, das uns das Corpus von mehr als 80 erhaltenen Epen im Nebeneinander, als eine ,Landschaft in der Vogelschau' überblicken läßt? Die Lösung, die uns Adler zu diesen Fragen zu geben wußte, soll hier wenigstens unter drei Gesichtspunkten gewürdigt werden: erstens dem Schritt von einer synchronischen Kombinatorik und ,Logik des Sensiblen' zu einer Hermeneutik der Gegenbildlichkeit, zweitens der überwindung der Höhenkammästhetik durch die Entzifferung der latenten ,Traumgedanken' und Aufdeckung der ,archaischen Erbschaft' mittelalterlicher Heldendichtung und drittens der Bestimmung ihrer Position zwischen Mythus und Geschichte mittels "epischer Spekulation-, einer von Adler eingeführten, über seine Thematik hinaus bedeutsamen Kategorie der ästhetischen Erfahrung. Der Schritt von der diachronischen zur synchronischen Betrachtung läßt die Vielfalt der Epen aus ihrer historischen Reihe zunächst in die Struktur eines Textes zusammenschrumpfen, um hemach aus seinem Grundmuster einen kaum erwarteten Reichtum an sinntragenden Beziehungen und Kombinationen zu entfalten. An Stelle der diachronischen Gestaltfolge, die von einer (meist hypothetischen) Urform oder einem gattungsprägenden Gipfelwerk aus bestimmt und nach produktionsästhetischen Graden auf der Skala zwischen individueller Schöpfung und mehr oder weniger unfreier Nachahmung beschrieben werden kann, treten die fundamentalen Kategorien, in welchen das strukturale Weltverständnis Umwelt und Mitwelt ordnet und erkennbar zu machen sucht. Es sind dies Gegensatzpaare der primär sinnlichen Erfahrung wie: größer und kleiner - höher und tiefer - stark und schwach - fern und nah; dabei gewinnt das letztere unter der Bedeutung von exogam und endogam mehr und mehr den analytischen Vorrang. Solche Oppositionen sind bei dem Ehrgeiz mancher strukturalistischer Schulen, die Strenge der formalen und symbolischen Logik im Feld kultureller Erscheinungen nachzuahmen, nicht selten bis zur ,reinen' Künstlichkeit einer bedeutungsleeren Kombinatorik getrieben und zu Tode geritten worden. Demgegenüber weiß Adler in seiner Anwendung von Kategorien der strukturalen Anthropologie immer wieder die Logik der KomQiDationen auf die Semantik eines Beziehungsgefüges zurückzuführen, das die formalisierten Gegensatzpaare auf den latenten Sinn archaischer Verwandtschaftsverhältnisse und gesellschafUicher Interaktionsmuster durchsichtig macht. Die möglichen Kombinationen von höher und tiefer, stark und schwach, fern und nah konkretisieren sich in episch paradoxen Zuspitzungen der feudalen Kasuistik und erhellen, was es bedeutet, wenn zum Beispiel ein schwacher König (Louis) den starken Vasallen (Guillaurne) in die Ferne entsendet, obschon er auf seine Nähe angewiesen ist (Kap. 11); oder, wenn in der Umkehrung des ,treuen Dieners seines Herrn' zum ,treuen Herrn seines Dieners' (die ein ,Exkurs ins österreichische' aufdeckt) der Monarch die Rolle des Starkseins in der Schwäche übernehmen muß (Kap. X). Was
9 [361]
Levi-Strauss als die vier Begriffspaare einer logique du sensible entwickelte, dient Adler dazu, eine übergreifende Sinnstruktur zwischen disparaten Motiven der Situation des sterbenden Rolands: den Kanreitagsgeräuschen des Hornstoßes und des knirschenden Schwerts, der Dunkelheit des Orts, der mit frischem Blut durchtränkten Gräser auszudeuten. Adlers Anwendung der strukturalen Logik gelangt vor allem aber dort zu einer Wiedergewinnung des Sinns, wo er in adversativen Kombinationen hermeneutische Figuren der Gegenbildlichkeit auffinden kann. Dann erhellen sich gerade genetisch nicht zusammenhängende Epen wechselseitig. Von der heiteren Variation eines Grundmusters fällt Licht auf ein finsteres Gegenstück (so in Kap. III, wo die Rolle, die Charlemagne comico more in der Karlsreise spielt, etwas vom dunklen Sinn der Rolle verrät, die ihm tragico more im Ganelonprozeß zufällt). Die Symmetrie von Gegenspielern in verschiedenen Epen erlaubt den Rückschluß auf die Funktion ihrer Handlungen (so in Raoul de Cambrai. Kap. V, wo die Auswechselbarkeit von Guerri mit Guillaume erklärt, warum sich beide Parteien wie eingefallene Ungläubige benehmen). Die gegenbildliche Konstellation zweier Gruppen von Heldenbrüdern läßt den Sinn ihres gegenläufigen Schicksals als Folge eines exogamen und eines endogamen Ursprungs entschlüsseln (so in Kap. VI, wo der Kampf um den Nimbus der Majestät die eine Brüdergruppe der Aymoniden auf einen .endogamen Holzweg- mit der kompensatorischen Heiligsprechung Renauts führt, während sich die gegenbildliche, exogame Brüdergruppe als Anwärter auf eine feudal-monarchische Zukunft erweist). Man könnte dieses Interpretationsverfahren mittels Strukturen von Gegenbildlichkeit im Unterschied zu einer diachronischen Hermeneutik, die ein traditionsvermitteltes Vorverständnis als Grundlage der Horizontverschmelzung erfordert, eine synchronische oder ,laterale' Hermeneutik nennen. Wenn dabei ein systematischer Vorgriff, das Erkennen der gegenbildlichen Beziehung zwischen verschiedenen Werken, den vergangenen Sinnhorizont aufhellt, impliziert aber auch dieses Verfahren im Unterschied zu der Eindeutigkeit der formalen Logik eine Beziehung von Sinn zu Sinn und nicht von Sinn zu Sache, mithin jene ,Logik des Doppelsinns', die nach Paul Ricoeur alle Hermeneutik kennzeichnet. Die Wiedergewinnung der hermeneutischen Dimension durch eine synchronische Analyse, die sich von einem Sinn zu einem anderen Sinn bewegt, kann dort am besten erläutert werden, wo die entschlüsselte Gegenbi.ldlichkeit eine Inkonsistenz oder Lücke aufweist, die über das erwartbare, aber fehlende Glied ein Postulat verborgenen oder verstellten Sinns wahrscheinlich macht. Im Aufspüren solcher Inkonsistenzen, die von der diachronisch orientierten Philologie gerne als ,Mängel der überlieferung' wegerklärt, für Zwei-Verfasser-Hypothesen benutzt oder mittels Oberinterpretation harmonisiert werden, ist Adler schwerlich zu übertreffen. Fast jedes seiner Kapitel bietet dafür eindrucksvolle Beispiele. Ein Trumpf seines Verfahrens lateraler Hermeneutik ist die gegenbildliche Interpre10 [362]
tation von Wilhelmsgeste und Rolandslied (Kap. 111). Die Symmetrie beruht auf einer dilemmatischen Situation. Der schwache König Louis schickt den guten Ratgeber Guillaume in die Ferne und bleibt den schlechten Ratgebern überlassen; doch lehrt die Wilhelmsgeste, "daß man den Guten zwar entfernen, aber doch seiner SchutzkraA: gewiß bleiben kann, denn selbst, wenn man ihm gerade einmal zu Hilfe kommen muß, bleibt er doch der Starke·. Der starke Kaiser Charlemagne schickt erst den schlechten Ratgeber Ganelon in die Ferne, um die guten Ratgeber bei sich zu behalten; doch dann scheint das Rolandslied zu lehren, "wie aussichtslos es ist, die Guten bei sich behalten zu wollen, denn wenn man sie bei sich behält und den Schlechten entfernt (Gefahren aussetzt), gefährdet er die Guten, wenn man aber die Guten dann doch einmal entfernt (Gefahren aussetzt), dann sind sie verloren, selbst wenn man ihnen zu Hilfe eilt·. Auf den latenten Sinn dieser gegenbildlich paradoxen Situation des Rolandslieds wird man erst durch die Entdeckung Adlers geführt, daß die Gegenbildlichkeit in einem Punkte zu wünschen übrig läßt: "Um sie zu vervollkommnen, mußte dem für den Kaiser und für den Sohn des Kaisers Sorge tragenden Guillaume ein Gegenspieler (Ganelon) entsprechen, der den Kaiser haßt, aber auch den Sohn des Kaisers. Wäre Roland, der Stiefsohn Ganelons, nicht nur Neffe, sondern Sohn des Kaisers, dann wäre die Analogie schön abgerundet.· Die Pointe dieser Argumentation auf synchronischer Ebene ist, daß sich in der Tat auf der diachronischen Ebene eine Version der legendären Geschichte Karls des Großen finden läßt, in der ihn der heilige Aegidius von der Sünde eines Inzests mit seiner Schwester Gisele zu absolvieren hatte. Die Frucht dieser Geschwisterliebe ist kein anderer als der ,Neffec Roland! Die Gegenbildlichkeit zwischen Roland, der mit seinem von Hybris überschatteten Heldentod ein endogames, allzu exklusiv dynastisches Prinzip besiegelt, und dem exogam orientierten Guillaume, der gegenüber dem Schwächling Louis, dem degenerierten Nachkommen Karls, das Prinzip der exklusiv dynastischen Legitimierung verherrlichen muß, ist also in der Tat vollständig, nur daß die auf den Kirchenfenstern königlicher Kathedralen abzubüßende Schande im Oxforder Roland nahezu verdeckt bleibt. Nahezu, aber nicht ganz, denn die verdrängten Traumgedanken von der Inzestliebe des Kaisers und dem aristokratisch Uranfänglichen der HerkunA: Rolands lassen sich mit der Sonde Adlers immer wieder in den Rissen unter der Oberfläche der heroischen Handlung ausmachen. Nun wird erkennbar, warum das Sterben Rolands und seine Folgeereignisse die "Bilderfolge einer Größe (sind), deren man nicht froh wird, ein Karfreitag ohne den Jubel des Ostersonntags·. Wenn alles zu spät kommt, der Hornruf des ,Neffen c wie der Entsatz durch den ,Onkelc, die Racheaktion der (im Konzept unstimmigen) Baligantepisode wie der rätselhaA: unzulängliche Ganelonprozeß, so danim, weil Roland auf Grund des nicht eingestandenen Vorrangs seines Herkommens allen Versuchen der Hilfe oder der Rechtfertigung immer schon in der heroischen Handlung zuvorgekommen ist" wie im geistlichen Sinn entrückt bleibt. Und wenn 11 [363]
Charlemagne in der Entscheidungsschlacht dem heidnischen Monarchen Baligant, der erst noch seinen Sohn verliert, den alles entscheidenden Todesstreich zu versetzen hat, ist es als ob dieser gleichfalls weißbärtige, trauernde Vater "aus der Seele des Kaisers emporgestiegen" sei, als traumhafte Wunscherfüllung eines ,Vaters" der doch nur ,Onkel' sein darf. Die Hermeneutik der Gegenbildlichkeit, mit der Adler von Epos zu Epos im manifesten Sinn der jedem modernen Leser zunächst monoton anmutenden feudalrechtlichen Konflikte und ritterlichen Kampfszenen die latenten Traumgedanken und verhüllten Wünsche der feudal-ritterlichen Gesellschaft zu entziffern weiß., dient zugleich einer nur leise artikulierten Kritik am Höhenkamm und Wertkanon der Literaturgeschichte und Philologie des Mittelalters. Im milden Licht der Adler'schen Ironie verblassen gegenüber den neu entzifferten "Geisteswundern ohne Blutopfer" jene "Szenen heldischer Hingabe Ci als vordergründig, die bis in unsere Tage auch von der Epenforschung friedliebender Philologen gemäß dem verjährten und doch noch wirksamen Geschmacksideal der Epoche des militaristischen Nationalismus fast ausschließlich die auswählende Norm der Deutung bestimmt haben. Alfred Adler hat die Rezeptionsscheuklappen seiner philologischen Vorgänger indes nicht einfach gegen die ideologische Brille der strukturalen Anthropologie eingetauscht. Seine synchronische Betrachtung reduziert die episch-literarische Hervorbringung einer geschichtlichen Epoche weder auf ein immanentes Beziehungsgefüge zeitloser Mythen, noch ebnet sie die spezifisch ästhetische Funktion epischer Dichtung gegenüber ihrem Zeugnischarakter für die gesellschaftliche Situation der hochfeudalen Epoche ein. Im Unterschied zu L~vi-Strauss, der den Mythus geradezu als Lösung fundamentaler gesellschaftlicher Probleme und Konflikte definiert, spricht Adler vom mittelalterlichen Epos als Vehikel quasi-mythischer Lösungen. Die zunächst im Vagen gelassene Bezeichnung ,quasi-mythisch' konkretisiert sich im Gang der Interpretationen mehr und mehr und erlaubt, das mittelalterliche Epos in seiner eigentümlichen Mittellage zwischen Mythus und Geschichte näherhin zu bestimmen. Gegenüber der Geschichte erweist sich die Fabel mit ihrer latenten, im Gegenbildlichen faßbaren Motivation insoweit als quasi-mythisch, als sich die Handlungen von Helden der feudal-ritterlichen Hochkultur auf dem Untergrund einer archaisch-mythischen Verwandtschaftsordnung abspielen. Gegenüber dem Mythus, dessen Lösungen eine sim als definitiv gebende Bündigkeit eigen ist (Andr~ JoIles bestimmte sie als Antwort derart, "daß im Augenblicke, da sie gegeben wird, die Frage erlischtCI), erscheinen die Lösungen der chanson de geste zwar analog, sofern sie auf elementare, die Totalität einer gesellschaftlichen Situation betreffende Fragen antworten. Doch zielt die epische Antwort nicht auf die Bündigkeit einer mythischen Lösung. Die Verfasser dieser Epen erweisen sich darin als "epische Spekulanten CI, daß sie gesellschaftliche Situationen überspitzen, um ihr latentes Problem erkennbar zu machen und es Lösungen zuzufüh-
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ren, die wieder neue Schwierigkeiten zur Folge haben können. Das entspridlt formal der Unabschließbarkeit oder Tendenz zum zyklischen Weiterspinnen, die dem altromanischen Epos eigen ist. ,Quasi-mythisch' meint demnach die Schürzung und Lösung von episch ausspekulierten Situationen, die in der historischen Realität noch tragbar erscheinen mögen, in der epischen Fiktion aber ins Unerträgliche gesteigert und dann doch wieder durch eine erstaunliche Tat gewendet werden können, so daß das Epos in der Lebenspraxis eine zugleich kognitive und entlastende Funktion gewinnt. Die Konsequenzen, die sich aus dieser Theorie für die lange und erbittert umstrittene Frage nach der Geschichtlichkeit des altfranzösischen Epos ergeben, sind beträchtlich. Adlers Theorie der ,epischen Spekulation' befreit die Epenforschung von der so zählebigen wie naiven Erwartung, die epischen Fabeln der chanson de geste ließen sich wie die Romane des bürgerlichen Realismus im 19. Jahrhundert mimetisch, als idealisierende Spiegelung historischer Realitäten erklären. Adlers synchronische Geschichte des altfranzösischen Epos zeigt, warum eine archaische Gattung der Dichtung alles andere als mimetisch sein und gleichwohl ein spezifisches Verhältnis zur geschichtlichen und sozialen Realität bekunden kann. Die chanson de geste gewinnt demzufolge ihren Charakter als Geschichtsdichtung gerade nicht daraus, daß sie ursprünglich aus historischen Ereignissen abgeleitet und dann im wachsenden Abstand der Zeit nur eben gewandelten Bedürfnissen und Interessen des feudalen Publikums angepaßt, mithin historisch eben mehr und mehr verformt worden wäre. Ursprünglich geschichtlich ist nach Adler an der chanson de geste, daß sie nicht so sehr das Ereignis als vielmehr die Situation, die eine geschichtliche Lage bedingt, im Zugriff episch-spekulativer Stilisation so darzustellen liebt, wie sich die geschichtliche Situation ausnehmen würde, "falls gewisse extreme Konsequenzen, zu denen der Sachverhalt führen kann, einmal bis zum letzten ausspekuliert würden, hart an der Grenze des von dem Sachverhalt abgesteckten Kraftfeldes von Möglichkeiten-. Damit verliert die bewahrende, für die Konstituierung der kollektiven Erinnerung nicht wegzudenkende Leistung der chanson de geste: daß sie mit der wachsenden Reihe heroischer Vorbilder normgebende Taten von Generation zu Generation weitergeben kann, keineswegs an Bedeutung. Denn die kollektive Erinnerung, gleichviel ob sie vom Epos oder ohne literarische Gestalt weitergetragen wird, ist kein kontinuierlicher Fluß von der Vergangenheit zur Gegenwart, sondern ein Prozeß fortwährender Auswahl, Verkürzung und Umarbeitung, dem die vergangene und vergehende Geschichte vom je gegenwärtigen Dasein aus unterworfen wird. Auch in dieser Hinsicht vermag die synchronische Betrachtung diachronische Probleme zu lösen: die aktuale, als ,epische Spekulation' beschreibbare Funktion bringt Normen und Spielregeln bei, nach denen sich die Arbeit der kollektiven Erinnerung in der bewahrenden Funktion epischer Geschichtsdichtung vollzogen haben kann. Zu der aktualen und der bewahrenden Leistung der chanson de geste, die zusammen ihre geschichtliche Funktion
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ausmachen, tritt aber noch die von Adler zu Recht hervorgekehrte Entlastungsfunktion. Die in der epischen Fabel extrem ausspekulierte geschichtliche Situation, auch wenn sie für das zeitgenössische Publikum auf eine akute soziale Not verweist, kann durch die quasi-mythische Lösung wieder verhältnismäßig tragbar erscheinen. Alfred Adler hat diese Funktionen weniger akademisch beschrieben und die dritte einfach mit dem ironischen Vers kommentiert: ,Was im Leben uns verdrießt, man im Bilde gern genießtc. Diese Verlockungsprämie, unter die auch die insgeheime, von der Höhenkammästhetik wie von der positivistischen Akribie nie ganz ausgerottete Lust an der Identifikation mit dem epischen Helden fällt, ist dazu angetan, zum Beschluß auf das hier vorgestellte Buch selbst Anwendung zu finden. Denn damit hat sein Verfasser, nachdem er erst die Möglichkeit einer synchronischen Betrachtung gegenüber der Herrschaft diachronischer Literarhistorie erwies und so dann mit seiner ,Hermeneutik von der SeiteC hinter dem planen Heroismus des epischen Stils die Traumgedanken der ursprünglichen Adressaten entzifferte, schließlich gegenüber dem erhabenen Ernst eines ehrwürdigen philologischen Gegenstands eine Quelle des Vergnügens an ästhetischer Erfahrung wieder ins Recht gesetzt. Wer sich von der entdeckenden Phantasie und ironischen Formulierungsgabe Alfred Adlers aus der museal gewordenen Diachronie der Traditionsforschung auf den noch unentdeckten Boden der Synchronie des mittelalterlichen Weltverständnisses führen lassen will, kann die ,Wette la Pascal c aus gelehrtem Interesse aufnehmen. Er kann aber auch aus nicht-gelehrter Neugier eine ,Wette la Adlerc eingehen und sehen, ob man die unlesbar gewordenen alten Epen wie die verdrießlich ausgewucherte Fachgelehrsamkeit nicht doch in diesem Buche ,gern genießtc.
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Zur Literarästhetik
XII.
DIE DEFIGURATION DES WUNDERBAREN UND DER SINN DER AVENTüRE IM ,JAUFRE'
Der um 1225 entstandene und König Jakob I. von Aragon gewidmete provenzalische Versroman Jaulre l ) steht so unverkennbar in der Nachfolge des französischen Artusromans, daß seiner Deutung nur der Spielraum innerhalb eines nach Stoff, Stil und Technik vorgegebenen Gattungstypus offen zu stehen scheint. Die folgende Untersuchung soll erweisen, daß diesem Werk eines Epigonen gleichwohl eine besondere Stellung im Verhältnis zu seinem großen Vorbild, Chrestien de Troyes, zukommt, insofern nämlich der Verfasser des Jaulre den traditionellen Sinn der Aventüre thematisch in Frage stellt und versucht, den Weg ritterlicher Bewährung allein von einer Erfüllung im Gottesrittertum aus zu rechtfertigen. Mit dieser Absicht rührt die Untersuchung erneut an die Crux, vor die sich jeder Betrachter dieses Textes gestellt sah - an das Problem, ob für Jaulre ein oder zwei Verfasser anzunehmen sind. Wird doch dieses Problem durch den Umstand, daß Sprache und Stil des Textes von Anfang bis zu Ende völlig einheitlich erscheinen'), letzterdings auf die hier wieder angeschnittene Frage nach der Einheit der Konzeption, bzw. nach der Bedeutung der letzten Verse des Romans (10945 ff.)zurüdtverwiesen. An diesem Punkt standen sich zuletzt die Argumente Lew e n t s einerseits und B run eIs andererseits entgegen. Der erstere stützt sich auf die von ihm herausgehobene Differenz zwischen dem ersten und dem zweiten, durch die Klage auf die Verderbnis der Zeit (v. 2565 bis 2639) abgehobenen Teil. Die mit Monbrun einsetzenden Ereignisse schaffen ihm zufolge dem Roman einen neuen Mittelpunkt und drohen, zusammen mit einer offensichtlichen Verlagerung des Interesses vom Heroismus der ersten Kämpfe zum Lyrischen und Humorvollen, zur Seelenanalyse der Liebenden und zur Moralisierung, die Einheit des Werkes zu sprengen'). Der letztere optiert für ein e n Verfasser und begründet den homogenen Charakter des Werkes mit dem Hinweis, daß sowohl der Charakter des Helden, als auch der kompositorisch geschlossene Aufbau der ganzen Erzählung durchweg dem traditionellen Typus 1) Ausgaben: Gesellschaft für romanische Literatur, Band 46, Göttingen 1925, brsg.
von Hennann B r e u er; Sodete des anciens textes frantais, Paris 1943, brsg. von Clovls B run e l. Wir zitieren nach der Ausgabe von Breuer, die der Hs. B folgt: zur Datierungsfrage vgl. die Einleitung von Brunel, SATF S. XXXVIII. 2) Brunel, SATF p. XXXVI: .Aucun trait lingulstique n'oppose (...] une partie " une autre.· Dasselbe stellte bereits A. S tim m I n 9 fest, Ober den Verlasser des Roman de Jaulre, ZRPb. XII (1888) S.323-347: auch K. Lew e n t, Zum Jaulreroman, ZRPb. XLVIII (1928) S. ses konnte dieses Resultat nur In wenigen Elnzelzügen berichtigen, denen er leibst kaum Gewicht beilegt. 3) Lewent, ZRPb. XLVIII S. ses f.
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OIE DEPIGURIERUNG DES WUNDERBAREN
des Artusromans angepaßt seit), Gegen diese Argumente hatte Lewent indes zuvor schon den treffenden Einwand erhoben, die Gattung der Artusromane bilde einen so an Tradition gebundenen Typus, _daß es leichtlich zwei Männer gegeben haben konnte, die nacheinander an demselben Werk arbeiteten, ohne daß dabei eine unterschiedliche Behandlung heraussprang"), Bleibt Brunels zweites, sprachlich-stilistisches Argument: .un continuateur se trahirait par quelque initiative ou quelque oubli .'), das gegen Lewent sein volles Gewicht behält. Da andererseits die von Lewent betonte Verlagerung des Interesses im. Text unbestreitbar vorliegt, sieht man sich vor die Frage gestellt, ob nicht die Einheitlichkeit des Werks, wie sie Sprache und Stil dokumentieren, auch in seiner thematischen Konzeption zu erweisen wäre, wenn es gelänge, die Differenz der beiden Teile auf eine noch nicht erkannte Mitte des Textes zurückzuführen, Wir glauben diesen Nachweis durch eine Analyse der inneren Struktur unter der Leitfrage nach der Bedeutung der Aventüre führen zu können und werden unsere Interpretation durch einen neuen Lösungsvorschlag für den dunklen Sinn der Schlußverse unterbauen, Als Ausgangspunkt der Untersuchung bietet sich der erste sonderbare Streich an, den der zauberkundige Ritter König Artus spielt: Aqui viral tirar cabels A cavaUerl e a donzell, Que tuit ronpon 'I lor vestiduras E maldizon laI aventural, Qu'en la forelt son atrobadal, Qu'a tant gran dol lor SUD tomada., Ab tant 10 lenescals escrida: 'Ai bona gentz, con es maridal Con avetz per fort destinada La mort deI bon rei devinadal Cal aventura es vengudal Con avem uei valor perdudal' Ab tant el cazutz deI cava! A tera de IUI contra val. E'l reil eltet de IUI pendutz. Ab las mans el'se retengutz; Que non las en oltera Jes Adoncs, le faire 0 poges, Que gran pagur a de cazer, (363-381)
An diesem Punkt ist der burleske Höhepunkt der Erzählung erreicht. Keu bringt der Artusgesellschaft mit dem unverhüllten Hohn seiner Worte die tiefere Bedeutung ihrer Situation zu Bewußtsein, die sich gleichermaßen in den Gesten des äußeren Geschehens enthüllt. Die theatralisdle Gebärde, mit der sich der Seneschall vom Pferd stürzt, steht im Kontrast zu dem beschämend-lächerlidlen Anblick, den Artus - bislang höchste Autorität und ideale Verkörperung der .cavalaria- - im Augenblick der nackten, kreatürlichen Angst um sein bloßes Leben bietet. Im folgenden steigert der Erzähler die Situation zu drastischer .c) Brunel, SATF 5, XXXV f, 5) Lewent, ZPPh, XLVIII S, 58.c, 6) Brunel, SATF S, XXXVI,
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HANS RODERT JAUSS
Komik: die Ritter kleiden sich auf Ga.lvains Rat aus und häufen ihre Kleider zu einem Berg, um dem Sturz ihres Herrn vorzubeugen. In diesem ungewöhnlichen Verhalten wird das Ausmaß der Katastrophe noch deutlicher: mit dem Ablegen seines Gewands vor aller Augen wird preisgegeben, was den Ritter als Angehörigen seines Standes kenntlich macht. Doch das Unheil wird dadurch schon gar nicht mehr abgewendet, es droht gerade nur solange, als erforderlich ist, um die ritterliche Gesellschaft zum Äußersten zu bringen und ihr Verhalten sodann der Lächerlichkeit preiszugeben. Denn sogleich ist auch schon die ganze Aventüre vorbei und als eine bloße Veranstaltung des zauberkundigen Artusritters entlarvt. In seinen Worten, mit denen er sich an Artus wendet: Seiner, failz vestir vostra gen, Que ben podon oimais manJar, Que vos ne eis nO'1 callaissar Per aventura, Ca! trobada L·avetz. so tot vos es tarzada. (428-432)
liegt eine letzte Ironie, denn der gefundene Grund, der rechtfertigen soll, daß man sidl wieder zu Tisdl begeben kann, ist eine nur scheinhafte Aventüre, der aber zugleich in verwirrender Weise Wirklichkeit zukommen muß, weil die Auflösung des Wunderbaren ein Faktum - das Entkleidetsein der ritterlichen Gesellschaft - übrig läßt. Welche Bedeutung kommt dieser burlesken Szene im Aufbau des ganzen Romans zu? Da sie die Erzählung einleitet und mit ihrer kaum abgewandelten Wiederkehr am Ende den Rahmen bildet, innerhalb dessen sich die Geschichte Jaufres abspielt, nimmt sie in der Okonomie des Ganzen eine hervorragende Stelle ein. Sollte diese Umrahmung nicht mehr sein als ein bloßes .horsd'CE!uvre", ohne Beziehung zum Thema und allein zur Belustigung des Lesers hinzugefügt. wie Jeanroy meint?7) Gewiß kann man sie der Ironie eines Autors, .qui n'est pas dupe de l'invraisemblable let qui] l'exagere en souriant·, zuschreiben und darin den Geist des Cervantes avant la lettre entdeckeni). Dann wäre aber erst zu fragen, worauf diese Ironie gegründet ist, wogegen sie sich wendet und welche Rolle jenem Wunderbaren im ganzen Roman zufällt, das der Verfasser schon in seiner ersten Episode mit soviel Raffinesse in einen bloßen Scherz aufgelöst hat. - Die letzte Frage soll im folgenden zuerst erörtert werden, um von da aus einen Anhaltspunkt für die Beantwortung der anderen Fragen zu gewinnen. Zunächst fällt auf, daß es der Autor im Verlauf seiner Erzählung offenbar nidlt darauf angelegt hat, das Wunderbare • pour de bon· darzustellen und jene Atmosphäre des Märdlens wachzurufen, die etwa Chrestien so oft und so vollkommen zu suggerieren versteht. Dies läßt sich am besten an dem Fall zeigen, in welchem eine Ausgestaltung des Wunderbaren besonders nahe gelegen hätte, der Episode, in der Jaufre die ertrinkende .pulcella· retten will und dabei selbst versinkt (v. 8318-8834), Hier scheint zunächst alles ein märchenhaft-übernatürliches Geschehen anzukündigen. Doch der Erzähler ist nur 7) A. J e a n r 0 y, Le roman de Jaulre, in: Annales du midi de la France UII (1941) S. 378, vgl. 8)
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auch S. 367.
Drunel. SATF S. VIII.
DIE DEFIGURIERUNG DES WUNDERBAREN
auf die breite Ausmalung der Totenklagen bedacht, die im Leeren verhallen und in ihrer tJbertreibung burlesk wirken, weil der Betrauerte - wie der Leser ahnt - noch am Leben ist. Der seltsame Durchgang durch den Grund des Quelltopfes wird in nur vier Versen, ohne die geringste Andeutung eines wunderbaren Geschehens, abgetan (v. 8143 ff.), und die Unterwelt jenseits der Quelle stellt sich nicht anders dar als eine unverwandelte Fortsetzung derselben Welt, durch die der Weg Jaufres bisher schon führte. Wenn man vom Roman Chrestiens sagen kann, daß dort das Wunderbare rein und unmittelbar aus dem Geschehen selbst hervorgeht und auch dann, wenn es vorüber ist, kein faktisches Residuum übrig läßt, bzw. keine rein pragmatische Auflösung gestattet, so ist es für Jaulre kennzeichnend, daß hier das Wunderbare, abgesehen von der Ivain-Nachahmung in der Darstellung des alle Elemente aufrührenden Sturms (v. 2140-2808) und von dem Kampf mit dem schwarzen Ritter (auf den wir zurückkommen), seinen übernatürlichen Charakter fast ganz eingebüßt hat und in verschiedener Weise defiguriert erscheint. Das Wunderbare kann einmal, wenn es dem Typus des Artusromans zufolge im Geschehen selbst angelegt ist, einfach vernachlässigt werden, wie zum Beispiel im Ablauf der ersten Begegnung, dem Kampf mit Estout de Vertfuell: mit dem geheimnisvollen Kampfeslärm, der bei Jaufres Annäherung wie durch Zauber aufhört (v. 163), hat es im folgenden keine weitere Bewandtnis, so wenig wie mit der geheimnisvollen Szenerie (dunkles Tal, hoher Berg, Nacht, Feuer mit Zwerg, cf. v. 951 ff.), die das Zusammentreffen einleitet, aber als sinnentleertes topisches Decorum nicht mehr vordeutend mitbestimmen kann. Es kann ferner einer vorwiegend burlesken Intention dienstbar gemacht werden, wie im Falle der sonderbaren Klagen, nach deren Anlaß Jaufre vergeblich fragt und dabei immer nur üblen Lohn für seine Teilnahme erntet; Jaufre kann über die Raserei des Ochsentreibers, der in seiner sinnlosen Wut alles kurz und klein schlägt, schließlich nur noch lachen'), und mit ihm der Leser, der diese Art von Burleske - eine drastische Verkehrung der .Mitleidsfrage aus dem Perceval - zu goutieren versteht. Die Motivreihe im Ganzen ist so wenig auf Spannung angelegt, daß sie sich mit einer beiläufigen und rein pragmatischen Auflösung erledigt (Mitleid der Beteiligten für ihren .seignor carnals", v. 5138 ff) und der Grund für das rätselhafte Verschweigen überhaupt unter den Tisch fällt. Das Wunderbare kann schließlich, und das ist zumeist der Fall, aus dem Geschehen abgelöst und in die bloße Beschreibung verlegt werden, so daß es vergegenständlicht erscheint. Die "fada deI Gibei" z. B. tritt als hilfsbedürftige .pulcella" auf und bewahrt in der Weise ihres Erscheinens und Verhaltens kaum einen Zug von etwas feenhaft tJbernatürlichem, der vermuten ließe, daß sie sich zuletzt als Fee benennt (v. 10654). Der Autor, der sich nicht daran kehrt, daß ihre Bedrängnis und durchaus menschliche Hilfsbedürftigkeit in einem Mißverhältnis zu ihrem Charakter als Fee stehtt .) und über den wunU
9) Vgl. Lewent. ZRPh. XLVIII S.582; es handelt sieb um eines der von ihm zusammengestellten Beispiele für den Humor des JaulTe-Dichters. 10) Wie schon Jeanroy a.a.O. S. 313 anmerkt: .On comprend mal que la fee du Gibei, douee des pouvoirs que comporte cette quallte. doive monter toute une machination puur obtenir le secours d'un simple mortel.·
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HANS ROBERT JAUSS
derbaren Durchgang durch die Quelle wie über die selbstverständlichste Sache der Welt hinwegeilt, verwendet andererseits viele Mühe darauf, ihre wunderbaren und symbolisch gedachtenlI) Geschenke einzeln und ausführlich zu beschreiben. Die Vergegenständlichung des Wunderbaren tritt am auffälligsten in der Personendarstellung zutage. Der Autor, der sich in der Kunst des Portraits besonders hervortut und seine Vorbilder geschidd zu variieren versteht (was eine besondere Untersuchung verdiente), hat seinen Roman mit einer ganzen Reihe von .. vilain "-Figuren bevölkert"), deren Portraits vornehmlich der Absicht dienen, einen grotesken Effekt zu erzielen, und sich dabei so verselbständigen können, daß ein Mißverhältnis zu ihrem Auftreten entsteht. Das Bild Feluns d'Albarua (v. 8169-8183), eine direkte Nachahmung des .. vilain morim lvain (v. 288--303)11), wird durch die Fee wiedergegeben, die Jaufre damit auf den furchterregenden Anblick Feluns vorbereiten will, durch den allein er alle seine bisherigen Gegner aus dem Feld geschlagen habe (v. 8184 ff.). In der Schilderung ihres Zusammentreffens aber, wie auch im späteren Auftreten Feluns, ist nichts mehr davon zu verspüren; das Portrait des .. vilain" steht außerhalb des Geschehens, ohne Berührungspunkt mit der Episode des wunderbaren Jagdvogels (v. 8819 ff.), einem nächsten, gleichfalls isolierten Attribut seines Erscheinens, und ist nur als Variation in der ganzen Reihe grotesker Figuren von Bedeutung, die den Kontrast zu den Portraits Jaufres (v. 525-546) und Brunesentz (v. 3130-3131), dem Ideal männlicher Kraft und weiblicher Schönheit bilden. Desgleichen wird auch die Schilderung weiblicher Häßlichkeit im Portrait der alten Hexe (v. 5192-5232) verselbständigt; wenn sie später wieder vor Jaufre erscheint, um ihn um Gnade zu bitten, spielt sich alles so ab, als sei sie nicht mehr als eine adlige Dame unter anderen (v. 10122 ff.). Der letzterwähnte Fall ist noch in anderer Hinsicht instruktiv. Wenn diese Figur auch eine Summierung häßlicher Einzelzüge in ihrer körperlichen Gestalt aufweist, bewahrt sie doch in ihrer ganzen Erscheinung durchweg das Gepräge des Seltsam-Wunderbaren. Dazu mag beitragen, daß die Häßlichkeit ihrer körperlichen Erscheinung im weite~en durch die auserlesene Schönheit ihrer Kleidung wieder aufgewogen wird (v. 5222 ff.). Der tiefere Grund liegt indes in einer Stilisierung, die sie nicht als das erscheinen läßt, als was sie ausgegeben wird: sie figuriert als eine häßliche Alte, ohne dabei ausdrücklich den Eindruck des Gealtert- und Verfallenseins zu erwecken. Dies vermag die allegorische Darstellung der .. Vieillece" des 10 Jahre später abgefaßten Roman de la Rose (v. 339 ff.) schon in ungleidl stärkerem Maße, weil hinter ihr bereits die Macht der Zeit spürbar wird. Doch ist im Jaulre an einer Stelle, im Portrait des .mezel- (v. 2293--2333), bereits ein erstaunlicher Bruch mit aller Stilisierung zu verzeidmen, wo die Darstellung die sonst durchweg ein11) Worauf Brunel, SATF, Anmerkung v. 10562, aufmerksam gemacht bat. 12) In diesen Zusammenhang stellen wir: das unbeimlime Tier, v. 227 ff. - den Zwerg, v. 1382 ff. (die Einzelzüge seines Portraits steben im Kontrast zu dem Jaufres, v. 525 ff.) - den Leprosen, v. 2314 ff. - die bißliche Alte, v. 5192 ff. - Fellon d'Albarua, v. 8769 ff. (symbolischer Namei). 13) Junroy, a.a.O. S.376.
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DIE DEFIGURIERUNG DES WUNDERBAREN gehaltene Grenze überschreitet, an der das Häßliche aufhört, "estrain"U) zu erscheinen und in seiner naturalistischen Treue Abscheu zu erwecken beginnt. Die Häßlichkeit dieser Figur hat, obschon auch sie als "vilain" eingeführt wird, mit der ähnlicher Figuren im Artusroman nichts mehr gemein. Dies soll hier im Vergleich mit dem "vilain mor" im lvain verdeutlicht werden15 ). Zwar wird auch diese Figur, in der die Gegenwelt höfischer Existenz in verzerrender Gestalt stilisiert erscheint,. als Ausbund von Häßlichkeit vorgestellt: Einsi tres leide creature, Qu'an ne porroit dire de bodle. (290-291) Doch die Furcht, die sie Calogrenant einjagt, rührt nicht eigentlich aus den Zügen ihrer äußeren Erscheinung, sondern vielmehr aus der Unheimlichkeit der bedrohlichen Situation gegenüber einem schlechthin unerklärlichen Wesen (darum die erste Frage des Ritters: "Va, ear me di, Se tu es buene chose ou noni" , v. 328-329). Die Häßlichkeit des" vilain mor" ist in ihrer seltsamen Summierung vollkommen, das vollkommen Häßliche aber reicht wie alles Vollkommene - an die Ubernatürlichkeit des Wunderbaren. Das Ubernatürliche ihrer Erscheinung wird schon in einer darstellerischen Eigentümlichkeit manifest: es resultiert aus einem metaphorischen Kompositum von Körperteilen, bei dem verschiedene Tiere herangezogen werden ("il ot grosse la teste I Plus que roncins [... ] Oreilles mossues et granz, Autes come a uns olifanz" ete.), so daß ein grotesker Effekt erzielt wird, der die Entstellung der Menschengestalt fast wieder vergessen macht. Dazu kommt, daß diese Figur des "vilain" sich mit der Funktion im Ablauf des Geschehens (Hinweis auf die Zauberquelle) als ein Element unter andern in die übernatürliche Welt der Aventüre einfügt, in ihrer Seltsamkeit zugleich auf etwas Ungewöhnliches vordeutet und in ihrem beschränkten Horizont ("D'avanture ne sai rien" , v. 368) den exklusiven Sinn der Aventüre noch erhöht. Die Figur des "mezei" im Jaulre hingegen wird selbst zum Gegner des ritterlichen Helden und rückt damit in den Mittelpunkt einer Aventüre, deren Crudität kaum durch eine vertraute Szenerie des Wunderbaren (Warnung durdl einen fliehenden Knappen, v. 2204, Gefangenschaft im zauberhaft verschlossenen Haus, v. 2548, Zertrümmerung der Büste, wodurch ein übernatürlicher Sturm ausgelöst wird, v. 2116) verschleiert wird: Jaufre kommt bei der Verfolgung des Leprosen, der ein Kind entführt und seinen Verfolger durch obszöne Gesten verhöhnt (v. 2280), gerade dazu, wie der zweite Leprose die geraubte "pulcella" vergewaltigt (v. 2298), und bewahrt später eine große Zahl von Kindern vor dem Messer des ersten, der sich in ihrem Blut baden wollte, um Heilung von der Lepra zu finden (v. 2111). Es ist bezeichnend für den Er-
zähler, daß er zunächst einem topisdlen Ablaufsdlema der Aventüre folgt (Warnung, Verfolgung) und auch den Hauptgegner Jaufre zuerst in der Gestalt 14) Beispiele für dieses Lieblingswort des Autors, das als häufigstes Attribut im Text ersdleint. hat sdlon Stimming. ZRPh. XII S.342. gesammelt; seine undifferenzierte Verwendung kann als ein weiteres Indiz für die aufgezeigte Versadllidlung des Wunderbaren betradltet werden. 15) Roman. Bibliothek (HUka), Halle 1926, v. 288 ff.; nadl dieser Ausgabe wird im weiteren zitiert. 65
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eines Riesen (.Que ben ae de lone un astat I E de spallas doas brassadas", v. 2313-2314) mit der topischen Waffe des "vilain·, der Keule (v. 2311), entgegentreten läßt"). Doch während sonst im Artusroman der Riese, wenn er aus der Szenerie des Wunderbaren hervortritt, für den Leser längst zu einer vertrauten und an sich kaum noch furchterregenden Figur geworden ist (wie etwa im Fall des später auftretenden Bruders des "mezel u, v. 5666 ff.), wird hier wider Erwarten das Ubernatürliche seiner Erscheinung durch die Beschreibung seines von der Lepra völlig entstellten Gesichtes geradezu ausgelöscht. Das Entsetzen, das Jaufre davor befällt ("E Jaufre, que'l vi, ac feresa, Car 10 vi tant desfigurat" , v. 2312-2313), hat mit der Furcht Calogrenants nichts mehr gemein; diese Häßlichkeit wird durch keinen Schimmer übernatürlicher Vollkommenheit mehr verklärt, sie resultiert einzig aus einer Reihe von genau wiedergegebenen und medizinisch verifizierbaren 17 ) Symptomen der Lepra, deren abscheu erregenden Gesamteindruck die "pulcellaU später in die Worte faßt: Ez ane hom tan estrain non vi Tan horre ne tant deguisat, Que non auria tant aturat, Si m'ausia sa fason dir, (Que) pogues tenir d'eseopir, Tant era de laia fason. (2962-2961)
Mit diesem Portrait, das in seinem Naturalismus die ästhetische Distanz zwischen dem Seltsamen ("estrain") und dem Häßlichen (.. laid") zunichte macht, durchbricht ein Abbild der realen Welt die Idealität der Aventüre und durchkreuzt den Erwartungshorizont des Lesers, der durch die ihm vertrauten Anzeichen auf Wunderbares im Stil des später entfesselten Sturmes eingestellt ist. Konnte man sich bei den zuvor aufgezeigten Defigurationen des Wunderbaren noch fragen, ob sie nicht einfach auf mangelndes darstellerisches Geschick zurückzuführen seien, so wird man doch wohl in diesem letzten Fall eine mehr oder weniger ausdrückliche Intention des Autors in Betracht ziehen müssen, Zum Zeitpunkt der Abfassung des Jaulre hat der Artusroman seinen Zenith schon überschritten; Chrestien, der ihm seine klassische Ausprägung gab, schrieb mehr als 50 Jahre früher. Wenn das neue Jahrhundert die Wunderwelt der "maliere de Bretagne· nicht mehr fraglos hinnimmt, ist es nicht weiter erstaunlich, die Anzeichen einer Entwertung des Wunderbaren im Artusroman eines Epigonen vorzufinden, Die Bedeutung des Jaulre liegt aber nicht so sehr darin, daß er eine veränderte Einstellung des Publikums erkenn16) Paul Rem y, La lepre, IMme Jjtt~rajre au moyen age, in Le moyen dge, LU (1946) S.204, läßt sich durch die Nichtübereinstimmung der Züge des Riesen (v. 2314 f.) mit denen des Leprosen irreführen und verkennt den Umschlag von dem erwarteten Portrait des .vilain" in das eines .mezel"; dazu mag beitragen, daß dieser Umschlag darstellerisch nicht ganz geglückt ist, weil die Größe des Riesen erst später im Kampf (v. 2369) richtig deutlich wird und der Erzähler seine Abstammung von einem "jaan mal e deschausW erst v. 5481 aufdeckt. 11) Wie P. Remy, op. cit., nachgewiesen hat; ihm zufolge weist kein literarischer Text des französischen Mittelalters eine derart vollständige, realistische Beschreibung der Lepra auf (cf. S.204),
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bar macht, als vielmehr in dem Einfall, der ihm - wenn wir uns nicht täusdleneine besondere Stellung in der Gesdlichte des Artusromans begründet, diese Defiguration des Wunderbaren im Eingang seiner Erzählung ausdrüdtlich zu thematisieren. Denn in dem seltsamen Abenteuer des .bon rei Artus·, das sidl auf seinem Höhepunkt in einen bloßen Sdlerz auflöst, wendet sich die Ironie des Erzählers gegen die Aventüre als solche, rückt ihren innerweltlichen Sinn in ein fragwürdiges Licht und läßt mit dem Ausruf Keus: .Con avem uei valor perduda· (v. 374) den Hintergrund sidltbar werden, vor dem sidl Jaufre auf seinem Weg zu behaupten hat. Der Autor, dem man sonst mehrfadl mangelnde Sorgfalt in der Komposition nachsagen kann U ), hat diesen ersten Höhepunkt und seine ironische Verkehrung kunstvoll vorbereitet. Er ist bereits in dem durdl Keu provozierten Schwur des Königs angelegt, daß er sidl mit den Seinen erst wieder zu Tisch setzen wolle, wenn sidl eine Aventüre ereignet habe (v. 148 H.). Die stillsdlweigende Voraussetzung des klassisdlen Artusromans, daß sidl die Aventüre gleidlsam von selbst einstelltlt), wird damit aufgehoben; hier geht dem Auszug des Helden eine zugleich peinlidle und lächerlidle Situation der ganzen Artusgesellsdlaft voraus: das Ausbleiben der Aventüre stellt gleidlsam ihre Daseinsberedltigung überhaupt in Frage. Wenn Artus aus diesem Grund selbst auszieht, um koste es was es wolle eine Aventüre herbeizuführen, verkehrt sidl sdlon in diesem Beginnen der etymologische Sinn von ad-ventura als eines kontingenten Sidl-Ereignens, das einem zufallen, aber audl verfehlt werden kann, wenn es jemand nidlt zufolge einer .providentia specialis· zuteil werden soll. Diese Verkehrung zeigt sidl sdlon in der Komik der Situation an, daß Artus das unheimlidle Tier nadl allen Regeln des ritterlidlen Anstands anzugehen versudlt, ohne daß dieses überhaupt davon Kenntnis nimmt (.Mais la bestia non fes parven·, v. 242). Sie steigert sidl zum Anblick des wie gelähmt an den Hörnern des Tieres hängenden und über dem Abgrund sdlwebenden .guten Königs", dessen drohender Tod das mögliche Ende des höfisch-ritterlichen Weltverständnisses vor Augen zu führen scheint und die Ritter die Aventüren überhaupt verfludlen läßt (.E maldizon las aventuras", v. 366). Sie vollendet sich in der ironischen Erfüllung des Schwures ("car trobada l'avetz", v. 4321.), die das volle Ausmaß dieser Katastrophe nur sdleinbar verdeckt, denn die ausgebliebene Aventüre ist nur vermöge einer Erfindung des zauberkundigen Ritters, einer Art von "corriger la fortune", eingetreten, die in Wahrheit aber den Zerfall der wesenhaften Einheit von Zufall und Bestimmung, Sdlein und Sein erst redlt deutlidl macht. So sdleint sich in der imaginären Katastrophe dieser Episode anzukündigen, was später durdl den Weg Jaufres 18) Vgl. Jeanroy, a.a.O. S.313, 319; in einzelnen Punkten können wir ihm indes nicht zustimmen, die sich im Laufe unserer Interpretation dem aufgefundenen Aufbauprinzip zufolge von selbst berichtigen. Dazu gehören auch gewisse Wiederholungen wie die Entsendung der Gefangenen an den Artushof, wobei der Autor dem Vorbild von Chrestiens Perceval folgt, und die nur scheinbare Wiederholung in den ersten vier Kampfszenen, vgl. Anm. 20. 19) Wie z. B. in Chrestiens Perceval, wo Artus ganz in derselben Weise erklärt, an einem so hohen Festtag nicht essen zu wollen, .tant qu'a ma eort novele vaigne· (v. 2826), worauf sogleich auch schon Clamadeu eintritt und ein neues Abenteuer anhebt.
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HANS ROBERT JAUSS manifestiert werden soll: der Ritter trifft auf seiner Suche nach Aventüre auf eine veränderte Welt, in der die Bedingungen ritterlicher Bewährung nicht mehr selbstverständlidl gegeben sind. Betrachtet man den Weg Jaufres unter diesem Gesichtspunkt, so zeigt es sidl, daß die vier Episoden des ersten Teils, in denen man bisher nurmehr eine Reihe von beliebigen, in ihrer Form kaum variierten Einzelkämpfen zu sehen pflegten), sehr wohl eine, wenn nidlt mit großer Kunst, so doch sicher mit Bedacht gesteigerte Folge von Begegnungen mit Gegnern bilden, die sidl mehr und mehr von den Regeln ritterlichen Kampfes entfernen. Der erste, Estout de Vertfuell, kämpft zwar noch ritterlidl, zwingt aber die von ihm Besiegten zu unloyalen Diensten, nämlich ihm zu Fuß zu folgen und ihm Essen zu bereiten (v. 1002-1010). Der zweite, der Besitzer der weißen Lanze, stellt Jaufre die Bedingung, dem Rittertum zu entsagen, Haare und Nägel nicht mehr zu schneiden, auf Brot und Wein zu verzichten und sidl durch eigener Hände Arbeit zu kleiden, andernfalls würde er ihn, wenn er ihn besiegte, aufhängen (v. 1428-1460). Der dritte ist schon gar kein Ritter mehr, sondern ein .serventz" und "raubador", der den Kampf gegen Jaufre mit ungleichen Waffen führt, Rüstung und Pferd als Wegzoll von ihm verlangt und die von ihm besiegten Ritter in Ketten gefangen hält; hier unterliegt der gepanzerte Ritter trotz der ihn feienden Rüstung (cf. v. 1184 ff.) bereits dem behenderen Kämpfer zu Fuß und kann sich schließlich gerade noch mit Brachialgewalt von ihm befreien. Was den vierten Gegner - es handelt sich um den schon besprochenen "mezei" - betrifft, ist es wohl nicht ganz zufällig, daß der Autor gerade inmitten dieser Episode seine Erzählung abbricht, seine Klage über die Verderbnis der Zeit einschaltet, die es ihm unmöglich mache, das weitere Schicksal seines Helden zu berichten, und schließlich nur um des guten Königs von Aragon willen (v. 2616) den Faden wieder aufnimmt. Nicht allein, weil er diese Unterbrechung sehr geschickt auf dem Höhepunkt der Spannung - solange Jaufre im Zauberhaus eingeschlossen ist - stattfinden läßt. Sondern vielmehr, weil sie gerade nach der Besiegung des Leprosen eintritt, also unmittelbar nach der stärksten Konfrontierung des aventüresuchenden Ritters mit einer quasirealen, der Idealität seiner Suche entgegengesetzten Welt. In dem Umstand, daß nach dieser Episode das bisherige Leitthema des Romans, die Verfolgung Taulats völlig zurücktritt und statt dessen die nun einsetzende Liebeshandlung in den Mittelpunkt gerückt wird, sah Lewent im Zusammenhang mit dem damit verbundenen Wechsel des Tons das Hauptindiz für einen Wechsel zwischen einem ersten Verfasser und seinem Fortsetzer. Gegen diese Schlußfolgerung läßt sich indes unter Anerkennung ihrer Prämissen geltend machen, daß die von Lewent erkannte Bruchstelle sehr wohl auch aus einem Dilemma rühren kann, das der eine Autor nicht ganz zu bewältigen vermochte: für Jaufres Endsieg über Taulat bedarf es einer besonderen Motivation. Die bisherige Stufung der heroischen Aventüre läßt sich durch weitere Kämpfe, soll die Erzählung nicht unvermeidlich in eine bloße 20) A. Jeanroy, a.a.O. S.313: .Les quatre exploits par lesquels Jaulre pnHude a sa principale victoire ne sont que des variantes d'une meme aventure et ne different que par des details accessoires.· Ähnlich Lewent, a.a.O. S.581, und Brunel, SATF
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Reihung zufälliger und vertauschbarer Aventüren geraten, kaum noch überbieten. Der schwer errungene Sieg über den Leprosen setzt weiteren Hindernissen dieser Art, die sich der Verfolgung des Hauptgegners entgegenstellen könnten, eine deutliche Grenze. Taulat selbst ist bei aller Brutalität ein Ritter von hohem Rang, die bisherigen Waffentaten Jaufres allein erweisen noch keinen zureichenden Grund für einen nur ihm vorbehaltenen, providentiellen Sieg, der ihn als Person zu charakterisieren und in den Artuskreis einzureihen vermöchte. Die von Lewent erkannte Bruchstelle macht das Dilemma des Erzählers sichtbar, für diese Motivation des Sieges einen Wendepunkt in der Geschichte seines Helden zu konstituieren. Es gründet letztlich in seinem Unterfangen, aus einer Kombination der verschiedenen Werke Chrestiens seinen eigenen Roman zu schaffentl). Bis hierher folgt er Lancelol, dem er die Auslösung der Handlung durch eine Herausforderung des Königs (Taulat = Meleagant), Keu als Kontrastfigur und das epische Thema der Verfolgung nachbildet. Dabei erscheint die eigentümliche Schwäche des Königs, die sich wie eine Lähmung auf die ganze Artusgesellschaft ausdehnt, in einer schärferen Beleuchtung. Denn im Unterschied zum Lancelot geht dieser Szene im JaulTe das bis dato wohl unerhörte Vorspiel voraus, daß Artus, dessen Waffenruhm für den Leser der Artusromane in legendärer und nebuloser Ferne liegt, aus seiner topischen Passivität heraustritt und selbst eine Aventüre auf sich nimmt, als ob er allein ("solamen" , v. 198) das mit dem Ausbleiben der Aventüre drohende Schicksal abzuwenden vermöchte. Die hier enthüllte Ohnmacht seines HandeIns gibt seiner späteren, hilflosen Resignation gegenüber Taulat E'I rei a clinada sa testa Que fon conslros e marritz. (592-3)
vorweg schon ihre tiefere Bedeutung. Die Defizienz des "bon rei", die sidl in der Lethargie seiner Ritter widerspiegelt, kommt im JaulTe nicht mehr erst (wie in LanceJot) durch ein auslösendes kontingentes Ereignis zum Vorschein, sondern liegt der Aventüre des Helden notwendig voraus, von deren Ausgang nidlt mehr allein, wie im Lancelot, die Rehabilitierung des Königs und der 21) Die Entlehnungen und Parallelen aus den Romanen Chrestiens hat A. Jeanroy in seinem schon zitierten Artikel (S. 314 ff.) zusammengestellt und Brunel in der Einleitung seiner Ausgabe (SATF) in einigen Einzelheiten berichtigt (S. XLV, Anm. I). Dieses Material wurde u. W. jedoch bisher noch nicht im Hinblidc auf die aus einer eigenwilligen Kombination verschiedener Romanstrukturen hervorgehende Konzeption des JaulTe ausgewertet. Bei unserer Analyse sind wir der Arbeit von Hildegard E m m e I, Formprob/eme des Artusromans und der Gra/dlchtung, Frandce, Bem 1951, verpflichtet. - Dem gesammelten Material lieBe sich noch hinzufügen: die Szene, in der Jaufre auf dem Bett unter Panzer und Dedcen verborgen den Hexensabatt der Schloßbewohner über sich ergehen lassen muß (v. 3935 ff.), erinnert an Yvain v. 1055 ff. (oder an die Nöte Gavains im lOHt marveile·7) i der freundliche Empfang durch die Tochter Augiers (v. 4481 ff.) an den Calogrenants (Yvaln v. 224) j die Zweifel Brunesentz' (wEz ira s'en per aventuraj C'amors d'aital home non dura (...J", v. 8281 ff.) resumieren die Situation, aus der heraus Laudine Yvain ihre Frist auferlegte (v. 2562 ff.) i die Ermahnung Artus' an Jaufre (.Que per moiller non oblides / Esta cort, que non sai tomes· , v. 10212 ff.) könnte auf die Situation Erecs anspielen. Vgl. ferner unsere Hinweise in Anm. 18 und 19.
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Königin abhängtl l). Jaufre nimmt mit der Beseitigung des Unrechts gleichsam die Wiederherstellung der sittlichen Ordnung in einer Welt auf sich"), in der die Ohnmacht der ritterlichen Gesellschaft allerorts zutage tritt. Denn nicht nur verharren die Artusritter insgesamt in einer auffallenden Untätigkeit (die Fee Gibel z. B. findet am Artushof in Abwesenheit von Galvain und Jaufre keinen Verteidiger ihrer Sache, die Zufluchtsstätte aller Bedrängten scheint ihren Nimbus einzubaßen, obwohl die Zahl der dort versammelten Ritter in die Tausende steigql4). Auch auf dem ganzen Weg findet Jaufre bei jedem Gegner eine große Zahl von "bons e pros cavaliers in Gewahrsam, die ihrer topischen Tapferkeitsattribute unerachtet roher Gewalt und unfairer List unter legen waren lS ). Insofern behält die Klage über die Verderbnis der neuen Zeit nicht mehr ganz ihren traditionellen Sinn. Der Autor benutzt zwar noch die topische Gegenüberstellung mit der guten alten, an "proesas·, w bons faitz· und "larghesas· reichen Zeit (v. 2584 ff.). Doch die Perfektion des hier beschworenen qoldenen Zeitalters spiegelt sich bereits nicht mehr unverstellt in der Aventüre Jaufres, die wie die Geschichte aller Helden Chrestiens eigentlich in dieser idealen Distanz des "Nicht mehr einer als Gegenbild entworfenen Vergangenheit spielen sollte. Als ob die Vorbedingungen ritterlichen HandeIns auf seinem Feld der Bewährung selbst erst zu suchen wären, verqewissert sich Jaufre, bevor er sich auf einen Kampf einläßt, über die Rechtslaqe seiner Schützlinge und macht in jedem einzelnen Fall zuvor seine Gegner auf das Unrecht ihres Verhaltens eigens aufmerksam"). Sein Sieg hat über den herkömmlichen Sinn einer wert- und rangerhöhenden Tat hinaus den ausqesprochenen Charakter vergeltender Gerechtigkeit ("Non era tan mal ni tan fortz. Oue'l pros JaufTe nO'n preses dTeitz·, v. 2142 f.), die mehrmals in sinnfälliger Weise nach den Gesetzen des Talionsystems ausgeübt wird: der Ritter von der weißen Lanze wird wie die zuvor von ihm Besiegten gehenkt (v. 1520), dem Wegelagerer werden beide Beine abgehauen. deren Behendigkeit so manchem Ritter zum Verhängnis geworden war17 ), der erste "mezel M
M
,
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22} Von der Königin Ist im Jaulre zunächst gar nicht die Rede, erst später wird der Schimpf ausdrücklich auch auf sie bezogen, cf. v. 9526. 23) Vg1. Jeanroy, a.a.O., S.374: .Incidemment Ivain dans 1e Chevalier au lion et Perceval dans le Conte du Graa1 se font aussi les defenseurs de la faib1esse opprimee, mais aucun d'eux n'est, comme Jaufre, un redresseur de torts en quelque sorte professlonnel I ... J•. 24) Gewiß darf man hier nicht verkennen, daß diese Paralyse des Artushofes Im Eingang des LanceJol und des PercevaJ schon vorgebildet ist (vgJ. Emmel a.a.O. S. 36, 55) und prImär dazu dient, den Ruhm des Haupthelden in ausschließlicher Weise zu erhöhen. Doch nimmt sich die Passivität der Ritter - Taulat kann sich rühmen, allein mehr als Tausend getötet oder besiegt zu haben (vgl. v. 6493) -, im Vergleidt zum astronomischen Anwachsen ihrer Zahl - bei der Hochzeit Jaufres sind deren 100 000 zugegen (v. 9679) -, eigenartig aus. Der Text im ganzen dürfte für eine Untersuchung über den Verfall der Zablensymbolik instruktiv sein. 25) Vgl. v. 1203, 1438, 1952, 5061. 26) Vgl. v. 1032 ff., 1439 ff., 1716 f., 2263 ff. 27) Vgl. v. 1881 ff.: .Ara·us prec·, so li dis Jaufres, .aue non coras ni non sautes Ne'us conbatatz ab cavallier E aprenetz autre mestieI ...•.
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büßt seine Hand ein, mit der er zuvor Jaufre obszöne Gesten machte (v. 2692); in diesen Zusammenhang gehört zuletzt auch die Vergeltung nach dem Prinzip "Auge um Auge", die Melian, der als einziger nicht zur Verzeihung bereit ist, für Taulat fordert. Ein zweites Motiv der Zeitklage, die Entrüstung über das Emporkommen einer Schidlt von Neureidlen, die "pretz", "gaug", "solatz" und "cortesia", die Werte der alten, höfisch-ritterlichen Gesellschaft zu Fall bringen (v. 2570 ff.), stellt eine Art von Verbindung zu der nun einsetzenden Liebesgeschichte des Helden her, insofern die vom Glanz eines großen Besitzes umstrahlte Brunesentz durdl die Armut ihres Bewerbers vor die Wahl zwischen "riquesa" und "proesa" gestellt wird (cf. v. 3771 ff., 7482 ff.). Man wird indes nicht sagen können, daß diese äußere motivische Verklammerung den fehlenden inneren Zusammenhang in der Geschichte Jaufres zu ersetzen vermag. Der Bruch, der hier zum Vorschein kommt, macht einen Wechsel des Vorbilds so deutlich sichtbar, daß sich der von Lewent supponierte Wedlsel des Verfassers erübrigt. Der Autor folgt von nun an, nachdem er im bisherigen Gang seines Helden alle ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten des heroisdl-innerweltlichen Ideals der Aventüre ausgeschöpft hat, dem Vorbild von Chrestiens Eheroman, insbesondere dem eliges, dem die Seelenanalyse der Liebenden in Form von nächtlichen Monologen nachgebildet sindt6 ). Daß es ihm nicht gelang, es seinem Vorbild in der Kunst gleichzutun, die Liebeshandlung seines Helden in den Stufengang seiner Aventüre zu integrieren, bzw. "amor" und "proeza" in das thematisdl angekündigte Verhältnis wechselseitigen Sich-Bedingens zu bringen ( .. Car per amor es horn plus pros [... ]", v. 3104 ff.), kennzeichnet ihn als Epigonen. Es entspricht aber der durchgängigen Intention seines Werks, daß er wenigstens in einer Hinsicht versucht hat, den Schritt von "proeza" zu "amor" in einen Motivationszusammenhang zu stellen: die Art und Weise, wie Jaufre von Liebe befallen wird, ist zunächst noch ganz vom bisherigen Gang seiner Erfahrungen bestimmt. Die Anfälligkeit des Helden gegen den Pfeil Amors spiegelt sidl gleichsam in seiner veränderten Verfassung nadl dem Kampf mit dem Leprosen: er wird derart von Müdigkeit und Hunger überwältigt, daß er die Verfolgung Taulats vernachlässigt, sidl treiben läßt, "on son cavals 10 mena" (v. 3037), der Versuchung eines .locus amoenus" nicht widerstehen kann, dort schläft, als ob ihn die ganze Welt nichts mehr anginge (v. 3180 ff.) und schließlich gar noch sein Fastengelübde bricht, um mit dem Ochsentreiber ein idyllisches Picknick abzuhalten (cf. v. 4214 ff.). In der humorvollen Darstellung des Erzählers führen diese Verstöße gegen die Konvention zu keinerlei Konsequenzen. Von Verstößen ist überhaupt nicht mehr die Rede, als ob das klassische Ideal ritterlicher Vollkommenheit, und mit ihm das literarische Vorbild des Ritters ohne Furcht und Tadel, :nit seiner Erhabenheit über alle bloß physischen Bedingnisse des Daseins, unvermerkt seine Verbindlichkeit eingebüßt habe. So tritt Jaufre der Schloßherr in von Monbrun - darin vollendet sich diese Desincarnierung des heroism-innerweltlichen Ideals der Aventüre - nicht mehr im strahlenden Glanz seines Rittertums, sondern in der grotesk gezeichneten Gestalt eines völlig sdllaftrunkenen "Helden" vor Augen, der alles, sein Todesurteil ein28) Jeanroy, a.a.O. S.316.
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begriffen, auf sich zu nehmen bereit ist •• mais sol que'm laisetz pro donnir(v. 3662). Auf der anderen Seite aber bleibt auch die Dame nicht ganz vom gutmütigen Spott des Erzählers verschont. Der ersten Erklärung Jaufres wird in ihrer troubadouresken Keckheit Domna. tot a vostre talen Podetz far e a vostra guisa De mi; car en vostra camisa Senes totz autres garnimentz M'auriatz conquist plus corentz Que X cavallier tuit armat. Tant vos ai bona volontat. (3628-34)
- ein ironisches Schlußlicht aufgesetzt, denn der Erzähler läßt Brunesentz in ihrem nächtlichen Monolog sich dieser Äußerung bereits mit einer kleinen, aber bezeichnenden Veränderung des Wortlauts erinnern: Mas leu non sai jes, per ma fe, Son cor s'U s'azauta de me. Si fa, que assatz en fes parer, Quant dis, qu'ie" puesc mels retener Nuza. senes totz garnimentz, (!) Que s'eron ab armas einc centz. (3805-10)
Man geht wohl nicht zu weit, wenn man in dieser .. echt weiblichen Ubersteigerung- mehr als eine höfisch-preziöse Abwandlung des Symbols der edlen Armut (.. la vertu toute nue-)"), nämlich einen feinen Ton mittelalterlicher Frauensatire zu erkennen glaubt. Auch wenn der Autor die Liebe Jaufres und Brunesentz. die darum - wie P. Rem y zeigte - nord französischen Vorbildern und nicht der Auffassung der Troubadours entsprichtlO ), in der vor dem Lehnsherrn Artus geschlossenen Ehe gipfeln läßt, kann er es sich nidlt versagen. der feierlidten Würde seiner Prunk szenen eine ironische Schlußwendung zu geben. Er läßt Jaufre nach der Hochzeitsnacht von Melian mit Worten begrußen. in deren Spott der burleske Anfang seiner Begegnung mit der Sdlönen wieder auflebt: Dieus, e con es tant matinier, Que Ja soUatz tant dormir! Mas ieu sai, mal vos enui' er Lo cant dels aucels dei verzier, Que an cantat tota la nueitz. Per tal que'us fesesson enueitz (v. 10883 ff.).
Die Liebeshandlung des Romans als solche mit der ihr eigenen Tendenz zur Verselbständigung kann hier außer Betracht bleiben, weil sie sidl nur rein äußerlich mit dem Ausgang der Aventüre Jaufres, ihrer SinnerfülJung im Sieg über Taulat, berührt. Denn das Geheimnis der sonderbaren Klagen. die Jaufre nach Monbrun wieder auf die Spur seines Antagonisten bringen, findet zwar am Lager des gepeinigten Ritters seine Erklärung (5138 ff). spielt aber nicht im 29) So kommentiert Lewent. ZRPh, XLVIII. Anm. zu v. 3794. diese Stelle. 30) In seiner noch nicht veröffentlichten Mitteilung Le sentiment de l'amour dans • Jau/re- • auf dem Jer Congres international de langue et Iitt~rature du midi de la France. Avignon 1955.
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mindesten in die besondere Motivation herein, die Jaufre allein dazu ausersehen machen soll, in der Gewißheit eines höheren Rechts - Car 10 meu gran drei tz e'l seu tortz E sos ergueil l'abatra mortz - (5109 f.)
den Sieg davonzutragen. Um dieser Motivation willen hat der Autor eigens eine in der Okonomie der Fabel sonst nicht weiter zu rechtfertigende Frist von 8 Tagen eingelegt, die er seinen Helden unerachtet seiner (bisher ständig thematisierten) Eile auf das Erscheinen Taulats warten läßt (v. 5082). Im Ungeschidt dieser Einschaltung, der zweiten Bruchstelle in der Komposition des Romans, macht sich ein weiterer Wechsel des Vorbildes, der Rüdtgriff auf Chrestiens Perceval bemerkbar. In welcher Absicht hat der Autor des Jaulre dieses Vorbild benutzt? Während sich eine Reihe von Einzelmotiven aus dem Perceval ohne Schwierigkeit in seine Konzeption einfügen ließen'l), hat das Thema des großen Dulders - Melian erinnert bekanntlich an den Fischerkönig - infolge der voraufgegangenen burlesken Verkehrunq der Mitleidsfrage seinen tieferen Sinn eingebüßt. Der Autor hat die Wandlung seines Helden auch gar nicht mehr daran zu knüpfen versucht und statt dessen in der abrupten Verkürzung einer einzigen Szene eine eigene Synthese von Gralsrittertum und Artusrittertum unternommen. Der Kampf mit dem schwarzen Ritter nimmt in der Komposition des Jaulre unverkennbar die Stelle des Gralsgeschehens im PercevaJ ein. In dieser Szene allein hat der Autor, so völlig er sich auen aller Problematik von Verfehlung, Strafe und Gnade entschlägt, dem Wunderbaren seinen übernatürlichen Charakter zu bewahren gesucht, offensidttlien um seiner Lösunq einer Apologie der ritterlichen Aventüre höhere Uberzeugungskraft zu verleihen. Senon die äußere Szenerie - üher das Kirenlein des Einsiedlers hinaus ist seit dreißig Jahren kein mensdtlidtes Wesen gelangt (v. 5465 ff.) - deutet an, daß Jaufres Aventüre hier an ihre äußerste innerweltlidte Grenze gelangt ist. Das Ersdteinen des sdtwarzen Ritters unmittelbar nadt der Warnung durdt die seltsame Alte unter der Fidtte, der bis Sonnenuntergang und dann die ganze Nadtt über andauernde Kampf mit dem immer wieder unsidttbaren und nach seiner Zerstüdtelung sogleien wieder heilen Gegner und sdtließlich das wüste, unentsdteidbare Ringen ohne Waffen verliert bis zuletzt nicht den gespenstisdten Aspekt einer mythisdten Begegnung zwisdten Mensdt und Dämon. Der Feind, der dem Ritter hier den Weq verstellt und dessen er nidtt aus eiqener Kraft Herr zu werden vermag, ist der von der Hölle entbotene (v. 5478 ff.), in Rittergestalt erscheinende Feind der Mensdten überhaupt (..10 nemics·, v. 5645\: um ihn zu bestehen, bedarf es anderer Waffen, ..las armas Jesu Christ(v. 5518), mit denen ihm am Ende der Einsiedler zuhilfe kommt. Mit diesem Eingreifen, das einen Akt der Gnade imnliziert, hat sidt die entsdteidende Wendunq in der Aventüre des Ritters vollzogen: Jaufre, der bisher nur aus eigener Vol1kommenheit nach den Gesetzen der Wiedervergeltung Redtt sdtuf und seinen Ritternflichten genügte, kann nun der Hilfe Gottes gewiß (cf. v. 5600), gleichsam als Gottes eigener Ritter den Kampf mit seinem Hauptfeind Taulat aufnehmen und dessen Hvbris zu Fall bringen. Unter diesem Vorzeichen hat die Senilderung dieses Kampfes an sich selbst für den Erzähler kaum noch 31) Wir verweisen hierzu auf die in Anm. 18, 19, 21 und 24 aufgeführten Parallelen.
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HANS ROBERT JAUSS Interesse (sie wird in nur 20 Versen abgetan, cf. v. 6036 H.). Der jähe Sturz Taulats besiegelt nurmehr die ihm durch Jaufre erteilte Lehre, daß Gott die "desmesura" nur zulasse, um den Fall des "orgoillos" desto sicherer herbeizuführen (cf. v. 6080 ff.) und sich darin selbst zu erkennen zu geben. Darum kann sich Jaufre als Werkzeug der göttlichen Vorsehung (v. 6084) aufführen und später von Taulat geradezu sein "met je natural" genannt werden, der ihn von seiner Hybris geheilt habe (v. 6485). Daß der Autor mit diesem Ausgang der Aventüre Jaufres, bzw. mit der Rückkehr seines Helden in den Artuskreis noch kein Ende finden kann, gehört zu den Zügen seines Romans, die ihn als Werk eines Epigonen kennzeichnen. Der für den klassischen Artusroman charakteristische" Wechsel zwischen Vereinzelung und Wiedereinordnung in die Gemeinschaft"'l) ist im Jaulre von geringer Bedeutung. Dasselbe gilt auch für die doppelte Forderung von Rittertum und Liebe, die etwa im Erec oder Yvain als Konflikt ausgetragen wird: im Jaulre, wo sie einmal in beiläufiger Weise gestaltet ist - der Zug der Verlobten zum Artushof wird durch die Bitte der Fee Gibel um Hilfeleistung aufgehalten (v. 8005) - , hat es damit keine weitere Bewandtnis, als daß der Autor noch eine weitere Kampfszene einschalten will (Fell on) , die nach dem providentiellen Sieg über Taulat nicht mehr am Platze ist. Der Rücx.weg des vermählten Paares nach dem Abschied vom Artushof schließlich kann dem Bild ihrer Person nichts mehr hinzufügen und dient, von der Neigung des Autors abgesehen, prunkhafte Szenen zu entfalten, lediglich noch dem Zweck, eine Art von Aussöhnung aller Beteiligten zu veranstalten (selbst Taulat wird am Ende seine Strafe für einmal erlassen)(v. 10920 ff.). Bei alledem wird man indes dem Autor des Jaulre zuerkennen müssen, daß er die benutzten Vorbilder nicht einfach willkürlich kombiniert, sondern in eigenwilliger Weise einer Absicht untergeordnet hat, die sich vom Perceval aus gesehen als ein Versuch darstellt, die Dualität von innerweltlicher Bewährung (Gavain) und göttlicher Berufung (Perceval) im Weg ein und derselben Heldenfigur aufgehen zu lassen. Daß dabei Jaufre als Held nicht mehr an die spannungsreichere Exemplarität der Chrestienschen Artusritter heranreicht, weil sein Weg nicht erst durch ein Sich-Verfehlen zur Vollkommenheit führt, ist vielleicht das wichtigste Spätlingssympton in diesem Roman, der in seiner apologetischen Tendenz am deutlichsten eine epochale Veränderung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit anzeigt: das Beispiel Jaufres (der wie Jakob I. der Eroberer, den Gott liebt, "car si ten ab los sieus, qu'el es sos noveltz cavaliers I e de sos enemics guerriers" (v. 67 ff.), die Auszeidmung eines Gottesritters erlangt) führt vor Augen, daß die Aventüre in einer veränderten, aller selbstherrlichen Verklärung ritterlicher Existenz feindseligen Welt ihren Sinn allein noch in einer spirituellen Rechtfertigung zu finden vermagUB). 32) H. Emmel, a.a.O. S. 35. 32a) Vgl. dazu Erich K ö h I er, Zur Entstehung des alliranzösischen Prosaromans, in der Festschrift für Eduard von Jan, Wissenschaftliche Zeitschrift d. Universität Jena, Jg. 1955/56, S.281-292, der dort den Zusammenhang von Spiritualisierung und Aufgeben der Exemplarität in den um dieselbe Zeit entstehenden großen Prosaromanen aufzeigt.
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DIE DEFIGURIERUNG DES WUNDERBAREN Wenn unsere Interpretation den Rüdtschluß auf eine im Ganzen einheitliche Konzeption des Jaufreromans, in deren Plan sich die Differenz der beiden Teile ohne Schwierigkeiten einbeziehen ließ, überzeugend machen konnte, steht der Annahme eines einzigen Verfassers nur noch der rätselhafte Sinn der Schlußverse entgegen: Ar preguem tuit cominalment, Que cel, que vene a naissiment Per totz nos autres a salvar, Que, si'l platz, el deing perdonar A cel, que'l roman tz comenset. Ez az aquel, que l'acabet, Don de tal maniera reinar En aquest siegle ez estar, Que sia al sieu salvamentl 'Amen!' digatz cominalmentl (10945-54) Wie sich diese Schlußformel in Form eines Gebets auch auf ein und dieselbe Person beziehen läßt, hat Brunel gezeigt, dessen Deutung wir weiterführen: "Elle distingue le passe, pour lequel on ne peut que demander pardon du peche et l'avenir qui permet d'eviter la faute, Les deux considerations peuvent convenir a une meme personne, L'etrange est que cette personne soit presentee a deux moments de son röle d'auteur"II). Wäre die noch offen gebliebene Frage, in welcher Absicht der Autor von Anfang und Ende spricht, nicht damit zu lösen, daß man "perdonar" und "salvament" folgendermaßen auf sein literarisches Schaffen selbst bezieht: er gedenkt zum Schluß noch einmal seines Beginnens wie einer Verfehlung, die der Nachsicht und Verzeihung bedarf (Bescheidenheitstopos, oder weil er ein profanes Werk unternahm?), und wendet sich sodann mit der Hoffnung, daß ihm sein künftiges Leben zur Erlösung gereichen möge, von dem vollendeten Werk (oder vom literarischen Schaffen überhaupU) ab. In der Unterscheidung zwischen (sündhaftem) Anfang und (erlösendem) Ende läge demnach eine implizite Rechtfertigung des zweifelsohne theologisch gebildeten Dichters'·), der die überkommene Form des Artusromans mit einem aller Esoterik baren spirituellen Sinn zu erfüllen suchtel l),
33) Brunel, SATF S. XXXVII. 34) Wie schon A. Stimming, ZRPh. XII S.344, herausgestellt hat. 35) Die These der vorliegenden Abhandlung habe ich auf dem ler Congres de langue et litterature du midi de la France, Avignon 1955, in einem Kurzreferat mitgeteilt
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XIII.
DIE KLASSISCHE UND DIE CHRISTLICHE RECHTFERTIGUNG DES HÄSSLICHEN IN MITTELALTERLICHER LITERATUR
I Die erste Kunsttheorie, die sich eigens mit der Ästhetik des Häßlichen befaßt, ist das berühmte, 1853 erschienene Werk von Karl Rosenkranz. Doch nicht von ihm, sondern von einem seiner französischen Zeitgenossen ist die Begrenzung der Kunst auf das Ästhetische, der historisch vorausliegende Kanon des Klassischen und der daraus hervorgegangene modeme Begriff der Autonomie des Schönen entschieden in Frage gestellt worden: von Vietor Hugo in seiner Preface de Cromwell. Zwar steht der letztere keineswegs im Rufe eines bedeutenden oder auch nur ernst zu nehmenden Theoretikers, und man pflegt den durchschlagenden Erfolg der Preface, von deren Jahr (1827) an eine neue Generation von Literaten in Frankreich den vollendeten Sieg der modemen, sprich romantischen Ära über den Klassizismus datiert hat, auf alles andere als auf die ästhetischen Ideen des offenbar nur spekulierenden, kompilierenden oder gar bluffenden >Philosophenc zurückzuführen. Doch diese lang eingebürgerte Einschätzung hält einer Prüfung vom Standpunkt gegenwärtiger Literaturtheorie nicht stand. Sie erweist vielmehr, daß Karl Rosenkranz mit seinem Versuch, die Formen des Häßlichen in einer gestuften Ordnung vollständig zu beschreiben, den Boden der klassischen Tradition des Ästhetischen nicht verlassen hat,! während Vieter Hugo, der auf der Grundlage von Chateaubriands Poetique du Christianisme in noch ungeklärter Filiation Ideen der deutschen Frühromantik wie auch Hegels drei Weltzeitalter der Dichtung weiterentwickelt hat, mit einer neuen Rechtfertigung des Häßlichen den klassischen Kanon des Schönen durchbrach. Die Preface de Cromwell gipfelt in der Forderung einer Kunsttheorie der Modernität, die aus der Verbindung des Erhabenen mit dem )Groteskenc hervorgehen sollte. Hugos Kritik des klassischen Kunstbegriffs ist darum besonders geeignet, die Fragestellung des vorliegenden Beitrags zu umreißen und in den historischen Problemzusammenhang dieses Kolloquiums zu rücken. Bei K. Rosenkranz macht sich die - auch in Hegels Ästhetik greifbare - Verhaftung im Kunstideal und Geschmack des Klassizismus verschiedentlich als Grenze
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seiner Urteile und Befunde geltend. Seine Untersuchung greift zwar undogmatisch aus, indem sie das Häßliche vom bloß Negativen und Unvollkommenen über die Bereiche des Natur- und GeisthäBlichen bis zum KunsthäBlichen aufsucht und so den Anschein erweckt, die christlich-platonische Metaphysik des Schönen (d. h. die supernaturalistische Hypothese vom Ursprung des Häßlichen durch das Böse, was die Natur corrumpiert habe l ) hinter sich gebracht zu haben. Sie ist aber von vomhereinan eine Prämisse gebunden, die ihre Modernität im Grunde auf den gesammelten und
geordneten Stoff des Häßlichen beschränkt: Das Sdtöne ist die positive Bedingung seiner Existenz und das Komisdte ist die Form, durdt weldte es sidt, dem Sdtönen gegenüber, von seinem negativen Charakter wiedererlöst. ( ... ) Das Sdtöne ist also, wie das Gute, ein Absolutes, und das Hä8lidte, wie das Böse, nur ein Relatives (p.8).
Das Häßliche hat für Rosenkranz nach wie vor sein Maß am klassischen Begriff des Schönen; es ist in der Kunst nur als übergang zum Komischen gerechtfertigt, durch das es wieder erlöst, d. h. in die Freiheit des Schönen zurückgebildet wird (p. vii). Das entspricht immer noch der klassizistischen Position, die schon Lessing in den berühmten Kapiteln XIII-XXV des Laokoon vertrat: daß die Häßlichkeit dem Dichter nur brauchbar sei, wo sie von der Seite ihrer Wirkung, Häßlichkeit zu sein, aufhöret, nämlich als Ingredienz, um vermischte Empfindungen wie das Lächerliche oder das Schred<.liche hervorzubringen, die ihrerseits wieder an Grenzen des Ästhetischen gebunden sind: das Lächerliche habe sie im Unschädlichen, das Schreckliche da, wo das Gräßliche noch unser Mitleid interessiert. Gewiß ist Rosenkranz über den Aristotelismus Lessings hinausgelangt, indem er z. B. das Naturhäßliche auch jenseits der Grenzen des klassischen Naturbegriffs aufsuchte; doch wahrt er auch dort wieder in doppelter Hinsicht das klassische Maß des Schönen als ein absolutes. Wo die Natur - wie im Bereich der rohen Masse - nicht notwendig schön sein könne, sei sie auch nicht notwendig häßlich, sondern zufällig (p. 15); das Häßliche taucht im Stufenreich oder Process der Natur somit auch erst korrelativ zum Schönen auf und bleibt bezogen auf die Abgeschlossenheit und Maßbestimmtheit der organischen Gestalt (p.17, 24). M. a. W.: die Natur ist für Rosenkranz keineswegs - wie in der Ästhetik seines anderen Zeitgenossen Baudelaire - an sich selbst, als nicht vom oder für den Menschen geschaffene Materie häßlich, und was er als positiv häßlich bestimmt, verrät noch immer ein Vorverständnis der kontrastierenden klassischen Kunstform: dem organischen Gebilde wird per se, zufolge der Abgeschlossenheit seiner Gestalt oder Individualität, ein ästhetischer Charakter zugeschrieben. I Vietor Hugo, der die antiklassische IPoetik des Christentumsc radikalisiert, interpretiert die höhere Wahrheit der christlichen Kunst nicht mehr dogmatisch (wie noch
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K. ROSENKllANZ, Asthetik des Hiißlic:hen, Königsberg 1853, p. 25. Ib. p. 17: In der organisdten Natur macht die Abgeschlossenheit der Gestalt das Prinzip ihrer Existenz aus. Hiervon ist die Folge, daS die Schönheit sich aus der träumerischen Zufälligkeit losmacht, die ihr in der unorganischen Natur anhaftet. Das organische Gebilde hat sofort einen bestimmten ästhetischen Charakter, weil es ein wirkliches Individuum ist. Eben deshalb aber wird nun hier auch die HäBlichkeit in viel besämmterer Weise möglich.
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Chateaubriand), sondern als Schritt zur Erkenntnis und Darstellung einer vollständigeren Natur als sie die )einseitige< Kunst der Antike gekannt habe: le mristianisme amene la poesie a la verih~. Comme lui, la muse modeme verra les choses d'un coup d'ceil plus haut et plus large. Elle sentira que tout dans la creation n'est pas humainement beau, que le laid y existe a cate du beau, le difforme pres du gracieux, le grotesque au revers du sublime, le mal avec le bien, I'ombre avec la lumiere.'
Das Häßliche, Ungestalte oder Groteske, das erst der )melancholische Geist< und die kritische Philosophie des Christentums entdecken konnte, soll hier mehr und etwas anderes sein als die bloße Gegenbildlichkeit und Privation des Schönen, auf die Victor Hugo das Groteske in der antiken Kunst beschränkt sieht (das geht wenn nicht aus seinen oft oberflächlichen Beispielen, 50 doch aus seiner Bemerkung hervor, daß über dem Häßlichen der antiken Dichtung une voile de grandeur ou de divinite, d. h. ein Schleier des Mythischen und Unwirklichen liege, während das Groteske der christlichen Dichtung überall in der wirklichen Welt seine Stätte habe, p.16/17). Das Häßliche soll im dritten, christlichen Weltzeitalter der Kunst selbständig neben dem Schönen stehen, wie es auch in der geschaffenen Natur existiere - damit kommt Hugos Ansatz dem Versuch gleich, das Groteske als nicht-antithetische ästhetische Kategorie einzuführen und sein Eigenrecht mit Hilfe des christlichen Schöpfungsdogmas zu legitimieren! Mit dieser Rechtfertigung fällt Hugo aber gerade nicht in den latenten Platonismus des augustinischen Arguments zurück, das Häßliche erscheine nur dem Menschen als häßlich, weil seine wahre, Gott offenbare Schönheit secundum ordinem uns eben propter peccata nostra verborgen bleibe.4 Vielmehr sucht Hugo das Groteske als ein Häßliches, das nicht nur Gegenbild des Schönen ist,5 auf einer Realität zu begründen, an der sich die Grenzen der antiken Kunst in der Tat schlüssiger erweisen lassen als an ihrer Verhaftung im Mythischen - auf der Vielfalt des Individuellen, das sich in den mittelalterlichen Skulpturen oder im dantesken Inferno wie auch in den Charakteren Shakespeares und der modemen Komödie entfaltet habe. Le beau n'a qu'un type; le laid en a mille (p.19): hier tritt der Gegensatz zwischen antiker und christlicher Kunst in ein neues Licht! Das Prinzip des Grotesken, mit dem die modeme Muse den klassischen Kanon des Schönen durchbrach, erweiterte demnach die Grenze des Darstellungswürdigen auf die Individualität des einzelnen, unidealen und darum - nach klassischem Begriff - >häßlichen< Menschen. Während die wesenhaft >epische< Muse der Antike - so können wir folgern - das Häßliche mit dem Niedrigen gleichsetzt, es in jedem Zug zum Gegenbild des Edlen und Guten macht (Thersites) und das Einzelne und Individuelle unweigerlich in den idealen Bereich des Typischen emporhebt, setzt die nach Victor Hugo wesenhaft )komische< Muse der christlichen Ära mit dem Grotesken, das als detail d'un grand ensemble qui a La Priface de Cromwell, ed. F. lOWMATZSCH und M. l. WAGNER, Berlin 1920 (Romanische Texte, Nr. 3), p. 13. , De Gen. contra Man., cap. 16, 25. 5 Auch wenn Vietor Hugo in seinem Wortgebrauch grotesque nicht ständig in dieser Bedeutung (als nicht-antithetische ästhetische Kategorie) von laid unterscheidet, ist die Einführung von grotesque doch offensichtlich durch das Bedürfnis dieser Unterscheidung bedingt.
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nous ecJzappe auf das unfaBbare Ganze der Schöpfung verweist und nicht mehr mit dem an sich selbst evidenten Kanon idealen Menschseins harmoniert (p.19), die antithetisch ausgeschlossene Wirklichkeit der Individualität für die Kunst frei. Es kam uns in dieser Exposition vor allem darauf an, die Begrenzung des klassischen Kunstideals auf das Ästhetische in doppelter Hinsicht aufzuzeigen: einmal prinzipiell, an der unter dem Kanon der Einheit des Wahren, Schönen und Guten ausgeschlossenen Möglichkeit, das Häßliche als selbständige, d. h. nicht antithetische Kategorie des in der Kunst Darstellbaren einzuführen; zum anderen historisch, durch den Hinweis auf einen Wendepunkt in der Geschichte der Poetik, an dem diese Möglichkeit ausdrücklich formuliert und im Namen einer jetzt nachzuholenden christlichen Ästhetik gegen die Herrschaft des klassisch-humanistischen Kanons zum Programm einer neuen Epoche der Kunst !!rhoben wurde. DaB der Begriff des Klassischen, von dem sich Vietor Hugo polemisch absetzt, dem Wesen antiker Kunst nach den Maßstäben späterer historischer Erkenntnis nicht gerecht wird, benimmt seiner Kritik am Antikebild des Klassizismus nichts an Bedeutung. Denn die provokative Spitze dieser Kritik, daß die einseitige Beschränkung der klassischen Kunst auf das Schöne und zeitlos Typische die Natur )verstümmelte habe, ist keine bloBe übertreibung Hugos; sie meint das klassizistische Prinzip der imitation de la belle nature, trifft damit zugleich die neuhumanistische Auslegung antiker Kunst und schlieBlich auch die Idee Jer Autonomie der Ästhetischen, aus der in den Jahren der Preface de Cromwell die The"rie des L'Art pour "Art hervorging.' Die Tragweite dieser Kritik, in der die ersten (christlichen!) Ansätze zu der groBen Realismus-Diskussion des 19. Jahrhunderts stecken, war Vietor Hugo gewiB noch nicht bewußt. Denn in seiner berühmten Schrift ist nicht zu übersehen, daß der Verfasser in seiner Rechtfertigung des Häßlichen stecken blieb, daß er den nicht-antithetisch bestimmten Begriff des Grotesken bald wieder für den Effekt der Stilmischung gebrauchte und schließlich - in einem Rückfall zum Klassizismus - der modemen Kunst eine Rückwendung zum Primat des Schönen empfahl (p.21), von der Schwarz-WeiB-Malerei seiner melodramatischen Romane und verfehlten Dramen ganz zu schweigen. Für unseren Fragezusammenhang ist allein wichtig und bleibt von dieser Diskrepanz zwischen Intention, Theorie und Praxis unberührt, daß Vietor Hugo als später Exponent der romantischen Literaturrevolution mit seinen Thesen zur Begründung einer modemen Kunst unter dem Primat des Grotesken ein Fazit aus der )Poetik des Christentumse gezogen hat, das seine Beweiskraft vornehmlich aus der christlichen Literatur des Mittelalters schöpfen sollte. Ob zu Recht oder zu Unrecht ist eine Frage, die im Bereich der romanischen Philologie an den latenten Widerspruch zweier Mittelalterbilder heranführt: das eine, auf den Arbeiten des Warburg-Kreises errichtete und von Ernst Robert Curtius monumentalisierte, behauptet die substantielle, in einem Netzwerk von Motiven sichtbare Kontinuität des klassischen Erbes der Antike; das andere, vor allem durch die For• Daß die Theorie des L'Art pour I' Art historisch als eine Rezeptionsstufe des Kant'schen Begriffs vom Schönen als Gegenstand eines interesselosen Wohlgefallens anzusehen ist, hat J. WILCOX, The beginnings of l'Art po ur l'Art, in: Journal of Aesthetics, 11 (1952), gezeigt.
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schungen von Erich Auerbach repräsentierte, sieht in den unantiken Erscheinungen des sermo humilis, der Stilmischung, des kreatürlichen Realismus und der figuralen Geschichtsdeutung die spezifischen Züge der christlichen Poetik und Kunst des Mittelalters. Der Gegensatz der beiden Auffassungen kam nicht zum Austrag. Curtius hat ihn einfach harmonisiert,1 aber auch Auerbach hat seine ersten Ansätze nicht mit derselben Entschiedenheit weiterentwickelt, in der er sie 1929 in Dante als Dichter der irdischen Welt zuerst formuliert hatte. Aus seiner These, daß die Geschichte Christi die »Vorstellungen von dem Geschick des Menschen und seiner Darstellbarkeit von Grund aus verändert« habe (p.20), ist bisher keine Poetik der christlichen UteraturdesMittelalters hervorgegangen, die hätte zeigen können,inwiefern hier lldie Grenzen der antiken mimetischen Ästhetik überschritten (wurden)« (p.22). Und Auerbachs Erkenntnis, IIdaß das unmittelbare Erbe der Antike für Europa nicht das attische Griechentum oder die pragmatische Römergesinnung war, sondern der synkretistisch getrübte Neoplatonismus, der sich mit dem Christentum verband« (p.30), hat nicht daran gehindert, daß man die Gipfelwerke mittelalterlicher Dichtung vornehmlich am ästhetischen Kanon der lateinischen Klassiker maß. Die Frage, wie die Scheidelinie zwischen dem klassischen und dem christlichen Kanon des Darstellbaren und Darstellungswürdigen in mittelalterlicher Literatur verlief, ist darum nach wie vor akut. Sie kann hier nur unter dem einen Aspekt angeschnitten werden, wie sich in dieser Epoche das Häßliche in verschiedenen literarischen Gattungen darbietet, anders gesagt: wo es noch in seiner klassischen Funktion der Gegenbildlichkeit, als Negation des Schönen und sittlich Guten erscheint und wo die (ungeschriebene) Poetik des Christentums diesen klassischen Kanon durchbrochen, das Häßliche als nicht-antithetische Kategorie der historisch-alltäglichen Wirklichkeit darstellbar und damit auch das unidealindividuelle darstellungswürdig gemacht hat.
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An Dichtung und Kunst des Mittelalters hat schon die romantische Ästhetik und Dichtungstheorie von ihren Anfängen bei Herder über Chateaubrian~ und Fr. Schlegel bis hin zu Vietor Hugo stets den Kontrastreichtum -uhd die bunte Vielfalt der Gestaltungen herausgestellt. Was Schlegel unter den Begriff des ,Interessanten( und der ,Arabeskec faBte, was Jean Paul die Poesie des Aberglaubens nannte!! und was Hugo schließlich mit dem ,Grotesken( zum Programm wort des nachantiken dritten Zeitalters machte, ist unter einer anderen Nomenklatur von der späteren Literarhistorie als spezifisch mittelalterlich beschrieben worden. Während die antike Literatur in einer verengenden Kanonisierung von der ,klassischen Philologie( zum Monument des ,klassischen Altertums( erhoben wurde, machten die neueren Philologien aus der Not ihres nicht-klassischen Gegenstands die Tugend des gröBeren Spannungs reichtums der , Cf. Europiisme Literatur und lateinismes Mittelalter, Bem 1948, p. 258: .Wenn wir von den .Altene sprechen, meinen wir damit die heidnischen Autoren. Heidentum und Christentum sind für unsere Vorstellung zwei getrennte Bezirke, für die es keinen gemeinsamen Nenner gibt. Das Mittelalter denkt anders.« I Vor.mul, der Asth,tik, S 24.
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mittelalterlichen Literatur. Dabei hat man etwa die folgenden Erscheinungen im Auge, die den Umkreis dieser Literatur abstecken können: Dem einen Thersites steht im altromanischen Epos eine Vielzahl häßlicher Antihelden oder grotesker Zauberwesen gegenüber. Schon in den Gedichten des ersten Troubadour, Wilhelm IX., finden sich obszöne Strophen neben der sublimierten Form spiritueller Liebe. Dasselbe Publikum, das die hochstilisierte, ganz auf das Erkennen von formalen Nuancen und Variationen angelegte npoesie formelle« der höfischen Kanzonen genoft ergötzte sich auch an derbsten Fabliaux (Versschwänken), deren perverse oder skatologische Komik dem modemen Leser völlig unverständlich geworden ist. Die geistlichen Spiele rücken Alltags szenen in den Gang der heiligen Handlung, die sich zu ganz ungeistlich komischen Zwischenspielen auswachsen können und durch die offizielle Funktion der Entspannung und der Sammlung auf den Ernst der Fortsetzung nicht mehr zureichend erklärbar sind. Die Frömmigkeit gipfelt in zarter Marienhymnik und erbaut sich an Martyrologien und Jenseitsdarstellungen, die das Leiden der Heiligen und der Verdammten mit einer unerschöpflichen Fülle an grausigen Details ausmalen, sich darin nicht selten überbieten und in Dantes Inferno ihren Gipfel erreichen, wo über ein halbes Tausend von namentlich erwähnten, individuell geschilderten und nach einem schwer durchschaubaren System eingestuften Personen keineswegs nur das Mitleid, sondern auch die politische Leidenschaft des Jenseitswanderers aufrühren. Hält man sich an dieses wohlvertraute Gesamtbild, so will es scheinen, als ob das Häßliche in den literarischen Formen des Mittelalters in der Tat ungleich vielfältiger dargestellt sei als die Typenwelt des Schönen! Hinter der Konkretion dieser vielfältigen Erscheinung steht indes ein regulierender Kanon, der mit seinem ungeschriebenen System selten verletzter Spielregeln dem antiken Kanon der )poetischen Gerechtigkeite an Strenge keineswegs nachsteht. Das läßt sich am besten sichtbar machen, wenn man das altromanische Epos auf die Beziehung von Schön und HäBlich, Gut und Böse hin untersucht. Die lapidare, über jede Begründung erhabene Dichotomie: Paien unt tort et crestiens ont dreit ()Die Heiden haben unrecht und die Christen haben rechte), vom Protagonisten der ältesten erhaltenen Chanson de Geste ausgesprochen," gilt für die ganze Geschichte der Gattung und bestimmt zugleich ihre ebenso streng gewahrte ästhetische Dichotomie. Das Häßliche ist eine Erscheinungsweise des Bösen, die Feinde des christlichen Glaubens sind böse, also muß auch die HäBlichkeit der Gestalt zum typischen Kennzeichen der Heiden werden. Nach dieser Spielregel sind vom Rolandslied an alle häßlichen Figuren im Lager der Heiden zu finden, während die Christen ausnahmslos nach dem Schönheitskanon des edlen Ritters dargestellt sind, Ganelon der Verräter einbegriffen - im Widerspruch zu seiner epischen Rolle, worauf wir noch zurückkommen. Die Hauptspielregel wird nun aber erst eigentlich durch ihre Variationsmöglichkeiten und durch die Rechtfertigung ihrer Ausnahmen poetisch und auch für unseren Zusammenhang interessant. Nicht alle Heiden sind häßlich, und auch der schöne und edle Christ kann dem bösen Heiden unterliegen. Sowohl die poetische Forderung der zu vermeidenden Monotonie, als auch das übernationale Standesideal des Rittertums erfordert die Gestalt des schönen Heiden, die Zug um Zug nach dem gleichen Kanon beschrieben wird. 11
La chanson de Roland, v. 101S.
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Es kann den Wert des duistlimen Ritters gleimermaBen erhöhen, wenn er einen an Schönheit ebenbürtigen Gegner besiegt, wie wenn er ein heidnisches Sdteusal ersdtIägt. Dabei ist für die Einstellung des Publikums zum schönen Heiden kennzeimnend, daS sein Anblick die Vorstellung erweckt, ein so smöner Held müßte eigentlim den redtten Glauben haben. Die Vorstellung des Sarazenenherrsmers Baligant gipfelt in einem Satz, in dem sim die Bewunderung heldismer Schönheit mit der Verwunderung über den Mangel der Remtgläubigkeit mismt: Deus! quel baron s'oüst crestitntet (,bei Gottl welm ein Ritter, wenn er ein Christ wärelc, v. 3164). Daß hinteI' diesem naiven Kommentar eine metaphysisme Erwartung steht, die sim nie getrügt findet, zeigt sich an zwei frappierenden Spielregeln der immantenten Poetik der Chanson de Geste. Der smöne und edle Heide wird am Ende zum redtten, von seiner Schönheit geforderten Glauben bekehrt oder aber für die Hybris seiner ungeremtfertigten Schönheit durch den Tod bestraft. Die gröBere Chance des Oberlebens liegt für die Heiden nam dieser seltsamen poetischen Ökonomie in der Häßlichkeit! So wird die erst durchbrochene ästhetisme Dimotomie im Ausgang der epismen Handlung wieder zurückgenommen, um die Geltung der übergeordneten sittlim-religiösen Dimotomie voll zu wahren. Noch kompliziertere Spielregeln hat der Dimter des Rolandslieds ersonnen, um die höhere Geltung des duistlimen Prinzips an einer Handlung zu zeigen, in der die zwölf Pairs und Urbilder vollkommenen Heldentums von einer heidnismen Obermamt besiegt werden. Ihr allmähliches Unterliegen muß stufenweise durm eine genau proportionierte Steigerung von heroismen Anstrengungen kompensiert werden, wobei der jeweilige heidnisme Protagonist, der schlie8lim einen mristlimen Pair niederstredc.t, es dem nächsten in der Reihe wieder entgelten muß, bis am Ende der Spirale heroismer Oberbietung der todwunde Roland nach dem Verlust seines gesamten Heeres allein das Smlachtfeld behauptet, unbesiegt und doch als der Verlierer sterbend. Es wäre reizvoll, daraufhin den unrealistismen Hyperrealismus des Grausigen in den Kampfschilderungen zu untersumen, der funktional auf diese Spielregeln zugeordnet ist. IO Wir wollen statt dessen noch zwei Grenzersmeinungen betramten, die smeinbar aus der Idealität der Gleimsetzungen von ,schönc und )edelc, )häßlimc und )bösec herausfallen: der häBlime Quasi-Ritter (vilain) und der smöne Verräter. In der Chanson de Geste der zweiten und dritten Verfassergeneration taumen auf der christlichen Seite einige Gestalten mit hä8limen Attributen auf," und zwar - der ständischen Stiltrennungsregel der Gattung ganz gemäß - unterhalb der Sc:himt des mit dem Häßlichen nimt zu vereinbarenden heldenhaft Erhabenen, als sogenannte vilains. Gautier (in Gaydon), Rainoart (in Aliscans), Robastre (in Doon de Mayence) und Varomer (in Macaire) werden mit bäurischen oder tölpelhaften Zügen bescnrie11
lt
Cf. M. fUH .... ANN, S. O. p. 49, 55; daS solche Untersuchungen noch fehlen, ist auf die immer noch vorherrschende T'lposforschung zurückzuführen, die den Blick auf funktionale Zusammenhänge verstellt hat. Dazu gehört nicht Guillaume al eort nez, weil hier das hä8liche Detail (>mit der kurzen, d. h. abgeschlagenen Nase<) als Epitheton constans gerade die einzigartige Exemplarität des Helden verbürgt - wo aUe Helden nach dem gleichen Idealkanon gezeichnet sind, wirkt du häßliche Detail als Ausnahme, die diese Monotonie der immer schönen Gestalt durchbricht, erhöhend bzw. im gegenläufigen Sinn idealisierend.
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ben, kämpfen auf unritterliche Weise mit der Keule oder Axt und bringen damit ein Element der Abwechslung in die zu dieser Zeit schon etwas abgeleierte Gattung. Aber auch hier setzt sich im Ausgang der Epen der ideale Kanon wieder durch: wer heldenhafte Taten für den Sieg des Glaubens verrichtet, kann nur häßlich scheinen und nicht zu Recht vilain sein. Die angeführten Epenfiguren rücken denn auch am Ende der Handlung in die Vollkommenheit des Rittertums auf, nicht im Sinne eines sozialen Aufstiegs,11 sondern weil ihre edle Abkunft unerkannt blieb. Auch widrige Umstände können auf die Dauer nicht verhindern, daS sich die sittlich-ästhetische Norm des Rittertums gegen sie durchsetzt. Und damit die Rückkehr in den allein idealen Stand plausiqel bleibt, reduziert sich der transitorische Status auf vilainhaftes oder komisches Benehmen und berührt nicht eigentlich die äuBere Gestalt. Rainoart, der verkannte epische" Superheld, der in der ihm auferlegten komischen Rolle des Küchenjungen zeitweilig zur Parodie des Heldentums überhaupt wird, ist auch schon auf dem tiefsten Punkt seiner Erniedrigung - als Spottfigur des Küchenpersonals - ein bel baceler (v.3151), ohne einen Zug gestalthafter HäBlichl..eit, so daS er dann mit der Taufe auch alle komischen Eigenheiten mit einem Mal von sich abstreifen kann. 11 So exklusiv ständisch und aller humilitas fern ist das christliche Epos des Mittelalters, daS es den niederen Stand nur mit vilain-Attributen der Häßlichkeit in seiner puren Gegenbildlichkeit duldet, um ihn am Ende ganz aus dem Solidaritätskreis der allein Guten auszuschließen I Diese so streng gewahrte Gleichsetzung des Schönen mit dem sittlich Guten hat der Dichter des Rolandsliedes an einer Stelle durchbrochen, als er - zugleich im Widerspruch zur Tradition des antiken Epos (Thersites) - den Verräter Ganelon, der den Untergang des fränkischen Heeres und der zwölf Pairs herbeiführt, als einen vollkommen schönen und edlen baron darstellte. DaS diese Durchbrechung des Kanons beabsichtigt war, ist nicht zu bezweifeln, wenn man sich vor Augen hält, daS die Beschreibung der äußeren Erscheinung Ganelons als einzige im ganzen Text durch die Geste des Mantelabwerfens ausgezeichnet ist, und zwar in einem Augenblick, als der Zuhörer durch einen epischen Vorgriff des Rhapsoden schon weiB, daS Ganelon den Verrat begehen wird (cf. v. 178: Guenes i vint, ki la trahison fist). Die topischen Attribute des Schänheitskanons erhalten durch die vorangehende Geste der Enthüllung eine gesteigerte Bedeutung,14 die von den Umstehenden auch sogleich mit bestürzter Verwunderung wahrgenommen wird: Vom Hals wirft er seine groBen Marderfelle und steht in seinem seidenen Obergewand da. Er hatte glänzende Augen mit schillernder Iris und ein kühnes Antlitz, edel war sein Leib und breit war seine Brust. So smön war er, daB alle seine Standesgenossen auf ihn sahen." la Lediglim Varocher, der niedriger Herkunft ist, bildet darin eine - in der Geschimte der 13
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Chanson de Geste ganz singuläre - Ausnahme. Aum bei Varocher ist, als er am Ende zum Ritter gesmlagen nach Hause zurückkehrt, von seiner anfänglimen Häßlichkeit nimt mehr die Rede. Siehe dazu M. WALZ, Rolandslied, Wilhelmslied, Alexiuslied: Zur Struktur und gudlichtlichen Bedeutung, Heidelberg 1965 (Studia romanica, 9), p. 21. Obersetzung von H. W. KLEIN, Klassische Texte des romanischen Mittelalters, 4, Münmen 1963 (den letzten Vers habe ich im wörtlichen Sinn der konsekutiven Konstruktion wiedergegeben),vv.281-285:
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Ganelon steht seinem Antagonisten Roland an Adel der äußeren Erscheinung in nichts nach. Er ist in anderer Hinsicht sogar noch reicher charakterisiert als der abstrakt idealisierte Roland. Denn der Dichter läßt C;::;anelon wiederum als einzigen unter den Rittern die Sorge um seine Frau, seinen Sohn und seinen Freund äußern, vom weiteren Krieg abraten und anderen unheroischen Gefühlen Ausdruck geben, dann aber auch wieder in gefährlicher Situation die gleiche hochmütige Kühnheit zeigen, die Rolands hervorstechendster Zug ist." Nur für Ganelon hat also der Dichter die 11 Trennung der Bezirke des heldenhaft Erhabenen und des alltäglich Praktischencc aufgehoben, die ihm sonst völlig selbstverständlich ist." Darauf, daß Ganelon und Roland im Glanz derselben ritterlichen Vollkommenheit eingeführt und im Epos vor Augen gestellt werden, hat Matthias Walz eine soziologische Deutung aufgebaut, die in den beiden Antagonisten die Vertreter eines alten und eines neuen Heldentyps, bzw. der realen und der ideologisch gerechtfertigten Ritterlichkeit sieht. Er hat sich dabei auch auf die treffende Beobachtung gestützt, daß im Streit zwischen Ganelon und Roland bis zum Moment des Verrats "kein absoluter Unterschied des Wertes. zutage tretecc. 18 Demnach wäre Ganelon nicht von Anbeginn Ibösec, sondern nur akzidentiell, d. h. von dem Augenblick an, als er den Verrat begeht? Zwar ließe sich der Widerspruch zwischen der Vollkommenheit und dem Verrat Ganelons im Anschluß an K. H. Bender auch kasuistisch, als ein feudalrechtlicher Interessenkonflikt auflösen. 1I Aber wenn wir auch die Schlüssigkeit dieser aktualitätsbezogenen Deutung nicht bestreiten, läßt sie doch noch die eine Frage offen, warum der Dichter Ganelons Rache nicht allein in die epische Rolle des Verrats gebracht, sondern sie zugleich als Sturz aus der Idealität verbildlicht hat. Denn dieser metaphysische Sinn tritt in einer dreifachen Zerstörung der Aura seiner Vollkommenheit zutage, zunächst in der Szene, als der gefangen abgeführte Ganelon von Karl dem Küchengesinde zu einer schmählichen Mißhandlung überlassen wird (L.136), dann vor dem Beginn des Prozesses, als er in eisernen Ketten vor dem Palast steht und von Knechten geschlagen wird (L. 269), und schließlich, als der im gottesgerichtlichen Zweikampf Besiegte von vier Pferden in vier Stücke auseinandergerissen wird (L. 288).'1 Gerade durch diese Verbildlichung, durch den manifestierten Widerspruch zwischen Vollkommenheit und Verrat Canelons, der m. W. von keinem späteren Ependichter nachgeahmt wurde, in seiner Einmaligkeit also jenseits der kanonisierten Spielregeln der Gattung bleibt, erlangt der Konflikt Ganelons Init seiner feudal rechtlichen Aktualität auch die stärkste poetische Wirkung. Oe sun col getet ses grandes pels--cle martre Et est remes en sun bläalt dTaiie. Vairs out les oUz et mult fier lu visage, Gent out le cors et les costez out larges, Tant par fut bels, tuit si per l'en esguardent. 11 Siehe im einzelnen M. WAlZ, op. eit., p. 31. 17 E. AUEUACH, Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in tier abentllantlischen Literatur, Sem 1946, p. 122. 11 Op. dt., p. 31. 11 Vgl. K. H. BINDER., König und VasIIll: Untersuchungen zur Chanson de geste des XII.Jahrhundert., Hftdelberg 1961. • Historisch gesehen ist die Vierteilung durch Pferde eine noch aus der Merowingerzeit stammende Strafe für Majestätsverbrechen (freundlicher Hinweis von K. H. BENDER.).
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DaS die höchste ritterliche Vollkommenheit zur Inkarnation des Bösen werden kann, ist in antiker Tradition ohne Präzedenzfall, hat aber in christlicher Tradition ein mythisches Analogon im Sturz Luzifers. Die unausgesprochene, doch an der Zerstörung der Aura sichtbar gemachte typologische Beziehung stünde in diesem Text nicht allein, denn auch für den Tod Rolands, der wie der Kreuzestod Christi von übernatürlichen Naturereignissen begleitet ist (L. 110), wie für die apokalyptischen Visionen Karls, die den Charakter des endzeitlichen Entscheidungskampfes präfigurieren (L.183-185) und sdilieBlich für die Zwölfzahl der verratenen Pairs, die der Zwölfzahl der Jünger Christi entspricht, hat man typologische Beziehungen geltend gemacht. Die Möglichkeit einer typologischen Erklärung dieser einmaligen Grenzerscheinung in der sonst streng gewahrten Dichotomie des Schönen und des Bösen soll der Diskussion überlassen bl~iben,'1 wobei auch zu fragen wäre, ob der Luzifermythus eine Antwort auf die Frage enthält, wie in die Vollkommenheit der christlichen Schöpfung das Häßliche Eingang finden konnte (wie vollzog sich der Umschlag von der engelhaften Schönheit Luzifers zur Häßlichkeit des mittelalterlichen Höllenfürsten? wie verhält sich dieser Mythus zu der augustinischen Rechtfertigung des Häßlichen durch den Sündenfall, der uns daran hindert, die Schönheit aller geschaffenen Dinge zu erkennen? wo liegt der Ursprung des Satzes von De Maistre: LA nature enti~re participe du peche originel," mit dem Baudelaire seine für die Kanonbildung der modemen Ästhetik so folgenreiche These begründete, daS die uns umgebende organische Natur an sich selbst häßlich sei?).
III
Die Beschreibungen des HäBlichen deuten im christlichen Epos des Mittelalters oft ausdrücklich auf das Widergöttliche und Diabolische als den latenten Ursprung der Häßlichkeit zurück. Und Luzifer selbst ist ISO häßlich wie er einst schön ware, wie Dante zu Beginn seiner Beschreibung des Höllenfürsten sagt (Inf. XXIV 34), damit zugleich den ersten Anfang des Häßlichen in der c:hristlic:hen Seinsordnung erklärend. Eine andere Möglidtkeit, die Dichotomie des Schönen und des Bösen in der Gestalt GaneIons typologisch zu erklären, bietet sich nach U. EBn mit dem Antichrist an. Wie der Teufel mit seinen Satelliten ein corpus diaboli bildet, das in seiner äuSeren Erscheinung das corpus Christi nachahmen kann, vermag auch der Antichrist das Böse unter der apparence einer ,mönen Gestalt zu verbergen (bei Huon le Roi: Li r'gr,s No.tre Dllme, str. 180, während sonst in den bekannten Antichrist-Versionen dieser immer als der Christus in allem Entgegengesetzte dargestellt wird). In das figurale Gefüge des Rolanclaliedes lieSe sich ohne Zweifel auch eine Beziehung Ganelon-Antic:hrist eingliedern. a Siehe dazu M. H. ABRAMs, in Poetik und Hermeneutik 11, p. lZZ. - U. Ein weist mich darauf hin, daS der Satz von De Maistre auf die von Gott über Adam ausgesprochene Fluchformel: mllledictil terrll in opere tuo (Gen. 3, 17-19), bzw. auf die paulinische Auslegung: quill et ipsil crellturll liberllbitur 11 seroitudine corruptionis in libertlltem glorille filiorum Dei (Rom. 8, 19-ZZ) zurückgehen könnte; bei dieser Erklärung wire die semantische Differenz von terrll und crellturll zu nllturll wort- und begriffsgesc:h.ichtUch interessant und noch zu untersuchen. 11
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Untersudtt man seine typisdten Gestaltungen im Epos, so ergibt sidt eine Stufenleiter, die von dem einfach symmetrischen Gegenbild des Sdtönen über die groteske Misdtung von tierischer u~d menschlicher Gestalt bis zum Umsdtlag der hyperbolisdten Verzerrung ins Komische reicht. Die Vorstellung, daß alles Schöne ein gegenbildlidt HäBlidtes impliziere, hatte für die mittelalterliche Tradition Sidonius Apollinaris in seinem Kanon des schönen und des häßlidten Mensdten begründet. 23 Dem entspridtt das folgende Beispiel, in dem alle Züge des bei Ganelon angewandten Sdtönheitskanons in gegenteilige Häßlidtkeit umgesetzt sind: Man führt ihm König Corsolt in. voller GröBe heran, ungestalt und schielend, häSlich wie ein Unhold; Augen hatte er so rot wie Kohle im Ofen, einen breiten Kopf und Haare wie die Borsten eines Igels, die beiden Augen waren einen halben FuS auseinander, die Schultern vom Hosengurt gar einen groSen Klafter; kein häßlicheres Wesen, das Brot iSt, kann man sich denken."
Die vollständige, Zug um Zug ausgeführte Gegenbildlichkeit dieses Portraits bedarf hier im einzelnen kaum der Erläuterung. Die kontrastierenden Eigenschaften und verzerrten Proportionen machen im verkehrenden Spiegel aber audt deutlidt, daß das, was Rosenkranz die IlMaßbestimmtheit der Gestaltee genannt hat (p. 24), audt nodt in mittelalterlidter Tradition stets das latente Maß der menschlichen Gestalt voraussetzt. Wie hier in dem expliziten Vergleich: Ikein häßlicheres Wesen, das Brot ißte, ist auch sonst das HäBlidte auf allen Stufen seiner Erscheinung an die Gottesebenbildlidtkeit der menschlidten Gestalt gebunden. Der epische Kanon sdtließt sowohl die freie, nur der selbstschöpferisdten Phantasie verpßichtete Hervorbringung dtimärisdter Wesen, wie auch die Möglidtkeit aus, das HäBlidte in vereinzelnden, von der Norm singular abweichenden Details einer Individuation zu suchen und es so in einem neuen, spezifisdt christlichen Sinn zu remtfertigen. Die MaBbestimmtheit der menschlidten Gestalt madtt sich audt dort geltend, wo das HäBlidte aus tierhaften Zügen zusammengesetzt ist: Seht nun, wie Tabur von CanaJoine herankommt, ein Sarazene, den Gott verderben möge I ungeschlacht war sein Körper, das Rückgrat gekrümmt, er hatte lange Zähne, und er ist behaart wie ein Bär, er trägt keine Waffen außer seinem Schnabel und seinen Krallen; kaum sieht er Guilin, stürzt er auch schon au.f ihn zu,
E. FARAL: Sidoine Apollinllire et 111 tec:hnique litterllire du moyen /ige, in Miscellllnia Giovanni Mereati (Biblioteca Apostolica Vaticana, 1946), 11, p. 567-580. .. Couronnement de Louis, w. 504-10: On lui ameine le rei Corsolt en piez, Lait et anchais, rusdos come aversier; Les uelz ot roges com charbon en brasier, La teste lee et heru.,e le chief; Entre dous uelz ot de Je demi pie, une grant teise de )'espalle al braier; Plus hisdos om ne puet de pain mangier .
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reiBt den Sdtlund auf, als ob er ihn versdtlingen wolle, ganz und gar wie einen reifen Apfel ... 11 Das Groteske des so vorgestellten Antihelden entspringt daraus, daß die tierischen Züge, deren jeder an sich selbst nicht häßlich zu sein brauchte, in ihrer Summierung den UmriB einer menschlichen Gestalt ausfüllen. Nicht schon das Gegenständlidte der Beschreibung, sondern erst die Wahrnehmung der latenten, im Mosaik häßlicher Details negierten Idealgestalt löst den Effekt des Grotesken aus. Denn an sich sdtließt die Mischung menschlicher und tierhafter Züge nicht notwendig einen Effekt des Grotesken ein, wie das Beispiel des antiken Kentauren beweist. Daß eine solche Verbindung der Eigenschaften von Mensch und Tier auch einer Summierung des zusammengesetzten Edlen und Schönen gleichkommen könne, ist offenbar eine der mittelalterlichen Kunst-fremde Vorstellung. Wo immer in ihr menschliche und tierische Gestalt gemischt erscheinen, ist damit das gegenbildlich Dämonische bedeutet," von gewissen feenhaften Wesen im Artusroman abgesehen, die aber keltisch-kymrischer Herkunft, also gleichermaßen limportiert( sind wie die Figuren der antiken Mythologie. In unserem letzten Beispiel wird der Horror der grotesken Gestalt am Ende durch einen witzigen Vergleich aus der Alltagswelt (lwie einen reifen Apfel<) verharmlost und damit gebrochen. Eine solche Brechung findet sich häufig; sie kann den Effekt des Grausigen in befreiende Komik umschlagen lassen, wenn eine gewisse, noch zu bestimmende Grenze in der Detailbeschreibung überspielt wird. Wir wählen dafür ein Beispiel, das zugleich eine weitere Stufe in den Formen des Grotesken repräsentiert. Grausiger noch als das lmixtum compositum< von Tier und Mensch kann die widernatürliche Verkehrung von vorne und hinten wirken, wie z. B. Augen, die zum Rücken gekehrt oder Füße, die gegensinnig gerichtet sind.!7 Dieses Schema wird bei Roussel, !S
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Chanson de Guillaume, vv. 3170-77:
Este ws errant Tabur de Canaloine, Un Sarrazin, qui Dampnedeu confunde! Gros ot le cors, e J'eschine curbe, lunges les denz, si est velu cum urse; Ne porte arme for le bex eies ungles; Veit Guilin, si Ii est coru sure; Baie la gule, si I'i quidad tranglutre, Tut ensement cum une meure pome. Dem entspridtt der Unterschied zwisdten der Ovidsdten und der Dantesdten Metamorphose, wie l. SPITZER gezeigt hat: .Das Hybride ist hier nicht Spiel der Natur, sondern Strafe.. (Besprechung von W. KAYSER: Das Groteske, seine Gestaltung in Malerei und Dimhlng, in Göttinger Gelehrte Anzeigen 212, 1958, p. 99. - Im Libro della Scala hingegen, wo Engel der sieben versdtiedenen Himmel als aus mensdtlidten und tierisdten Gliedmaßen zusammengesetzt besdtrieben sind, dtarakterisiert die summierende Mischung das Sdtöne und Vollkommene - bezeidtnenderweise aber gerade in einer Jenseitsdarstellung arabisdter Herkunftl (Hinweis von U. EBu). Cf. Dante, Inferno XX 20 sqq.: ... or pensa per te stesso com'io potea tener 10 viso asciutto, quando la nostra imagine di presso vidi si torta, dte 1 pianto delli occhi le natiche bagnava per 10 fesso.
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einem häßlichen Heiden im Gaufrey, durch folgende Beschreibung der Ohren ergänzt: Er hatte solche Ohren, wie ihr gleich von mir hören werdet: in jedes hätte man mehr als einen halben Zentner Getreide füllen können; wenn es regnet oder schneit oder heftig gewittert, da pRegt sie der heidnische Teufel über seinen Kopf zu halten.-
Der in die alltägliche Wirklichkeit gezogene Vergleim hebt den Horror des Grotesken wieder auf! Die hyperkorrekte Angabe: Imehr als einen halben Zentner Getreidee und die Vorstellung: Iwas tut der Unhold, um sim vor schledttem WeHer zu smützene erzielt die gleiche neutralisierende Wirkung wie die allzu lebensnahe Ausmalung der Kochkünste eines kannibalischen heidnischen Riesen: Wenn ihm ein Christ in die Hände fiel, dafür stehe ich euch ein, so verspeiste ihn der Unhold nicht, bevor er ihn ein wenig gebraten und geschmort hatte - wohlschmeckender als das Fleisch des Schwans oder des Regenpfeifers.-
Der kannibalische Heide als feinschmeckerischer Ifran~ais moyene ist so komism wie das Smeusal mit dem neuesten IRegenschirme. Wo sich der Raum des Grotesken mit der Alltagswirklichkeit berührt, setzt sich das eingespielte Weltverständnis gegen die Unheimlichkeit des Grotesken durch und macht die Idealität des gestalthaft Häßlichen bewußt: der übergang aus der grotesken in die gewohnte Welt bezeidtnet die Grenze, an der das Groteske seine Irrealität nicht mehr verbergen kann und in das Komisme umschlagen muß. Gewiß wird diese Grenze in der Chanson de Geste der ersten, heroismen Epoche stets gewahrt und ist ihr überschreiten schon ein Indiz der Fpigonen, die dem zur Konvention erstarrten epischen Schema neue, unterhaltende oder aum parodistische Reize abzugewinnen suchen. Doch diese historische Entwicklung berührt nimt den Befund (der durm eine gleichlaufende Untersumung des - noch strenger stilisiertenhöfismen Romansao nur bestätigt werden könnte), daS das Häßliche im christlimen Epos des Mittelalters nicht weniger an den Schönheitskanon der menschlichen Gestalt gebunden ist als in der literarischen Tradition der Antike. Man könnte geradezu von einer lI
Caufrey,
YV.
5963-66:
SI avoit tex oreilles com ja m'oms nunchJer: En I'une entrast de bl~ plus de dem I setler; Quant iI pleut ou iI naige ou iI fet grant tempier, SOl sa teste les met le palen aversier. - Na.ier In Gaufrey,
YV.
2964-67:
S'un crestien tenist, chen vous os tesmoignier, M~I qu'll eust .I. pot rOlli el brasillier, Plus savereusement le menjast I'aversler Qu'i1 ne f~ilt la char le dUsne ou de plouvier. (du Fleisch des Schwans wurde im Mittelalter als Zwismenspeise gesmätzt). • Siehe dazu K. H. DENDEIl, Le ph.. beau chft)alier et Ja plus belle dtzme dtzn. les romans de Chrititn de Troyes, in: Melanges offertl 1 Mme Rita Lejeune, 1968.
Liese
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HANs ROBEIlT JAUSS
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spricht der üblichen Koppelung von Realismus und Groteske, die auch noch die Begriffsbestimmung von W. Kayser belastet. Von ll Verfremdung der bestehenden Welt« kann nicht die Rede sein, wenn das Groteske nicht auf die Realität einer vorher oder daneben bestehenden, durch die groteske Kunst verfremdeten Normalwelt verweist, wenn es vielmehr dank der ihm eigenen llRealität des Irrealen«,'1 als Gegenbild des Schönen und Guten, die eigentümliche Wirkung erzielt, daß leinem das Lachen vergeht<. Das Groteske als spezifisch christliche Gestalt des Häßlichen, das nach den Implikationen der Poetik des Christentums selbständig neben das Schöne treten soll, ist im Bereich der epischen Gattungen des Mittelalters nicht zu finden. Hier scheint sich jene Ästhetik neuplatonischer Herkunft am stärksten geltend zu machen, die nach Auerbach das Erbe der Antike in das christliche Mittelalter vermittelt hat. Wir wenden uns darum jetzt anderen Gattungen zu, die als genuine Hervorbringungen des Christentumli anzusehen sind und zeigen, daß hier der Kunst in der Tat neue Aufgaben der Darstellung abverlangt worden sind.
IV Mit welchem Recht die Funktion und Vielfalt des gegenbildlich Häßlichen in dem bisher behandelten Bereich der mittelalterlichen Literatur auf die augustinische Erklärung des Häßlichen durch den Sündenfall zurückgeführt werden kann, bedürfte weiterer Diskussion. Der nunmehr zu betrachtende Bereich der Hagiographie und der Jenseitsvisionen steht in einer anderen Tradition der Rechtfertigung des Häßlichen, die unzweifelhaft auf die augustinische, in De doctrina Christiana begründete Konzeption des sermo humilis zurückweist. Die Darstellung des Lebens und der Passion Christi, die aller Hagiographie als Vorbild vorausliegt, erforderte und ermög11
Wir führen hier die Kritik weiter, die L. SPITZER (cf. Anm. 26) zu W. Kayaers Auffassung vom Grotesken als der »Darstellung einer entfremdeten Welt« vorgebracht hat. DaS in Kaysers Darstellung gerade die mittelalterliche Groteske fehlt, liegt keineswegs nur an einer historischen Ausgrenzung, die Spitzer nicht zweckdienlich fand und durch seinen großen Nachtrag beheben wollte. Diese Ausgrenzung war die notwendige Folge von Kaysers Versuch, das Wesen des Grotesken mit den episodischen Kategorien der Veroder Entfremdung zu bestimmen, die nur vor dem Hintergrund des modemen, naturalistisch oder realistisc:h verstandenen Wahrscheinlichkeitsbegriffs plausibel sind. In der Anwendung auf die mittelalterliche Groteske hätten sie unweigerlic:h zu einer naiven Modernisierung führen müssen. Darum stoßen sich Spitzers Beispiele und Analysen immer wieder an Kaysers Begriffen, die er als einen überflüssigen Ballast mit sidl führt. Doch hat dies Spitzer nicht gehindert zu erkennen, daß »die mittelalterlichen Darstellungen des Bösen eine eigene Welt zeigen«, daS sie grotesk erscheinen, nicht wei1sie eine »Verkehrung der unsere Tagwelt ordnenden Kategorien« indizieren (Das Groteske .. ., p.142), sondern weil sie gegenbiIdIich auf die unsichtbare Realität des vollkommen Schönen und Guten verweisen. Es ließe sich zeigen, daS Kaysers Darstellung auch das Groteske im Bereich der Uteratur von der Renaissance bis zur Romantik unangemessen modernisiert, wobei von Spitzers treffender Bestimmung der Sprac:hgroteske ausgegangen werden könnte: »jede sprac:hliche Neuerung ist potentiell grotesk, weil sie mit dem Neuen in ihr die Angst vor dem Unbekannten welckt, andererseits doc:h als sprac:hliche Bildung eine gewisse Realität des Irrealen schafft« (Ioc. eit. p. 104).
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lichte nicht allein die unantike Mischung des Erhabenen mit dem Niedrigen. Christus humilis, vos superbi: insofern der inkarnierte Gott Knechtsgestalt annahm, trat "die humilitas Christi der körperverachtenden superbia der Platoniker gegenübercc.1I In Augustins Kommentar zu Jesaia 53, 2 (Et vidimus eum, et non habebat speciem neque decorem, sed vultus eius abiectus, et deformis positio eius) wird in paradoxen Formulierungen deutlich gemacht, welche Provokation für die antike, vom Platonismus weitergetragene Vorstellung der Einheit des Guten und Schönen in der christlichen Verkündigung eines Gottes lag, der sich freiwillig in Knechtsgestalt erniedrigte, auf Erden zwischen materiell und geistig Armen lebte und in unermeßlicher Demut die letzte Entstellung einer Kreuzigung auf sich nahm, um die Menschheit zu erlösen: Deformitas Christi te format. llle enim si deformis esse noluisset, tu formam quam perdidisti non recepisses. Pendebat enim in cruce deformis, sed deformitas illius pulchritudo nostra erat. as Das )Ärgernis( der humilitas passionis, daS gerade die Erniedrigung des in häßlicher Gestalt ans Kreuz geschlagenen Gottessohns" die Rü<xkehr des Menschen zur pulchritudo des ewigen Heils ermöglichen soll, ist der Ansatzpunkt einer neuen, unantiken Rechtfertigung des Häßlichen: die deformitas Christi begründet die Möglichkeit, daß etwas in häßlicher Gestalt erscheinen und doch von seelischer Schönheit sein kann. Gewiß lassen sich auch antike Beispiele für eine Verbindung von häßlicher körperlicher Gestalt und schöner Seele anführen. Doch genügte die große Ausnahmserscheinung des Sokrates (auch Äsop wäre hier zu nennen) nicht, um die Geltung des platonischen Kanons, demzufolge "die Leiden des pathetisch der abbildlichen Welt verhafteten Menschen ... keine Leiden sindcc,315 in der Rezeption und Geschichte der klassischen Ästhetik zu durchbrechen. Noch Lessing hat es im Laokoon als eine »alberne Mönchsfratzecc gerügt, daß man Äsop die Häßlichkeit des Thersites gegeben habe: Denn ein miBgebildeter Körper und eine smöne Seele sind wie öl und Essig, die wenn man sie smon ineinander schlägt, für den Gesmmack doch immer getrennet bleiben. Sie gewähren kein Drittes; der Körper erweckt Verdruß, die Seele Wohlgefallen; jedes das seine für sim (cap. XXIII).
Wenn so die christliche Vorstellung der humilitas passionis den klassischen Kanon des Schönen und Guten durchbrochen und das Häßliche mit dem Niedrigen vom Bösen abgelöst hat, bleibt diese neue Rechtfertigung des Häßlichen bei Augustinus aber doch noch in einer entscheidenden Hinsicht an die Idealität des Schönen gebunden. Die deformitas (auch foeditas) Christi ist nur ein zeitweiliger Zustand, kein substantieller Verlust, und darum selbst wieder Zeichen der pulchritudo zukünftiger Seligkeit (sie ad tempus non pulcher in forma servi, ut numquam defecit a pulchriE. AUIRBACH, Sermo humilis, in Literatursprame und Publikum in der latein ismen Spiitantike und im Mittelalter, Bem 1958, p. 36. aa Senn. XXVII, 6; cf. E.narr. in Ps. XLII, 16. XLIV, 3. CIII 5.1,5-6 (auf die Bedeutung dieser Stellen hat Fr\. Irmela FRANZ in einem Referat aufmerksam gemamt). M Zur Auffassung des Messias humiliatus ist interessant, daß aum Luther in der übersetzung von Jes. 53, 2 das Hä8lime der Gestalt eigens hervorgehoben hat: 10Gleimwie sim viele an dir ärgern werden, weil seine Gestalt hä81imer ist denn anderer Leute und sein Ansehen denn der Mensmenkinder«. IS Cf. Vorlage G. MOLLER., p. 17. U
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tudine quae est in forma Dei).·' Wenn Prudentius im Laurentius-Hymnus die Elenden, Armen und Kranken dem Stadtpräfekten als die Reichtümer der Kirche vorführen läßt, soll diese Provokation durch die äußerlich Häßlichen, innerlich aber Reichen vor allem lehren, daß ihnen durch ihr pulcher intus vivere (v. 220) die Pracht und Herrlichkeit des Himmels gewiß ist, während die Heiden, die sich an der Schönheit des Leibes ergötzen, im Jenseits die Strafe der Mißgestalt zu gewärtigen haben.•7 Das Häßliche und Niedrige, das die humilitas passionis freigesetzt und für die Kunst darstellungswürdig gemacht hat, erscheint darum in den neuen Gattungen der christlichen ars humilis stets vor dem Horizont einer verborgenen, nicht jedermann sichtbaren, da nur den Gläubigen manifesten ewigen Schönheit. Diese Rückversicherung scheint zunächst der gegenbildlichen Funktion des Häßlichen in der platonischen Metaphysik des Schönen genau zu entsprechen. Doch es darf hier nicht übersehen werden, daß die Gegenbildlichkeit des Häßlichen in der christlichen ars humilis unter dem Vorzeichen eines anderen Wirklichkeitsbegriffs steht. Während der antike Wirklichkeitsbegriff voraussetzt, ))daß das Wirkliche sich als solches von sich selbst her präsentiert und im Augenblick seiner Präsenz in seiner Oberzeugungskraft unwidersprechlich da istcc,·8 steht die gegebene Wirklichkeit - und mit ihr die Wirklichkeit des Niedrigen, Häßlichen und Grausigen - im christlichen Weltverständnis nunmehr in Beziehung zu einer unsichtbaren, nicht mehr unmittelbar sich darbietenden höheren Realität, die nur durch die Garantie des Glaubens verlässig wird. Daß die Wirklichkeit des Häßlichen nurmehr das unvollendete Gegenbild zur Transzendenz des vollendet Schönen, Wahren und Guten ist, bleibt der natürlichen Wahrnehmung entzogen und erschließt sich erst der Einsicht dessen, der im gegenwärtig Wirklichen die typologische Beziehung zum Vergangenen und Zukünftigen, zum Anfang und zum Ende der Heilsgeschichte zu erkennen vermag. Das Häßliche und Grausige der christlichen ars humilis setzt eine neue Grenzziehung zwischen der Präsenz des Sichtbaren und der verborgenen Evidenz des Unsichtbaren voraus. Und da diese Evidenz allein durch den Glauben an die Gerechtigkeit Gottes verbürgt ist, die alle menschliche Einsicht übersteigen, ein )Nicht sehen und dennoch glauben( erfordern kann, ist ihr ein appellativer Charakter eigen, der die Wirklichkeit des Häßlichen aus der antiken Bindung an die gegenbildlich evidente, höhere Realität des Schönen löst. Die Zeugnisse der christlichen Hagiographie zeigen darum eine nicht ganz aufhebbare Spannung in der Darstellung des Häßlichen und Grausigen, das durch die typologische Realität der Heilsgeschichte, durch die imitatio Christi oder durch die Idee der Gerechtigkeit Gottes (Talionsprinzip) gerechtfertigt ist, aber immer wieder durch das Unverhältnismäßige dieser postulierten Garantie in Frage gestellt und ästhetisch kompensiert wird.
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Enarr. in P,. an s. I, 6. Cf. vv. 289-92.:
H. BLUMENBUG,
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Animabus inuersa uice, corrupta forma inftigitus, quas pulcher aspectus prius in corpore oblectauerat. Poetik und Hermeneutik I, p. 11.
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v Die nun zu betrachtenden Texte sind wiederum der romanischen literatur entnommen, bezeichnen also schon die spätere Phase einer Entwicklung, in der die Märtyrergeschimten, Heiligenleben und Visionsberichte zur konventionellen Form literarischer Gattungen erstarrt waren. Die Aufgabe, ein unerhörtes Geschehen darstellbar zu machen, für das es in der antiken Literatur kein Genus gab, war längst in einer strengen Typisierung der Vorgänge aufgegangen. Vergleicht man die romanischen Legenden, Viten und Visionen des 12. und 13. Jahrhunderts mit frühen Zeugnissen, z. B. der von Auerbach herangezogenen Passio 55. felicitatis et Perpetuae, so zeigt sich, daS gerade die Realistik des alltäglichen Niedrigen, aus dem dort die heilige Erhabenheit des Vorgangs aufsteigt,·1 der Typisierung anheimgefallen ist. Die spätere Märtyrerlegende und Heiligenvita sieht vom historisch Alltäglichen ab, sie IIkennt und erkennt nur Tugend und Wunder. Wo der Heilige kein Mittel ist, Tugend vergegenständlicht zu sehen, wo er nicht als imitabile gewertet werden kann, da ist er eben kein Heiliger und die sprachliche Form, die ihn als Heiligen vertritt, kann ihn dort schlechterdings nicht fassen«.40 Geblieben und als Gegengewicht zum Gräßlichen der detailliert ausgemalten Martern und Qualen noch gesteigert ist hingegen das Motiv des Leidenstriumphs, der gloria passionis. Dieses Verhältnis ist nun zu erörtern, weil an ihm die der christlichen ars humilis eigentümliche Grenze zwischen dem Erbaulichen und dem Schockierenden, das ästhetisch aufgefangen, neutralisiert oder auch Igenie8bare gemacht werden kann, hervortritt. Der modeme Begriff des Erbaulichen ist nach der Ächtung des Lehrhaften durch den Klassizismus und die L'Art-pour-l' Art-Ästhetik so tief in den Bereich der Pseudokunst gesunken, daS er das Verständnis der christlichen Dichtung des Mittelalters erheblich erschwert. Insbesondere ist die Vorstellung, daS sich das mittelalterliche Publikum gerade am Grausigen der dargestellten Martern und Qualen lerbaute haben soll, dem modemen Leser nicht mehr unmittelbar verständlich. So hat man etwa das grausige Detail, mit dem Prudentius in seiner Psychomachia die Siege der Tugenden über die Laster ausmalt, als einen INaturalismuse avant la lettre miSverstanden oder dafür den spanischen IVolkscharaktere verantwortlich machen wollen. Diese modernisierende Deutung hat unlängst Christian Gnilka mit dem Nachweis korrigiert, daS das Grausige in diesem frühen christlichen Epos bis in die letzten Details dem Prinzip der Wiedervergeltung entspricht.u Das ius talionis, das Dante zu einem tragenden Gedanken (contrappasso) seiner Divina Commedia machen wird, rechtfertigt das grausige Detail und erklärt zugleich, warum die Beschreibung nicht selten die Grenzen • Cf. E. At11UACH, Sermo humilis. op. c1t. p. 53 • .. A. JOLLU, E.infache Fo,men, Halle 11956, p. 31-2. tl Studien zu, Psychomachie des PrudentiuJ, Wiesbaden 1963 (Klassisch-philologische Studien, 21). Wenn es Prudentius z. B. nicht damit genug ist, die Lu%u,ia stürzen und unter die Räder ihres Wagens geraten zu lassen, und er ihr hernach nom von Sob,ietas einen Felsbrocken mitten ins Gesicht schleudern läSt, entspricht dies nach GNILItA (p. 63 sqq.) bis in die letzten Details der venneintlich grausam realistischen Wundbeschreibung dem ius talionis (die getroffenen Körperteile sind die Werkzeuge des Genusses, den Lu%u,ia als Laster personifiziert).
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realistismer Wahrsmeinlidtkeit übersmreitet. Die lerbaulime Wirkungc entspringt nimt dem Dargestellten als solmem, sondern dem Erkennen der Beziehung, in der sim die Idee der göttlimen Geredttigkeit vergegenständlimt. Auch das Grausige der Märtyrerlegenden ist durch eine solme Beziehung auf die garantierte, nur für den Christen sichtbare Wirklimkeit des ewigen Lebens gerechtfertigt, wie Reinhart Herzog am Bum Peristephanon von Prudentius zeigte." Das Martyrium kann mit seinen grausigen Details typologisch in der Reihe biblismer oder frühmristlicher Armetypen stehen, die Wunder, die den Tod des Märtyrers oft nom aufhalten, können zeimenhaft die Wunder der Schrift erfüllen und die göttlime Allmamt manifestieren. Der Märtyrer vermag "im groBen Moment seiner Passion im Gegensatz zu seiner heidnismen Umwelt-die irdisme und überirdische Welt zusammen (zu erschauen}«, lider Gerum des verbrannten F1eismes wirkt auf Heiden und Christen verschieden: die Heiden merken nur das Absmeulime, die Tortur in der sinnlich wahrnehmbaren Welt, den Christen wird unter den eoeli aperti (v. 372) alles zum Nektar und Wohlgerumcc. u Die gloria passionis, die den Märtyrer erfüllt, bleibt für den Zuhörer oder Leser indes in der unaufgehobenen Diskrepanz zwismen ausgemalter Qual und erwartetem Leidenstriumph. Das erhabene Beispiel, das der Märtyrer gibt, die Lehre, die aus den Qualen der in die Hölle Verdammten zu ziehen ist, rimtet sich ja g1eimermaSen an die Frommen wie an die Sünder und würde seine Wirkung verfehlen, wenn die Diskrepanz zwismen alltäglimem Leben und überirdisdter Wirklichkeit nimt durch das Grausige des erhabenen Gesmehens sinnfällig vor Augen gestellt würde. Die mristlime Hagiographie mamt das Grausige, HäSlime und Abscheuerregende dieser Absimt dienstbar, benutzt nimt selten ausgespromene Smockeffekte und ist in solmer Erbaulidtkeit weit entfernt von dem belehrend-mitteilenden Ton und rein noetismen Charakter dessen, was in späterer Zeit unter lehrhafter Dichtung verstanden wurde. Für die Verbindung des Grausigen und Smockierenden (choses horribles e espoentables) mit dem Erbaulichen (metre en greignur devoeiun) kann statt vieler Zeugnisse der Prolog zum Espurgatoire de S. Patriee angeführt werden: Viele Beispiele bringt uns der HI. Gregor ... von Dingen, die widerwärtig, grausig und erschre<:kend sind, um Sünder und Törichte zu erschrecken durch die Traurigkeiten, die sie haben werden und die ihre Seelen erleiden werden, und um diejenigen in Zerknirschung und größere Demut zu versetzen, die Gott gefallen und sich sein Reich verdienen woUen." .. Die tdlegorisdte Didttkunst des Prudentius. München 1966, p. 28 sqq . .. Ibid. p. 33. .. Cf. vv. 3G-44:
Mulz essamples nus met avant seinz Gregoires en sermunant des espiriz ki sunt es cors e des altres ki sunt defors e des choses ki sunt nuisables, horribles e espoenvables, pur espoenter les corages des pecheurs e des nunsages des tristeces que i avrunt e que les almes suferrunt,
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Typisch für den erstrebten Effekt einer Sduxkierung (por espoenter les corages), die Besinnung und innere Einkehr beim Hörer oder Leser erzwingen soll, ist die Stufung der Qualen und Hinauszögerung des erlösenden Endes, oft verbunden mit einem retardierenden Wunder, um die überlegenheit des christlichen Glaubens noch im Parmumus der Qualen zu demonstrieren. Dabei läßt sich die gattungshafte Grenze der Darstellung dort näher bestimmen, wo die Ökonomie der für die erstTebte erbauliche Wirkung notwendigen Mittel überschritten wird: ein allzu langes Verweilen bei grausigen Details kann die Angemessenheit von Verfehlung und Sühne unwahrscheinlich, die Relation von Martyrium und gloria passionis uneinsichtig machen, wobei nicht selten die Schockwirkung des Grausigen von einer thematisierten Regung des Mitleids aufgefangen wird, die an sich der vom Dogma geforderten Einsicht in die Gerechtigkeit Gottes widerspricht.tI Die Vie de Sainte Marguerite von Wace (Mitte des 12.Jhs.) ist dafür ein typisches Beispiel. Marguerite hat sich den Werbungen des Heiden Olimbrius widersetzt, der sie daraufhin foltern läßt und in seinem wachsenden Zorn über erneuerte .Abweisungen immer strengere Foltern anordnet. Die Heilige wird erst an ein Kreuz hochgehängt und nackt mit Ruten geschlagen, dann mit dornigen Ruten so heftig verletzt, daS ihr die Eingeweide durch die Wunden heraustreten (que I'antraille qui est 014 cors I per 'es plaiez pandoif defors, v. 273) und schließlich den Flammen übergeben, wovor sie der heilige Geist durch ein Wunder bewahrt (vv. 533-38), so daS sie am Ende ihren Henker selbst auffordert, sie mit dem Schwert zu erschlagen." Der Sdtockeffekt der grausam gesteigerten, im Detail ausgemalten Torturen wird für den Hörer oder leser in doppelter Weise aufgefangen. Vor jeder neuen Stufe des Martyriums ist ein längeres Gebet eingelegt, so daS sich die von Anfang an bestehende Sicherheit der Erwartung, daß Gott die glaubensfeste Märtyrerin erretten und belohnen werde, e pur metre en cumpunciun et en greignur devociun cels ki vuelent a Deu plaisir eie suen regne deservir. .. für diesen Widenpruch findet sich in einer Version der Visio 5. Pauli (ed. H. BIlANDES, Halle 1885, p. 66) das sprechende Beispiel, daS dem Apostel Paulus sein mitleidvolla Seufzen und Klagen über die Höllenpein der Gottesleugner geradezu den Vorwurf da Hodunutl einbringt: Quid ploras7 Vis plus esse misericor. lilio dei, qui redemit 00. et dimi.it unicuique propriam ootuntatem et dedi' eis tempru penitencie, et non penituerunt 7 (Hinwell von U. EBEL)
•• Sie nöttat den Henker, der nach dem Wunder ihrer Passion nicht mehr Hand an sie zu legen waat, geradezu mit der Drohung, er werde selbst nicht in das Paradies eingehen,
wenn er Ile nidtt töte: Et dist: .Frere, des or me 8er. - Dame, fait eil, ne t'os touchier. Dame, conment ferir te doi, Quant 11 mena neu parole a toi 7 - Se tu, diat eie, ne m'ocis, Ja n'enterraa en Paradis .• Quant cill'oi, si le feri, A un cop le chief li toli, Puls diat, quant i11i ot tranci~: .Deus, pardones moi cest pedU~c (v. 687 aqq.).
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immer neu befestigt. Ferner enthält der Bericht eine Episode, in der gerade Olimbrius und andere Heiden an einem mit Vorbedacht gewählten Punkt der Folter die Hände vor das Gesicht halten und nicht länger zusehen können: Olimbrius und andere Leute, die mit ihm bei der Tortur zugegen waren, verhüllten Augen und Gesicht, als sie an ihrem zarten Leib nach allen Seiten das Blut heraustreten sahen, denn sie konnten den Anblick nicht länger ertragen.4T Da diese Gebärde nicht etwa als Zeichen bloßen Entsetzens, sondern - analog zu andern Texten der Gattung - als Zeichen des Mitleids auszulegen ist, ergibt sich daraus, daß der stärkste Gefühlsausdruck (um nicht zu sagen: die für das modeme Verständnis menschlichste Regung) in unserem Text den Heiden vorbehalten istl Dogmatisch genommen ist aber-gerade diese Gebärde ein Zeichen der Verblendung derer, die nur den gemarterten Körper und die sinnenhafte Welt, nicht aber die überlegenheit der Seele und des Glaubens an die unsichtbar mächtige Wirklichkeit des ewigen Lebens kennen. Darum ist die eindrucksvolle Gebärde des Entsetzens oder Mitleids auch auf den Moment der Tortur bezogen, als der nackte Leib der Heiligen in seiner sinnenhaften Schönheit angetastet und zerstört wird. fe Der dogmatische, an den verschiedenen Reaktionen von Christen und Heiden veranschaulichte Sinn ist aber nicht einfach mit der unmittelbaren Wirkung der Darstellung gleichzusetzen. Ohne Zweifel mußte auch ein frommes Publikum erst mit dem schockierenden Kontrast solcher Darstellungen reflektierend fertig werden. Die gloria passionis und die Erhabenheit des göttlichen ius talionis vermögen die rein menschliche, durch die christliche Ethik ja andererseits auch wieder gerechtfertigte Regung des Mitleids vor dem Grausigen der gequälten Kreabzr nicht ohne einen Rest des Ungenügens auszulöschen; der Glaube an die Allmacht Gottes will sich nicht mit der garantierten ewigen Seligkeit begnügen, sondern erfordert eine sichtbare Bestätigung des Wunders in der alltäglichen Welt. So blüht im 12. Jahrhundert neben den heroischen Gattungen der Hagiographie die neue, volkstümlich erzählende Form des Mirakels auf: eine Fülle von Wundergeschichten, in denen ein beliebiger Sünder - die alltäglich-unvollkommene Gegenfigur des vollkommenen Heiligen (perfectus!) - durch ein gnadenhaftes Wunder zur Umkehr gebracht, die restitutio in integrum an der durch Sünde, Schwäche oder Krankheit entstellten Kreatur in der Wirklichkeit der Alltagswelt sichtbar vollzogen wird.'" Das Ungenügen an der dogmatischen Rechtfertigung des Grausigen konkretisiert sich in den Jenseitsvisionen dieser Epoche am deutlichsten in der weiteren Ent.7
vv. Z53--58 :
•8
Olimbrius et autre gent Qui 0 lui erent a torment, Quant U voient de sa char tendre Oe totes pars le sanc espandre, Lor ex et lor chieres covroient. Car esgarder ne le pooient. Die Beschreibung insistiert mehrmals auf dem Anblick des nackten Leibs, cf. vv. 116,190, 2S5•
•• Hierzu kann auf die Arbeit von U. EBEL, Das altromanisme Mirakel, Heidelberg 1965 (Studill romanica, 8), verwiesen werden. [404]
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faltung des Mitleid-Motivs, das schon lange aus seiner dogmatisch begrenzten Bedeutung Nnausgerückt war, als es Dante aufgriff und zu einem GrundkonBikt seines Jenseitswanderers ausgestaltete. Das läßt sich an dem legendären Schicksal des Verräters Judas zeigen, dem in den Jenseitsvisionen eine Behandlung zuteil wird, die alle gewohnten und erdenklichen Höllenstrafen an Grausigem zu überbieten sucht. Da der Verrat an Christus für den christlichen Glauben die schlimmste, das Maß möglicher Wiedervergeltung übersteigende Verfehlung ist, sind hier der ausmalenden Phantasie keine Grenzen gesetzt. Die Phantasie läuft in dieser Gattung an sich immer schon Gefahr, mit dem durdt das ius talionis gesetzten Maß auch die Grenze vom schodderend Erbaulichen zum Sadismus des genießbar gemachten Schrecklichen zu überschreiten. Wo sich etwa die ardtaische Visio Pauli damit begnügt, Sünder in sinnfälligem Bezug auf ihr Vergehen z. B. an den Beinen, Zungen, Köpfen oder Hälsen aufgehängt zu zeigen, verweilen spätere Verfasser bei der Ausmalung weiterer Möglichkeiten des Horrors dieser Höllenqual (Iam Hals, am Mund und am Kinn und an den Brüsten; auch finden sich solche, die an den Genitalien, und einige, die an den Wangen aufgehängt sindc).10 Läßt sich schon hier beobachten, daß die bloge Weiterreihung und monotone Summierung solcher Qualen das Grausige mehr und mehr entwirklicht, so zeigt der Fall von Judas eine noch weitergehende, ungewollte ästhetische Neutralisierung. Die Vielzahl ausgesucht grausamer Qualen führt zu einem IWochenprogrammc, das in seiner Abwechslung grotesk wirkt und das darüber leidende Subjekt fast vergessen läßt: nach der Version in der Navigatio Sancti Brendani ist für Judas eigens eine zweistöckige Sonderhölle, oben heiß und unten kalt, eingerichtet; er muß täglich wechseln, wird oben auf ein Rad gebunden, unten auf ein Pfahlbett gelegt, bald am Rost gebraten, bald in Eiseskälte eingefroren; am Freitag wird ihm zehnmal die Haut abgezogen und der geschundene Körper in Salz gesiedet, wobei sich eine Art Kruste um das rohe Fleisch bildet, damit das grausige Spiel von neuem beginnen kann; dann muß er siedendes Blei trinken, und schließlich wird er in einen stinkenden Brunnen verbracht, wo ihm verwehrt ist, sich zu erbrechen. Zum IWochenprogrammc gehört indes auch eine Art von IFeiertage. Die christlichen Seefahrer finden Judas auf einem Felsen im Meer, an eine Säule geklammert und von den Wogen geschlagen. Die wenigen guten Taten seines Lebens werden ihm hier angerechnet: das Tuch, das er einst als Almosen gab, schützt ihm nun das Gesicht. 11 Der Verfasser hat sich jedoch nicht mit der traditionellen Milderung begnügt, die den Sonntag auch für die Verdammten als IRuhetage gelten ließ. Der heilige Brendanus wird beim Anhören des Berichts, den ihm der reuige Judas von seinen Höllenqualen gibt, vor Mitleid zu Tränen gerührt (Plurout Brend.1fs a larges plurs / d'i~o que eist ad tanz dolurs, v. 1445 sqq.) und erreicht durch seine Fürsprache bei den tausend Teufeln, die Judas abholen wollen, eine Verlängerung seines IUrlaubse bis Montag früh. Von dieser wunderlichen ökonomie und IPoesie des Aberglaubense findet sich in der Divina Commedia kaum noch eine Spur. Dante verfügt über andere Mittel, um .. Marie de France: Esp"rgafoire de 5. Pafrice, v. 1081sqq. 1I Naoigatio 5ancti Brendani, nach der anslo-norm. Version, ed. F. R. WATERS, Oxford 1918, VV.
1215-1498.
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das Grausige und Smockierende in seinen Jenseitssmilderungen wieder aufzufangen. Dazu gehört die Verwendung von Vergleimen aus der alltäglim vertrauten Welt. So wenn Dante im amten Höllenkreis dem provenzalismen Dimter Bertran de Born begegnet, der als Zwietramtstitter nun selbst körperlim zerspalten sein Haupt in der Hand tragen muß: Ich sah gewi8 (noch deucht mir, daS ich's sehe) Hauptlos einhergehn einen Rumpf, gleich wie auch Die andem wallten aus der Jammerherde. Das abgeschlagne Haupt hielt bei den Haaren l.Ilternenartig in der Hand er schwebend, Und dieses blickt' uns an und sprach: .0 weh mir! Sich selber macht' er selbst sich so zur Leuchte, DaS zwei in einem, eins in zwei'n sie waren. Wie solches sein kann, weiS, wer's so geordnet.eS!
Der Vers: pesol con mano a guisa di lanterna setzt die grauenerregende Ersmeinung des contrappasso in Vergleim mit einem vertrauten, fast anheimelnden Zug der Alltagswelt. Wie man eine Laterne vor sim her trägt, um sim zu leumten, nämlim mit ausgestredc.ter Hand, oben angefaßt, so daß die hängende Laterne leimt hin und her smwebt (pesare = )wiegen(), so sieht der Jenseitswanderer die Gebärde, mit der Haupt und Rumpf Bertran de Borns in einer Smar ebenso verstümmelter Verdammter einhergeht. Das evozierte Bild des irdismen Lebens, das durm das genaue und unmittelbar vertraute, aber gerade darum selten herausgehobenen Detail der hin und her smwebenden Limtquelle eine fast übersmarfe Deutlimkeit erhält, tritt zu dem Smredc.nis der hier gesmilderten Höllenstrafe in einen eigentümlimen Kontrast. Der grausige Effekt des ersten Anblidc.s (10 vidi ... un busto sanza capo andar) wird durm den Vergleim von Kopf und Laterne, der die jenseitige und irdische Welt im Bild zu versöhnen smeint, wieder aufgefangen; der evozierte Moment des vertrauten Lebens verdedc.t eine Weile das Unheimlime des contrapasso, bis dann die groteske Definition: Di se facea a se stesso lucerna das Schodc.ierende der Erscheinung erneuert, nun aber, um mit der distanzierenden Frage: corn' esser puo, quei sa ehe si governa an die unbegreiflime Allmacht der göttlichen Gerechtigkeit zu erinnern. Die Analyse dieser Stelle zeigt, daß die Verwendung von Bildern und Vergleichen aus der alltäglimen Wirklimkeit bei Dante nimt einfach auf die Formel einer Kompensation des Häßlichen und Grausigen oder einer »klassischen Dämpfung(( gebracht werden kann. Es lieBen sim auch Gegenbeispiele bringen, in denen solche Vergleime das Grausige und Schaudererregende der Jenseitsdarstellung nicht mildern oder neuSI
Inferno XXVIII, 118-129 (übersetzt von Philalethes) : 10 vidi certo, ed ancor par ch'io 'I veggia, un busto sanza capo andar sl come andavan Ii al tri della trista greggiaj e'l capo tronco tenea per le chiome, ~sol con mano a guisa di lantemai e quel mirava nol, e dicea: .Oh me!e Di facea a se stesso lucema, ed eran due in uno e uno in due: com' esser puo, quei sa che sI govema.
se
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tralisieren, sondern verschärfen und ins Groteske übersteigern. Diese Funktion ist indes nicht spezmsch für Dante. Sie gehört zu den traditionellen Stilmitteln der Visionsliteratur. In der Vision de Tondale z. B. zerquetscht der Höllenfürst die Seelen zwischen seinen Fingern, )wie der Winzer den Saft aus den Trauben preßte (Com li presors qui fait por force venir le ving de la crape, p. 38); später kommt Tondal in ein Tal, das mit glühenden Kohlen gefüllt und mit einem Deckel überwölbt ist, auf welchem die Seelen von Verdammten gebraten werden und dabei hochspringen )wie der Speck in der Bratpfannee (Ausi comme le lart est frit en la paelle, p.ll). Spezmsch für Dante ist vielmehr erst ein Gebrauch solcher Vergleiche, bei dem das Bild aus der alltäglich vertrauten Welt die groteske Wirkung transzendiert und als Evokation oder Erinnerung an das verlorene irdische Dasein für den Berichtenden eine eigene, oft schmerzhaft insistierende Realität gewinnt. Dieses Verfahren ist im Falle von Bertran de Born nicht zufällig gewählt, sondern verrät eine gewisse Sympathie mit dem Dichter, der auch dadurch ausgezeichnet ist, daß ihm Dante die Einsicht in das Gesetz der göttlichen Vergeltung in den Mund gelegt hat (Cosi s'osserva in me 10 contrappasso, v. 142). Die Sympathie des Jtnseitswanderers kann sich zu ausdrücklichen, verschieden abgestuften Gebärden des Mitleids steigern (Francesca da Rimini, Ciacco, Pier della Vigna, Brunetto Latini). Dem steht andererseits aber eine nicht weniger reiche Skala an Regungen, z. T. sogar maßlosen Ausbrüchen politischer Leidenschaft gegenüber, zu der es in der früheren Tradition der Jenseitsvisionen keinen Präzedenzfall gibt. Beide Seiten dieses Verhaltens, das Mitleid mit der Qual persönlich geschätzter Verdammter wie die Verweigerung des Mitleids gegenüber verachteten Insassen der Hölle,53 widersprechen der Rechtsmetaphysik der Divina Commedia, nach der es )wahre pieta ist, keine pieta zu empfindenc~ Wenn Dante als Jenseitswanderer Filippo Argenti mit grausamem Hohn abfertigt (VIII, 34 sqq.), Bocca degli Abati voll Zorn am Schopf packt, um ihm )mehr als ein Haarbüschel auszureiBene (XXXII, 104) oder Frate Alberigo unbarmherzig die Bitte absc:hlägt, ihm doch einmal nur die vom Frost verglasten Tränen von den Augen abzunehmen (XXXIII, 149), läßt die dogmatische Rechtfertigung: e cortesia fu lui esser villano (v. 150) unweigerlich ein moralisches Ungenügen zurück. Dante, der das Jenseits von Mitleid und Verachtung stehen Gestalten wie Mahomet, denen gegenüber Dante offenbar die vom christlichen Glaubenseifer gefo~derte Einstellung zur Schau trägt. Bei Mahomet erscheint die Strafe der Zwietrachtsti(tu, die im Falle von Bertran de Born aus Sympathie ästhetisch kompensiert war, in einem Vergleich von kaum überbietbarer skatologischer Derbheit: Gia veggia, per mezzul perdere 0 Iulla, com' io vidi un, cosl non si partugia, rotto dal menta infin dove si trulla : (= ,durchhauen vom Kinn bis wo man furzte) tra le gambe pedevan le minugia; la corata pareva e 'I msto sacco che merda fa di quel che si trangugia. (inf. XXVIII, 22) .. Q"i vive ltJ pieta q"and' t ben morta,lnf. XX, 28 (der Vers setzt im Wortspiel den doppelten Sinn von pieta als ,Mitleide und als ,Frömmigkeite voraus); zum Ganzen s. H. FaIEDRICH, Die Redrtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, Frankfurt 1942.
5:1
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Grausige und Schodderende der Höllenqualen in den Gemütsregungen und Re8exionen des Wanderers sich brechen und vermitteln läBt, hat damit zugleich den ungelösten Rest des contrappasso, das Uneinsichtige der göttlichen Gerechtigkeit, in die subjektive Wirklichkeit des Betrachters verlegt. Dieser Betrachter der drei Jenseitsreiche ist weder ein Heros noch ein Heiliger, sondern ein geschichtliches Individuum, das auch Jsub specie aeternitatist seiner geschichtlichen Welt verhaftet bleibt, in der Anschauung der zeitlosen Ordnung spiegelbildlich die Wirklichkeit der irdischen Welt, ihrer individuellen Taten und Schicksale wiedererkennt. Und die Bewohner seiner drei Jenseitsreiche sind nicht die namenlosen, nach allgemeinen Sünden und Tugenden geordneten Gruppen der Toten, wie sie die christlichen Jenseitsvisionen und auch die mohammedanis~ Eschatologie ausgebildet hatten, sondern individuelle Personen," die bier - im Unterschied zu der schattenhaften lebens ferne der Gestalten in Vergils Inferno, das noch den übergang zu neuen Stufen der Seelenwanderung offen läßt - schon ihr unentrinnbares, die Summe ihres lebens vollziehendes Endgeschick repräsentieren. )) Von hier aus muß nun höchst wunderbar werden, was der leser des Gedichts als selbstverständlich empfindet ... : daS ihr Platz und ihre Haltung im Jenseits durchaus individuell ist im Sinne ihrer früheren Taten und Leiden; daS sie gleichsam nur deren Fortsetzung, Steigerung und endgültige Fixierung darstellen, eine vollkommene Erhaltung ihres besondersten und persönlichsten Wesens und Geschicks «.H Damit ist unsere Betrachtung wieder in Erich Auerbachs Deutung der Divina Commedia eingemündet und hat den Punkt erreicht, an dem die mittelalterliche literatur das Postulat der )Poetik des Christentums( erfüllte. Dante hat nicht allein den stiltrennenden antiken Kanon des Schönen und die neuen gattungsbedingten Schranken der mittelalterlichen Epik durchbrochen. Sein sacro poema überschritt die Grenze des Darstellbaren und Darstellungswürdigen auch dort, wo die christliche Hagiographie in der Rechtfertigung des Niedri gen, Häßlichen und Grausigen innegehalten hatte. Solange die niedere, geschichtlich-alltägliche Wirklichkeit allein durch ihre figurale Beziehung auf die transzendente Realität des Glaubens darstellungswürdig war, blieb auch die Darstellung des individuellen lebens auf diejenigen Züge beschränkt, die für die garantierte Vollkommenheit des ewigen Lebens bedeutsam schienen. Das zeigte sich in der Ausbildung des literarischen Kanons der hagiographischen Gattungen: hier ist nicht allein alle geschichtliche Individualität und Verschiedenheit des Schicksals in den allgemeinen Typen der Heiligen und der Glaubens feinde, der Sünder und der Seligen verschwunden, sondern auch die Darstellung des leiden11
11
Wenn sim in christlim-mittelalterlimen Visionen smon vor Dante gelegentlim die Erwähnung Rndet, der Jenseitswanderer habe im fegefeuer persönlime (aber ungenannte) Bekannte getroffen (z. B. im Espurgatoire s. Patriee der Marie de france, vv. 1l0s-8) oder einmal im Vorparadies zwei Könige erkannt werden, die zu seinen Lebzeiten regiert haben (Donachus und Conchober in der Vision de Tondalei Hinweise von U. EBEL), zeigen gerade diese sporadismen Fälle, mit welmer Kühnheit Dante sim über eine implizite Konvention der Gattung hinwegsetzte, als er sein Jenseits mit einer fülle historismer Personen bevölkerte und diese im Spiegel der Erinnerung an die kontingente, irdisme Welt auf eine nie versumte Weise individualisierte. E. AUlRBACH, Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin und leipzig 1929, p. 110 sq.
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den Menschen aus der Zeitlichkeit des Lebens gelöst und ganz auf die Erwartung der gloria passionis oder des Endurteils gerichtet. Diese den Blick vom gegenwärtigen Leben und vergangenen Schicksal abwendende Einstellung verdichtet sich in der Tradition der Jenseitsvisionen zu einer Erklärung der lhöchsten Qualc, die zu den grausamsten Beispielen des im christlichen Sinn noch Erbaulichen gehört. In der Visio Tundali wird die Seele Tundals von ihrem Schutzengel über den Sinn der Höllenqualen belehrt: auch die Frommen - darin geht Gottes Gerechtigkeit über das Prinzip der Wiedervergeltung hinaus - werden zuerst durch das Höllenreich geführt, um die Leiden anderer sehen und hernach im Paradies Gottes Erbarmen um so mehr empfinden und preisen zu können. Den unbußfertigen Sündern widerfährt die umgekehrte Behandlung: Auch die Seelen der Verdammten werden erst dorthin geführt, wo sie die Herrlichkeit des Paradieses sehen können, bevor sie den Höllenqualen überliefert werden, damit sie durch die Herrlichkeit und Erhabenheit des Paradieses und durch die Gemeinschaft der heiligen Engel und der anderen verklärten Heiligen, um die sie sich durch ihre Sünden gebracht haben, desto mehr ihre Qual der Verdammnis empfinden. Denn es gibt keine größere Qual, noch kann man einen größeren Schmerz empfinden als den, die Gemeinschaft mit Gott und seinen Seligen verloren zu haben."
Diese Lehrmeinung ist wohl das größte Ärgernis, das das christliche Weltbild des Mittelalters dem modemen Verständnis bereitet. 58 Daß sich Dante gerade hier dem Dogma gegenüber eine Lizenz gestattet hat, ist zwar - wenn ich recht sehe - an keiner Stelle der Divina Commedia ausdrücklich fonnuliert, wird aber in seiner Darstellung des status animarum post mortem offenkund. Denn die höchste Qual entspringt in Dantes Inferno nicht mehr dem Anblick der versagten himmlischen Seligkeit; das Leiden der Verdammten verschärft sich vielmehr durch das Bild ihres vergangenen irdischen Lebens, das ihnen der Spiegel der Erinnerung unablässig vor Augen hält. Man darf hier die allzu berühmten Verse: Nessun maggior dolore I ehe ricordarsi deI tempo felice I nella miseria (Inf. V, 121) wieder zitieren, zumal sie nicht allein auf Francesca da Rimini, sondern auch auf Vergil (e cia sa 'I tue dottore) bezogen sind. Diese neue, von Dante in größter individueller Vielfalt ausgestaltete Qual übertrifft die materielle Symbolik des alle Sünder der gleichen Kategorie gleichenna8en treffenden contrappasso, weil sie immateriell ist und den Einzelnen in der Einsamkeit seiner Individuation anrührt. Was zunächst noch als eine letzte Verschärfung des Grausigen der Höllenqual erscheint, erweist sich - blickt man auf die Konsequenzen dieser poetischen Lizenz sodann aber als der Anfang einer neuen Rechtfertigung des Individuellen. In den durch das ewige Urteil dramatisch gesteigerten Evokationen der vergangenen Taten und Schicksale gewinnt das Grausige des Daseins der Verdammten ein neues GegenLa vision de Tondale, p. 24125: Et ausi les ames des dampnes sont auant menees veoir le glore de parais qu'eles soient presentees as tormens d'enfer, pour ce qu'eles soient plus tormentees et plus coucies de la gloire et de la hautece de paradis et de la compaingnie des sains angles et des autres glorieus sa1ns que U ont perdue par lor pedties. Ne nul si grant torment n'est ne si grant doleur ne ne puet estre comme de perdre la conpaingnie de dieu et de ses sains . .. Du bezeugt am nachc:lriiddichsten Nietzsche, Zur Genealogie der Mora', 115. 17
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bild: die kontingente Wirklichkeit des irdischen Lebens übernimmt in Dantes Inferno mehr und mehr die Funktion, die in der christlichen Tradition der Jenseitsdarstellung die Vollkommenheit des garantierten ewigen Lebens innehatte. So gelangt die gesellschaftliche Wirklichkeit und Pluralität des Individuellen über die Beschreibung des status animarum post mortem in den Bereich des Darstellbaren und Darstellungswürdigen ! Dante ist über den Umweg einer Darstellung der jenseitigen Welt zum )Dichter der irdischen Welt< geworden. Wenn er lldie irdische Geschicklichkeit in sein Jenseits mit hinübergenommen hatcc,lI' hat sich ihm diese spezifisch christliche Mimesis doch erst dadurch erschlossen, daß er in der Beschreibung der Ordnung von Schuld und Sühne im Endschicksal der Toten die bisher fehlende Rechtfertigung fand, geschichtliche Personen in ihrer Individualität und Kontingenz darzustellen. Der Versuch, die )Poetik des Christentums< am Leitfaden der Rechtfertigung des Häßlichen in der mittelalterlichen Literatur zu verfolgen, hat uns an den Ausgangspunkt eines geschichtlichen Prozesses herangeführt, der eine eigene Darstellung erfordern würde. Faßt man ihn unter den Begriff der Freisetzung des Individuellen, so wäre zu untersuchen, wie in der Literatur der Neuzeit der beliebige, uni deale, der geschichtlichen Wirklichkeit verhaftete Einzelne in jenes nicht-antithetische Verhältnis zum Schönen und Vollkommenen eintritt, das die )Poetik des Christentums< begründet hat, als sie das Häßliche mit dem Niedrigen vom Bösen ablöste und damit der ars humilis den Weg freimachte. Es wäre dann zu zeigen, wie diese Entwicklung durch die Rezeption der antiken Poetik in der Renaissance aufgefangen und modifiziert wurde, wie sich ein neuer Kanon des Darstellungswürdigen herausbildete, der die Kunst als Nachahmung der schönen Natur auf das Ästhetische begrenzte und die Darstellung des Individuellen wieder in eine vollkommene Typenwelt von Charakteren eingehen lieB. Der Zeitpunkt, zu dem der Bann dieser klassisch-humanistischen Tradition gebrochen wurde und man im Namen der )Poetik des Christentums< gegen die Begrenzung der Kunst auf das Idealschöne der Natur Protest erhob, fällt zusammen mit der Wiederentdeckung der vom Humanismus gering geachteten Divina Commedia. Der Romancier des 19. Jahrhunderts, der als historien des moeurs mit der Geschichtsschreibung konkurrieren und die Totalität der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit Mitteln der Dichtung erschließen wollte, der die Divina Commedia in der Fülle dargestellter Personen noch übertraf und in der Physiognomie des Milieus eine neue, nicht-antithetische Form des Häßlichen entdeckt hat, Honore de Balzac, gab seinem Gesamtwerk einen Titel, der durchaus nicht nur metaphorisch zu verstehen ist, weil er zu Recht die modeme Erfüllung eines von Dante gesetzten Anspruchs dokumentiert: La Comedie Humaine .
.. E. AUEllBACH, Mime,'" a. a. O. p. 187.
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XIV.
ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG ALS ZUGANG ZU MIITELALTERLICHER LITERATUR
Zur Aktualität der Questions de litterature von Robert Guiette Wer den Aufsmwung vor Augen hatte, den das Studium der mittelalterlimen Literatur in den Nachkriegsjahren nahm, wird dreißig Jahre danach geneigt sein. den gegenwärtigen Zustand auf diesem Feld der Forsmung mit dem Vagantenvers zu glossieren: Florebat olim studium I nrmc vertitur in taedium. Nach 1945 hatte die Mediävistik aller beteiligten Philologien in Deutsmland - aber nimt hier allein - die stärksten Impulse aus dem Bedürfnis empfangen, die Kontinuität abendländischer Bildung und Dimtung nach einem I ntermezzo drohender Barbarei neu zu begründen. Merkwürdigerweise hielt dieser Aufsmwung nicht lange vor. Wer im Jahre 1975 auf die Wissensmaftsgeschimte der letzten drei Jahrzehnte zurückblickt, kann nimt mehr verkennen, daß die Besmäftigung mit mittelalterlicher Literatur offenbar in dem Maße an öffentlimem Interesse verlor. wie die Erforsmung des Mittelalters als Kontinuitätsbrucke zwismen Antike und Moderne aus der Phase der großen Entwürfe in die des wissenschaftlichen Betriebs überging. Curtius' historisme Topik, Auerbams Stilgesmimte und Spitzers historische Semantik haben eine mehr oder weniger epigonisme Spezialforsmung ins Brot gesetzt. nimt aber Smulen neuer Produktivität gestiftet oder großangelegte Forsmungsunternehmen gezeitigt. die den Leistungen der historisch-positivistismen Heroenzeit vergleichbar wären. Wer an dieser Behauptung Anstoß nimmt, möge sim informieren lassen, wie wenig mediävistisme Unternehmungen in diesem Zeitraum von den großen Forsmungsinstitutionen gefördert werden konnten, unter welmen Schwierigkeiten ein kooperatives Werk wie der Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalt.ers so langsam vorankommt und wie die Thematik der Kongreßprogramme namhafter gelehrter Gesellsmaften fortsmreitend verarmt ist l . Offenbar hat die Frage nam der wiederzugewinnenden Kontinuität und ihre Legitimation durch die unverlierbare Substanz des antiken Erbes nicht hingereicht, als Paradigma einer neuen Mittelalterwissenschaft zu dienen. Es scheint vielmehr, als ob die Söhne von heute dem Studium der mittelalterlichen Literatur gegen die Erwartung der offiziellen Väter von 1945 gerade aus dem Kontinuitätsbruch I
Zwar ist dieser Prozeß wissenschaftsgeschichtlich noch nicht untersucht; doch fehlt es nicht an Zeugnissen und Hinweisen. siehe etwa E. Lämmert: Wissensdzallsgeschichte und Forschungsplanung, in: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschall. hg. v. W. Müller-Seidel. München 1974, bes. p.675; die Einleitung der Herausgeber zu Band I des GRLMA. Heidelberg 1972, p. v-xii; die Besprechung des IV. Kongresses der Societe RencesvaLs V\ln E. Vance, in: Romanic Review 63 ( 1972).
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zwischen Mittelalter und Antike. Mittelalter und Neuzeit ein allgemeineres Forschungsinteresse zurudczugewinnen suchten. Die neue Richtung des Fragens geht dahin. ob diese Epoche nicht vielmehr durch ihre .Alterität' für unser Verständnis der Literatur paradigmatisch werden kann. In dieser Bemühung ist der jetzt für avantgardistisch geltenden Forschergeneration ein außergewöhnlicher Gelehrter, der Philologie und Literaturkritik, Textedition und Geschichte des Lesers, ästhetische Theorie und poetische Praxis in seinen Schriften vereinte: der nunmehr achtzigjährige Robert Guiette vorangegangen. An seine so geistvolle wie unerbittliche Kritik der orthodoxen Mediävistik zu erinnern und darzulegen. wofür er mit seinen QUt'stions de liUeralurel eine inoffizielle Vaterschaft beanspruchen kann, führt zum aktuellen Anlaß dieser Würdigung: meinem Vorschlag. den Bereich der mittelalterlichen Literatur in die aktuelle Diskussion der Probleme der ästhetischen Erfahrung einzubeziehen. Die ,Alterität' der Literatur des Mittelalters, das heißt die geschichtliche Distanz und Andersartigkeit dieser politisch, gesellschaftlich wie kulturell so eigentümlich und modellhaft abgeschlossenen Epoche. ist 19ti4 von C. S. Lewis in TIze Discarded Image. 19i2 von Paul Zumthor in Essai de poeliqlle medievale wie vom Verfasser im ersten Band des GRLMA erneut als Problem aufgeworfen und seither ständig diskutiert wordens. Löst man die mittelalterliche Literatur aus den Illusionen der Kontinuität, im besonderen aus den Perspektiven des Bindeglieds einer unzerreißbaren Traditionskette antiker Bildung oder des historischen Ursprungs individuell sich entfaltender Nationalliteraturen. so treten Eigentümlichkeiten zu Tage. die der hermeneutischen Reflexion Probleme aufgeben, von denen sich die Vertreter der alten philologisch-historischen wie auch der neuen strukturalistischen Methoden noch nichts träumen ließen. Ein Paradebeispiel ist die mangelnde Kohärenz und fließende überlieferung altfranzösischer Epen. Solche Ärgernisse wurden von der vermeintlich objektiven Textkritik gerne mit der Hypothese verschiedener Autoren und dem Prinzip eines zu rekonstruierenden, verlorenen Originals wegerklärt. Als E. Vinaver 1959 Kriterien wie das der Einheit der Fabel und der geschlossenen Form des Werks als Modernismen angriff und der Bcdierschule vorwarf, sie arbeite ohne es zu wissen mit ästhetischen Normen der französischen Klassik und messe die Chanson de geste am Vorbild Corncilles, löste er die Empörung der Sorbonnards. aber kaum
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Die: e:rste Folge ersdaien 1960 als Band VIII, die zweite Folge 19i2 als Band XIlI der Romanica GandenJia. EtuJ~s d~ Philologie Romane, publiecs sous la direclion de: Guy de Poerdt d al.; aus den Questions de littCrat"rl' wird im f. mit I (e:rsle: Folge), 11 (zweite Folge) und Seitenzahl zitiert. Insbesondere in der Kritik zu Zumthors Essai de /loitique medii-oJalc, vgl. E. Vance; Th~ Modernity 0/ the Middle Ages in the Future - Remarks on arecent book, in: Tbc Romanic Review 64 (1973) 140-151, W. D. Stempel in: Ardaiv für das Studium der neueren Spramen und Literaturen 210 (1973) 445-452, P. Haidu: Making it (new) in the Middle Ages - Towards a fn'oblemalics o{ Alterit)', in: Diacritics, summer 1974.
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ein Echo aust. Dieses und andere undurchschaute Vorurteile der orthodoxen Mediävistik hat R. Guiette Zeit seines Lebens mit wachsendem Sarkasmus in Frage gestellt. In den Katalog dessen. was Guiette .die Dogmen der Philologie' zu nennen pflegt. gehören: das vorerwähnte klassische Postulat•• qu·un auteur ne peche jamais contre la cohcrence. m~me s'il ne s'agit que de details" (11. 17). das romantische Vorverständnis von Dichter und Werk, subjektiver Erfahrung und singularem Ausdruck (D'une poesie formelle l'n Franee au MA; I, 9-32), das positivistisme Ideal der vollständigen. alle poetische Ambiguität einebnenden Entsc:hlüsselung (Symbolisme et ,sene/iance' au MA; I. 33-60), die Klassifikation der literarischen Produktion in Gattungen oder organische Gattungsgesmimten (11, 30/147), die Entgegensetzung von ,Literatur der Meisterwerke' und ,schlcdtter Literatur'S, die Abkapselung der literarischen Produktion und Rezeption in soziale Klassen, die Zuordnung der Autoren auf eine einheitlime Ideologie und die Erwartung einer epochalen Einheit des Gleichzeitigen (Observatio1lS sur füge courtois, 11, 17-32), die Annahme, daß ein Autor alle Quellen, die ihm positivistischer Fleiß nachzuweisen vermochte, gekannt und ausgebeutet habe ( .. l'idee d'un Villon savant, une sorte d'encyclopedie littcraire, qu'il est difficile de combiner avec ce pauvre malfaiteur toujours en chasse", 11, 126), und nicht zuletzt ein naives, auf humanistische Hybris zurückgehendes, aber immer noch verbreitetes Selbstverständnis des Philologen, das der Ironiker Guiette mit seinem denkwürdigen Paradox am sc:härfsten traf: "Le plus grand tort des philologucs, c'est de croire que la litterature ait Cle faite pour des philologucs.... Die Eigentümlichkeiten der mittelalterlichen Literatur, auf die Guiette seit 1946, beginnend mit seiner Umwertung der .formellen Poesie' der TrouvCres, auf me rk sam gemacht hat, lassen sich heute unschwer in einer Reihe von zentralen Begriffen wiedererkennen, die von der neuen Literaturkritik um R. Barthes und J. Derrida, von Semiotikem der Gruppe Tel Quel und Change wie auch von Schriftstellern des Nouveau Roman auf das Panier der avantgardistischen Ästhetik geschrieben wurden. Sie bilden auch das fundamentale Instrumentarium der linguistisch orientierten Poetique medievale, mit der P. • A la remerme d'rmt' poi:tique medii:vale, in: Cahiers de civilisaticn mcdievale. Universite dc Poitiers, 2 (1959) 1-16. S R. Guiette hat sich gleichermaßen mit großen Autoren des Mittelalters und der Moderne, mit Gattungen des Höhenkamms und sohnen des niederen Stils (wie dem Marienmirakel: La legende de la sacristine, Paris 1927) oder der heute sogenannten Subliteratur (wie dem Marionettentheater: Marionettes de la tradition populaire. Brucellcs 1950) befaßt, vgl. I, 112/116. • Vgl. IJ,205; die zitierte Formulierung stammt aus einem Vortrag im Romani· schen Seminar der Univenität Gießen von 1965; sie geht auf eine AntrittsvorJesung von 19S0 zuriim, die den Titel trug: La lilttrature et le publie. Auch die bahnbrechenden Abhandlungen wie z. B. La fJoIsie formelle (1940 in holländischer, 1946 in französischer Venion) sind meist 1~15 Jahre vor den Questions de litterature in Zeitschriften enchienen, worauf hingewiesen werden muß, um Guiettcs Priorität zu dokumentieren.
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Zumthor der Alterität mittelalterlicher Literatur, näherhin: ihrem .poetisdten Diskurs' zu Leibe rückte. E. Vance hat den (von Zumtbor nicht verleugneten) Modernismus dieses neuen Zugangs auf die prägnanteste Formel gebracht; für die Avantgarde der jüngsten französischen Literatur wie für mittelalterliche Dichtung im Lichte von Zumtbors Poetik gilt: "tbe beginning of literature is not life, but language; not individual consciousness, but tbe collectivity; not originality, but productivity; in short, ecriture withorlt an aulhor" 7 • Sieht man näher zu, so zeigt sich, daß es vielfach Guiette war, dem die bahnbrechende Einsicht in die Konventionalität des .. grand chant courtois", in die .poietische' Aktivität des unpersönlidt bleibenden Dichters und in die Ambiguität der Sinnstruktur des Romans zu danken war und der aum schon lange vor Roland Barthes das verpönte Vergnügen am Text geredttfertigt hatte. An diese vergessene Patenschaft zu erinnern empfiehlt sich auch darum. weil Guiette bei der Einführung der genannten Begriffe nie die hermeneutische Differenz zwischen ursprünglichem und gegenwärtigem Verständnis der Texte aus den Augen verlor, die man in der modemen Ästhetik der Ecrilllre gerne zu ignorieren pflegt. Wo der Status von Autor und Werk mit Begriffen der autonomen Kunst nidtt zu fassen ist. der Autor nidtt als alleiniger Urheber des Textes und dieser wiederum nidtt als ,Werk', ars ein für allemal gesdtaffene, unveränderliche Gestalt angesehen wurdeS, vermag die neue ästhetische Doktrin, die den Text gegenüber Autor, Welt und Bedeutung autonom setzen will, den mittelalterlichen Text so wenig in seiner Alterität zu erfassen, wie diejenigen Theorien der Interpretation, die unvermerkt die klassische Einheit von Autor und Werk, wenn schon nimt mehr die romantische Einheit von Erlebnis und Ausdruck, voraussetzen. Die Alterität mittelalterlicher Texte, aus der natürlidt immer wieder Werke von autonomem Status herausragen. macht die besdtränkte Anwendbarkeit von Theorien der Interpretation wie der von G. Poulet, E. D. Hirsm oder P. de Man evident. wie unlängst P. Haidu in seiner Kritik von Zumtbors Poetique medievale zeigtet. Weder nachschaffende Identifikation mit dem Bewußtsein des Dichters. noch imaginative Rekonstruktion des sprechenden Subjekts, noch aum der transgressive Akt des Schreibens vermag diese hermeneutische Kluft zu sdtließen. In diesem Dilemma liegt indes ein nicht geringer Anreiz zur Erforsdtung mittelalterlicher Literatur: ihre Alterität im Vergleich zu anderen Epodten macht die überwindung des Zeitenabstands zu einer ständigen Aufgabe hermeneutisch kontrollierter Interpretation. Nimt
Siehe Anm. 3, p. 142. Zur Alterität mittelalterlicher Texte im Verhältnis von Autor und Werk siehe C. S. Lewis: The discarded iJ7Ulge. Cambridge 1964, p.210: zur Veränderlichkeit von lyrischen Gedichten in der Textüberlieferung siehe P. Haidu (vgl. Anm.3): zum anderen Vorverständnis von Anonymität siehe E. Vance (vgl. Anm. S, p. 147): .in the middle agcs, anonymity in the process of poetie production is real. while in the modern age anonymity is a transparent myth belied (...) by the very signature (set over the title) of the author" (nebst Copyright). • A. 3. 0., Sp.4/5. 7
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die antike, als Vorgesmimte unserer Bildung nom vertraute Literatur, sondern die Literatur des aus solmer Kontinuität der Aneignung abgesmiedenen Mittelalters erfordert vom Philologen, was dem Theologen jenseits der Smwelle vom neuen zum alten Testament begegnet Bei dieser Analogie stellt sich aber sogleim die Frage, was die hermeneutische Brücke der Glaubenswahrheit im Bereich des Ästhetismen ersetzen kann. In dieser Hinsimt kommt der Wendung besondere Bedeutung zu, die Guiette auf den verschiedenen Feldern seiner Forsmung zu einer Ästhetik der Lesererfahrung anbahnte. Denn so fremd uns der Status des unpersönlichen Autors und des nimt-werkhaften Textes auf der Seite der Produktion aum geworden sein mag, kann sich doch auf der Seite der Rezeption heute noch einem Leser, der mit ästhetismem Vergnügen einen mittelalterlichen Text aufzunehmen weiß, ein unschätzbarer Zugang eröffnen, den er als Interpret über den Prozeß der Horizontversmmelzung zur hermeneutismen Brücke ausbauen kann. Das mÖ<:hte im im folgenden an Guiettes Paradigmen der lyrischen, romanesken, symbol ismen und rein unterhaltenden Erfahrung altfranzösismer Textgattungen erläutern. Welchen Reiz mag wohl die Lyrik der Trouveres auf ihr ursprüngliches Publikum ausgeübt haben, von der uns ein Corpus von zweitausend Gedimten überliefert ist, die unverdrossen ein denkbar begrenztes thematisches Repertoire umkreisen: die immer gleime ,Urszene' zwischen der vollkommensten, aber unnahbaren Dame und dem sim nach ihr verzehrenden, aber sein Martyrium als Auszeichnung empfindenden Dichter? Auf welche ästhetischen Bedürfnisse antwortete dieses für den modemen Gesmmack so unglaublich monotone Spiel? Mit dieser Umwendung der Fragerichtung von der Genese zur Funktion leitete Guiette eine Neubewertung dessen ein, was er "poesie formelle" nannte. Er braumte zwei Voraussetzungen des eigenen Standorts nimt zu verleugnen: historisch die antiromantisme Poetik seit Verlaine und Mallarme und praktism die lyrisme Erfahrung des Dichters Robert Guiette, der seit 1927 selbst produktiv mit unverwechselbarer Handschrift aus dem Kreise seiner Freunde, der Avantgarde des Paris der Zwanziger Jahre hervortrat 10• Wie manmer Paradigmenwechsel einer Interpretationsgeschichte ersmeint aum die Entdeckung des ästhetismen Reizes der formellen Poesie des Mittelalters als Frumt einer rezeptionsgesmichtlichen Konvergenz. Die Barrieren der Unpersönlimkeit und Konventionalität erwiesen sich als Korrelat des unterschwellig weiterwirkenden Kanons der romantismen Poesie,
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Zu diesem Kreis gehörten Blaise Cendrars, Fernand Llger, Andre Lhote, Andre Salm on, Pierre-Jean Jouve, Max Jacob, Heori Michaux, Supervielle. Jean de Bosschere; R. Guiette hat diese Begegnungen verschiedentlich in Monographien aufgezeichnet. Seine lyrische Produktion begleitet seine Forschung von Musiques und L'allumeur de reues (1927) bis zu Caillous und Rencontres (1973) in einer Folge von 18 Recueils und Plaquettes, deren Stil Jean Cassou wohl am treffendsten charakterisiert hat: .11 y a un tour de calcndrier, un style de Ceuillet qu'on arradle, UD style de quotidienne petite maxime envolee, cl c'est le style de Guiette, bref, incisiC. acide, un veritable style de poesie gnomique.·
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d. h. unserer durch die Ausdruckslyrik hindurchgegangenen ästhetischen Erfahrung; die Lyrik der Trouveres wurde in dem Maße wieder genießbar, als man sie mit der an moderner Lyrik geschulten Einstellung zu lesen begann. In den Beschreibungen Guiettes wird dieser hermeneutische Vorgriff denn auch immer wieder sichtbar: das Thema als bloßer Vorwand ( .. C'est l'reuvre formelle, elle-meme. qui est le sujet"; I, 15), die Variation als Inbegriff der "invention formelle"l1, die Empfindung für das Werden der Form als Grund des ästhetischen Vergnügens ("Ie sens formel qui nous permettrait d'eprouver la poesie de I'cruvre qui se cree"; 1,18), die Wahnehmung einer veränderten Ordnung als einzige überraschung (I, 23) und in all diesem kombinatorischen Spiel mit der Sprache die Freude am Singen selbst ("Ce qu'il chante c'est le besoin, le desir de chanter": I. 14) als letzter Grund der poietischen Tätigkeit (I, 20). Wenn in solchen Bestimmungen unschwer die Poetik Verlaines, Mallarmes oder Valerys wiederzuerkennen ist, hat Guiette doch auch selbst schon dafür gesorgt, die Grenzen zwischen der mittelalterlichen und der modernen Erfahrung der "poesie formelle" deutlich zu machen. Von der Musikalität lyrischer Sprache im Sinne Verlaines unterscheidet sich die .beschwörende Funktion' ("valeur incantatoire"; I. 15) der poetischen Sprache im Gebrauch der Trouveres dadurch fundamental, daß von einer Selbstmanifestation der Sprache dort noch nicht die Rede sein kann, wo ihr Gebrauch in hohem Maße auf Konventionen aufruht, sich keiner Wiederholung schämt, geschweige denn Ungesagtes zur Sprache bringen will, und sich von der obligatorischen Vertonung noch nicht gelöst hatl!. Der Vorrang des Formellen in dieser Poesie anderseits darf nicht mit dem modernen Formverständnis - dem Begriff der schönen, vollkommenen oder auch offenen Form, die ihren Inhalt vertilgt - verwechselt werden, sondern besteht allein darin. "de reveIer une forme dans son cpanouissement" (I, 25). Und schließlich rückt Guiettes Analyse noch einen oft übersehenen Unterschied ins Licht: moderne Lyrik, auch wo sie - nach Valery - vollendete Form als eine klassische Illusion preisgibt, bewahrt doch die Singularität des in seiner sprachlichen Gestalt ein für alle Mal gegebenen, für sim rezipierbaren Werks, während der formellen Poesie des Mittelalters nicht allein - wie die Instabilität der Textüberlieferung bestätigt - die definitive Gestalt (,editio ne varietur') fremd ist. sondern auch 11
In der Formulierung der Einleitung zum Namdrudt: D'/l11(! poesie formelle eil
Franee au moyen äge, Paris (Nizet) 1972, p. 11/12: "I1 me semblait que des
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themes trop souvent repris devaient lasser ct deplaire. cl moins que )'on ne soH sensibilise cl ce qui pouvait varier, e'est-a-dire a I'aspeet formel. (... ) La fin que se propose la poesie formelle n'est pas d'exprimer un sujet nouveau. mais de rcveler une forme dans son epanouissement." Warum dem modemen Geschmadt Wiederholung in der Art der _poesie formelle" ästhetism indezent erscheinen kann, hat P. Haidu wie folgt erklärt: "Modem thought reeognizcs repetition, but associates it with obsessional or eompulsive neurosis (Freud), which translates into Iiterary terms as a theory of literary creation by guilt, anxicty, and poetie misprision (H. Bloomr, a. a. 0., Sp.3.
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die werkbczogene Aufnahme des singularen Gedichts. Dic "poesic formcllc" dcs Mittclalters kann nur als ,plurale tantum' definiert wcrdcn (I, 21/23), da ihr eigentlicher Rciz erst dcr Wahrnehmung der Variation von Text zu Tcxt oder - wenn man so will - cincr ,Intcrtexualität' primär cntspringt. die im Bereich autonomcr Lyrik auch dcr nur scheinbar analoge Gcdicht zyklus mit der komponicrtcn Folgc individuicrtcr Gestaltungen crst sckundär crreicht. Guiette hat cincm seincr Artikel zum jüngstcn französischcn Roman dcn schönen Titel loie de l'interrogation gegcbenl l. So woll tc er auch seinc Questäons de littbature nur als Anfängc dcnkbarcr Lösungcn vcrstandcn wissen. Im Blick auf das Problcm dcr ästhetischcn Erfahrung lasscn sich an scinc Analysc der .po~sic formcllc" aus mcincr Sicht folgcndc Oberlcgungcn anschließcn. Ist hicr dic rczcptivc Erfahrung in dcr Tat mit dcr produktivcn nahezu gleichartig? Hat Guicttc doch am Endc selbst festgcstcllt: ..... dc la chanson courtoise nous pourrons dirc cc qu'on a dit de la musiquc du moyen 1ge: clle Hait con~c du point dc vuc dc I'ex~cutant, non celui dc l'auditeur. Elle r~andait la joic de l'action productricc" (1,20). Das würdc den Kreis dcr Rezipicnten auf cine Oberschicht poetisch gcbildeter, eingeweihter Zuhörer eingrcnzen, was Guictte in anderem Zusammenhang selbst für außergewöhnlich hält (I, 58). In dcr Tat umfaßt seinc Beschrcibung mehr noch als den puren Gcnuß der formcllcn Variation. Das höfischc Licd idcalisiert incins cincn idcologischcn Gchalt ( .. I'invcntion et la pcrfection dc l'~uvrc rblisa font flcurir l'idec, la magnificnt, la rcndcnt emouvantc et suprcmcment humainc·; 1,16). Das darf indcs nicht mimetisch vcrstanden wcrdcn, denn dic "poesic formellc" geht in ihrem Gelingcn über allc ideologische Dienstbarkcit hinaus: "Dans cc tout vivant, la plainte de l'amant-martyr ou sa joie acqucrront un relief quc l'argumcnt ideologique nc permcttait pas dc soup~onncr et auquel nc pourraicnt que nuire les petits incidents recls dc l'aventurc amourcusc" (I. 17). Dazu kommt dic unleugbarc normbildcnde Wirkung dcs höfischen Lieds als Lcbensform, die anfänglich als höfischcs Ritual schwcr grcifbar ist, mchr vorgestellte Idcalität als gelebtc Form gewesen sein mag, später aber in den nicht nur sprachlichen Normcn dcr Galanterie, nähcrhin dcr gesellschaftlichen Ritualisicrung dcr Geschlechtsliebe konltrcter faßbar wird. Antwortetc die "poesie formcllc" derart auf das Bcdürfnis, das crotische Abentcuer zwischen Mann und Frau zu einer Institution zu crhöhen, in der man sich von dem Liebesverhalten dcr gewöhnlichen Sterblichen untcrschciden kann, so wird. auch begrciflich, warum lich die Zuhörer offenbar nicht mehr mit dcr obligatorischcn Unpcrsönlichkeit dieser Dichtung zufrieden gaben. Die Phantasic dcr Rezipicntcn dürftc schon bald die Schranke dcr Anonymität überstiegen haben. wie die Lcbensbeschreibungen dcr Troubadours aUI dem 13. Jahrhundcrt bezeugcn. Wcnn dort dcm bewundertcn Dichter ein pcrsönliches Drama zugeschricben, dem bevorzugten Gcdicht cin Liebesabenteuer untcrstcllt wird {I, 26), kann dies schwcrlich aus cinem crst nachträg11 In: Revue giDirale, sept. 1975, 1-6.
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lichen ,literarhistorischen' Interesse erklärt werden. Vielmehr muß den literarisierten Vies des Troubadours auf der Seite der Rezipienten ein schon ,romantisch' zu nennendes Bedürfnis nach Individuation entsprochen haben. Diesem Wunsch, die abstrakte Vollkommenheit des lyrischen Ich in einem persönlichen Sdlicksal verkörpert zu sehen, konnte auf der Seite der Produktion wohl auch entgegenkommen, daß das lyrische Subjekt auch schon in mittelalterlicher Poesie an der grammatischen Ambivalenz des Pronomens Ida teilgenommen hat, zugleich universale und singulare Referenz zu sein. Gewiß hat zuletzt wieder P. Zumthor an einem breiten Spektrum von Belegen zeigen können, daß sich der Gebrauch des Pronomens Ida in altfranzösischer Literatur gemeinhin in der Funktion der universalen Referenz hält und faktisch auch dort noch kein individuelles Selbst indiziert, wo es singulare Züge einzubegreifen scheint'·. Doch dieses referentielle Vacuum auf der Seite der Produktion erhält ein anderes Gesicht, wenn man es von der Seite der Rezeption aus betrachtet. Das lyrische Subjekt der .. po~sie formelle", das keine vorgängige Geschichte hat und kein faktisches Widerfabrnis zur Sprache bringt, das nicht individuell charakterisiert ist und darum nur als Typus oder idealisierte ,persona' hervortritt, kann die leere Hülle seiner ,persona' sekundär mit Bedeutung anreichern. Es kann nachträglich ein eigenes Schicksal erlangen, wenn der Zuhörer, zu dem das grammatische Ich ja eine unmittelbare Beziehung herstellt, solche Bedeutung zuschießt, um sein Bedürfnis nach Individuation zu befriedigen. Die gespielte Aufrichtigkeit, mit welcher der Dichter seine Liebe gesteht und dabei doch nichts zur Sprache bringt, was er nicht schon einer vorgängigen Konvention entnommen hätte (I, 10), kann vom Zuhörer wörtlich genommen und so zum Kristallisationskern einer Individuation werden, die aus der typischen ,persona' eine einmalige Personifikation idealer Liebe emporwachsc:n läßt. Aus dieser erborgten Identität erklärt sich am einfachsten, was Guiette an diesf'n Dichtem als Paradox der Aufrichtigkeit beschrieben hat: "que sans nous faire la moindre confidence sur ce qui s'est passe. ils nous font l'aveu le plus profond sur la vie et sur euxmemes" - das Geständnis eines .. amour ideal qu'ils pourraient vivre et comme ils pourraient le vivre selon les suggestions de la convention courtoise" (I, 14). Da ihr lyrisches Subjekt nichts Privates zu enthüllen oder zu verbergen hat. kann ihr Ich gerade in der Maske einer ,persona' die faktisch nicht vorgegebene Identität erlangen. Daß der Maske nicht allein die herkömmlich bevorzugte Funktion eigen ist. die Identität des Trägers zu verbergen, sondern auch die andere, gleichfalls im Begriff der ,persona' angelegte Funktion zukommen kann, dem Träger Identität zu verleihen, hat gerade Guiette in einem bemerkenswerten Portrait eines Freundes, des Dichters Michel de Ghelderode zu bedenken gegeben... Son masque ne cachait que ce qu'il consid~rait en lui comme tout a fait adventice" - die modeme Umkehrung des Paradoxes der Aufrichtigkeit besteht darin, daß der Dichter der Subjektivi-
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Essai de /Joetiquc medievale, op. cit., p.65 sqq. und in: Autobingraphy in thc Middle AgIs, in: Genre 6 (197S) 29-48.
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tät cincr Maskc bedarf, um authentisch zu scin: .Le masque efface tres precisement tout ce qui niest pas lc cent re de lOi-m~me. Combien cela facilite I'exprcasion de ce qu'il y a de plus authentique en soi, cl force le portrait. par l'artifice de la caricature!"\S Der ästhetischen Erfahrung der höfischen Lyrik steht in den Questions de liUeraLure die symbolische Erfahrung gegenüber, von der sich einerseits die Haltung der Neugier bei der Romanlektüre und andererseits das Vcrgnügen an der Sc:bwankliteratur absetzt. Angesichts der lCit langem ausgeuferten Fonc:hung zum Symbolismus und Allcgorismus des Mittelalters stellte Guiette die seit langem versäumte Frage nach der ästhetischen Funktion der symbolischen oder allegorischen Denkform", Wie wurden die bekannten theologischen Doktrinen, im besondcren die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn, in ästhetische Erfahrung umgesetzt? Sagen uns kommentierende Werke vom Typ des Ovid moralise noch etwas darüber aus, ob und wie die Schicht des lesendcn Laienpublikums oder gar die breite Masse der Nichtleser symbolischen oder allegorischen Sinn in Kunst und Dichtung verstanden (I, .:i5-45)? Gewiß setzt dic durch Jahrhundcrte anhaltcndc öffentlichc Geltung symbolischer Kunst und allcgorischcr Dichtung beim zeitgcnössischcn Publikum cinc Art von .sens du symbolc", eine dem modcmcn Bctrachter und Leser nicht mehr selbstverständliche Sensibilität für verborgene Bedcutung voraus. Doch daraus zu folgcrn, der mittelalterliche Leser habe kein anderes Vergnügen gekannt, als Symbole zu entschlüsseln. hieße wieder einmal, die Tätigkeit des Philologen mit der Rezeption des Lesers kurzzuschließen. Das positivistische Ideal eines kritischen Kommentars. der ohne Rücksimt auf den Erfahrungshorizont des Autors jedes Textelcment auf eine symbolische Bedeutung oder auf eine historische Quelle zurückführt, verwandelt den Text selbst unmerklich in eine vollständig entschlüsselbare Allegorie: "L'reuvre du romancier est, par les commentaires, transformee en une sorte de musee des superstitions. de somme de connaissances secretes ou non" (1,51). Chretien de Troyes zum Beispiel war weder klassismer Philologe noch Keltologe, sondern ein mit Ironie begabter Erzähler, der sich auf dir Kunst verstand, die übernommenen Stoffe so umzuerzählen, daß sie gewiß auch die geforderte höfisme Lehre (sen) vermittelten, primär aber das Verlangen seines Publikums nam dem Unalltäglichen, Geheimnisvollen und Traumhaften, das ,zu schön ist, um wahr zu sein', befriedigen konnten (11, Si /42). Der mittelalterlime Lcser, der gewiß über eine besonderc Scnsibilität für das Zeichenhafte, Unsichtbare und Obernatürliche verfügte t7 • war nam Guiette als "lecteur de symboles" ineins ein 11
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Masqu et visag•. in: Bulletin de I' Academie Royale dc Langue cl dc Litteraturc Fran~a 50 (1972) 8-10 . In: Symbol• • , .sme/ianu' au moym dge (1954), ucuur de romatl. luleur de symbole (1958) und Li conte de BrelaigM som si vain et /Jlauant (1966); Allegorie und Symbol untcnmeidet Guictte durch bestimmte und unbestimmte Bedeutung. vgl. 1,49. Dazu M. Bloch: La sociele /eodale - La /ormalion d.s Ii.ns de dep.ndanu, Paris 19.59, p. 118; R. R. Bezzola: Le sms de I'aventrn, d d, famour, Paris 1947; R. Guiette: La Ilgnde de /Q sGCTisline, Paris 1927. p. 401 aqq.
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"homme passione d'enigmes, c'est-a-dire de ce qui cesse d'~tre au moment ou la clarte se fait" (I, 46ff.). Der Reiz des Dunklen, noch nicht Aufgelösten, der die Neugier des Lesers fasziniert und ihn die endliche Auflösung fast bedauern läßt, ist die emotionale Kehrseite der symbolischen Lektüre und damit der Hauptgrund des Vergnügens an Texten mit symbolischer Schreibarl Guiette hat der Beschreibung dieses ästhetischen Vergnügens einige unübertreffliche Seiten gewidmet (1,55156; 11,39-43). Seine theoretische Folgerung ist weitreichend genug, um ihr mehr Beachtung als bisher zu wünsmen: ,,11 y a un tour d'esprit symbolique qui, dans certains cas, reclame une solution, dans d'autres sc complait a la recherche: symbolisme signi/iant, cl d'autre part. symbolisme sam signi/iance, c'est-a-dire symbolisme residant dans le fait m~me de poser le texte comme une enigme. Sens cache, mais parfois sens litteral accompagne d'une possibilite de sens cache, sans plus. Symbole per~u, mais incompris; symbole qui garde son secret ou symbole ouvert aux interpretations multiples" (I, 5415). Dieser kategoriale Gegensatz der Einstellung zum Symbol als Sinnträger und als Rätsel eröffnet der Bestimmung ästhcl~er Erfahrung im Mittelalter sowohl diachronisch als aum synmronism neue Perspektiven. Er ermöglicht es, die Ablösung der Romanlektüre vom Primat symbolischer Bedeutung als einen Prozeß der Emanzipation des Interesses am Imaginären von der Mitte des 12. Jahrhunderts an greifbar zu machen. Und er bringt in das kommunikative System der sich entfaltenden volkssprachlichen Literatur ein Kategorienpaar ein, das die zur Zeit vieldiskutierte Klassifikation der Zumthor'smen .. mod~les d'ecriture" wesentlich ergänzt t8 . Guiettes Kategorien bieten Ansätze einer rezeptionstheoretischen Skala, die sich mühelos aus seinen Studien zu anderen Gattungen vervollständigen läßt. Sie reicht vom liturgischen Drama bis zum Fabliau und repräsentiert Weisen der ästhetischen Erfahrung, die sich als Stufen ihrer Ablösung von kultisch gebundener Erfahrung verstehen lassen. Noch vor der Schwelle zu dieser Emanzipation und der ästhetischen Einstellung so ganz entgegengesetzt, daß der Obergang zum geistlichen Spiel extra muros etwaS wie eine historische ,Mutation' erfordert haben mußt', befindet sich das liturgisme Drama. So fern es dem zum Sm auen bestimmten SpieliG in der Struktur seiner Handlung, Zeitfolge, 18
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Chant vs non-mant: reliTence d l'monciation seule vs Telhence ci une alltTe action, discouTs /JeTsonnel vs discours im/Jersonnel; siehe dazu besonders die Kritik von W. D. Stempel und P. Haidu, vgl. Anm.3. PTOpoS sur le drame lilurgique, in: Melanges PinTe le Gentil, Paris 19;3, p.343. Zum Schritt vom Iiturgisc:hen Drama intra murOl zum geistlic:hen Spiel extra muros ecclesiae ist jetzt auf R. Warning: Fanaklion und Struktur - Die Ambivalen:ell des geistlimen Spiels (München 1974) zu verweisen. Eines der überrasc:henden Ergebnisse dieser jüngsten Forschungen ist, daS mit der Verbildlichung der sakralen Handlung nicht immer nur das Schaubedürfnis mit erbaulicher Absicht befriedigt wurde, sondern daS das geistliche Spiel als ,Mcue auf dem Marktplatz' selbst wieder in die Identi6kation mit kollektiven Ritualen umschlagen konnte. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die drastisc:be Ausmalung der Martyrien der Kreuzigung, die in das Zwielic:ht eines archaischen SündenbodtrituaJs geraten konnte.
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Wahrscheinlichkeit und Repräsentationsleistung steht: "Ce drame n'a pas d'autre but que la liturgie elle-meme. 11 est eelebration en meme temps que eommemoration. It doit signi6er plus qu'il ne represente. 11 est louange et priere" (11, 8), so anders ist auch die von den Teilnehmern geforderte Einstellung. Zwischen den ,dramatis personae', die den Vorgang zelebrieren, und der teilnehmenden (nicht also nur zuschauenden) Gemeinde besteht noch keine Kluft; der liturgische oder auch biblische Vorgang hat den Charakter einer Feier, die nunnehr gegenwärtig macht, was die Teilnehmer immer schon wissen, was für sie Glaubenswahrheit hat und darum alle individuelle Phantasie ausschließt. Guiettes Interpretation, die diese religiöse Erfahrung als einen "dialogue entre la parole des interloeuteurs ... et eelle d'une eonscience et d'une louange hors de l'cvenement" beschreibt (11, (6), gelangt zu dem Ergebnis, daß in diesem Bereich der ästhetische Sinn, d. h. ..le besoin humain de speetacle". dem Charakter des Heiligen entgegensteht, ja ihn überhaupt erlöschen läßt. Diese strenge Disjunktion ist indes auch auf dem Feld der Forschungen Guiettes als Grenzfall zu bewerten. Wenn die gegenwärtige ästhetische Theorie eher dazu neigt, ästhetische Erfahrungen als eine Einstellung zu bestimmen, die von Haus aus keinen spezifischen Inhalt hat, sondern als eine "leere Funktion" die verschiedensten anderen Erfahrungsinhalte der Lebenspraxis ergreifen, sie organisieren, d. h. sie vertiefen. idealisieren und damit anderen Bedürfnissen dienstbar machen kannZl , bringt Guiette gerade dafür aus dem Bereich religiöser Lebensformen manche Bestätigung. In der Legende etwa. der Guiette seit seiner Doktorthese von 1927 - der monumental angelegten Geschichte eines Marierunirakels, die an mehr als 200 Versionen der erbaulichen Funktion dieser vom philologischen Hochmut verachteten Gattung nachgehtn - die liebevollste Aufmerksamkeit geschenkt hat, können religiöses und ästhetisches Gefühl konvergieren; die fast schon anrüchige Geschichte von der flüchtigen Nonne, deren Rolle im Kloster bis zur reuigen Rückkehr der ,meretrix' von der barmherzigen Gottesmutter wahrgenommen wird, verklärt den alltäglimen Umgang des Mensmen mit dem Heiligen und befriedigt ineins das Verlangen nam Erbauung und das Bedürfnis nam Poesie (11, 112). Als weiteres Beispiel kann die ,figura etymologia' dienen. Ihre ursprünglich rein theologisme Funktion, von der sprachlimen Gestalt der
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Waming erklärt solme Ersmeinungen als Remythisierung aer Heilsgesmichte, in welmer sich der Protest einer dualistisch-paganen Volksfrömmigkeit gegen die monotheistische Dogmatik der nominalistismen Theologie artikuliert. J. Mukarovsky: Zur Begriffsbildung der tschechoslowakisclaen Kunsttheorie (1947), siehe dazu die Zusammenfassung von R. Kalivoda: Der Maf6ismus und die moderm geistige Wirklichkeit, Frankfurt 1970, p.26 sqq.; H. R. Jauss: Negativität und lüntifikation - Versuch zur Theorie der ästhetisclaen Erfahrung. in: Positionen der Negativität. hg. v. H. Weinrim, Münmen 1975, p.272 sqq. Siehe dazu die zusammenfassenden Kapitel Araalyse. caracteres et sens de la legende (11. I) und Valeur morale de la legende (1I,4) in: La legende de la sacristine. Paris 1927, und die drei späteren Aufsätze, in: Questions de liltirature 11,107-124.
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Hana Robcrt Jausa
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Namen und im besonderen auc:h von der Erteilung neuer Namen aus auf Wahrheiten des Glaubens zurückzusc:hließen, war auch schon im Mittelalter sieht man sein literarisches Leben mit den Augen Guiettes - durchaus mit dem Vergnügen am Wortspiel vereinbar. Was uns noch in der heruntergekommenen Fonn des Kalauers vertraut ist, konnte als "ernst genommenes Wortspiel" (11,93) zugleich moralisc:her Belehrung dienen und den Reiz ingeniöser, ja poetischer Erfindung auslösen: "A ce besoin et a ce style de pens~1 d'invention et d·~criture. se livraient les ~crivains m~di~vaux, lorsqu'ils sont en travail d'etymologie. Qu'ils croient faire de la science, qu'importe, si leur p~dantisme m~me est en quelque fa~on po~sie" (1,98). Für die Frage nach den Modalitäten ästhetischer Erfahrung in mittelalterlicher Literatur ergibt sich nunmehr die folgende (definitorisch gewiß noch auszuführende) Skala: a) b) c) d) e) f) g) h)
liturgisc:hes Drama geistliches Spiel Legende Chanson de geste symbolische Dichtung Roman Fabliau (Schwank) höfische Lyrik
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kultische Partizipation Schaubedürfnis/Erbauung Staunen/Rührung/Erbauung Bewunderung/Mitleid Entschlüsselung des Sinns Lust am Ungelösten (Dunklen) Unterhaltung/Erheiterung Genuß der fonnalen Variation
Die bisher unerwähnte Chanson de geste interpretierte Guiette im Blick auf den historischen Funktionswandel vom gesungenen Epos der Kreuzzugsepoche zum Lesestoff des Spätmittelalters. Die Chanson de geste, mit dem Märtyrerhelden Roland der Aktualität des Glaubenskriegs entsprungen und in ihrer Idealität dem Geist der ,realistischen' Denkfonn gemäß (11, 72). büßt mehr und mehr den Charakter eines "poeme de conviction" ein, wird in den Prosaversionen zum Erzählstoff objektiviert, bis am Ende. als David Aubert 1458 die Chroniques et Conquetes de Charlemaine redigiert, die maßlose Leidensc:haft der alten Heroen des Glaubens ganz verblaßt ist, für den Erzähler des 15. Jahrhunderts dafür aber den neuen ästhetischen Reiz des Fernen und Archaischen zu gewinnen scheint (11,66). Doch dieser Reiz verbirgt sich in einer für den modemen Gesc:hmack recht monotonen moralisierenden Prosa, bei der man sid! sc:hwer vorstellen kann, daß die Leser von einst so begierig waren. aus dieser Quelle zweierlei schöpfen zu können: bon exemple IlUX hllrdis en Ilrmes et nobles de coeur und le grocieux p!llisir de la ioyeuse leeture (11,53). Dieser sc:höne Beleg zu der von Guiette angelegten Gesc:hichte des Lesers gipfelt in einer Apologie der Lektüre als dem edelsten. Melancholie verhindernden Zeitvertreib und bezeugt damit bereits eine überrasc:hend emanzipierte Einstellung, wie man sie im Umkreis mittelalterlicher Lektüre schwerlich vermutet hätte. Den Gegenpol zu der kultisch gebundenen Erfahrung nehmen in Guiettes Skala der ästhetisc:hen Einstellungen die reine Unterhaltungsfunktion der Schwankliteratur und der schon reflektierte Genuß der fonnalen Variation in
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der höfischen Lyrik ein. Beide Einstellungen setzen sich scharf von der symbolischen Denkform ab. die ja bei der Erfahrung des Romanlesers noch als "symbolisme saos signifiance" vorgegeben war. Die Gattung des altfranzösi~en Schwanks (fabliau). in der bisherigen Forschung zumeist nur eine Domäne der Motivgcschichte oder kurzschlüssiger soziologischer Zuordnungenl l • rückt dabei in ein überraschendes Licht. Wendet man sich von der unergiebigen Debatte. ob das Fabliau von höfischer oder antihöfischer. von bürgerlicher oder antibürgerlicher Herkunft und Tendenz gewesen sein dürfte, mit Guiette der Frage zu. wie solche Schwänke und Geschichten von einem Publikum aller Stände aufgenommen wurden, das den Umgang mit symbolischer Kunst gewohnt war. einen Hang zum Obernatürlichen hatte und die geheimnisvollen Aventuren in der .anderen Welt' der Artusromane faszinierend fand. so wird ihre Funktion im Literatursystem des 12. Jahrhunderts sogleich deutlich: .C'est de cette litterature noble que l'on di.tinguait les fabll'aux. les contes sans arriere-pensee: ceux Oll il n'y arien ci chercher. aucune id~e profonde. aucune valeur symbolique. aucune allusion au sens de la destinee" (I, 69). Gerade in dieser Negativität, in der Verweigerung aller symbolischen Referenz (I, 74). lag indes die Chance des Fabliau als Form des reinen .divertissement-, diejenige Realität des Alltags darstellbar zu machen, die der Symbolismus ausschloß: die sinnenhafte Erscheinung der Dinge, die Menschen in ihrer Umwelt. ihr unheroisches Verhalten und alltägliches Reden. Gerade hier. wo die altfranzösische Literatur zum erstenmal die rein unterhaltende Funktion erreicht. vermag sie - wie die gleichzeitige bildende Kunst in den kleinen karikaturhaften oder grotesken Szenen romanischer Kapitäle (1.61) - zu demonstrieren, daß der mittelalterliche Mensch nicht nur Jenseitssucher, Held oder Asket war: ,,11 est homme d'ici-bas. et ne ferme pas les yeux sur ce qui l'entoure. La bonne chere, la boisson, l'amour. la luxure. le jeu, la taverne, les joyeux devis. le grouillement des couleurs crues et une abondance d'odeurs. de cris et de chants. d'invectives. de gestes. les bruits vari~ des metiers. les volees des cloches, les somptueuses ceremonies catholiquest les jeux populaires. les chitiments. Tout est spectacle- (I.61). Was diese thematische Analyse. aus der ich ausführlicher zitiert habe, um auch einmal die ungewöhnlich prägnante und elegante wissenschaftliche Prosa Guiettes vorzustellen. gegenüber der mageren Gattungsbestimmung des "conte cl rire en vers" leistet, wird erst recht deutlich. wenn man sie im Auswahlprinzip der vortrefflichen Anthologie wiedererkennt, die Guiette den Fabli-
aux et Comes des Mittelalters gewidmet hat", Guiettes Neuwertung der Schwankliteratur hinterläßt ein Problem. an das :a Zur Kritik an der einschlägigen Monographie von P. Nykrog:
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'abliau". Kopenhagen 1957. siehe R. Guiette (11.64/65) und J. Beyu: Sdafllanlc und Moral. Heidelberg 1969, p. 13ff .• der mit Guiettcs Ansätzen nicht nur in seinem Kapitel D~r S~in des Ernstes in dn Moral des Fablitlu übereinstimmt, sondern sie historisd! wie poetologisch vertieft und erweitert hat. Fabläau" et Contes. ed. pr~sent~e et ~tablie par R. Guiette, Club du meilleur livre. 1960 (collection Astr~e, 30).
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Hans Robert Jauss
auch schon seine Umbewertung der "poesie formelle" rührte: mit welchem Recht kann man im 12. Jahrhundert von Anfängen einer autonomen Auffassung von Kunst sprechen? Als Widenpiel zum Symbolismus der höheren Gattungen nimmt das Fabliau mit seiner Hinwendung zurn planen. unidealen Sinn der alltäglichen Welt, über deren Vorfälle man lachen kann. ohne sie damit zu richten, eine freiere (wenn man so will: ,nominalistische') Haltung zur dargestellten Wirklichkeit ein, die schon auf den mimetischen Realismus der nachmittelalterlichen Literatur vorweist (11, 73). Desgleichen steht die produktive wie die rezeptive Erfahrung der "poesie formelle" quer zu der Erwartung, von den sprachlichen Zeichen auf einen verborgenen Sinn verwiesen zu werden. Bei der niederen Gattung ist leicht zu sehen. wo die Schwelle zur autonomen Kunst liegt. Das Fabliau ist in seiner "optique caricaturale" (I. 76/77) noch weit davon entfernt, das ,plurale tanturn' unterhaltender Vorfälle zum Ganzen einer Welt zu machen und so die Illusion einer selbständigen Realität zu erwecken; auch ist sein Realismus nur kontrastiv und um den Preis des Unernstes erkauft: das Lachen, das es erweckt, beansprucht keine eigene Wahrheit, sondern will nur von den Nonnen entlasten, die es für einen Augenblick negiertta. Komplizierter liegt der Fall bei der hohen Gattung. Wir sahen bereits, warum die "poesie formelle" keineswegs als autonomer Text im Sinne der Ästhetik der Ecriture angesehen werden kann. Auch zeigte sich auf der Seite der Rezeption, daß der Genuß der formellen Variation, der primär eine schon autonome Kunsterfahrung voraussetzt, sekundär in soziale Funktionen der höfischen Bildung übergehen kann. Hingegen setzt auf der produktiven Seite Guiettes Beschreibung der poietischen Aktivität bereits einen autonomen Status voraus. Daran läßt sich ein bemerkenswerter Interpretationsansatz von Eugene Vance anschließen. Die ,Urszene' der Liebeskanzone zieht das lyrische Ich in eine erotische Dialektik zwischen Liebesverlangen und Widentand, Furcht und Hoffnung. affektiver Gewalt und imaginärer Erfüllung; dieses ,süße Leiden' kann für den Liebenden in der erfüllenden Freude (ioi), für den Dichter aber schon in der gelungenen poetischen Form und architektonischen Harmonie der Kanzone seine Lösung findenl l. Es liegt auf der Hand, daß die so verstandene innere Bewegung der "poesie formelle" dem Katharsisbegriff der autonomen Kunst genau entspräche. Die Questions de litterature enden mit Guiettes Eloge de la Lecture. Er nimmt hier die Literaturästhetik zweier Kritiker und Freunde, Gaetan Picon und Arthur Nisin, wieder auf und bringt damit eine Position der französischen Literaturtheorie in Erinnerung, die der Siegeszug der strukturalen An!S
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Siehe dazu J. Bcyer: Sc/zwank und Moral, Heidelberg 1969, p.256: "Seine komische Erfahrung erläutert vielmehr die Weisheit des SpridJworts und verwandter Formen, die ein aussdJlicßlimes Jetzt danteIlen und keine weiterführenden Perspektiven öffnen. Das Fabliau quittiert diese Weisheit mit einem Lachen, in dem alle didaktisdJen, d. h. fortsmrittsgläubigen weltlidJen oder geistlimen Gattungen seiner Zeit ihr fÜdtläufiges non plus ultra finden." U combat erotique d,ez Claretien de Troyes, in: Po~tique n° 12 (1972) p.548.
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thropologie, der linguistischen Poetik und semiotischen Ästhetik in den Sechziger Jahren überschattet hat. Picon hatte 1953 seine Introdllction a ,me esthhique de la liUeralure, Nisin 1959 eine programmatische Schrift: La li,tterature et le lecteur veröffentlicht. Nimmt man Guiettes Questions de litteralure hinzu, die sein ,Lob der Lektüre' auf das vielfältigste orchestrieren, so treten drei individuelle Perspektiven zu einer interessanten Position zusammen. Zwar hat diese Gruppe nicht schulbildend gewirkt. Doch scheint es geboten, ihre Ansatze zu einer Theorie der ästhetischen Erfahrung gerade heute wieder aufzugreifen, wo es darum geht, das Interesse an älterer Literatur nicht nur zu verteidigen, sondern es auch durch ihre unersetzbare hermeneutische Funktion besser als bisher zu begründen. Valerys berühmter Satz: C'est l'execution du poeme qui est le poeme war die gemeinsame Prämisse, das Bemühen, den Leser vor dem Philologen zu rehabilitieren, ihr kritisches Engagement, und die Reflexion über das Verhältnis von primärer, emotionaler oder genießender und sekundärer, reflektierender oder urteilender Lektüre das ständige Hoblern, das die Schriften der drei Genannten umkreisen. Picon sah die Lösung in seiner These. daß schon die erste Lektüre wie alle ästhetische Erfahrung reflektierender Natur und letzterdings mit einer Erprobung des ästhetischen Werts gleichbedeutend sei; sie gab seiner Literaturkritik (L'wage de la lecture, 1960/61) das eigene Profil. Nisin faßte das Verhältnis von erster und zweiter Lektüre unter das Begriffspaar von sens vecu und sens veri{iable und entwickelte daraus ein hermeneutisches Verfahren, das sich in paradigmatischen Deutungen bewährte und ihn zu ersten Ansätzen einer an Wirkung und Rezeption orientierten Literaturgeschichte führt (Les lEuvres et les siedes, 1960), die auszuführen ihm durch einen frühen Tod versagt war!7. Guiettes Eloge de la lecture erläutert die erste Lektüre als ein Genießen in doppelter Hinsicht: "plaisir de decouvrir l'objet, plaisir du mouvement de son esprit dc lecteur qui convient pour jouir de l'objet apprehende" (H. 198). Er setzt dieser ursprünglichen Erfahrung des "lecteur~ die darauf rückbezogene analytische Einstellung des .. liseur" oder Kritikers gegenüber. dessen Leistung daran zu bemessen sei, ob er die "joie consciente de la lecture" zu ergänzen vermag. statt sie in der Aufdeckung von Quellen. Verfahren oder philosophischem Gehalt auszulöschen (11.203). Der entscheidende Beitrag, den Guiette für die Theorie der ästhetischen Erfahrung erbracht hat. wird in diesem Nachwort indes verschwiegen. Er ist gewiß darin zu sehen, daß Guiette die Frage am entschiedensten gestellt hat. wie wohl frühere Leser den Text aufgenommen haben konnten. Das erforderte für die Literatur des Mittelalters, das Verhältnis von sens vecu und Jens veri{iable an Texten einer Epoche zu rekonstruieren. die uns in ihrer
~.
Beide Werke habe im seinerzeit rezensiert (Picon in: Philosophische Rundschau 4, 19':;6, 113-115; Nisin in: Archiv fiir das Studium der neu eren Spramen und literaturen 197, 1960, 223-225), worauf ich statt einer eingehenderen Bespremung verweise.
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H. R. Jauss . Ästhetische Erfahrung als Zugang zu mittelalterlicher Literatur
Feme und ,Alterität' nur scheinbar offcnstcht. Wenn Guiettes Unternehmen so viel seltene Erkenntnisse erbringen wie lohnende Fragen erneuern konnte, ist dies wohl auch auf eine Eigenheit des Gelehrten und Dichters zurückzuführen. an der sich ein Prinzip der Hermeneutik der Lektüre bestätigt 6ndet. Der sens vecu, den der vergangene Text für seinen ursprünglichen Leser implizierte, ist kein Objekt, das man nach der cartesianischen Regel erfassen könnte. sans y rien meUTe de nous-memes que ce qui se peut appliquer indistinctement a tous les objetsl8 • Der sens vecu des vergangenen Textes erschließt sich auch bei einem hermeneutisch über den sens veTi{iable kontrollierten Verfahren am ehesten. wenn der Interpret seine gegenwärtige, und das heißt: die Summe seiner bisherigen Lcseerfahrung mit einzubringen weiß: .. 11 n'est pas de lecture sans pr~paration. Toute notre vie est pr~aration: notre pass~ humain. notrc information, depuis l·a~c~daire. la capacit~ que nous avons acquise de r~tablir ce que la fuite du temps a modifi~" (11,205). Der neue Zugang zur mittelalterlichen Literatur, den uns Robert Guiette eröffnet hat, ist einem unvergleichlichen Leser zu verdanken. Einem Leser, der dem strengsten Maßstab positivistischer Akribie genügte und sich als Philologe der alten Schule und Editor einer spröden Romankompilation des Spätmittelalters Ansehen erwarb: der als "lecteur ing~nu. sans parti pris d'~rudi tion" sich gleichermaßen auf dem Höhenkamm der Meisterwerke und den Niederungen der Trivialliteratur zu Hause fühlte und sich nicht scheute. vor dem erlauchten Gremium der Academie Royale de Langue et de LittbaluTe FTanraises de Belgique eine Eloge de la mauvaise littbatuTe in die Dankcsrede für seine Aufnahme einzuschmuggeln"; der als Kronzeuge der literarischen Avantgarde seiner Studienjahre, als ,arbiter elegantiarum' der Poeten seines Landes, denen er eine eigene Anthologie widmete1o• und unlängst noch als Anwalt der Experimente des jüngsten Romans. die kritische Funktion des "liseur" wahrzunehmen verstand; der sich als Poet für die Mühen des Büchergelehrten dadurch entschädigte, daß er in den Zeichen, Gebärden und Momenten der Alltagswelt zu lesen und in ihren Variationen einen verborgenen Sinn zu entschlüsseln begann, dem die geheimnisvolle Poesie in den sich wandelnden Konstellationen seiner oft lakonisch~n Gedichte entspringt. Einem unvergleichlichen Leser. von dem zu lernen ist. wie sich Erkenntnis des Vergangenen und Verständnis des Gegenwärtigen wechselseitig befördern. aus dessen Schriften aber immer auch jene .. joie consciente de la lec• In diesem Zusammenhang .chon herangezogen von A. Ni_in: UJ litterature et I, I,deur, Paril 1959, p.57. ft Seane, du SO tlVTil 1955, in den Veröffentlichungen der Akademie unter dem Titel: RecefJtion d, M. Robnt Guiette, Discour$ d. M. Mau"" D,lbouill, et d, M. Robert Guiett" p. 16. al Anthologie des poetes /r""fais de Belgique, 1948. Das ästhetisme Vcrgnügcn an symbolischen Tcxten 6ndet .ich auch in der monasti.men Exegese des 12. Jhs. (Hoheliedkommcntar Bernhard von Clairvaux', Gcnesiskommcntar des Ernaldus), wic Reinhold R. Grimm unter dem Titcl einer .Allegorese der Allegorese" gezeigt hat, vgl. Paradisw Coelestis - Paradisw Terrestris : Z"r Auslegungsgeschiclate des Abendlandes bis 11m 1100, Münmen 1975.
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401
ture" (11.203) gewonnen werden kann. die nach dem doppelten Zeugnis des Verfassers der Questions de litterature und des Autors der Chroniques et Conquesles de Charlemagne. den er dem Vergessen entriß. schließlich auch noch jene Melanc:holie überwinden dürfte. von der eingangs die Rede war: EI le gracieux plaisir de la ioyeuse leeture. ou ilz se de lielenl. rend leurs esperilz fiers. legiers. ioyeux el en euly mesmes bien disposez. ou aultre passe ternps leur 'eroit dommage et aportero;t ennuy et merancolie.
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Dokumentarischer Anhang
CORRIGENDA ET ADDENDA
Zu 11)
S. 23, Z. 15: die hier angekündigte Darstellung der allegorischen Tierdichtung des Spätmittelalters habe ich nicht mehr ausgeführt; dalÜber informiert F. Schalk, GRLMA VI, D. Zu IV) S. 297, Z. 17: de .ron pechie S. 310, Z. 43: kurzerhand ab Zu V) S. I SO, Z. 8: das von Uda Ebel verfaßte dritte Kapitel: Die literarischen Formen der Jen.reiu- und Endzeitvuionen (S. 181-21 S) konnte hier nicht reproduziert werden. S. 162, Z. 16: das Todesjahr von Philipp dem Kanzler ist 1236; diese und eine Reihe der folgenden Korrekturen verdanke ich der äußerst sorgfältigen und unentbehrlichen Kritik von Werner Ziltener (in: ZRPh 90, 1974, 289-306). S. 162, Anm. 29: das I steht für imperatrix. S.169, Z. 33: LiesfHl.rtetsantE.rperit. S. 174/5 mit Anm. 14: Die Proverbia etc. gehören ins XIII. Jahrhundert. S. 177, Z. 17: Das Zitat ist zu ergänzen: Qui ce desdil dit com pechiere.r Que Diex n 'ait mis vertu.r em pierres. S. 177, Anm. 26: Die Arbeit ist 1968 bei Hueber/München erschienen (Münchner romanistische Arbeiten. XXIV). S. 215, Anm. 3: C. Gnilka, Studien zur Psychomachie des Prudentiul. Wiesbaden 1963 (Titel statt falschem Verweis). S. 217, Z. 32: Die pseudo-Bernhardinische Parabel De pugna spirituo/i ist laut J. Mabillon, PL 183,23 Nr. XXX eine Nachahmung der echten Parabel I. S. 218, Z. 33: Lies Avoleza, Cobeida. S. 219, Z. 12: Lies 1234/35. S. 229, Z. 33: ergänze: als Hüter des Liebespalastes und Räuel{rager. S. 238, Anm. 57: Lies ihre Widersacher und marla jaloux. Zu VI) S. 437, Z. 1:. ergänze: schlechte Weine und am Ende auch noch da.r Bier Zu VII) S. 71, Z. 6: (vgl. v. 427 sq.). S.91, Anm.70: Jetzt zu ersetzen durch H. Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt 1973. S. 78, Z. 24 und Anm. 64: Die Geschichte des ameN caecu.r in antiker Tradition hat V. Buchheit inzwischen aufgearbeitet, vgl. Clas.r;ca et Medievalill 25 (1964) 129-137. Zu VIII) S. 187, Z. 12: Lies Neubesetzung (statt: Neusetzung). S. 187, Anm. 1: Das Kolloquium, auf dessen Diskussionen und Vorlagen ich mich im folgenden beziehe, ist als Band IV der Reihe Poetik und Hermeneutik unter dem Titel: Terror und Spiel - Probleme der Mythenrezeption, hg. von M. Fuhrmann, München 1971, erschienen. Auf diesen Band beziehen sich die Seitenzahlen in den Anmerkungen 2, 3, 9, 12, 43, 50. - Aus drucktechnischen Grunden konnte im vorliegenden Band nicht [430]
vermieden werden, daß sich einige wenige Absätze dieser Abhandlung (VIII) mit dem aus dem GRLMA übernommenen Stück (V) überschneiden. S. 187, Z. 10: GöUerfiguren und -geschichten. S. 195, letzte Zeile: Der Vers (oben unübersetzt) kann entfallen. Zu IX) S.76, o\nm .• ): Die französische Version ist als Heft 4 der Studia romanica 1963 in Heidelberg erschienen; der letzte Absatz dieser Gießener Antrittsvorlesung nimmt Bezug auf die Gründung der Forschungsgruppe ,Poetik und Hermeneutik'. Zu X) S. 118, Z. 37: das evolutionistische Schema S. 122, Anm. 39: ist es das Strukturgesetz. Zu Xl) S. 17: Alfred Adler, Epische Spekulllnten - Versuch einer synchronen Geschichte des altfranzösischen Epos, München 1975. Zu XII) S.72, Anm. 30: Veröffentlicht in den Actes et Memoires dieses Kongresses: Publkations de ['Institut mediterranean du PalIlis du Roure, Avignon 1957, wo sich auch eine französische Fassung meiner Abhandlung findet. Zu XIII) S. 149, Anm. 10: M. Fuhrmann, Die Funktion grausiger und ekelhafter Motive in der lateinischen Dichtung, in: Die nicht mehr schönen Künste, hg. von H. R. Jauß, München 1968 (Poetik und Herme-
neutik 111). S.157, Anm. 35: G. Müller, Bemerkungen zur Rolle des Häßlichen in Poesie und Poetik des klassischen Griechentums, ibid. S.167, Anm.57: Lies et plus couroucies, ed. V. H. Friedel et K. Meyer: La vision de rondale, Paris 1907. S. i 68, Z. 7: die irdische Geschichtlichkeit.
[431 ]
ABKÜRZUNGEN (AUSWAHL AUS DEM GRLMA)
AA
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b) Abhandlungen
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Foulet, L.
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Da die Bibliographie in GRLMA nach durchlaufenden Nummern benutzt wird, sind die folgenden Titel nach diesen Nummern - also nicht alphabetisch - geordnet.
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Bonnard, J. (324) Smal1ey, B. (368)
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[440]
AUTOREN- UND T1TELVERZEICHNIS
Abaelardus 1,21; Adam de Ia Bame VIII, 194; Adam de la HaUe V, 168 r., 240; Adam de Perse;,ne V, 153, 155; Adelard von Bath VII,90; Adgar V,164; Aimerie de P~guilhan V, 174 r.; A iIo .,,, "" Mlrutll d'Qkw lIuzell V,
175;
Alanus von lilie I, 17; V, lS 7, 217 rr.,
233,237; VI, 438; VII, 49, 55, 62 rr., 69-71,80,82 f., 85, 89 ff.; VIII, 188, 193 rr., 200-208; Alberto da Brescia V,226; Aldhelm V,217; Alem"dTell V, 220; AU,a"" XIII, 149; AII~ClIlio PltiDld;, el FIo,.e VIII. 197 f.: Ambrosius V, 172 f.; Andreas CapeUanus 1.22; V, 225-230, 233, 235, 239; VI, 443; VIII, 188, 197-200; An~lm von Canterbury X, 134; Anlonio da Tempo X. 108; Apuleius X, 123; Ariost I, 12; IX. 77; Aristoteles V, 220; VII, 87; IX, 119,123; XI,8; A"ilnbll" d'Qmow V, 179; Arrilo Baldenasco V,175; Aesop XIII, 157; AUClIu/" el Nicoiette 11, 196; X, 118; Audi61~ 11, 20; AUlUstinus V,155; X. 131; XIII, 156 f.; Auaustin dei Campo V, 169; Avitus V, 227; VIII, 198; &Iltl" IX, 79; &I,IIJIIm el JOItlPMI V,165; Baaae IX, 76; XIII, 168; Bartholomaeus Anglicus V, 178; &lIaille de OInrme el de C71lImIlp V,
221; VI, 435; .'IIDled'mfee'deptl1fldil V,221; LtI bIIltl)'G de'vicij el de k Hrlude V, 223; Baudelaire 1,31,34; X. 138; XIII, lS2; Baudet Herene X, 120; Baudouin de Cond~ V, 163, 166 ff., 239; Bernhard von Clairvaux V,156,159,
171,217 ff., 223; VI, 435; XIV, 400; Bernhudus Silvestris I, 17; VI, 438; VII,
70; VIII, 202 f.; Bernier de Chartres V, 180;
(441)
Beroul 11, 231 f., 237; Bertolome loni V,174; Bertran de Born V, 174; XIII, 164 f.; Bellüulo eugubl"o V, 178; Bie" nl,.llO" el droltwe V, 240; Boecaeeio 1,41, X, 114 rr., 122 f.; Boethius I, 17; V, 154, 168, 223; VII,
49,62 r., 70, 81 f., 85 f., 88,91; VIII, 203; Bondie Dietaiuti V, 175; Bono Giunboni V, 223 r.; Bonvesion da 11 Riva V, 170; Brecht I, 23 rr.; Breitinaer 11, 21; Brunetto Latini 1,13,17,33; V, 178, 180,223,230,241 ff.;VI, 438, 449; VII, 47-53, 56,60-64,66 f., 69-72, 74, 76 rr., 80-92; VIII 188,199 f., 203; XIII, 165; La Bruy~re 11, 21, 198;
Caesuius von Heisterbach 1,43; Carnino Ghiberti V, 175; OlIlei d'lI"",, V,231; CatuU V, 227; VIII, 90; VIII, 197; Ceeco Anaiolieri X, 112; Cecco d'Ascoli V, 178; Cercamon-Guilhabni V, 173; Cervantes 1,43; 11, 226; IX, 76 f., 92;
X11,62; 0um1O" de GuD""'1M XI, 11; XIII 150,
lS4;
C7Itl,..,,,
d~ Rolll"d I, 17, 22, 30 f.; VII, 65; IX, 76 f., 87; X, 124; XI, 11; XIII, 148 ff., lS2; Chartes (Schule von) I, 17, 19, 42; V, 145, lS3, 217, 236, 241; VII, 47, 55, 82, 87; VIII, 188, 190, 200 rr., 205; Chateaubriand 1,29; XIII, 143, 145,147; ara'ellll"e de Ye'fl I, 38; Chaucer V, 149; C71nG"'au btlrlzel IV, 298 r.; u C71ewlliedeDwu V,157; Chiuo Davanzati V, 175, 178, 180 f.; VI,449; LtI OIIIIH dei TelOro VII, 91; La Chievre 11, 179; Chr~tien de Troyes 1,21,34,41; 11, 179, 183,187,190,193-196,220,231234,237 r.; V, 156,215,219,235; VI, 440; VII, 87; VIII, 199; IX, 85, 88 r., 90 r.; X, 113, 124,135; XII, 60, 6271,73 r.; XIV, 393, 398; Cicero VII, 47;
Clnque IOnetti Qntichi V, 241;
Claudianus 1,17; V, 216, 223, 226, 231; VII, 70; VIII, 196, 201 ff.; Clopin V,167; Compillinre d'tlmow V,235; Complainte de Pk"e de III Broce V,168; Conte du bturil V, 156; Conte du ""decorpl V, 166; Conte du pieu V,166; Corneille I, 17; XIV, 386; Le COrpl hUmDin V, 163; LA cowd'Qmor V, 231; VIII, 199; David Aubert XIV, 396; Dan te I,19,21,24,30,32;V,148C., 153,168 C., 181, 234, 241, 243 C.; VI, 439, 442; VII, 47 C., 51, 53,64, 82-85,87; VIII, 188,208 C.; X, 108, 118,124,127 C.; XIII,145,147 C., 152,154,159,163-168; Daude de Pradas V,169; Dello d'tlmme V, 161, 242; n dello dei 1"110 Iupaco V, 161; Dino Compaani V, 242 C,; Dino Frescobaldi V,243; Diomedes X, 126; Dit du boudin VI,434; Dit de dIIn Denier V, 168; Ditdelllillmpe V,162; Dit du peUam V,166; DitdesqUQtnfllleldeDieu V,153,I56, 158, 165; VIII, 190 C.; Dit du roi qui rtlCQtII le ItIrroPi V, 165; Dit des sept vius et deI sept
IIerl",
V,
161,223; Dit du triocle et du venin V, 166; Dit de I'uniconle et du serpent V, 160, 165; Dil du mzi Qnnetlu V, 166; Donat X,126; Doon de Mayence XIII, 149; Dreitll mDnmz de rrobtlr X, 128; Drouart la Vaehe V, 227, 239; Diell d'QmDW V, 231, 235, 240; Ser Durante V, 241 C.; VI, 444;
Flaubert IX, 76,91; X, 138; Folquet de Marseille V,174; Folquet de Romans X, 122; La Fontaine 11,21 C., 207; Francesoo da Barberino V, 154; VII, 91; Freud XIV, 390; Froidmont -(Mönch von) V, 156; Gtmfrey XIII, 155; Gautier von Anas 11, 232; Gautier le Leu VI, 444; Gavaudan X, 122; Gtzydon XIII,149; ldnesi, VIII, 198; Gervaise V,151,176; Geoffroy von Monmouth IX, 88; Giaoomino da Verona V,153; Giaoomo da Lentino V, 175; GIo,,,,, delle virtll e dei vizi V, 153,223; Giovanni Villani VII, 47,81,91; Goethe 11,213; VI, 450; X, 116; Golfieri de Lastore V, 178; Gonzal0 de Berceo V,169; Gormont et Isembart 11, 19; IX, 77; Robert Grosseteste V, 153; Guido Calvalcanti V,243; Guido Guiniuelli V, 175, 243; Guilhem Molinier X, 128; GuiUaume le Clere 1,9; V, 153, 159 C., 164 r., 176, 179; Guillaume de Maehaut X, 128; Guillaume de Lorris I, 34; V, 151; 153 r.. 161,217,220,226,228 f., 231, 233 f., 236 ff., 241; VI, 443 f.; VII, 49,62,64,74,76 f., 83, 91; VIII, 188,191, 193,X, 124,133, 135; GuiUem de Saint Didier V, 230; Guiot de Provins V,112, 153, 156; Guiraut de Cabreira X,127; Guiraut de Calanson V, 229, 230; VI, 443; Guiraut Riquier V, 225, 230; Guittone d'Arezzo V, 243; VII, 49, 78;
Hegel I, 12, 29; IX, 77, 86, 88; X, 115; Egbert von Lüttieh 1,46; Enanehet V, 227; Ennodius V, 226; VIII, 197; Enrique de ViUena X, 128; Eustaehe Deschamps X, 108, 128; Ernaldus XIV, 400; Evrat V, 154; FQblel du diftI d'Qmow V,229; Fintlbrtzs IX, 76, 78-81, 83 r., 86 C., 89;
X,113; Fton di virtu V, 178 f.; F1tzmenaz 11, 232;
XIII,143; Heinrich der Glichezäre 11, 13 ff., 20,23; IV, 293, 306-309; Henri d'Andeli V, 162, 165, 220 f.; VI, 435 Cf.;
Herder XIII, 147; Hermannus Contractus 11, 179; Hieronymus VIII, 201; Homer 11, 22; IX, 76, 86; Honorius von Autun V, 171 ; Horaz VII, 90; Hue Archevesque V, 163, 167; Hugo von Folieto V,I72;
[442]
Huao von St. Victor I, 31;V, 159, 172, 217; HUIO, Victor 1,28; XIII, 143-147; Huaues de Fouilloy V, 171; Huon de MUy V, 153, 217-220, 223; VII, 87,91 C.; VIII, 194; X, 135; XIII, 152; Huon le Roi de Cambrai V, 162, 165; XIII,152; InlhilCredi Siciliano V, 175; Innozenz 111 V, 159; hUSor von Sevilla V, 171 C., 217; X. 126; Jacques de Baisieux V, 156, 162; Jacquemart Gie~e 11,224; V, 168; Jaufr~ Rudel V,232; Jean de Blois V, 222; Jean Bodel IX, 80 C.; X, 127; Jean de Douai V,166; Jean de Grouchy I, 30; Jean de Joumy V, 154; Jean Lemaire de Beiles V, 238; VIII, 205; Jcan de Meun V, 151, 16IC., 227 C., 234, 236-239,242; VI, 444; VII, 89; VIII, 188, 198-203,208; X, 111 C.; Jean Paul 1,29,32,34; 11,222; V, 147; XIII, 147; Jcan de Peckam V,153; Jehan de Hesdin V, 179; Jehan le Teinturier d'Anas V, 221 C.; Joachim von Fiore V,153; J ohannesvon Garlandia X, 11 7, 126, 128; Johannes von HauviUa V,220; Joinville 1,44; Juvenal V,161; Kanl 1,36; IX, 86; X. 111; XIII, 146; Ktu~1 ~nd~ EI~"", IV, 303; La Fayette, Marie-Madeleine X, 123; Lambert d'Ardres V, 154; LApidllir~ chr~titm V, 177; Landri de Waben V, 153 CC,; Laurent de Bois V, 154; Lcssing 11,21,201,213; VI, 437; XIII, 144,157; JAy' d'tlmon V, 156; Ubro d~ AIiJumdT~ V, 177; Ubro d~ 10, V,178; Ubro d~/1411tl1Unl d~tIi tlllimllU V, 178 C.; Ubro di ,,1z1.d~1k "irlUdi V,223; L;.n, . , prowrba V, 161; Lucrez VII, 90; Luther XIII, 157;
""0'
Mtlctlir~
XlII,149; Macrobius VI, 438;
[443]
Mahieu Je Poirier V,240; XIII, 152; MaUarm~ XIV, 389, 390; Marbod C,225; Marcabru V, 218; X, 122; n"""~tlmorolO V,174,176,180C.;VI, de Maistre
449 C.;
JA
~ d~, 1Ieu!fille, du ditlble
V,
222; Marie de France 1,38,45; 11,20-22, IBO, 204-210,212 CC., 232; V, 171, 181; VII, 52, 85; XIII, 160, 163, 166; Martial d'Auverpe 1,47; Martianus Capella V, 215, 221 C.; VI, 428; Martin von Drap V,169; Matfre Ermenpu V, 154, 169; Matthäus von Vendöme VII, 89; Midrasch V, 158; VIII, 190: MI1'ordu molld~ V,168; M;,tich~ 1I0%%~ di S. Fttlllc.lCO ~ MIIdo1l1lll Po.,."i V,153; Moli~e 11,21; MOIlIq. Guillllunw 11, 184; Moniot de Paris V, 168; Nicole de MarJivaI V, 239; Nietzsche XIII, 167; Mapter Nivardus 11, 13, 17 C., 20, 23, 180fT., 186-189, 194,214-217, 229; IV, 304; JA NOH/~I VIII, 199: OUo von Freisinl 1,28; Ovid V, 161, 225; VII, 53, 60,78 C., 90 CC.; VIII, 197, 200 C.; XIII, 154; Pallamidessc de Firenze V, 175; V,229; Ptmllrln d'tlmou, V, 179; Pascal I, 19; h",plrllu'.tl~
huio ss.
F~llciltlti, ~I hr'peIUII. XIII, 159; Paulinus von Nota V,226; Paulus Diaconus 11, 180; Peire Cardenal X, 112; hire Guillem V,231; Peire March Peire Rairnon de Toulouse V, 174; Petrarca V, 176; PetrusCanlor V,152; Petrus Rip V, 229; Philippe de Beaumanoir 11,228 C.: Philippe de Dreux V, 175; Philippe de Novare 11,239; Philipe de Remi (Sire de Beaumanoir) V, 239; X. 120; Philipp von Thaon 11,22; V, 154, 172, 177;
PIIyllolo8IU V, 170 f., 175, 177 f.; VIII,
206; Piero della Vipe V, 175, 226; XIII, 165; häre Vidal V, 174 f.; Piene de Beauvais V, 175 f., Pietro da Berseppe V, 161; Piene de Saint Cloud 1,28; 11, 18, 178188,192,195,201,203,206 f., 210, 213-216,218 f., 222-226, 228-232, 234,236 ff.; 111,1; 48; IV, 291. 293297,309; Pius XII 1,35; X, 130; Plato V, 220; Plinius V, 171 ; Po~".. monlk V,219; LIl prophJrw d~ Dtl,Id V, 155; Proust X, 115; hoHrb~,1IU ,I..in V, 149 f.; hoHrbill qUll~ dlcullte, lUpe, IllltunI l~mllltUUm V, 175; Prudentius 1,31; V, 215-220, 223 f.; VI, 435; VIII, 193 er.; XIII, 158 ff.; Ptolemlus VII, 53, 82,87; Quintilian V, 146; Rabelais 11,181; VI, 433; Raimmondin X. 120; Raimon Vidal de Besalli 11,231; X. 128; Rainaldo e Lesengrino 111, 1-6; Ramon LuU V, 156; Raoul de Cambrai XI,10; Raoul de Houdenc V, 157, 219; VI, 438; VII, 52, 83, 86; X, 135; &ZOll detlmtH V, 232; VI, 446 f.; Reclus de Molliens V, 153, ·159 ff., 167, 229; X, 133; R~lntle,' 11, 13, 20, 23; R~btluul Fuch, 11, 181 ff., 185, 189, 217; 111,1; IV, 291, 293 f., 302, 306309; Renaut de Beaujeu IX, 78, 80 f., 84 f., 87,89-92; Rhabanus Maurus V,154; Richart de Fornival V, 151,158 f., 174, 179 f., 239; VII 449, 451; Richard von St. Vietor V,157; Rlchftll 11, 20; Riput de Berbezieux V, 172-175, 179, 181; VI, 449; Robert de Blois V, 156; Robelt Grosseteste V, 159 f., 222; Robert de l'Oubne V,161; La Rochefoucauld 11,21; Romtlll deJllUfn XII, 60, 62-75; Romtlll d~ Mise,en V, 161; Romtlll d~ Rnuul I, 17; 26, 43, 11, 1215,17-22,178,181 ff., VIII, 203; Bnlllch~ I: 111, 1 f.; IV, 294, 297 f.,
300 f., 304, 307 f.; Bnlllche 11- VtI: 11,178-239; 111 1,3; IV, 294 ff., 300, 306,308; X, 127; Bnlllche In: IV, 295, 304;Brrlllch~/Y: IV, 295;Brallch~ YlI: IV, 298 f.; Brtlllch~ YIO: IV, 294, 298 298-302, 306 f.; B"lIIch~ XIV: 111, 1; Brrlllch~ XXIII: IV, 308; Brrzllch~ XXIY: IV, 291 f., 309, 312;Bnlnch~ XXYII: IV, 291; Romtlll d~"omtl'" V,156; ROlfIIIll d~" Ro. 1,14,21,34; 11,12; V, 151, 153, 156,160 f., 167, 179, 225, 227 ff., 231 ff., 235 f., 238, 240-243; VI, 443; VII, 48 f., 52, 56 ff., 60, 62 f., 70, 72 fr., 76 f., 79 f., 84,89 f., 92; X, Ill, 133; XII, 64; ROlfllln du H"~ ~I d~ l'tl,bre d'tlmour V,238; Romulw NllIlnrtu, I, 44; 11, 204, 206, 208 f.; Roue de Fo,tune V,168; Rutebeuf V, 163, 167,220,222; VI, 438; X, 111 f.; Saint Simon 1,42; Sanson de Nanteuil V, 154; Sauvqe V,167; Schiller 11, 223 f.; IX, 86; Schlegel, Friedrich X, 109; XIII, 147; (Könil) Sancho V,156; Scotus Eriugena V, 147; S01IIOnl lUbtllpllll V, 177; Serveri de Girona V, 174; Servius X, 126; Shaftesbury X, 112; Sidonius Apollinaris V, 226; XIII, 153; Silvestre V, 154; Simund de Freine V,154; Sokrates 1,31; XIII, 157; Solnius V, I 71 f.; Som".. Inoi V,219; (Paune) Simon V, 157 f.; So. de P"nldII VII, 52; Spenser 1,12; V,149; VIII, 205; Statius V, 226 f.; VIII, 196 f.; Stephan yon Langton V,152; Stephano Protonotaro V, 175; Sterne IX,92; Ttlbrtud V, 158; VIII, 190; Tasso I, 12; Theophrast 11,211 ff.; Messire Thibaut V, 235; VI, 445; Thibaut de Champqne V, 174; Thomas yon Aquin I, 19; n, 197, 232; V, 147, 153; IH, 11011 tlml, V, 161;
ValCry XIV, 390, 399;
(444)
Y,,,,dell Yo,Reyllllrde IV, 291, 301 f., 306,308 f.; Venantius Fortunatus V,226; Y~"UlID d_. . d'tlmour V, 231,235, VlII,199; Verlaine XIV, 389 f.; ViUon 1,22; X, 129; Vineent von Beauvais V,217; Virgil 1,30; V, 216; VI, 438; VII, 90; X, 126; XIII, 166 f.; YlrioPrlul1 VI,438;XIII, 161, 163; Vision de Tondale V, 181; XIII, 165 ff.; Yo~ de ptUtldll V,219; eiere de Voudoi VI, 438, 445; Yoy. de OuuImrd".e 11, 19, 196; XI, 10;
(445)
YOYll6e de SI. Bnru/lm V, 164, 181 ; XIII, 163; Wace 11,231; IX, 88; XIII, 161; Wllner, Riehud I, 12; Watriauet de Couvin X, 120; Wilhelm IX VIII, 197; XIII, 148; Willem IV, 301 f., 304 f.; Winekelmann 1,29; V, 147; Winrie von Trier 11, 179; YJerrgrirru, 1,26; 11, 178-189, 194, 196,
214-218,229,238; IV, 304, 308 f.; X. 127;
NAMENVERZEICHNIS DER SEKUNDÄRLITERATUR
Abraml, M. H. XIII, 152; Adler, A. 1,10,32; IX, 91; X, 112, 126; XI,7-14; Assunto, R. VIII,85; Auerbach, E. 1,30,47; 11, 193; V, 148 r., 181 f., 244; X. 115, 117, 131, XIII, 147,151,156 r., 159, 166, 168; XIV, 385; Babilas, W. V,177; Badei, P.-V. 1,12,14,22,37 f.; Barthel, R. X, 114, 116; XIV, 387 f.; BartoH. A. VIII, 84,90; Baltin, J. V, 156,158; Bausinger, H. I, 38 f., 43; Becker, Ph. A. 11,19,188; IX, 78 f.; XI, 8; Bl!dier, 1,26; 11,13,180; XIV, 386; Bender, K. H. XIII, 151, 155; Benedetto, L. F. V, 243; VII, 48, 75, 88 Cf.; Benjamin, W. 1,23, 28, 34; 11, 195; V, 148 f.; X, 125; Benton, J. F. V, 154, 172; Bertoni, G. V, 180; VI, 449; VII, 84; Beyer, J. 1,47; XIV, 397 f.; Bezzola, R. R. IX, 90; Bloch, M. 11,193; X, 117; XIV, 393; Bloomfield, M. W. V, 149 f., 217; Blumenberg, H. 1,11,29; V, 147, 150; VII, 88, 91; VIll, 187,205,207; XIII. 158: Borst, A., 1, 20 f., 28; BoSl~t,~ .. 11,23,221; V, 217; IX, 78; Brayer, E. V, 168,219; Brunetiüe, F. X,108; Brunei, C. XII, 60 ff., 64, 68 f., 75; de Bruyne, E. X, 125 f., 760; Buchheit, V. V, 230; VII, 90; VIII, 200; Buck, G. 1,27,36; X, 111; Bulst, W. 11, 15; V, 225; X, 129; Bultmann, R. X,129-132; Büttner, H. 11,183,217; IV, 306, 309; Cumody, F. J. VII, 62, 84,87,89; Chenu, M.-D. V, 152 f., 162,170 f., Cian, V. V, 180; VI, 449; Contini, G. V, 226, 241; Coseriu, E. I, 14,36; X, 110; Cotogni, L. V, 216; VIII, 193; Croce, B. 1,35; VII, 49,84; X, 108 ff.; 129; Curtius, E. R. 1, 15,30,37; 11, IS, 19, 179, V, 224-227, 236; VII, 85, 89;
VIII, 202, 205,207; IX, 77 f., 80, 85; X. 126 f., 129; XI, 8; XIII, 146 f.; XIV, 385; Dani4!lou, J. V, 148,227; VIII, 198; Delbouille, M. IV, 293, 309; X. 124, 129; XIV, 400; Dragonetti, R. X, 133; V, 151; Droysen, J. G. X, 111, 119, 121; Ebel, U. 1,31,47; V, 151, 163 er., 181; XIII, 152, 161 f., 166; Eberwein, E. 11, 194; Emmel, H. XII, 69, 74; Fual, E. V, 215, 227, 236; VIII, 187; X, 125 f., XIII, 153; Fauriel, C. 11,183; Fleteher, A. V, 146, 148; Foente, W. IV, 303; Foulet, L. I, 26; 11, 12-15, 17 r., 178187,190,192,206,208,216,219, 222,226-230,232 f., 236 r., 239; 111, 1,2; IV, 291; 293, 295, 299; Frappier, J. 11,187,194,196,232; IV, 3Ll; V, 149,234; VI, 433, 438; VII, 91, IX, 88; X, 117; Fränkcl, H. 11, 14; IX, 76; Friedmann, L. J. V, 229, 237; Friedrich, H. V, 226, 243; VIII, 208, X, 128; XIII, 165; Frye, N. V, 148; X, 114, 116; Fuhrmann, M. 1,29,47; XIII, 149; Gadamer, H. G. 1,10,28; V, 148; Gervinus, G. G. I, 27; Gnilka, Chr. V, 215 f.; XIII, 159; Goldstaub-Wendriner , V, 171 Cf., 175, 177,179; Goth, B. X, 120; Graven, J. 11,229,236; Greimas, J. A. X, 116; Grimm, J. 1,26 f., 43, 46; 11, 12 f., 16, 18 f., 204, 211, 222 Cf.; IX. 78 f., 88; X,1I7; Grimm, R. R. 1,21,34; XIV, 400; Gröber, G. 11,180; V, 152, 163, 166, 181,236 f.; Gruenter, R. V, 227; VIII, 198; Guerrieri-Crocetti, C. VI, 439 f., 442; Guiette,R.I,10,12,47;V,149;X,127. XIV, 385-400; Gumbrecht, H. U. 1,47; X, 111, Gunkel, H. X, 130;
[4461
Habennas, J. I, 34; Haidu, P. I, 14, 22, 37 f.; XIV, 386, 388, 390,394; Haug, W. I, 23 ff.; Hempfer, K. W. I, 36; Herzog, R. V, 215, 217; XlII,160; Hess, G. I, 34; 11, 21; Hees,G. VII,51,53,87; Hirsch, E. D. XIV, 388; Hofer, S. 11,231; Holzapfl, T. I, 42; Huizinga, J. V, 238; VII, 90; VIII, 204 ff.; Jeanroy, A. X. 128; X. 128; XII, 62 Cf., 67-71; JoUes, A. 1,37-43,46; 11,195; IX. 79, 82,85 f.; X, 113, 117, 119, 136; XI, 12; XIII, 159; Kayser, W. XIII, 154, 156; KeUennann, W. X, 119 f.; KÖh1er,E. 1I,193-196;V, 228, 234; VIII, 194; IX, 87; X, 116, 121 f., 135, XII,74; Kolb, H. V, 229 f., 234; Koselleck, R. I, 47; Krappe, A. H. IV, 310; Krauss, W. X, 121, 126; Kuhn, H. X, 108, 124; Lämmert, E. XIV,385; Lauchert, F. V, 171, 177 f.; Langlois, Ch.-V. V, 158,229,238; Le Gentil, P. X, 120; Lejeune, R. V, 172 f.; X, 127; XIII, ISS; Leo, U. 11, 182, 203 f., 229; Uvi-Strauss, C. XI, 10, 12; Lewent, K. XII, 60 f., 63, 68 f., 71 f.; Lewis, C. S. I, 11 ff., 18 ff., 28, 33; V, 148 f., 225 f., 229,236 f.; VIII, 188 f., 195 f., 201, 205 f.; XIV, 386, 388; Lipps, H. 1,27,11,198,201 ff.; Lods, J. IV, 311; de Lubac, H. V, 148, ISS; Luckmann, Th. 1,39 f.; Lusowski, C. 11,191, 195; X, 114 f_; Lüthi, M. IX, 79; de Man, P. XIV, 388; Martin, E. 11, 179 f.; McCuUoch, F. T. V,171; Menendez Pidal, Don Ramdn VI, 446 f.; Micha, A. V, 156; IX. 78; van Mierlo, J. 11, 214; Misch, G. 11, 197; Mittenzwei, W. X. 121; Mukalovskt, J. X, 136 f., XIV, 395; Muscatine, Ch. V, ISO, 229;
[447]
Neuschäfer, H.-J. 1,47; X, 116, 123; Nisin, A. XIV, 398 ff.; Nogues, J. 11,232,237; Nolting-Hauff, I. 11, 198, 232; Nykrog, P. VI, 444; XIV, 397; Ohly, F. V, 147, ISS; Olschki, L. 11, 221, 223; Ortega y Gasset, J. IX, 77; Pabst, W. X, 123; Paris, G. 11,12 f., 17, 184,202; 111, 48 f.; IV, 310; V, 233. Paris, P. 11, 229; Pasero, N. 1,42; VII, 90; Patch, H. R. V, 168; VIII, 187; Pickering, F. P. V, ISO, 168; Picon, G. XIV, 398 f.; di Pinto, M. V,232; Poirion, D. 1,18,31; X, 128; Poulet, G., XIV, 388; Pozzi, G. VII, 83, 86 f., 90; Ranke, F. IX, 79; Rattunde, E. 1,47; Raynaud, de Lage, G. V, 238; VII, 85, 89,206; Reinhardt, K. V,148; Remy, P. XII, 66,72; Ricoeur, P. 1,44,47; XI, 10; Riquer, M. de 11, 19; IX, 78; Robertson, D. W. V,227; Rosenkranz, K. XIII, 143 f., 153; Ruhe, D. VII, 187, 196; Rychner, J. I, 17; 11, 14 f., 187,228; X. 129, XI, 8; Oe Sanctis, R. VII, 48, SO; Santangelo, S. V,243; Scaglione, A. D. V,238; Scheludko, D. V, ISO, 218; Scherillo, M. VII, 66, 84 f., 87 f.; Schirokauer, A. 1,45; Schlösser, F. V,225; Segre, C. V, 179; VI, 449; VII, 84, 86, 88,90; Seznec, J. V, ISO, VlII,187; SmaUey, B. V, 152 ff.; Spitzer, L. 11, 12, 17, 19 f., 196, 198 f., 204,222 f., 225, 237; IV, 299; V, 176, 180,232; VI, 439-442, 446 f., 450 f.; VII, 85, 88; XIII, 154, 156; XIV, 385; Stammler, W. V, 227, 229, VIII, 198; Stempel, W.-D. I, 14,22,36 ff.; X, 110 f., 119; XIV, 386, 394; Sternberger, D. 11,210,213; Stimming, A. XII, 60,65, 75; Striedter,J. X,112,12I,134,137; Stierle, K. 1,47;
Suchier, W. 11, IS, 178, 182 f., 185, 192, 229; Sudre, L. 11, 12, 18; 111, 1 f.; Szondi, P. X, 109; Taubes, J. I, 29; Ten~ze, M.-L. 1,46 f.; Tilander, G. 11,12,190,213; Todorov, T. X, 116; Tomaievskij, X, 135; Tregenza, W. A. 11,232,237; Tynjanov, J. X, 112, 118, 135 f.; Vallone, A. V, 149,244; Vance, E. 1,14,22 f.; XIV, 385, 388, 398; Varvaro, A. V,I72; Viltor, K. X. 112, 124; Vinaver, E. 1,10,17; V, 149; XIV, 386; Voretzsch, C. I, 26; 11, 12-18, 181 f .•
185,192,202,211,229 f., 237; IV, 293,297,300,307; Vossler, K. I, 13; 11,225; VII, 48 Cf., 87; X. 115; de V,ies, Jan 11, 17; Vuolo, V,174; WaJtz, M. X. 132 f.; XIII, 150 f.; Warnina, R. X. 133 f.; XIV, 394 f.; Weinrich, H. 1,42, VlI1, 189; XIV, 395; Wieruszowski, H. VII, 84, 87; Wllmotte, M. 11,179; WiIson, E. F. V, 226; VIII, 197; Winkler, E. 11, 209; Zumthor, P. 1,10, 12,14,15,22 f., 36 Cf., 47; X. 118 f.; XIV, 386 Cf., 392,394;
[448]
NACHWEIS DER ERSTVERöFFENTLICHUNGEN
I.
Einleitung. Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. ( Unveröffentlicht).
11.
Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung. Teilabdruck (Einleitung und Kap. IV) aus: VF., Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung, Tübingen 1959 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, 100. Heft).
111.
Rainaldo e Lesengrino. Französische Erstveröffentlichung als ,Une transformation tardive de I'~popee animale: Rainaldo e Lesengrino'. In: Cultura Neolatina 21 (1961), S. 214-219. (Überarbeitete Fassung).
IV.
Les Enfances Renart. Erschienen in: Metanges de linguistique romane et de philologie medi~vale offerts S.291-312.
V.
a M. Delbouille,
Gembloux 1964, 11
Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung. Erschienen in: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. VI, I, hg. von H. R. Jauss, Heidelberg 1968, S. 146-244 [ohne S. 181-215).
VI.
Ernst und Scherz in mittelalterlicher Allegorie. Erschienen in: Melanges de langue et de litterature du moyen ige et de la renaissance offerts J ean Frappier, Geneve 1970, S. 433-45 I.
a
VII. Brunetto Latini als allegorischer Dichter. Erschienen in: Formenwandel - Festschrift für Paul Böckmann, hg. von W. Müller-Seidel und W. Preisendanz, Hamburg 1964, S. 47-92. VIII. Allegorese, Remythisierung und neuer Mythus. Erschienen in: Terror und Spiel Probleme der Mythenrezeption, hg. von M. Fuhrmann, München 1971, S. 187-209 (Poetik und Hermeneutik IV).
IX.
Epos und Roman - eine vergleichende Betrachtung an Texten des XlI. Jahrhunderu. Erschienen in: Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 31 ( 1962), S. 76-92.
X.
Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. Erschienen in: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. I, hg. von M. Delbouille, Heidelberg 1972, S. 103-138.
XI.
Paradigmenwechsel in der Rezeption mittelalterlicher Epik. Erschienen als Vorwort zu: Alfred Adler, Epische Spekulanten - Versuch einer synchronen Geschichte des altfranzösischen Epos, München 1975, S.7-14.
XII. Die Derrguration des Wunderbaren und der Sinn der Aventüre im Jaufre. Erschienen in: Romanistisches Jahrbuch 6 (1953/54), S. 60-75. XIII. Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur. Erschienen in: Die nicht mehr schönen Künste -
(449)
Grenzphänomene des Ästhetischen, hg. von H. R. Jauss, München 1968, S. 143-168 (Poetik und Hermeneutik III). XlV. A·sthetuche Erfahrung ab Zugang zu mittelalterlicher Literatur. Erschienen in: Germanisch-romanische Monatsschrift 25 (1975), S. 385-401.
[450]
Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben Herausgegeben von Hans RobertJauß und Erich Köhler ..Mit einem im jetzigen Verillgswesen seltenen Durchhaltevermögen läßt der Wilhelm Fink Verlag (München) seit /962 seine Reihe ,Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben' erscheinen, deren /S. Band den von Guillaume de Loms und Jean de Meun verfaßten Rosenroman -- die übe"agende allegorische Dichtung des französischen /3. Jahrhunderts bringt. Die bisher vorliegenden Texte stellen eine stattliche Ernte dar, die der stillen Arbeit der Herausgeber - H. R. Jauß und E. Köhler - zu verdanken ist. Sinn und Zweck dieser Edition wichtiger poetischer Texte der mittelalterlichen Romania ergeben sich aus den Absichten der Herausgeber: Die literarischen Schätze des romanischen Mittelalters sollen nicht im Ghetto einer selbstgenügsamen Romanistik verbleiben, sondern auch Nichtromanisten zur Verfiigung stehen. Wenn die ,Klassischen Tate des Romanischen Mittelalters' im vorgegebenen Rahmen weiterhin erscheinen dürfen - und es ist zu hoffen, daß weder den Herausgebern noch dem Verleger die dazu nötigen Energien und Millel fehlen -, dann wird dem deutschsprachigen Publikum in Kürze ein Kompendium mittelalterlicher romanischer Literatur zur freien Verfiigung stehen, das hinsichtlich der wissenschaftlichen Kompetenz, mit der es erarbeitet wurde, höchstens noch mit den ähnlich organisierten Kirchenväterausgaben der ,Sources cretiennes' vergleichbar sein dürfte." (Prof. Dr. Alois Baas in ,,Neue Zürcher Zeitung")
I. Berol: Tristan und (solde Übersetzt und eingeleitet von Ulrich Mölk mit einem Vorwort von Hans Robert J auß und Erich Köhler 226 S. und eine Kunstdrucktafel, kart. DM 16.80 2. Chrestien de Troyes: Yvain Übersetzt und mit einer ausführlichen Einleitung von IIse Nolting-Hauff 347 S. kart. 19.80 3. La Chanson de Roland Übersetzt und mit einem Vorwort von Hans-Wilhelm Klein 240 S. Ln. DM 16.80 4. EI Cantar de Mio eid Übersetzt und mit einer ausführlichen Einleitung von Hans-Jörg Neuschäfer 271 S. kart. DM 19.80
5. Le Roman de Renart Übersetzt und mit einem ausführlichen Vorwort von Helga Jauß-Meyer 259 S. kart. DM 19.80
6. Das Leben des heiligen Alexius Übersetzt und mit einem Vorwort von Klaus Bems 52 S. kart. DM 9.80
,. Das altfranzösische Adamsspiel Übersetzt und mit einer ausführlichen Einleitung von Uda Ebel 154 S. kart. DM 16.80
H. Jean Lemaire de Belges: Die Briefe des Griinen Liebhabers Übersetzt und eingeleitet von Herrad Spilling 74 S. kart. DM 11.50
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10. Juan Ruiz Arcipreste de Hita: Libro de Buen Amor Übersetzt und mit einer ausführlichen Einleitung von Hans Ulrich Gumbrecht 482 S. Ln. DM 66.-; kart. DM 54.-
11. Adam de la Halle: Das Laubenspiel Obersetzt und mit einer ausführlichen Einleitung von Rüdiger Borde), MarceUa Friedel-Wenzel, Wemer Nitsch, Carola Powels, Peter Risch, Gilda Rodeck, Christel Uebach, Eckhart A. Wachholz. Redaktion und Vorwort von K1au~Henning Schroeder 123 S. kart. DM 16.80
J 2. Marie de France: Äsop Obersetzt und mit einer ausführlichen Einleitung von Hans U1rich Gumbrecht 282 S. kart. DM 28.-
J3. Ouestien de Troyes: Lancelot Obersetzt und eingeleitet von Helga Jauß-Meyer 353 S. kart. DM 24.-
14. lean Bodel: Das Spiel vom heiligen Nikolaus Obersetzt und mit einer ausführlichen Einleitung von Klaus-Henning Schroeder, Wemer Nitsch und MarceUa Wenzel
128 S. mit 1 Kunstdruckabb. kart. DM 19.80
15. Guillaume de Lorris und lean de Meun: Der Rosenroman Übersetzt und mit einer ausführlichen Einleitung von Karl August Ou Band I: 423 S. kart. DM 28.Band I: im Druck
16. Benedeit: Le Voyage de Saint Brendan Übersetzt und eingeleitet von Ernstpeter Ruhe unter Mitarbeit von Barbara Beck und Stephanie Lippert 139 S. kart. DM 19.80