Grenzen der Literatur
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Revisionen Grundbegriffe der Literaturtheorie
Herausgegeben von
Fotis Jannidis Gerhard Lauer Matı´as Martı´nez Simone Winko
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Grenzen der Literatur Zu Begriff und Phänomen des Literarischen
Herausgegeben von
Simone Winko Fotis Jannidis Gerhard Lauer
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-018930-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen
Vorwort Die meisten Beiträge dieses Sammelbandes wurden auf einer Tagung mit dem Titel »Grenzen der Literatur«, die am 15.-18. März 2006 in Kloster Irsee stattfand und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wurde, vorgestellt und diskutiert. Der vorliegende Band wurde um einige Beiträge zu Themen ergänzt, die auf der Tagung fehlten. Für ihre redaktionelle Arbeit danken wir sehr herzlich Katharina Prinz. Ohne ihre ebenso zuverlässige wie professionelle Hilfe und Geduld wäre dieser Band nicht erschienen. Wertvolle technische Hilfe hat Matthias Beilein geleistet, das Register erstellt haben Ninia Binias und Tobias Wietelmann. Auch ihnen danken wir herzlich. Die Herausgeber
Inhaltsverzeichnis Einleitung FOTIS JANNIDIS / GERHARD LAUER / SIMONE WINKO Radikal historisiert: Für einen pragmatischen Literaturbegriff ..............3 I. Zum Begriff ›Literatur‹ SIMONE WINKO Einleitung .....................................................................................................41 WERNER STRUBE Die Grenzen der Literatur oder Definitionen des Literaturbegriffs ...................................................45 KLAUS WEIMAR Funktionen des Literaturbegriffs ...............................................................78 OLIVER DAVID KRUG / HANS-HARALD MÜLLER / TOM KINDT Was ist Literatur? Bemerkungen zu einer Frage der Literaturwissenschaft .......................92 ULLA FIX Aktuelle linguistische Textbegriffe und der literarische Text. Bezüge und Abgrenzungen ..................................................................... 103 II. Zum Phänomen ›Literatur‹ FOTIS JANNIDIS Einleitung .................................................................................................. 139 JOSEPH CARROLL Literature as a Human Universal ........................................................... 142 CHRISTOPH REINFANDT Literatur als Medium ................................................................................ 161 DANIEL FULDA / STEFAN MATUSCHEK Literarische Formen in anderen Diskursformationen: Philosophie und Geschichtsschreibung ................................................ 188
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Inhaltsverzeichnis
III. Fiktionalität und Literarizität SIMONE WINKO Einleitung .................................................................................................. 223 JAN GERTKEN / TILMANN KÖPPE Fiktionalität ............................................................................................... 228 KARL EIBL Fiktionalität – bioanthropologisch ........................................................ 267 FRANK ZIPFEL Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? ................................................................... 285 MARGRIT SCHREIER Belief Change through Fiction: How Fictional Narratives Affect Real Readers .................................................................................. 315 HANS-EDWIN FRIEDRICH Fiktionalität im 18. Jahrhundert. Zur historischen Transformation eines literaturtheoretischen Konzepts ..................... 338 SIMONE WINKO Auf der Suche nach der Weltformel. Literarizität und Poetizität in der neueren literaturtheoretischen Diskussion ............................... 374 IV. Soziale und institutionelle Aspekte des Phänomens ›Literatur‹ GERHARD LAUER Einleitung .................................................................................................. 399 LIESBETH KORTHALS ALTES The End of Literature as a Basis for a Renewed Disciplinarity ........ 403 ELISABETH STUCK Akzeptanz in der Literaturwissenschaft. Überlegungen zu den Grenzen der literaturwissenschaftlichen Praxis ...................... 422 JOST SCHNEIDER Die Sozialgeschichte des Lesens und der Begriff ›Literatur‹ ............. 434 ELS ANDRINGA Grenzübergänge. Das Niederländische Polysystem im Spiegel der Rezeption ausländischer Literatur ............................... 455 V. Literatur in verschiedenen Kulturen und Medien GERHARD LAUER Einleitung .................................................................................................. 491
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DAVID DAMROSCH Frames for World Literature .................................................................. 496 HENRIKE SIMON Literatur im Alten Ägypten ..................................................................... 516 ALEXANDER H. ARWEILER Römische Literaturen und die Grenzen der Philologie ..................... 545 KARL-HEINZ POHL Annäherungen an einen Literaturbegriff in China .............................. 584 NITEEN GUPTE Zur Neubestimmung des Literarischen im Marathi-Schrifttum des 19. Jahrhunderts ....................................... 608 ROBERTO SIMANOWSKI Literatur, Bildende Kunst, Event? Grenzphänomene in den neuen Medien .............................................. 621 Register .............................................................................................................. 639 Anschriften der Beiträger ............................................................................... 648
Einleitung
FOTIS JANNIDIS / GERHARD LAUER / SIMONE WINKO
Radikal historisiert: Für einen pragmatischen Literaturbegriff
Die Zeiten sicherer Werte sind endgültig vorbei, und das betrifft auch die Literatur, die schon lange nicht mehr der Hort des Schönen, Guten, Wahren ist, aber heute eben auch nicht mehr der Ort des letzten Widerstands, das Authentischen im Unwahren und des reinen Selbstzwecks in einer Welt voller Mittel. Wie es für eine pluralistische Gesellschaft angemessen ist, sind all diese Hoffnungen und Entwürfe allerdings nicht verschwunden, aber neben sie sind, in erheblicher Zahl, neue Vorstellungen von Literatur getreten, beruhend auf neuen Lesegewohnheiten inmitten der Medienkonkurrenz und diese wiederum bestimmend. Die Veränderungen haben auch den fachwissenschaftlichen Literaturbegriff nicht unverändert gelassen. Schon in den 1970er Jahren begann eine intensive Diskussion um das Konzept ›Literatur‹. Der Begriff sollte geöffnet werden für die vielen verschiedenen Literaturen, die nicht mehr nur als schlechter Schatten der guten Literatur gesehen wurden. Im Zuge der Verwissenschaftlichung der Disziplin sollte auch die Definition ihres Gegenstandes den Ansprüchen an Wertfreiheit genügen. Von diesen Anfängen zieht sich bis in die Gegenwart eine Tradition der Diskussion über neue Bestimmungen des Literaturbegriffs. Heute muss allerdings eine Arretierung der einmal begonnenen Veränderung des Begriffs ›Literatur‹ konstatiert werden. Sie ist auch inhärenten Problemen des neuen, ›weit‹ genannten Literaturbegriffs geschuldet. Dazu zählt das ganz praktische Problem, dass die Entgrenzung des Begriffs zu einem Zerfall der Literaturgeschichte in kleine Spezialistentümer führt. Vor allem aber – und das ist auch der Punkt, an dem wir mit unserem Band ansetzen – hat sich gezeigt, dass der Versuch, einen Literaturbegriff zu finden, der die Reste seiner bildungsbürgerlichen Herkunft abgestreift hat, sich mit einer Reihe von Schwierigkeiten, nicht zuletzt in der Anwendung auf historisch fernere Zeiten, konfrontiert sieht. Zudem sind gerade an die normativen Aspekte des Begriffs in besonderem Maße legitimatorische Topoi der Literaten und der Literaturwissenschaft gebunden. Diese Tendenz setzte schon bald ein,
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nachdem ›Literatur‹ nicht mehr nur eine Sammelbezeichnung für viele unterschiedliche und nicht zuletzt eher gelehrte Textgattungen war, während das, was heute als ›Literatur‹ bezeichnet wird, ›belles lettres‹ oder ›polite literature‹ genannt wurde.1 Die Bildung des neuen Begriffs im 17. und dann vor allem 18. Jahrhundert war ein zunächst unwahrscheinlicher Vorgang und doch so wirksam, dass es gegenwärtig scheint, als gäbe es kaum eine hochzielende Erwartung, die nicht mit dem Begriff verknüpft werden könnte. Literatur als Institutionalisierung von Subjektivität, wie es Roland Barthes 1960 programmatisch ausgedrückt hat,2 als »das Asoziale der Kunst«, das »bestimmte Negation der bestimmten Gesellschaft«3 sei, wie es Theodor W. Adorno postuliert hat, oder Literatur als eine Institution, die alle referentialisierenden Bedeutungszuweisungen als trügerische Referenzen unterläuft, wie Jacques Derrida behauptet,4 als Subversion der zu Identitäten verdichteten kulturellen Kontingenzen und ihrer Machtmechanismen in den massenkulturellen Produkten, wie es Stuart Hall vertreten hat –5 dies sind nur ein paar der rezenten Bestimmungen von Literatur in den unterschiedlichen Konzepten der Literaturwissenschaft, die viel Wert darauf legen, dass Literatur zwar einen Nutzen habe, aber nicht ›zum Begriff tauge‹. So gesehen wissen Literaturwissenschaftler im Allgemeinen, was Literatur ist, finden es aber schwierig, den Begriff zu bestimmen. Zwar wird sich eine literaturwissenschaftliche Begriffsbestimmung von der eines Literaturkritikers unterscheiden, ebenso wie von der eines bildungsbewussten Studienrats oder eines lesehungrigen Teenagers; die Diskussionslage im Fach Literaturwissenschaft ist allerdings alles andere als übersichtlich. Inkompatible Auffassungen von Literatur stehen hier nebeneinander. Einige haben den Begriff radikal entgrenzt und alle sprachlichen Äußerungen eingemeindet, andere verengen ihn in höchst traditioneller Weise auf die ›wirkliche‹ Literatur, worunter Unterschiedliches verstanden wird. In dieser Situation fragen die Beiträger und Herausgeber des vorliegenden Bandes nach den angemessenen »Grenzen der Literatur«. Sie stellen sich damit in eine Tradition neuerer Versuche, den Literaturbegriff zu bestimmen,6 auch wenn hier kein einheitlicher Begriff der Literatur postuliert werden soll. Vielmehr soll der Literaturbegriff einer ›Revision‹ unterzogen werden, indem ein genaueres Wissen über die Schwierigkeiten seiner Bestimmung für literaturwissenschaftliche Zwecke erarbeitet wird. Die theoretischen Grundlagenprobleme _____________ 1 2 3 4 5 6
Vgl. Simons: Marteaus Europa, S. 85-94. Barthes: Literatur, S. 35. Adorno: Theorie, S. 335. Derrida: Acts. Hall: Cultural Studies. Z.B. Arntzen: Literaturbegriff; Rosenberg: Verhandlungen; Weimar: Literatur; Sexl: Literatur; Gottschalk / Köppe: Literatur.
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werden umrissen, die jeden neuen Bestimmungsversuch vor Herausforderungen stellen. Und das, indem skizziert wird, was das komplexe Phänomen ›Literatur‹ ausmacht, welche unterschiedlichen Aspekte für seine Beschreibung heute zu berücksichtigen sind. Zu diesem Zweck haben wir Beiträge versammelt, die den Begriff (Sektion I) und das Phänomen ›Literatur‹ (Sektion II) unter den Perspektiven neuer Forschungen untersuchen, die Debatten über Fiktionalität und Poetizität weiterführen (Sektion III), soziale und kulturelle Aspekte von Literatur in den Blick nehmen (Sektion IV) und nach den Besonderheiten von Literatur – als Begriff und Phänomen – in anderen Kulturen und anderen Medien fragen (Sektion V). Diese Einleitung will den Problemzusammenhang des Bandes entfalten und zugleich für einen pragmatischen Literaturbegriff plädieren, dessen Besonderheit in einer radikalen Historisierung liegt und der unseres Erachtens die Grenzen der Literatur weit genug fasst, ohne sie zu negieren. Nach einem knappen Überblick über Bestimmungen des Literaturbegriffs im 20. Jahrhundert (1.) wird ein angemessener Weg der Begriffsbestimmung skizziert (2.) und im Folgenden eingeschlagen. Zunächst ist zu klären, welche Probleme dieser Begriff lösen können soll (3.) und wie er sich zu vorliegenden Versuchen, ›Literatur‹ systematisch zu bestimmen, verhält (4.). Abschließend werden die Bedingungen des angezielten pragmatischen Literaturbegriffs erläutert (5.) 1. Der Literaturbegriff in der literaturwissenschaftlichen Forschung des 20. Jahrhunderts Zu neueren Literaturbegriffen liegen einige Studien vor,7 so dass sich die Rekonstruktion einer komplexen und facettenreichen Entwicklung kurz fassen lässt. Roter Faden soll die leitende Frage nach den ›Grenzen‹ sein: nach der Weite der Begriffsbestimmung und dem Umfang des ›Literatur‹ genannten Gegenstandsbereichs.8 Die Tendenzen der Bestimmung des Literaturbegriffs sind bekannt: Es dominieren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts enge Auffassungen von Literatur, die traditionellerweise im Zeichen von Ästhetik- und Autonomiekonzeptionen stehen (1), daneben aber auch aus dem Anliegen einer Verwissenschaftlichung des Umgangs mit Litera_____________ 7
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Eine so umfassende wie erhellende neuere Untersuchung, die Entwicklungen bis Ende der 1990er Jahre einschließt, hat Rainer Rosenberg vorgelegt. Er konzentriert sich auf den Wandel der Intensionen des Literaturbegriffs (vgl. Rosenberg: Verhandlungen, S. 4-6), während Beatrix Müller-Kampel sich – ohne es deutlich zu markieren – allein auf die Extension bezieht, wenn sie die in Universitätsseminaren als literarisch behandelten Texte erhebt (vgl. Müller-Kampel: Aufbruch, S. 348). Siehe dazu auch den Beitrag von Werner Strube in diesem Band.
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tur heraus formuliert werden (2). Ab den 1970er Jahren wird die Auffassung von ›Literatur‹ unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen erweitert: im Rahmen gesellschaftstheoretisch begründeter Richtungen (3), als Folge einer Neukonzeptionierung der Literaturwissenschaft im empirischen Paradigma (4) und im Zuge verschiedener poststrukturalistischer Positionen (5). (1) Zu den im 20. Jahrhundert besonders einflussreichen Konzepten zählen die verschiedenen Auffassungen von ›Literatur‹, die von Vertretern hermeneutischer und werkimmanenter Ansätze formuliert worden sind. Im Rahmen einer hermeneutischen Ontologie des Kunstwerks etwa kommt Literatur, wie jedem anderen ästhetischen Objekt, wegen ihrer besonderen Funktion ein hoher Stellenwert zu. Bei Hans-Georg Gadamer etwa zählt es zu den Leistungen der Kunst, Wahrheit zu vermitteln, und dies kann sie, weil sie eine bestimmte Beschaffenheit aufweist, unter anderem die, Darstellung und Dargestelltes in Übereinstimmung zu bringen.9 Literarische Werke zeichnen sich durch ›Ganzheit‹, ›Einheit‹ und ›Stimmigkeit‹ aus, und Form und Inhalt sind in ihnen aufs Engste miteinander verbunden. ›Literarisch‹ wird hier in einem emphatischen Sinne verwendet und ist insofern restriktiv gefasst, als das Adjektiv nicht allein klassifikatorisch eingesetzt wird, sondern durch die funktionale Beziehung auf die Vermittlung von Wahrheit wie auch durch die Merkmale der ›Ganzheit‹, ›Einheit‹ und ›Stimmigkeit‹ auf das (große) Kunstwerk zielt, nicht aber z.B. auf populäre Literatur. Die Grenzen des Literarischen im Sinne des literarisch Wertvollen sind hier eng gesteckt. Auch den Positionen der Werkimmanenz liegt ein enger Literaturbegriff zugrunde, der literarische Werke als stilistisch ›stimmig‹ bzw. ›geschlossen‹ und ästhetisch autonom bestimmt.10 Das Konzept der Autonomie spielt für den Literaturbegriff generell eine wichtige Rolle, allerdings wird es keineswegs einheitlich verwendet.11 Die Werkimmanenz betont die interpretationstheoretische Variante des Autonomiekonzepts besonders, wenn sie annimmt, das literarische Werk sei unabhängig von seinem Entstehungskontext und der Absicht seines Autors zu betrachten. (2) Als Beispiel eines frühen Versuchs, den Literaturbegriff zu verwissenschaftlichen, gilt der Russische Formalismus. Es geht den Formalisten wie Boris Ėjchenbaum oder Viktor Šklovskij unter anderem um das Ziel, Literatur von anderen Formen des Sprechens klar abzugrenzen, und ihre differentia specifica sehen sie in der ›Literarizität‹, die die wesentliche Eigenschaft literarischer Werke ausmacht. Sie fordert eine besondere Ausrichtung der Literaturwissenschaft, deren Hauptgeschäft nicht in der Rekonstruktion soziologischer, philosophischer oder anderer Kontextinformationen liegt, _____________ 9 10 11
Gadamer: Wahrheit, Bd. 1, S. 122. Staiger: Kunst, S. 13ff. Vgl. dazu Köppe / Winko: Literaturtheorien, S. 40.
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sondern in der Analyse der formalen Eigenschaften literarischer Texte.12 Als wertvoll legitimiert wird diese Eigenschaft mit Hinweis auf ihre Wirkung: Literarischem Sprechen kommt die Funktion zu, die Wahrnehmung von dargestellten Gegenständen zu verfremden, auf diese Weise ihre ›automatisierten‹ Muster zu überwinden und neue Sichtweisen und Sprachverwendungen zu fördern.13 Auch die verschiedenen strukturalistischen Bestimmungen des Literaturbegriffs richten sich auf besondere sprachliche Merkmale, die unter der Bezeichnung ›Poetizität‹ oder ›Literarizität‹ gebündelt werden. Besonders einflussreich ist Roman Jakobsons Auffassung des Literarischen als Dominanz der ›poetischen Funktion‹ der Sprache.14 Spezifisch für literarische Texte ist demnach, dass die Aufmerksamkeit des Lesers auf die sprachliche Struktur der Nachricht gerichtet wird.15 Diese Versuche, den Literaturbegriff mit Bezug auf eine spezifische Sprachverwendung zu präzisieren, führen ebenfalls zu einer engen Auffassung des Gegenstandsbereichs. Diese ist einem strukturalistischen Ansatz zwar keineswegs notwendigerweise inhärent, bestimmt jedoch die Praxis, z.B. in ihrer verfahrenstechnisch naheliegenden Konzentration auf die Analyse von Lyriktexten. (3) Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert gibt es Tendenzen, die Extension des Literaturbegriffs weit zu fassen. Einen frühen Schritt in diese Richtung hat die marxistische Literaturwissenschaft unternommen. Sie bestimmt – grob gesagt – Literatur als Produkt des Bewusstseins, das in Abhängigkeit von der ökonomischen Basis der Gesellschaft und in Auseinandersetzung mit sozialer Herrschaft entstanden ist. Diese Bedingung gilt nicht nur für ›große Werke‹, sondern für jede Art der Literaturproduktion, so dass der Literaturbegriff als weit einzustufen ist. Auch Hinweise auf die besonderen »sprachlich-fiktionale[n] Formen«,16 die Literatur zudem auszeichnen, schränken diese Weite zunächst nicht ein. Als Einschränkungen wirken dagegen eine Funktions- und eine Wesenszuschreibung: Zum einen wird Literatur eine emanzipatorische Aufgabe zugeschrieben; nur wenn sie ideologische Zusammenhänge aufzeigt und verdeckte gesellschaftliche Verhältnisse zu durchschauen hilft, erfüllt sie ihre Aufgabe, bewusstseinsbildend auf die Leser zu wirken. Zum anderen wird an der Autonomie als essenzieller Eigenschaft des literarischen Kunstwerks festgehalten und versucht, diese auf der Basis marxistischer Vorgaben zu bestimmen. Für Theodor W. Adorno z.B. negiert das literarische Kunstwerk gesellschaft_____________ 12 13 14 15 16
Ėjchenbaum: Aufsätze, S. 7-9. Vgl. Šklovskij: Kunst. Jakobson: Linguistik; siehe dazu genauer Abschnitt 4.1. Ähnlich Mukařovskýs Bestimmung der ästhetische Funktion poetischen Sprechens; Mukařovský: Poetische Benennung, S. 48. So neben anderen Gansberg: Vorurteile, S. 7f.
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liche Realität und nimmt ihr gegenüber eine konträre Position ein. Seine Autonomie gewinnt das literarische Werk über seine Form, mit der es sich von anderen, interessegeleiteten Arten der Sprachverwendung absetzt. Zwischen der poetischen Sprache und dem Sprechen der Alltagskommunikation sieht Adorno einen »unversöhnlich klaffende[n] Widerspruch«;17 autonome Kunst ist für ihn an formale Komplexität gebunden und wird nur in der Verweigerung leichter ›Konsumierbarkeit‹ erreicht. Mit Hilfe dieser beiden Maßstäbe wird innerhalb der Gruppe literarischer Werke klar unterschieden und gute von ideologisch verdächtiger Literatur bzw. autonome von nicht autonomer Literatur gesondert. Diese wertenden Binnendifferenzierungen ändern allerdings nichts an dem prinzipiell umfassenden Verständnis von ›Literatur‹: Zum ersten Mal wurde, wenn auch in ideologiekritischer Absicht, die literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit auch unterhaltenden oder ›trivialen‹ Texten zuteil, die bislang aus dem Gegenstandsbereich des Faches ausgegrenzt worden waren. Eine solche klare Hierarchie unter den Gegenständen wurde erst auf der Grundlage sozialgeschichtlicher Ansätze aufgehoben. In ihrem Mittelpunkt steht ein Zusammenhang unterschiedlicher Kommunikationshandlungen, zu denen auch Literatur gehört. Zwar wird – zumindest in einer Variante –18 zwischen literarischen und literaturbezogenen Handlungen unterschieden, und damit wird ›literarisch‹ nur für einen Teilbereich der Handlungen reserviert, nämlich im Allgemeinen den der Produktion und Rezeption von Literatur; jedoch ist der Literaturbegriff kein primär textorientierter mehr. Literarische Texte gelten einerseits als Teile des Symbolsystems einer Kultur, andererseits aber auch als durch literarische Kommunikationshandlungen bestimmt. Der Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft wird in zweifacher Weise weit gefasst: Integriert werden dezidiert auch populäre und unterhaltende Formen von Literatur, fokussiert werden alle Arten der Interaktion im sozialen Kommunikationsraum ›Literatur‹. Eine pragmatisch bestimmte und zugleich funktionale Sichtweise auf Literatur nehmen auch die Vertreter des sozialgeschichtlichen Ansatzes ein, der sich an Bourdieu orientiert. Sie beschreiben literarische Werke in erster Linie als ›soziale Tatsachen‹19 und fragen beispielsweise nach der Leistung, die sie in den Auseinandersetzungen der Autoren um Positionen im literarischen Feld erbringen. Auch in diesem Ansatz wird der Literaturbegriff weit gefasst und deskriptiv eingesetzt. (4) Mit weiterreichendem Anspruch für die Begründung der Disziplin wird Ende der 1970er Jahre in der Empirischen Literaturwissenschaft der _____________ 17 18 19
Adorno: Schlußszene, S. 130. Vgl. z.B. Pfau / Schönert: Probleme, S. 3-8. Vgl. z.B. Jurt: Feld, S. 75.
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am ›Werk‹ orientierte Literaturbegriff abgelöst und durch ein handlungsorientiertes Konzept ersetzt. Als Literatur wird ein komplexer gesellschaftlicher Handlungsbereich verstanden, der konventionell geregelt ist und in dem die Texte nur eine Größe neben anderen ausmachen. Neu ist die Auffassung, dass ein Text nicht aufgrund spezifischer sprachlicher Merkmale literarisch ›ist‹, sondern dass ihm Literarizität allein aufgrund bestimmter sozialer Konventionen zugeschrieben wird. ›Literarisch‹ sind damit vor allem bestimmte Umgangsweisen mit Texten, beispielsweise die Rezeption von Texten nach der »Ästhetik-« und der »Polyvalenzkonvention«.20 Dieser sehr weite Literaturbegriff enthält keine Spezifikationen der Beschaffenheit der Texte, so dass tendenziell jeder Text, der als Literatur rezipiert wird, auch zum Objektbereich der Literaturwissenschaft zählt. Wenn Konventionen und Modi der Verarbeitung von Texten berücksichtigt werden, dann wird nicht allein der Gegenstandsbereich ›Literatur‹ extrem ausgeweitet – im Vergleich z.B. mit werkimmanenten oder formalistischen Ansätzen –, auch die Auffassung von den Zielen und Methoden des Faches ›Literaturwissenschaft‹ ändert sich grundlegend. (5) Ähnlich weitreichende Folgen, allerdings mit erheblich mehr Resonanz im Fach, haben die Neubestimmungen zentraler Begriffe in poststrukturalistischen Ansätzen. Wenn auf der Grundlage allgemeiner zeichentheoretischer Überlegungen die Bedeutung eines Textes nicht als fixierbare Größe aufgefasst wird, sondern als sich im Prozess unendlicher Semiose immer weiter fortsetzendes ›Spiel‹ des Bedeutens,21 dann hat dies auch Konsequenzen für den Textbegriff und für die Auffassung von Literatur. Fragwürdig werden die Grenzen der Texte generell: Prinzipiell können die Identitätsbedingungen von Texten nicht angegeben werden, und es lässt sich nicht begründen, was zu einem Text gehört und welche Beziehungen über ihn hinausgehen. Festlegungen von Textgrenzen sind immer Setzungen, ergeben sich mithin nicht aus den Texten selbst. Als gegeben angenommen wird allein ein universaler – verborgen sinnstiftender – textueller Zusammenhang. Entsprechend nehmen auch Vertreter dieser Richtung an, dass es keine spezifische Qualität gebe, die literarische Texte klar als solche markiere. Ob ein Text als literarisch oder nicht-literarisch eingestuft wird, ist von historisch variablen Konventionen abhängig.22 Wenn aber literarische und nicht-literarische Texte auf denselben sprachlichen Mechanismen beruhen, kann eine merkmalbezogene Unterscheidung zwischen ihnen nicht begründet werden. Die Grenzen zwischen beiden gelten als willkürlich gesetzt und werden abgelehnt, zumindest in prinzipiellen Argumentatio_____________ 20 21 22
Vgl. z.B. Schmidt: Grundriß, Kap. 4. Z.B. die Ausführungen in Derrida: Randgänge, S. 29-52. Vgl. z.B. Fohrmann / Müller: Diskurstheorien, S. 17.
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nen. Unterschiede zwischen Literatur und Nicht-Literatur liegen dann allein in jeweils anderen kulturellen Praktiken: Auch wenn es keine ›wesentlich literarische‹ Qualität gibt, unterscheiden sich literarische Texte doch von anderen sprachlichen Produkten, weil sie aus speziellen Praktiken entstehen und in ihnen rezipiert werden, die ihnen beispielsweise eine besondere Wirkung ermöglichen.23 Entsprechend vertreten diskursanalytische und auf ihnen aufbauende kulturwissenschaftliche Ansätze einen weiten Literaturbegriff, in dessen Gegenstandsbereich das fällt, was im Kontext der untersuchten Praktiken als Literatur behandelt wird. Mit diesen und ähnlichen Argumenten wird die oft diskutierte kulturwissenschaftliche Ausweitung des Gegenstandes24 begründet. Sie führt dazu, Gruppen von Texten einzubeziehen, die bislang nicht in den literaturwissenschaftlichen Blick gekommen sind, im New Historicism etwa Texte, die zuvor eher unter ethnographischen oder allgemeinen kulturgeschichtlichen Aspekten betrachtet worden waren,25 oder in postkolonialen Ansätzen z.B. Biographien von Autorinnen und Autoren ethnisch benachteiligter Gruppen. Daneben findet sich in der Praxis aber auch eine deutliche Konzentration auf kanonische Literatur der Moderne und Postmoderne. Sie ist nicht ohne weiteres als Inkonsequenz in der Umsetzung diskursanalytischer Vorgaben zu werten; vielmehr kann sie sich auf eine zweite, emphatische Verwendung des Literaturbegriffs berufen, die sich beim frühen Foucault findet.26 Ausgehend von der Annahme, dass es bestimmte Mechanismen der Sprache gebe, die in Diskursen verdeckt oder reglementiert werden, etwa die ausschließliche Bezugnahme der Sprache auf Sprache und nicht auf Dinge, sieht Foucault die Leistung der Literatur darin, dass sie die Reglementierungen der anderen Diskurse vermeidet und diese Mechanismen uneingeschränkt ›verwirklicht‹. Literatur »wird zur reinen und einfachen Offenbarung einer Sprache, die zum Gesetz nur die Affirmation – gegen alle anderen Diskurse – ihrer schroffen Existenz hat«.27 Auch wenn es nicht thematisiert wird, scheint nicht jeder Text im weiten Sinne von ›Literatur‹ solches leisten zu können. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass vor allem literarische Texte, denen Selbstbezüglichkeit und Formorientiertheit attestiert werden kann, im Zentrum vieler diskursanalytischer Untersuchungen stehen. Sie konzentrieren sich damit auf dieselben Texte, _____________ 23 24 25 26 27
Z.B. Greenblatt: Einleitung, S. 11. Einmal mehr sei an die entsprechende Debatte im Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft erinnert, ausgehend von Barner: Literaturwissenschaft. Z.B. Greenblatt: Exorcism. Dazu genauer Winko / Jannidis / Lauer: Geschichte, S. 130ff.; zu einem emphatischen Verständnis von Literatur vgl. auch Derrida: Institution, S. 99. Foucault: Ordnung, S. 366.
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die schon die Vertreter eines traditionellen Literaturbegriffs für besonders wertvoll gehalten und immer wieder untersucht haben. Bei aller Unterschiedlichkeit neuerer Bestimmungen von ›Literatur‹ liegt eine Gemeinsamkeit in einer pragmatischen Tendenz. Der Literaturbegriff wird meist nicht mehr unter Rekurs auf spezifische Texteigenschaften oder rein semiotische Operationen erläutert, sondern mit Bezug auf Funktionen, situative Kontexte oder Praktiken, in denen die Texte verwendet werden. Diese Tendenz geht unterschiedlich weit: Sie reicht von der Erweiterung semiotisch fundierter Bestimmungen um Verwendungskontexte bis hin zum Verzicht auf die Annahme begründender Zeichenstrukturen. Wir wollen im Folgenden an einigen der Ideen für einen pragmatischen Literaturbegriff anknüpfen und sehen die fruchtbarsten Ansatzpunkte in der Berücksichtigung der jeweiligen Gebrauchsweisen von Texten und den ihnen zugrunde liegenden Annahmen über Autor, Text und Leser. 2. Strategie der Begriffsbildung Ziel unserer Überlegungen ist es, einen Literaturbegriff zu skizzieren, der für die literaturwissenschaftliche Forschung geeignet ist. Er soll es unter anderem erlauben, Bezüge zwischen den Texten und Textpraktiken in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen herzustellen, ohne dabei die historischen Differenzen einzuebnen. Bekanntlich gibt es mehrere Strategien, Begriffe zu bestimmen, und es stellt sich die Frage, welche im vorliegenden Fall die effektivste ist. Eine klassische Begriffsbestimmung mit klaren Kategoriengrenzen über eine Liste üblicherweise angeführter notwendiger und hinreichender Merkmale erweist sich schnell als problematisch. So kann man zwar sagen, dass literarische Texte sich durch eine besondere sprachliche Gestaltung ausweisen, aber nicht alle Texte, für die das zutrifft, etwa politische Reden oder bestimmte Werbetexte, werden auch als Literatur bezeichnet. Andererseits gibt es aber Texte, die zweifelsfrei der Literatur zugerechnet werden, auf die das Merkmal selbst in dieser vagen Form nicht ohne Weiteres zutrifft; zu denken ist hier an Formen der ›industriell‹ gefertigten Schemaliteratur, aber auch an Avantgardetexte, die aus vorgefundenen Texten bestehen. Nun könnte man das Merkmal der Fiktionalität hinzuziehen, aber es gibt eine nennenswerte Zahl nicht-fiktionaler Texte, die als Literatur aufgefasst werden, beispielsweise Autobiographien oder Briefe. Andererseits gibt es kaum fiktionale Texte, die nicht als Literatur gelten. Die Beispiele, die manchmal genannt werden, etwa die juristische Fallgeschichte oder das Gedankenexperiment, umfassen typischerweise keine eigenständigen Texte, sondern Passagen, die in anderen Texten eingebettet sind. Das Kriterium ›Fiktionalität‹ wäre also hinreichend, aber nicht notwen-
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dig, während das Kriterium ›Literarizität‹ oder ›Poetizität‹ weder hinreichend noch notwendig wäre. Dennoch sind diese beiden Kriterien in der Wahrnehmung der meisten Literaturwissenschaftler eng mit dem Begriff ›Literatur‹ verbunden. Es scheint uns daher ratsam, eine andere Strategie der Begriffsbestimmung zu wählen. Unschärfen wie die genannten lassen sich üblicherweise dadurch vermeiden, dass man den Begriff als Prototyp bestimmt. Es liegt also nahe, den Literaturbegriff so zu fassen, dass dessen Eigenschaften nicht notwendigerweise allen literarischen Texten zukommen müssen. Allerdings zeigt sich bei der konkreten Anwendung ein eigentümliches Problem. Eine prototypische Begriffsbestimmung führt häufig ein besonders gutes Exemplar der Kategorie an. Aber jedes gute Exemplar der Kategorie ›Literatur‹, z.B. Hamlet, die Odyssee, Winnetou, Flauberts Correspondance oder The Waste Land, ist in noch ausgeprägterem Maße ein gutes Exemplar einer bestimmten Gattung: des Dramas, des Epos, des Romans oder des Gedichts. Man hat also den Eindruck, dass es nicht das eine zentrale, prototypische Exemplar für ›Literatur‹ gibt, sondern vielmehr eine Reihe solcher Exemplare. Das könnte nun wiederum ein Sachverhalt sein, der sich am besten über das Konzept der Familienähnlichkeit beschreiben lässt.28 Allerdings kann dieses Konzept zwar recht überzeugend die Verbindung von Exemplaren eines Begriffs über jeweils geteilte Merkmale beschreiben (z.B. das Schachspiel, das Fußballspiel, das Gedankenspiel), aber die Beschreibung bezieht sich üblicherweise wiederum auf Typen von Exemplaren, nicht aber auf selbst wiederum komplex organisierte Begriffe wie ›Roman‹, ›Essay‹, ›Drama‹ usw., wie das beim Literaturbegriff der Fall ist. Wahrscheinlich ist gerade die historisch relativ späte Entstehung des Literaturbegriffs als Abstraktion über eine Gruppe von Einzelbegriffen ein Grund für diese komplexe Organisation. Ergebnis dieser ersten Überlegungen ist also folgende Annahme über die Struktur des Literaturbegriffs: Es handelt sich um einen Begriff, der sich am besten nach dem Muster der Familienähnlichkeit beschreiben lässt; gemeinsame Merkmale haben hier aber in erster Linie die Prototypen der Gattungen. Mit solch einer basalen Begriffsstruktur ist allerdings noch wenig geleistet; vielmehr gilt es sie im Folgenden auszufüllen. Einen ersten Schritt dazu stellt die anschließende Skizze zweier prinzipieller Probleme des Begriffs dar, nämlich seine Anwendung zum einen auf Literaturen, in denen es keinen entsprechenden Oberbegriff gibt und die durch andere literarische Praktiken gekennzeichnet sind, und zum anderen auf Literaturen, in denen der Begriff vorhanden ist, aber mit ganz anderen Implikationen, Wertungen und Bedeutungsdimensionen versehen wurde, als es für einen _____________ 28
Vgl. dazu Hirsch: Literatur.
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literaturwissenschaftlichen Begriff brauchbar ist. Es geht, das sei gleich hinzugefügt, nicht um eine sei es noch so skizzenhafte Geschichte des Literaturbegriffs, sondern um die systematische Konfrontation eines prospektiven Literaturbegriffs mit problematischen Phänomenen. In einem zweiten Schritt sollen typische Merkmale von Literatur, die in systematisch ausgerichteten Begriffsbestimmungen herangezogen werden, auf ihre Verwendbarkeit für den anvisierten pragmatischen untersucht werden. 3. Herausforderungen und Probleme des Literaturbegriffs Eine historische Verwendung des Begriffs ›Literatur‹ sieht sich mit einer Fülle von Schwierigkeiten konfrontiert. Ein erstes Problem stellt der Umstand dar, dass die westliche Welt von der Antike bis ins 18. Jahrhundert kein Abstraktum kennt, das dem modernen Begriff von Literatur vergleichbar wäre.29 Das, was unter der Perspektive eines modernen Literaturbegriffs zusammensteht, existiert unverbunden nebeneinander. Die jeweiligen Disziplinen, also etwa die Klassische Philologie oder die Mediävistik, umgehen das Problem durch die aufgrund der dürftigen Überlieferung naheliegende Entscheidung, alle Texte einzubeziehen und einen sehr weiten Literaturbegriff zu vertreten.30 Die lückenhafte Überlieferung und das geringe Wissen über die tatsächlichen Rezeptionsprozesse erweisen sich auch als wesentliches Problem für eine Rekonstruktion auf der Grundlage eines pragmatischen Literaturbegriffs. Man weiß zwar von einigen Gattungen, insbesondere vom Drama, wie sie anfangs rezipiert wurden, aber insbesondere bei der Literatur, die wohl für die Lektüre vorgesehen war, etwa beim griechischen Roman, weiß man nicht, wie und unter welcher Perspektive die Texte geschrieben und gelesen wurden.31 In den über tausend Jahren zwischen der Homerischen Epik und der Schließung der Akademie in Athen entwickelt und verändert sich ein komplexes Gattungssystem, eine ausgefeilte ›Literaturkritik‹32 und eine Vielzahl textbezogener sozialer Praktiken, die als literarisch qualifiziert werden können – aber nur zurückblickend und von heute aus. Denn das Gattungssystem wurde, soweit das sichtbar wird, nicht als Einheit wahrgenommen. Hinzu kommt das Problem, dass aufgrund der lückenhaften Überlieferung auch unklar ist, welchen Stellen_____________ 29 30
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Vgl. Weimar: Literatur. Vgl. für die Klassische Philologie etwa die Liste der behandelten Texte in einschlägigen Darstellungen, z.B. Lesky: Geschichte oder Paulsen: Geschichte. Eine Begründung findet sich bei Fuhrmann: Geschichte, S. 17ff. Für die Mediävistik vgl. etwa Klein: Mittelalter, S. 7. Vgl. Holzberg: Roman, S. 41. Vgl. Kennedy: Cambridge.
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wert die Aussagen in den heute überlieferten Texten haben; ob es sich um typische Vertreter allgemein akzeptierter Positionen handelt oder nicht.33 Interessanterweise wurde das Fehlen eines Oberbegriffs schon in der Antike wahrgenommen. »Diejenige Kunst, die allein die Sprache, in Prosa oder in Versen […], verwendet, hat bis jetzt keine eigene Bezeichnung erhalten«,34 schreibt Aristoteles am Anfang der Poetik. Er wendet sich an dieser Stelle gegen die allgemeine Vorstellung seiner Zeit: »Allerdings verknüpft eine verbreitete Auffassung das Dichten mit dem Vers«,35 d.h. das Dichten wurde üblicherweise mit dem Schreiben in gebundener Rede gleichgesetzt.36 Aristoteles schlägt vor, den Begriff der Nachahmung ins Zentrum einer Bestimmung von Dichtung zu stellen, so dass lyrische Texte, philosophische Dialoge und Prosaerzählungen unter diesen Begriff fallen, während z.B. medizinische oder philosophische Lehrdichtung in Versen davon zu unterscheiden sind. Aristoteles’ Vorschlag scheint keinen merkbaren Einfluss auf die allgemeine Verwendung des Begriffs des ›Dichtens‹ gehabt zu haben.37 Aber die Diskussionen der etablierten Kategorienbildung in Bezug auf Dichtung, wie man sie etwa bei Aristoteles oder Cicero finden kann, machen die prinzipielle Verfügbarkeit alternativer Ordnungsmodelle sichtbar. Die Heterogenität der überlieferten oder erwähnten Textformen – man denke hier auch an das Epos, an die Geschichtsschreibung und an philosophische Texte, häufig in Form von Dialogen – und der mit ihnen verbundenen sozialen Praktiken, zu denen nicht zuletzt die Regeln des Verstehens gehören, schließt auch die mediale Diversität ein: Die Tragödien und Komödien werden öffentlich und vor größerem Publikum aufgeführt; auch die so genannten Konzertredner traten öffentlich auf,38 was ebenfalls für die Aufführung bestimmter lyrischer Formen, beispielsweise des Dithyrambos, gilt. Andere werden dagegen vor allem in kleinerem Kreise präsentiert, etwa während des Gastmahls, und weitere Textformen, z.B. der spätantike Roman, aber auch das Epigramm, scheinen bereits in erster Linie der Lektüre vorbehalten zu sein.39 Die Gebrauchsregeln von Texten waren ganz anders verteilt; so war Lyrik wohl immer an ein bestimmtes _____________ 33 34 35 36 37 38 39
Siehe dazu auch Arweiler im vorliegenden Band S. 558. Aristoteles: Poetik, 1447a und b. Ebd., S. 7 Weitere Belege für diese Auffassung bei Fuhrmann: Dichtungstheorie, S. 203 Anm. 19 sowie S. 114. Fuhrmann interpretiert eine Passage bei Cicero als Reflex auf Aristoteles, allerdings ist der Passage auch zu entnehmen, dass immer noch die Auffassung verbreitet war, Dichtung seien alle Texte in Versen; vgl. ebd., S. 114. Nach Ludwig Rademacher; vgl. Lesky: Geschichte, S. 934. Vgl. neben den Titeln in der vorangehenden Anmerkung auch Holzberg: Roman, S. 52ff. zu den Bildungsvoraussetzungen der Leser.
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Ereignis gebunden.40 Die Frage, ob und in welcher Form Fiktionalitätsbewusstsein vorhanden war, ist noch offen und dürfte für die unterschiedlichen Epochen der Antike unterschiedlich zu beantworten sein. Die Gattungen wurden teils gleich, teils anders konzipiert, für eine Gattung wie den Roman existierte wohl überhaupt keine Gattungsbezeichnung.41 Mit der Rhetorik und der Versifizierungskunst existierten zwei umfassende und mächtige Textstrukturierungsverfahren, die allgemein Anwendung fanden, aber – zumindest zeitweise – zwei distinkten Berufsgruppen, den Rednern und den Dichtern, zugeordnet wurden. Angesichts dieser Sachlage scheint eigentlich jede Verwendung eines modernen Literaturbegriffs hoffnungslos anachronistisch. Nur ein Begriff, der möglichst wenig Vorgaben macht und dennoch ein Suchschema vorgibt, könnte das Problem umgehen. Er kann durchaus heuristische Funktion haben, indem er gerade als Folie dient, um etwa die andere Wahrnehmung und entsprechend andere Zuordnung von Literarizität und Fiktionalität sichtbar zu machen oder um auf diesem Hintergrund die Gattungsformation und ihre Binnenstruktur zu untersuchen. Aber auch die Verwendung des Literaturbegriffs in Zeiten, die über einen solchen verfügen, erweist sich schnell als problematisch, wenn diese ihn ganz anders konzipieren, insbesondere wenn sie ihn mit ausgeprägten normativen Annahmen verknüpfen, wie das oft der Fall ist. Ein Beispiel dafür stellt der Literaturbegriff im 19. Jahrhundert dar. Vorliegende Arbeiten zum Literaturbegriff beziehen sich in der Regel auf die Literaturauffassungen von Autoren,42 seltener auf die zeitgenössischen Poetiken. Allerdings ist die Präsenz und Relevanz von Poetiken lange Zeit unterschätzt worden, und ihre Vielfalt wurde erst jüngst systematisch erschlossen.43 Gerade im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren diese Texte weit verbreitet und dürften einen nicht unerheblichen Einblick in die zeitgenössischen Konzepte von Literatur vermitteln. Sie blieben präsent bis in die 1950er Jahre.44 Auffällig ist, dass die Auffassungen von Literatur in weniger starkem Maße als die jeweiligen Fundierungen der verschiedenen Poetiken variieren. Insgesamt scheint hier ein, wenn auch impliziter Konsens darüber _____________ 40 41 42 43
44
Vgl. Paulsen: Geschichte, S. 46. Ebd., S. 356. So etwa Arntzen: Literaturbegriff. Einen materialreichen historischen Überblick über die Entwicklung von deutschsprachigen Poetiken hat Sandra Richter verfasst (Richter: History). Auf der Basis von (wenn man nur die ersten Auflagen berücksichtigt) ca. 250 Poetiken verschiedener Typen im Untersuchungszeitraum von 1770 bis 1960 hat sie das vielfältige Terrain erschlossen und die unterschiedlichen Positionen dargestellt, die von eklektizistischen populärphilosophischen Poetiken über idealistische Spielarten, frühe Beispiele naturwissenschaftlich orientierter Poetiken bis zu holistischen Ansätzen reichen. Vgl. ebd., Kap. I.2.
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zu bestehen, was Literatur ausmache. Verbreitet ist die Annahme, dass sie aufgrund bestimmter Wirkungsmechanismen einen besonders wertvollen Beitrag zur Ausbildung von – allgemein gesprochen – Humanität leisten könne, eine Annahme, die in Begriffen der Freiheit und Autonomie formuliert wird,45 und entsprechend wird auch die Trias des Guten, Wahren und Schönen noch immer bemüht.46 Dieser Konsens liegt wohl auch darin begründet, dass es in aller Regel um ›Poesie‹ oder ›Dichtung‹ geht, mithin um eine bereits auf besondere ästhetische Qualitäten fokussierte Auffassung von Literatur.47 Ein Blick in einflussreiche Literaturgeschichten der Zeit zeigt dagegen, dass die Grenzen des Gegenstandsbereichs weiter gesteckt werden: Behandelt werden literarische Texte im Sinne der Gattungstrias – die ›Poesie‹ der Poetiken –, dazu aber auch Textsorten wie die moralischen Wochenschriften, Essays, Autoren-Poetiken und andere programmatische Texte von Autoren. Diese weite Auffassung von Literatur findet sich sogar in Geschichten, die dezidiert die Entwicklung der ›Dichtung‹ untersuchen.48 Auch für diese historische Situation gilt also das oben Gesagte über die Möglichkeiten eines pragmatischen Literaturbegriffs, der dieser bei näherer Betrachtung komplexen zeitgenössischen Verwendung des Literaturbegriffs gerecht werden soll, ohne sie zugleich übernehmen zu müssen. 4. Literatur: Begriff und Phänomen, systematisch Welche Eigenschaften literarischer Texte als spezifisch gelten und welche Kriterien in der Bestimmung von ›Literatur‹ unter einer systematischen Perspektive angeführt werden, wird in diesem Abschnitt untersucht. Ziel ist, den Stellenwert zu klären, den diese Merkmale bzw. Kriterien für die anvisierte pragmatische Begriffsbestimmung haben können. In systematischer Hinsicht lassen sich zwei Komponenten unterscheiden, die in Definitionen des Begriffs ›Literatur‹ beachtet werden, sowie eine meist nicht reflektierte dritte Bedeutungskomponente, die die Begriffsverwendung mitbestimmt. Um Literatur von anderen ›Textsorten‹ abzugrenzen, werden in der Regel ›intrinsische‹, auf internen Strukturen der Texte beruhende Merkmale (4.1) und ›extrinsische‹, an Bedingungen des Umgangs mit literarischen Texten gebundene Besonderheiten (4.2) angeführt, die Litera_____________ 45 46 47 48
So z.B. in jeweils anderen Begründungszusammenhängen bei Moritz Carrière (vgl. ebd., Kap. 6.a) und in Heinrich Viehoffs 1888 erschienener Poetik auf der Grundlage der Erfahrungsselenlehre (vgl. ebd., Kap. 6.b). Z.B. noch von Gustav Theodor Fechner und Heinrich Viehoff; vgl. ebd., Kap. 6.b. Dazu auch Weimar: Literatur, S. 446. Nur ein Beispiel von zahlreichen: Hettner, Geschichte, Kap. I.3.1. und II.3.1.
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tur auszeichnen. Unter den ›intrinsischen‹ Merkmalen sind Fiktionalität und Poetizität die am häufigsten genannten Merkmale, zu den ›extrinsischen‹ zählen die verschiedenen Funktionen, die Literatur zugeschrieben werden. Diese Merkmale werden bekanntlich inhaltlich unterschiedlich bestimmt und in ihrer Relevanz unterschiedlich gewichtet; nicht alle müssen gleichermaßen angeführt werden, aber ohne zumindest einige von ihnen kommt eine Definition von ›Literatur‹ nicht aus. Von diesen Komponenten des Literaturbegriffs zu unterscheiden, ist ein Modus der Begriffsverwendung, der ebenfalls zur Grenzziehung beiträgt, um die es hier geht: ›Literatur‹ kann als deskriptives oder klassifikatorisches Konzept relativ wertneutral verwendet werden, kann aber auch als Wertbegriff dienen, der die Grenzen zwischen Literatur und Nicht-Literatur als solche zwischen wertvollen und weniger wertvollen Texten festsetzt (4.3). 4.1 Intrinsische Kriterien: Fiktionalität und Poetizität Als typische Merkmale für literarische Texte, die an deren Textualität oder besondere Machart gebunden sind, werden, wie oben erwähnt, seit langem Fiktionalität und Poetizität angeführt. Während unter ›Fiktionalität‹ meist eine bestimmte Darstellungsweise in Relation zur außertextuellen Wirklichkeit bzw. ein auf dieser Darstellungsweise basierender Modus der Kommunikation verstanden wird, sind mit ›Poetizität‹ in der Regel besondere sprachliche Merkmale literarischer Texte gemeint. Auch wenn es unterschiedliche Konjunkturen der jeweiligen Debatten gab, ist über die Fiktionalität im 20. Jahrhundert erheblich häufiger nachgedacht worden als über die besondere Sprachverwendung literarischer Texte. Überlegungen zum fiktionalen Status literarischer Texte werden aus literaturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive angestellt. In der analytischen Ästhetik entwickelte sich eine breite Fiktionalitätsdebatte im Kontext von Arbeiten, die nach den Wahrheitsbedingungen von Behauptungssätzen mit Ausdrücken fragten, die nicht existierende Entitäten bezeichnen und damit nicht – oder nicht im üblichen Sinne – denotieren. Diese Debatte umfasst vor allem drei Problemkomplexe: Erklärt werden sollen ›Wesen‹ oder Status von Fiktionalität, das Verhältnis von Fiktion und Realität und/oder Wahrheit und das Phänomen, dass das Schicksal fiktiver Personen wirkliche Gefühle in den Lesern hervorrufen kann. Die ersten beiden Problemfelder behandeln auch die im engeren Sinne literaturwissenschaftlichen Beiträge häufig, wenn auch mit anderen Akzenten, und zudem geht es ihnen um die Fragen nach den Fiktionalitätskriterien und -signalen und den Funktionen, die fiktionale Texte übernehmen.
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Die Heterogenität vorliegender Fiktionalitätstheorien ist des Öfteren festgestellt worden; die Definitionen von ›Fiktion‹ und ›Fiktionalität‹ variieren mit den Beschreibungszusammenhängen und den verwendeten Bezugstheorien.49 Ohne einen vollständigen Abriss der verschiedenen Auffassungen geben zu können, seien hier nur vier einflussreiche Positionen skizziert, die diese Heterogenität illustrieren. (1) Mit sprechakttheoretischer Begründung bestimmt John Searle in seinem oft zitierten Beitrag die fiktionale Rede als Diskursform, in der die ›normalen‹ »vertikalen Regeln« der Bezugnahme von Sprache auf Welt außer Kraft gesetzt sind;50 Gottfried Gabriel bestimmt sie als »nicht-behauptende Rede«, die »keinen Anspruch auf Referentialisierbarkeit oder auf Erfülltheit erhebt«, zugleich aber Wahrheit in einem spezifischen Sinne beanspruchen kann.51 Zu den Leistungen fiktionaler Rede werden hier soziale Funktionen und verschiedene Erkenntnismöglichkeiten gerechnet. In Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen zum Status fiktionaler Rede sind zahlreiche Beiträge auf der Grundlage analytischer Philosophie entstanden.52 (2) Nicht auf die Besonderheiten fiktionalen Sprechens, sondern auf das Fingieren als anthropologisch fundierte Tätigkeit zielt dagegen Wolfgang Isers Ansatz. Iser interessiert sich für den Prozess und die Leistungen des literarischen Fingierens, welches er als »Inszenierung kreativer Prozesse« und als Tätigkeit auffasst, die »anthropologische[] Grundmuster zum Vorschein« bringt.53 Der Zweck literarischen Fingierens liegt unter anderem darin, den Lesern nicht realisierte existenzielle Möglichkeiten verfügbar zu machen, Spielräume der Imagination zu eröffnen und Grenzüberschreitungen im »Spielen« zu ermöglichen –54 und damit menschliche Bedürfnisse zu erfüllen, die nur auf diese Weise erfüllbar sind. Solche anthropologischen Erklärungsversuche für Fiktionalität werden neuerdings auf eine evolutionsbiologische Grundlage gestellt und mit trennschärferen Begriffen ausgestattet.55 (3) Vertreter pragmatischer Fiktionalitätstheorien wiederum untersuchen die situativen Bedingungen, unter denen fiktionales Sprechen möglich ist. Für Rainer Warning etwa veranschaulicht das Theatermodell diese Bedingungen. Der fiktionale _____________ 49 50 51 52 53
54 55
Vgl. dazu genauer Zipfel: Fiktion, S. 14-18; zur Unterscheidung von ›Fiktion‹, ›Fiktivität‹ und ›Fiktionalität‹ ebd., S. 19 sowie Kap. 3 und 4; vgl. auch Rühling: Fiktionalität. Searle: Status, S. 88. Gabriel: Fiktion, S. 20, 93 u.ö. Zu neueren Positionen siehe den Beitrag von Jan Gertken und Tilmann Köppe in diesem Band. Vgl. Iser: Fingieren, S. 18; den Aspekt der Grenzüberschreitung betont Iser in seinem Dichotomien vermeidenden triadischen Modell, in dem er »das Fiktive« als »Übergangsgestalt« versteht, die »sich immer zwischen das Reale und das Imaginäre zum Zweck ihrer wechselseitigen Anschließbarkeit schiebt« (Iser: Akte, S. 150). Vgl. Iser: Fingieren, S. 30; auch Iser: Akte, S. 123ff. Siehe dazu den Beitrag von Karl Eibl in diesem Band.
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Diskurs ist demnach »ein inszenierter Diskurs, der Rollenspiel seitens des Autors und seitens des Rezipienten voraussetzt« und in dem beide Seiten einen entsprechenden »Kontrakt« eingehen.56 Auch in diesem Modell liegt die Funktion fiktionalen Diskurses darin, Gelegenheiten zum ›entlasteten‹, spielerischen Handeln und Erkenntnisgewinn zu geben sowie gespielte und damit reflektierte Identifikation zu ermöglichen.57 (4) Spielerisches Probehandeln erlauben Fiktionen den Rezipienten auch in konstruktivistischen Modellen. Hier gelten Fiktionen jedoch als mentale Konstrukte besonderen Typs, die sich allerdings nicht prinzipiell von den ›Realität‹ genannten Konstrukten unterscheiden. Fiktionen sind demnach »Wahrnehmungen und Vorstellungen, die nicht durch andere Wahrnehmungen […] gestützt werden und deren Bedeutungen keine festgelegte soziale Basis haben«.58 Die skizzierten Positionen heben sich nicht nur in ihrer leitenden Fragestellung und Bestimmung von ›Fiktion‹ oder ›Fiktionalität‹ voneinander ab, sondern auch in ihrer Einschätzung eines Differenzmerkmals, das die Alltagsauffassung fiktionaler Texte besonders stark prägt: Sie gelten als solche Texte, die Erfundenes darstellen oder erzählen. Historisch betrachtet, hat diese klare Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität eine lange Tradition: So wurden Fiktionen bekanntlich als ›Schein‹ aufgefasst, in Gegensatz zum ›Sein‹ gestellt und als im Vergleich mit der Wirklichkeit defizitär kritisiert.59 In der Moderne dagegen wird die Wertung oftmals umgekehrt: Als defizitär gilt nun die Realität, als reicher und vollständiger die Fiktion.60 Während viele philosophisch argumentierende Positionen einen (wenn auch anhand verschiedener Kriterien identifizierten) Unterschied zwischen Fiktion und Realität behaupten,61 vermeiden oder relativieren die meisten literaturwissenschaftlichen Ansätze solche strikten Grenzziehungen.62 Sie versuchen beispielsweise die ›Welthaltigkeit‹ fiktionaler lite_____________ 56 57 58 59 60
61 62
Warning: Diskurs, S. 193 und 194. Ebd., z.B. S. 204f. – Dass fiktionale Texte in viel direkterem Sinne eine Quelle von Erkenntnis für ihre Leser sein können, zeigt der Beitrag von Margrit Schreier in diesem Band. Hejl: Realitäten, S. 224; vgl. auch Scheffer: Interpretation, S. 145-148. Vgl. Assmann: Fiktion, S. 256f. – Welche Funktion Konzepten der Fiktionalität im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung des Literatursystems zukam, beleuchtet der Beitrag von Hans-Edwin Friedrich in diesem Band. Ähnlich kann der fehlende Anspruch auf Wahrheit (im korrespondenztheoretischen Sinne) positiv gewertet werden: Gerade durch diesen Verzicht auf einen Wahrheitsanspruch kann die Multiperspektivik fiktionaler literarischer Texte und damit ihre Polyvalenz erklärt werden. Die ästhetische Komponente literarischer fiktionaler Texte hat nach Assmann hier ihren Grund; Assmann: Fiktion, S. 256. Vgl. auch die Verbindung von Polyvalenz- und Ästhetikkonvention bei Schmidt: Grundriß, S. 148ff. Z.B. Searle: Status; Gabriel: Fiktion; auch Warning: Diskurs. Vgl. dazu auch Zipfel: Fiktion, S. 16.
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rarischer Texte angemessen zu beschreiben, mithin das Phänomen, dass in Fiktionen Bezugnahmen auf Sachverhalte oder Ereignisse der Wirklichkeit integriert sind. So betonen etwa Warning und Genette das modellhafte Vorkommen von »Lebenswelt« in fiktionaler Literatur,63 und auch für Iser gibt es »sehr viel Realität« im fiktionalen Text, vor allem soziale und emotionale Realitätsbezüge.64 Aus konstruktivistischer Sicht dagegen haben Fiktion und Realität gleichermaßen den Status kognitiver Konstruktionen, und die Unterschiede zwischen »Real-Fiktion« und »Kunst-Fiktion« sind nur gradueller bzw. konventioneller Natur.65 Als zweites intrinsisches Merkmal der Literatur wird ihre ›Poetizität‹ diskutiert, womit im Allgemeinen die Besonderheit literarischer Sprachverwendung gemeint ist. Diese Auffassung geht von der Annahme aus, dass es spezifische sprachliche Einheiten gibt, die sich als ›poetisch‹ klassifizieren lassen.66 Zum Teil wird ›Poetizität‹ als notwendiges und hinreichendes Kriterium zur Unterscheidung von Literatur und Nicht-Literatur herangezogen, womit der Begriff gleichbedeutend mit ›Literarizität‹ wird;67 zum Teil wird er aber auch nur für eine – oft nur vage umrissene – Gruppe literarischer Texte verwendet, nämlich die ›poetischen‹, d.h. in schöner bzw. gehobener Sprache und/oder in Gedichtform geschriebenen.68 Der Begriff kann sowohl klassifikatorisch als auch normativ eingesetzt werden.69 Er wurde allerdings seit den 1980er Jahren deutlich seltener behandelt als der Fiktions- bzw. Fiktionalitätsbegriff. Für diesen liegt das Forschungsproblem im Nebeneinander zahlreicher Bestimmungsvorschläge, von denen längst nicht alle miteinander vereinbar sind; Forschungen zur Poetizität dagegen stehen vor der Schwierigkeit, dass das Phänomen selbst in Frage gestellt wird: Umstritten ist, ob es tatsächlich eine spezifisch poetische Qualität von Literatur gebe. Systematische Studien zur Poetizität haben vor allem die Formalisten und frühen Strukturalisten vorgelegt. Prägend war hier Roman Jakobsons Bestimmung der poetischen Funktion der Sprache als »Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen«,70 mit deren Hilfe poetische Texte die Beziehung von Zeichen und _____________ 63 64 65 66 67 68 69 70
Warning: Diskurs, S. 201; vergleichbar auch Genette: Erzählung, S. 91. Iser: Akte, S. 122. Zur Verbindung von Weltbezug und Fiktion bzw. von ›referentieller Praxis‹ und ›Fiktions-Praxis‹ siehe den Beitrag von Frank Zipfel in diesem Band. Scheffer: Interpretation, S. 146; vgl. auch Hejl: Realitäten, S. 224. Vgl. van Peer: Poetizität, S. 111. Zu verschiedenen neueren Literarizitätskonzepten siehe den Beitrag von Simone Winko in diesem Band. Vgl. dazu Weimar: Poesie, S. 96. Vgl. Rühling: Fiktionalität, S. 38ff. Jakobson: Linguistik, S. 108.
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Bezeichnetem ins Bewusstsein heben. Unter den – wenigen – neueren Forschungen zur Poetizität zeichnen sich besonders die Abweichungstheorien der Literatur aus.71 Nach Harald Fricke ist poetische Sprachverwendung durch funktionstragende Verletzungen sprachlicher Normen gekennzeichnet.72 Sprachliche Normverletzung ist für ihn eine (und die einzige) notwendige Bedingung für Poesie bzw. poetisches Sprechen, die an Texteigenschaften gebunden ist. Zu diesen Normverletzungen zählen sehr unterschiedliche sprachliche Phänomene; das Spektrum reicht von (ortho-)graphischen Abweichungen von der Normalsprache über phonologische, morphologische, lexikalische und syntaktische Eigenheiten, die in der Alltagskommunikation sanktioniert würden, bis hin zu semantischen Normbrüchen – etwa Regelverstößen des metaphorischen Sprechens – und zu pragmatischen Regelverletzungen, die z.B. vorliegen, wenn Gelingensbedingungen von Sprechakten in literarischen Texten missachtet werden. Auch Abweichungen von der Realitätserfahrung (fiktive Welten), dem empirisch Möglichen (z.B. phantastische Fiktion) und dem logisch Möglichen (z.B. Paradoxa) werden zu diesen Sprachverstößen gezählt. Ihnen gemeinsam ist, dass sie, so Fricke, sprachliche Beschränkungen überwinden. Um poetisch zu sein, müssen sie eine nachweisbare Funktion haben, d.h. sie müssen interne Beziehungen zwischen Textelementen oder Verbindungen zwischen dem Text und einem externen Sachverhalt herstellen.73 Umstritten ist, ob es sich bei diesen spezifisch poetischen Merkmalen tatsächlich um Texteigenschaften handelt oder nicht vielmehr um Modi der Verarbeitung von Texten, die eben nicht vom sprachlichen Material, sondern von Vorgaben der Rezeptionssituation gesteuert werden. Diese Position wurde im Kontext empirischer Literaturwissenschaft stark gemacht.74 Sie traf sich mit der poststrukturalistischen Grundsatzkritik an Positionen, die ein fundamentum in re annehmen, um Bedeutung in literarischen Texten rekonstruieren zu können. Die Suche nach notwendigen und/oder hinreichenden Bedingungen des Literarischen wird als verfehlt betrachtet,75 vermeintliche Texteigenschaften werden als variable, auf Konventionen basierende Zuschreibungen aufgefasst, die keineswegs notwendig sind. _____________ 71 72 73 74 75
Rühling: Fiktionalität, S. 41ff.; die anti-essentialistischen Theorien, z.B. institutionelle Theorien der Kunst, die Rühling als Beispiele für die Bestimmung von ›Poetizität‹ anführt, werden hier dem extrinsischen Aspekt der Literaturauffassungen zugeordnet. Fricke: Norm, S. 103; zu den Beispielen für sprachliche Normverletzungen vgl. ebd., Kap. 2. Vgl. zusammenfassend ebd., S. 100. Vgl. programmatisch Schmidt: Theorie. Z.B. Fohrmann / Müller: Einleitung, S. 16.
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Unser Fazit aus der knappen Betrachtung der Versuche, Literatur mit Bezug auf Fiktionalität und Poetizität zu bestimmen, teilen wir mit den meisten neueren Arbeiten zum Literaturbegriff: Beide Konzepte sind weder für sich genommen noch gemeinsam geeignet, ›Literatur‹ zu bestimmen. Zugleich sind jedoch Versuche, ohne Bezug auf diese Begriffe zu bestimmen, was unter ›Literatur‹ zu verstehen sein, nicht plausibel. Ein Argument dafür sehen wir in der Tatsache, dass die Merkmale der Fiktionalität und Poetizität dem Phänomen ›Literatur‹ im Laufe ihrer Geschichte immer wieder und mit wechselnden Erklärungen zugeschrieben worden sind. Ein literaturwissenschaftlicher Begriff von ›Literatur‹ sollte daher diese Merkmale integrieren, dies aber in einer Weise, die der jeweiligen historischen Variabilität der Ausprägungen entspricht. 4.2 Extrinsische Kriterien: Funktionen der Literatur Die zweite Strategie, den Literaturbegriff systematisch abzugrenzen,76 vermeidet die Schwierigkeit, Kriterien in der Struktur oder im Redemodus literarischer Texte identifizieren zu müssen, und führt stattdessen unterschiedliche Funktionen an, die Literatur erfüllt. Probleme dieser Strategie liegen nicht allein in dem Umstand, dass Literatur an sich keine Funktion ›hat‹, sie vielmehr erst in der literarischen Kommunikation gewinnt,77 sondern auch in der Vielzahl möglicher Funktionen, von denen bestimmte als konstitutiv ausgewiesen werden müssen.78 Eine Rekonstruktion der Funktionen von Literatur steht zudem vor der Schwierigkeit, dass der Funktionsbegriff alles andere als klar abgegrenzt ist und sehr uneinheitlich verwendet wird.79 Hier soll ›Funktion‹ in heuristischer Weise als Relationsbegriff aufgefasst werden, der die Beziehung bezeichnet, die zwischen Gegenständen (mit potentiellen Eigenschaften), ihren Wirkungen (im Falle einer Realisierung dieser Eigenschaften) und einer Bezugsgröße (Individuum, Kollektiv u.a.) besteht. Im Unterschied zum Begriff der Wirkung bezieht sich ›Funktion‹ auf keinen empirisch erhebbaren Effekt, sondern auf das Potential, eine empirisch nachweisbare Wirkung hervorzubringen, und setzt einen – jeweils unterschiedlich bestimmten – Bedingungszusammenhang voraus. _____________ 76 77 78 79
Vgl. dazu kritisch Derrida: Institution, S. 92. Darauf weisen u.a. Fluck: Imaginäre und Sommer: Funktionsgeschichte hin. Ein umfassender Überblick über die Funktionen, die Kunst zugeschrieben worden sind und werden, sowie eine Unterscheidung von konstitutiven und nicht-konstitutiven Funktionen findet sich bei Schmücker: Funktionen, S. 28. Klarer bestimmt ist der Funktionsbegriff im Rahmen von Abweichungstheorien, wo er die Beziehung von Texteinheiten zueinander und zu außertextuellen Einheiten bezeichnet; vgl. dazu Fricke: Funktion, S. 643.
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Eine Funktionsgeschichte der Literatur ist bislang noch nicht geschrieben worden – ein Defizit, das wir im Folgenden nicht ausgleichen können. Stattdessen soll ein unvollständiger Überblick über wichtige Funktionen gegeben werden, die der Literatur im Laufe ihrer Geschichte zugeschrieben worden sind. Als Ordnungsraster dienen uns die oben genannten beiden Bezugsgrößen der funktionalen Beziehung: Individuelle Funktionsbestimmungen (1) sind von kollektiv-sozialen (2) zu unterscheiden. Eine weitere in der Forschung des Öfteren angeführte Gruppe, die ästhetisch-formalen Funktionen der Literatur, liegt ›quer‹ zu diesem Raster. Sie bezieht sich auf die in Abschnitt 4.1 behandelten intrinsischen Eigenschaften und ist daher abschließend nur noch kurz zu betrachten (3). Alle drei Typen von Funktionen sind in der Literaturwissenschaft hypothetisch formuliert worden, und die angenommene oder postulierte Wirkung kann sich so gut wie nicht auf empirische Überprüfungen oder Untersuchungen anhand definierter Lesergruppen oder Korpora stützen.80 Das gibt den Funktionsbestimmungen einen spekulativen Charakter, der Erwartungen an Literatur und Wertungen mit einspielt, die ihrerseits Teil einer Funktionsgeschichte von Literatur sind. Historisch betrachtet ist die systematische Unterscheidung zwischen individuellen und kollektiven Funktionen allerdings gleich zu relativieren. Dies lässt sich am Beispiel einer der ältesten Funktionsbestimmungen der Literatur zeigen, die in der Vorstellung von der kathartischen Wirkung der Literatur gründet. Aristoteles hat bekanntlich die ästhetische Katharsis als eine zugleich seelische wie körperliche Reinigung durch die Schrecken und Jammer erregende Wirkung der Tragödie oder auch der Musik verstanden, ohne dass aus seiner Poetik (1449b) klar hervorgehen würde, ob er sich diese Katharsis als Reinigung oder Läuterung der Affekte vorstellt. So kann sie im Sinne einer Mediatisierung der Affekte oder einer Befreiung von überwältigenden Interessen verstanden werden oder als eine Art der durch den Vollzug starker Affekte bewirkten medizinischen Herabstimmung von Affekten, die als schädlich aufgefasst werden. Die Katharsis ist bei Aristoteles freilich nicht die eigentliche Funktion der Literatur. Vielmehr verknüpft er seine Poetik mit seiner Politik auf eine für die vormodernen Kulturen typische Weise, indem er die individuelle Affektregulierung durch die Künste mit ihrer politischen Funktion verbindet. Die Funktion der Künste liegt nicht in der individuellen Katharsis, sondern in der gesellschaftlichen Glückseligkeit, in der Eudaimonia, die durch sie bewirkt wird.81 _____________ 80 81
Darauf hat wiederholt Fluck hingewiesen: Imaginäre; auch Gymnich / Nünning: Ansätze. Vgl. Flashar: Poetik.
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Auch in anderen Kulturkreisen wie etwa im chinesischen Kaiserreich82 wird üblicherweise eine Funktion der Literatur darin gesehen, zum Gelingen des Staates beizutragen. Das schließt andere, vor allem unterhaltende Funktionen der Literatur nicht aus, wie sie in der dann klassisch gewordenen Formel prodesse et delectare verdichtet wurden, die man aus Horaz’ aut prodesse volunt aut delectare poetae (V. 333) seiner Ars poetica abgeleitet hat und die keineswegs nur auf die römische Literatur seiner Zeit zutrifft.83 Individuelle und kollektive Funktionen hängen also miteinander zusammen bzw. die kollektive Leistung von Literatur soll in der Regel über bestimmte individuelle Wirkungen erzielt werden. (1) Zu den individuellen Funktionen gehören alle Funktionen, die dem Lesen oder auch Verfassen von Literatur mit Bezug auf den Einzelnen zugeschrieben werden. Traditionellerweise sind dies vor allem kognitive und moralische, emotive, therapeutische und unterhaltende Funktionen. Neben der bereits angesprochenen Katharsisfunktion, die unter individueller Perspektive zu den therapeutischen Funktionen gerechnet werden kann, zählt die Aufgabe bzw. das Potential von Literatur, eine besondere Form der Erkenntnis zu liefern, zu den oft vorgebrachten Bestimmungen von Literatur.84 Diese spezifische Erkenntnis kann mit der Annahme eines besonderen Wahrheitszuganges des Autors begründet werden, der sich nur im literarischen Werk manifestieren könne, oder auch mit formalen Besonderheiten der Literatur, z.B. mit ihrer Fiktionalität, die das spielerische Einnehmen von Einstellungen ermöglicht, mit ihren spezifischen sprachlichen Möglichkeiten oder ihrer sinnlich-anschaulichen Darstellungsweise. Individuelle Funktionszuschreibungen an Literatur arbeiten bevorzugt mit Modellen der Wunscherfüllung, die mit Bezug auf unterschiedliche psychologische Theorien begründet werden.85 In psychoanalytischen Ansätzen drückt Literatur meist die Wunscherfüllung des Autors aus und befriedigt unbewusste Wünsche der Leser. Verdrängte Wünsche und ein nie ganz gesellschaftlich zu regulierendes Begehren werden in der Literatur verschoben ausgesprochen. Literatur fungiert damit auch als Ort prekärer Subjektivität.86 Roland Barthes hat es 1960 so formuliert: »die Literatur ist _____________ 82 83 84 85 86
Vgl. den Beitrag von Karl-Heinz Pohl in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Henrike Simon zur Literatur des Alten Ägyptens in diesem Band. Zur Vermittlung von klarer und distinkter Erkenntnis durch fiktionale Literatur vgl. zusammenfassend Gabriel: Fiktion, S. 107-111; zum Verhältnis von Literatur und Erkenntnis mit Bezug auf verschiedene Typen von Wissen vgl. Köppe: Literatur. Z.B. mit Bezug auf Erkenntnisse der Kognitionspsychologie bzw. -biologie, so Schmidt: Grundriß, S. 180f.; weitaus häufiger jedoch mit Bezug auf psychoanalytische Annahmen. So z.B. in Adornos Kafka-Interpretation; vgl. Adorno: Aufzeichnungen, S. 260.
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die Gesamtheit von Gegenständen und Regeln, von Techniken und Werken, deren Funktion in der allgemeinen Ökonomie unserer Gesellschaft darin besteht, gerade die Subjektivität zu institutionalisieren«.87 Damit wird eine kollektive Funktion angesprochen, die durch bestimmte Wirkungen der Literatur für Leser und Autoren erzielt werden kann. Autoren sind demnach nur andere Psychoanalytiker, und ihr Tun ist selbst etwas, das der Psychoanalyse zugänglich ist, ja erst von ihr begriffen wird.88 Solche Funktionszuweisungen an die Literatur als privilegierten Ort der Verhandlungen von Individualität lassen sich noch steigern. Jacques Lacan etwa bestimmt Literatur unter anderem mit Bezug auf das sich in der immer neuen Verschiebung der Zeichen nur indirekt aussprechende Begehren. Literatur fungiert hier als eine der Sprachen des Begehrens, »als Sprache, die das Begehren an eben dem Punkt ergreift, wo dieses sich vermenschlicht, indem es sich zu erkennen gibt«. Damit ist Literatur »zugleich das absolut Besondere des Subjekts«.89 Entsprechend dominieren in den literaturwissenschaftlichen Adaptionen der strukturalen Psychoanalyse Formulierungen vom »Textbegehren« der Literatur.90 Der Literatur wird die Aufgabe zugesprochen, den prekären Status der Subjektivität zu erweisen.91 Ein guter Teil der Kritischen Theorie wie dann besonders des Poststrukturalismus folgt dieser individuell-psychologischen Funktionsauffassung. Zuschreibungen therapeutischer Funktionen können hier ebenso anschließen wie Auffassungen von der Literatur als Kritik oder Subversion. Am Rand des Faches bleiben literaturpsychologische Untersuchungen zum tatsächlichen Leseverhalten, damit auch Untersuchungen zur Funktion von Literatur in Prozessen der Lese- und Bildungssozialisation.92 Solche Ansätze, die eine funktionsgeschichtliche Forschung empirisch begründen könnten, sind nicht zufällig aus der Disziplin Literaturwissenschaft in angrenzende Fächer wie die Bildungswissenschaften und die Psychologie ausgewandert. Es dominieren die individuell-psychologischen Funktionszuschreibungen anti-empirischer Ausrichtung, und diese gewinnen gerade in der Gegenstellung zur Empirie ihre kulturkritische Wirkung. Seit den 1990er Jahren werden die individuellen Funktionen der Literatur allerdings verstärkt in einen weiteren Rahmen gestellt, und es wird nach ihren evolutionsbiologischen bzw. -psychologischen Leistungen gefragt.93 _____________ 87 88 89 90 91 92 93
Barthes: Literatur, S. 35. So z.B. Freud: Das Unheimliche. Lacan: Funktion, S. 137. Z.B. Gallas: Textbegehren. Z.B. Kittler: Phantom. Groeben: Einleitung. Vgl. den Beitrag von Karl Eibl in diesem Band, auch Eibl: Kultur; Carroll: Darwinism; für Kunst generell vgl. Carroll: Art, S. 198-201.
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(2) Die zweite Gruppe von Funktionen, die Literatur zugeschrieben werden, bilden die kollektiv-sozialen. Hierunter fallen z.B. kultische Funktionen, religiöse und weltanschauliche Funktionen, Funktionen kollektiver Erinnerung sowie solche sozialer Distinktion. In aller Regel handelt es sich dabei um keine konstitutiven Funktionen; welcher Stellenwert ihnen für die Bestimmung von Literatur zugeschrieben wird, variiert aber mit den theoretischen Rahmenannahmen. Weit verbreitet ist die Überzeugung, Literatur habe eine genuin gesellschaftskritische Aufgabe. Schon in der Protosoziologie des 19. Jahrhunderts, dann aber prominent in der Entfremdungsthese Karl Marx’ sind die Kritik des Individuums und die Kritik der Gesellschaft aneinander gekoppelt. Literatur fungiert hier vor allem als Phänomen des ›Überbaus‹, das die realen sozialen Verhältnisse ›widerspiegelt‹. Literatur habe die Funktion, so Marx und Engels in der SickingenDebatte, die gesellschaftlichen Antagonismen möglichst treu und nicht tendenziös darzustellen.94 Literatur bezieht sich damit in doppelter Weise auf die tatsächliche Entwicklung der Gesellschaft: als dialektisches Ergebnis der gesellschaftlichen Gegensätze wie als ihr Abbild. Die Funktion von Lessings Dramen sei es gewesen, so Franz Mehring in seiner LessingLegende von 1893, dem aufstrebenden Proletariat gesellschaftliches Bewusstsein zu vermitteln.95 Aus Lessings Werk könne es lernen, welche klar bestimmte Funktion Literatur in der Verbürgerlichung der Gesellschaft eingenommen habe, die jetzt durch die Emanzipation der Arbeiterklasse abgelöst werde. Diesen und ähnlichen gesellschaftskritisch-emanzipatorischen Funktionen der Literatur redete Jean-Paul Sartre 1947 in seinem prominenten Essay »Qu’est-ce que la littérature« das Wort. Er verpflichtete die Literatur auf eine Praxis des Engagements gegen die Unverbindlichkeiten des Ästhetizismus und Surrealismus.96 Emanzipatorische Funktionszuweisungen an die Literatur wie die littérature engagée reichen mit unterschiedlichen Akzentuierungen über die Frankfurter Schule, die Birminghamer Cultural Studies und die Ansätze der Cultural Materialists bis in postkoloniale Ansätze hinein. Sie alle teilen die Auffassung, dass Literatur einerseits in einer – wie auch immer konzipierten – engen Beziehung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen stehe, in denen sie verfasst wird, und zugleich ein kritisches Potential habe, falsches Bewusstsein zu entlarven, soziale und kulturelle Identitäten zu bilden oder herrschende Ordnungen zu kritisieren. Außer dieser sozialkritischen Funktion der Literatur und ihrem emanzipatorischen Potential wurden in der Literaturwissenschaft auch der ›Wa_____________ 94 95 96
Vgl. Hinderer: Sickingen-Debatte. Vgl. z.B. Mehring: Schriften, S. 249. Sartre: Literatur.
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rencharakter‹ von Literatur und ihre sozialen Distinktionsfunktionen für Autoren und Leser in den Blick genommen. Trotz aller Unterschiede teilen die Kritische Theorie, sozialgeschichtliche Ansätze und Bourdieus Feldtheorie eine erhöhte Aufmerksamkeit für die sozialen Funktionen der Literatur. Autoren konkurrieren um Positionen im literarischen Feld, und ihre Texte sind von dieser Funktion nicht zu trennen: Dass Thomas Mann die Rolle des Ästheten aufgibt und politische Essays verfasst, ist mehr als eine poetische Entscheidung. Auffassungen wie die, dass Literatur eine Bildungsfunktion habe, zur Verfeinerung der Sitten beizutragen vermöge oder der Verbürgerlichung der Gesellschaft Vorschub leiste, sind Funktionszuschreibungen, die den Gegenstandsbereich des Faches Literaturwissenschaft auf die Agenten in der literarischen Kommunikation ausdehnen. (3) Als eigene und anders bestimmte Gruppe werden des Öfteren ästhetisch-formale Funktionen angeführt. Die Bezugsgröße sind hier die Texte selbst, so dass diese Funktionen auch als ›interne Funktionen‹ bezeichnet werden.97 Roman Jakobsons Annahme einer ›poetischen Funktion‹ der Sprache, die in Literatur dominiere, ist hier vor allem zu nennen.98 Wegen ihrer engen Bindung an sprachliche Merkmale der Texte ist sie oben im Zusammenhang mit den intrinsischen Merkmalen von Literatur behandelt worden. Funktionen in, nicht aber Funktionen von Literatur werden ebenfalls mit Bezug auf sprachliche Eigenschaften identifiziert, z.B. in der Metrik und rhetorischen Tradition, die zahlreiche Funktionen von Textelementen für den Text kennen, etwa solche der Ähnlichkeit wie Parallelismus, Reim oder Klimax, der Opposition wie die Antithese oder auch der Reihung. Auch für diese Gruppe gilt, dass ihre Funktionshypothesen nur selten empirisch überprüft wurden; im Unterschied zu anderen Annahmen über Funktionen von Literatur zählt die Erforschung ästhetischer Funktionen aber zum disziplinären Programm der Literaturwissenschaft. Unsere knappe Rekonstruktion verschiedener Funktionszuschreibungen hat zum einen ein heterogenes Bild der Funktionen ergeben, die für Literatur als charakteristisch oder als besonders wichtig aufgefasst worden sind. Zum anderen hat sie gezeigt, dass zur Bestimmung von ›Literatur‹ die Angabe einer oder mehrerer Funktionen nicht befriedigend ist. Kandidaten für konstitutive Funktionen der Literatur finden sich allenfalls in der dritten Gruppe, und für diese gilt derselbe Einwand wie für die intrinsischen Merkmale der Literatur. Ein pragmatischer Literaturbegriff kann auf die Angabe von Funktionen der Literatur verzichten; in der historischen Rekonstruktion des Phänomens ›Literatur‹, also auf der Objektebene, sind _____________ 97 98
Vgl. dazu Fricke: Funktion, S. 643. Jakobson: Linguistik, z.B. S. 108.
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Funktionszuschreibungen dagegen zweifellos wichtig und dienen der Differenzierung der Analyse. 4.3 ›Literatur‹ als Wertbegriff Wie schon mehrfach angeklungen ist, kann der Literaturbegriff im Fach in verschiedenen Funktionen eingesetzt werden. Als klassifikatorisches Konzept dient er zunächst einmal dazu, den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft abzugrenzen. Dabei sondert er Literatur von Nicht-Literatur, grenzt also eine große Gruppe von Texten aus dem Bereich des Literarischen aus. Dies ist eine an sich wertfreie wissenschaftliche Operation,99 will man nicht den Akt des Abgrenzens als solchen moralisch aufladen.100 Daneben kann der Literaturbegriff aber auch in einem wertenden Sinne eingesetzt werden und der Gruppe von Texten, die man als ›literarisch‹ bezeichnet, zugleich einen besonderen Status, eine Höherwertigkeit gegenüber den nicht-literarischen Texten zuweisen. Wer in diesem Sinne einem Text das Prädikat ›ist Literatur‹ zuschreibt, schreibt ihm damit nicht nur bestimmte Eigenschaften und Funktionen zu, sondern zugleich auch das Prädikat ›ist wertvoll‹. Das wertende Moment ist nicht auf die Verwendung des Literaturbegriffs in der Literaturwissenschaft beschränkt, sondern findet sich auch im täglichen Umgang mit Literatur. Unser kursorischer Durchgang durch die Literaturbegriffe verschiedener Theorien und der Blick auf die Funktionen, die Literatur zugeschrieben werden, haben gezeigt, dass ›Literatur‹ zum Teil über besondere Leistungen bestimmt wird, die nur diese Texte oder Praktiken, nicht aber nicht-literarische Texte oder Praktiken für den Einzelnen oder ein Kollektiv erbringen können. Auch wenn hier in einem zweiten Schritt eigentlich eine Gewichtung der unterschiedlichen Leistungen erfolgen müsste: dass die (imaginativen, emanzipatorischen etc.) Funktionen der Literatur besonders wertvoll sind, steht in der Regel außer Frage. Im nicht-professionellen Bereich entsprechen den theoriegeleiteten Bestimmungen von ›Literatur‹ z.B. bildungsbürgerliche Annahmen über den hohen kulturellen Wert der Beschäftigung mit Literatur, etwa für die Bildung der Persönlichkeit. In beiden Fällen wird der Literaturbegriff nicht allein als klassifikatorisches, sondern auch als wertendes Konzept eingesetzt. Dieses wertende Moment ist dem Literaturbegriff in der Geschichte seiner Ver_____________ 99 Siehe dazu den Beitrag von Klaus Weimar in diesem Band. 100 Dass die Gegenstände, die in den Untersuchungsbereich eines Faches fallen, für dieses Fach selbst wichtiger und in diesem Sinne ›wertvoller‹ sind als die, für deren Erforschung es über keine Verfahren verfügt, kann hier unberücksichtigt bleiben.
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wendung von Beginn an inhärent gewesen,101 und in der Alltagskommunikation über Literatur mag es seine Berechtigung haben. Für die Aufgaben einer vor allem historischen Literaturwissenschaft scheint es uns allerdings wenig fruchtbar.102 Die Übernahme der eigenen Wertungen und Wertmaßstäbe in die literarhistorische Arbeit sollte vermieden werden, da deren Ziel in der historischen Rekonstruktion und nicht in der ästhetischen Erziehung liegt und sich auch die Rückprojektion der eingeschränkten Wertmaßstäbe auf historische Perioden in eigentlich allen Fällen als intellektuell unergiebig erwiesen hat.103 5. Aspekte eines pragmatischen Literaturbegriffs In den beiden vorangehenden Abschnitten haben wir zwei Bedingungen gewonnen, denen der angestrebte Literaturbegriff genügen soll: (1) Er soll auch für die Untersuchung in historischen Situationen nutzbar sein, in denen es keinen Literaturbegriff gab oder in denen ein heute nicht mehr akzeptabler, z.B. zu enger oder normativer Begriff allgemeine Verwendung fand. Hierin drückt sich die angestrebte Verwendung des Literaturbegriffs aus, die seine Ausrichtung bestimmt: Er zielt hauptsächlich auf die historische Rekonstruktion des Umgangs mit Literatur, die Interpretation literarischer Texte sowie die Sicherung und Erschließung der wichtigsten dieser Texte in Editionen. Er soll eine Heuristik dafür bieten, welche Texte als ›literarisch‹ beschrieben werden können. Diese Bedingung soll keineswegs implizieren, dass der Gegenstand des Fachs nur auf diese Texte eingeschränkt wird, geht aber davon aus, dass die Differenz zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten eine Rolle spielt. Für die Arbeit des Literaturwissenschaftlers ist diese Differenz selbst dann relevant, wenn in der untersuchten Zeit kein abstrakter Begriff wie ›Literatur‹ verwendet wurde. (2) Zudem soll der Begriff Anschlussstellen für die Merkmale der Fiktionalität und Poetizität aufweisen, ohne sich in der Nennung dieser Merkmale aber schon zu erschöpfen. Bevor wir den oben schon skizzierten Begriff von Literatur als Set von Prototypen, die durch Familienähnlichkeit miteinander verbunden sind, weiter entfalten, soll im Folgenden erst einmal ein weiteres Merkmal des Literaturbegriffs diskutiert werden, dessen Implikationen unserer Meinung nach noch nicht richtig exploriert worden sind. Viele Bestimmungen von _____________ 101 Vgl. dazu genauer Rosenberg: Verhandlungen, S. 7-18; Weimar: Literatur, S. 446; Arntzen: Literaturbegriff, S. 24. 102 Vgl. dazu Winko / Jannidis / Lauer: Geschichte. 103 Ein Beispiel dafür stellt Schlaffers kurze Literaturgeschichte dar; vgl. Schlaffer: Geschichte.
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›Literatur‹ erwähnen zwar, dass es sich um Texte handelt, aber zumeist gerät diese Eigenschaft nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit.104 Das Phänomen ›Text‹ und ›Textualität‹ ist noch nicht sonderlich gut verstanden; hier interessiert uns vor allem ein Problem, das Klaus Weimar beschrieben hat:105 Der Textbegriff ist systematisch vieldeutig, wobei die Bedeutungen nicht unabhängig voneinander bestehen. Die Vorstellung, dass Texte stabil sind, verdankt sich der Auffassung von ›Text‹ als Zeichenkörper, also z.B. als Druckerschwärze auf dem Papier. Zugleich aber wird als ›Text‹ das Verstandene gefasst, das mentale Gebilde, das das Ergebnis eines komplexen Verstehensprozesses ist. Der Vorgang des Verstehens ist nicht nur von material vorgegebenen Zeichen und etwaigen generellen Codes abhängig, etwa dem Lexikon, sondern ebenso vom interpretativen Kontext, zu dem allgemein Weltwissen und insbesondere Wissen über die Textsorte, das Vorwissen über die spezifischen Gebrauchsregeln in diesem Zeichensystem, denen alle an der Kommunikation Beteiligten unterliegen, und allgemeinere Annahmen über die Funktion eines Textes in dem jeweiligen Kontext gehören.106 Entscheidend ist, dass dieser interpretative Kontext nicht etwas ist, das man vom Text loslösen kann, da der verstandene Text überhaupt nur in diesem Kontext gebildet wird und gebildet werden kann. In der Diskussion um moderne Kunst hat man die hohe Relevanz des Kontexts früh wahr genommen, wenn etwa beim ready-made Alltagsobjekte in einen Kontext gestellt werden, der diese – ohne jede Veränderung an den Gegenständen selbst – zu Kunstobjekten macht. Das hat zu einer Verunsicherung der Versuche geführt, die den Begriff der Kunst in erster Linie aus materialen Eigenschaften des Objekts ableiten wollten. Ähnliches gilt für den Literaturbegriff; ein oft angeführtes Beispiel dafür stellt Handkes Gedicht Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968 dar, das die Aufstellung einer Fußballmannschaft in einen deutlich als literarisch markierten Band übernimmt. Offensichtlich werden durch eine solche Operation nicht die Eigenschaften des Objekts verändert, dennoch hat das Objekt danach andere Eigenschaften – Handke hat auf diese Weise die _____________ 104 Eine gewisse Ausnahme bildet Jost Schneiders Definition, der den Aspekt der Fixiertheit als eines von drei Merkmalen bestimmt. Dieses Merkmal leitet sich aus der Eigenschaft von Literatur ab, dass es sich um Texte handelt, fokussiert allerdings vor allem den medialen Aspekt und beinhaltet nicht die weiteren, die hier eine Rolle spielen; vgl. Schneider: Sozialgeschichte. Die meisten neueren Bestimmungen des Literaturbegriffs fassen ihn so auf, dass er auch für Dichtung verwendet werden kann, die nur mündlich tradiert wird. Dem werden wir hier folgen. – Zum Textbegriff siehe den Beitrag von Ulla Fix in diesem Band. 105 Vgl. zum Folgenden Weimar: Text, S. 110ff. 106 Vgl. dazu auch Hausendorf: Linguistik, S. 322-325.
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Bedeutung des Textes verändert. Eine Klärung dieses Phänomens kann durch die Unterscheidung zwischen den beiden Aspekten des Textbegriffs vorgenommen werden. Zwar ändern sich nicht die materialen Eigenschaften des Textes, aber der Text als verstandenes mentales Gebilde ändert sich grundsätzlich.107 Vor diesem Hintergrund wird also der Umstand bedeutsam, dass literarische Texte immer auch Texte sind. Auch für sie gilt das eben zur Relevanz von Kontexten Gesagte: Texte können nur in interpretativen Kontexten verstanden werden, und im Fall literarischer Texte kommen noch literaturspezifische Kontexte dazu bzw. in den Fällen, in denen es keinen übergreifenden Literaturbegriff gibt, diejenigen der jeweiligen Gattung. Die Forschung zur naheliegenden Frage, wie Texte Kontexte aufrufen, stellt sich als höchst unübersichtlich und heterogen dar, schon weil der Prozess selbst sehr unterschiedlich modelliert wird. Weitgehende Einigung besteht über jeweils textspezifische Bezüge auf Thematisches, Motivisches, auf Sprechweisen und Diskursformen.108 Weniger beachtet sind dagegen die Kontexte, die nicht text-, sondern gattungs- oder eben auch literaturspezifisch sind. Solche Kontexte werden zumeist über paratextuelle Informationen aufgerufen und bedingen in vielfacher Weise, den Verstehensprozess.109 Da sie nicht, wie die individuellen Kontexte, für jeden Text ganz anders aussehen, sondern textübergreifend stabil sind, wenn auch natürlich historisch und kulturell höchst variabel, kann man auch vom ›institutionalisierten oder konventionalisierten Kontext‹ sprechen. Insgesamt ist es noch unklar, was alles typischerweise zu diesem Kontext gehört, dennoch lassen sich einige Aussagen darüber treffen, was wohl auf jeden Fall dazuzurechnen ist. Insbesondere von diskursanalytischer Seite wurde die Rolle des Autorkonzepts in diesem Kontext analysiert.110 Aspekte des Textes wurden kaum synthetisch zusammengebracht, sondern, wie oben erläutert, in eigenständigen Debatten zu den Konzepten ›Fiktionalität‹ und ›Poetizität‹. Allerdings ist die Diskussion zur Fiktionalität noch immer weitgehend an überzeitlichen Modellen interessiert und behandelt seltener die historisch varianten Erscheinungsformen fiktionaler Rede mit ihren jeweils spezifischen Referenzformen. Auch die Untersuchungen über die historischen Formen des Bedeutens stehen noch weitgehend am Anfang. Bekannt und erforscht sind zwar die markant vom modernen Umgang mit Literatur abweichenden Referenzmodelle wie der vierfache _____________ 107 Vgl. zu dieser Differenzierung noch einmal Weimar: Text, S. 110-113. 108 Vgl. die Arbeiten zur Intertextualität und Intermedialität, z.B. Rajewski: Intermedialität. 109 Vgl. z.B. Rabinowitz: Reading; Winko: Verstehen; Jannidis: Figur, Kap. 2. 110 Vgl. z.B. Foucault: Autor; Bosse: Autorschaft; und in kritischer Weiterführung Jannidis u.a.: Rückkehr.
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Schriftsinn und das typologische Denken im Mittelalter oder die Emblematik im Barock, und es liegen zahlreiche Einzelstudien zu autorspezifischen Konzepten nach dem Muster ›der Symbolbegriff bei Goethe‹ vor; übergreifende Untersuchungen, insbesondere für die Zeit nach dem Sturm und Drang, fehlen jedoch, soweit wir das überblicken können. Einen zentralen konventionalisierten Kontext jedes Textes stellt die Gattung dar, die wahrscheinlich auch in ausgeprägter Form die eben angesprochenen Aspekte und deren Aktivierung mitbestimmt. Gattungen lassen sich fruchtbar als prototypisch organisiert beschreiben, und es scheint uns, wie oben schon ausgeführt, phänomenadäquat und plausibel zu sein, den Begriff ›Literatur‹ als Ensemble von Gattungen zu konzipieren, die über eine Struktur der Familienähnlichkeit miteinander verbunden sind. Noch unklar ist unseres Erachtens, inwieweit der Werkbegriff eine fruchtbare Spezifizierung des Textbegriffs im Kontext von Literatur darstellt. Befürworter sehen darin die Möglichkeit, spezifische ästhetische Qualitäten literarischer Texte, die nicht auf der Textoberfläche sichtbar sind, regelhaft zu erfassen, während Gegner des Konzepts darauf hinweisen, dass er in unangemessener Weise ästhetische Qualitäten wie etwa Stimmigkeit oder Geschlossenheit universalisiert.111 Parallel zu diesen Aspekten des textbezogenen konventionalisierten Kontexts existiert ein weiterer, der die Tatsache, dass literarische Texte Teil einer Kommunikation sind, in den Hintergrund rückt; gemeint ist die erlebnishafte Wahrnehmung der Textwelt und der Geschichte. In der ästhetischen Diskussion ist von diesem Aspekt zumeist lediglich unter der Perspektive der Mimesis die Rede, die aber nur einen Teil des umfassenderen Bezugs darstellt. Erfassbar ist dieser Aspekt der Textwelt wohl prinzipiell mit Bezug auf die jeweiligen historischen Formen der Realitätskonstruktion. Sehr wahrscheinlich kann der Phänomenkomplex aber nur ganz erklärt werden, wenn man darüber hinaus auf anthropologisch fundierte Konzepte zurückgreift, wie sie zurzeit von der evolutionären Psychologie angeboten werden.112 Aber nicht nur produktions- und textbezogene Typisierungen bestimmen den konventionalisierten Kontext von Literatur, sondern auch zahlreiche Modelle des jeweils angemessenen Lesens bzw. der Rezeption. Hierzu zählen ebenfalls die oben schon angesprochenen Verstehensformen, darüber hinaus Modelle des Lesens als Praxis, angefangen mit der Körperhaltung, der Konzentration, der sozialen Konstellation, der aktiven oder passiven Teilhabe und anderes mehr.113 Ein inzwischen intensiv erforschter Aspekt _____________ 111 Zum Werkbegriff vgl. genauer Spoerhase: Werk. 112 Siehe dazu die Beiträge von Karl Eibl und Joseph Carroll in diesem Band. 113 Vgl. hierzu besonders Schön: Geschichte.
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der Rezeption (wie auch der Produktion) ist der Umstand, dass literarische Texte häufig Teil spezifischer Praktiken sind, in deren Vollzug sie gesungen, evtl. auch gemeinsam gesungen oder in festgelegter, von der Alltagsrede deutlich abweichender Art und Weise gesprochen, deklamiert und rezitiert werden oder auch szenisch umgesetzt werden. Die Konventionen der jeweiligen performativen Inszenierung von Texten sind also ebenfalls Teil des aufgerufenen institutionalisierten Kontexts.114 Der so umrissene Literaturbegriff soll, das sei noch einmal gesagt, der literaturwissenschaftlichen Arbeit dienen und dabei – als Beobachtungsbegriff auf einer Metaebene – vor allem die Besonderheiten des jeweiligen untersuchten literarischen Phänomens auf der Objektebene sichtbar machen. Seine Grenzen sind weit gesteckt, schon um die anders verlaufenden Grenzen des analysierten Konzepts zu illuminieren, aber eben nicht endlos weit. Ein in der historischen Forschung nützlicher Literaturbegriff kann unseres Erachtens also nur so bestimmt werden, dass die pragmatische Wende, die sich schon vor längerer Zeit als Königsweg erwiesen hat, radikalisiert und tatsächlich auf jeden Aspekt ausgeweitet wird. Entsprechend kann dies nicht über eine Enumeration von Merkmalen und ›universellen‹ Konventionen geleistet werden, sondern nur über historisch variable Merkmalskonstellationen und ebenso fluktuierende Typisierungen, die innerhalb des eben skizzierten Begriffsrahmens ausgeprägt werden. Die Nachteile eines solchen Vorschlags sind uns bewusst. Zum einen erweisen sich viele Texte, solange die Überlieferungslage sich nicht verbessert, als nur zum Teil verständlich, da eben nur die Texte selbst und viel zu wenig von dem hier skizzierten umfassenden Kontext überliefert ist. Zum anderen verlegt eine solche Bestimmung auch dem arbeitsökonomischen Verfahren, mit einer Interpretationsmethode historisch ganz unterschiedliche Texte anzugehen, den Weg oder erschwert ihn zumindest, indem die Voraussetzungen für die Übertragbarkeit durch die Anforderungen an die historische Adaptibilität deutlich ansteigen. Andererseits scheint uns der Gewinn eines solcherart bestimmten Begriffs gerade in seiner Distanzierungsleistung zu bestehen, da nicht mehr das Ferne zum Nahen wird, sondern auch schon das scheinbar nah Verwandte in seiner Fremdheit sichtbar, und somit der Erkenntnislust, aber auch dem Respekt vor dem Anderen Genüge getan wird.115
_____________ 114 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik, S. 31-57. 115 Wir danken Katrin Dennerlein und Tilmann Köppe für ihre Lektüre und kritischen Hinweise.
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I. Zum Begriff ›Literatur‹
SIMONE WINKO
Einleitung
Nach Rainer Rosenberg ist »die Geschichte des Literaturbegriffs so weitläufig und so verworren, daß einem der Mut, sich auf sie einzulassen, leicht abhanden kommen kann«.1 Dennoch hat er eine so informierte wie informative begriffsgeschichtliche Rekonstruktion dieses Konzepts vorgelegt. Mit seinem Anliegen steht Rosenberg bekanntlich nicht allein, vielmehr zählt sein Beitrag zu einer der drei großen Gruppen, in die sich die zahlreichen Studien zum Literaturbegriff einteilen lassen: Am häufigsten finden sich Arbeiten, die historisch rekonstruierend die Begriffsverwendungen anderer darstellen,2 sowie Beiträge, die auf eine eigene Bestimmung des Begriffs ›Literatur‹ zielen.3 Eine dritte Gruppe machen die metatheoretischen Reflexionen über den Literaturbegriff bzw. Literaturbegriffe aus.4 Sie thematisieren unter anderem die Bedingungen, unter denen der Begriff ›Literatur‹ bestimmt wird oder werden sollte, wie auch die Konsequenzen terminologischer Festlegungen für die Disziplin. Mischformen zwischen diesen Gruppen finden sich häufig. Während es in den meisten Beiträgen dieses Sammelbandes – dem leitenden Thema entsprechend – an mehr oder minder zentraler Stelle in rekonstruktiver oder festlegender Weise um den Literaturbegriff geht, sind die in dieser Sektion versammelten vier Beiträge der dritten Gruppe zuzuordnen. Sie behandeln allgemeine Probleme der Begriffsbildung, der Funktionen des Literaturbegriffs im Fach und der Ansprüche, die mit diesem Begriff verbunden werden, oder rekonstruieren von der Warte einer Nachbardisziplin einen Begriff, der in Diskussionen über den Literaturbegriff stets vorausgesetzt, aber selten thematisiert wird: den Textbegriff. Das Thema ›Grenzen der Literatur‹ kommt in diesen Beiträgen unter drei Aspek_____________ 1 2 3 4
Rosenberg: Geschichte, S. 36. Um nur zwei Beispiele anzuführen: Arntzen: Literaturbegriff; Weimar: Literatur. Z.B. Grimm: Literatur; ebenso die meisten Beiträge in Gottschalk / Köppe: Literatur. Vgl. z.B. Köppe: Literatur.
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Simone Winko
ten in den Blick: in Hinsicht auf die Begriffsdefinition, ihre Folgen für die Grenzziehungen im Gegenstandsbereich des Faches und die Grenzüberschreitung in Richtung auf eine andere Disziplin, die Linguistik, die sich beim näheren Betrachten gerade unter dem Aspekt der Textualität ihres Gegenstandes als besonders nahe verwandt erweist. Ausgehend von zwei signifikanten ontologischen Definitionen des Literaturbegriffs stellt Werner Strube die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Unternehmens, einen Standardbegriff von Literatur zu bilden oder den Bereich der Literatur einheitlich und fest zu begrenzen. In seiner genauen Rekonstruktion der Definitionen von ›Literatur‹, die Roman Ingarden und Roman Jakobson vorgelegt haben, zeigt er unter anderem, dass diese Definitionen zum einen von der Sache abhängen, d.h. mit Bezug auf den bereits als solchen klassifizierten Gegenstand ›Literatur‹ gebildet werden, dass sie zum anderen durch Vorannahmen der Definierenden bestimmt werden und drittens unscharf sind, d.h. sie können keine abgeschlossene Menge distinktiver Merkmale benennen. Mit den Definitionen des Literaturbegriffs ändern sich auch die Grenzziehungen: Zwei unterschiedliche Bestimmungen des Begriffs ›Literatur‹ führen zu unterschiedlichen Auffassungen von den Grenzen des Bereichs ›Literatur‹. Auch auf andere als sachanalytische Weise lassen sich keine allgemeingültigen Standarddefinitionen von ›Literatur‹ bilden, wie Strube abschließend am Beispiel von Eric D. Hirsch ausführt. Auf der Basis seiner differentialistischen Theorie argumentiert er für das Wittgensteinsche Konzept der Familienähnlichkeit als angemessenen Rahmen zur Bestimmung des Literaturbegriffs: Der Begriff ›Literatur‹ ist demnach als ein ›offener Begriff‹ zu konzipieren. Die Merkmale, die einen Text zu einem literarischen machen, können vage bestimmt und die Liste dieser Merkmale kann als unabgeschlossen aufgefasst werden. Literaturwissenschaftliche Umgangsweisen mit der Frage ›Was ist Literatur?‹ untersuchen die beiden folgenden Beiträge. Klaus Weimar fragt nach den Funktionen, die der Literaturbegriff im Fach hat. Zwar geht er davon aus, dass ein trennscharfer Literaturbegriff nicht notwendig ist, um auf allen literaturwissenschaftlichen Feldern ertragreiche Forschung zu ermöglichen, jedoch sieht er in den verschiedenen Bemühungen der Klärung dieses Begriffs durchaus sinnvolle Unternehmungen. Sie ziehen Grenzen zwischen den Bereichen ›Literatur‹ und ›Nicht-Literatur‹. Die Frage ›Was ist Literatur?‹ enthält nach Weimar zwei in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zueinander stehende Komponenten: Sie fragt zum einen nach den Gegenständen und richtet sich auf die Extension des Literaturbegriffs, zum anderen richtet sie sich als Frage, ›als was‹ Literatur gelten solle, auf die Intension des Begriffs ›Literatur‹. In diesem Sinne zielt der Literaturbegriff auf eine Klassifikation und hat damit weder die Funktion zu werten noch die zu normieren. Seine Leistung sieht Weimar stattdessen in jeweils zwei
Einleitung: Zum Begriff ›Literatur‹
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extensionalen und intensionalen Funktionen: Der Begriff bestimmt den Gegenstand der Literaturwissenschaft, indem er einen Teilbereich aller Texte als literarisch abgrenzt; und er hat die Funktion, den Gegenstand des Faches theoretisch zu beschreiben und dabei das Unterscheidungskriterium zu entwickeln, das zur Abgrenzung der Gruppe literarischer Texte eingesetzt wird. Auch Oliver David Krug, Hans Harald Müller und Tom Kindt nehmen eine Metaperspektive ein, wenn sie die Absichten untersuchen, mit denen die Frage ›Was ist Literatur?‹ verbunden sein kann, und die Konsequenzen herausstellen, die die Antworten auf diese Frage nach sich ziehen. Sie unterscheiden zwei Varianten der Frage: Während die erste auf eine Begriffsanalyse zielt, unterstellt die zweite einen – je nach Position unterschiedlich stark bestimmten – Zusammenhang zwischen der Definition des Begriffs ›Literatur‹ und den Methoden des Faches Literaturwissenschaft. Diese zweite Variante ist insofern höchst problematisch, als der angenommene Übergang zwischen Begriffsbestimmung und Methodik auf überzeugende Weise gerechtfertigt werden müsste, was bislang nicht geschehen ist. Vor welchen Schwierigkeiten solche Versuche stehen, machen die Autoren deutlich. Für aussichtsreich dagegen halten Krug, Müller und Kindt das begriffsanalytische Anliegen, das entsprechend der Verwendungsvielfalt von ›Literatur‹ in zahlreichen Rekonstruktionen umgesetzt werden muss. Ulla Fix behandelt nicht den Literaturbegriff und seine Verwendungsweisen, sondern bietet einen Überblick über neuere linguistische Textbegriffe. Damit thematisiert sie eine in der Debatte über den Literaturbegriff meist implizit bleibende Prämisse: Literarische Texte sind eben auch Texte, und die Implikationen des vorausgesetzten Textbegriffs in der Bestimmung von ›Literatur‹ werden zu selten reflektiert. In der sprachwissenschaftlichen Debatte findet Fix dieselben Polarisierungen wie in der literaturwissenschaftlichen: Einer zunehmend ausgeweiteten Auffassung von ›Text‹ steht ein enger, auf die sprachlichen Strukturen bezogener Textbegriff gegenüber. Für Fix geht es hier allerdings nicht um ein Entweder-Oder, sondern um einander ergänzende Perspektiven. Sie rekonstruiert mehrere weite Textbegriffe, die nach der ›pragmatischen Wende‹ auch in der Textlinguistik entwickelt worden sind, und fragt nach ihren Konsequenzen für die Auffassung von ›Literatur‹. Diese Textbegriffe erweitern die engeren textlinguistischen Konzepte z.B. um thematisch-semantische, handlungsorientierte, kognitionsbezogene und – in den neueren Arbeiten zum Stil – semiotische Aspekte und beziehen mit der Frage nach multiplen Kodes, Medialität und Intertextualität auch solche Überlegungen ein, die für die literaturwissenschaftliche Theoriebildung wichtig geworden sind. Fix’ Beitrag plädiert für eine erneute verstärkte Zusammenarbeit von Sprach- und
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Simone Winko
Literaturwissenschaft – eine Kooperation, für die die erweiterten linguistischen Textbegriffe eine geeignete Basis darstellen. Bibliographie Arntzen, Helmut: Der Literaturbegriff. Geschichte, Komplementärbegriffe, Intention. Eine Einführung. Münster 1984. Gottschalk, Jürn / Tilmann Köppe (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie. Paderborn 2006. Grimm, Thomas: Was ist Literatur? Versuch einer Explikation eines erweiterten Literaturbegriffs. Neuried 2000. Köppe, Tilmann (Hg.): »Was ist Literatur?« Bemerkungen zur Bedeutung der Fragestellung. In: Gottschalk / Köppe: Literatur, S. 155-174. Rosenberg, Rainer: Eine verworrene Geschichte. Vorüberlegungen zu einer Biographie des Literaturbegriffs. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20/77 (1990), S. 36-65. Weimar, Klaus: Literatur, Literaturgeschichte, Literaturwissenschaft. Zur Geschichte der Bezeichnungen für eine Wissenschaft und ihren Gegenstand. In: Christian Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Würzburg 1986. Stuttgart 1988, S. 9-23.
WERNER STRUBE
Die Grenzen der Literatur oder Definitionen des Literaturbegriffs
Einleitung Um Aufschlüsse über die Grenzen der Literatur, genauer: des Literaturbereichs, zu gewinnen, analysiere ich die Definition des Literaturbegriffs. Da ich voraussetze, dass es die – oder die eine ›richtige‹ – Definition des Literaturbegriffs nicht gibt, gehe ich von zwei signifikanten Literaturdefinitionen des 20. Jahrhunderts aus, nämlich den Definitionen Ingardens und Jakobsons. Im 1. Teil meiner Untersuchung stelle ich diese Literaturdefinitionen sowie die Literaturtheorien vor, in deren Rahmen sie stehen. Im 2. Teil charakterisiere ich die betreffenden Definitionen vor allem im Hinblick auf ihre Abhängigkeit von der Sache einerseits und vom Definierenden andererseits. Im 3. Teil mache ich die Grenzen des Literaturbereichs zum Thema, die selbstverständlich ebenfalls von der Sache wie vom Definierenden abhängig sind. Nach der Zusammenfassung der Ergebnisse im Schlussteil gehe ich in einem Anhang auf das Problem ein, ob die Bildung eines Standardbegriffs von Literatur sowie das Ziehen einheitlicher und fester Grenzen des Literaturbereichs überhaupt ein sinnvolles Ziel literaturtheoretischer Unternehmungen ist. 1. Teil Ingarden und Jakobson1 legen Definitionen des Literaturbegriffs vor,2 die hinreichend klar, philosophisch fundiert und in sachanalytischer bzw. onto_____________ 1
Der im vorliegenden Zusammenhang wichtigste Text Ingardens ist Das literarische Kunstwerk, in 2. Auflage 1960 erschienen, künftig zitiert als LK. – Die wichtigsten Texte Ja-
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Werner Strube
logischer Orientierung durchgeführt sind. Im Hinblick auf letzteres Merkmal gilt: Ingarden und Jakobson bestimmen das Wesen der Sache namens ›Literatur‹,3 nämlich die Grundstruktur des literarischen Werks und Kunstwerks (Ingarden) bzw. die Grundeigenschaften der Poesie (Jakobson). In historischer Hinsicht sei hinzugefügt, dass die betreffenden Definitionen als klassisch gelten können: Sie sind für die traditionelle Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts – oder genauer: für bestimmte literaturwissenschaftliche Schulen dieses Jahrhunderts – mustergültig oder maßgeblich.4 – Ich stelle _____________
2
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kobsons finden sich in: Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, künftig zitiert als P. Den Begriff ›Literatur‹ nehme ich als Sammelbegriff: als eine Art Zusammenfassung dessen, was mit Bezeichnungen wie ›literarisches Werk‹, ›literarisches Kunstwerk‹, ›sprachliches Kunstwerk‹, ›Poesie‹, ›Dichtung‹, ›Schöne Literatur‹ usw. gemeint ist. Den Begriff ›Definition‹ verwende ich in einem weiten und relativ vagen Sinne, also nicht nur für die (Aristotelische) Definition per genus et differentiam. (Ich setze voraus, dass es die Art und Weise des Definierens gar nicht gibt. Vgl. hierzu Strube: Philosophie der Literaturwissenschaft, S. 25, 29). Dazu, dass Ingardens und Jakobsons Literaturtheorie ontologisch orientiert bzw. auf die wesentlichen Eigenschaften der Literatur gerichtet sind, siehe bes. LK 16, und Holenstein über Jakobson in Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 12ff. – Charakteristisch für die ontologisch orientierte Literaturtheorie ist die These, dass die Grenzen der Literatur ›von Natur‹, nämlich durch Texteigenschaften, bestimmt sind. Man kann die ontologische Literaturtheorie mit Eagleton (siehe Eagleton: Einführung, S. 10) der funktionalistischen Literaturtheorie gegenüberstellen, die Eagleton selber propagiert. Bei Eagleton heißt es, »dass Literatur nicht wirklich ›objektiv‹ definiert werden kann. Die Definition von Literatur hängt […] von der Entscheidung des Einzelnen ab, wie er etwas liest, und nicht von der Natur des Geschriebenen« (ebd., S. 9). – Ich füge hinzu, dass Eagleton allerdings doch so etwas wie eine ›objektive‹ traditionelle Literaturdefinition zu kennen scheint, wenn er Literatur als ›nicht-pragmatischen‹ Diskurs bestimmt: »Ungleich Biologiebüchern und Zetteln für den Zeitungsboten erfüllt sie keinen unmittelbaren praktischen Zweck, sondern soll als etwas aufgefasst werden, was auf den allgemeinen Zustand der Welt verweist.« (ebd., S. 8) Ingardens Literaturdefinition wird in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts für die so genannte Werkimmanente Schule maßgeblich. Deren wichtigster Vertreter Wolfgang Kayser beruft sich ausdrücklich auf Ingarden (siehe Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 17). Um die Nähe Kaysers zu Ingarden zu markieren, greife ich auf Ergebnisse meiner Ingarden-Untersuchung voraus und sage: Wie Ingarden geht es Kayser um die »ontologische Eigenheit« von Dichtung bzw. Schöner Literatur (ebd., S. 16); wie Ingarden lehnt er die psychologistische Auffassung des literarischen Kunstwerks entschieden ab (siehe ebd., S. 17); wie Ingarden sieht er den Satz als das zentrale Moment der bedeutungstragenden Schicht an (siehe ebd., S. 13); und wie Ingarden erklärt er den organisch-harmonisch bestimmten Gefügecharakter zu derjenigen Eigenschaft, die den literarischen Text von nicht-literarischen Texten unterscheidet (siehe ebd., S. 13, 14). – Auf Jakobson berufen sich seit den 1970er Jahren Literaturwissenschaftler, die in der Begründung der Literaturwissenschaft in der Linguistik eine Möglichkeit zur ›Szientifizierung der Literaturwissenschaft‹ sehen und sich zu einer linguistisch-struk-
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im Folgenden die Literaturtheorien (1) Ingardens und (2) Jakobsons als Theorien dar, die sozusagen auf eine bestimmte Literaturdefinition hinauslaufen. (1) Ingardens Theorie und Definition der Literatur. Roman Ingarden beschreibt in seinem 1931 erschienenen Buch Das literarische Kunstwerk das Wesen oder die Grundstruktur (siehe LK 4) des literarischen Werks und dann auch des literarischen Kunstwerks ausdrücklich auf der Basis der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserls, nämlich in reiner Wesensforschung (siehe LK X u.ö.). Zunächst bestimmt Ingarden das Wesen des literarischen Werks im Hinblick auf die Seinsweise dieses Werks. Das literarische Werk ist ihm ein Gegenstand, der ein physisches Seinsfundament hat: Es (das literarische Werk) besteht aus einer bestimmt geordneten Mannigfaltigkeit von geschriebenen oder gedruckten Schriftzeichen (siehe LK 9) und ist insofern ein realer Gegenstand. Das literarische Werk ist zugleich aber auch ein idealer Gegenstand: Es besteht ja aus einer bestimmt geordneten Mannigfaltigkeit von Sätzen, die ihrerseits aus Wörtern zusammengesetzt sind, die eine ideale Bedeutung haben, d.h. ideale Gegenständlichkeiten repräsentieren (LK 8).5 – Mit der These eines (auch-)idealistischen Seinsfundaments sind psychologistische Auffassungen des literarischen Werks verworfen, und zwar sowohl die Auffassung, das literarische Werk sei »nichts anderes als das, was der Verfasser bei seiner Entstehung erlebt hat« (LK 9), als auch die Auffassung, das literarische Werk sei »nichts anderes […] als eine Mannigfaltigkeit der von den Lesern bei der Lektüre erlebten Erlebnisse« (LK 10). Der Hauptgrund für das Zurückweisen dieser psychologistischen Auffassungen sowie für das Behaupten der ontologisch-idealistischen These ist dieser: Beide psychologistischen Auffassungen sind außerstande, die »Identität des literarischen Werkes« (LK 9) zu erklären, d.h. zu erklären, dass das betreffende literarische Werk in allen Lektüren, Interpretationen, kritischen Würdigungen usw. ein und dasselbe bleibt. Hingegen ist mit Hilfe der These vom (auch-)idealistischen Seinsfundament des literarischen Werkes dessen Identität zureichend erklärbar. – Für die idealistische, auf das Wesen des literarischen Werkes gerichtete Bestimmung ist signifikant, dass mit der vollzogenen ›ontologischen Reduktion‹ alle Fragen ausgeklammert sind, die das dichterische Schaffen und den biographistischen Zugang zum literarischen Werk betreffen. Nach Durchführung der ontologischen Reduktion des literarischen Werks beschreibt Ingarden dessen »Grundstruktur« (LK 25) oder, mit Husserls be_____________
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turalistischen Schule formieren. (Ingardens und Jakobsons Literaturbegriffe werden so, nebenbei bemerkt, zu institutionellen oder Schulbegriffen.) Das Wort ›ideal‹ ist hier im Sinne der Platonischen Philosophie gebraucht (vgl. LK XII).
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kanntem Ausdruck, dasjenige, was wesensnotwendig zum literarischen Werk gehört: »Die wesensmäßige Struktur des literarischen Werkes liegt u.E. darin, dass es ein aus mehreren heterogenen Schichten aufgebautes Gebilde ist« (LK 25), und zwar aufgebaut aus der Schicht der Wortlaute, der Schicht der Bedeutungseinheiten, der Schicht der schematisierten Ansichten sowie der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeit (LK 26). Wesensnotwendig ist darüber hinaus, dass die heterogenen Schichten organisch verbunden und sozusagen zu einer Polyphonie verfugt sind: Das literarische Werk bildet »kein loses Bündel von zufällig nebeneinander gereihten Elementen, sondern einen organischen Bau, dessen Einheitlichkeit gerade in der Eigenart der einzelnen Schichten gründet« (LK 25). Und wenig später spricht Ingarden von dem »vielschichtigen polyphonen Aufbau« als der »wesensmäßigen Grundstruktur des literarischen Werkes« (LK 27). Nachdem Ingarden die Grundstruktur des literarischen Werks in neun Kapiteln ausführlich beschrieben hat, kommt er im 10. Kapitel seines Buchs auf das literarische Kunstwerk zu sprechen, das sich vom literarischen Werk in zwei Punkten unterscheidet: (a) In ihm kommen metaphysische Qualitäten zur Erscheinung, und (b) es ist derart aufgebaut, dass die verschiedenen Schichten des Werks miteinander harmonieren: »Die polyphone Harmonie ist eben die ›Seite‹ des literarischen Werkes, die nebst den in ihm zur Offenbarung gelangenden metaphysischen Qualitäten das Werk zu einem Kunstwerk macht.« (LK 395) – Die Aussage, dass die metaphysischen Qualitäten das literarische Werk zu einem literarischen Kunstwerk machten, sei kurz und in engem Anschluss an Ingarden erläutert. Im literarischen Kunstwerk scheint die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeit das wichtigste Element zu sein bzw. dasjenige, »um dessentwillen alles andere […] vorhanden ist« (LK 308), und »tatsächlich richtet sich auch unsere aufmerksame Intention bei der Lektüre eines Werkes vor allem auf die dargestellten Gegenständlichkeiten« (LK 308). Wenn man die gegenständliche Schicht als das Wichtigste ansieht, übersieht oder unterschätzt man allerdings meistens das, was zwar unmittelbar von der gegenständlichen Schicht abhängt, aber gerade den »Kern« des literarischen Kunstwerks bildet, nämlich die Schicht der metaphysischen Qualitäten (LK 309). »Die wichtigste Funktion« gerade der »dargestellten gegenständlichen Situationen« ist die, »dass sie bestimmte metaphysische Qualitäten [sc. Qualitäten wie das Erhabene, Tragische, Heilige, Groteske, Heitere (siehe LK 310), W.S.] zur Schau tragen, sie offenbaren.« (LK 313).6 Wichtig ist in diesem Zusammenhang folgende negative Charakterisierung: Das literarische Kunstwerk offenbart zwar ›Metaphysisches‹, aber nicht in der oft unterstellten primitiven Weise, dass es eine Idee im Sinn einer ›Wahrheit‹ bzw. eines wahren rationalen Sinns offenbarte (LK _____________ 6
Zum Charakter dieser metaphysischen Qualitäten siehe bes. LK 311f. sowie unten S. 61f.
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310).7 Wer das literarische Kunstwerk als Enthüllung einer in diesem Sinne verstandenen Idee nimmt, verwechselt es mit Tendenzliteratur. Ich ziehe Ingardens Aussagen zu folgenden Definitionen des literarischen Werks bzw. Kunstwerks zusammen: Das für das literarische Werk Wesentliche ist der polyphone Aufbau dieses Werks aus mehreren Schichten. Das für das literarische Kunstwerk Wesentliche ist, dass die Polyphonie eine harmonische ist und dass mittels der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeit metaphysische Qualitäten wie das Tragische zur Erscheinung gelangen.8 (2) Jakobsons Theorie und Definition der Literatur. Ähnlich wie Ingarden deckt Roman Jakobson das Wesen der Sache namens ›Literatur‹ (bei ihm: »Poesie«) auf: die »unabdingbare Eigenschaft eines Dichtwerks« (P 94) bzw. dessen Grundeigenschaften (P 110f.). Anders als Ingarden charakterisiert Jakobson die wesentlichen Eigenschaften der Poesie allerdings vom Standpunkt der traditionellen empirischen Wissenschaft aus, die nomothetisch bzw. am Paradigma der klassischen Naturwissenschaft orientiert ist. »Für Jakobson sind«, wie Holenstein sagt, »Linguistik, Poetik und Literaturwissenschaft nomothetische Wissenschaften.«9 Zunächst, etwa in seinem 1934 erschienenen Aufsatz »Was ist Poesie?«, bestimmt Jakobson die Poesie in funktionaler Analyse: Während die Alltagssprache dem praktischen Ziel der Kommunikation und Kooperation dient – und deshalb sozusagen über sich selbst auf außersprachliche Objekte (einschließlich Aktivitäten) hinausweist –, ist für die Poesie »die poetische Funktion, die Poetizität« (P 78) wesentlich, die sich darin manifestiert, »daß das Wort als Wort und nicht als Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausdruck empfunden wird« (P 79). Schon 1921 hatte Jakobson gesagt, Poesie sei »nichts anderes als eine Äußerung mit Einstellung auf den Ausdruck« (P 11).10 In der Poesie ist die poetische Funktion dominant: »Gewinnt in einem Wortkunstwerk die Poetizität, die poetische Funktion, richtungweisende Bedeutung, so sprechen wir von Poesie.« (P 79) _____________ 7 8
9
10
Näheres hierzu in: Strube: ›Wahrheit‹, auf Kunstwerke bezogen, S. 332f. Diese Literaturdefinition impliziert, nebenbei bemerkt, eine Entscheidung über die Art des literaturwissenschaftlichen Umgangs mit literarischen Kunstwerken. So folgt aus der Bestimmung der real-idealen Seinsweise des literarischen Werkes, dass nur die werkimmanente, nicht aber die psychologistisch-biographistische Interpretation diesem Werk adäquat sein kann (vgl. LK XI, 6ff.). Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 107. Vgl. ebd.: Wie die anderen russischen Formalisten setzt auch Jakobson »zu einer streng wissenschaftlichen Fundierung der Literaturwissenschaft an«. Auf der gleichen Seite weist Holenstein darauf hin, dass Jakobsons Aufsätze zur Geschichte der Linguistik in Bd. 2 der Selected Writings die Überschrift »Toward a Nomothetic Science of Language« tragen. Dies Charakteristikum der poetischen Funktion wird später öfter, z.B. bei Umberto Eco, ›Autoreflexivität‹ genannt.
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In späterer Zeit – und am eindrücklichsten in seinem Aufsatz »Linguistik und Poetik« (1960) – ergänzt Jakobson die funktionale durch eine strukturale Analyse, d.h. durch eine linguistisch orientierte Analyse, die die Struktur der poetischen Funktion zum Gegenstand hat. Jakobson stellt die Frage »Was ist das empirische linguistische Kriterium der poetischen Funktion? Anders gesagt, worin besteht die unabdingbare Eigenschaft eines Dichtwerks?« (P 94) Und Jakobson beantwortet diese Frage folgendermaßen: In der Alltagssprache ist auf der Achse der Selektion das Prinzip der Äquivalenz und auf der Achse der Kombination das Prinzip der Kontiguität maßgeblich:11 Der Sprecher, der (nehmen wir an) einen Subjekt-Prädikat-Satz aus einem Substantiv und einem Verb bildet, wählt aus einer Reihe mehr oder weniger bedeutungsähnlicher Substantive eines aus und kombiniert es, orientiert am betreffenden außersprachlichen Sachverhalt, mit einem Verb, das er aus einer Reihe mehr oder weniger bedeutungsähnlicher Verben auswählt. In der Poesie hingegen sind die Verhältnisse anders: »Die poetische Funktion projiziert [überträgt12] das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.« (P 94) Typisch für die Poetizität ist der Parallelismus (P 107), der auf phonologischer Ebene etwa in Gestalt von Metrum und Reim (siehe P 95),13 auf syntaktischer Ebene etwa in Gestalt parallel gebauter Wörterfolgen, auf semantischer Ebene etwa in Gestalt von Gleichnis und Metapher auftritt (siehe P 107f.). Die verschiedenen Ebenen sind auch – und gerade – in der poetischen Sprache miteinander verbunden: Vers und Reim sind für Jakobson primär zwar wiederkehrende Klangfiguren, aber sie sind nicht nur solche Klangfiguren; sie wirken sich auf die Bedeutungsebene aus, d.h. sie haben sekundär etwa auch eine emotive und/oder konative Funktion.14 Von besonderer Wichtigkeit ist in diesem Zusammenhang eine Änderung, die der spätere Jakobson in Beziehung auf die referentielle Funktion der poetischen Sprache durchführt. In seiner Frühzeit vertritt Jakobson die Auffassung, dass »in der Dichtung der dingliche Bezug der Sprache entfällt«.15 Anders in dem Aufsatz »Linguistik und Poetik«, in dem Jakobson folgende These formuliert: »Der Vorrang der poetischen Funktion vor der referentiellen löscht _____________ 11 12 13 14
15
Zu den Operationen der Selektion und Kombination sowie zu den genannten Prinzipien siehe bes. Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 142ff. Holensteins Übersetzung in Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 150. Jakobson sagt in »Linguistik und Poetik«: »Der Reim stellt nur einen speziellen, verdichteten Fall eines viel allgemeineren, wenn nicht des fundamentalen Prinzips der Dichtung dar, nämlich des Parallelismus.« (P 107) Eine knappe, aber übersichtliche Darstellung der strukturellen Prinzipien findet sich in: Eimermacher: Formalistische Analysen, S. 71. (Siehe dort Eimermachers Aussagen über »die Auffassung von der […] dynamischen Interkorrelativität aller für einen Text konstitutiven Elemente«.) Nach Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 93.
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den Gegenstandsbezug nicht aus, sondern macht ihn mehrdeutig.« (P 111) Danach tritt also zu dem von Jakobson seit jeher vertretenen Prinzip der Autoreflexivität die Mehrdeutigkeit oder Ambiguität als eine zweite »Grundeigenschaft der Dichtung« (P 110f.) hinzu.16 Ich ziehe Jakobsons Aussagen zu folgenden Definitionen der Poesie bzw. Poetizität zusammen: Für die Poesie ist wesentlich, dass in ihr die poetische Funktion, die Poetizität, dominiert, die sich durch Autoreflexivität auszeichnet. Für die empirisch-linguistische Struktur der Poetizität sind Äquivalenz bzw. Parallelismus wesentlich – was hinsichtlich der Lautebene die regelmäßige Wiederkehr lautlicher Einheiten bedeutet und hinsichtlich der Bedeutungsebene Mehrdeutigkeit.17 2. Teil Im 2. Teil wende ich mich der sprachanalytischen Charakterisierung der Literaturdefinitionen Ingardens und Jakobsons zu. Um zunächst noch einmal das zu Beginn des 1. Teils Gesagte aufzunehmen und zu verdeutlichen: Ingarden und Jakobson sind sachanalytisch oder ontologisch orientiert. Dies heißt: (a) Es geht ihnen nicht um eine lexikographische Erklärung des Wortes ›Literatur‹ (oder darum, eine Angabe über eine beobachtete Synonymität zweier Ausdrücke, etwa der Ausdrücke ›Literatur‹ und ›schöngeistiges Schrifttum‹, zu machen). (b) Es geht ihnen nicht um eine sprachökonomische Festlegung des Wortes ›Literatur‹ (oder darum, einen längeren und umständlicheren Ausdruck durch den kurzen Ausdruck ›Literatur‹ zu ersetzen).18 (c) Es geht ihnen um das, was man traditionell eine Sacherklärung nennt oder – genauer – eine Wesensbestimmung: eine Wesensbestimmung der Sache namens ›Literatur‹.19 _____________ 16 17
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Der in diesem Zusammenhang zentrale Satz Jakobsons lautet: »Mehrdeutigkeit [ambiguity] ist eine unabdingbare, unveräußerliche Folge jeder in sich zentrierten Mitteilung, kurz eine Grundeigenschaft der Dichtung.« (P 110f.) Diese Literaturdefinition impliziert, nebenbei bemerkt, folgende Entscheidung über die Art des literaturwissenschaftlichen Umgangs mit Poesie: Die betreffenden Texte sind einer »objektiven wissenschaftlichen Analyse« (P 86) zu unterwerfen, die, näher besehen, eine phonologische, morphologische und lexikalische Analyse ist (siehe P 108). Aus anderer Perspektive: Es geht Ingarden und Jakobson nicht (a) um die lexikalische oder (b) um eine stipulative Bedeutung des Wortes ›Literatur‹. Mit einem Terminus Husserls: Es geht Ingarden und Jakobson um die eidetische Phänomenologie der Literatur. Ingarden will »eine ›Wesensanatomie‹ des literarischen Werkes geben« (LK 2). Jakobson steht, wie Holenstein darlegt, der eidetischen Phänomenologie nahe, als deren Anliegen Holenstein »die Erfassung der Wesensmerkmale« nennt, »die den Gegenständen derselben Art gemeinsam sind« (Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 14).
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Die von Ingarden und Jakobson vorgelegten Wesensbestimmungen der Literatur sollen im Folgenden analysiert werden im Hinblick auf ihre Abhängigkeit (1) von der Sache, (2) vom Definierenden sowie im Hinblick (3) auf die Unschärfe der Definition. (1) Abhängigkeit der Literaturdefinition von der Sache. Der klassische Literaturtheoretiker20 ermittelt das Wesen der Literatur (a) im Ausgang von Beispielen, also bestimmten Texten, (b) im Blick auf die (für ihn) wesentlichen oder signifikanten Eigenschaften dieser Texte und (c) derart, dass er diese Eigenschaften anschauend erfasst und in ›Feststellungen über die Sache‹ fixiert. (d) Wegen ihrer Abhängigkeit von der Sache kann die betreffende Literaturdefinition als eine deskriptive Analyse der Sache namens ›Literatur‹ angesehen werden. (a) Der klassische Literaturtheoretiker wählt, von seinem ›Vorbegriff‹ von ›Literatur‹ geleitet (s.u.), bestimmte unzweideutige Beispiele – und gelegentlich unzweideutige Gegenbeispiele – aus, anhand derer er das Wesen des literarischen Kunstwerks bzw. der Poesie ermittelt. Ingarden geht von Exemplaren einer Literatur aus, die er »die sog. ›schöne Literatur‹« nennt; namentlich führt er die Ilias Homers, Dantes Göttliche Komödie, Schillers Dramen und Thomas Manns Roman Der Zauberberg an (siehe LK 4).21 Gegenbeispiele sind ihm unter anderem »alle ›wissenschaftlichen Werke‹, die sich von den Werken der sog. ›schönen Literatur‹, die wir da untersuchen wollen, deutlich unterscheiden« (LK 5) und die mit eben dieser sog. schönen Literatur letztendlich »nicht vergleichbar« sind. Jakobson geht von metrisch gebundener Dichtung aus, im Besonderen von der slawischen Volksdichtung, etwa von russischen Hochzeitsliedern. Den Grund für die Wahl dieser Ausgangsbeispiele gibt Jakobson ausdrücklich an: »In der Folklore finden sich die am prägnantesten gegliederten und stereotypisierten Formen der Dichtung, die sich besonders für die strukturale Forschung eignen […].« (P 108) – Allbekannt ist Jakobsons exemplarische Einführung des Poetizitätsprinzips mit Hilfe von alltagssprachlichem Beispiel und Gegenbeispiel: Beispiel der poetisch ›funktionierenden‹ Alltagssprache ist die Wendung »horrible Harry«, Gegenbeispiel – und typisches Beispiel der nicht-poetischen oder ›praktischen‹ Alltagssprache – ist die Wen-
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Mit ›klassischer Literaturtheoretiker‹ ist der für eine bestimmte literaturwissenschaftliche Schule maßgeblich gewordene ontologisch orientierte Literaturtheoretiker gemeint – Ingarden, Jakobson oder ein Theoretiker ähnlicher Art –, mit ›Literaturdefinition‹ die von einem klassischen Literaturtheoretiker vollzogene Definition des Literaturbegriffs. Um die Unterschiede in der Beispielwahl Ingardens und Jakobsons geht es hier, wo der Sachbezug überhaupt der Definitionen deutlich gemacht werden soll, noch nicht.
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dung »terrible Harry«, die, anders als »horrible Harry«, keine Gleichheit des Anlauts aufweist.22 An dieser Stelle sei auf einen forschungspsychologisch wichtigen Sachverhalt hingewiesen: Die Auswahl der Beispiele beginnt nicht mit einem ›geklärten‹ Begriff von Literatur, sondern – wie es bei Ingarden heißt – mit Beispielen, die nur »mit einer gewissen Sicherheit Beispiele von literarischen Werken« (LK 337) sind; oder in etwas anderer Formulierung: Am Anfang stehen »ursprüngliche und zunächst ungeklärte Intuitionen« (LK 337) dessen, was das Wesen des literarischen Werks und Kunstwerks ausmacht.23 Im Laufe der Untersuchung werden diese Intuitionen geklärt, so dass sich ein klarer und deutlicher (was einschließt: ein vollständiger) Begriff des literarischen Werks und Kunstwerks erst am Ende der Untersuchung ergibt.24 (b) Der klassische Literaturtheoretiker ist auf die (für ihn) wesentlichen oder signifikanten Eigenschaften der ausgewählten Textbeispiele gerichtet oder, wie man auch sagen könnte, auf bestimmte zwischen den Texten bestehende Ähnlichkeiten.25 Orientiert an Beispielen der sog. schönen Literatur, etwa an Dramen Schillers, weist Ingarden auf, dass es in literarischen Kunstwerken neben anderen Schichten die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeit gibt, in der bestimmte metaphysische Qualitäten – Qualitäten wie das Tragische – gründen bzw. zur Erscheinung gelangen. Jakobson, in erster Linie an Beispielen der slawischen Folklore orientiert, »deckt poetische Konventionen wie Metrum, Alliteration und Reim« (P 106) auf: regelmäßig wiederkehrende äquivalente Einheiten (siehe P 95), die ebenso wie die von Ingarden auf_____________ 22 23
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Siehe Jakobson: Linguistics and Poetics, S. 26. Vgl. die entsprechenden deutschen Beispiele – und Gegenbeispiele – in P 94, 93. An anderem Ort spricht Ingarden davon, dass die Beispielauswahl »unter der Richtschnur des vom täglichen Leben mitgebrachten und ungeklärten, vielleicht sogar falschen Begriffes eines ›literarischen Werkes‹« (LK 4) erfolgt. – Wie im Ausgang von Beispielen, die anhand eines falschen Begriffes von »Literatur« ausgewählt wurden, der ›richtige‹ Begriff eines »literarischen Werkes« gewonnen werden kann, bleibt allerdings unerfindlich. Die These, dass der ›geklärte‹ Begriff nicht schon am Anfang der Untersuchung gegeben sei, sondern sich erst am Ende der Untersuchung ergebe, wird in der Wissenschaftsphilosophie häufig vertreten, am nachdrücklichsten von den Neukantianern. Bei Rickert heißt es: »Begriffsbildung in unserem Sinne bildet immer einen wenigstens relativen Abschluss einer Untersuchung, d.h. im Begriff stellt sich als fertig dar, was durch die Forschung geleistet ist.« (Rickert: Naturwissenschaftliche Begriffsbildung, S. 19) Was Eike von Savigny über die Klassifikation von Dingen überhaupt sagt, gilt a fortiori auch für die Klassifikation von Texten (etwa in literarische und in nicht-literarische): »Die Klassifikation von Dingen in Typen hängt von zweierlei ab: Einmal von den Interessen und Zwecken der klassifizierenden Menschen und zum anderen von den Ähnlichkeiten der klassifizierten Dinge.« (von Savigny: Normale Sprache, S. 255)
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gewiesenen Eigenschaften den Sachen selber zukommen, um die es geht. – Dem Gesagten entspricht: (c) Der klassische Literaturtheoretiker erfasst die (für ihn) wesentlichen oder signifikanten Texteigenschaften gewissermaßen direkt oder anschauend und fixiert sie in Feststellungen über die Sache. Bei Ingarden bildet die »reine Erschauung der wirklich [!] vorliegenden Sachlagen« (LK X)26 das kognitive Fundament der betreffenden Feststellungen über das literarische Werk und Kunstwerk.27 Bei Jakobson gründet die »linguistische Untersuchung der poetischen Funktion« (P 93) in ›empirischen‹ Beobachtungen der betreffenden Texte. Weil dies so ist, können Literaturdefinitionen (qua Feststellungen über die Sache namens ›Literatur‹) falsch oder unangemessen sein. Falsch, nämlich einseitig oder unvollständig, ist nach Ingarden beispielsweise diejenige Definition des literarischen Werks, die dieses Werk »in eine zu enge Verwandtschaft zu den ›Anschauungskünsten‹« (LK IX) bringt und als eine Art von »Gemälde« bestimmt.28 In diesem Fall wird das literarische Werk »für ein einschichtiges Gebilde [gehalten], während es tatsächlich [!] aus mehreren heterogenen Schichten besteht [...]« (LK IX). (d) Wichtigster wissenschaftsphilosophischer Punkt ist in gegenwärtiger Hinsicht: Wegen ihrer Abhängigkeit von der Sache kann die klassische Wesensbestimmung der Literatur geradezu als eine deskriptive Analyse der Sache namens ›Literatur‹ oder auch als eine Konjunktion von wahren oder falschen Feststellungen bzw. Behauptungen über diese Sache aufgefasst werden; und jedenfalls soll sie der Intention bzw. dem Anspruch der Definierenden nach so aufgefasst werden. Um den Sachbezug terminologisch anzuzeigen, könnte man – unter Verwendung eines in der traditionellen Logik allerdings nicht klar bestimmten Ausdrucks – sagen, die betreffenden Literaturdefinitionen seien in dieser Hinsicht Realdefinitionen.29 _____________ 26 27 28
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Auf das wissenschaftsphilosophische Problem, ob es so etwas wie die reine (unvoreingenommene, theoriefreie) Erschauung überhaupt geben könne, gehe ich nicht ein. Dementsprechend verwendet Ingarden mehrfach den Ausdruck »Feststellung«. Er spricht zum Beispiel von der »Feststellung des vielschichtigen polyphonen Aufbaus des literarischen Werkes« (LK 27). Die bekanntesten Vertreter dieser Literaturbestimmung sind die Schweizer Bodmer und Breitinger, die schon in den Titeln einiger ihrer Schriften den Ausdruck »Gemälde der Dichter« verwenden. Ingarden weist die betreffende Auffassung im Anschluss an Lessing (und dessen Laokoon) zurück (siehe LK IX). Zu ›Realdefinition‹ vgl. Kutschera / Breitkopf: Moderne Logik, S. 143. Der Realdefinition, die aus wahren oder falschen Behauptungen gebildet ist, wird die Nominaldefinition gegenübergestellt als die »Festsetzung über die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks« bzw. als »Vorschrift« (siehe ebd.). – Dazu, dass die Literaturdefinition der klassischen Literaturtheoretiker in anderer Hinsicht auch als Festsetzung angesehen werden kann – und muss –, siehe den folgenden Abschnitt (2).
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(2) Abhängigkeit der Literaturdefinition vom Definierenden. Der klassische Literaturtheoretiker ermittelt das Wesen der Literatur (a) im Ausgehen von Beispielen, die er seiner Vorstellung von Literatur gemäß auswählt, und (b) im Herausheben und Fixieren derjenigen signifikanten Texteigenschaften, die ihm von seiner literaturtheoretischen Perspektive aus ins Auge fallen. (c) Er bezeichnet den von ihm ermittelten Literaturbegriff mit Hilfe eines Ausdrucks, der aus der Tradition stammt, in der er selber steht. Aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Definierenden muss die betreffende Literaturdefinition (d) als Festsetzung oder Normierung des Literaturbegriffs angesehen werden, und das heißt (e) als Definition, die keine Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen und deshalb Anlass zum Streit – zum ›Literaturstreit‹ – geben kann. (a) Der klassische Literaturtheoretiker wählt die Ausgangsbeispiele nach Maßgabe seines Literaturbegriffs aus: gemäß seiner allgemeinen Vorstellung von Literatur bzw. gemäß dem Literaturbegriff, den er im Laufe der Zeit erworben hat; pragmatisch-sprachphilosophisch ausgedrückt: gemäß dem Gebrauch des Wortes ›Literatur‹ (und entsprechender Synonyma), den er anhand von Beispielen in Elternhaus, Schule und Universität erlernt bzw. internalisiert hat. – Der unterschiedlichen kulturellen Sozialisierung entsprechend, ist die Auswahl der Ausgangsbeispiele durchaus unterschiedlich: Ingarden wählt, in Übereinstimmung mit seinem ästhetizistischen Literaturbegriff (s.u.), bestimmte Musterbeispiele aus (Ilias, Göttliche Komödie usw.), in denen die unterschiedlichen Schichten des literarischen Kunstwerks harmonisch verbunden sind, unter ihnen als besonders wichtige Schicht die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeit, in der metaphysische Qualitäten wie das Tragische zur Erscheinung gelangen. Jakobson wählt, seinem formalistischen Literaturbegriff (s.u.) entsprechend, im Besonderen folkloristische Texte aus, die sich »mit ihren markanten, stereotypen und kristallisierten Formen […] wie keine anderen für die Erarbeitung einer strukturalen Analyse [eignen]«30 bzw. die einen strukturalistischen Literaturbegriff optimal repräsentieren. (b) Der klassische Literaturtheoretiker betrachtet die ausgewählten Literaturbeispiele aus seiner Perspektive; er sieht deshalb Texteigenschaften bzw. Ähnlichkeiten, die ein anderer klassischer Theoretiker nicht sieht – oder nicht so sieht.31 Um dies mit Hilfe von Poppers Scheinwerfer-Metapher32 _____________ 30 31 32
Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 169. In etwas anderer Darstellung: Mit der Wahl der Ausgangsbeispiele ist präjudiziert, welche Texteigenschaften für die Literaturdefinition in Frage kommen und welche nicht. Popper stellt der ›Kübeltheorie des Bewusstseins‹ die ›Scheinwerfertheorie der Wissenschaft‹ gegenüber. Letztere Theorie charakterisiert er so: »Was der Scheinwerfer sichtbar macht, hängt ab von seiner Lage, von der Weise, in der wir ihn einstellen, von seiner Intensität, Farbe und so fort; es hängt natürlich auch weitgehend von den Din-
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zu veranschaulichen: Ingarden entdeckt bei seiner phänomenologisch-ontologischen Beleuchtung der Texte Eigenschaften wie die metaphysischen Qualitäten,33 die bei Jakobsons empirisch-linguistischer Beleuchtung gar nicht erst ins Licht treten bzw. ins Auge fallen können. Was bei Jakobsons ›Beleuchtung‹ der Texte auffällig wird, ist etwa die regelmäßige Wiederkehr von Klangeinheiten. Ich versuche, die Korrelation von Literaturdefinition und literaturtheoretischer Perspektive vom Standpunkt des Logikers aus zu verdeutlichen: Sowohl für Ingarden als auch für Jakobson ist der Literaturbegriff ein klassifikatorischer Begriff. »Literarisches Kunstwerk« bzw. »Poesie« meint eine bestimmte Menge oder ›Klasse‹ von Entitäten, die aufgrund bestimmter Eigenschaften einander ähnlich sind und sich von allen anderen Entitäten (sei es von Symphonien oder Skulpturen, sei es von Geschäftsbriefen oder schriftlichen Zahlungsaufforderungen) unterscheiden. Als klassifikatorischer Begriff ist der Literaturbegriff einem allgemeineren klassifikatorischen Begriff untergeordnet. Die Aufdeckung dieses allgemeineren Begriffs, der zugleich das summum genus des betreffenden Begriffssystems darstellt, lässt die Perspektive des Literaturtheoretikers bzw. die Tradition, in der er steht, deutlich vor Augen treten: Für Ingarden ist das summum genus des betreffenden Begriffssystems der Begriff des Kunstwerks.34 Ingarden setzt voraus, dass dieser Begriff in die Begriffe des literarischen, musikalischen Kunstwerks usw. einzuteilen ist.35 Ingarden steht mit dieser Voraussetzung in der Tradition des so genannten modernen Systems der schönen Künste, wie es sich (nach Kristeller) seit dem frühen 18. Jahrhundert herausgebildet hat.36 Insofern ist Ingardens Literaturbegriff abhängig von einer bestimmten ästhetischen Tradition.37 _____________
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gen ab, die von ihm beleuchtet werden. In ähnlicher Weise hängt eine wissenschaftliche Theorie zum Großteil von unserem Standpunkt, von unseren Interessen ab […] – aber sie hängt auch von den beschriebenen Tatsachen ab.« (Popper: Falsche Propheten, S. 322) Näheres zu ›metaphysische Qualität‹ unten auf S. 61f. Der Begriff des Werks spielt bei Ingarden sozusagen keine eigenständige ästhetischpoetologische Rolle. Das literarische Werk ist ihm nicht etwa das Produkt einer (auch) handwerklichen Tätigkeit oder téchnē (ars), da es ihn bloß ontologisch bzw. als real-idealer Gegenstand interessiert. Ingarden legt dementsprechend später neben Untersuchungen zur Literatur solche zu Malerei, Musik und Architektur vor (siehe LK 344, Anm. 3). Siehe Kristeller: Modernes System, bes. S. 165. – Bei Ingarden wird dieses ›moderne System‹ allerdings erweitert, unter anderem um die Schauspiel- und die Filmkunst (siehe LK 337-349). Dass Ingarden in einer dezidiert ästhetischen Tradition steht – einer Tradition, die man geradezu ›ästhetizistisch‹ nennen darf –, geht deutlich auch aus vielen seiner rezeptionstheoretischen Bemerkungen hervor, etwa aus diesen: Der Leser hat »die Konstituierung eines ästhetischen Gegenstands« zu leisten und »einen dem Werk gemäßen ästhetischen Wert zur Erscheinung zu bringen« (Ingarden: Vom Erkennen, S. 84); und:
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Für Jakobson ist das summum genus des betreffenden Begriffssystems der Begriff der Sprache bzw. des »verbalen Verhaltens«.38 Jakobson unterscheidet – nach meiner Rekonstruktion – zwei Arten der Sprache bzw. des verbalen Verhaltens, nämlich praktische Sprache (als Sprache, in der die poetische Funktion, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielt) und Poesie oder poetische Sprache (als Sprache, in der die poetische Funktion dominant ist). Jakobson steht mit dieser Unterscheidung in einer jüngeren, durch den russischen Formalismus gestifteten Tradition39 – einer Tradition, die auf der einen Seite durch die nomothetisch-empirische Wissenschaftstheorie (s.o. S. 49) und auf der anderen Seite (wie die Hinwendung zu den Verfahrensweisen und ›Kunstgriffen‹ zeigt) durch die alte rhetorisch fundierte Poetik geprägt ist: Für Jakobson ist der Dichter kein magus, vates, Prophet oder dergleichen, sondern ein artifex oder »Handwerker, dessen Verfahren man in den Griff bekommen will«.40 (c) Zur Bezeichnung seines so und so definierten Literaturbegriffs greift der klassische Literaturtheoretiker aus der Reihe der von der Tradition bereitgestellten Bezeichnungen diejenige heraus, die zu seinem eigenen Literaturbegriff passt bzw. die aus der begriffsgeschichtlichen Tradition stammt, in der er selber steht. (Die ›Subjektivität‹ der Literaturdefinition verrät sich also nicht nur in der Wahl und der ›Beleuchtung‹ der Ausgangsbeispiele, sondern auch in der Wahl der betreffenden Literatur-Bezeichnung.) Ingarden wählt mit »literarisches Kunstwerk« eine Bezeichnung, die aus der ästhetischen Tradition stammt, der Ingarden verpflichtet ist. In dieser Tradition ist das Kunstwerk ein Werk, das zweckfrei geschaffen ist; und in dieser Tradition wird die Kunst – nach Maßgabe der Darstellungsmittel – eingeteilt in die ›schönen Künste‹, zu denen das literarische Kunstwerk als schriftlich oder in ›Lettern‹ fixiertes Kunstwerk gehört. Jakobson wählt mit »poetry« bzw. »Poesie« eine Bezeichnung, die aus der rhetorisch-poetologischen Tradition stammt, der er schon ausweislich seiner Ausgangsbeispiele verbunden ist. In der rhetorisch-poetologischen Tradition ist der Text ein Werk, das gemacht, und zwar zu einem bestimmten Zwecke gemacht ist. Jakobson selbst weist in seinem 1965 erschienenen »Rückblick _____________
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Zur angemessenen Rezeption gehört »die ruhige Kontemplation der metaphysischen Qualitäten« (LK 313), wobei Ingarden mit der Wendung »ruhige Kontemplation« einen berühmten Topos der Theorie des Schönen aufgreift. Siehe P 84. Jakobson spricht an dieser Stelle zwar von der »differentia specifica der Wortkunst zu anderen Künsten und zu anderen Arten des verbalen Verhaltens«, geht aber auf das Verhältnis der Poesie zu den anderen Künsten nicht näher ein. Die Einteilung der Sprache in die praktische und die poetische Sprache hatte vor Jakobson in einer höchst prägnanten Art und Weise Viktor Šklovskij in seinem Aufsatz »Die Kunst als Verfahren« (Šklovskij: Die Kunst als Verfahren, siehe bes. S. 7-9) durchgeführt. Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 18.
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auf den Beginn einer Wissenschaft der Dichtkunst« darauf hin, dass »das Wort ›Poesie‹ […] vom altgriechischen Verb ›machen, schaffen‹ [abstamme]« (P 123) und den »eindeutig kreativen und zweckgerichteten Charakter der poetischen Sprache« indiziere, den die russischen Formalisten zu erforschen versucht hätten (siehe P 123).41 In dieser Tradition ist übrigens – wie zur Abgrenzung gegen Ingarden hinzugefügt sei – die Unterscheidung von ›schriftlich fixiert‹ und ›mündlich‹ irrelevant: Auch das aus dem Stegreif gedichtete Hochzeitspoem kann Poesie im Sinne Jakobsons sein. (d) Wichtigster wissenschaftsphilosophischer Punkt ist in gegenwärtiger Hinsicht: Wegen ihrer Abhängigkeit vom Definierenden – von dessen Sprachgebrauch, Beispielwahl und literaturtheoretischer Perspektive – ist die klassische Literaturdefinition festsetzend bzw. normierend.42 Der Literaturtheoretiker definiert bzw. expliziert (entgegen dem Anspruch, mit dem er auftritt) seinen eigenen Literaturbegriff. Er tut dies zwar nicht in freier Bedeutungsfestsetzung, aber von seinem philosophischen Standpunkt aus. Oder in etwas anderer Formulierung: Der klassische Literaturtheoretiker geht zwar vom existierenden Gebrauch des Wortes ›Literatur‹ (und solcher Wörter, die mit ›Literatur‹ synonym oder sinnverwandt sind) aus, schränkt diesen Gebrauch aber durch bestimmte aus seiner Perspektive vollzogene Feststellungen über die Sache ein. – Bei einer ›weicheren‹ Verwendung des Ausdrucks ›Explikation‹43 könnte man auch sagen, die klassische Literaturdefinition sei eine Explikation des Literaturbegriffs: Sie ist ja eine genauere und theoriegeleitete Bestimmung eines alltagssprachlichen Ausdrucks, dessen Bedeutung nicht genau festgelegt ist. Da der klassische Literaturtheoretiker den Literaturbegriff nicht exakt definiert (s.u.) und da er ihn zur Verwendung in einer nicht exakt formulierten Theorie definiert, würde man allerdings _____________ 41
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Bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang Wolfgang Kaysers Wahl des Ausdrucks »Sprachliches Kunstwerk«. Kayser ist in vielen Dingen durch Ingarden und dessen Ontologie des literarischen Kunstwerks beeinflusst (s.o. S. 46), beachtet aber deutlich stärker als Ingarden die rhetorisch-poetologische Tradition, nämlich den Umstand, dass der Dichter oder poeta die Sprache ›handhabt‹. In Kaysers Wahl der Bezeichnung »Sprachliches Kunstwerk« scheint mir diese Differenz zu Ingarden zum Ausdruck gebracht. Im Anschluss an Kamlah und Lorenzen könnte man sagen, der Literaturtheoretiker müsse dann, wenn er den Literaturbegriff definieren wolle, »zwar einerseits vorfindlichen Abgrenzungen folgen, andererseits aber solche Grenzen erst setzen« (Kamlah / Lorenzen: Logische Propädeutik, S. 51). – Diese Grenzsetzung ist nach Kamlah und Lorenzen nicht nötig bei der Bildung der Begriffe von ›naturwüchsig‹ zusammengehörenden Objekten, beispielsweise von Pflanzenarten, wie sie im Linnéschen System klassifiziert sind. – Zu den naturwüchsig zusammengehörenden Objekten gehören literarische bzw. poetische Texte offensichtlich nicht. Vgl. hierzu und zum Folgenden Gabriel: Explikation, Sp. 876.
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nicht von einer Begriffsexplikation in dem seit Carnap üblichen ›harten‹ Sinn dieses Ausdrucks sprechen können. Ein zweiter wichtiger Punkt ist dieser: Dass die klassische Literaturdefinition festsetzend bzw. normierend sei, heißt auch, dass sie ›subjektiv‹ und in gewisser Hinsicht einseitig ist. Um es so zu sagen: Die klassischen Literaturtheoretiker bilden in ihren Literaturdefinitionen – aufgrund ihrer Beispielwahl und ihrer besonderen ›Beleuchtung‹ der Beispiele – nicht die ganze Bandbreite der vom Ausdruck ›Literatur‹ bezeichneten Dinge und nicht alle signifikanten Eigenschaften dieser Dinge ab. In einem dritten Punkt sei kritisch hinzugefügt: Da der klassische Literaturtheoretiker seine Wesensbestimmung der Literatur für die allgemeingültige oder allgemeinverbindliche Definition hält,44 ist er blind für den Umstand, dass jede Wesensbestimmung der Literatur nicht nur von der Sache, sondern auch vom Definierenden abhängig ist bzw. ein subjektives oder Normierungsmoment hat.45 Oder in anderer Charakterisierung: Er erliegt jener Täuschung, die in der sprachanalytischen Philosophie ›essentialist fallacy‹ heißt.46 (e) Mit dem Gesagten hängt ein anderer wichtiger Punkt eng zusammen, der das Verhältnis zwischen klassischen Literaturtheoretikern unterschiedlicher philosophischer Prägung betrifft: ›Subjektivität‹ bzw. Verschiedenheit der Literaturdefinitionen bedeuten im Zusammenhang mit der ›essentialist fallacy‹, dass es im ›Literaturgespräch‹ zwischen verschiedenen Literaturtheoretikern öfters zum Streit kommt: zum ›Literaturstreit‹, in dem jeder der Disputierenden glaubt, die bzw. die einzig richtige oder auch die allgemeingültige Definition des Literaturbegriffs formuliert zu haben, und in dem deshalb jeder der Disputierenden seine Definition gegen die des Gesprächspartners durchsetzen will.47 – Der Literaturbegriff ist im Fall eines solchen Disputs _____________ 44 45
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Auf die Grenzen der Literatur bezogen glaubt Ingarden allen Ernstes, »eine endgültige Bestimmung des Bereiches der literarischen Werke« (LK 4) gegeben zu haben. Diese Blindheit lässt sich auf vielerlei Weise erklären, z.B. psychologisch und soziologisch: Der klassische Literaturtheoretiker gehört zur tonangebenden Bildungsschicht, in der die Bewertung bestimmter Texte als Literatur (literarisches Kunstwerk, Poesie usw.) standardisiert ist. Diese Standardisierung bzw. die kollektive Übereinstimmung täuscht ihm objektive oder allgemeine Gültigkeit vor. (Zu dieser Erklärungsweise siehe Geiger: Ideologie, S. 59f.) – Der sprachanalytische Philosoph würde diese Blindheit, an Wittgenstein anschließend, mit dem Ignorieren der Vielfalt der Anwendungsweisen des Ausdrucks ›Literatur‹ bzw. mit der Einseitigkeit der Beispielwahl erklären: »Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten – einseitige Diät: man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen.« (Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 593) Ausführlicher habe ich zu Ingardens Essentialismus kritisch Stellung genommen in Strube: Sprachanalytische Ästhetik, S. 21. Der bekannteste traditionelle Fall eines Streits um den Literaturbegriff (und um die Grenzen des Literaturbereichs) dürfte der so genannte Zürcher Literaturstreit sein:
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ein wesentlich umstrittener Begriff (ein essentially contested concept) im Sinne Gallies,48 das heißt ein Begriff, der unter anderem mehrdeutig, werthaltig sowie eben – und vor allem – wesentlich umstritten, nämlich (etwa in Fragen der Zuordnung eines Textes zum Literaturbereich) aggressiv wie auch defensiv brauchbar ist. Oder aus etwas anderer Perspektive und mit Stevenson: Der Literaturbegriff des klassischen Literaturtheoretikers ist ein persuasiver Begriff,49 das heißt: Der Literaturtheoretiker gibt dem Literaturbegriff einerseits eine ganz bestimmte deskriptive Bedeutung; er spricht ihm ja diejenigen definierenden Merkmale zu, die er nach sachanalytischer Untersuchung für ›die richtigen‹ hält. Auf der anderen Seite hat der Literaturbegriff daneben aber auch und sozusagen von vornherein eine ganz bestimmte positive emotive Bedeutung, die in einem Disput darüber, ob ein vorliegender Text ein literarisches Kunstwerk ist oder nicht, eingesetzt werden kann, um auf die Bewertung und die Zuordnung des Textes zum Bereich literarischer Kunstwerke Einfluss zu nehmen,50 und das kann heißen: um Texte aus dem Bereich der Literatur auszuschließen, die nach der Literaturdefinition eines anderen Theoretikers durchaus zur Literatur gehören. (Von diesem Fall wird im folgenden Teil ausführlich gehandelt.) (3) Die Unschärfe der Literaturdefinition. Der klassische Literaturtheoretiker bestimmt die im Alltag vergleichsweise unbestimmte Sache namens ›Literatur‹ zwar genauer, aber er bestimmt sie nicht scharf, nämlich durch eine abgeschlossene Aufzählung – oder eine ›Konjunktion‹ – präzis definierter Eigenschaften. Dass er sie so gar nicht definieren könne, kann man mit dem Hinweis darauf begründen, dass die Literatur eine ›Sache‹ ist, die sich (mit einer Formulierung von Kamlah und Lorenzen) nicht schon von selbst ein_____________
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»Im Literaturstreit mit den Zürchern J. J. Bodmer und J. J. Breitinger wurde besonders Gottscheds restriktive Haltung zum Wunderbaren kritisiert.« (Unger: Gottsched, S. 331) – Im Zusammenhang mit der uneinheitlichen Grenzziehung gehe ich unten näher auf entsprechende Fälle ein. Vgl. Gallie: Philosophy, passim, sowie Gallie: Art. – Ausführlich handelt über Gallies Konzept Spree: Kritik der Interpretation, S. 35-44. Vgl. Stevenson: Facts, Essay 3, S. 32ff. Stevenson selber wendet den Begriff der »persuasive definition« auf die Definition von »poem« an in Stevenson: On ›What Is a Poem?‹, bes. S. 351f. In Facts and Values deckt Stevenson den Zusammenhang von (persuasiver) Definition und Einflussnahme anhand der Beurteilung auf, die Alexander Pope erfahren hat: »In the nineteenth century, for instance, critics sometimes remarked that Alexander Pope was ›not a poet‹. The foolish reply would be, ›it’s a mere matter of definition‹. It is indeed a matter of definition, but not a ›mere‹ one. The word ›poet‹ was used in an extremely narrow sense. This, so far from being idle, had important consequences; it enabled the critics to deny to Pope a laudatory name and so to induce people to disregard him. A persuasive definition, tacitly employed, was at work in redirecting interests.« (Stevenson: Facts, S. 35)
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deutig von ihrer Umgebung abhebt.51 – Ich demonstriere die Unschärfe der klassischen Literaturdefinition am Beispiel der Definitionen Ingardens und Jakobsons. Nach Ingarden ist das literarische Kunstwerk (wenn man so will) durch drei signifikante Eigenschaften definiert: (a) Es ist ein aus mehreren Schichten aufgebautes literarisches Werk; (b) es enthält die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeit, in der bestimmte metaphysische Qualitäten zur Erscheinung gelangen; (c) die verschiedenen Schichten stimmen harmonisch zusammen. Diese Definition des literarischen Kunstwerks wäre nun selbst dann, wenn sie vollständig wäre (also alle signifikanten oder wesensnotwendigen Eigenschaften aufzählen würde, die ein literarisches Werk zu einem Kunstwerk machen),52 nicht ›trennscharf‹ oder präzis, da die signifikanten Eigenschaften nicht präzis definiert sind: (a) Ingarden selber macht darauf aufmerksam, dass die Grenzen des literarischen Werks verschwimmen, wenn man dies Werk im Zusammenhang mit dem auf der Bühne aufgeführten Drama sieht. Das aufgeführte Drama bzw. das Schauspiel stellt »einen Grenzfall des literarischen Werkes« (LK 343) dar, und zwar insofern, als ihm bestimmte konstitutive Elemente des literarischen Werkes fehlen. Im Schauspiel fällt ja »der Nebentext als Text« (LK 339) weg bzw. entfällt die Information, die der Autor des Dramas in Regieanweisungen gibt; es sind dann reale Gegenstände, »welche die Abbildungs- und die Repräsentationsfunktion [sc. an Stelle von Sätzen, W.S.] ausüben« (LK 339). (b) Den Begriff der metaphysischen Qualitäten erklärt Ingarden zum einen durch eine am Ende offene Aufzählung: Es gibt die metaphysischen Qualitäten »das Erhabene, das Tragische, das Furchtbare […], das Leichte, die Ruhe usw.« (LK 310). Das ›usw.‹ hat hier – anders als in ›Wochentage sind Montag, Dienstag, Mittwoch usw.‹ – nicht die Funktion der Abkürzung einer Reihe, die sich vervollständigen ließe; insofern ist die Grenze des Feldes der metaphysischen Qualitäten verschwommen. Zum anderen beschreibt Ingarden die metaphysische Qualität »als eine spezifische Atmosphäre« (LK 310), die gewissermaßen über den dargestellten Menschen und Ereignissen schwebt, und er spricht davon, dass die Offenbarung der metaphysischen Qualitäten »einen positiven Wert den grauen, gesichtslosen Erlebnissen des Alltags gegenüber« (LK 311) darstellt. Er gebraucht in sei_____________ 51
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Vgl. Kamlah / Lorenzen: Logische Propädeutik, S. 90. Dort ist die Rede von dem »besonderen Fall der vorfindlichen Dinge, die sich schon von selbst von ihrer Umgebung abheben und daher der Sprache eine Ausgrenzung gleichsam vorschreiben«. – Die von Kamlah und Lorenzen berufenen Beispiele »vorfindlicher Dinge«, nämlich Baum und Haus (siehe ebd.), scheinen mir nicht glücklich gewählt. Passende Beispiele wären die Arten regulärer geometrischer Körper (wie Tetraeder, Würfel, Pyramide). Logisch gesprochen: wenn sie alle notwendigen Bedingungen der Anwendung des Ausdrucks ›literarisches Kunstwerk‹ enthielte.
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ner Charakterisierung der metaphysischen Qualitäten also Ausdrücke (z.B. »Atmosphäre« und »positiver Wert«), die einen so weiten und verschwommenen Gebrauch haben, dass sich gar keine scharfe Definition auf sie gründen lässt.53 (c) Dass der Begriff der Harmonie, die zwischen den Schichten des literarischen Kunstwerks besteht, nicht präzis bestimmt ist, deute ich in kurzer historisch ausgerichteter Betrachtung an: Mit »Harmonie« ist bei Ingarden (wie stets in der ästhetischen Tradition) ein Verhältnis zwischen verschiedenen Teilen eines bestimmten Ganzen gemeint. Und: Bei Ingarden ist (wie meistens in der Tradition, aber nicht wie bei den Pythagoreern oder im Kanon des Polyklet)54 ein Verhältnis gemeint, das nicht quantitativ oder mathematisch, nämlich durch Zahlenverhältnisse, und also nicht präzis bestimmt ist. Wie Ingarden erkennt auch Jakobson die Unschärfe des üblichen Literaturbegriffs deutlich. Jakobson spricht davon, »dass der Inhalt des Begriffs Poesie labil und zeitgebunden ist« (P 78).55 Und gerade um der Unschärfe des Poesiebegriffs willen geht er über diesen hinaus und zum Begriff der poetischen Funktion bzw. der Poetizität über, den er per Angabe von genus proximum und differentia specifica definiert (siehe P 84) und als die »vorherrschende und strukturbestimmende« (P 92) Funktion der Poesie ansieht: Ein Text gehört zur Poesie genau dann, wenn er in erster Linie durch die poetische Funktion (und nicht etwa durch die referentielle oder konative Funktion) determiniert ist. Allerdings ist Jakobsons Unternehmen nur beschränkt erfolgreich: Für die poetische Funktion oder Poetizität gibt es zwar ein »empirisches linguistisches Kriterium« (P 94), aber dieses Kriterium ist in einer nur vagen Weise komparativ bestimmt: Ein Text hat mehr oder weniger Poetizität, das heißt: Er hat mehr oder weniger phonologische und andere Äquivalenzen. Das Poetizitätskriterium ist nicht quantitativ bzw. exakt, also beispielsweise durch eine Mindestanzahl phonologischer Äquivalenzen pro dreißigzeiliger Seite bestimmt und also nicht derart, dass man bei Anwendung des Kriteriums in jedem Einzelfall zweifelsfrei sagen könnte, der betreffende Text gehöre zur Poesie.56 _____________ 53 54 55 56
Dazu, dass eine am Ende offene Reihe definierender Merkmale und die Verwendung unklarer Ausdrücke im Definiens eine präzise Definition nicht zulassen, siehe Waismann: Logik, S. 238 und 249. Vgl. Tatarkiewicz: Ästhetik. Bd. 1, S. 78f. In sozusagen extensionaler Hinsicht sagt Jakobson in seinem Aufsatz »Was ist Poesie«: »Die Grenze, welche das dichterische Werk von dem trennt, was kein dichterisches Werk ist, ist fließender als die Grenze chinesischer Staatsgebilde.« (P 69) Schon bei Baumgarten, der als Prototyp eines klassischen ontologisch orientierten Literaturtheoretikers gelten kann, sind die Verhältnisse ähnlich wie bei Jakobson: Baumgarten definiert das »Poema« auf der Basis einer bestimmten Philosophie (der Philosophie Christian Wolffs) im Ausgang von bestimmten Beispielen, die seine Beispiele sind (bes. den Carmina des Horaz), als »oratio sensitiva perfecta« und verwendet mit
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An dieser Stelle ist noch einmal hervorzuheben, dass die Unschärfe der Literaturdefinition ihren Grund nicht im Unvermögen der definierenden klassischen Literaturtheoretiker hat, sondern in der Sache namens ›Literatur‹, unter anderem in der eigenartigen ›qualitativen‹ Harmonie oder Poetizität, durch die sich das literarische bzw. poetische Kunstwerk in den Augen des klassischen Literaturtheoretikers auszeichnet. 3. Teil Im 3. Teil widme ich meine Aufmerksamkeit den im Titel dieses Sammelbands genannten Grenzen der Literatur oder, um unzweideutig zu reden, den Grenzen des Literaturbereichs.57 Die Frage nach den Grenzen des Literaturbereichs hängt eng oder ›analytisch‹ mit der Frage nach der Definition des Literaturbegriffs zusammen (und sollte zweckmäßigerweise nach der Untersuchung der Literaturdefinition beantwortet werden): Mit der Literaturdefinition erfolgt ja eine Festlegung des betreffenden Theoretikers auf ganz bestimmte Texteigenschaften und das heißt eben auch: auf einen bestimmten Literaturbereich bzw. eine bestimmte Menge von Texten. Da, wie gesagt, die Grenzen des Literaturbereichs durch die betreffende Literaturdefinition festgelegt sind, gehe ich in der Analyse dieser Grenzen von den oben explizierten Merkmalen der Literaturdefinition aus und thematisiere den Umstand, dass der Literaturbereich sowohl (1) von der Sache namens ›Literatur‹ als auch (2) vom Definierenden abhängig und mithin uneinheitlich ist und dass (3) seine Grenzen unscharf gezogen sind. (1) Die Abhängigkeit der Grenzen von der Sache. Wie im 2. Teil dargetan, ist die Literaturdefinition mitbestimmt von der Sache: Die Literaturdefinition erfolgt eben im Hinblick auf den Text bzw. auf bestimmte Ausgangsbeispiele und unter Nennung bestimmter Texteigenschaften. Dies heißt auch: Die Grenzen des Literaturbereichs sind (auch) in der Sache begründet bzw. von den betreffenden Texten und deren Eigenschaften (wenn man so will: _____________
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dem Begriff »perfecta« einen komparativen Begriff (vgl. Baumgarten: Meditationes, § 8), der offenbar unscharf ist (eine Rede ist immer mehr oder weniger vollkommen, und dieses Mehr oder Weniger ist mangels einer Gradskala der Vollkommenheit nicht exakt bestimmbar) – weshalb dann zumindest in bestimmten Fällen keine zweifelsfreie Zuordnung eines Textes zum Bereich der Poemata möglich ist (vgl. ebd., § 117). – Näheres hierzu in Strube: Baumgartens Theorie des Gedichts, S. 1-4. Mit ›Grenzen der Literatur‹ sind die Grenzen des Bereichs – oder der Menge – derjenigen Texte gemeint, die unter den betreffenden Literaturbegriff (›literarisches Kunstwerk‹, ›Poesie‹ usw.) fallen. Thema sind also beispielsweise nicht die Grenzen, die der Literatur oder ›dem Wort‹ gesetzt sind, wenn es darum geht, konkrete Gegenstände darzustellen. (Hinsichtlich dieser letztgenannten Grenzen ist die so genannte schöne Literatur – im Rangstreit der Künste – traditionellerweise der Malerei unterlegen.)
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von den in den Ausgangsbeispielen gegebenen Ähnlichkeiten) determiniert; sie sind insofern nicht willkürlich (nach Lust, Laune oder persönlicher Vorliebe) gezogen.58 (2) Die Abhängigkeit der Grenzen vom Definierenden. Wie im 2. Teil dargetan, ist die Literaturdefinition auch vom jeweils Definierenden abhängig, und das heißt (der Korrelation von Intension und Extension des Literaturbegriffs entsprechend), dass auch die Grenzen des Literaturbereichs in Abhängigkeit vom Definierenden bzw. in je besonderer – oder je anderer – Weise gezogen sind. Pointiert gesagt: Andere Literaturdefinition – andere Grenzen des Literaturbereichs. Die These ›Andere Literaturdefinition – andere Grenzen des Literaturbereichs‹ gilt zunächst in Beziehung auf die unterschiedlichen Literaturdefinitionen, die ein und derselbe klassische Literaturtheoretiker vollzieht. Der nämlich unterscheidet mit Hilfe einer weiteren und einer engeren Literaturdefinition zwei ungleich große Bereiche von Literatur: einen größeren und einen (in den größeren eingeschlossenen) kleineren Bereich.59 Für Ingarden beispielsweise ist der Bereich der literarischen Kunstwerke ein Teil des Bereichs der literarischen Werke. Angemerkt sei, dass Literaturwissenschaftler in der Regel den kleineren Bereich als höherwertig auszeichnen und zum Gegenstand der Literaturwissenschaft ›erheben‹. So ist für Wolfgang _____________ 58
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Anders nach Eagletons ›subjektivistischer‹ Aussage: »Vielleicht bedeutet ›Literatur‹ so etwas wie [...] jede beliebige Art von Text, den jemand aus irgendeinem Grund besonders schätzt.« (Eagleton: Einführung, S. 10) Wenn Literatur nicht ›von Natur‹ als solche ausgezeichnet ist, sondern vom Rezipienten ›gemacht‹ wird, bedeutet dies: Es ist der Rezipient, der die Grenzen der Literatur bestimmt – und den Literaturbereich möglicherweise beträchtlich über die üblicherweise gezogenen Grenzen hinaus erweitert: So könnte ich einen Fahrplan lesen, »nicht um irgendeine Zugverbindung ausfindig zu machen, sondern um mich zu allgemeinen Überlegungen über die Geschwindigkeit und Komplexität des modernen Lebens anzuregen« (ebd.). Im Falle, dass ich den Fahrplan als Ausdruck der Geschwindigkeit und Komplexität des modernen Lebens läse, würde ich ihn »als Literatur lesen« (ebd.). Üblich ist die umfangsbezogene Unterscheidung zweier Literaturbegriffe auch in Universallexika; siehe z.B. Der Große Brockhaus. 16., völlig neubearb. Aufl. in 12 Bden. Bd. 7. Wiesbaden 1955, S. 273: »Literatur [lat.], die Gesamtheit der schriftlichen Äußerungen des menschlichen Geistes, im engeren Sinn das gesamte schöngeistige Schrifttum.« – Tatsächlich sind die Verhältnisse allerdings komplizierter. So wird die Literatur im weiteren Sinn ihrerseits unterschieden in (1) Text als Literatur im weitesten Sinne: alles schriftlich Fixierte, darunter auch Fahrpläne und Telefonbücher, und (2) Schrifttum als Literatur in einem relativ weiten Sinne: alles schriftlich Fixierte, das von einem Autor (oder mehreren Autoren) verfasst ist, darunter Briefe und Tagebücher, religiöse und juristische Schriften. – Dass die Verhältnisse komplizierter sind, als sie in Universallexika dargestellt werden, geht deutlich aus Weimars Auflistung unterschiedlicher Verwendungsweisen des Ausdrucks ›Literatur‹ hervor (siehe Weimar: Literatur, S. 443ff.).
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Kayser nicht »alles Sprachliche, das durch Schrift fixiert ist«, sondern »die Schöne Literatur der eigentliche Gegenstand der Literaturwissenschaft«.60 Die These ›Andere Literaturdefinition – andere Grenzen des Literaturbereichs‹ gilt sodann in Beziehung auf die unterschiedlichen Grenzen, die von verschiedenen klassischen Literaturtheoretikern mit Hilfe eben ihrer jeweiligen Literaturdefinition61 gezogen werden. (Letztere ›Lesart‹ der These ist wissenschaftsphilosophisch interessanter und deshalb diejenige Lesart, um die es mir hauptsächlich geht.) – Um auch diesen Sachverhalt wieder am Beispiel Ingardens und Jakobsons deutlich zu machen: Jakobson bestimmt den Literaturbegriff inhaltlich anders als Ingarden (s.o. S. 47-51) und zieht damit andere Grenzen des Literaturbereichs – was auch heißt: Die ›Klasse‹ oder Menge der im Sinne Jakobsons poetischen Texte ist nicht (oder jedenfalls nur teilweise) identisch mit der ›Klasse‹ oder Menge der Texte, die in den Augen Ingardens literarische Kunstwerke sind.62 Oder aus etwas anderer Perspektive gesprochen: Jakobson könnte Texte aus dem von ihm ›begrenzten‹ Poesiebereich ausschließen, die Ingarden aufgrund seiner Definition nicht aus dem von ihm begrenzten Bereich der literarischen Kunstwerke ausschließen würde. Im Hinblick auf diesen letzten Punkt könnte man die oben formulierte These erweitern, nämlich sagen: ›Andere Literaturdefinition – andere Grenzen des Literaturbereichs – Ausgrenzung anderer Texte‹. Um diesen wichtigen Punkt zu verdeutlichen, ziehe ich ein Beispiel heran, und zwar Hugo Balls dadaistisches Lautgedicht Karawane, das mit dem Vers »jolifanto bambla ô falli bambla« beginnt.63 Setzt man Ingardens Literaturdefinition voraus, muss man den Text Hugo Balls aus dem Bereich der literarischen Werke schon deshalb ausschließen, weil er nicht die für jedes literarische Werk wesensnotwendigen sinnvollen _____________ 60
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Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 12, 15. Kayser spricht auf S. 14 von dem »so herausgehobenen Bezirk«, den er mit einem früher gebräuchlichen Ausdruck auch als »Schöne Literatur« bezeichnet. – Dass man den Gegenstand der Literaturwissenschaft auch anders bestimmen kann, versteht sich von selbst. So könnte man den Text (mit Titzmann: Textanalyse, S. 10) auf der Basis einer allgemeinen Semiotik als eine »jede zeichenhafte und bedeutungstragende Äußerung« ansehen und aus bestimmten politischen, etwa radikaldemokratischen Interessen zum Gegenstand einer als Textanalyse verstandenen Literaturwissenschaft machen (siehe ebd., S. 9: »[…] an sich sind vor der strukturalen Textanalyse alle ›Texte‹ gleich […]: alle haben Anspruch auf dieselbe Behandlung, wie verschieden sie auch sein mögen.«). Hier und im Folgenden ist mit ›Literaturdefinition‹ die Definition des engeren Literaturbegriffs gemeint, also die Definition von ›Literarisches Kunstwerk‹, ›Sprachliches Kunstwerk‹, ›Poesie‹ und dergleichen. Auf den identischen Teil dieser Mengen wird heute gern der mengentheoretische Ausdruck ›Schnittmenge‹ angewandt. Ball: Der Künstler, S. 408.
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Sätze oder satzähnlichen Gebilde enthält: Es gibt für Ingarden »kein literarisches Werk, das nicht aus einer Anzahl sinnvoller Sätze oder anderer [einen Sinn habender] satzähnlicher Gebilde bestünde«.64 Sozusagen erst recht kann der Text Hugo Balls in Ingardens Augen kein literarisches Kunstwerk sein, da ihm die Schicht der (satzmäßig fundierten) dargestellten Gegenständlichkeit fehlt, an der bestimmte metaphysische Qualitäten zur Erscheinung gelangen. – Tatsächlich sieht Ingarden sich denn auch in deutlicher Opposition zu gewissen »Vertretern der neuesten Kunstrichtungen«.65 Die »jetzige Lyrik«, die »z.B. auf die Ausbildung korrekter, voller Sätze oft verzichtet, um dem Leser die Freiheit einer ihm genehmen Ergänzung des Gedichtes zu belassen«,66 lehnt Ingarden als zu »unbestimmt«, wenn nicht gar als ans Absurde grenzend ab.67 Anders bei Jakobson: Er würde Balls Karawane nicht aus dem Bereich der Literatur ausschließen, sondern auf die verschiedenen ›Poetizitätskomponenten‹ des Textes hinweisen: auf die augen- und ohrenfällige Wiederkehr äquivalenter Einheiten, die die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Gedicht als ›materiales Objekt‹ lenkt; darauf, dass das Gedicht durchaus auf eine außersprachliche Gegenständlichkeit verweist (etwa auf den schleppenden Gang der Elefanten68), die allerdings nicht eindeutig intendiert ist (siehe »jolifanto« und nicht »Elefanten«) und nur onomatopoetisch vermittelt wird; schließlich auf den Parallelismus von akustischer Eindrucksfolge und Folge der assoziierten Vorstellungen sowie darauf, dass dies Gedicht als etwas Neues und Befremdliches die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenkt. Mit dem Hinweis auf diese Komponenten würde Jakobson Balls Karawane als einen Text ansehen, in dem die poetische Funktion dominant oder strukturbestimmend ist, und das heißt auch: als einen Text, der durchaus in den Bereich der Poesie gehört.69 _____________ 64 65 66 67 68 69
Ingarden: Erlebnis, S. 190. Vgl. Ingarden: Vom Erkennen, S. 96. – Bei »satzähnlichen Gebilden« ist etwa an »›verstümmelte‹, nicht zu Ende konstruierte Sätze (z.B. im Dialog in einem Drama)« zu denken (siehe LK 110f.). Vgl. Ingarden: Erlebnis, S. 194 Anm. Ingarden: Vom Erkennen, S. 309 Anm. (Mit »Ergänzung« ist die vom Leser vollzogene Konkretisierung oder Aktualisierung der vom literarischen Werk parat gehaltenen schematisierten Ansichten, siehe LK 281f., gemeint). Vgl. Ingarden: Vom Erkennen, S. 309 Anm. Vgl. Heselhaus: Lyrik, S. 467. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass Jakobson selber in seiner Gymnasialzeit futuristische Lautgedichte geschrieben und, wie andere Vertreter des russischen Formalismus, ausdrücklich die poésie concrète geschätzt hat bzw. den poetischen Text, der »als reines Lautgebilde zelebriert [wurde], der, wenn er überhaupt über sich hinaus verwies, dann nicht auf Gegenstände, die er eindeutig bezeichnete […]« (Holenstein in seiner Einführung, P 23).
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Klar dürfte hiernach sein: Texte wie das Lautgedicht Balls sind Fälle, anhand derer deutlich wird, dass mit unterschiedlicher Literaturdefinition die Grenzen des Literaturbereichs unterschiedlich gezogen sind. Oder allgemein und in logischem Vokabular: Anhand solcher Fälle wie dem des Lautgedichts Balls wird deutlich, dass einer bestimmten Definition des Literaturbegriffs (einer bestimmten Intension des Begriffs ›Literatur‹) ein bestimmter Umfang des Literaturbereichs (eine bestimmte Extension des Begriffs ›Literatur‹) entspricht. Im Übrigen – und aus einer historiographischen Perspektive gesprochen – kann jederzeit eine Meinungsverschiedenheit darüber aufkommen, ob ein bestimmter Text oder auch eine bestimmte Textart zur Literatur gehört oder nicht. Der betreffende Text oder die betreffende Textart wäre dann der Gegenstand eines ›speziellen Literaturstreits‹ bzw. ein wesentlich umstrittener Fall (wie man in Anknüpfung an die durch Gallie inspirierte Bestimmung des Literaturbegriffs als eines wesentlich umstrittenen Begriffs, s.o. S. 60, sagen könnte). – Ich will einen solchen Fall am Beispiel des Lehrgedichts oder der didaktischen Poesie ad oculos demonstrieren: Erklärt man das Wesen der Poesie mit Batteux aus dem einzigen Grundsatz der (durch Wörter vollzogenen) Nachahmung der schönen Natur, ist man veranlasst, »das Lehrgedicht […] ganz aus der Poesie herauszuwerfen«.70 Definiert man den Poesiebegriff anders bzw. rückt man, wie Johann Adolf Schlegel das tut, vom Naturnachahmungsprinzip als einzigem poetologischen Grundsatz ab, kann sich eine andere Zuordnung ergeben – und für Schlegel ergibt sie sich tatsächlich: Für ihn sind die Lehrgedichte »weder bloße Prosa noch bloße Poesie. Sie sind eine Vermischung von beiden«.71 (3) Die Unschärfe der Grenzen der Literatur. Die klassische Literaturdefinition ist, wie im 2. Teil dargetan, unscharf; und dies heißt auch, dass die Grenzen des Literaturbereichs unscharf gezogen sind: Auch unter Voraussetzung einer bestimmten klassisch-literaturtheoretisch vollzogenen Definition des Literaturbegriffs kann nicht bei jedem Text eindeutig und zweifelsfrei gesagt werden, er falle in den Bereich der Literatur oder nicht.72 (Wegen dieses _____________ 70 71
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Johann Adolf Schlegel in Batteux: Einschränkung. Teil 2, S. 194. Ebd., S. 68. – Beispiel eines ›Literaturstreits‹ aus dem 20. Jahrhundert: Wolfgang Kayser gegen Benedetto Croce. Kayser wirft Croce vor, in seiner Literaturdefinition einseitig von der Lyrik beeinflusst zu sein, deshalb eine einseitig-ausdruckspsychologisch orientierte Literaturdefinition zu formulieren und infolgedessen z.B. Molières Dramen zu Unrecht aus dem Bereich der ›Schönen Literatur‹ auszuschließen (siehe Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 14ff.). Sind, wie Kayser meint, der »Gefügecharakter der Sprache« und das Hervorrufen einer »Gegenständlichkeit eigener Art« diejenigen Merkmale, durch die der Literaturbegriff definiert ist, gehören Molières Dramen selbstverständlich in den Bereich der Literatur hinein. Insofern ist die von mir wiederholt gebrauchte Metapher vom Ziehen der Grenze, die an das Ziehen einer Grenz- oder Demarkationslinie denken lässt, unpassend.
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Umstands wird in der Literaturtheorie – ebenso wie etwa in literaturwissenschaftlichen Lexikoneintragungen – der in der klassischen Logik übliche Begriff ›Klasse‹ nicht verwendet; dieser Begriff schließt ja das Merkmal einer extensional scharfen Begrenzung ein.)73 So wie ich die Uneinheitlichkeit oder Verschiedenheit der Grenzen des Literaturbereichs am Beispiel eines Lautgedichts Hugo Balls demonstriert habe, demonstriere ich die Unschärfe der Grenzen mit Hilfe eines Texts von Ernst Jandl und unter Voraussetzung der Poetizitätsdefinition Jakobsons.74 Jandl schließt eine seiner Frankfurter Poetik-Vorlesungen folgendermaßen: »Dankend für das Ohr, das Sie mir geliehen haben, gebe ich Ihnen ein Stück außerpoetischer Realität mit auf den Weg, wohin immer er sie führt. Sie haben es alle immer schon bei sich gehabt, und Sie bekommen es alle jetzt noch einmal von mir, versehen mit einem Titel, der diesem kleinen Stück Wirklichkeit die Erhabenheit von Poesie verleiht. spruch mit kurzem o ssso«75 Dieser Text Jandls hat einerseits offensichtlich einige Poetizitätskomponenten: Beide Zeilen des Spruchs weisen in phonologischer Hinsicht Äquivalenzen auf (u-Assonanz, Reim, mehrfache Wiederkehr des ›s‹); beide Zeilen sind in syntaktischer Hinsicht mehrdeutig: Sie enthalten eine doppelte Referenz (mit »spruch« sind zum einen beide Zeilen gemeint, zum anderen ist nur die Schlusszeile gemeint); die beiden Zeilen sind in semantischer Hinsicht mehrdeutig: Sie beziehen sich auf die poetische ebenso wie auf die außerpoetische Realität (der spruch mit kurzem o / ssso verweist zum einen offenbar auf sich selber, zum anderen auf die außerpoetische Realität, nämlich auf das Ende der Vorlesung: Das »ssso« ist so etwas wie der Schlusspunkt der Vorlesung und ersetzbar in etwa durch ›Das war’s; ihr könnt nach Hause gehen‹). – Hinzu kommen noch bestimmte Kunstgriffe der Komik-Erzeugung: Durch die Ausdrücke »Erhabenheit von Poesie« und »spruch« wird die Erwartung eines Bedeutsamen hervorgerufen – und diese Erwartung wird so gründlich enttäuscht, dass Komik entsteht: Die er_____________ 73
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Literaturtheoretiker und -wissenschaftler sprechen nicht von der ›Klasse der literarischen Texte‹ (und von Texten als ›Elementen‹ dieser Klasse), sondern vom Bereich (Ingarden), der Gruppe (Kayser) oder der Gesamtheit der literarischen Texte (Letzteres häufig in Lexika; siehe z.B. oben, Anm. 59). Dass die Grenzen des Literaturbereichs auch nach Ingarden unscharf sind, folgt aus dem, was ich gegen Ende des 2. Teils über Ingardens Literaturdefinition gesagt habe. Jandl: Das Öffnen und Schließen des Mundes, S. 76. – Die letzten zwei Zeilen des Textes, auf die es mir ankommt, sind natürlich auch ein wesentlich umstrittener Fall. Ingarden würde sie, anders als Jakobson, sozusagen von vornherein aus dem Literaturbereich ausschließen.
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habene Poesie besteht in einem »spruch mit kurzem o«; und der »spruch« gibt keine Weisheit, sondern ein »ssso« kund. Auf der anderen Seite muss man unter Voraussetzung der Poetizitätsdefinition Jakobsons allerdings auch Folgendes sagen: Der Text spruch mit kurzem o / ssso weist schon seiner Kürze wegen nur wenige Äquivalenzen auf, und das von Jandl gesetzte Signal, die Vorlesung sei nun zu Ende und man solle nach Hause gehen, ist naheliegenderweise als die referentielle und konative Funktion des Textes zu interpretieren – weshalb76 die poetische Funktion des Textes doch wohl eher eine sekundäre Funktion ist, die die primäre Funktion der Äußerung bzw. die Eindrücklichkeit und Wirksamkeit der Schlusspunktsetzung nicht ersetzt, sondern bloß verstärkt. Und tatsächlich steht Jandls spruch ja auch nicht in einem Gedichtband, sondern am Ende einer Universitätsveranstaltung. Jakobsons Poetizitätsdefinition vorausgesetzt, bleibt also, alles in allem genommen, zweifelhaft, ob der spruch mit kurzem o zur Poesie gehört oder nicht77 – und dies muss zweifelhaft bzw. ins Ermessen des Urteilenden gestellt bleiben, da ein exaktes Poetizitätskriterium bzw. eine mathematisch genaue Angabe über den Grad der Poetizität, den ein Text haben muss, um Poesie zu sein, bei Jakobson fehlt. Der spruch mit kurzem o ist ein Übergangsfall oder, umgangssprachlich gesprochen, eine Art Zwischending zwischen Poesie und Nicht-Poesie.78
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Folgendes ist in Analogie zu dem formuliert, was Jakobson in seiner Analyse der Wahlpropagandaformel »I like Ike« sagt (P 93). Zweifelhaft ist auch der ›funktionale‹ Status der Universitätsvorlesung: Wird sie, die sozusagen von Natur ein Gebrauchstext ist, nicht durch den spruch mit kurzem o verfremdet und poetifiziert? An dieser Stelle sei zweierlei angemerkt: (1) Neben dem wesentlich umstrittenen und dem Übergangsfall gibt es noch andere Grenzfälle, etwa den Mischfall (in Form des barocken Figurengedichts oder der Bildergeschichte von Wilhelm Busch) oder den Fall des unechten literarischen Werks, das (wie Klaus Manns Schlüsselroman Mephisto) in der Maske eines Romans auftritt, aber ›reale Personen‹ bloßstellen will und insofern – jedenfalls nach Maßgabe von Ingardens (relativ ›enger‹) Definition des literarischen Kunstwerks – eindeutig »außerkünstlerische Zwecke« verfolgt (vgl. LK 310, 183 Anm.; vgl. auch Ingarden: Vom Erkennen, S. 79). (2) Je nach Literaturdefinition sind die Einteilungen der literarischen Grenzfälle Einteilungen besonderer Art; die Einteilung ist bei Ingarden, der vier Grenzfälle unterscheidet (LK 337-353), eine andere als bei Jakobson, der nur den Übergangsfall anspricht. Man kann also die These ›Andere Literaturdefinition – andere Grenzen des Literaturbereichs – Ausgrenzung anderer Texte‹ erweitern um den Punkt ›andere Einteilung der literarischen Grenzfälle‹.
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Schluss Die Ergebnisse meiner Untersuchung lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Jakobson definiert den Literaturbegriff anders als Ingarden, und dies heißt auch: Er zieht die Grenzen des Literaturbereichs anders als dieser. Oder verallgemeinert und in der anti-essentialistischen Ausdrucksweise sprachanalytischer Philosophen: Die Literaturdefinition und die Bestimmung der Grenzen des Literaturbereichs gibt es im Bereich der klassischen Literaturtheorie nicht. (Auf die Sache namens ›Literatur‹ bezogen gesprochen: Es gibt nicht die Klasse derjenigen ›ontologischen‹ Eigenschaften, über die alle literarischen Werke und nur sie verfügen – woraus folgt, dass sich eine eindeutige ›natürliche‹ Abgrenzung des Literaturbereichs eben nicht vorfinden lässt.) Berücksichtigt man die Aufdeckung der Unschärfe der Grenzen, kann man das Ergebnis umfassender – und ebenfalls negativ – so formulieren: Die Literaturbegriffe der klassischen Literaturtheoretiker sowie der entsprechenden literaturwissenschaftlichen Schulen sind nicht einheitlich und nicht scharf definiert, und die Grenzen des Literaturbereichs sind nicht einheitlich bestimmt und nicht scharf gezogen. Anhang Es gibt zwei gegensätzliche Arten, auf die Uneinheitlichkeit und Unschärfe des literaturtheoretisch definierten Literaturbegriffs zu reagieren, nämlich (1) die Bildung eines ›neuen‹ und nunmehr einheitlichen und relativ exakten Standardbegriffs von Literatur und (2) die differenzialistisch-sprachanalytische, etwa am Modell der Familienähnlichkeit orientierte Charakterisierung des gemeinsprachlichen Literaturbegriffs, die (3) mit der Bestimmung präziser fachsprachlicher Literaturbegriffe durchaus vereinbar ist. (1) Die Bildung eines ›neuen‹ Standardbegriffs von Literatur. Weil man die Unschärfe und – vor allem – die Uneinheitlichkeit der Literaturdefinitionen bzw. der Schulbegriffe von Literatur als belastend, wenn nicht gar als in wissenschaftstheoretischer Hinsicht ruinös ansieht, versucht man oft, durch die Formulierung einer neuen, allgemeineren und nicht-klassischen bzw. nicht-ontologischen Literaturdefinition über die genannten Mängel hinauszukommen; oder auch: Man versucht, einen Standardbegriff von Literatur zu definieren als einen ›einheitlichen‹ und mit besonderer Sorgfalt und Genauigkeit hergestellten Maßstab für die Zuordnung aller in Frage kommenden Texte. Ich verdeutliche den Sachverhalt anhand eines Beispiels: Eric D. Hirsch stellt die Unzulänglichkeit aller traditionellen Literaturdefinitionen – übrigens ganz im Stile des späten Wittgenstein – deutlich heraus: »Literary theory gets into trouble only when it pretends that the word
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literature can be satisfactorily defined, and then tries to erect generalizations on such a delusive definition.«79 Hirsch würde Ingardens und Jakobsons Literaturdefinitionen ablehnen mit dem Argument, sie seien bloß stipulativ oder festsetzend bzw. normierend (»merely stipulative definitions«),80 und vor allem: sie seien zu eng und zu einseitig: sie machten »the teaching and study of literature more narrow and one-sided than is good for ourselves, our students and our culture.«81 Offenbar von einem ›neuen‹ »Verlangen nach Einheitlichkeit« getrieben – und nunmehr also ganz gegen den Stil und die Empfehlung des späten Wittgenstein82 – legt Hirsch später eine ›einheitliche‹ Definition vor, von der er zwar weiß, dass sie stipulativ ist, die er aber für höchst nützlich und – was mir hier wichtiger ist – für hinreichend allgemein hält: »Literature includes any text worthy to be taught to students by teachers of literature, when these texts are not being taught to students in other departments of a school or university.«83 Gegen Hirsch muss man einwenden: Seine pädagogisch motivierte und der »humanistic education«84 verpflichtete Literaturdefinition ist nicht weniger problematisch als die ›sachanalytisch‹ orientierten Literaturdefinitionen Ingardens und Jakobsons. Ob die humanistische Bildung ein angemessenes Erziehungsziel ist und wie der Begriff der humanistischen Bildung zu bestimmen ist, dürfte ebenso ›wesentlich umstritten‹ sein, wie die ontologisch definierten Literaturbegriffe es sind. Ergo: Auf dem von Hirsch eingeschlagenen Weg gelangt man nicht zu einer ›allgemeingültigen‹ Standarddefinition von Literatur – und dass man auch auf keinem anderen (ähnlichen) Weg dazu gelangt, liegt eigentlich auf der Hand: Man kann den höchst vielfältigen und komplexen Bereich der Literatur (des literarischen Kunstwerks, der Poesie usw.) nicht in einer einzigen alles umfassenden Phrase abbilden. Unter Hinweis auf das in der englischen Ethik gebräuchliche Schlagwort ››Ought‹ implies ›can‹‹ füge ich hinzu, dass man auch gar nicht erst versuchen sollte, eine bestimmte Standarddefinition des Literaturbegriffs zu liefern. (2) Der Literaturbegriff als Familienähnlichkeitsbegriff. Von einem differenzialistisch-sprachanalytischen Standpunkt85 aus mache ich folgenden Vorschlag: _____________ 79 80 81 82 83 84 85
Hirsch: What Isn’t Literature?, S. 26. Ebd., S. 34. Ebd., S. 28. Vgl. Pitcher über Wittgenstein als einen, der im »Sehnen« oder »Verlangen nach Einheitlichkeit« die Hauptursache für die Entstehung philosophischer Probleme sieht (siehe Pitcher: Die Philosophie Wittgensteins, S. 251). Hirsch: What Isn’t Literature?, S. 34. Ebd. Zu diesem Standpunkt (der auf Ingardens und Jakobsons Literaturtheorie bezogen auch ein metatheoretischer Standpunkt ist) siehe Strube: Philosophie der Literaturwissenschaft, S. 8 u.ö.
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Um ein treueres und realistischeres Bild an die Stelle der übersimplifizierten Literaturvorstellungen Ingardens und Jakobsons zu setzen,86 sollte man den Literaturbegriff nach dem Modell von Wittgensteins Familienähnlichkeitskonzept rekonstruieren87 und sagen: (a) Der Ausdruck ›Literatur‹, wie er gemeinsprachlich gebraucht wird, ist nicht angemessen oder ›realistisch‹ bestimmbar durch die Angabe von notwendigen (›literatur-machenden‹) Eigenschaften, die in ihrer Konjunktion hinreichend wären, den Bereich namens ›Literatur‹ eindeutig und scharf zu begrenzen. Vielmehr gilt: Der Literaturbegriff ist ein offener Begriff – ein open concept88 –, was einschließt: Die Liste der literatur-machenden Eigenschaften ist unabgeschlossen, und viele dieser Eigenschaften, wenn nicht alle, sind nur vage bestimmt. (b) Auf der anderen Seite ist der Ausdruck ›Literatur‹ aber kein Homonym. Literarische Kunstwerke89 bilden offensichtlich keine buntscheckige zusammenhanglose Gruppe von (lax gesagt) Dingen. Sie sind nicht nach Lust und Laune zusammengruppiert (vgl. oben S. 63f.), sondern nach Ähnlichkeiten. (c) So, wie es zwischen den Mitgliedern einer Familie »Familienähnlichkeiten« gibt, nämlich »ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen«,90 gibt es auch zwischen den ›literarisches Kunstwerk‹ genannten Dingen einander übergreifende und kreu_____________ 86 87
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Ich verwende hier das Vokabular des ›Differenzialisten‹ Toulmin (siehe Toulmin: Voraussicht, S. 18). Zu ›Familienähnlichkeit‹ siehe Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 66ff. (Es sei darauf hingewiesen, dass es Wittgenstein hier um die aufgrund von Ähnlichkeiten sichtbare Familienzugehörigkeit geht und nicht um die durch historische Dokumente oder eine DNA-Analyse nachweisbare Familienzugehörigkeit.) Näheres zu Wittgensteins Familienähnlichkeitskonzept in: Strube: Ästhetik, S. 8-19. Zu Wittgensteins Begründung der Bildung von Analogien (à la Familienähnlichkeit) siehe Strube: Wie Wittgenstein philosophiert, S. 75f. Das Familienähnlichkeitskonzept ist ein Konzept von mehreren Konzepten, mit deren Hilfe man die Verhältnisse im Gebrauch des Ausdrucks ›Literatur‹ charakterisieren bzw. beleuchten kann. Dass der Literaturbegriff auf sprachanalytischer Basis auch anders charakterisierbar ist, wurde oben schon gesagt und gezeigt. Im Hinblick auf den so genannten Literaturstreit liegt es nahe, den Literaturbegriff (mit Gallie) als wesentlich umstritten oder (mit Stevenson) als persuasiven Begriff zu charakterisieren. Im Hinblick auf die Vielfalt der (literaturtheoretischen) Gebrauchsweisen des Ausdrucks ›Literatur‹ erscheint mir die Charakterisierung als Familienähnlichkeitsbegriff am passendsten. Vgl. Weitz: Aesthetics, bes. S. 175. – Auf S. 171 heißt es über die traditionelle ästhetische Theorie: »Its attempt to discover the necessary and sufficient properties of art is logically misbegotten for the simple reason that such a set and, consequently, such a formula about it, is never forthcoming.« Der Einfachheit halber rede ich hier und in den folgenden Sätzen nur von literarischen Kunstwerken. Der Sachverhalt, um den es geht, ist derselbe, wenn die Sache ›literarisches Werk‹, ›Poesie‹ oder dergleichen heißt. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 66.
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zende Ähnlichkeiten. Diese Ähnlichkeiten – oder signifikanten Eigenschaften – sind im Falle des literarischen Kunstwerks nicht nur Fixierung, sprachkünstlerische Gestaltung und Fiktionalität,91 sondern auch die von Ingarden genannten metaphysischen Qualitäten92 und das besonders prägnant von Gabriel thematisierte Unaussagbare etwa der ästhetischen Idee oder des Symbols.93 Diese – und ähnliche – Eigenschaften sind Eigenschaften, die sozusagen machen, dass aus einem Text Literatur wird; und es sind Eigenschaften, von denen in einem zur Literatur zählenden Text alle gegeben sein können oder nur einige – und wenn einige, dann diese in dieser oder in jener Kombination. (Die Familienähnlichkeit zwischen zwei Familienmitgliedern ist ja auch dann schon gegeben, wenn beide sich nur in Wuchs, bestimmten Gesichtszügen und der Haarfarbe ähneln.) (d) So wie zumindest die große oder mitgliederreiche Familie hat auch die Familie namens ›Literarisches Kunstwerk‹ ›unscharfe Ränder‹: Es gibt ja Texte, die nur ganz wenige der signifikanten literatur-machenden Eigenschaften besitzen (etwa nur Fixierung und Fiktionalität) und unter diesen Eigenschaften solche (wie Fiktionalität), die nicht eindeutig identifizierbar sind (Ist ein Text fiktional, der den Untertitel ›Roman‹ hat, in den aber Reiseberichte und Tagebucheintragungen integriert sind?).94 _____________ 91 92 93
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Ich nehme hier die drei literatur-machenden Eigenschaften auf, die Jost Schneider in seinem Beitrag anführt (s.u. S. 449f.). S.o. S. 48. Auf letztere Eigenschaft bezogen, die auch als die Darstellung eines Allgemeinen in einem Besonderen charakterisiert werden kann, heißt es bei Gabriel: »In literarischen Texten sagt der Autor nicht, was er meint, er zeigt es vielmehr.« (Gabriel: Interpretation, S. 155). Literarische Texte vermitteln nach Gabriel eine nicht-propositionale Erkenntnis, die nicht oder jedenfalls nicht ganz oder ›abschließend‹ aussagbar ist (vgl. ebd., S. 152f.; vgl. auch Gabriel: Unaussagbarkeit, bes. S. 767f.) Durch eine Diskussion auf der Tagung »Grenzen der Literatur« in Irsee veranlasst weise ich darauf hin, dass die Anwendung des Familienähnlichkeitsmodells auf den Literaturbegriff die Anwendung des Prototypenmodells ausschließt. Nach dem Familienähnlichkeitsmodell ist die Art und Anzahl der Ähnlichkeiten zwischen den betreffenden Texten (oder auch: die Art und Anzahl der Bedeutungskomponenten des Ausdrucks ›Literatur‹) unbestimmt und variabel; und: Alle Mitglieder der Familie sind im Großen und Ganzen gleichwertig; jedenfalls gibt es keinen Text, der als das ›Zentrum‹ der Familie namens ›Literatur‹ gelten könnte. Nach dem Prototypenmodell hingegen sind nicht alle betreffenden Texte gleichwertig; vielmehr gibt es den optimalen Vertreter oder Repräsentanten der betreffenden Texte, nämlich denjenigen, in dem »die meisten, wenn nicht alle, Ähnlichkeitskreise […] zentriert sind« (Holenstein: Universalien, S. 182) und der deshalb als »allgemeines Leitbild« (ebd.) dient. So wären im Falle des Epos Homers Ilias und Odyssee optimale Vertreter oder eben Prototypen dieser Gattung. (Dies heißt auch: Die ›Logik‹ des Eposbegriffs ist eine andere als die des Literaturbegriffs; und letzterer ist, anders als der Eposbegriff, nicht angemessen mit Hilfe des Prototypenmodells charakterisierbar. Vgl. zu diesem Problem Strube: Typologie, bes. S. 41-45).
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(3) Die Brauchbarkeit des Literaturbegriffs. Wichtig ist zu sehen, dass die ›Uneinheitlichkeit‹ und Unschärfe den Literaturbegriff nicht unbrauchbar macht. Die ›Familienähnlichkeitsstruktur‹ des Literaturbegriffs bildet sozusagen die Diversität der ›Literatur‹ genannten Texte ebenso ab wie deren Zusammengehörigkeit – und mithin den Umstand, dass man Literatur in der Regel relativ problemlos von Nicht-Literatur unterscheiden kann. Wichtiger ist mir im gegebenen Zusammenhang Folgendes: Der (gemeinsprachliche) Familienähnlichkeitsbegriff ›Literatur‹ kann, falls erforderlich, (fachsprachlich) vereindeutigt und präzisiert werden, und zwar ohne dass der Ausdruck ›Literatur‹ – eben im Fall einer ›neuen‹ Definition – durch einen Neologismus (wie ›Letteratur‹) ersetzt werden müsste. Tatsächlich sind die Literaturdefinitionen Ingardens und Jakobsons ja auch Vereindeutigungen und Präzisierungen des gemeinsprachlich gebrauchten Ausdrucks ›Literatur‹. Worauf es demnach ankommen muss, ist dies: Zu Beginn einer entsprechenden Untersuchung muss der Literaturtheoretiker bzw. Literaturwissenschaftler erforderlichenfalls (etwa im Falle der Einführung in die Literaturwissenschaft)95 den eigenen – oder genauer: den im betreffenden Kontext gemeinten – Literaturbegriff definieren bzw. explizieren und mithin die Grenzen des Literaturbereichs markieren, der zur literaturwissenschaftlichen Untersuchung ansteht. Zum leichteren Verständnis der Definition ist es darüber hinaus zweckmäßig, die literaturtheoretische Tradition aufzudecken, in der man selber steht. Beispielhaft ist in beiden Punkten Wolfgang Kayser, der zu Beginn seiner Einführung in die Literaturwissenschaft Antwort gibt auf _____________ 95
Selbstverständlich gibt es viele literaturwissenschaftliche Kontexte, in denen eine Definition des Literaturbegriffs gar nicht vollzogen werden muss – und sollte. Für den Fall, dass ein Literaturwissenschaftler etwa Brentanos Wiegenlied auf seinen eigentümlichen Stil hin interpretiert, ist es nicht nur nicht nötig, sondern auch unangebracht, den vorausgesetzten Literaturbegriff zu explizieren, und zwar unangebracht unter anderem aus pragmatisch-ökonomischen Gründen (›Wo es nicht juckt, soll man nicht kratzen‹). Oder: Für den Fall der Aufnahme von Autoren in ein literarisches Lexikon ist es völlig ausreichend, sich auf eine bestimmte, relativ enge ›übliche‹ Bedeutung des Wortes ›Literatur‹ festzulegen, etwa durch Anführung des betreffenden Synonyms (also eines Ausdrucks wie ›schöngeistiges Schrifttum‹ oder ›Schöne Literatur‹). Wolfgang Kayser belässt es im Vorwort zu seinem Kleinen literarischen Lexikon – mit guten Gründen – bei der bloßen Nennung des Ausdrucks ›Schöne Literatur‹: »Maßgebend [sc. für die Aufnahme von Autoren, W.S.] war die Bedeutung, die dem jeweiligen Autor innerhalb der schönen Literatur zukommt.« (Kayser: Kleines literarisches Lexikon, S. 5) Oder: Für den Fall, dass man den literarischen Kanon des Aufklärungszeitalters untersuchen will, ist es völlig ausreichend, auf einige Beispiele, etwa auf Romane, theologische und historische Schriften, hinzuweisen und darauf, dass man ›einen weiten Literaturbegriff‹ voraussetze, weil dies zweckmäßig sei: »[...] nur er [sc. der relativ weite Literaturbegriff, W.S.] erscheint den Bildungs- und Lektüregewohnheiten des enzyklopädischen Zeitalters angemessen« (Zelle: Kanon, S. 4).
Die Grenzen der Literatur oder Definitionen des Literaturbegriffs
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die Frage »Was heißt Literatur?«,96 mit seiner Antwort ausdrücklich den »Gegenstand der Literaturwissenschaft«97 bestimmt bzw. die Grenzen des von ihm intendierten Literaturbereichs – und der im Kontext seiner Definition auf die (phänomenologische) Tradition verweist, in der er steht, nämlich auf Roman Ingardens ontologisch orientierte Literaturtheorie. Bibliographie Ball, Hugo: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften. Hg. von Hans B. Schlichting. Frankfurt 1984. Batteux, Charles: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Übers. und mit Abhandlungen begleitet von Johann Adolf Schlegel [1770]. Hildesheim, New York 1976. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus / Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts. Übers. und mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold. Hamburg 1983. Danto, Arthur C.: Artworks and Real Things. In: Theoria 39 (1973), S. 1-17. Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart 1988. Eimermacher, Karl: Formalistische, strukturalistische und semiotische Analysen. In: K.E.: Wie grell, wie bunt, wie ungeordnet. Modelltheoretisches Nachdenken über die russische Kultur. Bochum 1995, S. 63-86. Fucks, Wilhelm: Nach allen Regeln der Kunst. Stuttgart 1968. Gabriel, Gottfried: Explikation. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Basel, Darmstadt 1972, Sp. 876. Gabriel, Gottfried: Zur Interpretation literarischer und philosophischer Texte. In: G.G.: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart 1991, S. 147-160. Gabriel, Gottfried: Logische und ästhetische Unaussagbarkeit. In: Wolfram Hogrebe (Hg.): Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie. Berlin 2004, S. 762-769. Gallie, Walter B.: Art as an Essentially Contested Concept. In: The Philosophical Quarterly 23 (1956), S. 97-114. Gallie, Walter B.: Philosophy and the Historical Understanding. London 1964. Geiger, Theodor: Ideologie und Wahrheit. Stuttgart 1953. Heselhaus, Clemens: Deutsche Lyrik der Moderne. Düsseldorf 1961. Hirsch, Eric D.: What Isn’t Literature? In: Paul Hernadi (Hg.): What Is Literature? Bloomington/Ind., London 1978, S. 24-34. Holenstein, Elmar: Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus. Frankfurt/M. 1975. Holenstein, Elmar: Sprachliche Universalien. Eine Untersuchung zur Natur des menschlichen Geistes. Bochum 1985. Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk. 2., verb. und erw. Aufl. Tübingen 1960. Ingarden, Roman: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen 1968. Ingarden, Roman: Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Tübingen 1969.
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Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 12. Ebd., vgl. auch ebd., S. 16.
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Werner Strube
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Die Grenzen der Literatur oder Definitionen des Literaturbegriffs
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KLAUS WEIMAR
Funktionen des Literaturbegriffs
Die Biowissenschaften haben den Grundbegriff ›Leben‹, der ihr Forschungsgebiet sowohl umreißt als auch abgrenzt vom Nicht-Leben, für das beispielsweise die Mineralogie zuständig sein mag. Es wird wohl nicht so sein, dass die Frage ›Was ist Leben?‹ nie gestellt würde, aber sie steht offenbar nicht im Mittelpunkt des Interesses, und selbst wenn sie keine unzweideutige und dauerhafte Antwort gefunden hat, wie anzunehmen sein wird, scheint sich das nicht direkt negativ auf die Forschung auszuwirken, um vorsichtig zu reden. Manchmal allerdings wird es doch nötig, den Nebel über der Grenze zwischen Leben und Nicht-Leben aus praktischem Interesse zu lüften und sie scharf nachzuzeichnen. Dann sieht sich etwa die Humanmedizin gefordert, wissenschaftlich verantwortbar zu sagen, wann noch-nicht-menschliches Leben in menschliches und wann menschliches in nicht-mehr-menschliches übergeht, definitorisch festzulegen also, bis zu welchem Zeitpunkt (diesseits welcher Grenze) eine Abtreibung noch nicht als Abtötung menschlichen Lebens und von welchem Zeitpunkt an (jenseits welcher Grenze) eine Organentnahme zwecks Transplantation nicht mehr als Ausschlachtung eines lebendigen Menschen gelten soll. Dass die Literaturwissenschaft mit ihrem Grundbegriff ›Literatur‹ sich mit analogen praktischen Notwendigkeiten konfrontiert sehen könnte, steht nicht zu erwarten. Die Literaturkritik inszeniert oder simuliert zwar permanent den Notfall mit schneidigen Machtsprüchen, dass dies oder das nicht mehr Literatur oder noch nicht Literatur sei oder den Ansprüchen an Literatur nicht genüge (die kursivierten Phrasen lassen sich ertragreich googlen). Aber das hat andere Gründe und spielt sich in einer anderen Branche ab. Die Literaturwissenschaft ist jedoch weder aus betrieblicher noch aus außerbetrieblicher praktischer Notwendigkeit darauf angewiesen, ihren Grundbegriff ›Literatur‹ trennscharf zu machen oder gemacht zu haben. Es geht
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wahrlich auch ohne das.1 Vorzügliches in Edition, Interpretation, Kommentar, Gattungstheorie, Metrik, Literaturgeschichtsschreibung usw. wird auch ohne präzisen Literaturbegriff nach wie vor möglich sein, und Erbärmliches wird auch mit ihm oder durch ihn (gesetzt, es gebe ihn) nicht verhindert werden können. Für das Viele, das zwischen Vorzüglichem und Erbärmlichem liegt, gilt selbstverständlich dasselbe. Das Bemühen um eine Präzisierung des Literaturbegriffs kommt zwar als ein genuin wissenschaftliches nicht in Betracht als Maßnahme im Dienste dessen, was diese dummschicken Manager ›Qualitätssicherung‹ oder ›Effizienzsteigerung‹ oder ›Exzellenz‹ nennen, ist aber deswegen noch lange nicht überflüssig, schädlich oder verwerflich. Nur bedarf es anderer Begründungen oder auch gar keiner. I Was präzisiert werden soll (in diesem Falle der Literaturbegriff), ist trivialerweise eben damit als vorhanden vorausgesetzt, obwohl als unpräzise und präzisionsbedürftig. Der vorausgesetzte Literaturbegriff pflegt ein allgemein gängiger zu sein, und zwar gängig nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern auch außerhalb ihrer. Das haben Grundbegriffe dieses Typs nämlich so an sich, dass sie nicht das exklusive Eigentum einer Wissenschaft, sondern gemeinfrei sind, und das hat auch sein Gutes. Denn darauf, dass ein Literaturbegriff (in mehr als einer Variante) außerhalb der Literaturwissenschaft unablässig kursiert, kann man sich verlassen. Den kriegen wir nicht weg, auch wenn wir es sollten können wollen, und er ist keineswegs kriterienlos, einfach deshalb nicht, weil er ein Begriff ist. Kein Anlass also, damit zu drohen oder sich davor zu fürchten, dass aus »Mangel an Kriterien für eine Unterscheidung der Literatur von Nicht-Literatur« sich irgendwann nicht mehr unterscheiden lasse, »was Kontext und was (literarischer) Text ist«.2 Der jeweils vorausgesetzte kurrente Literaturbegriff wird kaum jemals expliziert, sondern meist nur ›angewandt‹. Umso mehr ist es zu schätzen, dass Terry Eagleton eine von dessen (englischen) Varianten exponiert, indem er aufzählt, »was normalerweise unter der Überschrift ›Literatur‹ zusammengefaßt wird«. Die englische Literatur des 17. Jahrhunderts umfaßt die Dramen Shakespeares und Websters, die Gedichte Marvells und die Epen Miltons; aber sie erstreckt sich auch auf die Essays von Francis Bacon, die Predigten von John Donne, John Bunyans religiös-
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Ein nicht an mich adressiertes, in dieselbe Richtung zielendes Diskussionsvotum von Tilmann Köppe hat mir klar gemacht, dass eben dies meine Meinung war und ist, die ich deshalb auch hier notiert haben möchte. Zeuch: Diskurs, S. 14.
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Klaus Weimar allegorische Autobiographie und das, was Sir Thomas Browne geschrieben hat, was immer es auch sein mag. Mit einem kleinen Zugeständnis kann man sogar Hobbes’ Leviathan und Clarendons History of the Rebellion miteinbeziehen. [...] Im 19. Jahrhundert umfaßt die englische Literatur Lamb (nicht aber Bentham), Macaulay (aber nicht Marx), Mill (aber weder Darwin noch Herbert Spencer).3
Es ist zwar keine Explikation und schon gar nicht eine Präzisierung, aber doch eine Exemplifikation eines kurrenten Literaturbegriffs, und das ist nicht nichts. Sie veranschaulicht durch exemplarische Inklusion (›John Stuart Mill‹ rein) und Exklusion (›Charles Darwin‹ raus), welche Aufgabe und Funktion ein jeder Literaturbegriff hat: die Zuordnung von Texten zu einem besonderen Sektor namens Literatur entweder zu vollziehen (Inklusion) oder zu verhindern (Exklusion). Nötig dafür ist ein Kriterium, und Eagleton arbeitet es denn auch heraus und benennt es (behelfsmäßig, wie er selbst einräumt) als ›hochangesehene Schreibweise‹.4 Es sei zwar verantwortlich für die Zusammenstellung der bunten Menge, die unter den vorausgesetzten Literaturbegriff fällt, beziehe sich aber nicht immer auf dasselbe an oder in den inkludierten Texten, so dass zu folgern sei, es sei unmöglich, »das allen anvisierten Objekten gemeinsame, einmalige Unterscheidungsmerkmal zu identifizieren«.5 Dem pflichtet auf seine Weise z.B. auch Jonathan Culler bei.6 Unmöglichkeitsbehauptungen dieser Art sind, wie wir alle wissen, hyperbolische oder auch voreilige Rede. Aus der Erfolglosigkeit der individuellen Versuche, unter den Vorgaben eines vorausgesetzten kurrenten Literaturbegriffs ein Unterscheidungsmerkmal von Literatur und NichtLiteratur auszumachen, folgt nicht die generelle Unmöglichkeit, das Gesuchte zu finden. Natürlich nicht. Vielmehr nimmt unsereiner möglicherweise gerade den angeblichen Negativbefund als zusätzlichen Anreiz, die behauptete Unmöglichkeit doch nicht nur möglich, sondern auch wirklich zu machen und also den Literaturbegriff so auszugestalten und zu präzisieren, dass er seine Funktion der _____________ 3 4
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Eagleton: Einführung, S. 1. Ebd., S. 12: »Definition von Literatur als hochangesehener Schreibweise«. – Es handelt sich natürlich nicht um eine Definition im anspruchsvollen wissenschaftstheoretischen Sinne, und außerdem ist diese ›Definition‹ in sich inkongruent, weil das definiendum ›Literatur‹ ein Objekt oder eine Objektgesamtheit ist, das definiens ›Schreibweise‹ dagegen ein Verfahren oder was auch immer. – Abgesehen davon, trifft Eagletons Kriterium recht gut zusammen mit den Ergebnissen einer Umfrage in Deutschland Mitte der 1970er Jahre: Hintzenberg / Schmidt / Zobel: Literaturbegriff, S. 62ff. – Schon 1902 wird ein sehr ähnliches Kriterium ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass Theodor Mommsen den Nobelpreis für Literatur erhalten (und auch angenommen) hat. Eagleton: Einführung, S. 10. Culler: Literary Theory, S. 35: »The qualities of literature can’t be reduced either to objective properties or to consequences of ways of framing language.«
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Zu- und Einordnung sowohl allgemein als auch fallweise begründbar und nachvollziehbar erfüllen kann. Verantwortlich dafür mag Selbstachtung und Berufsstolz sein (ich will doch nicht einem Fach angehören, das sich nicht einmal über seinen Grundbegriff klar ist), sportlicher Ehrgeiz (muss doch hinzukriegen sein!), Faszination durch die anspruchsvolle Denkaufgabe oder auch ein anderes Motiv dieser Art. Wunsch und Bedürfnis nach Rationalität sind bekanntlich ihrerseits nicht rational. II Unbestritten dürfte sein, dass die kurrenten Literaturbegriffe unpräzise und insofern präzisierungsbedürftig sind. Unbestreitbar ist ferner, dass Präzisierungsversuche schon mehr als einmal unternommen worden sind.7 Unübersehbar ist schließlich, dass keiner dieser Versuche sich bislang hat durchsetzen und alle oder die meisten oder auch nur viele in unserem Fach hat dazu bewegen können, von ihrem je eigenen Literaturbegriff zu lassen. Genau das aber verlangt jede Präzisierung des Literaturbegriffs: sie ist durch sich selbst die Zumutung, das eine oder andere, das nach jeweils vorausgesetztem Literaturbegriff als Literatur gilt (z.B. ›Darwin‹), nicht mehr zu ihr zu zählen oder (seltener) bisher mehr oder weniger ausdrücklich Ausgeschlossenes (z.B. Aphorismen) nun doch in den Begriff einzuschließen. Präzisierungsvorschläge sind die Aufforderung, zwar nicht gerade das Leben, aber doch das Denken zu ändern, und zwar das Denken über den Grundbegriff unseres Faches, und wer macht das schon gern. Noch so sorgfältige und schlüssige Argumente können gerade durch ihre Stringenz entschiedenen Widerstand wecken8 und Befürchtungen eher noch verstärken, als dass sie sie entkräften würden – Befürchtungen etwa, es werde sich mit der Änderung des Literaturbegriffs unabsehbar vielleicht noch anderes ändern oder ändern müssen und es stehe möglicherweise sogar das Selbstverständnis als Literaturwissenschaftler auf dem Spiel. Dergleichen Befürchtungen (ich erfinde sie nicht) lassen darauf schließen, dass Unklarheit darüber be_____________ 7 8
Statt einer vollständigen Bibliographie nur eine (in mehrfachem Sinne) persönliche Auswahl: Fricke: Norm; van Peer: Literature; Schneider: Einführung, S. 9-20; Weimar: Literatur; Grimm: Literatur; Weimar: Bedeutung; Weimar: Niemandsland. Der sich dann geradezu bockig so artikulieren kann: »Ich lasse mir die Überzeugung nicht rauben, daß sie [Goethes Schriften zur Literatur, seine naturwissenschaftlichen Schriften, seine Gespräche mit Eckermann usw., K.W.] ausnahmslos Literatur sind, wenn auch Nicht-Dichtung; daß Platon griechische, Cicero und Tacitus lateinische, Montaigne und Bossuet französische und Emerson amerikanische Literatur höchsten Ranges geschrieben haben und daß, wenn die Tatsachen [!] den Theorien widersprechen, nicht die Tatsachen falsch sind, sondern die Theorien.« (Rüdiger: Literatur, S. 29f.)
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steht, welche Funktionen der Literaturbegriff hat und rechtens nur haben kann. Die Bestimmung dieser Funktionen sollte eigentlich jene Befürchtungen gegenstandslos machen und jedenfalls verkünden: fürchtet euch nicht. Wie die Versuche zur Präzisierung des Literaturbegriffs angelegt sind, hat Thomas Clark Pollock, einer der frühen Arbeiter an diesem Projekt, schon 1942 skizziert. Man fixiert erstens Textgruppen, die allenthalben als Literatur gelten (z.B. Romane, Dramen, Gedichte), schließt zweitens im eigenen Interesse Wertungen aus (um nicht nachher unsinnigerweise sagen zu müssen, dass schlechte Literatur dann doch keine Literatur sei) und bestimmt drittens eine Textgruppe, die ebenso allgemein nicht zur Literatur gerechnet wird (z.B. wissenschaftliche Texte)9, um dann viertens im Vergleich von erstens und drittens die Merkmale zu bestimmen, die nur auf einer von beiden Seiten auftreten. Damit dürften die bisherigen Präzisierungsversuche recht zutreffend beschrieben sein, auch darin, dass sie sich stets bemühen, den Kontakt zu kurrenten Literaturbegriffen und also zum allgemeinen Sprachgebrauch nicht zu verlieren. Jeder präzisierte Literaturbegriff wird (aus hoffentlich angebbaren Gründen) zwar mehr Texte oder weniger umfassen als der jeweils vorausgesetzte, aber es gibt doch auch einen geschützten Bereich oder einen harten Kern, den noch kein Literaturbegriff jemals ausgeschlossen hat und ausschließen wird (im Deutschen gehört natürlich z.B. Goethes Faust dazu). Präzisierungen des Literaturbegriffs sind, metaphorisch gesprochen, Grenzbereinigungen zwischen den bestehenden Gebieten ›Literatur‹ und ›Nicht-Literatur‹ und nicht Staatsgründungsakte. Sie geben sich fast seit jeher zu erkennen als Antworten auf die Frage ›Was ist Literatur?‹, die inzwischen zur vertrauten und oft verwendeten Formel geworden ist.10 Weniger vertraut oder sogar unvertraut dürfte sein, dass diese scheinbar ganz einfache Frage in sich eine zweifache oder Doppelfrage ist, deren beide Seiten oder Versionen sich dadurch voneinander unterscheiden, welches Wort im Fragesatz jeweils als Satzsubjekt angesetzt wird. Wird (1) Was als Satzsubjekt angenommen, so richtet sich die Frage darauf, was (alles) als Literatur gelten soll, und die Antwort wird weniger _____________ 9
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Pollock: Nature, S. 9: »Whatever other characteristics this field [i.e. literature, K.W.] has, therefore, I suggest (1) that it includes at least certain types of prose, especially prose fiction, as well as much verse, and this without prejudice; (2) that it does not embrace simply the most excellent specimens of its kind, but includes the poor as well as the good, the minor as well as the great; and (3) that it is distinguished from scientific communication by essential characteristics, not quality or value. […] Such a definition must, whatever else it does, (1) include prose as well as verse, (2) avoid the pitfalls of value-definition, and (3) distinguish the essential characteristics of literature from those of science.« Die frühesten mir bekannten Belege stammen von Wellek / Warren: Theory (1942), S. 9: »What is literature? What is not literature?«, und von Sartre: Littérature (1948).
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einzelne Texte als vielmehr bestimmte Textgruppen, Gattungen, Textsorten und dergleichen aufzählen und bestimmte andere ausdrücklich ausschließen. Wird dagegen (2) Literatur als Satzsubjekt aufgefasst, dann ist die Frage, als was Literatur gelten soll, und die Antwort wird lauten: als Klasse von Texten mit (aufzuzählenden) Merkmalen, die in anderen Textklassen nicht auftreten. Die was-als-Frage (1) richtet sich auf den Umfang des Literaturbegriffs (oder ersatzweise auch der Literatur) und artikuliert sich deshalb vorzugsweise in topographischen Termini (für Pollock ist Literatur »this field«, Grenzen der Literatur heißt dieser Sammelband). Die als-was-Frage (2) visiert den Inhalt des Literaturbegriffs an. Der Literaturbegriff hat zwei Seiten oder Aspekte: seine Extension (darauf zielt die Frage [1]) und seine Intension (darauf zielt Frage [2]). Der Literaturbegriff, wie immer er auch ausfallen mag, ist ein klassifikatorischer Begriff und steht als solcher immer noch im Verdacht, normativ (und also wissenschaftlich leicht anrüchig) zu sein, einfach deshalb, weil er ein- und ausgrenzt. Manche können sich unter einem deskriptiven Literaturbegriff nur einen vorstellen (den ›weiten‹ oder ›erweiterten‹), der alles Geschriebene bzw. Gedruckte überhaupt unter sich begreift, und tun sich schwer damit, dass selbst in ihm ein Unterscheidungskriterium gesetzt ist, das Kriterium ›Schrift‹ nämlich, wodurch mündlich Überliefertes ausgeschlossen wird. Deshalb müssen sie eigens betonen, das solle natürlich nur »in nicht wertender Weise«11 oder nur deshalb geschehen, weil es sich dabei mittlerweile um ein »Randphänomen« handle.12 Klassifikation (zu deutsch: Bildung von Klassen) ist aber nun wirklich etwas anderes als Wertung oder Normierung. Wir haben offenbar noch einiges an Informationsarbeit vor uns. III Das Bemühen um eine Präzisierung des Literaturbegriffs setzt in der deutschen Literaturwissenschaft, zumindest öffentlich, wohl erst 1939 ein mit einer Abhandlung Günther Müllers. Ich zitiere die Anfangssätze. Auf welche Weise Dichtung Dasein hat, wie Dichtung existiert, das ist eine literaturwissenschaftliche Grundfrage; literaturwissenschaftlich im engsten Sinn, weil hier nicht nach Inhalten, Werten, geschichtlichen Zusammenhängen, Stilen gefragt wird, sondern nach der Seinsart von ›Literatur‹. Daß diese Frage selten gestellt wird, spricht nicht gegen ihre
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Kreuzer: Veränderungen, S. 64. Baasner / Zens: Methoden, S. 12.
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Klaus Weimar Wichtigkeit. Treten doch in der Geschichte jeder Wissenschaft solche Grundlagefragen spät auf.13
Auch wenn es nicht in dieser Allgemeinheit zutreffen sollte – für die Literaturwissenschaft jedenfalls trifft es zu: die literaturwissenschaftliche ›Grundlagefrage‹ ist erst spät gestellt worden, nach Jahrzehnten regen Betriebs selbst unter dem Namen Literaturwissenschaft. Müller mag nicht wirklich der Erste gewesen sein, der die ›Grundlagefrage‹ aufgegriffen hat (er selbst sagt ja auch nur, sie werde »selten gestellt«) – er hat sie durch die Wahl des Publikationsorgans in der Fachöffentlichkeit so verankert, dass sie nicht mehr übersehen werden oder wieder vergessen gehen konnte, obwohl der Zeitpunkt der Publikation (wenige Monate vor Kriegsbeginn) nicht der beste und die Disziplin Literaturwissenschaft in ihrem damaligen Zustand überwiegend weder aufnahmebereit noch fähig zur Weiterarbeit war. Durch und mit Günther Müller hat die germanistische Literaturwissenschaft die Bearbeitung und Bestimmung ihres Grundbegriffs in die eigene Hand und Verantwortung genommen. Das ist ein wissenschaftsgeschichtliches Ereignis ersten Ranges, kaum noch wahrgenommen und gewürdigt. Es ist ein Schritt auf dem Wege zur Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft. Ob er dann auch gelungen ist, bleibt demgegenüber sekundär. Müller schließt sich erklärtermaßen an den ›polnischen Gelehrten‹ Roman Ingarden an, um dessen Einsichten für literaturwissenschaftliche Bedürfnisse und Zwecke zu spezifizieren und weiterzuführen. Seine Antwort auf die literaturwissenschaftliche ›Grundlagefrage‹ leidet allerdings an einer gewissen terminologischen Uneindeutigkeit, die sich indessen im Rückgriff auf Ingarden beheben lässt. Der Titel kündigt an, dass es um »die Seinsweise von Dichtung« gehen wird, aber schon der zitierte erste Absatz spricht von »der Seinsart der ›Literatur‹«, und in der Folge heißt es dann »Seinsweise von Dichtung« (138), »Seinsweise des literarischen Werks« (138), »Seinsweise von Literatur« (142) und zuletzt »Seinsweise von Dichtung, Satzgefüge, Lautgefüge, Bedeutungsgefüge« (152). Für Ingarden ist literarisch die Kennzeichnung einer Textgruppe, innerhalb derer es zwar qualitative Unterschiede (zwischen Werk und Kunstwerk nämlich) gibt,14 die sich aber ungeachtet dessen und als ganze abhebt von all den anderen Texten, welche man mit der (von Ingarden nicht verwendeten) Bezeichnung nicht-literarisch bedenken könnte oder müsste. Was _____________ 13 14
Müller: Seinsweise, S. 137. Ingarden: Kunstwerk, S. 1, Anm. 1: »Wir verwenden den Ausdruck ›literarisches Werk‹ zur Bezeichnung eines jeden Werkes der sog. ›schönen Literatur‹ ohne Unterschied, ob es sich dabei um ein echtes Kunstwerk oder um ein wertloses Werk handelt. Nur dort, wo wir diejenigen Seiten des literarischen Werkes herauszuarbeiten suchen, die für das literarische Kunstwerk konstitutiv sind, verwenden wir diesen letzteren Ausdruck.«
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Ingarden literarisches Werk nennt, trägt bei Müller denselben Namen oder auch den Namen Literatur; Ingardens literarisches Kunstwerk heißt bei Müller wechselweise Dichtung, dichterisches Werk oder auch Wortkunstwerk. Die Binnendifferenzierung (literarisches Werk vs. literarisches Kunstwerk bzw. dichterisches Werk), von Ingarden und von Müller vorgenommen, macht deutlich, dass Wertqualitäten nicht (mehr) bestimmend sein sollen für die Extension des Literaturbegriffs.15 Das ist schon einmal zumindest eine Veränderung des vorausgesetzten kurrenten Literaturbegriffs, insofern er nicht frei von Wertkomponenten gewesen sein sollte. Was nach Müller Literatur von Nicht-Literatur unterscheidet, scheint eine Seinsweise sein zu sollen, die nur ihr eigen ist. Einleitend exponiert er »den vorläufigen Begriff von Dichtung als einem sprachlich gehaltenen Sein« (139). Ein literarisches Werk (und a fortiori auch ein literarisches Kunstwerk) ist demnach ein »sprachliches Gefüge« (137) oder »Sprachgefüge« (140), das »durch zeichenmäßige Fixierung eines persönlichen, bewußtseinsfähigen Trägers überhoben« (142) ist. Die Schriftzeichen selbst sind zwar »unerläßlich für das Wirklichsein literarischer Texte« (141), dem literarischen Werk aber nicht zugehörig, »obwohl es nur auf Grund der heterogenen Zeichen weiterbestehen« (141) kann.16 Das Sprachgefüge namens literarisches Werk also, »nur durch die heterogene, seinem inneren Wesen fremde Zeichenbasis in der Zeit gehalten«, baut sich auf ihr auf aus drei Elementen:17 dem »Lautgefüge« (Sprache in phonetischer Hinsicht), dem ›zeichenmäßig fixierten Satzgefüge‹ (Sprache in syntaktischer Hinsicht) und ›satzmäßig getragenen Bedeutungsgefügen‹ (Sprache in semantischer Hinsicht, also Textwelt) (142). Die Eigenheit des dreifach in sich gegliederten Sprachgefüges ist nun eben seine Seinsweise. Es hat sein Sein in der Weise, »bewußtseinsmäßig aktualisierbar zu sein«, und das ist – anders als bei der Schrift (»Zeichenbasis«) – nicht das Sein in der Weise eines Dinges, sondern lediglich »potentielles Sein, ein esse in potentia«, »das Sein von Satzgefügen« (142), »stets allein aktualisierbares potentielles Sein, das Sein von satzgetragenen Bedeutungsgefügen«, »das bloße ›Bedeutungsein‹«, der ›eigentümliche‹ »Irrealitätscharakter aller Dichtung, dessen Feststellung ihr ja keineswegs das Sein überhaupt abspricht« (143). _____________ 15 16
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Müller: Seinsweise, S. 138, zählt denn auch beispielsweise auf: Abenteuer- und Detektivroman, hohes Kunstepos, Divina Comedia, Hyperion, Wahlverwandtschaften; ständisches Gebrauchslied, Ode, Hymnus; Stegreifkomödie, hohe Tragödie. Diese Unterscheidung zwischen heterogener Zeichenbasis und literarischem Werk steht recht nahe bei Jan Mukařovskýs Unterscheidung von materiellem Artefakt und ästhetischem Objekt, die allerdings damals in Deutschland wohl noch nicht bekannt war. Aufbau und Element sind übrigens Ingardensche Termini, die Müller nicht verwendet.
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Müller versichert, über »die Schranken des Bedeutungseins« könne »kein literarisches Werk hinaus« (143) und es könne »der Abgrund der Seinsweisen nicht übersprungen« werden (144). Das wird man akzeptieren können, ob man die Ontologie von actus und potentia als solche nun goutiert oder nicht: Textwelten (›satzgetragene Bedeutungsgefüge‹) sind und bleiben Textwelten, was denn auch sonst. Aber im gleichen Zuge wird man hinzufügen müssen: dasselbe gilt dann doch wohl selbstverständlich für alle Texte, für literarische wie für nicht-literarische gleichermaßen. Schon hier also – wie später noch öfter18 – die Fehleinschätzung allgemeiner texttheoretischer Aussagen oder Erkenntnisse als spezielle literaturtheoretische, würde man sagen wollen, wenn da nicht noch anderes wäre. Sehr bald nämlich stellt sich heraus, dass die Aussagen über die Seinsweise literarischer Werke unausdrücklich orientiert waren an einem Vergleich mit (gesprochenen) Sätzen »im realen Leben« (144), während der Vergleich mit nicht-literarischen Werken, für die Präzisierung des Literaturbegriffs von alleinigem oder doch besonderem Interesse, erst noch folgt. Zwar gibt unter dieser Voraussetzung der Titel Über die Seinsweise von Dichtung nicht mehr an, wodurch sich literarische Texte von nicht-literarischen unterscheiden, aber dafür ist die Verwechslung von Text- und Literaturtheorie vermieden, die ja doch ziemlich peinlich wäre. Jener Vergleich, ohne zunächst als solcher genannt zu werden, wird eingeleitet durch diese Bemerkung: Der Satz bildet aus Wörtern und ihren Bedeutungen sein Bedeutungsgefüge. Aber es gehört zu dem Satz, daß er den Blick über das Bedeutungsgefüge hinaus auf Gegenstände und Beziehungen zwischen Gegenständen hinlenkt, mögen diese Gegenstände nun als reale vermeint oder als nur vermeinte gesetzt sein. So geht der Vollzug des literarischen Werks leicht durch das im literarischen Werk wirklich gegebene Bedeutungsgefüge hindurch und vollzieht jenseits Setzungen.19
Etwas moderner gesagt: es geht um das Problem der Referenz, um die Beziehung von Wörtern und Sätzen im Text auf ein Jenseits des Textes. In Müllerscher Terminologie: es geht darum, dass sich das Bedeutungsgefüge (die Textwelt) eines Textes selbst überschreitet auf etwas anderes hin, das nicht mehr Bedeutung ist, oder wie eine Dichtung »ihr Bedeutungsgefüge durch ihre Bedeutungen transzendiert«.20 _____________ 18
19 20
Beispielsweise bei Wolfgang Iser mit dem Konzept ›Leerstelle‹. Es beansprucht (Ingardens Konzept ›Unbestimmtheitsstelle‹ missverstehend), dasjenige zu benennen, was literarische Texte von allen anderen unterscheidet, während sich doch überaus leicht Leerstellen in Isers Sinn auch und gerade in dezidiert nicht-literarischen Texten (Fahrplänen z.B.) nachweisen lassen. Müller: Seinsweise, S. 146. Ebd., S. 151.
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Was mit dieser Selbsttranszendierung gemeint ist, wird erläutert durch einen Vergleich der beiden Verse »Über allen Gipfeln / Ist Ruh« mit der »Meldung einer Wetterbeobachtung, daß in den höheren Luftschichten Windstille herrscht«. Der Unterschied zwischen beiden ist, so Müller, dieser: »Die Wettermeldung weist auf eine transliterarische Tatsache hin, das Gedicht dagegen auf ein transliterarisches ›Wesen‹« (147f.).21 Die klassische Definitionsformel: Angabe des genus proximum (Hinweis auf Transliterarisches) und der differentia specifica (Hinweis auf eine Tatsache/ein ›Wesen‹). Das jeweilige Referenzobjekt (Tatsache vs. ›Wesen‹) macht demnach den Unterschied zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten aus. Eben diesen Unterschied bekräftigt Müller mit anderen Ausdrücken und gleich begründungslos an weiteren Beispielen. Die Zusammenfassung: Dichtung, d.h. dichterische Bedeutungsgefüge bringen ›etwas‹ zur Erscheinung, während die Umgangssprache mitteilt oder ausdrückt und wissenschaftliche Literatur Erkenntnisschritte und Erkenntnisbewegungen festlegt. Freilich sind in jeder sprachlichen Äußerung diese verschiedenen Leistungen mehr oder weniger deutlich vorhanden.22 Aber die spezifisch dichterische Leistung ist es, etwas durch das Bedeutungsgefüge zur Erscheinung zu bringen. Und die Erscheinung ist eben die des Gefüges von Bedeutungen.23
Günther Müllers um Präzisierung bemühte Entwicklung des Literaturbegriffs in seiner Intension kommt also zum Abschluss in den Bestimmungen, dass es allein literarischen Texten eigen sei, auf ein ›Wesen‹ hinzuweisen und/oder ›etwas‹ zur Erscheinung zu bringen. All die zugehörigen Beteuerungen, Bekräftigungen, Behauptungen formulieren thetisch aber lediglich eine Intuition, die ihr eigenes Zustandekommen nicht erklären kann. Nirgends in der ganzen Abhandlung ist angegeben, woher ihr Verfasser weiß und woran unsereiner dann soll erkennen können, dass oder ob ein vorliegender Text auf ein ›Wesen‹ hinweist und/oder etwas zur Erscheinung bringt und also ein literarischer ist. Mit anderen Worten: Müllers Doppelkriterium für die Literarizität von Texten (›hinweisend auf ein Wesen und/oder etwas zur Erscheinung bringend‹) und damit für die Grenzziehung zwischen Literatur und Nicht-Literatur ist nicht anwendbar und operationalisierbar, d.h. unbrauchbar. Brauchbar zu diesem Zweck würde es erst, wenn zusätzlich Textmerkmale angegeben wären, die auch Nicht-Professionelle (etwa an Wandrers Nachtlied) sowohl wahrnehmen als _____________ 21
22 23
Ähnlich schon vorher: »Werke der Reportage (aber auch große Bestände der wissenschaftlichen Literatur) erheben den Anspruch, bestimmte reale Dinge und Vorgänge zu treffen. Das gehört zu ihren Unterschieden von einer Dichtung, die den tieferen Sinn der Wirklichkeit gestalten will.« (Ebd., S. 143) In Umkehrung der Chronologie: ein deutlicher Anklang an Roman Jakobsons These von der Dominanz der ›poetischen‹ Funktion der Sprache in deshalb so genannten poetischen Texten. Müller: Seinsweise, S. 151.
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auch wissend oder unwissend als Träger eines Hinweises auf ein ›Wesen‹ verstehen können. Dergleichen Angaben fehlen bei Müller (und wiederum: nicht nur bei ihm). IV Günther Müllers früher Versuch, den Literaturbegriff zu präzisieren, ist inzwischen fremdartig genug geworden (möglicherweise war er das schon von Anfang an), um selbst in seinem Misslingen instruktiv zu sein und Einsichten in die Funktionen des Literaturbegriffs zu eröffnen. Ich bilanziere. Der Literaturbegriff (und sicher nicht nur er) hat zwei Seiten (und nicht zwei Teile), die Extension und die Intension, und beide Seiten stehen in dem problematischen Verhältnis der wechselseitigen Abhängigkeit voneinander. Die Bestimmung der Extension ist angewiesen auf ein Kriterium, mittels dessen sie Literatur (literarische Texte) von Nicht-Literatur (nicht-literarischen Texten) unterscheiden und abgrenzen kann, und das kann sie nur erhalten aus der Bestimmung der Intension des Literaturbegriffs. Die aber hinwiederum ist angewiesen darauf, dass das Gebiet bereits umgrenzt (die Extension bestimmt) ist, in dessen theoretischer Beschreibung jenes Unterscheidungskriterium ausfindig und namhaft gemacht werden kann. Wie sollte man auch nur einigermaßen zuverlässig angeben können, als was (intensional) Literatur gilt oder gelten soll, wenn nicht schon vorgängig geklärt ist, was (extensional) als Literatur gilt oder gelten kann (und umgekehrt)? Für die Literaturwissenschaft ist die Frage ›Was ist Literatur?‹ eine ganz gewöhnliche Forschungsfrage, die beantwortet wird durch einen zweiseitigen Literaturbegriff. Er hat seiner Extension nach die Funktion (1a), ein Gebiet innerhalb der Gesamtheit von Texten nach einem Unterscheidungskriterium zu umgrenzen, und eben damit die Funktion (1b), den Wissenschaftsgegenstand zu bestimmen. Seiner Intension nach hat er die Funktion (2a), den Wissenschaftsgegenstand theoretisch zu beschreiben, und eben damit die Funktion (2b), das Unterscheidungskriterium zu entwickeln, das von und in der Funktion (1a) benötigt wird. So dürfte beiläufig verständlich werden, warum der zweiseitige Literaturbegriff kaum im ersten entschlossenen Anlauf voll entwickelt da sein wird (weder fachhistorisch noch individualbiographisch): eben wegen der wechselseitigen Abhängigkeit seiner beiden Seiten voneinander werden mehrere Durchgänge von Versuch, Erprobung, Korrektur usw. nötig sein, bis das Unterscheidungskriterium dann vielleicht einmal präzis genug zubereitet ist für eine trennscharfe Umgrenzung.
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V An sich sollte es ja sozusagen von selbst einleuchten, dass der Literaturbegriff nicht mehr als (und nur) diese vier Funktionen hat, weil er ein klassifikatorischer Begriff ist. Trotzdem werden ihm immer noch und immer wieder andere Funktionen zugemutet, vorzugsweise (und besonders häufig in den 1970er Jahren) diejenigen der Legitimation oder Begründung. Das Muster ist dabei wohl immer dasselbe, recht einfach abzulesen an einer Bekanntmachung des Fachgebiets Englische Literaturwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt. Im Mittelpunkt der Lehre steht die Befähigung zum kritischen und reflektierten Umgang mit Texten aller Art. Dabei wird ein weiter Literaturbegriff zugrundegelegt, der es ermöglicht, literarische Texte im herkömmlichen Sinne zu anderen Texten und anderen Medien in Beziehung zu setzen.24
Wenn (allein) ein weiter Literaturbegriff es möglich macht, literarische Texte in Beziehung zu setzen zu anderen Texten und Medien, dann muss eben das ohne ihn (oder vor seiner Einführung) unmöglich (gewesen) sein – nackter Unsinn. Das Fachgebiet scheint das aber gar nicht zu merken, weil es offenbar auf anderes aus ist, sagen wir: darauf, die Wahl eines umfangreicheren als des herkömmlichen Gegenstandsbereichs mittels des Literaturbegriffs zu begründen oder wenigstens zu legitimieren, vor wem auch immer. Nur geht auch dieses Vorhaben daneben, weil eben jener Literaturbegriff gemäß seiner Funktion (1b) die Bestimmung des bereits gewählten Gegenstandsbereichs ist und also nicht dessen Wahl begründen oder legitimieren kann. Verallgemeinerte Lehre: der Literaturbegriff ist untauglich in anderen Funktionen als in denen eines klassifikatorischen Begriffs. Wenn man es trotzdem versucht, ihn zu Zwecken der Begründung oder Legitimation zu instrumentalisieren oder zu funktionalisieren, dann rächt er sich für den Missbrauch und lässt hohe Nebenkosten auflaufen oder unerwünschte Nebenwirkungen entstehen: Unsinn (fakultativ) und logische Defekte wie petitio principii oder Verwechslung von Grund und Folge (obligatorisch). Mehr noch: es ist nicht nur unnütz und kostspielig, sondern in der Regel auch noch unnötig und überflüssig, dem Literaturbegriff andere Funktionen zuzumuten als diejenigen, die er hat. Fast immer lässt sich eine solche Zumutung mit Gewinn ersetzen durch aufrechte Rede (und wenn das nicht geht, sollte man die Übung sowieso unterlassen), die im Darmstädter Fall etwa so lauten würde: wir finden es interessant und wichtig, literarische Texte mit anderen Texten und Medien in Beziehung zu setzen, und wollen es deshalb auch machen. Hat jemand was dagegen? Kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. _____________ 24
Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft: Englische Literaturwissenschaft.
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Das Schöne und geradezu Liebenswerte am Literaturbegriff ist, dass man, gewisse eigentlich selbstverständliche Ansprüche an logische Konsistenz immer vorausgesetzt, nichts anderes mit ihm machen kann, als ihn zu haben und in seinen vier Funktionen einzusetzen und außerdem zu pflegen und zu präzisieren. Unter denselben Vorgaben ist er unfähig und untauglich dazu, irgendetwas zu begründen oder zu legitimieren oder zu irgendetwas zu verpflichten, was es auch sein möge. Weil dies das Schicksal und die Gnade aller klassifikatorischen Begriffe ist, sei es noch einmal an einem anderen erläutert. Gesetzt auch also, ich hätte einen trennscharfen Begriff der Kartoffel, so würde er mich zu nichts, aber auch zu gar nichts verpflichten oder befähigen oder berechtigen, weder dazu, das Gewächs roh, gekocht, gebraten, frittiert oder überhaupt zu essen, noch dazu, es, wenn ich es denn verzehren will, mit der Hand oder dem Messer oder dem Taschentuch zum Munde zu führen oder mich zwecks Verzehr auf den Acker (in den Kontext) zu begeben, auf dem es gewachsen ist, noch dazu, anderen das eine oder andere davon vorzuschreiben. Genau so, mutatis mutandis natürlich, verhält es sich auch mit dem Literaturbegriff. Bibliographie Baasner, Rainer / Maria Zens: Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung. 2., überarb. und erw. Aufl. Berlin 2001. Culler, Jonathan: Literary Theory. A Very Short Introduction. Oxford, New York 1997. Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. 4., erw. und akt. Aufl. Stuttgart, Weimar 1997 (Sammlung Metzler 246). Fricke, Harald: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981. Gottschalk, Jürn / Tilmann Köppe (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie. Paderborn 2007 (KunstPhilosophie 7). Grimm, Thomas: Was ist Literatur? Versuch einer Explikation des erweiterten Literaturbegriffs. Neuried 2000 (Deutsche Hochschuledition 102). Hintzenberg, Dagmar / Siegfried J. Schmidt / Reinhard Zobel: Zum Literaturbegriff in der Bundesrepublik Deutschland. Braunschweig, Wiesbaden 1980 (Konzeption Empirische Literaturwissenschaft 3/4). Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft. Halle 1931. Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft: Englische Literaturwissenschaft.
(12.01.2007). Kreuzer, Helmut: Veränderungen des Literaturbegriffs. Göttingen 1975 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1398). Müller, Günther: Über die Seinsweise der Dichtung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 17 (1939), S. 137-152. Peer, Willie van: But What Is Literature? In: John D. Sell (Hg.): Literary Pragmatics. New York 1991, S. 127-141.
Funktionen des Literaturbegriffs
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OLIVER DAVID KRUG / HANS-HARALD MÜLLER / TOM KINDT
Was ist Literatur? Bemerkungen zu einer Frage der Literaturwissenschaft
Was ist Literatur? Wer diese Frage ernsthaft stellt, wird davon ausgehen, dass auf sie im Prinzip eine sinnvolle Antwort gegeben werden kann. Wer diese Frage als Literaturwissenschaftler ernsthaft stellt, wird sich von einer sinnvollen Antwort zudem einen Nutzen für die Literaturwissenschaft versprechen. Welchen? Vielleicht jenen, dem in den folgenden Zeilen Ausdruck verliehen wird: Wer wissen will, was Literaturwissenschaft ist, der muss zunächst wissen, was Literatur ist, weil der zusammengesetzte Begriff sich erst auf der Basis des einfacheren erfassen lässt, den er als Komponente enthält. Literaturwissenschaftler sollten in der Lage sein, Auskunft darüber zu geben, was Literaturwissenschaft ist. Also sollten sie in der Lage sein, Auskunft darüber zu geben, was Literatur ist.
Diese Argumentation klingt nach einem ›Selbstgänger‹. Und eines ist klar: Wenn es einer ist, dann sind die Literaturwissenschaftler am Zug, eine befriedigende Antwort vorzulegen. Aber handelt es sich dabei wirklich um einen Selbstgänger? Hören wir dazu eine prominente Gegenstimme: Nicht die ›sachlichen‹ Zusammenhänge der ›Dinge‹, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde [...].1 Der wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich ist nun zunächst unbedingt die Frage der Geeignetheit der Mittel bei gegebenem Zwecke.2
Fasst man mit Max Weber die Literaturwissenschaft als ein Arbeitsgebiet der Wissenschaften auf, dann liefern die soeben angeführten Zitate das Material für eine Gegenposition zum zuvor zitierten Selbstgänger. Sie kann folgendermaßen paraphrasiert werden: _____________ 1 2
Weber: Objektivität, S. 166. Ebd., S. 149.
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Wer wissen will, was unter Literaturwissenschaft zu verstehen ist, muss sein Augenmerk auf die literaturwissenschaftlichen Fragestellungen (»Probleme«) und auf die Methoden (»Mittel bei gegebenem Zwecke«) zur Beantwortung eben dieser Fragen richten. Also: Nicht der Gegenstandsbereich (im Sinne von: ›Die Klasse der Untersuchungsobjekte‹) grenzt einen Wissenschaftszweig von allen anderen ab, sondern die Art und Weise, wie und woraufhin die Gegenstände von diesem ›befragt‹ werden.
Welche der beiden angeführten Positionen ist nun im Recht? Bevor wir uns zu einem Plädoyer für eine der beiden hinreißen lassen, werden wir vorsichtshalber einen Schritt zurücktreten und uns bemühen, zunächst ein wenig genauer zu klären, was es mit der Frage ›Was ist Literatur?‹ eigentlich auf sich hat. Die Frage ›Was ist Literatur?‹ suchen Literaturwissenschaftler – und das unterscheidet sie vielleicht von Philosophen, die sich mit Fragen dieser Form beschäftigen – gemeinhin nicht selbstgenügsam zu beantworten in dem Bestreben zu klären, was denn Literatur an und für sich sei. Literaturwissenschaftler suchen vielmehr einen Begriff der Literatur zu bestimmen, von dem aus ein sinnvoller Übergang auf die Wissenschaft ermöglicht wird, die sich der unter diesem Begriff versammelten Gegenstände annehmen kann. Ein solcher Übergang nun ist nicht so trivial wie er vielleicht scheinen mag.3 Schon die Geschichte der Philologien liefert zahlreiche Beispiele dafür, dass die Bestimmung des Gegenstandsgebiets der Literaturwissenschaft ganz anderen Gesichtspunkten folgt als einer Begriffsbestimmung von Literatur. Im Zusammenhang mit der Frage ›Was ist Literatur?‹ in diesem Kontext gilt es also zunächst zwei Aspekte näher zu klären: Erstens: Was ist unter den erwähnten selbstgenügsamen Antworten zu verstehen? Zweitens: Worin besteht der erwähnte Übergang vom Gegenstand auf die Wissenschaft? Beide Fragen werden dabei behilflich sein, die hier zur Diskussion gestellte Frage besser zu verstehen. Das bessere Verständnis dieser Frage wird darin bestehen, so das Ziel unseres Beitrags, erstens mehrere Arten von Absichten zu unterscheiden, mit denen die Frage ›Was ist Literatur?‹ gestellt werden kann, und zweitens daraufhin einige der Anforderungen kennen zu lernen, die sich an die unterschiedlichen Antworten anschließen.
_____________ 3
Vgl. dazu auch Winko / Jannidis / Lauer: Geschichte, S. 123 (gegen Rosenberg): »Die Annahme, dass der Gegenstand der Literaturwissenschaft literarische Texte seien und daher die Bestimmung des Literaturbegriffs die Basis für eine Klärung des Objektbereichs dieser Wissenschaft bilde, ist nicht zwingend.«
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Sokratische Fragen4 der Form ›Was ist B?‹ (wobei für B generelle Terme zu substituieren sind, die Begriffe ausdrücken) spielen in der Tat in der Philosophie, und dort nicht zufällig vornehmlich in ihrer analytischen Ausrichtung, eine gewichtigere Rolle als in der Literaturwissenschaft. Begriffsanalysen als Antworten auf solche Fragen sind ein wichtiger, wenn nicht der Gegenstand der analytischen Philosophie. Allerdings: Der Hinweis auf den Umstand, dass Fragen einer bestimmten Form in der einen Wissenschaft größere Beachtung finden als in der anderen, ist, für sich genommen, keine Rechtfertigung dafür, dass es hinsichtlich solcher Fragen eine grundlegende Differenz zwischen den entsprechenden Disziplinen gibt. Schließlich könnte man argumentieren, dass die Literaturwissenschaft gut daran täte, sich eingehender mit der Analyse des Begriffs ›Literatur‹ zu beschäftigen. Täte sie tatsächlich gut daran? Um diese oder um mit ihr verwandte Fragen werden unsere nächsten Überlegungen kreisen. Beginnen wir mit der folgenden Frage: (F)
Mit welchem Interesse lässt sich die Frage ›Was ist Literatur?‹ stellen?
Die knappste Antwort auf (F) liefert uns sicherlich die folgende Option: (FA) ›Sokratisches‹ Erkenntnisinteresse. Was spricht für (FA)? Auf den ersten Blick sicher einiges. Denn wer sich Literaturwissenschaftler schimpft, der sollte eine gute Antwort auf die Frage haben, was das eigentlich ist: Literatur. Eine Begriffsanalyse im Stile notwendiger und zusammengenommen hinreichender Bedingungen wäre eine hervorragende Antwort auf diese Frage. Auf eine Ausrichtung dieser Art legt sich beispielsweise Klaus Weimar fest, wenn er für eine Trennung der Diskussion um den Literaturbegriff von der um die Ausrichtung der Literaturwissenschaft plädiert. Hinter seiner Forderung steht die Idee, dass Literaturwissenschaftler einen Begriff der Literatur explizieren können sollten, auch dann, wenn diese Explikation zu keiner weiterführenden Auskunft über den Aufbau der Literaturwissenschaft befähigt.5 In ganz ähnlicher Weise scheint sich Thomas Grimm diesem Votum in seinem Versuch einer Ex_____________ 4
5
Den Titel ›Sokratisch‹ verdanken diese Fragen Platons Sokrates im Theaitetos. Aus der einschlägigen Stelle im Dialog kann man einiges über die hier gestellte Frage nach dem Erkenntnisinteresse lernen, das hinter diesen Fragen steht. Nicht zuletzt bekommt man dort in kürzester Form einen Einblick über ganz unterschiedliche Arten, diese Frage zu beantworten. Einschlägig sind diese Überlegungen hier, weil sie darlegen, dass Antworten auf Sokratische Fragen mehr oder weniger zufriedenstellend sein werden, je nachdem, wie der ›Frager‹ seine Frage verstanden wissen will. Vgl. dazu Weimar: Literatur.
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plikation des erweiterten Literaturbegriffs anzuschließen, wenn er seinen Analyseversuch mit dem folgenden Explikationsgrund versieht: Es schadet dem Ansehen der Literaturwissenschaft, wenn sie die Probleme, deren Behandlung ihr nach fachexterner Ansicht obliegt, leichtfertig beiseite schiebt.6
Nun ist es sicherlich richtig, dass kein Wissenschaftsgebiet leichtfertig die Erklärungsleistungen verweigern sollte, die an es herangetragen werden. Dass aber vielleicht weniger Leichtfertigkeit als begründete wissenschaftliche Bedenken hinter der Zögerlichkeit der Antworten der Literaturwissenschaftler stehen, stellt man sie vor die Frage ›Was ist Literatur?‹, findet auf den zweiten Blick auch in Grimms Auseinandersetzung mit dieser Frage seinen Niederschlag: Der Literaturbegriff ist zwar ungeklärt, aber Einigkeit herrscht unter den Experten immerhin darin, dass die enge ästhetische Definition, die Dichtung über die Gattungstrias Lyrik, Epik, Dramatik bestimmt, nicht mehr akzeptabel ist.7
Wer sich mit Grimm aufmacht, den Begriff der Literatur zu explizieren, muss, blickt man nur auf das eben angeführte Zitat zurück, mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten rechnen. Denn: Adäquate und informative Begriffsanalysen sind schwer zu haben. Das gilt insbesondere für solche Begriffe, die nicht wissenschaftlicher Prägung entsprungen sind.8 Vertreter des Unternehmens (FA) müssen also damit rechnen, dass der Term ›Literatur‹ (i) diachron in seinem Gebrauch schwankt – und (ii) aller Wahrscheinlichkeit nach auch kontextuell zu ein und derselben Zeit verschieden gebraucht wird: Beispiele für (i): ›Traditionelle‹ Definition(en) des Literaturbegriffs (z.B.) anhand einer Gattungstrias vs. Definition des (oder: eines) ›erweiterten‹ Literaturbegriffs. Beispiele für (ii): Außer- vs. inneruniversitärer Gebrauch des Ausdrucks ›Literatur‹. Eben diese Schwierigkeiten sind der Debatte um die Explikation des Literaturbegriffs selbstverständlich nicht verborgen geblieben. Dementsprechend leitet beispielsweise Klaus Weimar seinen Überblick über unterschiedliche Verwendungsweisen des Ausdrucks ›Literatur‹ mit Bedacht wie folgt ein: Historische Untersuchungen sind bekanntlich von begrenztem Nutzen für systematische Zwecke. Diese hier macht darin keine Ausnahme. So will ich denn zunächst auch nur versprechen, die terminologiegeschichtliche Bildung in einem kleinen, wenn auch gewiß
_____________ 6 7 8
Grimm: Literatur, S. 11. Ebd., S. 7. Begriffe also, die nicht zu einem ganz bestimmten Zweck mittels einer stipulativen Definition in eine Sprache eingeführt worden sind.
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Oliver David Krug / Hans-Harald Müller / Tom Kindt nicht unwichtigen Sektor etwas zu heben, hoffend allerdings, daß daraus wenigstens am Ende auch eine angemessene Hebung des Problembewußtseins resultieren werde.9
Vor den Problemen der diachronen und kontextuellen Bedeutungsschwankungen stehen dagegen häufig nicht die Begriffsanalytiker in der Nachfolge von Sokrates, denn sie haben es zumeist mit (relativ) ›stabilen‹ Begriffen wie ›Wissen‹, ›Rechtfertigung‹, ›Apriori‹, ›Bedeutung‹ und dergleichen mehr zu tun. Dieser Umstand ist für unsere Zwecke nicht ganz nebensächlich, denn er darf als ein erster Hinweis darauf verstanden werden, dass sich nicht ohne weiteres in der folgenden Weise argumentieren lässt: ›Die Philosophen betreiben gewinnbringend Begriffsanalyse, also sollten die Literaturwissenschaftler dies auch.‹ Denn der Ausdruck ›gewinnbringend‹ mag zwar verlockend klingen, vielleicht aber ist er in diesem Zusammenhang auch bloß verführerisch. Ob nämlich Begriffsanalysen gewinnbringende Antworten darstellen oder nicht, das hängt davon ab, wie die vorausgehende Frage genau zu verstehen ist – und das wollen wir in Bezug auf unsere Frage noch eingehender untersuchen. Am Beispiel der gerade zitierten Untersuchung Weimars lässt sich zeigen, inwiefern erwähnte Schwierigkeiten der Bedeutungsschwankungen das Unternehmen einer Begriffsanalyse nicht zu vereiteln vermögen. Sie verpflichten jedoch Anhänger von (FA) darauf, erstens genau anzugeben, welchen Begriff oder welche Begriffe sie analysieren wollen, und zweitens, was sie sich eigentlich davon versprechen, Varianten zu analysieren. Beiden Verpflichtungen kommt Weimar (im Unterschied zu vielen anderen Autoren) nach, wenn er den Leser darüber informiert, dass erstens nicht der Begriff der Literatur zur Debatte steht, sondern eine begriffsgeschichtliche Rekonstruktion unterschiedlicher Verwendungsweisen eines Ausdrucks das Ziel ist, und dass zweitens der wissenschaftliche Wert dieses Unterfangens in einer »Hebung des Problembewußtseins« bestehen wird. Über die Sammlung oder Rekonstruktion verschiedener Verwendungsweisen hinaus gibt es für Freunde der Option (FA) einen weiteren Ausweg aus den Schwierigkeiten, die sich aus den diachronen und kontextuellen Bedeutungsschwankungen ergeben. Sie können dafür argumentieren, dass (i)
›Literatur‹ kein terminus technicus ist, dass
(ii)
es zwar verschiedene Verwendungsweisen des Ausdrucks ›Literatur‹ gibt, dass dieser Ausdruck also mehrdeutig ist, dass es sich dabei aber um eine zentrierte Mehrdeutigkeit handelt.
Das heißt nichts anderes, als dass es sich dabei nicht um eine zufällige, uninteressante Mehrdeutigkeit wie etwa bei der des Ausdrucks ›Einspänner‹ (Kaffee, Kutsche) handelt. Vielmehr haben, so ließe sich zeigen, die Verwen_____________ 9
Weimar: Bezeichnungen, S. 9.
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dungsweisen des Ausdrucks ›Literatur‹ große Gemeinsamkeiten, die auf eine zentrale Verwendungsweise ausgerichtet sind. Diese Zentrierung der unterschiedlichen Gebräuche eines Ausdrucks klar zu explizieren – darin bestände der Ausweg aus den oben skizzierten Schwierigkeiten für das ›Sokratische Projekt‹ (FA) –, heißt, eine informative Antwort auf die Frage ›Was ist Literatur?‹ zu geben. Allen bisher dargestellten Optionen ist gemein, dass sie für sich nicht beanspruchen, mittels ihrer Analysen Aussagen über die Systematik oder Methodik der Literaturwissenschaft treffen zu können oder auch nur zu wollen. Ein Interesse dagegen, das sich weder mit der Sammlung oder Rekonstruktion noch mit der Systematisierung (zentrierter) Verwendungsweisen von ›Literatur‹ zufrieden gibt, kommt in der folgenden Position zum Tragen. (FB) Übertragungs-Interesse. Diese Position folgt der Devise: Zu wissen, was der Gegenstand der Literaturwissenschaft ist, erlaubt, Auskunft darüber zu erlangen, wie diese Wissenschaft ›gebaut‹ sein sollte. Und erst hier kommt der eingangs erwähnte Übergang vom Gegenstandsbereich auf die Methodik der Literaturwissenschaft ins Spiel. Besehen wir uns zunächst zwei Spielarten der Position (FB), wie sie in der Debatte um den Literaturbegriff formuliert wurden: Was ist Literatur? Bei allem, was der Literaturwissenschaftler tut, begleitet ihn diese Frage. [...] Denn nur sie vermag ihm zu sagen, ob er sich noch auf dem rechten Weg befindet. Als Literaturwissenschaftler untersucht er ja, was immer er ins Auge faßt, zunächst und vor allem, insofern es Literatur ist. [...] Würde er das aus dem Auge verlieren, müßte ihm, was er tut, notwendig ins Beliebige, Dilettantische entgleiten. Die Frage nach dem Wesen der Literatur regiert seine Methode, darum ist sie ihm stets gegenwärtig.10 The major interest in the question [d.i. die Frage ›Was ist Literatur?‹, Verf.] lies in the fact that large numbers of other issues of literary theory depend on it, and many disputes on literary theory proceed with very firm (but not defined) appeals to a notion of literariness.11
Im Hinblick auf den Übergang von Antworten auf die Frage ›Was ist Literatur?‹ zur Literaturwissenschaft bedienen sich die Autoren der beiden Positionen eines unterschiedlich starken Vokabulars. Regiert das eine Mal der Literaturbegriff die Methode des Literaturwissenschaftlers, so hängen das andere Mal die richtigen Antworten anderer Fragestellungen (wie beispielsweise der nach einer adäquaten Methodik) von der Antwort auf die Ausgangsfrage ab. Wenn beide einen unterschiedlichen Stärkegrad aufweisen, dann darin, dass die erste einen Alleinbestimmungsanspruch vertritt, die zweite den einer _____________ 10 11
Willems: Anschaulichkeit, S. 1. Für den Hinweis auf diesen Text danken wir Tilmann Köppe. Ellis: Theory, S. 25.
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Mitbestimmung oder Orientierungsfunktion. Dem versuchen wir dadurch Rechnung zu tragen, dass wir, durch die gerade angeführten Zitate angeleitet, zwei Varianten von (FB) folgendermaßen zu charakterisieren versuchen: (V+) Die Methodik der Literaturwissenschaft ist nur dann adäquat, wenn sie aus einer korrekten Analyse des Literaturbegriffs folgt. (V–) Die Methodik der Literaturwissenschaft ist nur dann adäquat, wenn sie sich am Literaturbegriff orientiert. Einige erklärende Bemerkungen zu diesen Paraphrasen werden angebracht sein. Diese sollen, soviel vorweg, zeigen, inwiefern (V+) ebenso wie (V–) auf Schwierigkeiten stoßen, die dazu angetan sind, der Position (FB) gefährlich zu werden. Ein Argument wird, darauf wollen wir uns hier verständigen, (FB) genau dann zum Problem, wenn es zeigen kann, dass der von Anhängern der Position (FB) proklamierte Übergang vom Literaturbegriff auf die Methodik der Literaturwissenschaft nicht legitimierbar ist oder aber einen methodischen Umweg darstellt. Unsere Argumente müssen hier schon deswegen skizzenhaft bleiben, weil eine detaillierte Diskussion es erfordern würde, viele (oder alle) konkreten Kandidaten für eine Position der Form (FB) und ihre Spielarten einer gesonderten Prüfung zu unterziehen. Wir werden uns daher darauf beschränken müssen, strukturelle Schwierigkeiten anhand der ausgewählten Beispiele aufzuzeigen. Diesen jedoch müssen sich alle Vertreter von (FB) stellen. (1) Zu allererst brauchen wir ein Vorverständnis davon, was in diesem Zusammenhang unter der ›Methodik‹ der Literaturwissenschaft zu verstehen ist. Fassen wir diese Bezeichnung hier als einen Sammelnamen für die typischen Verfahren und Arbeitsweisen dieses Wissenschaftszweiges auf. Dann kommt im Zusammenhang mit Position (FB) wiederum nur eine Teilmenge dieser in Frage; nämlich genau die grundlegenden Verfahren der Literaturwissenschaft, die in einem besonders ›engen‹ Zusammenhang zu ihrem Gegenstand stehen. Ein guter Kandidat hierfür sind vor allem die Regeln der Interpretationstheorie. Dagegen kann etwa die Beschreibung der institutionellen Organisation und Entwicklung einer Disziplin allenfalls Aufgabe der Wissenssoziologie oder der Institutionengeschichte sein und fällt sicherlich nicht in den Skopus normativer Begründungen, die sich auf Analysen des Gegenstandsbegriffs verlassen könnten. (2) Als nächstes mag auffallen, dass sich das begriffliche Inventar beider (V)-Varianten deutlich von dem der Formulierung (FB) abhebt. Die Rede von der Adäquatheit der literaturwissenschaftlichen Methoden ist dabei eine einfache Weise, möglichst deutlich die Reichweite des normativen Charakters von Positionen wiederzugeben, die unter (FB) fallen. Erinnern wir uns an die hier einschlägige Auffassung von Methoden als Mengen von Regeln, die zur Anwendung gebracht werden müssen, um ein
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bestimmtes Ziel zu erreichen. Die Gegenstandsadäquatheit dieser Regeln hängt, darauf legt man Anhänger von (FB) mit beiden Formulierungen (V+) und (V–) fest, in unterschiedlichem Stärkegrad von der Analyse oder der Kenntnis des Literaturbegriffs ab. (3) Inwiefern spielt nun die gerade eingeführte Differenzierung zwischen der Analyse des Literaturbegriffs einerseits und der Kenntnis dieses Begriffs andererseits eine Rolle? Nur die Position (V+) legt ihre Proponenten auf eine harte Lesart von ›Gegenstandskenntnis‹ – im Sinne von ›wissen, was der Gegenstand ist‹ – fest, da (V+) explizit eine Analyseforderung enthält. Damit aber inkludiert diese Spielart von (FB) die Position (FA) samt allen bisher skizzierten Schwierigkeiten. Auf diese Lesart legt sich jeder fest, der zum Beispiel mit Gottfried Willems das Wissen um das ›Wesen‹ der Literatur zur notwendigen Bedingung der Methodenadäquatheit wählt. Position (V–) dagegen enthält eine deutlich weichere Auffassung davon, was es heißt, den Gegenstand der Literaturwissenschaft zu kennen. Man kann auch dann über einen Begriff verfügen, wenn man nicht in der Lage ist, eine korrekte Analyse dieses Begriffs anzugeben. Begriffliche Kompetenz ist nicht an einen Analyseanspruch gekoppelt, sie zeigt sich beispielsweise schon beim kompetenten Herausgreifen paradigmatischer Anwendungsfälle.12 Damit also beinhaltet (FB) keine strikte Analyseforderung des Begriffs der Literatur. Positionen der Form (V–) können die unter (FA) skizzierten Schwierigkeiten partiell umgehen. Dies kann gelingen, indem sie beispielsweise mit einer Liste paradigmatischer Anwendungsfälle, einer Minimalbestimmung, einer ostensiven Definition etc. auskommen. Vertreter von (V–) nehmen dafür aber mangelnde Präzision in Kauf. Die angeführte Unterscheidung zwischen einer starken und einer schwächeren Anforderung an die Gegenstandskenntnis (Begriffsanalyse vs. über einen Begriff verfügen) mag zunächst unscheinbar daherkommen. Aber sie hat mindestens zwei weitreichende Konsequenzen: Erstens legt sie Vertreter von (FB) auf Forderungen fest, die dann nicht zu erfüllen sind, wenn zutrifft, was zu Position (FA) bisher angemerkt wurde. Entscheidet man sich nämlich für eine Inklusion der strikten Begriffsanalyse, kommt man nicht umhin, zuzugestehen, dass es unterschiedliche Verwendungsweisen des Terms ›Literatur‹ gibt. Während dies rein deskriptive Untersuchungen der Form (FA) lediglich auf ein erweitertes Blickfeld verpflichtet, stellt die Bandbreite der unterschiedlichen Verwendungsweisen normative Positionen der Form (FB) vor das fatale Folgeproblem, denjenigen Begriff anzugeben, der zum Ausgangspunkt eines normativen Übergangs gewählt wird. Die Wahl zwischen mehreren inkompatiblen Begriffs_____________ 12
Und spätestens an dieser Stelle sollte klar werden, warum der vermeintliche ›Selbstgänger‹ vom Anfang kein wirklicher ist.
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analysen erfordert eine Begründung dafür, warum der Begriff, der durch eine Verwendungsweise des Terms ›Literatur‹ ausgedrückt wird, einem anderen vorzuziehen ist, der in einer anderen Verwendungsweise ausgedrückt wird. Ganz gleich wie eine solche Begründung ausfällt – sie darf in keinem Fall auf Eigenschaften einer adäquaten Methodik rekurrieren, denn diese soll erst aus der Wahl eines Literaturbegriffs abgeleitet werden. Zweitens: Nimmt man dagegen im Sinne von (V–) Abstand von der strikten Analyse des Literaturbegriffs, so gilt es nichtsdestoweniger, diejenigen relevanten Eigenschaften literarischer Gegenstände auszuweisen, deren Vorliegen einen Übergang auf normative Konklusionen legitimieren kann. Darauf werden wir gleich noch einmal zurückkommen müssen. Zunächst aber eine schlichte Feststellung: So pragmatisch der Rückzug von der strikten Analyseforderung angesichts der bislang skizzierten Schwierigkeiten dieses Unterfangens auch klingen mag, er ist keine Option für alle diejenigen, die eine ernsthafte Antwort auf die Frage: ›Was ist Literatur?‹ geben wollen. Wenn überhaupt, so wird von (V–)-Anhängern die folgende Frage beantwortet: ›Durch welche Eigenschaften von Literatur sind die Methoden der Literaturwissenschaften (mit)bestimmt?‹ Die folgende und letzte Anmerkung wird auf Gründe zur Skepsis auch gegenüber möglichen Antwortkandidaten auf diese modifizierte Frage aufmerksam machen. (4) Wie eigentlich könnte eine Argumentation im Sinne von (V–) ausfallen? Gefragt ist in diesem Zusammenhang vor allem nach einem Brückenprinzip zwischen Deskription (Gegenstandskenntnis) und Präskription (Begründung der Adäquatheit bestimmter Methoden in Abgrenzung zu anderen). Versuchen wir es mit dem folgenden Kandidaten: Weil literarische Gegenstände essentiell sinnhaft strukturierte Gebilde sind,13 müssen die Methoden der Literaturwissenschaft zur Sinnerschließung geeignet sein, wenn sie dazu angetan sein sollen, alle essentiellen Eigenschaften ihres Untersuchungsgegenstandes herauszuarbeiten.14
Diese Argumentation setzt nun tatsächlich keine Begriffsanalyse voraus (und disqualifiziert sich damit zugleich als Antwort auf die Frage ›Was ist Literatur?‹). Denn sicherlich gilt zwar, dass literarische Gegenstände einen zu erschließenden Sinn haben, genauso sicher gilt dies aber auch von einigen _____________ 13 14
Gleichermaßen ließe sich diese Position nicht für die Eigenschaft der Sinnhaftigkeit, sondern auch für die der intentionalen Strukturierung oder der Formung nach ästhetischen Prinzipien etc. formulieren. Eine strukturell identische Argumentation, allerdings zuzüglich einer inhaltlichen Negation, die die Erwartungen auf die zu erschließenden Methoden gering hält, findet sich bei Manfred Frank: »[D]ie Vieldeutigkeit oder, radikaler, die Unausdeutbarkeit, gilt ja spätestens seit der Romantik für einen Wesenszug ›ächter Poesie‹. [...] welche Konsequenzen ergeben sich daraus für eine Theorie der Literatur und des Textverstehens?« (Frank: Vieldeutigkeit, S. 196)
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nicht-literarischen Gegenständen. Weiterhin sollten wir nun aber noch fragen, inwiefern auf diese Weise eigentlich ein Schluss im anfangs spezifizierten Sinne vollzogen wird, ein Schluss also, der es erlaubt, aufgrund einer genaueren Gegenstandskenntnis richtige und wissenserweiternde Aussagen über die Adäquatheitskriterien der literaturwissenschaftlichen Methodik zu treffen. In diesem Licht besehen, scheint jedoch die Text-Eigenschaft, einen erschließbaren Sinn zu haben, weit eher eine Präsupposition der Frage nach der richtigen Interpretation eines Textes zu sein als eine Eigenschaft, deren Vorliegen wir erst feststellen müssen, um uns Klarheit über die Methoden des Interpretierens zu verschaffen. Wer über den Begriff der Textinterpretation verfügt, der weiß, dass eine solche nur dann gelingen kann, wenn die Voraussetzung erfüllt ist, dass der zu interpretierende Text einen erschließbaren Sinn hat. Sich auf diese Annahme einzulassen, ist nun aber ein ganz anderes Geschäft als die Suche nach Antworten auf die Fragen (FA) und (FB). Im Sinne der eingangs skizzierten Position (in Anlehnung an Max Weber) erlangt man Klarheit über einen Wissenschaftszweig, wie den der Literaturwissenschaft, indem man seine Methoden mit seinen Zielen abgleicht. Tut man das, so wird man dabei zweifellos allerlei Voraussetzungen entdecken, die hinsichtlich von Eigenschaften literarischer Texte gemacht werden. Dass diese Eigenschaften zusammengenommen eine Definition aus notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das hergeben, was Literatur ist, ist wenig wahrscheinlich. Was die Methodik betrifft, brauchen wir eine solche Definition auch nicht. Eine Antwort auf die Frage ›Was ist Literatur?‹ nach Position (FA) fordert nicht eine, sondern viele Begriffsanalysen. Das Unterfangen der historischen und kontextuellen Rekonstruktion ist ein mindestens so interessanter wie legitimer Gegenstand der Literaturwissenschaft. Ganz besonders dann, wenn es tatsächlich in korrekte Analysen der Begriffe mündet, die mit dem Ausdruck ›Literatur‹ in unterschiedlichen Verwendungsweisen ausgedrückt werden. Wer indes eine Antwort auf die Frage ›Was ist Literatur?‹ nach Position (FB) zu geben beabsichtigt, der sei hiermit in die Pflicht genommen, klar zu zeigen, wie der Übergang vom Literaturbegriff auf die Methodik der Literaturwissenschaft trotz der angeführten Einwände aus (1)-(4) legitimiert werden kann.
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Bibliographie Ellis, John M.: The Theory of Literary Criticism. A Logical Analysis. Berkeley 1974. Frank, Manfred: Vieldeutigkeit und Ungleichzeitigkeit. Hermeneutische Fragen an eine Theorie des literarischen Verstehens. In: M.F.: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur französischen Hermeneutik und Texttheorie. Erw. Neuausg. Frankfurt/M. 1989, S. 196-212. Grimm, Thomas: Was ist Literatur? Versuch einer Explikation des erweiterten Literaturbegriffs. Neuried 2000. Weber, Max: Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904]. In: M.W.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. von Johannes Winckelmann. 6., ern. durchges. Aufl. Tübingen 1985, S. 146-214. Weimar, Klaus: Literatur, Literaturgeschichte, Literaturwissenschaft. Zur Geschichte der Bezeichnungen für eine Wissenschaft und ihren Gegenstand. In: Christian Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1989, S. 9-23. Weimar, Klaus: Literatur. In: Harald Fricke u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2. 3., neu bearb. Aufl. Berlin, New York 2000, S. 443-448. Willems, Gottfried: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989. Winko, Simone / Fotis Jannidis / Gerhard Lauer: Geschichte und Emphase. Zur Theorie und Praxis des erweiterten Literaturbegriffs. In: Jürn Gottschalk / Tilmann Köppe (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie. Paderborn 2006, S. 123-154.
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Aktuelle linguistische Textbegriffe und der literarische Text Bezüge und Abgrenzungen
1. Rückblick auf Gemeinsamkeiten Es gab in der Geschichte der Germanistik des 20. Jahrhunderts zwei Phasen, in denen Sprach- und Literaturwissenschaft darum bemüht waren, Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln. Die Annäherung ergab sich aus dem von beiden Disziplinen geteilten Interesse am Text – genauer: an der Textbasis literarischer Werke1 – und aus der Annahme, man könne von einem gemeinsamen Text- bzw. Textsortenverständnis ausgehen. In den 1960er und 1970er Jahren war mit dem ›scientific turn‹ der ›Text‹ zu einem Leitbegriff sowohl in der Sprach- als auch in der Literaturwissenschaft avanciert.2 Zwei Paradigmen waren es, die von sprachwissenschaftlicher Seite her diese ausgeprägte Textorientiertheit ermöglichten, wenn nicht gar bedingten: der sprachwissenschaftliche Strukturalismus und die sich zeitlich anschließende Richtung der Pragmalinguistik – das eine Paradigma mit der zentralen Kategorie der ›Struktur‹ und das andere mit der ebenfalls zentralen Kategorie ›Text‹. Zum ersten Paradigma: Die Vorstellung von Text als struktural geformter Einheit, in der alles miteinander in Beziehung steht und sich durch diese Beziehungen bestimmt, weckte die Aufmerksamkeit nicht nur der Sprach-, sondern auch der Literaturwissenschaft. Der Ansatz schien die Möglichkeit zu bieten, literarische Texte mit objektiven, aus der
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Dass die Sprachwissenschaft sich auch und vielleicht vorwiegend Sachtexten zuwandte, sei hier einmal vernachlässigt. Kurz: Methoden, S. 209.
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Sprachwissenschaft entlehnten Methoden3 zu erfassen und sich Texte als relationale Einheit zu erschließen. So entstanden Arbeiten wie der von Kreuzer und Gunzenhäuser 1965 herausgegebene, programmatischen Anspruch erhebende Sammelband Mathematik und Dichtung, der sprach- und literaturwissenschaftliche Beiträge vereinte und gedacht war als gemeinsame und mit exakten Methoden durchgeführte Suche nach dem, was einen literarischen Text formal/sprachlich ausmacht. Dafür schienen sich die strengen strukturalistischen Methoden anzubieten. Später dann wurde der Ansatz weitergeführt in einem strukturalistisch-semiotischen Herangehen, das durch die Vorstellung von Kultur als hierarchisch organisiertem Zeichensystem erweitert wurde.4 Zum zweiten Paradigma: Mit der pragmatischen Wende vollzog sich der Übergang von der innersprachlichen Strukturbetrachtung zur Betrachtung sprachlicher Äußerungen in ihren Handlungszusammenhängen und situativen Gegebenheiten, was zur Folge hatte, dass der Textbegriff um kommunikative und später auch kulturelle Aspekte erweitert wurde. In diesem Zusammenhang war nicht nur der Text ›an sich‹ interessant, sondern das Interesse richtete sich auch auf Textsorten, d.h. auf die Muster des Gebrauchs, denen Sprachteilnehmer bei der Hervorbringung ihrer Texte – gleich welchen Bereichs – folgen. Es wurde versucht, diese Fragestellung auf literarische Texte auszudehnen, also die Auseinandersetzung mit Gattungen einzubeziehen. Die Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Literaturwissenschaft kam diesem Interesse entgegen. Zur Literatur zählten nun nicht nur ›hohe‹, sondern auch ›niedere‹, nicht nur ›ästhetische‹, sondern auch ›nichtästhetische‹ Texte. Der Begriff der ›Gattung‹ wurde durch den der ›Textsorte‹ ersetzt.5 Das gemeinsame Nachdenken über diese Kategorien war nun an der Tagesordnung mit dem Ziel, das Übereinstimmende an den Ordnungsbegriffen ›Textsorte‹ und ›Gattung‹ zu finden.6 Der Germanistentag 1979 in Hamburg hieß dann auch bezeichnenderweise »Textsorten und literarische Gattungen«. Diese Gemeinsamkeit brach spätestens in den 1980er Jahren ab, vermutlich weil andere Wissenschaftstendenzen (Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus?) den Glauben an das objektivierbare Wissen über Textzusammenhänge erschüttert hatten und das Interesse an den (festen) Gattungsformen zurücktreten ließen. Seither gibt es, soweit ich sehe, keine erhebliche Zusammenarbeit mehr. _____________ 3 4 5 6
Die Sprachwissenschaft hatte sie wiederum z.T. aus den ›exakten‹ Wissenschaften, so aus Mathematik und Logik, entlehnt. Mukařovskýs in den 1930er Jahren entstandene, vor allem in den 1970er Jahren veröffentlichte Arbeiten zur Poetik und Ästhetik sowie Lotmans Veröffentlichungen zur Semiotik der 1970er und 1980er Jahre. Siehe Literaturverzeichnis des Beitrags. Vgl. Kurz: Methoden, S. 209. Vgl. Hempfer: Gattungstheorie, S. 17.
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Und die heutige literaturwissenschaftliche Vorstellung davon, was Sprachwissenschaftler tun, wenn sie Texte untersuchen, spiegelt nach meinen Eindrücken eher die allerersten Anfänge der Textlinguistik in den 1960er und 1970er Jahren wider, als dass sie aktuelle Fragestellungen im Blick hat: Man stellt sich vor, dass ganz im Verständnis einer transphrastisch orientierten Textlinguistik Satz-Satz-Ketten untersucht werden, z.B. nach ihren Pronominalisierungen, Isotopieketten, Wiederaufnahmen etc. Der transphrastische Textbegriff – Texte sind Folgen von Sätzen (und nicht mehr) und folgen daher den Regularitäten, die auch für Sätze gelten – dominiert in dieser Vorstellung. Damit wird man dem heutigen Textverständnis bzw. heutigen Textbegriffen in der Sprachwissenschaft jedoch nicht gerecht. Diese werden daher im dritten Abschnitt des Beitrags vorgestellt. Dabei soll deutlich werden, dass es aus meiner Sicht gegenwärtig durchaus wieder Ansätze zum gemeinsamen Nachdenken über den Text gibt. 2. Heutige Analogien Zu den in der Einleitung der Herausgeber genannten Tendenzen der Literaturwissenschaft, nämlich Entgrenzung des Textbegriffs bis zur Universalisierung auf der einen und Rekanonisierung, also Einengung des Textbegriffs, auf der anderen Seite, lassen sich analoge Orientierungen in der gegenwärtigen Sprachwissenschaft feststellen.7 Auch hier findet sich zum einen die Tendenz, einen entgrenzten Textbegriff anzunehmen, was mit der Ausweitung des Blickes auf die Vielfalt der Medien und Kodes, in denen Texte realisiert werden, und auf die vielfältige Verflochtenheit der Texte, also mit der Berücksichtigung von Interkodalität, Intermedialität sowie Intertextualität zu tun hat (s.u.), und zum anderen die Tendenz der Rückbesinnung auf die sprachliche ›Oberfläche‹ des Textes, auf seine Sprachgestalt, und deren Erschließung, also gleichsam ein Zurück zu einer textbezogenen Hermeneutik. Gemeint ist ein Verstehen und Interpretieren, das mit den Mitteln der Sprachwissenschaft an der Äußerung, am Text plausibel gemacht wird. Der Ausdruck »Rehabilitierung der sprachlichen Oberfläche« ist dabei zum sprachwissenschaftlichen Topos geworden.8 Die Oberfläche wird gleichsam als Eingangstor in die Textbedeutung und Textinterpretation gesehen. Es geht um die tatsächliche oder vermeintli-
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Wenn von Sprachwissenschaft die Rede ist, ist die text- und kommunikationsbezogene Richtung sprachwissenschaftlicher Forschung gemeint. Antos: Textproduktion, S. 13.
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che9 Renaissance der Betrachtung der Sprachgestalt der Texte, um die Besinnung auf ihre Zeichenhaftigkeit, die sich im Stil materialisiert.10 In der sprachanalytischen Philosophie (Wittgenstein) wie in der Linguistik (Chomsky) galt bis vor kurzem die ›sprachliche Oberfläche‹ […] als zu ›demaskierende Kostümierung von (Tiefen)Strukturen‹. Inzwischen scheint sich das Bild zu ändern: Die Rolle von Formulierungen wird nicht nur in der Textverarbeitung neu bewertet. Neben den grammatischen, semantischen und illokutiven Strukturen erkennt man zusehends die Bedeutung […] diskursiver bzw. textueller Implikationen […].11
Die Rückbesinnung auf die sprachliche Oberfläche, bei Antos wird diese an erster Stelle als Stil charakterisiert (s.u.), resultiert (auch) aus der Einsicht, dass sprachliches Verhalten, so verschieden seine Funktionen sein mögen, doch immer darin übereinstimmt, dass erst das Verstehen gewährleistet sein muss, ehe die jeweilige Funktion erfüllt werden kann. Verstehen aber, die Voraussetzung für jede gelingende Kommunikation, setzt an der Textoberfläche – wo sonst? – an. Die sich abzeichnende Entwicklung einer linguistischen Hermeneutik12 führt daher zurück zur Zeichenhaftigkeit des sprachlichen Textes als genuinem Gegenstand. Das könnte man eine Begrenzung, vielleicht aber auch eine nötige Konzentration nennen. Die Besinnung auf die Zeichenhaftigkeit der Texte führt auf der anderen Seite aber auch zum Entgrenzen des Textbegriffs. Nicht in dem Sinne, dass man seine sprachliche Seite nicht ernst nehmen sollte, wohl aber so, dass man darüber hinaus die Vielfalt der Zeichenrepertoires, in der Texte erscheinen, auch zur Kenntnis nimmt. Ein Text ist immer ein Komplex aus Zeichen verschiedener Art, die gemeinsam Sinn anbieten. Diese Einstellung bildet sich bei der kulturwissenschaftlich orientierten Richtung der Textlinguistik heraus. Unter diesen Umständen kann man, wenn es um die Textanalyse bzw. um das Textverstehen geht, schlechterdings nicht einen Kode herauslösen und an ihm den Sinn des Ganzen ablesen wollen. Das Zusammenwirken der Zeichen verschiedener Kodes wird zum Gegenstand. Wenn wir davon ausgehen, dass alles in einer Kultur Hervorgebrachte Bedeutung trägt, dass Kulturen Zeichensysteme sind, dann ist es nicht ohne Bedeutung, welche nichtsprachlichen Zeichen (visuelle Kodes bei schriftlichen Äußerungen: Farben, Flächen, Spuren des verwendeten Schreibinstruments, Anordnung auf dem Papier, Papiersorte; parasprachliche Kodes bei mündlichen Äußerungen: Proxemik, Kinesik, Stimmfüh_____________ 9 10 11 12
In Spielarten moderner Stilauffassungen wie der pragmatischen und funktionalen Stilistik hat es den Bezug auf die sprachliche Oberfläche – allerdings wenig beachtet – immer gegeben. Mit ›Stil‹ sind hier alle Eigenschaften der Textoberfläche gemeint, die auffälligen wie die unauffälligen. Antos: Textproduktion, S. 13. Vgl. Hermanns: Hermeneutik.
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rung und Stimmqualität) die sprachlichen Zeichen des Textes begleiten. Denken wir uns einen handschriftlichen Text auf einem getönten Papier, gut auf die Fläche verteilt, wohlproportioniert, in eleganten/anmutigen Linien,13 mit einer Stahlfeder geschrieben: einen Brief aus dem 19. Jahrhundert. Er teilt die noch in das 19. Jahrhundert reichende Hochblüte der Briefkultur mithilfe der visuellen Zeichen mit. Lesen wir denselben Brief in einer gedruckten Briefsammlung des 20. Jahrhunderts, ist er um nahezu alle bedeutungsvollen visuellen Zeichen ärmer: keine Handschrift, keine anmutigen Linien, kein getöntes Papier, keine Anordnung des Textes, die durch ihre Proportionen etwas ausdrückt.14 Mit der gedruckten Fassung wird eine Reduktion der Stilinformationen des Textes vorgenommen, die für das Textverständnis heutiger Leser, zu deren Kommunikationsgewohnheiten die Hochschätzung der Briefkultur kaum noch gehört, eigentlich unentbehrlich wäre. Eine solche Gegenüberstellung wäre ebenso denkbar für verschiedene Druckfassungen literarischer Texte. Stellt man sich Publikationen von Barockgedichten im 17. und im 20. Jahrhundert vor, so kann man sich leicht die Unterschiede in der Zeichenhaftigkeit denken: von der Barock-Fraktur und der Imprese auf dem Titel, von der axialen Anordnung des Textes des 17. Jahrhunderts zur Garamond-Antiqua, zur fehlenden Imprese und nichtaxialen Anordnung des Textes, Gestaltungen wie sie im 20. Jahrhundert üblich, wenn auch nicht zwingend sind. Wie die Leistung der verschiedenen Zeichensysteme interessiert die Textlinguistik auch die Beziehung zwischen Medium und Text (s.u.). Bestimmt man ›Medium‹ hier einmal als den technischen Träger,15 so steht man vor der Entscheidung, ob z.B. die Textsorte ›Klappentext‹ durch ihren technischen Träger und ihren Ort definiert wird16 oder ob sie nicht, wie textlinguistisch sonst üblich, funktional erklärt werden müsste, mit Bezug auf ihre werbende und informierende Funktion. In letzterer Hinsicht unterscheidet sie sich aber nicht von anderen Buchtextsorten, wie z.B. Verlagsanzeigen, Werbetexten auf dem Rückentitel und manchen Rezensionen. Die Frage, ob das Medium textsortenkonstituierend sein kann, wird angesichts der Verlagerung schriftlicher Äußerungen ins elektronische Medium – Brief/E-Mail, Gespräch/Chatten, Gästebuch/elektronisches Gäste_____________ 13 14 15 16
Eco: Semiotik, S. 220. Die Breite des Briefrandes z.B. verdeutlichte die Größe des Respekts vor dem Adressaten. Die Auffassungen von ›Medium‹ differieren ebenso wie in der Literaturwissenschaft. Die Tendenz geht aber dahin, ›Medium‹ als die technische Seite des Kommunikationsprozesses zu sehen. Man findet die Textsorte in der Regel in Lexika und Handbüchern als ›auf den Innenklappen des Schutzumschlages veröffentlichter Text‹ beschrieben.
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buch – immer dringlicher. Ist, was da häufig gleichgesetzt wird, tatsächlich dasselbe? Wo liegen gegebenenfalls die Unterschiede? Wie das Zusammenwirken verschiedener Kodes und die ›Wanderung‹ von Textsorten in ein anderes Medium wird in der heutigen Textlinguistik auch das Zusammenwirken verschiedener Texte in einem Kontext berücksichtigt unter der Prämisse, dass ein Text niemals nur allein aus sich heraus zu produzieren und zu verstehen ist. Seine Beziehung zu anderen Texten (Text-Text-Beziehungen, z.B. Zitat, Montage, Collage), zu den kulturellen Vorgaben, die Textsorten darstellen (Textsorte-Text-Beziehungen, Gattungsgegebenheiten), und zum Textwissen (Textwelt-Text-Beziehungen: alle Texte stehen miteinander in Beziehung) insgesamt ist daher zum Gegenstand der Textlinguistik geworden. Fazit aus diesem kurzen Überblick: Aus meiner Sicht braucht die Textlinguistik beides – den entgrenzten wie den begrenzten Textbegriff. Den entgrenzten – interkodalen, intermedialen und intertextuellen – Textbegriff benötigt sie zum einen, um der Multikodalität und Multimedialität der Texte gerecht zu werden, um alles unter ›einen Hut‹ zu bringen, was der Text an Zeichenangebot (Sprachzeichen, Bildzeichen, Typographie, Schriftart, Papierqualität, Anordnung auf dem Papier etc.) und an Medialität (Papierbrief – E-Mail) bietet, und zum anderen, um alles zu berücksichtigen, was der Text an Textbeziehungen (Textsorte, Vortexte, Folgetexte etc.) präsentiert. Der enge, auf das rein Sprachliche begrenzte Textbegriff ist nötig, um die verschiedenen an einer Rezeptionsvorgabe beteiligten Kodes (in ihren spezifischen Leistungen) voneinander abgrenzen zu können. Was also unterscheidet das sprachliche Zeichen vom bildlichen? Worin liegt z.B. die Leistung des sprachlichen Subtextes gegenüber dem bildlichen Subtext in einem komplexen, Sprache und Bild vereinigenden Text?17 Die Entscheidung für den einen oder anderen Textbegriff bzw. die Akzeptanz beider hat zu tun mit dem Selbstverständnis des Faches ›Textlinguistik‹. Will es sich verstehen als rein innertextuelle/innersprachliche Disziplin, wie sie es in der Regel tut, oder als eine über den Text hinaus auf das Kommunikative und Kulturelle sprachlicher Äußerungen und den semiotischen Charakter von Textexemplaren verweisende erweiterte Textlinguistik, wenn nicht gar als die über allen sich mit Text befassenden Disziplinen stehende, nicht mehr zentral linguistische ›Querschnittsdisziplin‹, die man Textwissenschaft nennen könnte.18 Ich bleibe in meiner Darstellung bei der linguistischen, um das Semiotische erweiterten Disziplin _____________ 17 18
Wir können wie vom ›Sprachtext‹ auch vom ›Bildtext‹ sprechen (s.u.). Van Dijk: Textwissenschaft; Fix: Textsortenlinguistik.
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(so interessant die Querschnittsdisziplin auch ist)19 und kümmere mich um die in der Linguistik für die Linguistik entwickelten Textbegriffe und deren Schnittstellen mit der Literaturwissenschaft. Es wird sich zeigen, dass die Typik von Texten ebenso wie das Interkodale, Intermediale und Intertextuelle hier ihren Platz gefunden hat. 3. Ein konzentrisch erweiterter Textbegriff 3.1 Vorbemerkungen Vor die (selbst gewählte) Aufgabe gestellt, aktuelle linguistische Textauffassungen aufzuzeigen, sieht man sich vor einem Berg von Literatur und einer Fülle von Konzepten. Es wird daher nur eine verknappte Darstellung sein können, die hier vorgestellt wird, zumal sich aus der Konzeption des vorliegenden Bandes und meiner daraus abgeleiteten Themenformulierung ja zusätzlich die Aufgabe ergibt, diese Auffassungen mit Blick auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen darzustellen. Diese Grenzüberschreitung zur anderen Disziplin wird naturgemäß nur vorsichtig, ansatzweise, vermutend geschehen. Gerade hier aber werden sich die interessanten Fragen ergeben. Die Textlinguistik folgt zwei großen Aufgabenstellungen. Zum einen fragt sie von Anfang an danach, was den Text eigentlich ausmacht, also nach dem Wesen des Textes ›an sich‹, und entwickelt im Lauf der Forschung vor dem Hintergrund verschiedener theoretischer Ansätze durchaus unterschiedliche Textauffassungen. Zum anderen bemüht sie sich in einem später einsetzenden, bis heute andauernden und sich verstärkenden Interesse um das Erfassen der Typik von Texten, d.h. um die musterhaften Ausprägungen des Phänomens ›Text‹, die eine Sprach- und Kulturgemeinschaft im gemeinsamen Handeln entwickelt hat, also um die Bestimmung von ›Gattungen‹, linguistisch ›Textsorten‹, in denen Texte realisiert werden. Es geht ihr auch um die Beantwortung der Frage, in welcher Weise der Text ›an sich‹ in konkrete Textexemplare umgesetzt wird. Kurz: Die Frage was eigentlich ein Text sei, wird ergänzt durch das Interesse daran, in welcher Typik Texte denn eigentlich auftreten. Und darauf folgt die Frage, wie der reale Prozess der Umsetzung eines Texttyps in einen realen Text vollzogen wird. Mit dieser Frage ist man beim Stil, der Textoberfläche, angekommen, der allerdings dann nicht im traditionellen Sinne als der ›Schmuck der Rede‹ verstanden wird, sondern als die Umsetzung aller außersprachlichen Voraussetzungen in sprachliche Form. Anders gesagt: _____________ 19
Fix: Sprach- und Literaturwissenschaft.
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Alles auf der Oberfläche des Textes und in seiner zeichenhaften Materialität ist Stil. Und dieser ist semiotische Widerspiegelung intentionaler, kommunikativer, kultureller Gegebenheiten. Alle mit diesen Fragen angedeuteten Bereiche der Textlinguistik lohnt es zu betrachten, wenn man sich die Beziehungen vor Augen führen will, die Literatur- und Sprachwissenschaft zueinander haben können. Anfangs ist festzustellen: Jeder literarische Text ist zunächst ein Text und unterliegt damit den Bedingungen, die für jeden Text zutreffen. Wo aber sind dann die Unterschiede zu finden? Geben aktuelle Textauffassungen Hinweise und, wenn ja, welche? Was geht eigentlich vor sich, wenn Sachtexte, was zunehmend der Fall ist, Resultat von Poetisierungspraktiken sind? Sind sie es wirklich? In den im Anhang abgedruckten Texten könnte man solche Poetisierungspraktiken vermuten, z.B. durch Sprache vermittelte Bilder ebenso wie Bildhaftes im visuellen Bereich, das bis zur Ikonisierung ganzer Textflächen (Konkrete Poesie) reicht; z.B. Vagheit (so das Fehlen vereindeutigender grammatischer Beziehungen) bis hin zur Auflösung von Textflächen, die zur Unleserlichkeit und damit zum Verschwinden des Textes als Lesevorlage überhaupt führt. Nicht einmal mehr die Alogik des Nonsens-Gedichtes ist zu finden. Ein Verschwimmen der Grenzen zwischen poetischen und alltäglichen Texten? 3.2 Transphrastischer Textbegriff »Es wird, wenn überhaupt gesprochen wird, nur in Texten gesprochen.«20 Diese aus den frühesten Tagen der Textlinguistik stammende entschiedene Äußerung hat ihre Bestätigung eigentlich erst in der jüngeren, kommunikationsorientierten Phase der Textlinguistik erhalten. Obwohl offensichtlich schon am Anfang so umfassend gedacht werden konnte, ist die erste Etappe der Textlinguistik – wohl notwendigerweise, weil man noch nichts darüber Hinausgehendes an Fakten kannte – satzbezogen und hat das Übergreifende wie z.B. die Textbedeutung, das sprachliche Handeln, das Kognitive etc. noch nicht im Blick. Dieser transphrastische Ansatz, der Texte als miteinander verbundene Ketten von Sätzen sieht, die folglich mit demselben Instrumentarium beschrieben werden, das man auch für Sätze verwendet (Pronominalisierung, Satzperspektive, Isotopie, Rekurrenz, Wortfelder), ist aus der Sicht der Literaturbetrachtung sicher relativ uninteressant, sieht man einmal davon ab, dass Jakobsons strukturalistisches Prinzip der Parallelität sich hier partiell schon anwenden ließe. Was ist es auf der Textoberfläche, das Sätze so miteinander verbindet, dass _____________ 20
Hartmann: Zeichen, S. 212.
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man sie als Einheit erlebt? Das Wissen um diese Zusammenhänge bildet den innersten (aber auch engsten) Bereich des Textwissens, gewissermaßen seinen – natürlich auch heute noch unentbehrlichen – Kern. Um ihn herum legen sich wie Ringe weitere Areale von Wissensbeständen, ohne die man mit Texten auch bei Kenntnis der transphrastischen Beziehungen nicht umgehen könnte: Wissen über textsemantische Beziehungen und mögliche textthematische Strukturierungen, die die Texteinheit konstituieren und den Umgang mit Texten erst ermöglichen, Wissen über die kommunikative Eingebettetheit der Texte und über deren kognitive Bezüge, ihren semiotischen Charakter und schließlich über ihre kulturelle Geprägtheit und damit über ihre Textsorten. 3.3 Semantisch-thematische Textbetrachtung Die erste Erweiterung des Textbegriffs ist die um seine semantisch-thematische Qualität. Hier geht es zunächst um die Kategorie der Kohärenz, d.h. um die Vorstellung, dass Texte eine semantische Einheit anbieten, einen Zusammenhang, der durchaus nicht nur auf der Textoberfläche konstituiert wird. Damit ist zwangsläufig der Gedanke verbunden, dass die semantische Einheit auch eine Hervorbringung des Rezipienten ist, der herausfinden muss, was unter der Oberflächenstruktur liegt. Als ein Textualitätskriterium von mehreren gilt das auf der Rezipientenseite angesiedelte Kriterium der Akzeptabilität (die anderen Kriterien sind Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Situationalität, Informativität, Intertextualität).21 Gemeint ist damit die Bereitschaft des Rezipienten, einen Text als kohäsiv, kohärent und intentional anzusehen, also eine inhaltliche Einheit anzunehmen, die sich nicht durchweg aus den auf der Textoberfläche vorhandenen Zeichen ablesen lassen, sondern die sich auch durch das Füllen von Lücken herstellen kann. Im Sinne der Verstehenspsychologie heißt dies, dass Sinnkonstanz hergestellt wird.22 Die Textlinguistik sieht sehr wohl, dass es über das rein grammatische Verstehen hinaus um das (sowohl bottom-up als auch top-down verlaufende) Herstellen eines für den Rezipienten sinnvollen Zusammenhangs geht, der über die in der Äußerung kodierten Informationen hinausreicht. Ein Vorgang, der angewiesen ist auf den dem Rezipienten vertrauten Horizont des »Allgemein-Sinnvollen«.23 Das Herstellen semantischer Textzusammenhänge kann demnach – da folgt die Textlinguistik u.a. der Verstehenspsychologie – nicht gefasst werden als die schlich_____________ 21 22 23
Vgl. de Beaugrande / Dressler: Textlinguistik. Hörmann: Psycholinguistik. Hörmann: Semantik, S. 206.
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te Dekodierung sprachlicher Zeichen im Sinne eines Übersetzungsvorgangs, sondern es muss als ein konstruktiv-schöpferischer Akt betrachtet werden, der über die sprachlichen Zeichen hinausreicht und Bezug auf die Welt, die Intentionen des Produzenten und den eigenen Erfahrungshintergrund nimmt.24 Die Einsicht, dass die sprachlichen Zeichen keine Eins-zueins-Entsprechung zu ihren gedanklichen Inhalten haben, dass sie in ihrer Bedeutung in vieler Weise offen sein können25 und über sich selbst hinaus auf die Welt verweisen, in der sie gebraucht werden, gehört zum gesicherten Wissen der Textlinguistik. ›Welt‹ wird hier zum einen verstanden als die Realität, in der die Kommunizierenden handeln, zum anderen aber auch, mit Blick auf literarische Texte, als die fiktionale Welt, in der die Zeichen etwas bedeuten, was möglicherweise mit ihrem Bedeuten im nichtfiktionalen Text nichts zu tun hat. Nur über das Verstehen dieser fiktionalen Welt kann dann der Bezug zur realen Welt hergestellt werden. Diesen verwickelten Beziehungen − keine Eins-zu-eins-Entsprechung von sprachlichem Zeichen und Inhalt sowie keine direkte Relation von Zeichen zu Welt − wird bei der linguistischen Beschreibung von Textualität mit der Akzeptabilitätskategorie entsprochen.26 Dass im literarischen Text Meinen im Sinne der unfehlbar zu entdeckenden Autorintention und Autorbotschaft nicht zu finden ist, wohl aber ein (vielfältiges) Sinnangebot, welches zu erschließen ein Anreiz für den Rezipienten ist, lässt sich mit dem textsemantischen Ansatz der Textlinguistik, wie er hier angedeutet wurde, durchaus schon erkennen. Liegt bei dem eben dargestellten linguistischen Konzept von ›Text‹ als Sinnangebot der Schwerpunkt auf der Zeichenhaftigkeit der Texte, so findet man ihn bei der Auffassung von Texten als Resultaten verschiedener Arten thematischer Entfaltung eher beim Handlungscharakter, der Texten zugeschrieben wird. Die Entfaltung des Themas wird, das ist der Ausgangspunkt, wesentlich durch situative Faktoren beeinflusst. Durch sich immer wie_____________ 24 25
26
Ebd., S. 139. »Nun gibt es zwar eine allgemeine Interdependenz, aber kein prästabiliertes Eins-zuEins-Verhältnis zwischen sprachlichen und gedanklichen Einheiten. Einerseits umfaßt das grammatische System der Sprache eine Fülle unterschiedlicher Gebrauchsweisen; andererseits läßt aber auch die Gleichheit der Sprache zahlreiche Konnotationen, Modifikationen und Interpretationen der Sprechenden zu: ›Wenn man sich bei jedem Wort und (jeder) Formel nur einerlei denken könnte: so wäre nichts nötig, als die Elemente zu kennen; es gäbe nur Grammatik‹ [...] – und, so darf man hinzufügen, keine Hermeneutik, weil es eben nicht das Problem gäbe, wie ein Sprecher/Hörer von der Kenntnis der (allgemeinen) ›Bedeutungen‹ der Grammatik zum Verstehen des (individuellen) ›Sinns‹ sprachlicher Äußerungen gelangt.« (Gerke: Verstehenskonzeptionen, S. 24) Der Rezipient ist bereit, eine Satzfolge als kohäsiv, kohärent und intentional aufzunehmen.
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derholende Faktoren der jeweiligen Kommunikationssituation haben sich kulturell bestimmte Grundformen der Verknüpfung von Propositionen bzw. Propositionskomplexen herausgebildet, die, sofern sie dominieren, den Charakter von Textsorten mitbestimmen. Im allgemeinen geht man von vier Arten aus:27 deskriptive, explikative, argumentative und narrative Themenentfaltung.28 Der Bezug zum literarischen Darstellen bietet sich bei der narrativen Themenentfaltung an, die für die Analyse von Alltagserzählungen entwickelt worden ist.29 Die Vorstellung von narrativer Themenentfaltung bezieht sich nicht auf literarische Gattungen und Genres, sondern entspricht in etwa dem Vorschlag Lämmerts,30 vom ›Typus‹ ›Erzählen‹ als einem Begriff zu sprechen, der quer zu den Gattungsbegriffen liegt und Eigentümlichkeiten des Erzählens schlechthin betrifft.31 Wie Lämmert Erzählen unabhängig von der Gattung, ob Roman, Novelle oder Kalendergeschichte, als »typische Form der Dichtung« sieht, die »ungeachtet des etwaigen Vorwiegens eines Typus in einer Zeit, bei einem Volk oder einem Dichter − ihre allzeitigen Möglichkeiten« bezeichnet,32 so betrachtet die Textlinguistik die narrative Themenentfaltung als Bauform für Texte verschiedener narrativer Alltagstextsorten, ob moderne Sagen/urban legends, Witze, Reiseerzählungen, Schauergeschichten, Missgeschicksgeschichten, ›Weißt-dunoch‹-Erzählungen, Großeltern-Geschichten oder Passagen aus narrativen Interviews u.a.33 Erzählen ist aus textlinguistisch alltagsbezogener Sicht die Darstellung einer Ereignisfolge unter kommunikativ-funktionalem Aspekt aus einer subjektiv gewichtenden und bewertenden Perspektive.34 Die dargestellten Zusammenhänge müssen für die konkrete Situation signifikant sein, das Kriterium des Unerwarteten, der Interessantheitseffekt, den eine Darstellung aufweist, wird als Voraussetzung für einen erzählenswerten Stoff angenommen. Die Einbettung in einen Rahmen und eine »prozessualaktionale Repräsentation des Ereignisses«,35 das sich aus einer oder mehreren Ereignisphasen (jeweils eine Komplikation und Auflösung) konstituieren kann, gelten ebenfalls als gesetzt. Alltagserzählen und literarisches Erzählen (und die Abgrenzung voneinander) wären Gegenstände, die für ein interdisziplinäres Herangehen und Vergleichen in Frage kommen könnten. _____________ 27 28 29 30 31 32 33 34 35
Brinker: Textanalyse. ›Deskriptiv‹ gilt für informierende Texte (z.B. die Nachricht), ›explikativ‹ für wissensvermittelnde Texte (z.B. Lehrbuchtexte), ›argumentativ‹ für appellative Texte (z.B. Politikerreden). Van Dijk: Textwissenschaft; Brinker: Textanalyse. Lämmert: Bauformen. Vgl. ebd., S. 10ff. Ebd. 15f. Vgl. Schenda: Bausteine, S. 265. Carroll / Timm: Erzählen, S. 694. Brinker: Textanalyse, S. 71.
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3.4 Text und Handeln Über die Betrachtung von Text und Syntax, Text und Semantik oder Text und Thema, wie sie bis jetzt angesprochen wurden, hinaus nimmt die Textlinguistik Texte als handlungsbezogene Einheiten in den Blick. Grund für diese Erweiterung des Blickwinkels ist die auf die transphrastische Phase folgende Einsicht, dass der Text eine Einheit sui generis mit eigenen, von den Regeln des Satzes unterschiedenen Regularitäten ist und dass unter diesen Umständen eine nur innersprachliche Betrachtung nicht genügen kann. Wenn Texte in Handlungen eingebettet bzw. an ihnen beteiligt sind – so ist die Annahme –, können sie nichts Starres, ein für allemal Fertiges sein, sondern müssen als Element des Handelns auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Produktion und Rezeption betrachtet werden. Mit diesem Blickwinkel hat man die rein textinterne Perspektive aufgegeben und richtet den Blick zusätzlich auf Textexterna. Über Textstrukturen, -themata und -funktionen hinaus, wie sie schon die Analyse der thematischen Entfaltung im Blick hatte, betrachtet man die Intentionalität/Zweckgerichtetheit der sprachlich-kommunikativen Handlungen, man sieht die Rolle, die Sender und Empfänger gemeinsam bei der Textkonstitution haben, und den sozialen Aspekt, der sich daraus ergibt, dass zwei oder mehr Individuen mithilfe von Texten und auf der Grundlage von Konventionen, die sie miteinander teilen, kooperieren. Kommunikativ-pragmatische Prinzipien (Situationalität, Intentionalität, adressatenbezogene Informativität und senderbezogene Akzeptabilität) auf der einen und spezifische, nicht vom Sender abhängige Textkonventionen (Textregularitäten, Textmuster, Textklassen) auf der anderen Seite stehen jetzt im Vordergrund. Sowohl der kognitionspsychologisch begründeten Tätigkeitstheorie wie dem handlungstheoretischen Konzept der Sprechakttheorie, die beide in diesen Kontext gehören, liegt die Auffassung zugrunde, dass Sprache nur im Zusammenhang des Handelns – des sprachlichen und des nichtsprachlichen – angemessen beschrieben werden kann. Der Text, obwohl bereits eine relativ geschlossene thematische Einheit, muss in einen noch größeren Zusammenhang gestellt werden, in dem er erst seinen Sinn erhält, nämlich in den Kontext des gesamten Kommunikationsvorgangs. Wir haben davon auszugehen, dass Texte immer von jemandem für jemanden mit einer bestimmten Intention gemacht werden und dass das ›Leben‹ der Texte davon abhängt, ob jemand sie als eine intentional auf eine bestimmte Wirkung hin verfasste Mitteilung rezipiert und ihnen Sinn gibt. Andernfalls bleiben sie unabgeschlossene Entitäten. Bezüge zu Kategorien wie ›Lesarten‹, der ›offene Text‹, ›Rezeptionsästhetik‹ lassen sich hier denken.
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Während der holistische Ansatz der Tätigkeitstheorie, die sprachliche Tätigkeit als dynamisches und holistisch zu betrachtendes System auffasst,36 geeignet scheint, ihn auch auf literarische Artefakte anzuwenden, ist dies für den sprechakttheoretischen Ansatz nicht unumstritten. Ein Ansatz, der eindeutige Zuordnungen und Hierarchisierungen der Illokutionen im Text annimmt,37 ist für die Beschreibung von Sachtexten nützlich, weniger aber für die offenen, nicht als eindeutige Botschaft lesbaren literarischen Texte. 3.5 Text und Kognition Bei jeder der bisher vorgestellten Textauffassungen hat sich die Perspektive auf Texte erweitert. Eine außerdem notwendige Erweiterung besteht in der Einbeziehung kognitiver Prozesse, die an jeder Tätigkeit, auch der sprachlichen, beteiligt sind. Der Sender greift beim Herstellen und Verstehen von Äußerungen auf bestimmte mentale Voraussetzungen zurück. Er bezieht sich auf seine Wissens- und Erfahrungsbestände und geht mit den aus der zurückliegenden kommunikativen Praxis gewonnenen Erwartungen an Künftiges heran. Die Organisation solcher Wissensbestände wird von verschiedenen Ansätzen aus beschrieben. Ein semasiologischer, sich auf Erkenntnisse der kognitiven Psychologie beziehender Ansatz geht aus von der Existenz semantischer Felder. Unser Gedächtnis speichert begriffliches Wissen nicht in isolierten Einheiten, sondern in ›Kernkonzepten‹. Zu einem solch umfassenden integrierenden Kernkonzept, das Agricola als Oberbegriff von mittlerem Abstraktionsgrad auffasst,38 gehört als grundlegende Struktureinheit ein ›semantisches Feld‹, das aus einer Menge einander bedeutungsnaher Lexembedeutungen besteht. Das semantische Feld für alles, was z.B. unter den Oberbegriff ›Liebe‹ mit allen zugehörigen Substantiven, Verben, Adjektiven gehört, ist dem Sprachteilnehmer mehr oder weniger vollständig bekannt und kann zu Assoziationen bzw. in Texten zu Vernetzungen führen, also Textkohärenz und Sinnangebote herstellen. Auch mit Frames bzw. Schemata (begrifflichen Zusammenhängen) und Scripts (Handlungsabläufen) werden konzeptuelle Teilsysteme unseres Wissens erfasst. Der Unterschied zum Ansatz der semantischen Felder ist darin zu sehen, dass nicht mehr sprachlich fixierte Begriffe die Ausgangsposition für ein solches globales Muster bilden, sondern typische Zusam_____________ 36 37 38
Leont’ev: Tätigkeit; Leont’ev: Tätigkeitsbegriff. Motsch / Viehweger: Sprachhandlung; Motsch / Pasch: Handlungen. Agricola / Brauße / Karl / Ludwig: Komplexwörterbuch. Bd. 2, S. 342.
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menhänge, wie sie als in der Realität existent in unserem Bewusstsein fixiert sind. Nicht das sprachliche Zeichen ist hier also der Ansatzpunkt, sondern die Strukturen sind es, in denen Ausschnitte der Wirklichkeit in unserem Gedächtnis fixiert sind. Sie repräsentieren typisierte Situationen, Objekte, Zustände und Prozesse. Die Informationen, die solche globalen Muster bereithalten, sind von unterschiedlichem Abstraktionsgrad, unterschiedlich komplex und auch erweiterbar, d.h. sie lassen einen dynamischen Umgang zu. Die Kenntnis solcher Zusammenhänge ist sowohl für das Textverstehen, für dessen Beschreibung sie herauspräpariert wurden, als auch für das Herstellen von Texten relevant. Der Textzusammenhang kann nur über die außersprachliche Instanz ›Weltwissen‹ hergestellt werden. In der Kenntnis von Frames und Scripts geht man mit bestimmten Erwartungen an Texte heran, und man hört oder liest dann auch mit den Erwartungen des jeweiligen Frame oder Script und nimmt nur auf, was in dieses Frame/Script passt. Wie sieht nun die Erwartung an Literatur aus? Zum Beispiel so, dass sie einen spezifischen Ausschnitt von Weltwissen verinnerlicht hat, nämlich den, dass es so etwas wie Literatur gibt, dass solche Texte anders als andere gelesen werden wollen/müssen, dass den Lesern in ihr andere Welten begegnen als im alltäglichen Leben? 3.6 Text und Stil Eine zusätzliche, neuere und durchaus noch nicht allgemein akzeptierte Erweiterung des Textbegriffs ist die um den Stil als notwendiges konstituierendes Element von Texten und damit, wie gleich zu sehen sein wird, um das Semiotische. Anders als die traditionelle, auf die elocutio bezogene Stilistik definieren neuere (pragmatische, funktionale, semiotisch orientierte) Stilauffassungen den Stil als textbezogene Größe.39 Dass literaturwissenschaftliche Stilauffassungen, wie z.B. die von Spitzer oder Kayser, den Stil bereits als Phänomen des Textes ansehen, entkräftet meine Feststellung nicht. Was bei ihnen fehlt, ist zum einen die Theoretisierung des Stils als Zeichenhaftes und zum anderen die Feststellung, dass Stil eine notwendige Texteigenschaft ist. Stil entsteht erst im Textzusammenhang und er ist an der Herstellung des Textcharakters entscheidend beteiligt. Der erste Teil der Feststellung – Stil entsteht erst im Textganzen – trifft sich mit der Auffassung von Spitzer oder Kayser. Der zweite Teil – Stil ist entscheidend beteiligt an der Konstitution des Textes – ist neu. Die Frage, was ein Text ist und was ihn ausmacht, konnte erst gestellt werden, als man sich mit _____________ 39
Fix: Einheit.
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dem Phänomen der Textualität beschäftigt hat, also mit dem Entstehen der Textlinguistik. Dass Textoberfläche und -tiefenstruktur die zwei unentbehrlichen Ebenen eines jeden Textes sind, unterliegt keinem Zweifel. Wie diese Ebenen zu beschreiben sind, ist hinlänglich untersucht und unter den Stichworten ›Kohäsion‹ und ›Kohärenz‹ (s.o.) zur gängigen Praxis von Textanalysen geworden. Mit der Untersuchung von Textoberflächen im Blick auf die Tiefenstruktur der Texte ist jedoch die Sprachgestalt von Texten noch nicht erfasst. Textkonstitutiv ist nicht nur die Existenz von Strukturen, Beziehungen und Bedeutungen, man muss vielmehr auch ein übergeordnetes Prinzip der Herstellung von Kohäsion und Kohärenz im Blick haben, das in der Einheitlichkeit der Wahl der Mittel besteht − mit dem Ziel, um es einmal vorwissenschaftlich auszudrücken, eine einheitliche ›Textatmosphäre‹ herzustellen und damit auf der einen Seite möglicherweise einen individuellen Textstil zu kreieren, auf der anderen Seite aber auch, und dies notwendigerweise, dem Textmuster einer Textsorte und dessen sprachlichformulativem Anspruch gerecht zu werden: Herstellung von Individualstil und Textsortenstil. Wird ein Textsortenstil, der normalerweise die Rezeption in eine bestimmte Richtung lenkt, nicht durchgehalten, verunsichert das den Rezipienten. Mit welcher Textsorte hat er es eigentlich zu tun? Die von Sandig entwickelte textbezogene pragmatische Stilistik kommt vom sprechakttheoretischen Ansatz aus zu einer Theorie der stilistischen Ausführung von Sprachhandlungen in Texten.40 Im Zusammenhang der Handlung ist es die Funktion von Stil, intersubjektiv Sinn herzustellen. Stil gilt als eine sekundäre Bedeutungsschicht des Textes, die vor allem unter sozialem Aspekt – meiner Auffassung nach aber auch unter ästhetischem – von Bedeutung sein kann. Diese zunächst stark an Regelhaftem und an Sachtexten orientierte Auffassung wird später erweitert, indem dem Konventionellen das Originalisieren durch Stil, der Regel die Abweichung als stilhafte Erscheinung gegenübergestellt wird. Mit der Vorstellung von Stil als Sinn bietet die pragmatische Stilistik einen Ansatz für die Beschreibung und Analyse literarischer Texte. Spielarten kommunikationsorientierter semiotischer Stilistiken, wie sie z.B. Spillner oder Lerchner vertreten und wie sie auch meiner Vorstellung von Stil entsprechen,41 sprechen dem Wie Zeichencharakter und damit eine semiotische Qualität zu, was den Ansatz für die Einbeziehung anderer als sprachlicher Zeichen und anderer als sprachlicher Artefakte, also
_____________ 40 41
Sandig: Stilbeschreibung; Sandig: Stilistik der deutschen Sprache. Spillner: Linguistik; Lerchner: Sprachform.
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z.B. Bild-Text-Betrachtungen, liefert. Und mit Anschluss an Mukařovský hat Stil, insofern er auf Sichtbarkeit hin angelegt ist, eine ästhetische Qualität.42 Zu dem strukturalistisch-semiotischen Ansatz, wie ihn Mukařovský und Lotman vertreten,43 gehört die Vorstellung von Kultur als hierarchisch organisiertem Zeichensystem. An die Zeichen sind kulturelle Bedeutung und sozialer Wert gebunden. So ist der Text in keinem Fall auf rein Sprachliches reduziert, sondern sprachliche Äußerungen werden erst durch ihre besondere kulturelle Signifikanz zum Text. Die funktionale Korreliertheit der verschiedenen Zeichensysteme, deren Abgrenzbarkeit und Relationen sind von beiden Seiten her zu untersuchen. Die Frage nach der Anwendbarkeit linguistischer Methoden in der Literaturwissenschaft stellt sich hier wie schon einmal im Strukturalismus, wird aber nun nicht auf das Instrumentale reduziert. Anders als beim scientistisch-strukturalistischen Ansatz, von dem nur einzelne Methoden übrig geblieben sind, lebt dieser strukturalistisch-semiotische Ansatz fort in Stilauffassungen, die von der Zeichenhaftigkeit des Stils ausgehen. Damit sind die pragmatisch und semiotisch angelegten Stilauffassungen gemeint, von denen letztere ihre besondere Aufmerksamkeit dem Literarischen zuwenden. Interessanterweise ist eine Reaktivierung der Kategorie ›Stil‹ und das Ausloten ihrer Möglichkeiten zu bemerken. Es wird sehr stark ›von außen‹, aus der Richtung der Soziologie, der Kulturwissenschaft und der Kunstwissenschaft, an die Linguistik herangetragen. Anders als zu Beginn des 20. Jahrhunderts wäre heute, so denke ich, ein gemeinsamer Umgang mit Stil als integrierender Größe möglich, fasste man sie in einem ganzheitlichen semiotischen Sinne auf. 3.7 Text und Textsorte Das bisher letzte Feld von Wissensbeständen, das sich an das bisherige Textwissen anlagert, ist das Wissen um Textsorten in ihrer kulturellen Geprägtheit. Hier liegt gegenwärtig das textlinguistische Hauptinteresse. Schon die pragmatische und später auch die kulturwissenschaftliche ›Wende‹ brachten es mit sich, dass sich das Interesse vom Text ›an sich‹ zunehmend auf den Text in seinen kommunikativen und kulturellen Zusammenhängen verlagerte und damit folgerichtig die Frage nach der Typik, in der Texte auftreten, nach Sorten von Texten und ihrer Klassifizierung und nach ihrer kulturellen Geprägtheit aufbrachte. Was ist an Textsorten kulturell? Stimmt man darin überein, dass Textsorten Elemente einer im sozialen Handeln erworbenen Sprach- und Kommunikationskompetenz sind, hat man sich _____________ 42 43
Mukařovský: Kapitel, S. 33. Mukařovský: Kapitel; Mukařovský: Kunst; Lotman: Struktur.
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bereits auf deren Kulturalität geeinigt. Da die Situationen und Kontexte, in denen sprachlich gehandelt wird, kulturell geprägt sind, müssen auch die Formen, die eine Gemeinschaft für dieses Handeln und im Handlungsvollzug entwickelt hat, kulturelle Phänomene sein. Textsorten – wie andere Routinen des Handelns auch – beruhen in zweierlei Hinsicht auf kulturellen Übereinkünften: Erstens: Bereits die Tatsache der Existenz des Phänomens ›Textsorte‹ an sich, das Faktum also, dass Kultur- und Kommunikationsgemeinschaften über die Textsorte als eine wichtige und komplexe Art von Handlungsroutine verfügen, ist ein im oben beschriebenen Sinne kulturelles Phänomen. Dies ist es jedenfalls dann, wenn man sich auf ein Kulturkonzept bezieht, das Kultur als Phänomen des Alltags betrachtet. Dessen Kern ist jeweils, dass die Formen, Muster, Routinen, die Mitglieder einer Kulturgemeinschaft hervorgebracht haben, um miteinander leben und handeln zu können, an der Konstitution von Kultur beteiligt sind. Zu diesen Routinen gehören eben auch die Textsorten einer jeweiligen Kultur mit ihrer typischen Form, ihrem vereinbarten Weltbezug und ihrer Funktion, ihrem ›Sitz im Leben‹. Die Basis der Auseinandersetzung mit dem Phänomen ›Textsorte‹ an sich ist also das Wissen um deren grundsätzlichen kulturellen Status. Hier zeigen sich Bezüge zu Gattungsproblemen, z.B. hinsichtlich der Bestimmung dessen, was jeweils der ›Sitz im Leben‹ ist bzw. ob es sinnvoll ist, mit dieser Kategorie umzugehen. Im konkreten Fall der Beschäftigung mit einer bestimmten Textsorte hat man zusätzlich die einzelkulturelle Spezifik der jeweiligen Textsorte zur Kenntnis zu nehmen. Textsorten wie andere Routinen des Handelns sind zunächst einmal als einzelkulturelle Übereinkünfte anzusehen. Es gibt in der Realität des Sprechens nicht ›Textsorten an sich‹, sondern spezifische, von einer oder auch von mehreren Kulturen gemeinsam geprägte. Diese Prägung kann verschiedene Aspekte betreffen: sowohl inhaltliche als auch funktionale und formale Elemente. So sind Textsorten immer Schnittpunkte von Wissensbeständen, die in einer für die jeweilige Textsorte zutreffenden Auswahl und Ausprägung vorhanden sein müssen. Zu diesen gehören das Weltwissen im Sinne von Verfügen über Frames, Prototypen und Begriffe, das Kommunikationsnormenwissen (wer darf wann wie handeln?), das Sprachwissen und auch, wenn man es vom Framewissen trennen will, das Kulturwissen. Dieses umfasst Wissen über Traditionen von Texten,44 über deren kulturelles Prestige und dessen Wandel (literarische Texte gelten/galten mehr als Alltagstexte?), über den Wert des Mediums (geschriebenen Texten wird mehr Wert zugebilligt als gesprochenen? Relationen von Bild und Text), Kenntnis über Kultureme (Angebrachtheit des _____________ 44
Schlieben-Lange: Sprachgeschichte, S. 28.
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kommunikativen Handelns bestimmter Art) und textbezogene Behavioreme (übliche Art der Ausführung des Handelns in einer bestimmten Textsorte)45 und die Funktion, »historisch und kulturell spezifische, gesellschaftlich verfestigte Lösungsmuster für strukturelle kommunikative Probleme« zu sein.46 Wie und ob sich in dieses komplexe Gefüge literarische Gattungen einordnen lassen, welche Übereinstimmungen und welche Spezifika es dabei möglicherweise gibt, ist aus meiner Sicht eine interessante Frage. 4. Was tut sich an den Rändern? 4.1 Neuer Textbegriff? Der Textbegriff wird von rein sprachlichen unikodalen auf multikodale Artefakte erweitert. Die Basis dafür ist, dass Texte nie nur rein sprachlich existieren, immer sind andere Zeichen an ihnen beteiligt, seien es Gestik und Mimik, Typographie und Papiersorte und/oder Bilder und Tabellen usw. Da dieser Komplex aus Zeichen verschiedener Art, die ein Textexemplar ausmachen, gemeinsam Sinn anbietet, da alle Zeichen auf der Textoberfläche und in der Textumgebung etwas zu verstehen geben und auf Wahrnehmbarkeit hin angelegt sind, kann man an ihnen nicht vorbeigehen. So kann man schlechterdings nicht einen Kode, in der Regel den sprachlichen, aus dem Textkomplex herauslösen und an ihm den Sinn des Ganzen ablesen wollen, ein Verfahren, das in linguistischen Textanalysen noch immer vorherrscht. Das Beispiel des Briefs aus dem 19. Jahrhundert (s.o.) sollte zeigen, welche Kodes neben dem sprachlichen für den Rezipienten von Belang sein können, dass das Zusammenwirken der Zeichen verschiedener Kodes beachtet werden muss, weil sie alle etwas bedeuten, und auch deshalb, weil außerlinguale Elemente in Texten zunehmen. Der Anteil der visuellen Zeichen in der Kommunikation wächst mit der Vielfalt medialer Möglichkeiten, Visuelles zu vermitteln. Das betrifft bei schriftlichen Texten auf dem Papier u.a. sinntragende Typographie,47 Linien, Farben, Proportionen, Tabellen, Kurven und Schaubilder.48 Bei der elektronischen Textgestaltung betrifft es die im Hypertext in unbegrenztem Maße mögliche Anwendung und Vernetzung visueller, akustischer und sprachlicher Darstellung. Diese Phänomene, von denen nur wenige und die gebräuchlichsten genannt wurden, sind keine Randerscheinungen, sondern zentrale _____________ 45 46 47 48
Oksaar: Sprache. Bergmann / Luckmann: Formen, S. 2. Schellnack: SCHRIFT/BILD; Korger: Schrift. Pörksen: Weltmarkt.
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Elemente eines Textes. Ihre Beschreibung ist nötig. In dem Zusammenhang ergibt sich die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Leistungen der verwendeten Kodes: auf der einen Seite die sprachlichen – digitalen – Zeichen, die arbiträr sind und verallgemeinernden Charakter haben (Begrifflichkeit), und auf der anderen Seite Bilder, Farben, Proportionen – analoge – Zeichen, die nicht begrifflich sind, sondern eher über die direkte Anschauung wirken. Außerdem darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich Lesen als Verstehen von Texten nicht so einfach in visuelle und kognitive Elemente aufspalten lässt.49 Sprachtexte werden auch als Bildtexte (vgl. Konkrete Poesie) gelesen: Umrisse, Struktur, Visualität der Lesefläche werden wahrgenommen. Und andererseits können Bilder wie Sprachtexte, also auch verallgemeinernd, gelesen werden, wenn sie so konventionalisiert sind, dass viele Rezipienten gemeinsam in den Bildern denselben Sinn entdecken. Wenn man nun die Phänomene in der Rezeption nicht trennen kann, verbietet sich die Trennung selbstverständlich auch bei der Analyse. Alles ist also als sinntragendes Element zu betrachten und einzubeziehen. Leittheorie für ein Herangehen an Texte bei Beachtung ihrer Multikodalität kann die Semiotik sein – als eine Wissenschaft, die an allen Zeichen- und Kommunikationsphänomenen gleichermaßen interessiert ist. Um sich für diesen Ansatz zu entscheiden, muss man akzeptieren, dass alle Zeichen, gleich aus welchem Zeichenbereich sie kommen, kulturell vereinbart sind. Auch die Tatsache, dass in einer Kultur manche Zeichen im Zentrum stehen, andere eher an der Peripherie, ist so zu fassen. Linguistische Textbegriffe sind vor diesem Hintergrund nicht mehr ausreichend. Texte müssen als Komplexe von Zeichen verschiedener Art betrachtet werden können. Dabei wird es z.B. von Belang sein, ob die Bilder oder die sprachlichen Zeichen in einem Textexemplar dominieren (vgl. Textbeispiele im Anhang). Einen für eine solche Betrachtung geeigneten Textbegriff, der auf komplexe Zeichengefüge und komplexe Semiosen anwendbar ist, findet man bei Posner,50 für den jedes Zeichengebilde als Text gilt, das intendiert sowie mit einer Funktion versehen ist und auf Zeichenkonventionen einer Kultur beruht. Jedes Artefakt, d.h. alles vom Menschen unter diesen Bedingungen Hervorgebrachte, wäre dann Text. Gemischte Texte sind demnach als Ergebnis beabsichtigten Verhaltens, als Artefakte/Produkte zu betrachten, in denen mehrere Kodes einer Kultur mit einer einheitlichen Funktion zusammenwirken. Zusätzlich zur Multikodalität ist auch das Phänomen der Multimedialität (s.o.) zu beachten, wenn es um den Textbegriff geht. Texte, die wir zunächst einmal relativ unproblematisch einer Textsorte zuordnen können, _____________ 49 50
Gross: Lese-Zeichen. Posner: Kultur.
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wie Brief,51 Eintragung ins Gästebuch, Rezension, Lexikoneintrag oder Alltagsgespräch, begegnen uns auch als elektronische Fassung, unter derselben oder ähnlicher Textsortenbezeichnung: z.B. E-Mail, elektronisches Gästebuch, Rezension, Chat. Die Frage ist, ob wir bei den Verlagerungen aus dem sprachlichen in ein anderes Medium von derselben Textsorte oder Gattung reden können, die durch das andere Medium möglicherweise spezifiziert, aber nicht in ihrem Wesen beeinträchtigt ist, oder ob wir es mit neuen Textsorten/Gattungen mit anderen Bedingungen und Wirkungsmöglichkeiten zu tun haben. Die Frage stellt sich natürlich nicht nur und nicht in erster Linie bei den oben genannten Alltagstextsorten. Sie begegnet uns auch bei literarischen Texten, z.B. bei der Verfilmung von Literatur. Ist die Verfilmung eines Märchens, um bei einer einfachen Gattung zu bleiben, ein Gattungswechsel, ein Medienwechsel, ein Kodewechsel oder das alles zusammen? Wie sind hier Abgrenzungen und Festlegungen möglich, wenn das überhaupt der Fall ist? Was ist bei einer solchen Abgrenzung zu gewinnen? Intertextualität ist ebenfalls ein aktuelles Problem für die Textlinguistik. Es geht nicht nur darum, dass die bekannten Klassifizierungsfragen (typologische und referentielle Intertextualität, Text-Textsorten-Intertextualität, Text-Text-Intertextualität) und die Frage ihrer analytischen Erhebbarkeit problematisch sind (Intertextualität – ein Phänomen des Textes oder der Rezeption?), sondern es zeigen sich auch neue Probleme. Die neuen Formen von Text-Text-Bezügen, die sich aus den elektronischen Möglichkeiten ergeben, stehen auf der Tagesordnung: Beispiel Hypertext – ein holistischer Text, der als Verbund von digital gespeichertem Sprachtext mit Tonmaterial, mit Bildern, Filmen, Grafiken u.ä., also mit Texten mehrerer Kodes, auftreten kann und dies in der Regel auch tut. Hinzu kommen, durch die Diskursanalyse linguistischer Provenienz ins Blickfeld gerückt, kulturell geprägte Verbünde von Texten als Textsortennetze (z.B. alle Texte um das Thema ›Buch‹ – vom Klappentext über den Roman, das Motto, das Vor- oder Nachwort, die Rezension bis hin zu Buchwerbetexten) und Serien von Texten wie Fortsetzungstexte, Fassungen, Reihen, die sich nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Presse und in der Werbung (siehe z.B. Textbeispiele im Anhang) finden.
_____________ 51
Auf die Notwendigkeit der Einteilung in Brieftextsorten gehe ich hier nicht ein.
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4.2 Textsorten – neue Fragen und Untersuchungsansätze Aus der Erweiterung des Textbegriffs ergeben sich eine Reihe neuer Fragestellungen und weißer Flecken, die in Auswahl kurz aufgelistet werden sollen. Kulturspezifik 1. Die Annahme, es gebe Textsorten mit dominierender einzelkultureller Spezifik und solche mit überkultureller Spezifik, ist zu untersuchen und gegebenenfalls zu differenzieren. Je nachdem, ›auf welche Seite sie gehören‹, hätten die Textsorten dann lokale oder überlokale/globale kulturell geprägte Muster. (Beispiele: Die Textsorte ›Todesanzeige‹ gibt es in vielen Kulturen, aber in abweichender Ausführung. Die Textsorte ›Kontaktanzeige‹ wird es in vielen Kulturen nicht geben (können).) 2. Über das Lokale hinausgehende kulturenübergreifende Muster können als Feld des Kulturkontaktes fungieren. (Beispiel: mobiles europäisches Sprechtheater).52 3. Noch ausgeprägter ist das überkulturelle Moment in Texten, die nicht an die Kultur eines Landes gebunden, nicht aus ihr hervorgegangen sind, sondern die ›oberhalb‹ von Sprach- und Kulturgrenzen eine eigene Kultur konstituieren. (Beispiel: jugendkulturelle Textsorten: Fanzines).53 4. Textsorten, deren Schwerpunkt auf der einzelkulturellen Spezifik liegt, können sich in sehr verschiedenen Einzelaspekten unterscheiden: z.B. Unterschiede in ihrer Textillokution oder Textproposition, in Themenentfaltung und Argumentationsweise, Unterschiede in textsortentypischen Sprachhandlungen und schließlich sogar in der Frage, wer in einer Kultur die Textsorte realisieren (›benutzen‹) darf. (In Frankreich dürfen Sprachglossen nur von den akademisch gebildeten Experten, nicht von Journalisten geschrieben werden).54 5. Die literaturwissenschaftliche Kategorie der ›Gattung‹ und die sprachwissenschaftliche der ›Textsorte‹ begegnen sich hier; denn sowohl die literarischen als auch die nichtliterarischen Texte können unter den genannten Aspekten betrachtet werden. Wandel von Textsorten 1. Die oft geäußerte Vorstellung von einer z.B. durch die neuen Medien hervorgebrachten Vielzahl neuer Textsorten ist zu überprüfen. 2. Den toten Textsorten, von deren Existenz die Sprachteilnehmer oft gar nichts mehr wissen und die deshalb für den Sprachgebrauch nicht re_____________ 52 53 54
Warnke: Textmuster. Androutsopoulos: Textsorten. Perennec: Sprachglosse.
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levant sind (z.B. ›Weistum‹, ›Sieglied‹, ›Stammbuch‹/›Willensbekundung‹ und ›Kampfprogramm‹ der DDR) und den im Absterben befindlichen (›Telegramm‹, ›Privatbrief‹/›persönlicher Brief‹?) scheinen nur wenige tatsächlich neue Textsorten gegenüberzustehen (z.B. Anrufbeantwortertext, Flyer, SMS). Die Frage, ob die Neuheit sich im Wechsel des Trägermediums erschöpft bzw. ob Veränderungen sich allein aus dem Medium ergeben, ist noch nicht beantwortet. 3. Viel häufiger scheint man es allerdings mit Veränderungen innerhalb von Textsorten zu tun zu haben, die sich an neue Gegebenheiten verschiedenster Art anpassen und dabei den Status ihrer ›Herkunftstextsorte‹ nicht verlieren. Woran kann man im gegebenen Fall die Fortexistenz einer Textsorte (z.B. Gästebuch – elektronisches Gästebuch) erkennen? Wieviel und welche Veränderung ist dabei zugelassen? 4. Wie wirken sich die Medien auf den Wandel von Gattungen aus? Sind vergleichbare Vorgänge festzustellen? Entwicklungstendenzen Die Analyse heutiger Textsorten zeigt Entwicklungstendenzen, die nicht unbedingt eine Neuheit darstellen müssen, sondern als die Verstärkung von etwas schon Vorhandenem betrachtet werden können. Als solche sind sie interessant. Eine klare Abgrenzung zwischen diesen Tendenzen ist nicht immer möglich und auch nicht nötig. Folgende stichwortartig dargestellte Tendenzen, die zum Teil auch Gattungen betreffen, fallen auf: 1. Vermischtheit Faktoren greifen ineinander. - Vermischung von Poetischem und ›Praktischem‹ – poetische Mittel in der Werbung, im Anzeigenbereich, in politischen Sprüchen etc., Auflösung der Grenzen zwischen Literarischem und Nichtliterarischem? - Vermischung von Intentionen – z.B. Information und Unterhaltung im Wetterbericht - Vermischung von Gegenstandsbereichen – z.B. Verbindung von Politik, Kultur, Technik, Wissenschaft, Katastrophen, Verbrechen, Sport, Wetter in den Fernsehnachrichten - Vermischung von Genres: Fernsehbericht mit Umsetzung von Ausschnitten des Berichteten in gespielte Szenen - Medial bedingte Vermischung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (z.B. E-Mail, Chatten) - Medial bedingte Vermischung von Varietäten/Schriftsprache – Umgangssprache (z.B. E-Mail, Werbung)
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2. Vernetztheit Einzeltexte stehen miteinander in intendierten Beziehungen. - Z.B. Textdesign in Printmedien - Z.B. Hypertext im elektronischen Medium - Textsortennetze (Brieftextsorten, Buchtexte, s.o.) 3. Zersplitterung Texte werden von anderen Texten, die mit ersteren in keinem Zusammenhang stehen, unterbrochen. - Z.B. Werbespots im Fernsehfilm - Z.B. mitlaufende Börsennachrichten in Fernsehtexten anderer Genres - Mitlaufende Nachrichten zu politischen Fernsehsendungen 4. Nichtabgeschlossenheit Texte können immer fortgesetzt und immer rückwirkend geändert werden. - Z.B. Vielzahl elektronisch gespeicherter Texte - Z.B. Hypertext 5. Offenheit Rezeptionsrichtung und -art sind nicht vorgegeben bzw. die Inhaltsvermittlung ist nicht abgeschlossen. - Z.B. Hypertext - Serielle Texte (Werbeplakate, Werbetexte, Porträtserien in Zeitschriften), serielle Textsorten (Rubriken, Sendereihen, Fernsehserien) 6. Normiertheit Die Ausführung von Texten ist in starkem Maße vorgegeben. Das trifft v.a. auf institutionelle Texte zu. - Z.B. Textmuster mit geringen Spielräumen - Z.B. Textbausteine - Z.B. Fertigtexte Abwandlung vor dem Hintergrund der Normiertheit Vermischung und Abwandlung von Textsorten wird mit dem Ziel der Originalität, der Unterscheidung von anderen, der Sichtbarmachung vollzogen. - Z.B. Literarische Texte - Z.B. Werbung - Z.B. Anzeigen Bei dem Versuch, die beobachtbaren Tendenzen in der Entwicklung von Textsorten aufzuzeigen, ergibt sich ein Bild vielschichtiger Beziehungen, die weiterer Untersuchung bedürfen. Dabei ist zu bedenken, dass ein Anlass zu mehreren Erscheinungsformen führen kann. Literarische Texte können als per se offen, vermischt, vernetzt, ästhetisiert gelten. Medienbedingt-
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heit kann zu Vermischung, Vernetzung, Zersplitterung, Offenheit führen (z.B. Homepage). Umgekehrt kann eine Erscheinungsform auf mehrere Anlässe zurückgeführt werden. Kreativität im Werbetext ist sach-, medien-, kulturbedingt, hat ihre Ursachen also im Gegenstand, im verwendeten Medium und in der Kultur, die dieses Verfahren hervorgebracht hat. 6. Rückkehr zum Text? – Fazit Aus sprachwissenschaftlicher Sicht bietet sich das folgende Bild: Die Literaturwissenschaft hat sich vom Text als Gegenstand getrennt, als sie ihn zum bloßen Schnittpunkt der Aktivitäten von Autor und Leser machte. Die Folge war, dass das Thema ›Text‹ im Sinne von ›Textgestalt‹ in den Hintergrund trat und dass damit zugleich das Interesse an der Zusammenarbeit von Sprach- und Literaturwissenschaft erlosch.55 Gerade in der Beschreibung von Texten als sprachlichen Phänomenen liegt ja die Leistungsmöglichkeit der Sprachwissenschaft. Nun lässt sich aber gegenwärtig, wie schon am Anfang festgestellt, ein erwachendes Interesse am Text bzw. an der Textoberfläche beobachten, das mit einer Neuorientierung der germanistischen Literaturwissenschaft zu erklären sein könnte, gerichtet dagegen, dass der Text im (wie auch immer gearteten) Kontext zum Verschwinden gebracht werden soll. Im zunehmend vielfältigen Gefüge von kulturwissenschaftlich, inter- und transkulturell, medienwissenschaftlich, genderspezifisch und wie sonst noch orientierten Literaturbetrachtungen scheint eine Besinnung auf die »neu zu durchdenken[den]« »etablierten Kernbereiche der Germanistik« an der Tagesordnung zu sein.56 Der Text als Oberfläche, die Textgestalt, würde damit wieder aktuell. Als einer der Kernbereiche neben Editionsphilologie und Literaturgeschichtsschreibung wird von Strohschneider und Vollhardt der Bereich der Textinterpretation angeführt − der als das klassische Feld der literaturwissenschaftlichen Germanistik betrachtete und zugleich am heftigsten umstrittene Bereich. Da Interpretation immer am Text ansetzen muss und da man diesem mit linguistisch-semiotischem Instrumentarium auf die Spur kommen kann, könnte hier ein erneutes Zusammengehen von Literatur- und Sprachwissenschaft gegeben sein. Dies gilt nur unter der Voraussetzung, dass ein solches Interesse der Literaturwissenschaft, also das Ansetzen am Text, auch wirklich besteht. Ein erweiterter, über das Sprachliche hinausgehender Zeichenbegriff, die Vorstellung, dass alles an einem Text zeichenhaft ist, also Information vermittelt, das Wissen davon, dass Stil zeichenhaft und an der Konstitution _____________ 55 56
Sicher gab es dafür auch andere Gründe, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Strohschneider / Vollhardt: Interpretation, S. 98.
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des Textes entscheidend beteiligt ist, dies alles sind Ansätze, die dem Einstieg in den Text Wege öffnen können. Gegen den möglichen Missbrauch des Instruments der Interpretation, gegen alle üblichen Vorbehalte setzt Weimar das überaus einleuchtende Argument, »daß es keinen vernünftigen Grund gibt, grundsätzlich und unbesehen darauf zu verzichten, bei der Bemühung um das Verständnis eines Textes alle verfügbaren Register zu ziehen und alle Möglichkeiten zu seiner Auswertung zu nutzen, die im Repertoire des Verstehens bereitstehen (und zum Teil sogar obligatorisch eingesetzt werden)«.57 Die Sprachwissenschaft, die trotz des Abbruchs der Beziehungen zwischen den Teildisziplinen immer auch literarische Texte betrachtet hat,58 in letzter Zeit vor allem unter zeichentheoretischem Aspekt, steht einer solchen Zusammenarbeit nicht unvorbereitet gegenüber.59 Wie mein Überblick vermitteln sollte, hat sie sich in vielfältiger Weise mit dem Phänomen ›Text‹, auch mit seiner literarischen Spielart, und mit Methoden seiner Analyse und Beschreibung auseinandergesetzt, wobei sie nach wie vor von der grundsätzlichen Übereinstimmung ausgeht, dass die Textgestalt, die Form des Textes, das relativ Feste ist, das der Textproduzent als Zweitsinn anbietet und das den Ansatz für das Verstehen bildet. Dies kann man annehmen, ohne die Prozesshaftigkeit und Offenheit des Textgebildes in Frage zu stellen. Es heißt nicht, Texte als »semantische Gefängnisse« zu betrachten, wenn man Textoberflächen als ›Interpretationshilfen‹ ansieht, die »innerhalb von bestimmten grammatisch-semantischen [und anderen, U.F.] Grenzen bestimmte semantisch-pragmatische Interpretationsmöglichkeiten eröffnen«.60 Worin bestehen aus meiner Sicht die Möglichkeiten der Annäherung der beiden Disziplinen? Thesenhafte Ausführungen dazu sollen den Beitrag abschließen.61 1. Der Faktor ›Text als wahrnehmbarer Zeichenkomplex‹ darf seiner Zeichenhaftigkeit wegen nicht vernachlässigt werden, wenn man sich aus sprachund/oder literaturwissenschaftlicher Perspektive mit literarischen Hervorbringungen beschäftigt. 2. Die Zeichenhaftigkeit der beteiligten Mittel, die Tatsache also, dass sie in einen Text immer schon Bedeutung mitbringen, gleich, was mit dieser _____________ 57 58 59 60 61
Weimar: Interpretation, S. 112. Wenn auch nur auf einer ›Nebenstrecke‹. Hoffmann / Keßler: Berührungsbeziehungen. Agel: Syntax, S. 39. Ich beziehe mich hier auf Fix: Sprach- und Literaturwissenschaft, und übernehme die Thesen von dort.
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›Vorbelastung‹ in der Rezeption auch geschieht, ist in Analyse und Interpretation einzubeziehen. 3. In einem neuen komplexen Zeichen, das ein Text darstellt, sind diese vorgegebenen Bedeutungen mit enthalten. Sie sind in einem gewissen Sinne unhintergehbar, gleich, ob man sie übernehmen oder von ihnen abweichen möchte, da das Abweichen nur Sinn vor dem Hintergrund der Ausgangsbedeutung ergibt. 4. Es ist zu untersuchen, auf welche konkrete Weise, mit welchen sprachlichen und anderen zeichenhaften Mitteln mit dieser ›Bedeutungsvorbelastung‹ umgegangen wird, wie das (offene, vage) Sinnangebot des Textes hergestellt wird und wie im konkreten Text durch die Zeichenrelationen ein Angebot an Bedeutung, an ›Zweitsinn‹, erzeugt wird. 5. Der Text ist eine formale, stilistische Einheit, in der alle Mittel zusammenwirken und in der sich insofern ein Mittel aus dem anderen erklärt. Zu erschließen ist die Spezifik des Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile, durch die sprachlich-stilistische Analyse der Textoberfläche, wobei ›stilistisch‹ alle Elemente des Textes meint. 6. Der Text, besonders der literarische, ist auf Wahrnehmbarkeit/Sichtbarkeit hin angelegt. Diese Feststellung erschöpft die Bestimmung dessen, was einen Text ausmacht, bei weitem nicht, aber sie richtet die Aufmerksamkeit auf etwas Entscheidendes: Die Mittel des Textes (sprachliche Form, Stil) sind so eingesetzt, dass sie unsere Wahrnehmung in eine bestimmte Richtung lenken. Kognitionspsychologische und –linguistische Untersuchungen können diese Textstrategien erfassen. 7. Wahrnehmbarkeit ist an Gestalthaftigkeit gebunden, also ein Produkt ästhetisierenden Handelns. Überhöhung im Gebrauch der Mittel ist zum Zweck der Wahrnehmung eingesetzt. 8. Stil ist Zweitinformation. Durch die Art und Weise, wie die sprachlichen (und andere) Mittel eingesetzt sind, werden soziale bzw. ästhetische Informationen gegeben. Im Fall literarischer Texte wird über das ästhetische Angebot, d.h. über das Spezifische seiner Form, das Sinnangebot des Textes überhaupt erst hergestellt. 9. Der Text ist nicht nur inhaltliches und sprachliches Gebilde, sondern an Materialität gebunden. Typographie, Bildlichkeit etc. lenken die Rezeption ebenfalls in eine bestimmte Richtung. 10. Gegenwärtige, zum Teil medienbedingte Tendenzen des Umgangs mit Texten/Textsorten/Gattungen machen die Textoberflächen in noch größerem Maße als bisher interessant. Das betrifft u.a. die generelle Tendenz zur Grenzüberschreitung im Bereich literarischer Texte, die teilweise vorzufindende Unbestimmtheit von Genrezugehörigkeit, die Vermischung von Varietäten innerhalb eines Textes ebenso wie die Verschmelzung
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von Bildlichkeit und Sprachlichkeit, es bezieht sich auf Übergänge zwischen Alltagstexten und literarischen Texten ebenso wie auf unscharfe Grenzen zwischen den Textteilen in Textmontagen und Textclustern.
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Anhang62
_____________ 62
Ich danke der Firma ZWILLING für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Werbetexte aus den Jahren 1999/2000.
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II. Zum Phänomen ›Literatur‹
FOTIS JANNIDIS
Einleitung
Haben sich die Beiträge des letzten Abschnitts mit dem Begriff ›Literatur‹ beschäftigt, so geht es in dieser und den folgenden Sektionen in erster Linie um das Phänomen ›Literatur‹ unter verschiedenen Perspektiven, um Literatur in verschiedenen Kulturen, um Literatur als Sozialsystem, um den Zusammenhang zwischen Literatur und Fiktionalität und Literarizität. In diesem Abschnitt wird in gewisser Weise das Fundament für die weiteren gelegt; alle drei Beiträge beschäftigen sich mit Fragen, die in dieser Allgemeinheit erst in den letzten Jahrzehnten zu Forschungsfragen geworden sind. Nach dem Ende der Psychoanalyse als wissenschaftlichem Diskurs ist eine theoretische Lücke entstanden, wie Genese und Struktur menschlicher Psyche als zentraler Bezugspunkt für Literatur zu konzipieren sei. Ein Angebot, diese Lücke zu schließen, stammt aus der evolutionären Psychologie und Ästhetik, die in ihren teilweise recht unterschiedlichen Entwürfen darin übereinstimmen, in der kulturellen und historischen Vielfalt menschlichen Lebens gemeinsame Dispositionen anzunehmen, die im Laufe der menschlichen Evolution als Adaptionen entstanden sind.1 Joseph Carrolls Ansatz weist zwei Besonderheiten auf. Zum einen geht Carroll von einer spezifischen adaptiven Funktion von Literatur aus – Literatur verstanden als ›imaginitive verbal artefact‹ –, während andere Autoren entweder davon ausgehen, dass Literatur zwar auf evolutionär erworbenen Kompetenzen und Dispositionen beruht, selbst aber keine adaptive Funktion hat. Für Carroll besteht die adaptive Funktion von Literatur darin, dass Menschen in Literatur affektive und moralische Erfahrungen von Alternativen machen können und auf diese Weise ihren subjektiven Sinn für Wert und Bedeutung entwickeln und anpassen können. Die andere Besonderheit des Carrollschen Ansatzes besteht darin, dass seiner Meinung nach nicht nur die Produktion und Rezeption von adaptiven Dispositionen bestimmt wird, sondern auch die Inhalte selbst, und Literatur daher in einem spezifischen _____________ 1
Einen guten Überblick über die Vielfalt bietet das Sonderheft Style 42, 2-3 (2008).
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Fotis Jannidis
Sinn immer ›mimetisch‹ oder ›repräsentierend‹ sei. Autoren und Leser produzieren nach Carroll kollaborativ eine simulierte Erfahrung einer emotional wirksamen sozialen Interaktion. Zwar sei die Kultur, in der der Autor schreibe, der unmittelbare Rahmen für diesen Prozess, aber die kulturellen Formen seien jeweils Spezifizierungen der grundlegenderen Dispositionen der menschlichen Natur. Innerhalb dieses Rahmens skizziert Carroll die Bezüge zwischen literarischen Phänomenen und den ihnen zugrunde liegenden Dispositionen, z.B. die Grundierung der agonistischen Struktur literarischer Konflikte, basale Emotionen und Lebenspläne oder die Bandbreite literarischer Darstellungsweisen zwischen mimetischem Realismus und symbolischer Phantastik. In den letzten Jahrzehnten geriet in Folge der Medienkonkurrenz und der Entwicklung der Medienwissenschaft auch die Medialität von Literatur zunehmend in den Blick, nicht zuletzt auch die Materialität von Literatur und die Frage ihrer Bedingtheit durch diese Aspekte.2 Christoph Reinfandt betrachtet in seinem Beitrag Literatur selbst als Medium. Sein Begriff des Mediums geht zurück auf Luhmanns Systemtheorie und deren literaturtheoretische wie -historische Adaptionen von Reinfandt selbst und Oliver Jahraus. In systematischer Perspektive ist das literarische Werk ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, das auf den Medien ›Schrift‹, ›Text‹ und ›Buch‹ basiert und dessen Sinnhorizont intertextuell in der Bezugnahme auf vorhergehende Texte, seien es nun literarische oder nicht, bestimmt wird. In historischer Perspektive erscheint Literatur als ein spezifisches historisches Phänomen der neuzeitlichen Moderne, das durch drei Komponenten etabliert wird: Autorschaft, Werk und Interpretation. Konstitutiv für diesen Literaturbegriff ist seine enge Bindung an eine historische Theorie der Gesellschaft, deren Entwicklung als Ausdifferenzierung gefasst wird, und die zentrale Rolle der Subjektivität in diesem Kontext, da gerade in Literatur das spezifische Medium für die perennierende Entstehung von Subjektivität gesehen wird. Daniel Fulda und Stefan Matuschek nähern sich dem Phänomen ›Literatur‹ aus einer Richtung, der in den letzten Jahrzehnten besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde, nämlich der Frage nach literarischen Formen in nichtliterarischen Diskursen. Sie untersuchen die Frage nach Literarischem in anderen Textformen stellvertretend an zwei Beispielen: historiographischen und philosophischen Texten. Seit den Arbeiten von Hayden White wurde die Einsicht in die Verwendung von Erzählformen und -konstruktionen, die sich in Literatur finden lassen, in geschichtswissenschaftlichen Texten als Beleg für die These gesehen, dass die Grenze zwischen Literarischem und Nichtliterarischem eigentlich hinfällig sei. Die Autoren entwickeln ein sehr _____________ 2
Gumbrecht / Pfeiffer: Materialität.
Einleitung: Zum Phänomen ›Literatur‹
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viel differenzierteres Bild, indem sie verschiedene Funktionen literarischer Darstellungsformen in Philosophie und Geschichte unterscheiden. Weitgehend unproblematisch ist die Verwendung solcher Formen, um komplexe Zusammenhänge so zu präsentieren, dass ein Leser sie leicht und vielleicht sogar mit Vergnügen rezipieren kann. Kann man hier das Literarische im Prinzip jederzeit wegdenken, so ist dies im Weiteren nicht mehr der Fall: Die narrative Tiefenstruktur der Geschichtsschreibung ist, so die Einsicht der analytischen Philosophie, konstitutiv für jede Form historischer Darstellung. Ähnliches gilt für Literatur und Literarisches als philosophisches Reflexionsmedium, etwa für die Funktion von Metaphern in philosophischen Texten, oder dann, wenn die literarische Form zugleich Ausdruck einer bestimmten philosophischen Haltung ist. Mehrfachkodierungen, die sich durchweg in historiographischen Texten finden lassen, also etwa Formen des Emplotments, oder die Beschreibung einer Situation, die zugleich symbolische Aspekte aufweist, dienen in literaturanaloger Weise der Deutung und Sinnzuweisung. Die Autoren sehen auch einen engen Bezug zwischen der Als-ob-Referenz der Literatur und den Verfahren der historiographischen Referenz: Die Literatur simuliere in nicht-täuschender Weise die Historiographie. Literarische Formen und Darstellungsweisen können nicht zuletzt auch eine Art der Kritik an Geschichtsschreibung oder Philosophie sein, da Literatur in ihrer Darstellung des Konkreten immer einen Überschuss an Informationen gegenüber den Abstraktionen der anderen Formen aufweist, der auch kritisch begründet werden kann. Literarische Darstellungsweisen spielen demnach als Vermittlungsformen, als Erkenntnisinstrumente, als Handlungs- und Gesellschaftsmodelle und als Formen der Kritik eine Rolle in anderen Diskursformationen. Bibliographie Arntzen, Helmut: Der Literaturbegriff. Geschichte, Komplementärbegriffe, Intention. Eine Einführung. Münster 1984. Gumbrecht, Hans Ulrich / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. 1988.
JOSEPH CARROLL
Literature as a Human Universal
1. The Adaptive Function of Literature The practice of making and consuming imaginative verbal artifacts appears in all known cultures.1 People all over the world, in all ecological and social conditions, play with the sounds and meanings of words, create imaginary worlds with intentional agents, goals, and symbolic images, and produce fantasy structures in which characters and events are linked in thematically significant ways to produce tonally modulated outcomes. Taking this cluster of characteristics as a working definition for the term ›literature‹, we can identify literature as a ›human universal‹. Universality gives strong prima facie evidence that any given cultural practice has roots in genetically mediated human dispositions, and all genetically mediated dispositions are the products of evolutionary history. (Writing and reading are of course not universal. Not all cultures are literate. Throughout this essay, whenever I use the word ›literature‹, I ask the reader always to understand this word as a short-hand term for the longer phrase ›literature or its oral antecedents‹). Within Darwinian social science, theorists have offered divergent opinions on whether the oral antecedents of literature evolved to fulfill an adaptive function. Steven Pinker argues that all the forms of higher imaginative culture – art, literature, religion, philosophy – are largely non-adaptive side effects from the evolution of adaptively functional cognitive aptitudes.2 Geoffrey Miller argues that artistic production primarily serves the purposes of sexual display.3 Other theorists have argued that literature and the other arts serve to convey adaptively relevant information, focus attention on adaptively relevant aspects of human behavior, or promote social cohesion.4 _____________ 1 2 3 4
Brown: Universals, p. 132. Pinker: Mind, pp. 534-543. Miller: Mind. Boyd: Theories.
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And finally, some theorists have argued that, while the arts can subserve other adaptive functions, they also have an adaptive function that is peculiar to their own nature. This final hypothesis guides my own thinking on the nature of literature.5 Humans have vastly greater cognitive and behavioral flexibility than other animals. Even the higher primates are capable of only very simple forms of analogical and inferential reasoning, and they do not, in all likelihood, possess reflective powers sufficient to assess their own motives, make conscious decisions about value structures, and subordinate immediate impulse to abstract concepts and symbolic figurations.6 In contrast to the instinctually regulated behavior of other animals, human behavior is crucially influenced by imagination. Humans perceive the world as a set of contingent circumstances containing complex causal processes and intentional states in other minds. Before taking action, they must weigh alternative scenarios in the light of competing values and impulses.7 By providing emotionally saturated images of the world and of human experience, literature and the other arts fulfill a vital psychological need. Through these images, readers can vicariously experience the affective and moral quality of alternative scenarios. Since that vicarious experience influences dispositions that eventuate in adaptively relevant behavior, literature seems to fulfill an adaptive function that could not be so well fulfilled in any other way. Human action depends on the human sense of value and meaning, and literature and the other arts provide a means for making the value and meaning of experience available to the imagination. Hypotheses on the adaptive function of literature help to guide research into the way literature actually works. Conversely, by examining how literature actually works, we can produce evidence bearing on the adaptive function of literature. In this essay, I describe a model of literature as a referential and communicative medium, I locate that model within a larger model of ›human nature‹, and I delineate universal features of literature through which humans adjust their own subjective sense of value and meaning. I argue that literature is a human universal because literature originates in the universal, evolved characteristics of human nature. This adaptationist conception of literature is relatively new and controversial, and in the final sections, I compare this conception with other, competing conceptions. Having made a case that psychological analysis should precede and constrain cultural analysis, I compare adaptationist psychology with the two psychological theories that have had the most influence on literary study – _____________ 5 6 7
J. Carroll: Revolution. Budiansky: Lion. Wilson: Consilience, pp. 112f.
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those of Freud and Jung. At the highest theoretical level, literary study now divides itself into two chief alternatives: traditional humanism and postmodernism. Taking the concept of human nature as a central point of reference, I compare adaptationist ideas with those of the humanists and the postmodernists. If we affirm, as I do, that adaptationist ideas best explain the relation between literature and human nature, we can also affirm that adaptationist ideas most fully illuminate the universal character of literary experience. 2. Literature as a Referential and Communicative Medium From the traditional humanistic perspective, authors are persons speaking to other persons about their shared interests within a world that they also share.8 Characters in drama and fictional narratives are intentional agents who occupy a world that they share with other intentional agents. Adopting a specifically Darwinian or ›adaptationist‹ perspective, I extend these traditional concepts into deep evolutionary time and posit a causal mechanism for them by observing that humans have evolved as social creatures within a physical environment that severely constrains action promoting survival and reproduction. From the adaptationist perspective, authors and readers are organisms that have evolved in adaptive relationship to an environment they share with one another. Literary characters and settings are simulacra of organisms within that shared environment. Darwinian studies of narrative and drama typically presuppose that literary works depict ›human nature‹ and are thus ›mimetic‹ or representational.9 I accept that assumption but incorporate it within a broader model of the purposes and effects of literary representation. Literature and its oral antecedents do not merely depict social behavior. As communicative interactions between authors and readers, they are themselves forms of social behavior. Authors select and organize their material for the purpose of generating emotionally charged evaluative responses in readers, and in this purpose they are generally successful. Readers become emotionally involved, participate vicariously in the experiences depicted, and form personal opinions about the characters. In this way, authors and readers collaborate in producing a simulated experience of emotionally responsive social interaction.10 The culture in which an author writes provides a proximate framework of shared understanding for the collaborative process between writer and _____________ 8 9 10
Abrams: Transformation, p. 115. J. Carroll: Study. Oatley: Fiction.
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reader, but every specific cultural formation consists in a particular organization of the elemental dispositions of human nature, and the elemental dispositions of human nature form the broadest and deepest framework of shared understanding between an author and an audience.11 When literary authors invoke the concept of ›human nature‹, they are participating in an intuitive ›folk psychology‹.12 By delineating the specific features in the folk psychological concept of human nature, we can reconstitute the shared framework of understanding within which authors interact with readers. That shared framework includes shared intuitions about the constitution of persons as agents with goals, the basic human motives, the qualities of emotion, the features of personality, the phases of life, the relations of the sexes, the relations of parents, children, and other kin, and organization of social relations. Readers and writers share intuitions about human nature, and they are also themselves subject to the forms of imaginative bias through which human beings organize their own motivational systems. 3. Human Nature and the Reproductive Cycle Natural selection operates by way of ›inclusive fitness‹, shaping instincts and dispositions so as to maximize the chances that an organism will achieve reproductive success and thus replicate its genes.13 In an earlier phase of Darwinian social science, ›sociobiologists‹ tended to envision ›fitness maximization‹ as a direct motivating force in human behavior. More recently, ›evolutionary psychologists‹ have distinguished between inclusive fitness as an ›ultimate‹ force that has shaped behavioral dispositions and the ›proximal‹ mechanisms that mediate those dispositions.14 The motives and emotions shaped by natural selection include those directed toward survival (obtaining food and shelter, avoiding predators) and toward reproduction, a term that includes both mating effort and the effort aimed at nurturing offspring and assisting other kin. In humans, inclusive fitness has produced behavioral dispositions that include bonding between mothers and offspring, long-term pair-bonding between adult males and females, shared parenting, a uniquely extended period of childhood development, an inclination to favor kin, a fundamental need for belonging to social groups, a drive to build coalitions and organize social groups hierarchically, and a disposition to divide social groups into in-groups and out-groups.15 _____________ 11 12 13 14 15
Scalise Sugiyama: Variation. Geary: Origin, p. 131. Alexander: Darwinism. J. Carroll: Darwinism, pp. 193f. Geary / Flinn: Evolution.
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Human nature includes differences between men and women, differences among infants, children, adolescents, adults, and the elderly, differences among mothers, fathers, and children, lovers, friends, and enemies, socially dominant and socially subordinate individuals, differences between people at work and play, and differences between people in peace and war. In casual invocations of the phrase ›human nature‹ – as in, ›Oh, that’s just human nature‹ – people usually have in mind one or another specific trait or characteristic. They might, for instance, be referring to the instinctive pursuit of self-interest, the tendency to give special preference to one’s own kin, the love of mothers for children or children for mothers, male attraction to female beauty, female attraction to male status and power, sexual jealousy, bias in favor of one’s own social group, or tendencies to selfjustification and self-deceit. Modern Darwinian social science envisions all the separate phases and conditions of life as an integrated structure regulated by inclusive fitness, and they denominate that structure, extending over time, as ›human life history‹. For every species, including the human, the species-typical pattern of life history forms a reproductive cycle.16 In the case of humans – as a pairbonded highly social species – that cycle centers on parents, children, and the social group. If parental care is successful, it produces children who are capable, as adults, of forming sexual pair bonds, becoming responsible members of a community, and producing children of their own. Effective participation in this cycle imposes definite constraints on the functional variability of human behavior. Consequently, appeals to ›human nature‹ often imply a normative model of human life history. In this context, the word ›normative‹ signifies distinctions between health and disease, and it signifies also a standard for what counts as developing successfully into a socially and reproductively competent adult. Individual authors need not feel personally and emotionally committed to a normative model of human life history, but that normative model forms the largest framework of intuitive shared understanding between any author and a general audience animated by a folk understanding of human nature. An author can work in tension with that framework – can resist it or seek to subvert it – but to communicate at all, the author must have reference to that shared framework. The species-typical pattern of human life history hinges on sexual and familial bonds within a socially supportive community, and this central cluster of concerns also regulates the structure of two basic literary genres: romantic comedy and tragedy. Romantic comedy typically concludes in a marriage that serves as a focal point for the resolution of conflicting social interests. In producing that resolution, the author affirms and celebrates _____________ 16
Low: Sex.
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the social organization of reproductive interests within a given culture. By participating vicariously in the sense of fulfillment, the reader also tacitly affirms and accepts the ethos of that social order. The resolutions of romantic comedy encapsulate moments in which competing fitness interests unite in a cooperative and reciprocally advantageous relationship, but no such relationship is perfect or permanent, and many are radically faulty. In tragedy, the most intimate relations of lovers and kin become pathological, and the bonds of community break down.17 In a subsequent section, we also consider the affective and perspectival features that distinguish romantic comedy and tragedy. All these aspects of genre – the themes lodged in motive concerns, affects, and the perspectival relations of readers, characters and authors – form an integrated complex in the total configuration of literary meaning, and all the elements in this complex originate in the universal features of an evolved and adapted human nature. 4. Agonistic Structure Conflict and cooperation are fundamental elements of social interaction. Friends and allies are people with whom we enter into cooperative and affiliative relations. Enemies are people who seek the resources we also seek and who thus attempt to dominate and exploit us. Humans form alliances, constitute themselves as distinct social groups, and compete with other people who also form distinct social groups.18 The psychology of ingroups and out-groups typically involves a systematic distortion in which one’s own group is invested with morally positive qualities and one’s enemies and competitors are invested with morally negative qualities. It is thus typical in war to glorify one’s own group and to emphasize its affiliative and cooperative character while treating of enemies as pure embodiments of the desire for domination. Suppressing or muting the sense of competition within a social group enhances the sense of group solidarity and organizes the group psychologically for cooperative endeavor.19 In literature, conflict typically manifests itself as an agonistically polarized structure. Authors invest characters with specific motives and features of personality; readers respond emotionally to those characteristics; and the emotional responses of readers correspond to the ›agonistic‹ roles to which readers assign characters. Protagonists typically embody the qualities to which readers respond in an emotionally favorable way, and _____________ 17 18 19
Frye: Anatomy, pp. 163-186, 206-223. Premack / Premack: Origins. Kurzban / Neuberg: Managing.
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antagonists typically embody the qualities to which readers respond in an emotionally negative way. Because agonistic structure is lodged within the constitution of human nature itself, it appears pervasively in drama and in fictional narratives of all periods and all cultures. Agonistic structure reflects and satisfies an adaptive psychological need to envision human social relations as morally polarized struggles – to envision ourselves and our associates as protagonists, and to envision our opponents as antagonists. Protagonists are agents seeking common human goals: survival, education, resources, social standing, love and marriage, family, and friends. Antagonists are agents who oppose them or obstruct them in some fashion. In the social organization of groups within dramas and fictional narratives, protagonists and their friends typically form communities of affiliative and cooperative behavior, and antagonists are typically envisioned as a force of social domination that threatens the very principle of community. By ministering to our protagonistic self-image, agonistic structure helps us to organize our behavior in ways that promote our own interests, and those interests are ultimately shaped by the regulative power of inclusive fitness. The agonistic organization of characters in novels and plays can thus be traced to a causal source in human psychology, and that causal source can be traced to an ultimate causal source in the adaptive logic of human evolution. 5. Basic Emotions, Tone, and Personality Human behavior is organized through motives – goal directed action that is prompted by needs rooted in the adaptive history of the species. Sex is a motive, and we seek mates. Social affiliation is a motive, and we seek friends and seek to make alliances. Nurturing offspring is a motive, and we seek to provide food, shelter, and education for our children. The most immediate, proximal mechanism for activating motives are emotions – feeling states that are caused and accompanied by distinct configurations of physiological and neurochemical changes manifesting themselves, on the phenomenal level, as qualities of sensation.20 Emotions prompt characters to action and can often be inferred from action. Moreover, characters often reveal their motives expressively or overtly declare their feelings, and authors often describe, analyze, and explain the emotions of their characters. Authors respond emotionally to their own characters – liking some, disliking others, grieving over some, and rejoicing with others. Literary critics can and often do assess emotions in characters, attribute emo_____________ 20
Plutchik: Emotions.
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tions to authors, infer emotional responses in an implied audience, and give expression to the critics‹ own emotional responses. Psychologists have identified universal emotions that mediate the basic motives of an evolved and adapted human nature. By isolating emotions that can be universally or almost universally recognized from facial expressions, Paul Ekman and other researchers ultimately produced a core set of seven ›basic‹ emotions: anger, fear, disgust, contempt, joy, sadness, and surprise.21 Different researchers sometimes use slightly different terms, register different degrees of intensity in emotions (for instance, anxiety, fear, terror, panic), organize the emotions in various patterns and combinations, or link them with self-awareness or social awareness to produce terms like embarrassment, shame, guilt, and envy. Despite these complications, this core group of seven emotions has wide-spread support as a usable taxonomy of basic emotions. Dramas and fictional narratives are typically organized around the motives of individual characters. Those motives over time constitute life plans, and the life plans have an emotional quality and an emotional tone that is modulated over time. This modulated sequence of emotions constitutes something like the musical score in a film, the emotionally evocative imaginative melody of a life, and the emotional melody within a character’s own life is interwoven with the emotional responses both of author and of reader.22 ›Tone‹ in a novel is a combined product of an author’s attitude toward the depicted subject, the emotional quality registered in the subject, and the affect produced in the mind of a reader. Joy, the pleasure of fulfillment in the pursuit of basic human needs, is the central emotion shared by readers in the response to romantic comedy. Fear and sadness are tragic emotions. Anger, contempt, and disgust are the core emotions activated in satire, but satire usually also involves some degree of ›amusement‹. Amusement thus bridges the range between hostile laughter – laughter of derision like that which accompanies Malvolio off stage in his yellow, cross-gartered stockings – and the laughter of affectionate condescension like that which accompanies Don Quixote in his attack on a windmill or a flock of sheep. Evolutionary psychology, as a distinct school, has tended to focus on human universals or species-typical characteristics in human beings. Personality psychology, in contrast, is a chief locus for the analysis of ›individual differences‹ among people. But all heritable elements of human nature are variable elements, and personality factors offer a way of linking the close analysis of individual identity with the elemental motives that are _____________ 21 22
Ekman: Emotions. N. Carroll: Art.
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rooted in the deep adaptive history of the species. Personality and emotions are closely related, and emotions and motives are also closely related.23 The features of personality dispose people to feel in certain ways. Disagreeable people tend to be hostile, either angry or cold; emotionally unstable people tend to be depressive and fearful; extraverts tend to be optimistic and enthusiastic, and so on.24 Such differences, important as they are in distinguishing individuals, are differences only of degree. In participating vicariously in the experiences depicted in literary texts, we share in the universal human emotions and the universal attributes of personality. The capacity for penetrating the perspectives of other people and of inhabiting multiple perspectives simultaneously is a universal, evolved feature of the human cognitive apparatus.25 In literature, and especially in drama and in fictional narrative, we can find the most highly developed form of that human capacity. The interplay of perspectives can operate in affiliative ways through empathy, and it can also operate for hostile purposes in assessing the intentions of an enemy, unveiling duplicity and deceit, and seeking to dominate the perspectives of others. The agonistic capabilities of perspectival penetration fall broadly into the three main generic categories that are produced by combinations of basic emotions: comedy, tragedy, and satire. Comedy and tragedy both activate affiliative dispositions. They enable the reader either to participate happily in the good fortunes of a protagonist – some character they like and admire – or to share with sorrow the protagonist’s unhappiness. All satire is designed to ridicule and is thus hostile in intent. Irony is the tonal basis of satire. The ironist simultaneously evokes the perspective of its target while encompassing that perspective within a perspective from which the evoked target appears contemptible. The discrepancy between the two perspectives produces laughter through the sense of absurdity, and the laughter is strongly tinged with dislike. The satirist achieves perspectival dominance over his or her target, and contempt for the target is an integral emotional feature in the satisfaction produced by this dominance. By engaging the reader’s empathy for protagonistic characters and activating an alienating distaste for antagonistic characters, authors enable readers to simulate an emotionally responsive social interaction with the characters.
_____________ 23 24 25
MacDonald: Evolution. Buss: Adaptation. Baron-Cohen: System.
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6. Realism and Symbolism Ghosts, vampires, dragons, magical carpets, genies in lamps, immortal souls, the nine circles of hell, the celestial city, talking animals, time travel, invasions from Mars, magic potions, people who live happily ever after, fairies, elves, goblins, witches, miraculous coincidences – all of these are objects depicted in literary texts. Clearly, literature does not necessarily depict real objects, but the humans who do the depicting and the humans who read the depictions are real. All depicted objects in literature, if they are not merely random, are charged with human meaning and human emotions. Every object depicted in a literary text can be understood in relation to its source and in relation to the effect it has on readers, and every object can also be compared with what we know or suspect about what actually does exist. By comparing reality with the depicted objects of literature, we can better understand how the depictions work and what they are designed to accomplish. Literary figuration can be located on a continuum that consists at one polar extreme in what I shall call ›mimetic verisimilitude‹ and at the other in what I shall call ›symbolic fantasy‹. Mimetic verisimilitude is the figurative mode through which literature assimilates the particulars of commonplace reality, and symbolic fantasy is a medium through which those commonplace particulars are integrated into affectively modulated imaginative structures. Mimetic verisimilitude consists in depictions that seek to reflect ordinary reality as if the depiction were an accurate and objective account of real people in real places involved in real situations and engaged in real actions. Symbolic fantasy, in contrast, is the medium of myth and fairy tale. The objects depicted in symbolic fantasy need have no more objective reality than the figments of dreams or the hallucinations of delirium, but unlike dreams and hallucinations, the images of symbolic fantasy are organized and purposeful. They are the forms in which the literary imagination commonly envisions experience, and those forms consist most characteristically in metaphor and personification. The metaphors can consist in single images or in elaborately interwoven ›motifs‹ of multiple and repeated images. They can even consist in elaborately contrived arrangements of plot, theme, tone, and style that are designed to reveal the essential relationships within a set of characters, to exemplify the nature of social processes or institutions, or to exemplify the structure of nature itself. A complex of depicted characters, scenes, and events can serve to encapsulate a religious or philosophical vision of the world, or it can serve to exemplify the interaction among the elements within the personal identity of an author.
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Realism depends on elementary, universal aspects of human experience: shared participation in a physical world, shared sensations of physical needs like hunger, thirst, and sexual desire, shared intuitions into the elementary nature of individuals as persons with beliefs, motives, and goals, and a shared understanding of the elemental structures of human life history. All depiction at least tacitly invokes some of these universal aspects of human experience. Without these points of reference, symbolic fantasy would simply be unintelligible. Symbolic fantasy is thus itself necessarily impregnated with realism. Conversely, the local and particular depictions of realist fiction can be conceived as instantiations of universal elements of human experience, and they are, in that respect, symbolic. In their fully elaborated and articulated form, symbolic figurations are not necessarily universal. Myths and religious fantasies, for example, are culturally local, but all myths and religious fantasies are made up of constituent elements that are informed by the elemental, universal components of the human psyche. (Among the universal figurative elements in myths and religions, family motifs – mothers, fathers, children – bulk particularly large.) The substantive constituents of symbolic fantasy are legion, but they tend to cluster in the ›elemental‹ or primary aspects of life. They consist often in forces or elements of nature, for instance, lightning and thunder, rivers, mountains, and oceans, earthquakes and floods. And they consist also in personified elements of human nature – love and hatred, dominance and submission, gloom, despair, and hope. They consist in reductions of characters to elemental social roles such as mother, child, brother, sister, friend, enemy, master, and slave. And they consist in personified moral concepts such as good and evil, remorse, redemption, justice, betrayal, and retribution. They consist in the phases and aspects of life, in youth and age, birth and death, sickness, health, beauty, and ugliness. They consist of wild beasts, of jackals, hyenas, lions, snakes, wolves, and insects, of filthy things, excreta and decay, and of things sweet, fragrant, and lovely, flowers and the freshness of morning or spring. In all these aspects, the metaphoric constituents of symbolic fantasy depend crucially on elemental affective dispositions that mediate the elemental motive structures of human life history. 7. Human Universals and Psychological Literary Study Much current literary criticism identifies itself as cultural critique, and the emphasis on specific forms of culture clearly gives access to a major dimension of literary meaning. Humans are social animals, and there are virtually no human beings who exist outside of culture, or whose personal
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identities are not profoundly influenced by the culture in which they happen to live. Nonetheless, in causal sequence, the elemental forces in life are prior to cultural formations, and psychological analysis should accordingly precede and constrain cultural analysis. Physiological processes and the drives for survival and reproduction have been conserved in humans from ancestral organisms that precede the evolution of mammals. Like all mammals, humans are physically dependent on live birth and motherinfant bonding, and that physical dependence fundamentally influences all specifically human forms of psychological organization. Specifically human dispositions for mate selection, pair-bonding, parenting, and kin association precede and constrain all specific cultural forms for the organization of marriage, family, and kin. Humans share with social primates the elementary dispositions of affiliation and dominance, and those dispositions constrain all specific forms of social organization. All forms of cultural imagination – religious, ideological, artistic, and literary – are imbued with the passions derived from the evolved and adapted dispositions of human nature. Literature and the other arts derive their deepest emotional force from those dispositions.26 In seeking explanatory reductions of the psychological processes at work in literature, literary scholars have made far more use of Freudian depth psychology than of any other form of psychological theory. For generations now, literary scholars who have had some intuitive conviction about the psycho-symbolic structure of literary figuration have been drawn, as if by a fatal necessity, into the vortex of Freudian critique. The attractive force exercised by Freud has in good part been a force exercised in a vacuum. Freud offers a comprehensive, internally coherent, and provocatively sensationalistic explanation of the structure of the psyche, the most intimate bonds of family life, sexual identity, and the phases in the development of the individual personal identity. He sketches out a rudimentary theory of literature as a form of wish fulfillment fantasy projection, but that theory has been far less influential than the theory of psycho-symbolic figuration articulated in The Interpretation of Dreams. For much of the twentieth century, if one wished to explore psychosexual development and psycho-symbolic figuration, and to do so in a systematic and theoretically consequent way, there were few alternatives outside the work of Freud. Within the field of psychology proper, Freud’s theories have drifted steadily into the backwaters of obsolete speculative notions. Those notions were systematically developed, but their distinctive character depended more on the peculiar stamp given to them by the personality of their originator than by any claim they might have had to empirical validity. The _____________ 26
McEwan: Literature.
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subjects of Freud’s speculations – human family relations, sexual identity, the structure of the psyche, and the phases of individual development – are essential components of human experience and thus of literary meaning. The account Freud and the Freudians give of those subjects, though, is radically flawed. The Oedipal theory is at the very center of Freud’s thinking on human development and on the psychological foundations of culture. One of the display pieces of a specifically adaptationist understanding of human psychology is the decisive demonstration that the Oedipal theory is quite simply mistaken.27 Freud is still cited respectfully by literary critics, but he no longer serves, very often, as a primary, unmediated source. Most postmodern literary criticism has at least a tinge of psychoanalytic thinking about it, and much of it is dyed through and through with psychoanalytic thinking, but most practical psychoanalytic criticism is derived from second and thirdgeneration Freudian theorists. Overwhelmingly, for literary study, the most important of such later Freudian theorists is Jacques Lacan. One hears now very seldom of the ego and the id, and even less often of anal and oral stages of development, but one still hears constantly of the Phallus and The Mirror Stage of Development. Such theories, like those of Freud himself, have an obvious suggestive appeal, but like Freud’s theories they also contain much that is simply false and mistaken. Moreover, Lacan’s Freudian ideas are bound up with poststructuralist linguistic ideas, and Lacan’s theories thus extend psychology still further into the region of speculation divorced from empirical constraint. In the early and middle parts of the twentieth century, the one chief alternative to Freud, for psychological theory relevant to literary study, was that of Freud’s apostate disciple, Jung. Freud was himself concerned chiefly with the personal unconscious of individuals, and Jung, in his own understanding of his work, was concerned with a broader and deeper subject – that of the collective unconscious of the whole human race. Jungian archetypal theory provided a major stimulus to the comprehensive taxonomical effort of Northrop Frye’s Anatomy of Criticism, and Frye was widely recognized as one of the most creative and commanding intellects in literary study in the twentieth century. Nonetheless, in the early 1980s, archetypal criticism quietly faded out of existence, and Frye’s taxonomy has produced no substantial fruits within at least the past two decades. In a formulation that has become a standard point of reference for adaptationist psychology, the Dutch ethologist Niko Tinbergen identifies four areas in which research into animal behavior should seek integrated _____________ 27
Daly / Wilson: Homicide, pp. 107-121.
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answers: phylogeny, ontogeny, mechanism, and adaptive function.28 Phylogeny concerns the evolutionary history of a species and ontogeny the individual development of an organism within that species. Jung’s chief range of interest was that of phylogeny, and Freud’s that of ontogeny. Because of advances in adaptationist social science, we now have means for exploring both these areas in scientifically fruitful ways that were not available to Jung and Freud. Adaptationist psychology operates both on the scale of conserved ancestral psychic structures envisioned by Jung and also on the scale of individual development on which Freud concentrated his attention. By integrating research in these fields with research into psychological mechanisms, and by locating all three forms of explanation within an adaptationist understanding of adaptive function, we can replace the speculative theories of Jung and Freud with theories that involve the same range of universal human concerns but that can produce empirically valid results. 8. Humanism, Postmodernism, and Adaptationist Literary Study Since the late 1970s, the predominating theoretical framework of literary study has been that of ›poststructuralism‹ or ›postmodernism‹. The two chief tenets of poststructuralism are ›textualism‹ and ›indeterminacy‹. Proponents of textualism affirm that everything we know or think we know is fundamentally constituted by language. In Derrida’s famous formulation, »Il n’y a pas de hors texte« – there is no outside the text; there is nothing outside the text.29 Proponents of indeterminacy affirm that all meaning is selfsubversive and that, consequently, no determinate meaning is possible. In Fredric Jameson’s formulation, »›Poststructuralism‹, or, as I prefer, ›theoretical discourse‹, is at one with the demonstration of the necessary incoherence and impossibility of all thinking.«30 In its political aspect, poststructuralism seeks to undermine traditionally dominant terms in social, psychological, and sexual concepts. In modern Western civilization, science is itself a dominant cultural value, and poststructuralist theories of science seek to undermine the ideas of ›truth‹ and ›reality‹ through which science claims normative epistemic authority.31 The epistemological stance of adaptationist literary theory differs fundamentally from that of the postmodernists. In adopting the framework _____________ 28 29 30 31
Tinbergen: Aims. Derrida: Grammatology, p. 158. Jameson: Postmodernism, p. 218. Gross / Levitt: Superstition.
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of Darwinian social science, adaptationist literary scholars adopt along with it a comprehensive rationale for integrating all disciplines under the achieved knowledge of the sciences. For adaptationist literary scholars, nature forms a unified causal network, and science provides an integrated understanding of that network. The subjects of the sciences form a hierarchy of causal forces in which the more elementary principles of the natural order constrain phenomena at higher levels. Physics constrains chemistry; chemistry constrains biology; biology constrains psychology and the other human sciences; and the evolutionary social sciences constrain the study of all cultural products, including literature and the other arts. In Consilience: The Unity of Knowledge, Edward O. Wilson makes a forceful case for this comprehensive vision of nature and knowledge, and he argues that the humanities present the ultimate challenge to those who believe that all phenomena can ultimately be brought within the range of scientific understanding. Adaptationist literary scholars seek to meet this challenge. Whether traditionally humanistic or poststructuralist in orientation, literary criticism over the past century has spread itself along a continuum between two poles. At the one pole, eclectic general knowledge provides a framework for impressionistic and improvisatory commentary. At the other pole, some established school of thought, in some domain not specifically literary, provides a more systematic vocabulary for the description and analysis of literary texts. The most influential schools have been those that use Marxist social theory, Freudian psychology, Jungian psychology, phenomenological metaphysics, deconstructive linguistic philosophy, and feminist gender theory (the theory of ›patriarchy‹). Poststructuralist literary criticism operates through a synthetic vocabulary that integrates deconstructive epistemology, postmodern Freudian analysis (especially that of Lacan), and postmodern Marxism (especially that of Althusser, as mediated by Jameson). Outside of literary study proper, the various source theories of poststructuralism converge most comprehensively in the cultural histories of Michel Foucault, and since the 1980s, Foucauldian cultural critique has been overwhelmingly the dominant conceptual matrix of literary study. Foucault is the patron saint of New Historicism, and in England and America, New Historicism remains the most pervasive, allencompassing approach to the study of literature. Post-colonialist criticism is a sub-set of historicist criticism and employs its synthetic vocabulary chiefly for the purpose of contesting Western hegemony. Queer theory is another sub-set of historicist criticism and employs the poststructuralist vocabulary chiefly for the purpose of contesting the normative character of heterosexuality. Most contemporary feminist criticism is conducted within the matrix of Foucauldian cultural critique and dedicates itself to contesting patriarchy – the social and political predominance of males.
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Each of the vocabulary sets that have come into prominence in literary criticism has been adopted because it gives access to some significant aspect of the human experience depicted in literature – class conflicts and the material base for imaginative superstructures, the psycho-symbolic dimensions of parent-child relations and the continuing active force of consciously repressed impulses, ›mythic‹ images derived from the ancestral experience of the human race, elemental forms in the organization of time, space, and consciousness, the irrepressible conflicts lying dormant within all partial resolutions, or social gender identity. All of these larger frameworks have had some utility and have enabled some insights not readily available through other means. They have nonetheless all been flawed or limited in one crucial respect. None of them has come to terms with the reality of an evolved and adapted human nature. Humanist critics do not often overtly repudiate the idea of human nature, but they do not typically seek explanatory reductions in evolutionary theory, either. Instead, they make appeal to some metaphysical, moral, or formal norm – cosmic equilibrium, charity, passion, moderation, the integration of form and content, or some such – and they typically represent this preferred norm as a culminating extrapolation of the common understanding. Postmodern critics, in contrast, subordinate folk concepts to explicit theoretical formulations – deconstructive, Marxist, Freudian, feminist, and the rest – and they present the characters in literature as allegorical embodiments of the matrix terms within these theories. In their postmodern form, all these component theories emphasize the exclusively cultural character of symbolic constructs. ›Nature‹ and ›human nature‹, in this conception, are themselves cultural artifacts. Because they are contained and produced by culture, they can exercise no constraining force on culture. Hence Fredric Jameson’s dictum that »postmodernism is what you have when the modernization process is complete and nature is gone for good«.32 From the postmodern perspective, any appeal to ›human nature‹ would necessarily appear as a delusory reification of a specific cultural formation. By self-consciously distancing itself from the folk understanding of human nature, postmodern criticism loses touch both with biological reality and with the imaginative structures that authors share with their projected audience. In both the biological and folk understanding, as in the humanist, there is a world outside the text. From the adaptationist perspective, the human senses and the human mind have evolved in adaptive relation to a physical and social environment about which the organism urgently needs to acquire information.33 An adaptationist approach _____________ 32 33
Jameson: Postmodernism, p. ix. Lorenz: Rückseite.
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shares with the humanist a respect for the common understanding, and it shares with the postmodern a drive to explicit theoretical reduction. From the adaptationist perspective, folk perceptions offer insight into important features of human nature, and Darwinian social science makes it possible to situate those features within broader biological processes that encompass humans and all other living organisms. Literature is a human universal because it is grounded in the biological reality of human life. Literature depicts human nature and satisfies the needs of human nature. Whatever our theoretical orientation might be – humanist, postmodern, or adaptationist – we all have imaginative access to literature from all periods and all cultures. No matter what theory we hold, we all participate in the common, universal attributes of human nature. We benefit from the common, evolved human capacity for intuiting universal human motives and sharing in universal human emotions. Our cognitive apparatus is designed by natural selection to envision characters as agents driven by passions, informed by beliefs, and orienting their actions toward goals. We all share in the universal human disposition to envision social relations in agonistically polarized ways. ›Realism‹ is imaginatively effective because we all share in the same basic conditions of life – the same physical conditions, the same elemental forms of social interaction, and the same elemental passions. Symbolic fantasy is imaginatively effective because even our most fantastic imaginings are tightly constrained by the universal cognitive and affective dispositions that have evolved through natural selection. By delineating the evolved and adapted structure of human nature, we can gain analytic access to the universal basis of literary depictions, and we can thus bring our theoretical perspective on literature into alignment with our actual experience of literature. Bibliography Abrams, M. H.: The Transformation of English Studies: 1930-1995. In: Daedalus 126 (1997), pp. 105-132. Alexander, Richard: Darwinism and Human Affairs. Seattle 1979. Baron-Cohen, Simon: The Empathizing System: A Revision of the 1994 Model of the Mindreading System. In: Bruce J. Ellis / David F. Bjorklund (eds.): Origins of the Social Mind: Evolutionary Psychology and Child Development. New York 2005, pp. 468-492. Boyd, Brian: Evolutionary Theories of Art. In: Jonathan Gottschall / David Sloan Wilson (eds.): The Literary Animal: Evolution and the Nature of Narrative. Evanston/IL 2005, pp. 147-176. Brown, Donald: Human Universals. Philadelphia 1991. Budiansky, Stephen: If a Lion Could Talk: How Animals Think. London 1998.
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CHRISTOPH REINFANDT
Literatur als Medium
Kaum eine Entwicklung hat die Grenzen der Literatur so deutlich markiert wie der so genannte medial turn am Ausgang des 20. Jahrhunderts.1 »Medienreflexion«, so schreibt etwa Wolfgang Iser aus der von ihm entworfenen anthropologischen Perspektive, »rückt die Literatur in Nachbarschaft zu anderen Medien, deren zunehmende Bedeutsamkeit im zivilisatorischen Prozeß zu erkennen gibt, in welchem Maße Literatur ihre zentrale Stellung für die kulturelle Paradigmatik verloren hat.«2 Und Jochen Hörisch spricht gar wortspielerisch vom ›Ende der Vorstellung‹, das dadurch herbeigeführt werde, dass das Buch »[z]usammen mit der klassischen Öffentlichkeit (und ihrem Komplement: der Privatsphäre), zu deren Strukturierung es entschieden beitrug, […] an die Peripherie des entfalteten Medienzeitalters [wandert]«.3 An die Frage, welche Funktionen die Literatur im technischen Zeitalter hatte, schließt sich vielfach die skeptischere Frage an, welche Funktionen ihr im Medienzeitalter bleiben,4 und die Chancen, die der Literatur in der Medienkonkurrenz5 des ausgehenden 20. und anbrechenden 21. Jahrhunderts eingeräumt werden, sind oft minimal.6 Und dennoch: Zeitgleich mit den modischen Abgesängen auf die Relevanz der Literatur und die Buchkultur insgesamt zeichnet sich eine neue Wertschätzung der Literatur ab, die deren Grenzen Rechnung trägt und so ihre spezifische Leistungsfähigkeit genauer zu beschreiben vermag. Wolfgang Iser etwa fasst seine diesbezüglichen Überlegungen unter der manifestartigen Überschrift »Why Literature Matters« zusammen und identifiziert dabei neben gängigen, aber nicht länger literaturspezifischen Funktionszuweisungen wie Unterhaltung und Freizeitbeschäftigung einerseits und In_____________ 1 2 3 4 5 6
Vgl. zum ›medial turn‹ Weber: Medienpoiesis; Margreiter: Medialität. Iser: Das Fiktive, S. 10. Hörisch: Ende, S. 130. Vgl. etwa Elm / Hiebel: Maschinen; Segeberg: Zeitalter; Segeberg: Medienzeitalter. Vgl. zu diesem schon früh geprägten Begriff Saxer: Buch; Saxer: Literatur. Vgl. etwa Birkerts: Gutenberg Elegies.
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formation und Dokumentation andererseits drei grundlegende Funktionen, die übrig bleiben, nachdem die Literatur ihre »formerly all-encompassing function« verloren hat,7 nämlich 1) die Rolle der Literatur als Medium für die Aneignung und Verhandlung von kulturellem Kapital im Kampf um soziale Anerkennung, 2) die Rolle der Literatur als Medium für Kreativität und die Bereitstellung von Irritationen und Innovationen in der Kultur und 3) die Rolle der Literatur als Medium der menschlichen Selbst-Inszenierung.8 All diese Funktionen beschreiben Literatur im Hinblick auf ihre mediale Funktionalität, ohne dass dabei allerdings der zugrunde liegende Medienbegriff in irgendeiner Weise expliziert würde. Zugleich zeichnet sich dabei eine vorausgesetzte Distanz, ja ein kritisches Potential der Literatur gegenüber ›standardisierten‹ gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen ab, und so verwundert es nicht, dass Iser am Ende seines Manifests die Stärke der Literatur gerade in ihrer Marginalität erblickt.9 In ganz ähnlicher Weise wendet Jochen Hörisch seine Diagnose der neuen Marginalität der Literatur ins Positive: Das Buch, so schreibt er, wird – im doppelten Sinne des Wortes – exzentrisch: Es hat nicht länger eine zentrale oder gar unersetzliche Funktion (für Kommunikation und Gesellschaft), und es reagiert darauf häufig genug in exzentrischer Weise (d.h. Literatur wird schwierig, abseitig, a-normal). Aber lässt sich von der Peripherie her nicht besser beobachten, was im tumultösen Zentrum vor sich geht?10
Und auch Salman Rushdie verweist aus der Sicht des Praktikers (und aus gegebenem Anlass) auf die durch die spezifische Medialität der Literatur gewährleistete größtmögliche Freiheit: Literature is the art least subject to external control, because it is made in private. The act of making it requires only one person, one pen, one room, some paper […] Literature is the most low-technology of art forms. It requires neither a stage nor a screen. It calls for no interpreters, no actors, producers, camera crews, costumiers, musicians. It does not even require the traditional apparatus of publishing, as the long-running success of samizdat literature demonstrates.11
All dies könnte man natürlich als Pfeifen im Walde angesichts einer ernsthaften und nicht vermeidbaren Bedrohung für die Literatur (und die Literaturwissenschaft) abtun. Dagegen spricht allerdings die gerade in zahlreichen Texten der jüngeren Gegenwartsliteratur zu beobachtende Ausnutzung eines spezifisch literarischen Potentials der Weltbeobachtung, das häufig eine explizite Medienreflexion beinhaltet und gerade aus der Auseinandersetzung mit dieser Dimension der Kultur seine besondere Leistungsfähig_____________ 7 8 9 10 11
Iser: Literature, S. 13. Ebd., S. 14, 16, 19. Ebd., S. 22. Hörisch: Ende, S. 130. Rushdie: Homelands, S. 424.
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keit bezieht.12 Und auch Oliver Jahraus plädiert in seinem umfassenden und grundlegenden Versuch, Literatur als Medium zu begreifen, für eine »positive Bestimmung der angeblichen Krisensymptomatik«,13 da, »nachdem sich die Literatur als Medium und Mediensystem erst einmal konstituiert hatte, jede weitere Medienentwicklung den spezifisch medialen Charakter der Literatur nur noch verstärkt hat, auch wenn dabei«, wie Jahraus durchaus zugesteht, »Verluste in der Rezeptionshäufigkeit zu verbuchen sind«.14 Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die bei Hörisch und vielen anderen nicht hinreichend beachtete Unterscheidung von Buch und Literatur, denn, so Jahraus, »[d]er Verlust des Status als Leitmedium betrifft das Buch als Medientechnologie, nicht jedoch die Literatur als Mediensystem«.15 Bei den im Folgenden entwickelten Überlegungen zu Literatur als Medium wird es darum gehen, die hier angedeutete Unterscheidung von materialem und konzeptuellem Medienbegriff aufzugreifen, um das von Jahraus identifizierte »technizistische Missverständnis«16 zahlreicher Untergangsszenarien zu vermeiden und größere Kontinuitäten in den Blick zu bekommen.17 Zwar kann man mit Hans Ulrich Gumbrecht zugestehen, dass man trotz der Achtungserfolge […] bestimmter postmoderner Gattungen und Diskurse […] die Frage nicht mit einem Tabu belegen [sollte], ob das Medium ›Literatur‹, dessen Kontinuität in der westlichen Kultur ihren historischen Beginn gehabt hat, nicht mittlerweile in die Nähe ihres historischen Endes gelangt sein könnte.18
Doch verspricht der auch in Gumbrechts historischer Skizze angedeutete Versuch, Literatur sowohl in ihrer spezifischen medialen Gebunden- und Begrenztheit als auch in ihrer mediengeschichtlichen Situiertheit zu beschreiben, bei Berücksichtigung der Ebenendifferenz zwischen der Materialität der Medien einerseits und systemisch-konzeptuellen Dimensionen der Medialität andererseits grundlegende Einsichten in größere Zusammenhänge kultureller Funktionalität, die wohl am treffendsten mit der englischen Formulierung ›literacy in transition‹ identifiziert werden können.19 Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen daher die Begriffe ›Medium‹, ›Medialität‹ und ›literacy‹, in deren Licht eine medientheoretisch _____________ 12 13 14 15 16 17 18 19
Für zwei herausragende Beispiele der amerikanischen und der englischen Literatur vgl. Reinfandt: Literatur; Reinfandt: Media History. Jahraus: Literatur, S. 21. Vgl. dazu auch Binczek: Interpretationstheorie. Jahraus: Literatur, S. 579. Ebd. Ebd., S. 586. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Donald Sassoons monumentale, auf ›culture and cultural production‹ unter sich wandelnden medialen Bedingungen ausgerichtete Studie zur ›Kultur der Europäer‹ seit 1800. Vgl. Sassoon: Culture. Gumbrecht: Medium, S. 105. Vgl. Baumann: Literacy.
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begründete Auffassung von Literatur entwickelt wird, deren historische Funktionalität sich vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von Mediengeschichte und Modernisierung entfaltet. Auf der so entwickelten Grundlage soll dann schließlich zusammenfassend der Stellenwert der Literatur in der Medienkultur der Moderne beschrieben werden. I. Medientheoretische Dimensionen von Literatur Eine allgemeine und universelle Definition von Literatur ist in der Regel auf das ihr zugrunde liegende Medium der Schrift ausgerichtet, häufig ergänzt durch eine Bezugnahme auf den Buchdruck wie in der folgenden Definition: »Literatur […] bezeichnet dem Wortsinn nach die Gesamtheit aller schriftlichen, in gedruckter Form verbreiteten und überlieferten Schriftwerke und Texte.«20 Grundsätzlich aber gilt auch: »Nicht alle Texte […], die wir ›Literatur‹ nennen, waren primär in Buchform gedruckte Texte, und nicht alle gedruckten Bücher nennen wir ›Literatur‹.«21 Damit deutet sich an, dass es produktiver ist, den medialen Charakter der Literatur jenseits der Materialität ihrer Medien Schrift und Buchdruck zu bestimmen, und in der Tat heben engere Literaturbegriffe in der Regel auf eine bestimmte Verwendung von Texten ab. Dies gilt sowohl für den umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes ›Literatur‹ – wie etwa in dem Satz ›Ich interessiere mich für Literatur zum Thema Fischzucht‹, der das alteuropäische Verständnis von Literatur als ›Schrifttum‹ und ›Buchwissen‹ fortschreibt – als auch für die in der westlichen Welt wirkmächtigste Definition eines engeren und zugleich Universalität beanspruchenden Literaturbegriffs, der sich nach langer Vorgeschichte22 in der Sattelzeit kurz vor 1800 endgültig durchsetzt und bis heute dominant geblieben ist: Literatur als nicht zweckgebundenes, imaginatives und vielfach fiktionales Schrifttum.23 Ein über die Materialität ihrer Medien hinausgehendes Verständnis von Literatur als Medium muss also einen Medienbegriff entwickeln, der der für diesen Literaturbegriff charakteristischen Verwendung von Texten Rechnung trägt.24 _____________ 20 21 22 23
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Zimmermann: Literatur, S. 180. Gumbrecht: Medium, S. 83. Vgl. zu dieser Vorgeschichte die historische Skizze in Gumbrecht: Medium, S. 87-99; ausführlicher Reinfandt: Kommunikation, S. 85-116, 147-180. Vgl. dazu bündig Culler: Literary Theory, S. 21: »Prior to 1800 literature and analogous terms in other European languages meant ›writings‹ or ›book knowledge‹. […] The modern Western sense of literature as imaginative writing can be traced to the German Romantic theorists of the late 18th century.« Zwar ist es auch möglich, ein historisch weiter ausgreifendes Verständnis von Literatur als ritualisierter Sprachverwendung zu formulieren, deren kulturelle Relevanz sich paradoxerweise in einer gewissen spielerischen Distanz zu anderen kulturellen Prakti-
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Die historisch-kulturelle Spezifik der Medienverwendung markiert dabei die Medialität des Mediums,25 und die Medialität als historisch-kulturell kodierte Eigengesetzlichkeit und Spur des Mediums transzendiert intendierte oder kontrollierte Bedeutungen.26 Medialität erweist sich also, wie Oliver Jahraus betont, als »Bedingung der Möglichkeit von Medien«,27 und in diesem Sinne ist die »Medialität von Literatur weder auf Schrift(lichkeit) noch auf das Buch als Grundlagenmedium zurückzuführen«, sondern muss vielmehr »als prozessuales Geschehen konzeptualisiert« werden.28 Um was für ein Geschehen handelt es sich hier? Oliver Jahraus beschreibt aus der von ihm entwickelten (system-)theoretischen Perspektive zunächst »Textualität […] als Epiphänomen von Medialität« und »Textinterpretation als Epiphänomen von medialer Wahrnehmung in kognitiver sowie kommunikativer Bearbeitung«,29 um schließlich das Bewusstsein als »Letztbegründungsinstanz« und »Fundierungsebene« von Medialität zu identifizieren.30 Damit ist der entscheidende Schritt getan: Die Medialität von Literatur gründet, so Jahraus’ Hauptthese, auf der in Textualität vermittelten strukturellen Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation, und aus eben dieser theoretischen »Letztbegründungsfigur«31 lässt sich dann auch das mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert endgültig etablierte spezifisch moderne Verständnis von Literatur herleiten, dessen kulturelle Funktionalität sich an dem Problem der kulturellen Validität von Subjektivität abarbeitet.32 Subjektivität erscheint unter diesen Vorzeichen als »Me-
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ken begründet und sich zugleich in ganz unterschiedlichen materiellen Medien von der mündlichen Überlieferung über das Theater und Manuskripte bis hin zum Buchdruck und den elektronischen Medien realisiert. Doch wird eine solche Konzeption der historischen und kulturellen Spezifik der jeweils in den Blick genommenen Sprach- und Textverwendungen nur bedingt gerecht. Vgl. Hickethier: Einführung, S. 26. Vgl. Krämer: Sprache; zusammenfassend Voigts-Virchow: Introduction, S. 22. Jahraus: Literatur, S. 46. Vgl. dazu folgenden ausführlicheren Kommentar zu verschiedenen Ausprägungen von Medientheorie: »Eine Medientheorie in diesem Sinne ist keine Theorie technischer Medien und keine Theorie einzelner Medien, mithin keine Theorie der technischen Organisation gesellschaftlicher Kommunikation, sondern eine Theorie fundamentaler Medialität, die jeder empirischen Konkretisierung vorausgeht, also eine transzendentale Klärung der Bedingung von Medium (als einer operativen Abstraktion medialer Funktion) und von Medien (ihrer technischen Konkretion).« (Ebd., S. 70) Ebd., S. 13. Ebd., S. 66. Ebd., S. 95f. Ebd., S. 228. Vgl. dazu ausführlich Reinfandt: Kommunikation.
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dienprozeß«,33 und »Medientheorie [als] Komplement zur Subjekttheorie: Wo das Subjekt fungierte, fungieren die Medien.«34 Auf Seiten des Bewusstseins kommt hier der Begriff der literacy ins Spiel, für den es im Deutschen keine Entsprechung gibt. Im engeren Sinne und wörtlich übersetzt bezeichnet ›literacy‹ zwar Lese- und Schreibkompetenz, aber diese impliziert viel mehr: Abstraktions- und Denkvermögen, Analyse- und Synthesefähigkeit, kulturelles Wissen, Kritik- und Urteilsvermögen, Erzählkompetenz, Selbst- und Weltverständnis, kurz eine ideologische Praxis,35 die den Umgang mit Texten und Medien aller Art und schließlich auch mit der Welt umfasst.36 Literacy in einem enger gefassten Sinne schlägt aber zugleich die Brücke zur Seite der Kommunikation: Es ist die Schrift und dann als Verstärker der Buchdruck, die die Möglichkeit eröffnen, den Schritt von der Interaktion unter Anwesenden zu einer unpersönlichen Kommunikationsform zu machen, in der die Anwesenheit der Teilnehmer nicht mehr vorausgesetzt werden muss, so dass sich die Eigendynamik der Medialität drastisch verstärken kann.37 Die besondere Bedeutung der Literatur ergibt sich nun zunächst aus ihrer Schriftgebundenheit, da die Einführung der Schrift für die westliche Kultur eine prägende »Ursituation« markiert.38 Neben der Speicherkapazität der Schrift spielt dabei vor allem die Emanzipation der Re-Präsentationsfähigkeit eine Rolle: Während audiovisuelle Texte nicht ohne Metakommunikation negieren können, eröffnet die Schrift in ihrem Absehen von der analogen Repräsentation des Gehörten oder Gesehenen die Möglichkeit der unmittelbaren Negation, wodurch die kulturelle Disponibilität von Sinn drastisch erhöht wird.39 Zugleich etablieren sich mit der Unterscheidung von Stimme und Schrift spezifische, fortan dem historischen _____________ 33 34
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Jahraus: Literatur, S. 165. Ebd., S. 301. Vgl. auch mit ähnlicher, aber weniger medial ausgerichteter Stoßrichtung die monumentale »Theorie der Subjektkulturen«, die Andreas Reckwitz unter dem Titel Das hybride Subjekt vorgelegt hat. Reckwitz begreift das Subjekt nicht länger als Ursprung soziokultureller Praktiken, sondern vielmehr Subjektformen als Ergebnis soziokultureller Praktiken. Vgl. dazu grundlegend Street: Literacy. Dementsprechend ist der heutige Gebrauch des Begriffs ›literacy‹ im Internet von einer Tendenz zur Wortzusammensetzung geprägt: ›visual literacy‹, ›information literacy‹, ›media literacy‹, ›computer literacy‹, ›technological literacy‹, ›environmental literacy‹, ›mathematical literacy‹, ›cultural literacy‹ usw. usf. Die klassische Studie zu dieser Entwicklung ist nach wie vor Ong: Orality. Vgl. dazu Jahraus: Literatur, S. 383; grundlegend Goody: Logic. Vgl. dazu grundlegend Luhmann: Negation. Der Grundgedanke bleibt auch in Luhmanns späteren Schriften nach der so genannten ›autopoietischen‹ Wende von zentraler Bedeutung. Jahraus markiert die kulturelle »Operationalisierung der Differenz zwischen Sinn und Nicht-Sinn« mit dem Begriff der Interpretation und begründet so den besonderen kulturellen Stellenwert der Literatur (vgl. Jahraus: Literatur, S. 585).
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Wandel unterworfene Sinnkonturen, in denen sich die Sprache von der Welt abkehrt: Sprache ist nicht mehr als Einheit der Differenz zwischen Welt und Abbild, sondern als die Einheit der Differenz von Schrift und Stimme aufzufassen […] Die sprachtranszendente Differenz von Referenz und Zeichen wird sprachimmanent in der Differenz zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem wiederholt […]. Und hierin könnte man die Konstitution von Sinn sehen.40
Und in eben dieser ›weltabgewandten‹ Dimension von Kommunikation vollzieht sich die kulturelle Konstituierung von Wirklichkeit, wobei der aus der Sicht der Dekonstruktion betonten basalen Instabilität des mit Schrift etablierten referenz- und endlosen Verweisungszusammenhangs sprachlicher Zeichen weitere mediale Formbildungen entgegengesetzt werden: »Schrift gewinnt Form im Text, und der Text im Buch«, wie Oliver Jahraus konstatiert, und auch die Geburt der Literatur lässt sich aus dem Geist der Schrift in ihrer Differenz zur Stimme herleiten,41 da Literatur eben diesen Prozess der Abkehr der Sprache von der Welt in Schrift nachvollzieht und doch zugleich eine Aura der Unmittelbarkeit bewahrt. So wie »Stimme« in einer Formulierung Christiaan Hart Nibbrigs »Medialität pur [ist]«42 und doch zugleich als das »unverfügbar pulsierende atmosphärische ›Mediale‹ […] Durchlässigkeit« im Hinblick auf die reale Existenz ihrer Besitzer suggeriert,43 so suggeriert das Medium ›Literatur‹ als »schriftliche Verstimmlichung« eine Vergegenwärtigung von räumlich und zeitlich Abwesendem oder gar nicht Existentem, indem sie die Referentialität der textexternen Sprechsituation durch eine textinterne ›Sprechsituation‹ ersetzt.44 Darüber hinaus stellt die Literatur diesen (Re-)Präsentationen einen stabilen institutionellen und medialen Rahmen zur Verfügung,45 der der Instabilität der Schrift entgegenwirkt und zugleich im ›Sprech-‹ bzw. Schreibakt das moderne Subjekt konstituiert: Das mediale Ineinandergreifen der materiell greifbaren Medien ›Schrift‹, ›Text‹ und ›Buch‹ verdichtet sich hier auf einer systemischkonzeptuellen Ebene zum literarischen (Kunst-)Werk, das als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium die literarische Anschlussfähigkeit _____________ 40 41 42 43 44 45
Jahraus: Literatur, S. 400f. Vgl. ebd., S. 432, 443; Menke: Prosopopoiia; Schmitz-Emans: Schrift. Hart Nibbrig: Geisterstimmen, S. 37. Ebd., S. 9. Jahraus: Literatur, S. 460, 463. Vgl. dazu die parallele Definition in Gumbrecht: Medium, S. 84, der eingangs feststellt, »daß – erstens – was immer ›Medium‹ genannt werden soll, räumlich und zeitlich Abwesendes in je besonderer Weise gegenwärtig macht, und daß – zweitens – solche Modi des Gegenwärtig-Machens gekoppelt sind an gewisse (meist stillschweigende) Annahmen über die Verläßlichkeit und Verwendbarkeit des so gegenwärtig Gemachten.«
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von Texten reguliert und auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung der spezifisch literarischen Kommunikation erhöht.46 Die so umrissene Konzeption von Literatur als Medium integriert also den zu bestimmten historischen Zeitpunkten gegebenen Gesamtzusammenhang von Sprache und ›Verbreitungsmedien‹ (Schrift und Buchdruck, später auch elektronischen Medien) auf einer abstrakteren medialen Ebene, für die man mit Luhmann ein literaturspezifisches symbolisch generalisiertes ›Erfolgsmedium‹ ansetzen kann:47 Die Spezifik und Eigenständigkeit der modernen literarischen Kommunikation beruht darauf, dass Texte sowohl bei ihrer Entstehung als auch bei ihrer Rezeption als ›Werke‹ aufgefasst werden, und in eben dieser kommunikativ-medialen Rahmung liegt das spezifische Potential der modernen Literatur, das Freiräume der Subjektkonstitution eröffnet und die hier entstehenden Subjektformen zugleich domestiziert. Eine solche Konzeption von Literatur bezieht Literatur, Gesellschaft und Subjektivität systematisch aufeinander und nimmt dabei in den Blick, wie sich im Zuge der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft der bis heute dominante Literaturbegriff herausbildet, für den Subjektivität (Erfahrung, Ausdruck, Kreativität, Imagination, Originalität) konstitutiv ist.48 Jahraus fasst zusammen: Das Subjekt bleibt dabei mit der Literatur vermittelt. Vermittlung folgt – im eigentlichen Sinne des Wortes – über die Lektüre. Diese Idee der Vermittlung läßt sich als Medium begreifen […]. Literatur wird somit zum Medium von Subjektivität, und diese Subjektivität steht im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft, das sich operativ jedoch als strukturelle Kopplung [von Bewusstsein und Kommunikation, Ch.R.] begreifen läßt. Daß das Subjekt nach Kommunikation hungert, verweist darauf, daß sich […] Subjektivität nur in einem Prozeß der strukturellen Kopplung überhaupt einstellen
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Zum Begriff der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien vgl. einführend Luhmann: Bemerkungen. Zur Verwendung des Werkbegriffs in diesem Zusammenhang vgl. Luhmann: Kunst, S. 165-214; im Hinblick auf Literatur Plumpe: Epochen, S. 48-50; ausführlich Reinfandt: Sinn, S. 24-122, bes. S. 48-53 (»Medium und Code des Literatursystems«), S. 75-87 (»Textbezogene Kommunikation«). Vgl. für eine theoretisch ausgearbeitete Fassung dieses Gesamtzusammenhangs Luhmann: Kommunikationsmedien. Vgl. dazu Jahraus: Literatur, S. 519f.: »Während gängige Literaturgeschichten Subjektivität zwar als Thema der Literatur seit dem 18. Jahrhundert behandeln und diese auch in einen sozialgeschichtlichen Rahmen einordnen, findet sich – soweit ich sehe – keine Literaturgeschichte, die Subjektivität auch als konstitutives Prinzip der Literatur selbst behandelt.« Es sei hier der Hinweis gestattet, dass ich eine solche Form der Literaturgeschichte zeitgleich mit der Entstehung von Jahraus’ Arbeit für die englische Literatur (und mit darüber hinausweisenden theoretischen Implikationen) skizziert und in ihren systematischen Entwicklungsstufen ausgearbeitet habe. Vgl. dazu Reinfandt: Kommunikation, insb. S. 85-234 zur Entwicklung der ›po(i)etischen Kommunikation‹ vom 15. bis zum 20. Jahrhundert sowie die daran anschließenden kontrastiven Ausblicke auf wissenschaftliche Kommunikation, moralische Kommunikation und populäre Kommunikation.
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kann. Literatur ist dabei jenes spezifische Medium, das Bewußtsein und Kommunikation in der Lektüre so strukturell koppelt, daß daraus Subjektivität entspringt.49
Die systematische Tragweite dieser Konzeption ist allerdings wie ihr Gegenstand dem historischen Wandel unterworfen, der oben als ›literacy in transition‹ bezeichnet wurde. Sie lässt sich daher am besten im historischen Aufriss darstellen. II. Mediengeschichte und Modernisierung: Zur historischen Funktionalität von Literatur als Medium Literatur im modernen Sinne, das haben die vorangegangenen Überlegungen deutlich gemacht, etabliert einen über die konstitutiven Medien ›Schrift‹ und ›Buchdruck‹ hinausgehenden Rahmen der Medialität, der für das Verhältnis des (modernen) Bewusstseins zur Welt und zu sich selbst in besonderer Weise prägend ist. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Überführung der spezifischen Leistungen von Schrift (Emanzipation der Sprache von der Welt, Speicherung) und Buchdruck (Speicherung und Verbreitung) in einen systemischen Zusammenhang, der eine spezifische Medienverwendung, einen spezifischen Umgang mit Medien stabilisiert und naturalisiert. Dieser durch die Medialität der Literatur vermittelte Umgang mit Medien gewinnt als literacy im oben eingeführten umfassenden Sinne grundlegende Bedeutung für die moderne Kultur insgesamt, und es ist wichtig festzuhalten, dass – und auf diese oft nicht hinreichend beachtete Unterscheidung hat Sybille Krämer hingewiesen – ein solches »Mediengeschehen – als Medien- und eben nicht Zeichengeschehen – […] sich ein Stück weit der Ordnung der Semiosis und den Regeln der Repräsentation und Kommunikation [entzieht]«.50 Man gewinnt hier von einem medien- und medialitätsbezogenen Standpunkt aus einen Blick auf die Bedingungen der Möglichkeit der Eigendynamik der modernen Literatur in ihrem kulturellen Kontext. Es ist verlockend, hier in Anlehnung an Krämers allgemeine Verknüpfung von Medialität und Performativität Überlegungen zur Performativität moderner Literatur anzuschließen: In welchem Umfang etwa partizipiert die Literatur an den von Krämer identifizierten drei Dimensionen der Performativität, die sie als ›universalisierend‹, ›iterabilisierend‹ und ›korporalisierend‹ beschreibt?51 Wenn, wie Sybille Krämer feststellt, die »Sprech_____________ 49 50 51
Jahraus: Literatur, S. 522 (Hervorhebung im Original). Krämer: Performativität, S. 25. Vgl. ebd., S. 14-19. Krämer bildet diese Kategorien auf der Grundlage der in historischer Abfolge gegeneinander in Anschlag gebrachten Tendenzen der Theoriebildung zur Performativität mit ihrem jeweils spezifischen medialen Fokus, die man den
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akt- und Kommunikationstheorie […] nicht von den raum-zeitlich situierten Äußerungen, sondern von den universalen und typisierbaren Regelwerken [handelt], denen eine Äußerung zu folgen hat, um überhaupt als Rede im soziale Sinne von Kommunikation gelten zu können«,52 so lässt sich Ähnliches auch für die Medialität von Literatur feststellen, die die Regeln festlegt, denen eine (schriftliche) Äußerung zu folgen hat, um als Text im literarischen Sinne von Kommunikation, und das heißt: als ›Werk‹ gelten zu können. Dabei spielen, gerade in der romantischen Ausdifferenzierungsphase der modernen Literatur, universalisierende Idealisierungsannahmen eine zentrale Rolle. Man denke im Hinblick auf eine solche Eliminierung partikularer Kontexte nur an William Wordsworths berühmte Formel »man speaking to men«.53 Es gilt also: Die Art von Sozialität, die in der performativen Dimension gestiftet […] wird, setzt voraus, dass Asymmetrien von Macht, Körperlichkeit, sozialem Status etc. keine Rolle spielen. Die Kommunizierenden werden so betrachtet, als ob sie in ihren Möglichkeiten, sich am Diskurs zu beteiligen, gleichgestellt sind.54
Sind derartige Idealisierungsannahmen erst einmal etabliert, verändert sich, wie schon im Falle der Schrift, das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit: »Das Repräsentationsverhältnis besteht nicht länger zwischen Sprache und Welt, sondern zwischen der universalen Regelstruktur und der einzelnen Äußerung, die diese [sic] Regeln folgt.«55 Neben diese ›universalisierende Performativität‹ der Literatur tritt ihre schrift- und buchdruckbasierte ›iterabilisierende Performativität‹, die, gerade in Verbindung mit den Universalisierungsstrategien, einen weiten Rezeptionshorizont eröffnet, in dem die »Abwesenheit des Referenten […] als Anwesenheit des Zeichens organisiert [ist]«, so dass die »Immaterialität eines Sinns […] nur in der Materialität eines Sinnlichen [gegenwärtig wird]«.56 Auf dieser Ebene kombiniert sich Stabilität (sedimentiert im Text) mit Wandelbarkeit (in jeweils neuen Kontexten der Aktualisierung), und letztere schlägt mit ihrer situativen Gebundenheit an individuelle Leserreaktionen die Brücke zur ›korporalisierenden Performativität‹, die jedoch im Falle der Literatur auf _____________
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Stichworten ›Austin‹ (Sprache, Mündlichkeit), ›Derrida‹ (Schrift) und ›jüngere Theorien‹ (Körper) zuordnen kann. Gerade der Blick auf die Literatur macht aber deutlich, dass und wie die im Lichte der jeweiligen Theoriebildungen aufscheinenden Dimensionen von Performativität sich nicht unbedingt gegenseitig ausschließen müssen, sondern vielmehr unterschiedlichen Perspektiven (also etwa Produktion und Rezeption) unterschiedliche Potentiale bieten. Ebd., S. 15. Wordsworth: Preface, S. 577. Die Wendung findet sich in einer 1802 ergänzten Passage, die sich der Frage ›What is a poet?‹ widmet. Krämer: Performativität, S. 15. Vgl. zur Romantik Reinfandt: Kommunikation. Krämer: Performativität, S. 19. Ebd., S. 20.
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den Wahrnehmungsakt der Rezeption beschränkt bleibt und dabei Aspekte der Körperlichkeit programmatisch ausblendet.57 Performativität ist in diesem Sinne sozusagen die ›Außenseite‹ der Medialität, die das Zusammenspiel zwischen der objekthaft-materiellen Ebene der Medialität einerseits (die auch die materielle Ebene von Zeichenprozessen beinhaltet) und der prozesshaft-immateriellen Ebene der Medialität andererseits in Stabilisierungen (wiederum im Sinne von materiell greifbaren Institutionalisierungen und/oder immateriellen Systembildungen) überführt (vgl. Abb. 1):
Abb. 1: Medialität und Performativität
Literatur als Medium eröffnet somit einen virtuellen Raum, in dem sich das moderne Subjekt jenseits der Kontingenzen des jeweils individuellen Einzelfalls etablieren und entfalten kann. Früheste Anzeichen eines derartigen Text-Subjekts, das sich in »Anspielungen auf Fernanwesenheit, Relativierungen der Text-Verbindlichkeit, Ansprüche[n] auf einen in formaler Kompetenz begründeten textuellen Mehrwert und – vor allem – vielfache[n] Gesten der Transgression« manifestiert, entdeckt Hans Ulrich Gumbrecht bereits in provenzalischen Minneliedern des 12. Jahrhunderts,58 und er weist zugleich darauf hin, wie sehr die Entwicklung der literaturkonstituierenden Subjektivität von Beginn an zwischen Provokation und Domestizierung oszilliert.59 Jenseits der Materialität von Schrift und Buch_____________ 57 58 59
Vgl. dazu grundlegend Schön: Verlust. Gumbrecht: Medium, S. 87-91, Zitat S. 90. Ebd., S. 91: »Die Provokationsgesten des Minnesangs jedenfalls werden – und das mag eine in der Literaturgeschichte wiederkehrende Entwicklung sein – innerhalb weniger Jahre domestiziert. Als im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts […] die höfi-
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druck spielt hier schon früh die poetische Form als Medium des individuellen Ausdrucks eine zentrale Rolle. Zu verweisen wäre etwa auf die zentrale Rolle des Sonetts bei der Überführung von Stimme in Schrift60 und mit ähnlicher Funktion im englischen Kontext auf die Rolle des iambischen Pentameter61 sowie in Kombination von beidem auf die ›Erfindung der poetischen Subjektivität‹ in Shakespeares Sonetten.62 Der endgültige Schritt zur Etablierung eines neuzeitlich-modernen Mediums ›Literatur‹ vollzieht sich allerdings mit der Institutionalisierung des Buchdrucks seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts: Entscheidend scheint gewesen zu sein, daß gedruckte Buchstaben und Wörter im Gegensatz zu Manuskripttexten nicht mehr als Spuren einer Körperbewegung des Schreibers (oder Autors) angesehen werden können und daß diese Veränderung konvergiert mit einer neuen Einstellung auf der Seite der Rezipienten, gedruckte Texte immer weniger als Anweisungen auf mündliche Rezitation aufzufassen. Mit einer Metapher – und vielleicht auch ganz unmetaphorisch – läßt sich also sagen, daß die Einführung der Druckpresse den Körper des Schreibers und die Körper der Rezipienten aus der medialen Situation verdrängt, welche sich um das neuzeitliche Buch entfaltet.63
Die zuvor gelegentlich beobachtbaren Symptome eines Text-Subjekts, d.h. die oben erwähnten »Anspielungen auf Fernanwesenheit, Relativierungen der Text-Verbindlichkeit, Ansprüche auf einen in formaler Kompetenz begründeten textuellen Mehrwert und […] Gesten der Transgression«,64 verdichten sich nun in der Figur des Autors, der als »Konkretisation frühneuzeitlicher Subjektivität« und »geistiges Subjekt« vom Leser im Akt der Lektüre als Urheber der intendierten Textbedeutung in einen virtuellen Raum ›hinter‹ dem Text projiziert wird: [W]ährend des 15. und 16. Jahrhunderts [wird es] zu einer zunehmend selbstverständlichen Implikation des erst jetzt von einer Metapher zu einem Standardbegriff werdenden Worts ›Ausdruck‹, daß die – gesprochene oder geschriebene – Textoberfläche niemals dem, was ein Subjekt ›zu sagen hat‹, voll gerecht werden könne. Das macht auf der anderen Seite ›Interpretation‹ zu einer (wie wir im 20. Jahrhundert sagen würden) existentiellen Notwendigkeit. Erst die Interpretation, welche im Idealfall die Ausdrucks-
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schen Versromane […] entstehen, sind die Plots auf Versöhnung zwischen dem Ideal höfischer Liebe und der christlichen Institution der Ehe gestellt.« Vgl. dazu grundlegend Oppenheimer, der programmatisch feststellt: »Modern thought and literature begin with the invention of the sonnet« (Oppenheimer: Birth, S. 3), und später ergänzt: »Everyman, Parzival, the lyrics of the troubadors, and all other medieval poems were meant to be performed. The sonnet was not. It was meant as a meditation, as an instrument for self-reflection.« (Ebd., S. 12) Vgl. dazu Easthope: Discourse; Steele: Fun. Fineman: Eye. Für eine ausführlichere Darstellung dieses Zusammenhangs vgl. Reinfandt: Kommunikation, S. 93-109. Gumbrecht: Medium, S. 91f. Vgl. zu den späteren Implikationen dieser grundlegenden Entwicklung Koschorke: Körperströme. Gumbrecht: Medium, S. 90.
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möglichkeiten des Textes überbietet, erreicht wieder das und löst das wieder ein, was die Seele des Autors immer schon enthält – ohne dass es sich über den Körper des Autors oder in einem Text vollends artikulieren könnte.65
Mit dieser Abstraktion und Universalisierung des Subjekts in Distanz zu Text und Welt verändert sich zugleich der Wirklichkeitsbezug der Texte, die nunmehr nicht länger Bestandteil einer schichtspezifischen Lebensform wie etwa der höfischen Kultur sind, sondern vielmehr auf einer ebenso abstrakten Ebene wie das Subjekt der Welt gegenüberstehen. Auch dieses Weltverhältnis muss kodifiziert werden, wie sowohl die intensive Diskussion um den nun wiederentdeckten Mimesisbegriff als auch um die Anerkennung der Möglichkeiten der Fiktionalität belegen, die Sir Philip Sidney in seiner Defence of Poesie im Jahre 1595 wohl am einprägsamsten formuliert: »the Poet, he nothing affirmeth, and therefore never lieth«.66 Damit sind die wesentlichen Komponenten des neuzeitlich-modernen Mediums ›Literatur‹ etabliert: Autorschaft als kommunikative Institutionalisierung des modernen Subjekts ›hinter‹ den als ›Werk‹ aufgefassten Texten mit ihren als intendiert interpretierten Bedeutungen und Funktionen zwischen Weltabbildung und Fiktion, und schließlich die Interpretation selbst als potentiell den Leser ermächtigender Akt.67 Die historische Entfaltung dieser Konstellation kann nun auf unterschiedlichen Ebenen nachgezeichnet werden. Deren heuristische Differenzierung wird durch eine kommunikationstheoretische Systematik ermöglicht, der zufolge die Selektion einer Information in einem unauflösbaren Differenz- und Abhängigkeitsverhältnis zur Selektion einer Mitteilungsform steht, während das für den kommunikativen Prozess konstitutive Verstehen wiederum eben dieses unauflösliche Differenz- und Abhängigkeitsverhältnis synthetisierend bearbeitet, um so Anschlussfähigkeit herzustellen.68 Verstehen in diesem kommunikationsimmanenten Sinne kann zwar, muss aber keineswegs mit dem Verstehen seitens eines Bewusstseins zusammenfallen.69 Wichtiger ist gerade die medial, d.h. durch Schrift, Buchdruck und Erfolgsmedien er_____________ 65 66 67
68
69
Ebd., S. 92. Sidney: Defence, S. 54. Wichtig ist dabei die Feststellung, dass ›Interpretation‹ im traditionellen hermeneutischen Sinne aus dieser Perspektive »Gegenstand, nicht Beobachtungsperspektive« ist (Jahraus: Literatur, S. 587). Vgl. zur historischen Entfaltung von Lese(r)haltungen Assmann: Domestikation. Vgl. dazu Luhmann: Was ist Kommunikation? Informationen werden, das ist zu betonen, in der doppelten Selektivität von Informations- und Mitteilungsebene überhaupt erst hervorgebracht. Ein solches konstruktivistisches Verständnis von Kommunikation steht in deutlichem Gegensatz zu traditionellen Kommunikationsbegriffen, die die Übertragung einer (vorhandenen) Information von einem Sender zu einem Empfänger in den Mittelpunkt stellen. Vgl. dazu Luhmann: Bewußtsein.
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möglichte Eigendynamik der modernen Kommunikation, deren Vollzug sich von Bewusstsein emanzipiert, ohne dabei natürlich auf die strukturelle Kopplung von Kommunikation und Bewusstsein verzichten zu können.70 Im Hinblick auf die Medialität der modernen Literatur gewinnt in diesem Zusammenhang die Mitteilungsebene zunehmend an Bedeutung, und man kann auf dieser Ebene die Ausdifferenzierung literarischer (d.h. insbesondere poetischer und narrativer) Formen nachzeichnen.71 Eben diese Selektionen auf der Mitteilungsebene konstituieren dann auf der Informationsebene den modernen Autor als paradigmatisch-virtuelle Inkarnation des modernen Subjekts, die auf der Ebene des Verstehens ihre kulturelle Resonanz entfaltet. Die in dieser heuristischen Dreiteilung angedeuteten, miteinander verwobenen Geschichten können hier nicht erzählt werden.72 Stattdessen sollen die historischen und systematischen Konturen eines solchen Zugriffs auf die Ausdifferenzierung von Literatur als Medium in einem integrativen Modell zusammengeführt werden, welches den Versuch unternimmt, die zentralen Implikationen so aufzubereiten, dass sie für die literatur- und kulturwissenschaftliche Arbeit am Text handhabbar werden. Die bisher eingeführten Aspekte der Medialität des literarischen Textes lassen sich dabei zunächst in dem in Abb. 2 wiedergegebenen Schema zusammenführen, das noch einmal deutlich macht, auf welche Weise die Medialität der Literatur den Zusammenhang zwischen den gesellschaftsstrukturellen Bedingungen der Moderne und der Entstehung der für die Kultur der Moderne konstitutiven Subjektivität vermittelt, so dass der oft beschriebene Antagonismus von Individuum und Gesellschaft in der strukturellen Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation verhandelbar wird:
_____________ 70
71 72
Vgl. dazu die prägnante Formulierung von Matthias Prangel: »Jede Kommunikation differenziert und synthetisiert eigene Komponenten, nämlich Information, Mitteilung und Verstehen. Das geschieht jenseits dessen, was in psychischen Systemen jeweils bewußt wird […] durch den Kommunikationsprozeß selbst.« (Prangel: Dekonstruktion, S. 17) In dieser Hinsicht gerät schnell die Lyrik als Paradigma der modernen Literatur, ja der Moderne überhaupt in den Blick. Vgl. dazu Iser: Ästhetik; Homann: Theorie; Jahraus: Literatur, S. 485-495, 554-577; Reinfandt: Kommunikation, S. 89-92. Vgl. dazu ausführlich Reinfandt: Sinn, S. 123-254 für ein Ausdifferenzierungsmodell narrativer Formen; Reinfandt: Kommunikation, S. 93-146 für ein Ausdifferenzierungsmodell poetischer Formen, S. 147-214 für die Ausdifferenzierung moderner Autorschaft, S. 215-324 für die kulturelle Resonanz.
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Abb. 2: Die Medialität des literarischen Textes
Zugänglich ist dem Bewusstsein des Lesers dabei immer nur die materiell vorliegende ›Mitteilung‹, d.h. der Text, anhand dessen sich die spezifische Medialität der Literatur entfaltet. Von grundlegender Bedeutung ist dabei die schriftliche bzw. gedruckte Verfasstheit des Textes mit den bereits besprochenen Konsequenzen einer Emanzipation der Sprache von der Welt bei gleichzeitiger Erhöhung der Disponibilität des Sinns und einer Emanzipation der Kommunikation von der Interaktion, die allerdings um den Preis ihrer erhöhten Unwahrscheinlichkeit erlangt wird.73 Mit eben dieser doppelten Emanzipation ist der Medialität der Literatur zugleich auch ein erhöhtes Maß an Selbstbezüglichkeit eingeschrieben, das jedoch im Interpretations- und Verstehensprozess nicht realisiert werden muss und ebenso wie die gestiegene Unwahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Kommunikation auf anderen Ebenen kompensiert wird. So suggeriert die Schrift und Buchdruck übergeordnete mediale Ebene der poetischen und/ oder narrativen Form einerseits, dass in der Kommunikation sehr wohl eine Stimme und damit auch ein Bewusstsein und letztlich auch ein Körper anwesend sind, und eben dieses Prinzip der »schriftlichen Verstimmlichung«74 in einer »fingierten Mündlichkeit«75 ist, wie oben gezeigt, für die Konstituierung von Subjektivität von zentraler Bedeutung. Der hier neben den prinzipiell fundierenden reflexiven Sinnhorizont tretende subjektive Sinnhorizont kann ersteren durch seine ›Präsenz‹ auf mehreren Ebenen leicht in den Hintergrund drängen: Die in der Stimmlichkeit der Literatur kristallisierte und inszenierte Erfahrung verweist zwar letztlich nur innerhalb des reflexiven _____________ 73 74 75
Vgl. Luhmann: Unwahrscheinlichkeit. Jahraus: Literatur, S. 460. Goetsch: Mündlichkeit.
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Sinnhorizonts auf die textimmanenten ›Sprechinstanzen‹, die letztlich Teil der Mitteilungsebene sind. Sie provoziert auf der Informationsebene aber zugleich Übertragungen auf die textexterne Projektionsfläche moderner Autorschaft oder, etwa über die Thematisierung des Antagonismus von Individuum und Gesellschaft in den Plots von Bildungs- und Künstlerromanen, auf allgemeinere Problemlagen moderner Subjektivität. Gerade die Stimmlichkeit realistischen Erzählens macht dabei deutlich, dass (und wie) trotz des neu etablierten Abstands zwischen Sprache und Kommunikation einerseits und Welt andererseits die Annahme einer Referenz auf die Welt für die Informationsebene literarischer Kommunikation von zentraler Bedeutung bleibt, indem eben nicht nur subjektive Erfahrung, sondern auch kodifizierte Weltsichten inszeniert werden.76 Mimetische Strategien aller Art simulieren also eine scheinbar unvermittelte Referenz auf die Welt einerseits (und im Falle der Literatur in erster Linie) über eine Referenz auf Stimmlichkeit oder aber andererseits durch eine nur scheinbar unmittelbarere Referenz auf andere Texte und Medien. Der objektive Sinnhorizont der literarischen Kommunikation erweist sich vor diesem Hintergrund ganz im Sinne der poststrukturalistischen Theoriebildung in der Bezugnahme von literarischen Texten auf vorhergehende literarische Texte und andere Texte unterschiedlicher Provenienz als dominant intertextuelles Phänomen, das jedoch spätestens im 20. Jahrhundert um eine intermediale Dimension erweitert wird. Von zentraler Bedeutung für die durch den Wandel der Gesellschaftsstruktur determinierte ›Autonomie‹ und Eigengesetzlichkeit der literarischen Kommunikation ist die Einführung eines eigenständigen symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums. Das literarische (Kunst-)›Werk‹ transformiert als ›Erfolgsmedium‹ die Unwahrscheinlichkeit literarischer Anschlusskommunikationen in Wahrscheinlichkeit und ordnet zugleich Texte als ›Kompaktkommunikationen‹ in einen bestimmten kommunikativen Zusammenhang ein, wobei sie sozusagen vorab mit Valenz (für diesen spezifischen Kontext) ausgestattet werden.77 An eben diesem Punkt macht sich allerdings auch die doppelte Rückbindung des literarischen Sinns an die strukturelle Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation wieder bemerkbar: Während einerseits die in jedem Werk vorausgesetzte Kohärenz Bedeutungen stabilisiert und integriert, was dann entweder im Hinblick auf den objektiven Sinnhorizont (z.B. auf der Plotebene), auf den subjektiven Sinnhorizont (Stichwort ›impliziter Autor‹) oder aber auf den _____________ 76 77
Vgl. dazu Kreilkamp: Voice. Zum Begriff der Kompaktkommunikation im Hinblick auf Kunstwerke vgl. Luhmann: Kunstwerk, S. 627; Luhmann: Kunst, S. 63; zum Begriff der Kompaktkommunikation im Hinblick auf literarische Texte vgl. Gumbrecht: Pathologien, S. 150-155.
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reflexiven Sinnhorizont (Stichwort ›Struktur des Werkganzen‹) beschrieben werden kann, eröffnet sich gerade in dieser Stabilisierung doch auch ein Potential für das Erkunden der Grenzbereiche von Sinn- und Bedeutungskonstruktionen, wobei, um es salopp zu sagen, jeder Unsinn im Medium eines entsakralisierten Werkbegriffs in den Sinnhorizont der literarischen Kommunikation einrücken kann. Sinn, so zeigt sich hier, geht über bloße Bedeutung als semantisches Phänomen hinaus, es handelt sich immer auch um ein strukturell-funktionales Phänomen, das sich allein auf die Gewährleistung der Fortsetzung der Kommunikation bezieht.78 Im Hinblick auf die Ausdifferenzierung der modernen Literatur lassen sich hier die Stichworte ›Subjektivität‹ und ›Autonomie‹ ins Spiel bringen, wobei letztere, wie Gerhard Plumpe betont, zunächst mit ersterer begründet wird.79 Letztlich lassen sich die beiden konstitutiven Ausdifferenzierungssemantiken der modernen Literatur jedoch an unterschiedliche soziokulturelle Entwicklungsdimensionen zurückbinden, was dann nach erfolgter Ausdifferenzierung zu einer Asymmetrie führt. Während einerseits die Subjektivität im Hinblick auf die für die moderne Kultur und Gesellschaft charakteristische Parallelentwicklung von Gesellschaftsstruktur und Semantik der semantischen Dimension der Ideenevolutionen zuzurechnen ist, erscheint andererseits die Autonomie als Reflex der strukturellen Dimension der Teilsystemevolutionen.80 Während also einerseits die moderne Literatur gerade im Hinblick auf ihren Rezeptionshorizont fest in der lebensweltlichen Erfahrung moderner Subjekte verankert bleibt, etabliert andererseits das Ausloten der Potentiale einer autonomen modernen Literatur einen zunehmend spezialisierten Produktionshorizont, der sich spätestens am Anfang des 20. Jahrhunderts endgültig von den Lesern entfremdet hat.81 »Je avancierter der Gegenstand, desto deutlicher das Medienparadigma«, konstatiert Oliver Jahraus,82 und in diesem Sinne lässt sich der Prozess einer zunehmenden Reflexivierung der literarischen Kommunikation im Hinblick auf die medialen Voraussetzungen für die kommunikative Konstitution von Subjektivität insbesondere auf die komplexe mediale Suggestion von Transparenz unter Bedingungen der Intransparenz beziehen: Jede schriftliche und/oder gedruckte Mitteilung ist prinzipiell opak, und dennoch gelingt es literarischen Texten bis zum heutigen Tage, dem Leser den Eindruck zu vermitteln, sie gewährten Durchblicke auf die Welt, auf Er_____________ 78 79 80 81 82
Vgl. zu dieser Unterscheidung eines inhaltlichen von einem funktionalen Sinnbegriff grundlegend Reinfandt: Sinn, S. 56-87. Plumpe: Epochen, S. 80. Vgl. dazu grundlegend Luhmann: Struktur; zu Fragen der temporal-kausalen Relationierung der Ebenen vgl. Stäheli: Nachträglichkeit; Kogge: Semantik. Vgl. dazu Reinfandt: Kommunikation, S. 69-88. Jahraus: Literatur, S. 569.
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fahrungshorizonte anderer Subjekte, auf andere Texte und andere Medien. Transparenz kann dabei nur über die Konventionalisierung und Naturalisierung von Medialität erreicht werden, und nur auf dieser Grundlage ist das in der westlichen Kultur seit dem 18. Jahrhundert vorherrschende Verständnis vom Subjekt als Urheber und Ausgangspunkt möglich, während umgekehrt die entstehende Autonomie der Literatur eine zunehmende Anerkennung der fundamentalen Intransparenz der Medialität der Literatur ermöglicht, in deren Konsequenz das Subjekt als etwas Unterworfenes, Gemachtes, als kommunikativer oder diskursiver Effekt aufscheint.83 Schematisch lässt sich diese Dialektik wie folgt an das vorangegangene Schema anschließen (Abb. 3):
Abb. 3: Kommunikative Zuschreibungen von Subjektivität
Im Hinblick auf die historische Ausdifferenzierung der modernen Literatur als Medium lässt sich vor diesem Hintergrund feststellen, dass sich die Ambivalenz des Subjektbegriffs84 ebenso wie die dieser Ambivalenz zugrundeliegende Ambivalenz der Medialität von Beginn an in einer Reihe charakteristischer Oppositionen niederschlägt, zwischen deren Polen sich das _____________ 83 84
Es ist in diesem Sinne kein Zufall, dass die so genannte postmoderne Philosophie gerade in der Literaturtheorie seit den 1970er Jahren ein Gravitationszentrum fand. Vgl. dazu in jüngerer Zeit Zima: Theorie; Reckwitz: Subjekt.
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Potential der modernen literarischen Kommunikation oszillierend entfaltet. Moderne Autorschaft etwa greift auf die bereits in Platos Ion etablierte Doppelung von Inspirations- und Imitationsmodellen zurück, wobei das Inspirationsmodell mit seinem Fokus auf dem unmittelbar gottgeleiteten Sprechen seit dem 15. Jahrhundert in eine Allianz mit anderen subjektivierend-emanzipatorischen Elementen gerät, während das Imitationsmodell mit seinem Fokus auf Aspekten der schriftlichen Komposition zunächst eher normativ-kompensatorischen Strömungen zugeordnet wird.85 Lyrik und Prosa als formale Medien der Schriftlichkeit, andererseits, geraten nach der Ausdifferenzierung von Prosa als für die moderne Kultur zentraler signifying practice in eine Opposition, die die Lyrik allen Bemühungen der Romantiker um die Lyrik als Medium der Subjektivität zum Trotz letztlich mit Intransparenz und Selbstbezüglichkeit assoziiert, während die Prosa besser geeignet erscheint, Transparenz, Referentialität und Objektivität zu gewährleisten.86 Am Beispiel derartiger Konfigurationen zeichnet sich eine grundsätzliche Dialektik modernisierender und kompensatorischer Elemente als Motor der Ausdifferenzierung der modernen literarischen Kommunikation ab, die sich letztlich auf die spezifische Medialität der modernen Literatur zurückführen lässt. In stark vereinfachender Form ergibt sich dabei unter Rückgriff auf die zentralen Kategorien in Abb. 2 folgendes Schema zur Entfaltung der modernen literarischen Kommunikation (Abb. 4):87
_____________ 85 86 87
Vgl. dazu ausführlich Reinfandt: Kommunikation, S. 149-162; zu Fragen der Autorschaft vgl. Jannidis / Lauer / Martínez / Winko: Rede; Kleinschmidt: Autorschaft. Vgl. dazu Kittay / Godzich: Emergence; Reinfandt: Kommunikation, S. 93-105. Das Schema geht aus Überlegungen zur englischen Literatur- und Kulturgeschichte hervor, sollte aber mit den entsprechenden Modifikationen auch für andere Nationalliteraturen praktikabel sein. Die Abfolge Romantik – Realismus – (Hoch-)Moderne – Postmoderne beispielsweise modifiziert Gerhard Plumpes systemtheoretischen Entwurf zur deutschen Literaturgeschichte (Romantik – Realismus – Ästhetizismus – Avantgarde – Postismus) für die englische Literaturgeschichte. Vgl. dazu Plumpe: Epochen; Reinfandt: Sinn, S. 180-185.
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Abb. 4: Zur Ausdifferenzierung von Literatur als Medium
Die für die moderne Kultur insgesamt charakteristische Entwicklung hin zu einer Aufhebung älterer (objektiver und subjektiver) Sinnorientierungen in einer alles hinterfragenden Reflexivität, die sich insbesondere in der gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf das gesamte Jahrhundert zurückprojizierten Semantik der ›turns‹ bzw. Wenden zeigt,88 findet sich hier in der horizontalen Anordnung der für literarische Texte charakteristischen Informationshorizonte der Referenz und Erfahrung vor dem letztlich konstitutiven Mitteilungshorizont der Medialität. Letzterer gerät aber nur in einem Prozess der stufenweisen Annäherung in den Blick, und die vertikale bzw. diagonale Abfolge der ›Epochen moderner Literatur‹89 markiert einen dialektischen Prozess, in dem auf eine Phase der Modernisierung eine Phase der kompensatorischen Re-Traditionalisierung folgt, bevor mit einer Synthese beider Tendenzen eine neue Entwicklungsstufe erreicht wird. So folgt auf die _____________ 88 89
Vgl. dazu Bachmann-Medick: Cultural Turns. Durchaus im Sinne von Plumpe: Epochen, aber mit anglistischen Modifikationen bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Ausdifferenzierungsphase vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Vgl. zu letzterer im Kontext der deutschen Literaturgeschichte, ebenfalls aus systemtheoretischer Sicht, Stöckmann: Literatur.
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Emanzipation der Subjektivität in der Lyrik insbesondere bei Shakespeare und (religiös gerahmt) bei den metaphysical poets des 17. Jahrhunderts ein neoklassizistischer backlash im 18. Jahrhundert, bevor die Romantik unter Zurückweisung sowohl der Transparenzideale neoklassizistischer Ästhetiken als auch radikal-subjektivistischer Experimente der Empfindsamkeit eine kulturelle Domestizierung der Subjektivität erreicht, die mit ihrer Positionierung zwischen Erfahrung und Medialität zum Ausgangspunkt der modernen Literatur im engeren Wortsinne wird.90 Der romantischen Lyrik steht allerdings, obschon ihr im Projekt der domestizierenden Emanzipation der Subjektivität verbunden, der realistische Roman gegenüber, der entgegen der formalen Ausdifferenzierung der Lyrik eindeutig auf Transparenz setzt. Erst mit den antiromantischen und antirealistischen Polemiken der Modernisten emanzipiert sich die moderne Literatur vollends von ihrer traditionellen Rückbindung an Welt und Erfahrung, wobei das Ausschöpfen aller Innovationspotentiale zu einer ›Kristallisation‹ der vorher nacheinander durchgespielten Orientierungen führt, die nunmehr gleichzeitig, aber nur noch unter dem Vorbehalt ihrer reflexiven Selbsthinterfragung zur Verfügung stehen.91 Und ist es nicht eben dieser Zustand, der im 20. Jahrhundert für die moderne Medienkultur im Ganzen charakteristisch wird? III. Medienkultur und Literatur Die hier skizzierte theoretisch-historische Auffassung von Literatur als Medium soll Möglichkeiten aufzeigen, wie im Rahmen einer medienkulturwissenschaftlichen Neuorientierung der Literaturwissenschaften traditionelle Kernkompetenzen der literaturwissenschaftlich-philologischen Arbeit in einen neuen Reflexionshorizont eingerückt werden können.92 Dabei geht es insbesondere um die Kernkompetenz der kritischen Lektüre von Texten aller Art, für die die vorliegende Skizze eine Art Landkarte bereitstellen möchte, die einerseits den Zugriff auf die historisch-kontextuellen Möglichkeitsbedingungen der jeweils spezifischen Funktionalität(en) von Texten perspektiviert und andererseits ›Zugänge zur Bedeutung von Medientexten‹ vorstrukturiert.93 Um es knapp an einem Beispiel anzudeuten:94 _____________ 90 91 92 93 94
Vgl. dazu ausführlich Reinfandt: Kommunikation, S. 93-136, 147-204. In welchem Ausmaß sich auch der englische Neoklassizismus an kulturellen Modernisierungsprozessen abarbeitet, zeigt die umfangreiche Studie von Berensmeyer: Contingency. Zum Begriff der ›Kristallisation‹ vgl. Plumpe: Epochen, S. 232 unter Verweis auf Arnold Gehlen. Vgl. zum Begriff ›Medienkulturwissenschaft‹ Schönert: Literaturwissenschaft. Vgl. Willems / Willems: Zugänge. Vgl. zu den im Folgenden erwähnten Kategorien noch einmal Abb. 2.
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T.S. Eliots im Jahre 1922 publiziertes Gedicht The Waste Land ist sicherlich einer der bekanntesten Texte der Kulminationsphase moderner literarischer Kommunikation. Am Ende des 20. Jahrhunderts liegt das als The Waste Land bekannte ›Werk‹ in zahlreichen Ausgaben vor, wobei dem Leser drei unterschiedliche Erscheinungsformen entgegentreten können: In T.S. Eliots Collected Poems findet sich der Text des Gedichts und, im Anschluss daran, Eliots berüchtigte ›Notes on The Waste Land‹.95 Studienausgaben des Gedichts wie etwa die in vorbildlicher Weise von Michael North besorgte Norton Critical Edition drucken den Text des Gedichts ebenso wie Eliots anschließende ›Notes‹ und fügen in Fußnoten Anmerkungen des Herausgebers hinzu. Ergänzt wird der so angereicherte »Text of The Waste Land« mit einer »Contexts«-Sektion, in der Quellentexte zu den intertextuellen Bezügen des Gedichts ebenso versammelt sind wie Essays zur Entstehung und Kommentare von Eliot selbst, und einer »Criticism«-Sektion, die die Rezeption des Gedichtes von »Reviews and First Reactions« bis zu »Reconsiderations and New Readings« nachzeichnet.96 Und schließlich ist dem interessierten Leser eine Faksimileausgabe des ursprünglich wesentlich umfangreicheren Waste Land-Manuskripts mit den legendären Streichungen durch Ezra Pound zugänglich, die einen Durchgriff auf das Medium der (Ur-)Schrift vor ihrer Stabilisierung im Druck ermöglicht.97 Als ›Werk‹, soviel ist klar, lässt sich The Waste Land nicht auf eine materielle Erscheinungsform festlegen, sogar die Doppelung von Schrift und Buchdruck ist in einer Art Palimpsest noch greifbar und destabilisiert dabei die Möglichkeiten der Zuschreibung von Autorschaft. Ähnliches gilt für die Dimensionen Erfahrung und Referenz: Zwar ist The Waste Land eindeutig vom Modus der ›schriftlichen Verstimmlichung‹ geprägt, doch sind es so viele Stimmen mit nicht mehr eindeutig zuweisbaren Sprechern, dass eine Art Kollektivsubjekt entsteht, dessen konstitutives Element weniger die Stimme als vielmehr die Thematisierung von Öde und Unfruchtbarkeit ist, während andererseits die Referenz auf Welt nur noch in Form von Intertextualität stattfindet.98 Man hat es also mit einer Kollage von Texten und Stimmen zu tun, die einerseits sozusagen unpersönlich-photographisch im Medium _____________ 95 96 97 98
Eliot: Poems, S. 61-86. Vgl. Eliot: Waste Land. Authoritative Text. Alles in allem beläuft sich diese Ausgabe des Waste Land-Netzwerks auf immerhin 282 Seiten. Vgl. Eliot: Waste Land. Facsimile. Die »Contexts«-Sektion in Eliot: Waste Land. Authoritative Text versammelt Auszüge aus Texten von folgenden Autoren (in der Reihenfolge ihres Auftretens): James G. Frazer, Jessie L. Weston, Aldous Huxley, Charles Baudelaire, John Webster, Ovid, Gene Buck und Herman Ruby (That Shakespearian Rag), Gotama Buddha, Edmund Spenser, Oliver Goldsmith, James Anthony Froude, St. Augustine, Sir Ernest Shackleton, Herman [sic] Hesse, und Thomas Kyd sowie aus The King James Bible, Brihadāranyaka Upanishad, und Pervigilium Veneris.
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der Schrift ›abgebildet‹ werden und in dieser Verweigerung der traditionellen Fluchtpunkte ›Welt‹ oder ›Erfahrung‹ (im Sinne einer Einheit des ›sprechenden‹ Subjekts) die reflexive Dimension des Textes dominant werden lassen.99 Andererseits gewinnt dieses Netzwerk von Stimmen und Texten seine Stabilität als ›Werk‹ insbesondere in der metaphorischen Resonanz, die der gewählte Titel unter den kulturellen Bedingungen einer vollends reflexiv werdenden Moderne am Beginn des 20. Jahrhunderts entfaltet. In dem hier nur exemplarisch angerissenen Zusammenspiel der Funktionalität des Textganzen als ›Werk‹ im medial fundierten und historisch entfalteten Kommunikationszusammenhang der modernen Literatur einerseits mit den dem Text eingeschriebenen Sinnhorizonten der modernen Kultur andererseits eröffnen sich differenzierte Zugänge zur Bedeutung von Medientexten, die auch jenseits der Literatur erprobt werden können.100 Dabei emanzipiert sich der Begriff ›Text‹ von seiner traditionellen Bindung an Schrift und Buchdruck und lässt sich allgemein auf medial stabilisierte, bedeutungsspeichernde und bedeutungsverbreitende Einheiten in jeweils spezifischen kommunikativen Kontexten beziehen, für die die konstitutiven modernen Sinnebenen der Medialität, der Erfahrung und der Referenz in ihrer jeweils spezifischen Relationierung zu erfassen sind.101 Die Interpretation von Medientexten muss dabei zugleich auf Aspekte der Grenzziehung und Konstruktion (im Hinblick auf den zu untersuchenden ›Text‹) und auf Aspekte der Entgrenzung und Dekonstruktion (im Hinblick auf kommunikative Kontexte und Mediensysteme) ausgerichtet sein, wobei letztere wiederum in ihrer jeweiligen Spezifik gegenüber anderen Kontexten und Mediensystemen abzugrenzen sind. Es ist klar, dass eine solche medienkulturwissenschaftliche Perspektive die Grenzen der Literatur _____________ 99
Zu Eliots ›Impersonal Theory of Poetry‹ und zu dem damit verbundenen Begriff des ›objective correlative‹ vgl. seine Essays »Tradition and the Individual Talent« und »Hamlet« aus dem Jahre 1919, beide in Auszügen abgedruckt in Eliot: Waste Land. Authoritative Text, S. 114-121. Zum Zusammenhang zwischen modern(istisch)en Autorschaftskonzeptionen und dem neuen Medium der Photographie vgl. Reinfandt: Kommunikation, S. 204-214. 100 Vgl. dazu aufschlussreich im Hinblick auf den Durchgriff von Makrokategorien wie ›Diskurs‹ (Foucault), ›Gesellschaftsstruktur‹ und ›Semantik‹ (Luhmann), ›Feld‹ und ›Habitus‹ (Bourdieu) oder ›Rahmen‹ (Goffman) auf Einzeltexte aller Art Willems / Willems: Zugänge. Ein Fokus auf Medialität relativiert (rahmt?) allerdings die bei Willems / Willems vorgenommene Favorisierung akteursbezogener Konzepte auf einer abstrakteren Ebene. 101 Vgl. für die Anmahnung einer derart integrativen, medienhistorisch und medientheoretisch informierten Perspektive für die Debatte um ›Kultur als Text‹ jüngst Huck / Schinko: Limits. Zum Fortgang der 1996 angestoßenen Debatte vgl. BachmannMedick: Kultur, insb. S. 298-338; aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven Bassler / Stoermer / Spörl / Brecht / Zembylas / Graessner / Werber: Kultur; Scheffer: Zeichen.
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deutlich hervortreten lässt. Sie vermag aber auch die spezifische kulturelle Leistungsfähigkeit der Literatur zu erfassen – sowohl in ihrer glorreichen Vergangenheit als Leitmedium der Moderne als auch in der Medienkonkurrenz und Medienkonvergenz einer Gegenwart, die noch nicht vollends ›postmodern‹ erscheint. Bibliographie Assmann, Aleida: Die Domestikation des Lesens. Drei historische Beispiele. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58 (1985), S. 95-110. Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. 2. Aufl. Tübingen, Basel 2004. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006. Bassler, Moritz / Fabian Stoermer / Uwe Spörl / Christoph Brecht / Tasos Zembylas / Holm Graessner / Niels Werber: Kultur als Text? In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 2 (2002), S. 102-113. Baumann, Gerd (Hg.): The Written Word: Literacy in Transition. Oxford 1986. Berensmeyer, Ingo: Angles of Contingency. Literarische Kultur im England des siebzehnten Jahrhunderts. Tübingen 2007. Binczek, Natalie: Eine Interpretationstheorie. Oliver Jahraus untersucht die Funktionsbedingungen der Literatur als Medium. In: IASLonline (22.03.2005). (05.03.2007). Birkerts, Sven: The Gutenberg Elegies. The Fate of Reading in an Electronic Age. Boston/ Mass. 1994. Culler, Jonathan: Literary Theory. A Very Short Introduction. Oxford 1997. Easthope, Antony: Poetry as Discourse. London, New York 1983. Eliot, T. S.: Collected Poems 1909-1962 [1963]. London 1985. Eliot, T. S.: The Waste Land. A facsimile and transcript of the original drafts including the annotations of Ezra Pound. Hg. von Valerie Eliot. London 1971. Eliot, T. S.: The Waste Land. Authoritative Text, Contexts, Criticism. Hg. von Michael North. New York, London 2001. Elm, Theo / Hans H. Hiebel (Hg.): Medien und Maschinen. Literatur im technischen Zeitalter. Freiburg/B. 1991. Fineman, Joel: Shakespeare’s Perjured Eye. The Invention of Poetic Subjectivity in the Sonnets. Berkeley u.a. 1986. Goetsch, Paul: Fingierte Mündlichkeit in der Erzählkunst entwickelter Schriftkulturen. In: Poetica 17 (1985), S. 202-218. Goody, Jack: The Logic of Writing and the Organization of Society. Cambridge 1986. Gumbrecht, Hans Ulrich: Pathologien im Literatursystem. In: Dirk Baecker / Jürgen Markowitz / Rudolf Stichweh / Hartmann Tyrell / Helmut Willke (Hg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt/M. 1987, S. 137-180. Gumbrecht, Hans Ulrich: Medium Literatur. In: Manfred Faßler / Wulf Halbach (Hg.): Geschichte der Medien. München 1998, S. 83-107. Hart Nibbrig, Christiaan L.: Geisterstimmen. Echoraum Literatur. Weilerswist 2001. Hickethier, Knut: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart 2003. Hörisch, Jochen: Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien. Frankfurt/M. 1999.
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DANIEL FULDA / STEFAN MATUSCHEK
Literarische Formen in anderen Diskursformationen: Philosophie und Geschichtsschreibung
Am Anfang, so stellt man sich es vor, war alles eins: Die Homerischen Epen waren den Griechen zugleich Dichtung, Geschichtsschreibung und der Horizont ihres Wissens und Denkens (Wort und Begriff ›Philosophie‹ gab es noch nicht). Im letzten Drittel des letzten Jahrhunderts begannen und mehrten sich an der Universität die Tendenzen, diesen Homerischen Anfang wieder zu erreichen, zumindest theoretisch. Aus der Philosophie, der Geschichts- und Literaturwissenschaft kamen Ansätze, mit einem universalen Konzept von ›Text‹, ›Schrift‹ oder ›Erzählung‹ die Differenzen zwischen philosophischen, historiographischen und literarischen Werken zu negieren. Unter der disziplinären Ausdifferenzierung sollte die Einheit wieder sichtbar gemacht werden. Darin lagen Kritik am Wissenschaftsanspruch von Philosophie und Geschichte und ein Usurpationspotential für die Literaturwissenschaft. Doch hat dies weder zur Ununterscheidbarkeit von Literatur und Wissenschaft noch zu einer Einheitswissenschaft von Text, Schrift oder Erzählung geführt. Es hat vielmehr – bei Fortbestand der Differenzen – die Aufmerksamkeit für die Zusammenhänge und Übergänge geschärft. Dies soll hier für das Verhältnis von Literatur und Philosophie (I) und Literatur und Geschichtsschreibung (II) festgehalten werden. Zusammenfassend werden zudem Dreieckskonstellationen zwischen Philosophie, Literatur und Geschichtsschreibung in den Blick genommen (III). I. Literatur und Philosophie Dass Literatur und Philosophie oder, mit einem konventionellen Verständnis der beiden gesagt, dass sprachkünstlerische Darstellung und auf Grundfragen gerichtetes Nachdenken sich eng miteinander verbinden können, führt eine Vielzahl von Beispielen vor Augen. Platons Dialoge, Augustinus’ Bekenntnisse, Montaignes Essais, Pascals Gedanken, Voltaires Mär-
Literarische Formen in anderen Diskursformationen
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chen und Erzählungen, Kierkegaards Entweder/Oder, Nietzsches Zarathustra oder Adornos Minima Moralia: Das ist nur eine kleine Auswahl der bekannteren Werke, in denen Literatur und Philosophie als Einheit erscheinen; als Einheit, weil die Denkleistungen und deren Ergebnisse hier unablösbar von dem individuellen Stil ihrer sprachlichen Darstellung sind. Die Lektüre dieser Werke ist nicht nur belehrend, sondern sie vermittelt zugleich eine je bestimmte Atmosphäre und Stimmung, in der sich das Denken vollzieht, sie lässt Lebenssituationen und Erfahrungen nachempfinden, in denen und aus denen heraus gedacht wird. Platons Symposion ist nicht nur eine Abhandlung, sondern zugleich eine Inszenierung antiker Liebeskonzepte. Und die Minima Moralia vollziehen nicht nur Adornos negative Dialektik, sondern zeigen zugleich deren lebensweltliche Eingebundenheit im amerikanischen Exil zwischen Hollywood und Nachrichten aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Philosophische Theorien – das zeigen diese Werke – sind nicht kontextlos, sondern mit historischen Erfahrungen und kulturellen Praktiken verbunden. Als Zeugnisse und Ergebnisse des Denkens zeugen sie zugleich von ihren historisch-kulturellen und individuellen Entstehungskontexten. Ihre philosophische Theorie ist zugleich ein literarisches Dokument ihrer Verfasser. Es ist der Wille zur Verwissenschaftlichung der Philosophie, genau das auseinander zu halten, was die genannten Werke verbinden. Ein szientifisches Philosophie-Verständnis braucht die kategoriale Differenz zur Literatur, um die eigene Wissenschaftlichkeit zu begründen. Der radikalste Vorschlag dazu kam vom Wiener Kreis als Schule des ›Logischen Empirismus‹. Orientiert an der Mathematik und den Naturwissenschaften schränkt er Philosophie auf Logik und die Theorie empirischer Forschung ein. Zugrunde liegt die Vorstellung, dass Erkenntnis allein aus empirisch überprüfbaren Sachverhaltsaussagen und deren logischer Verknüpfung bestehe. Philosophie, die sich dieser Auffassung von wissenschaftlicher Erkenntnis verpflichtet, findet ihre Aufgabe als Kontrollinstanz der Wissenschaftssprache und -praxis. Ein Mitglied des Wiener Kreises, Rudolf Carnap, hat diese Kontrolle im Blick auf diejenigen Texte durchgeführt, die sich als Philosophie geben, ohne es doch nach seiner Überzeugung zu sein, die also, um es mit dem zentralen Anklagewort des Wiener Kreises zu sagen, nicht Philosophie, sondern Metaphysik sind. Die kategoriale Differenz von Wissenschaft und Kunst – wo es um Texte geht, also von Philosophie und Dichtung – dient ihm dabei als Mittel, um die Metaphysik von der Philosophie zu trennen. Denn Texte, die sich nicht auf empirisch überprüfbare Sachverhaltsaussagen beschränken oder, sofern sie doch solche Aussagen enthalten, diese mit Fiktionen und anderen Unsachlichkeiten (wie z.B. metaphysischen Begriffen) vermischen, seien Dichtung. Sie sei kein Mittel der Erkenntnis, sondern, so bezeichnet es Carnap, ein »Ausdruck
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Daniel Fulda / Stefan Matuschek
des Lebensgefühls«.1 Auch das habe seinen Wert, aber eben einen kategorial anderen als den der Wissenschaft und der ihr zuzurechnenden Philosophie. Was sich dieser kategorialen Differenz nicht fügt, erscheint als überflüssiger Zwitter. Werke, die sich als Philosophie ausgeben oder aus Gewohnheit als solche angesehen werden, ohne es in Carnaps Sinne zu sein, verurteilt er als »unzulänglichen Ersatz für die Kunst«.2 Darunter fällt nicht nur sein spezielles Beispiel Heidegger, auch nicht nur die eingangs erwähnten literarisch-philosophischen Texte, sondern der Großteil dessen, was man allgemein der Philosophiegeschichte zurechnet. Auch für Carnap gibt es somit eine wenn nicht enge, so doch breite Verbindung von Philosophie und Literatur. Sie ist die Grauzone der Unentschiedenheit, die er mit seinem Schwarz-Weiß der Wissenschafts- und Kunst-Differenz beseitigen will. Man kann an Carnaps Sprachkontrolle anknüpfen, ohne seine Definitionen von Philosophie und Dichtung zu übernehmen. Wo er zwei Textklassen unterscheidet, lässt sich von zwei unterschiedlichen Aspekten sprechen, nach denen sich die Qualität ein und desselben Textes bestimmt: Logik und empirische Überprüfbarkeit einerseits, Literatur andererseits. Die eine Seite ist die Gesetzmäßigkeit des schlüssigen Denkens und die Richtigkeit realitätsbezogener Behauptungen, die andere das Potential des Stils, der sprachlichen Ästhetik, von der man dann allerdings mehr erwarten kann als nur den Ausdruck von Gefühlen. Genau so, d.h. mit dem Titel »Zwischen Logik und Literatur«,3 fasst der Philosoph Gottfried Gabriel seine Studien zu den literarischen Formen der Philosophie zusammen. Indem er den Akzent nicht auf die kategoriale Unterscheidung von Philosophie und Literatur legt, sondern nach den Funktionen literarischer Formen in der Philosophie fragt,4 ersetzt er Carnaps Schwarz-WeißBild durch eine abgestufte Darstellung. Die Verbindung von Literatur und Philosophie bleibt dadurch keine bloße Grauzone, sondern wird als eine qualitativ zu ordnende Funktionsvielfalt verständlich, wie sich in literarischen Formen Philosophie ausdrückt. Gabriels Ansatz lässt sich über das Korpus der Philosophiegeschichte hinaus verlängern, so dass man konsequent statt nach einer Klassifizierung in Literatur oder Philosophie nach dem Zusammenhang von sprachlicher Darstellung und philosophischer Valenz fragt. So können die Vielzahl und Vielfalt der überlieferten und auch aktuellen Texte in den Blick kommen, die sowohl einen darstellerischen als auch einen argumentativen Anspruch haben. Wer diese Vielfalt in eine philosophische und eine literarische Klasse teilt, gibt damit (wie Carnap) _____________ 1 2 3 4
Carnap: Überwindung, S. 105. Ebd., S. 107. Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Vgl. ebd. Abschnitt II, »Literarische Formen der Philosophie«, S. 19-108, sowie Gabriel / Schildknecht: Philosophie.
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mehr über seine eigenen Normen zu erkennen als über die eingeordneten Texte. Als Grundriss, wie man die Vielfalt literarisch-philosophischer Texte besser ordnen kann, scheinen folgende vier Funktionsunterscheidungen geeignet: 1. Vermittlung, 2. Heuristik, 3. Ausdruck und 4. Kritik. Im ersten Fall haben die literarischen Formen eine sekundäre, in den übrigen drei Fällen eine primäre philosophische Funktion. 1. Vermittlung Die bekannteste Weise, in der Literatur und Philosophie sich verbinden, ist die Vermittlung: Literatur als didaktische Form oder als Popularisierung der Philosophie. Als historisches Exempel kann man Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes (1686) ansehen, die philosophisch-kosmologische Fragen frei vom Spezialistendiskurs im geselligen Konversationston erörtern. Ein neuerer Beleg ist Josteins Gaarders Roman Sofies Welt (norweg. 1991, dt. 1993), der eine auf Kinder ausgerichtete, aber gleichwohl von vielen Erwachsenen gelesene Einführung in die Philosophiegeschichte und in philosophisches Denken gibt. Wo es um Vermittlung geht, hängen Literatur und Philosophie nicht notwendig zusammen, sie bilden vielmehr ein publikumsbezogenes Zweckbündnis. Die Literatur setzt ihren Unterhaltungswert und ihr Popularitätspotential ein, um philosophische Themen ihres wissenschaftlichen Arbeitscharakters zu entkleiden und denen nahe zu bringen, die selbst keinen professionellen Zugang dazu haben. Fontenelle verspricht seinen Lesern, richtiger: seinen Leserinnen, dass dem philosophischen Inhalt seines Buches nicht schwieriger zu folgen sei als den Intrigen eines Liebesromans,5 und der Werbetext zu Sofies Welt verheißt einen »Kriminal- und Abenteuerroman des Denkens«.6 Es geht um das Kontrastprogramm zum Sprichwort ›per aspera ad astra‹: hier also auf leichtem Weg zum anspruchsvollen Ziel. In klassischer Weise hat die Aufklärungspoetik diese Position entwickelt, indem sie die Poesie als eine »ars popularis« in den Dienst der Philosophie und der Wissenschaften stellt.7 Sie soll auf leichte, d.h. anschauliche, exemplarische, lebhafte Weise zu philosophischen und wissenschaftlichen Einsichten führen. Man kann die Vermittlung als eine sekundäre philosophische Funktion bezeichnen, weil sie nicht selbst philosophische Erkenntnisse hervorbringt, _____________ 5 6 7
»Je ne demande aux dames pour tout ce système de philosophie, que la même application qu’il faut donner à La Princesse de Clèves, si on veut en suivre bien l’intrigue, et en connaître toute la beauté.« (Fontenelle: Entretiens, S. 52) Jostein Gaarder: Sofies Welt. Roman über die Geschichte der Philosophie [norweg. 1991]. München 1993, hintere Umschlagseite. Breitinger: Dichtkunst, S. 88.
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sondern als ein zweiter Schritt an eine vorausgehende Erkenntnis anschließt. Historisch ist diese logische als eine qualitative Zweitrangigkeit ausgelegt worden. Das hängt mit der Frage zusammen, auf welche Differenz man die Vermittlung bezieht. Die Aufklärungspoetik denkt hier an das intellektuelle Gefälle zwischen, wie es im 18. Jahrhundert heißt, den »erhabenen Geistern« und dem »großen Haufen«.8 Nur auf diesen richtet sie die Poesie aus, jene bedürfen ihrer nicht, weil ihnen alle Erkenntnisse unmittelbar zugänglich sind. Die Abwertung, die in dieser Unterscheidung steckt, hängt dem Vermittlungs-Konzept bis heute an. Die idealistische Kunstphilosophie und der Autonomie-Gedanke haben sie verstärkt: erstere, indem sie die Einheit von Kunst und Philosophie zum Ideal erhebt,9 letzterer, indem er jede funktionale Zuordnung der Kunst als Entwürdigung einschätzt.10 Man kann es durchaus als eine ›klassische deutsche Position‹ bezeichnen, große Literatur zugleich als große Philosophie anzusehen. Als prägendes Exempel dafür wirkte Schellings an Dantes Divina Commedia angelehnte Faust-Interpretation, die das große Gedicht als »vollkommene Eintracht« von Wissen und Bild, von Philosophie und Poesie feiert.11 Fragen der Didaktik und der Popularisierung kommen in dieser Perspektive nicht vor. Sie fallen auf die nicht-autonome, zweckhafte Literatur zurück, die als minderwertig gilt. Vermittlung als sekundäre philosophische Funktion der Literatur wird zur Angelegenheit einer eben dadurch sekundären, d.h. zweitrangigen Literatur. Damit zieht die kunstphilosophische und autonomie-ästhetische Aufwertung der Dichtung um 1800 eine Abwertung aller Didaktik und Popularisierung nach sich. Anders und der heutigen Situation angemessener stellt es sich dar, wenn man ›Vermittlung‹ nicht nur auf das Gefälle der Intellektualität und des Denkvermögens, sondern auf die arbeitsteilige Ausdifferenzierung der Gesellschaft bezieht. Die Vermittlungsleistung erhält dann einen grundsätzlich anderen Charakter. Statt Nachhilfe für die Schwachen wird sie zu einem Integrationsangebot für die Vielen. Damit ergibt sich die Chance, der Marginalisierung entgegenzuwirken, die der Philosophie durch ihre akademische Spezialisierung droht. Welchen Einfluss ein philosophisches Den_____________ 8 9
10 11
Vgl. ebd. S. 133, 158. »In der idealen Welt verhält sich die Philosophie ebenso zur Kunst, wie in der realen die Vernunft zum Organismus. – Denn wie die Vernunft unmittelbar nur durch den Organismus objektiv wird, und die ewigen Vernunftideen als Seelen organischer Leiber objektiv werden in der Natur, so wird die Philosophie unmittelbar durch die Kunst, und so werden auch die Ideen der Philosophie durch die Kunst als Seelen wirklicher Dinge objektiv.« (Schelling: Philosophie, S. 27) »Das Schöne will eben sowohl bloß um sein selbst willen betrachtet und empfunden, als hervorgebracht sein.« (Moritz: Nachahmung, S. 571) Schelling: Dante, S. 401.
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ken gewinnen kann, das sich neben der akademischen Abhandlung zugleich literarischer Unterhaltungsformen bedient, beweist etwa Jean Paul Sartre. Ohne seine Romane und Theaterstücke hätte der französische Existenzialismus kaum die Bedeutung gewonnen, die er im Nachkriegsdeutschland innehatte. In der aktuellen deutschsprachigen Philosophie verfolgt vor allem Peter Bieri die literarische Vermittlungsstrategie. Dabei tritt er nicht nur neben seiner Professur zugleich unter dem (öffentlich gemachten) Pseudonym Pascal Mercier als Romanautor auf, sondern gibt etwa seiner Abhandlung über die Willensfreiheit durch zahlreiche Erzählsequenzen und dramatisierte Rollenrede eine ganz unakademische Leserorientierung:12 mit solchem Erfolg, dass ein akademischer Philosoph die eigenen Schulstreitigkeiten darin für gewinnbringend neutralisiert hält.13 Hört man auf die Resonanz von Bieris Freiheits-Buch, muss man sagen, dass die sekundäre philosophische Funktion der Literatur – ihre Vermittlungsleistung – heute von primärer Bedeutung für die gesellschaftliche Reichweite der Philosophie ist. Hinzu kommt das Potential, die Nachteile akademischer Schulbildung zu korrigieren und Vermittlung nicht nur nach außen, sondern auch innerhalb der Philosophie, in ihrer internen Ausdifferenzierung zu leisten. Ein eigener Aspekt der literarischen Philosophie-Vermittlung ist die Zensur. Die Fiktionalität kann als Schutz dienen, unter dem das zur Sprache kommt, was anders verboten oder für den Autor gefährlich wäre. Lessings Nathan der Weise z.B. ist die durch die Theaterfiktion ermöglichte Fortsetzung seiner Religionsphilosophie, nachdem seine Streitschriften gegen die lutherische Orthodoxie Publikationsverbot bekommen hatten. 2. Heuristik Den Unterschied zwischen der vermittelnden und der heuristischen Funktion der Literatur kann man sich am besten mit Gotthold Ephraim Lessing anhand der Gattung ›Fabel‹ vergegenwärtigen. Im Allgemeinen erscheint die Fabel als Musterfall für die erste Funktion: Sie ist eine literarische Zeichensprache zur Illustration und Vermittlung moralischer Erkenntnisse, sie ist ein – wenn nicht das – Instrument der moralphilosophischen Populardidaktik. Es ist die eigene Praxis des Fabeldichtens, die Lessing neben _____________ 12
13
Bieri reflektiert dieses Verfahren so: »Stets von neuem habe ich Sie mit einer Aufforderung traktiert, die lautete: ›Stellen Sie sich vor...‹« (Bieri: Freiheit, S. 156). Die längste Sequenz dramatisierter Rollenrede ist der von Bieri erfundene Dialog zwischen Dostojewskis Raskolnikov und dessen Richter (Kap. 9: »Lebensgeschichte und Verantwortung: Raskolnikov vor dem Richter« ). Vgl. Honneth: Rezension.
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dieser üblichen noch eine zweite Funktion der Gattung erkennen lässt. Er selbst nennt sie den »heuristischen Nutzen der Fabeln« und er meint damit den gegenüber der Vermittlung umgekehrten Weg von der Anschauung zur Erkenntnis:14 Wer selbst neue Fabeln schreiben will, kann deren konventionelle Figuren und Situationen so variieren und ergänzen, dass sie zum Reflexionsmedium neuer moralischer Probleme werden. Statt vorgegebene moralische Sätze zu illustrieren, konstruiert die Fabel moralische Problemstellungen und fordert damit weitergehendes moralisches Denken heraus.15 Was Lessing für die Fabel sieht, gilt für weitere literarische Formen. Anstatt Ergebnisse philosophischen Denkens zu illustrieren und zu vermitteln, können sie ihrerseits das Medium philosophischer Reflexion sein. Das kleinste Element, für das dies gilt, ist die Metapher. Als allgemeines sprachliches Phänomen liegt sie vor der Unterscheidung von Literatur und Philosophie. Sie gehört zu beiden, weil beide Sprache sind. Hans Blumenberg hat die Relevanz der Metapher für philosophisches Denken herausgestellt: Neben der Begriffssprache wirkt die Metapher, wie Blumenberg es nennt, »als eine authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen«.16 Blumenberg selbst hat dies am Beispiel der Wahrheitsmetaphorik und kosmologischer Metaphern,17 auch an der Vorstellung von der »Lesbarkeit der Welt«18 und der Höhlenmetapher19 gezeigt. Alle diese Beispiele haben ein ideen- und problemgeschichtliches Format. Sie zeigen zum einen (etwa am Beispiel von »Wahrscheinlichkeit«) die Herkunft der Begriffe aus Metaphern. Zum anderen machen sie deutlich, wie philosophische und wissenschaftliche Theoriebildung von einer impliziten »Hintergrundmetaphorik« abhängen kann und wie manche philosophische Fragen (etwa die nach der Stellung des Menschen im Kosmos) überhaupt
_____________ 14 15
16 17 18 19
Lessing: Fabeln, S. 416. »Oder man nimmt auch den merkwürdigsten Umstand aus der Fabel heraus, und bauet auf denselben eine ganz neue Fabel. Dem Wolfe ist ein Bein in dem Schlunde stecken geblieben. In der kurzen Zeit, da er sich daran würgte, hatten die Schafe also vor ihm Friede. Aber durfte sich der Wolf die gezwungene Enthaltung als eine gute Tat anrechnen?« (Ebd. S. 419) Den »heuristischen Nutzen« beansprucht Lessing für seine eigenen Fabeln, plädiert aber zugleich dafür, in den Schulen Fabeln nicht nur lesen, sondern zugleich schreiben zu lassen. Man könnte sich das auch an der Universität als eine interdisziplinäre literaturwissenschaftlich-moralphilosophische Übung vorstellen. Blumenberg: Ausblick, S. 77. Zum Thema zuletzt Blumenberg: Unbegrifflichkeit. Blumenberg: Paradigmen. Blumenberg: Lesbarkeit. Blumenberg: Höhlenausgänge.
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metaphorischer Art sind.20 Als ein heuristisches Mittel wird die Metapher besonders dann kenntlich, wenn sie terminologisiert oder habitualisiert wird, wenn also das, was sie an Zusammenhang erfasst, so überzeugt, dass es definitorisch festgestellt oder von vielen übernommen wird. Den ersten Fall stellt das Marxistische Begriffspaar »Basis« und »Überbau« dar, den zweiten Wittgensteins Rede von »Familienähnlichkeiten«. Die philosophische Erkenntnis, die in diesen Wörtern steckt, verdankt sich demselben Phänomen, das auch poetische Qualität ausmacht: der prägnanten Metaphorik. Wer komplexe sozio-ökonomische Verhältnisse mit einer Anschauung aus dem Bauwesen und wer die Semantik aus der visuellen Erinnerung an Familienfotos erklären kann, offenbart ein ähnliches Talent wie jemand, der – zum Beispiel – das durch eine radikale naturwissenschaftliche Weltsicht entmoralisierte Individuum als »Elementarteilchen« beschreibt.21 Ganz gleich, ob sie in einer Abhandlung, in einem Roman oder einem Gedicht steht, stiftet die Metapher Beziehungen und Vergleiche, auf denen Erkenntnis überhaupt beruht. Als Grundform sprachlicher Welterschließung ist sie die punktuelle Übereinkunft von Literatur und Philosophie. 3. Ausdruck Im Unterschied zur heuristischen Funktion, die in bestimmten, auch verschiedenen, partiellen Erkenntnismitteln liegt, kann man eine literarische Form als Ausdruck von Philosophie bezeichnen, wenn in ihr die grundsätzliche Überzeugung eines philosophischen Ansatzes steckt, wenn sie – anders gesagt – das insgesamt Charakteristische einer Philosophie ausmacht. In diesem Sinne etwa ist der Dialog der Ausdruck der (von Platon gegebenen) Sokratischen Philosophie, ist der Essai der Ausdruck von Montaignes Skepsis und sind die unsystematischen Notate Ausdruck von Wittgensteins Philosophie. In diesen Fällen tragen die Darstellungsverfahren und -stile die Grundaussage, indem sie die Bedingungen definieren, unter die philosophisches Denken hier jeweils gestellt wird. Für den Platonischen Sokrates muss Philosophie dialogisch sein, weil sie sich als vernünftige Verständigung der Menschen über sich selbst und die Grundfragen ihres Lebens und Zusammenlebens versteht. Montaigne hat mit seinen Essais eine Form geschaffen, die im (oft kontrastierenden) Arrangement von Zi_____________ 20 21
Vgl. in Blumenbergs Paradigmen die Kapitel VIII: »Terminologisierung einer Metapher: ›Wahrscheinlichkeit‹«, VI: »Organische und mechanische Hintergrundmetaphorik« und IX: »Metaphorisierte Kosmologie«. So tut es Houellebecq in seinem Roman Les particules élémentaires von 1998.
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taten, Selbstbeobachtungen, anekdotischen Einzelfallbetrachtungen und Reflexionen eine eigene philosophische Haltung ausmachen: die einer sensibel den mannigfaltigen Erscheinungen des menschlichen Lebens hingegebenen Skepsis. Wittgensteins Fragment-Sammlungen schließlich zeigen Philosophie als Reflexion über den Sprachgebrauch und als immer neu ansetzendes Bemühen, die Grenzen der Sagbarkeit erfahrbar zu machen. In allen drei Beispielen würde die philosophische Position verschoben, wenn man die Darstellungsweise veränderte. Die Sokratischen Dialoge, Montaignes Essais und Wittgensteins fragmentarische Reflexionen sind als Form ein philosophisches Bekenntnis. Es liegt jedoch nicht allein in der literarischen Gattung als solcher (Dialog, Essay, Fragment-Sammlung), sondern erst in der besonderen Ausführung. Zum Sokratischen Dialog gehören die didaktische Funktion der Ironie und die Vorführung des Bekehrungsprozesses, zu Montaignes Essais die unaufgelösten Widersprüche und die Intimität der Beobachtungen, zu Wittgensteins Fragmenten die unaufhörlichen Neuansätze in einzelnen, konkreten Sprachgebrauchsreflexionen. Philosophie wird damit zu einer Angelegenheit des Stils, zur Leistung einer individuellen Sprech- oder Schreibweise. Bei Ludwig Wittgenstein findet sich dazu der Aphorismus »Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten«,22 den man als Hinweis auf die Abhängigkeit der Philosophie vom kreativ entdeckenden Sprachvermögen verstehen kann. Durch seine Sprachreflexionen, durch seinen fragmentarischen und aphoristischen Stil sowie seine textstrategische Subtilität, mit der er dem logischen Positivismus unter vordergründiger Affirmation tatsächlich seine philosophische Unzulänglichkeit bescheinigt hat,23 fungiert Wittgenstein heute als der wichtigste Zeuge, mit dem die Fachphilosophie die philosophische Valenz des Stils und damit ihren eigenen Status als Literatur bedenkt.24 Als Ergebnis fasst Manfred Frank zusammen, »daß der philosophische Diskurs durch seinen Stil an die welterschließende Kraft individueller Deutung und durch sie an die Relativität der geschichtlichen Welt angeschlossen ist«.25 Der Stil macht nicht nur, wie das bekannte Sprichwort sagt, den Menschen,26 sondern auch eine Sichtweise der Welt aus. Und insofern der _____________ 22 23 24 25 26
Wittgenstein: Bemerkungen, S. 483. So Gottfried Gabriels Interpretation von Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus, die vielfach Zustimmung findet (Gabriel: Logik als Literatur?, S. 20-31, Erstpublikation als Aufsatz 1978). Vgl. Gabriel: Form, S. 1-25; ferner: Wiesing: Stil, Frank: Stil. Frank: Stil, S. 83. »[L]e style est l’homme même« (Buffon: Discours, S. 503). Buffon selbst spricht sich mit diesem Diktum nicht für den Individualismus oder Relativismus der Denkstile aus, die in seinem Klassizismus keinen Raum hätten. Dennoch hat sein Diktum gegen seine Intention genau so gewirkt, auch bei Wittgenstein selbst (vgl. Wittgenstein: Bemerkungen, S. 561; zu Wittgenstein vgl. Wiesing: Extreme, S. 195).
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Stil sich als ästhetisches Gesamtkonzept eines Textes zeigt, wird die literarische Form zum Ausdruck von Philosophie. 4. Kritik Eine besondere Weise, in der literarische Formen zum Ausdruck von Philosophie werden, ist die Kritik. Es ist sinnvoll, sie als eine eigene Funktion anzusprechen, weil sich die philosophische Ausdrucksfunktion der Literatur hier in ein bestimmtes Kontrastverhältnis stellt. Die Wahl der Form versteht sich als Entgegnung auf eine als falsch angesehene philosophische Position; die Opposition dagegen manifestiert sich im Darstellungsverfahren selbst und nicht in den besonderen Aussagen. Ein Beispiel dafür sind Adornos Minima Moralia, deren aphoristische, ungeordnete, durch persönliche Lektüre- und Erfahrungseindrücke motivierte Reflexionen als grundsätzliche Kritik am Systemcharakter der Hegelschen Philosophie auftreten.27 Auch hier ist es nicht die literarische Form als solche, sondern erst die besondere Handhabung, in der sich die Kritik artikuliert. Das belegt der Vergleich mit den frühromantischen Fragmentsammlungen von Friedrich Schlegel und Novalis. Sie richten sich zwar ebenso wie Adornos Fragmente gegen die Systemphilosophie, doch was bei Adorno zur Rettung des Individuellen vor der Totalität dienen soll, zielt bei den Frühromantikern auf eine diskurskombinatorische Totale, die alle Redeweisen der Wissenschaften, Künste und Konversation durch deren Vermischung überbieten will. Dieselbe Strategie verfolgen auch Schlegels und Novalis’ Romane, was beweist, dass nicht nur ähnliche Formen verschiedenen Zielen, sondern auch verschiedene Formen, ähnlich gehandhabt, demselben Ziel dienen können. Philosophiekritik qua Literatur sind auch die contes philosophiques der französischen Aufklärer. Denn ihre erzählerische Form dient nicht nur zur didaktischen Vermittlung der Kritik (in Voltaires Candide ou l’optimisme zum Beispiel an Leibniz’ Theodizee). Die Wahl der Erzählung statt der Argumentation ist vielmehr selbst schon ein prinzipieller Widerspruch gegen _____________ 27
In der Zueignung motiviert Adorno die Form der Minima Moralia so: »Darum vermag die gesellschaftliche Analyse aber auch der individuellen Erfahrung unvergleichlich viel mehr zu entnehmen, als Hegel konzedierte, während umgekehrt die großen historischen Kategorien nach all dem, was mittlerweile mit ihnen angestiftet worden ward, selbst vom Verdacht des Betrugs nicht mehr sicher sind. [...] Im Zeitalter seines Zerfalls trägt die Erfahrung des Individuums von sich und dem, was ihm widerfährt, nochmals zu einer Erkenntnis bei, die von ihm bloß verdeckt war, solange es als herrschende Kategorie ungebrochen positiv sich auslegte.« (Adorno: Minima Moralia, S. 10f.)
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jede abstrakte Theorie über das menschliche Leben. Der »Philosoph als Erzähler«28 kehrt sich ab von aller theoretischen Allgemeinheit hin zu den konkreten Situationen und Vorkommnissen des Lebens. In die deutsche Literatur führt Christoph Martin Wieland dieses Programm ein. Die Hauptfigur seiner Erzählung Musarion verkörpert, wie Wieland es nennt, eine »reitzende Filosofie«,29 die als Kritik alles spekulativen oder abstrakt prinzipienorientierten Philosophierens auftritt. Die Form der galanten Verserzählung ist dabei nicht nur das Vehikel, sondern selbst die Botschaft des (wie Goethe sie genannt hat) »heiteren Widerwillens gegen erhöhte Gesinnungen«.30 Zuletzt hat Richard Rorty die Intention der contes philosophiques aufgegriffen und durch seine Rede vom »general turn against theory toward narrative« gewissermaßen fachphilosophisch ratifiziert.31 Das hat zwar nicht dazu geführt, dass Rorty nun seinerseits vom Philosophen zum Erzähler geworden wäre. Doch hat er diesen Wechsel mittelbar vollzogen, indem er seine Professur für ›Philosophy‹ in eine für ›Humanities‹ eingetauscht hat. Und in dieser Position propagiert und betreibt er Literaturkritik, im Besonderen die Auseinandersetzung mit Romanen, als den besseren Ersatz für alle abstrakte Moralphilosophie.32 In den letzten Jahrzehnten hat sich unter dem Stich- und oft auch Reizwort ›Postmoderne‹ das Bewusstsein von der Pluralität und auch von der Relevanz des Ästhetischen innerhalb der Philosophie gesteigert.33 In extremen Fällen lief dies auf die Einebnung der Differenz von Literatur und Philosophie hinaus. Die Basistheorie dafür liefert Jacques Derridas Grammatologie, die einen allgemeinen Text- oder Schrift-Begriff (»texte en général« oder »écriture«) entwickelt,34 mit dem sich die Unterschiede zwischen literarischen, philosophischen und wissenschaftlichen, radikal auch zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten nivellieren lässt. Die weiteren Werke Derridas boten mehr und mehr auch Exempel dafür. Wären diese Werke repräsentativ für das, was heute von Philosophen, Wissenschaftlern und Literaten geschrieben wird, dann wäre die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Philosophie, die ja auch eine Frage nach ihrer Unterscheidbarkeit ist, zwar nicht hinfällig, aber doch insofern erle_____________ 28 29 30 31 32
33 34
Vgl. Warning: Philosophen. Wieland: Musarion, S. 99. Goethe: Dichtung, S. 297. Rorty: Contingency, S. xvi. »Literary criticism does for ironists what the search for universal moral principles is supposed to do for metaphysicians.« (Rorty: Contingency, S. 80) Rortys eigenes Beispiel für eine Romanlektüre als bessere Moralphilosophie ebd., S. 141-168: »The barber of Kasbeam: Nabokov on cruelty«. Vgl. Welsch: Moderne; Welsch: Denken. Derrida: Grammatologie, S. 229f.
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digt, als die eine immer in Mischung mit der anderen aufträte. Doch ist Derrida Derrida geblieben und nicht zum Mainstream geworden. Und die vor allem in literaturwissenschaftlichen Instituten durch Derridas Textbegriff inspirierte Generalsouveränität über alles, was Text ist, blieb ebenso Episode. 5. Fazit Auch wenn man Literatur und Philosophie nicht als getrennte Textklassen betrachtet, so kann man doch jeden Text unter zwei verschiedenen Aspekten betrachten und damit auf zwei verschiedene Qualitäten hin beurteilen: auf sein Vermögen der sprachlichen Darstellung und seinen Anspruch des Denkens. Genau dieser Unterschied begründet die kategoriale Differenz von Literatur und Philosophie. Freilich gibt es Texte, die nur einer der beiden Kategorien zugehören: Literatur, die keinem logisch disziplinierten und problemgeschichtlich informierten Denkanspruch genügt (davon gibt es sehr viel), und Philosophie, die auf das Ideal einer mathematischen Formelsprache abzielt (davon gibt es nicht so viel). Häufig aber hat man es mit Verbindungen beider Qualitäten zu tun. Beide haben ihre Tradition und damit ihre im historischen Prozess entwickelten und etablierten Normen, die heute durch zwei verschiedene Wissenschaften erforscht und gesichert werden. Und wie alle anderen Wissenschaften bilden auch Literaturwissenschaft und universitäre Philosophie keine getrennten Teile der Wirklichkeit ab, sondern bieten verschiedene Perspektiven auf das, was in der Wirklichkeit verbunden ist. Zum besseren Verständnis kommt es also auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit an: um zu sehen, welche Funktion sprachliche Darstellungsverfahren für das Denken, auch für das logisch disziplinierte und problemgeschichtlich informierte Denken haben. Wichtiger als die Grenzfrage, wo die Literatur aufhört und die Philosophie anfängt, ist also die Konkretisierung, wie das, was man als ›literarische‹, und das, was man als ›philosophische Qualität‹ eines Textes ansprechen kann, zusammenwirken. Die vier genannten Funktionen dienen dabei zur grundsätzlichen Orientierung. II. Literatur und Geschichtsschreibung »Was ist Geschichtsschreibung anderes als Literatur, als einer ihrer Zweige, mit anderen eng verbunden?«35 »Geschichtsschreibung ist Literatur.«36 _____________ 35
Mann: Geschichtsschreibung, S. 107.
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»Geschichte ist ein wahrer Roman.«37 So unumwunden, wie Golo Mann, Rudolf Vierhaus und Paul Veyne – sämtlich renommierte Historiker – es hier tun, wird die Geschichtsschreibung nur selten der Literatur zugeordnet. Seit auf der einen Seite die Geschichtsschreibung als wissenschaftliches Geschäft begriffen wird und es auf der anderen Seite den Begriff der Literatur gibt – also seit sprachkünstlerische Texte unter dem Begriff ›(schöne) Literatur‹ zusammengefasst und von anderen Diskursformationen abgegrenzt werden –,38 seitdem geht die allgemeine Tendenz auf wechselseitige Abgrenzung. Tatsachenbezug vs. Imaginationsfreiheit; Darstellung des Sozialen, Strukturellen, ›alle‹ Betreffenden vs. Individualisierung; Objektivität vs. Subjektivität und Wahrheit vs. Schönheit als regulative Ideen; begriffliche vs. metaphorische Sprache; externe Referenz vs. Selbstreferenz; Darstellung von Prozessualität in historischer Zeit vs. Sinnerzeugung durch Überkodierung – so lauten die üblichen Gegenüberstellungen zur Charakterisierung einerseits der Geschichtsschreibung, andererseits der Literatur.39 Begreift man sie nicht als Kriterien, die alle Texte erfüllen (müssen), die als historiographisch oder literarisch kommuniziert werden, sondern als Orientierungspunkte der Kommunikation zwischen Autoren, Distributoren, Lesern und Kritikern, so haben sie durchaus Gültigkeit, auch wenn eine strikte Grenzziehung nicht möglich ist, weil die Texte beider ›Seiten‹ sich immer wieder der Verfahren der anderen Seite bedienen. Die Unterscheidung, die mit den genannten Oppositionen verbunden ist, limitiert nicht streng. Doch hat sie eine unentbehrliche organisierende Funktion: Das Feld, auf dem Texte sich als historiographische oder literarische Texte positionieren, wird durch solche Oppositionen allererst aufgespannt. A. Trans- und Interferenzen zwischen Literatur und Historiographie Die Nachbarschaft von Historiographie und Literatur und die damit verbundenen Trans- und Interferenzen sind vor allem ein Thema der Diskussion und Reflexion über Historiographie, während sie für die Literaturtheorie kaum eine Rolle spielen. Die seit der antiken Rhetorik und z.T. bis in die aktuelle Geschichtstheorie gegebenen Begründungen für eine be_____________ 36 37 38 39
Vierhaus: Geschichte, S. 49. Veyne: Geschichtsschreibung, S. 10. Vgl. Weimar: Literatur. Vgl. Tschopp: Nation, S. 286-339. Der seltene Vorzug von Tschopps Studie liegt darin, dass sie detaillierte Textanalysen – und zwar sowohl von literarischen als auch von historiographischen Texten – mit einer systematischen Diskussion theoretischer Relationierungen bzw. Unterscheidungen beider Diskursformationen verbindet.
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sondere Nähe der Historiographie zur Literatur lassen sich zu vier Typen zusammenfassen: 1. Historiographie bedient sich sprachkünstlerischer Darstellungsverfahren, um die Aufnahmebereitschaft des Lesers zu steigern ›Aufnahmebereitschaft‹ meint hier sowohl das Interesse für den Gegenstand als auch die Offenheit des Lesers für dessen jeweilige Deutung durch den Geschichtsschreiber. Die Wirkung auf den Adressaten generell einzukalkulieren und sodann die sprachlichen Mittel zu ihrer Steuerung auszuwählen, lehrt traditionell die Rhetorik. Seit der Antike betreut sie Poesie und Geschichtsschreibung gleichermaßen; bis ins 18. Jahrhundert bildet sie für beide die maßgebliche Regelungs- und Reflexionsdisziplin, denn auch Poetiken und Historiken als diskursspezifische Anleitungstexte waren rhetorisch fundiert.40 Zwar unterscheidet die Rhetorik Poesie und Geschichtsschreibung z.B. hinsichtlich der empfohlenen Stilhöhe und dementsprechend des Einsatzes von Tropen und Figuren, doch sind dies Differenzierungen innerhalb eines Koordinatensystems. So kann Quintilian die Historiographie als »carmen solutum« (Prosagedicht) charakterisieren, um ihre Nähe zur Dichtung herauszustellen.41 Seitdem die Rhetorik im 18. Jahrhundert einen weitgehenden Geltungsverlust erlitt (mit der Folge weniger eines völligen Verschwindens rhetorischer Ordnungen denn ihrer Sedimentation in Interpretationsanleitungen, Historiken usw.), ist es erheblich schwieriger geworden, die sprachliche Attraktivität von Geschichtsschreibung mit Bezug auf literarische Vorbilder zu diskutieren. Als primär gelten nun nicht mehr die gemeinsamen Darstellungstechniken, sondern die eingangs referierten ›Wesensdifferenzen‹ mit dem Kern Wahrheits- vs. Schönheitsorientierung. Gleichwohl spielen literarische Qualitäten nach wie vor – und wieder verstärkt seit den 1980er Jahren – eine Rolle, wenn darüber diskutiert wird, wie die Geschichtswissenschaft die außerfachliche Öffentlichkeit erreichen kann.42 Mit Fiktion (mentalen Konstruktionen über das Empirische hinaus) oder Fiktionalität (der Enthebung der Literatur von der Verpflichtung zur Realitätsreferenz) hat das Bemühen um einen eingängigen Stil noch nichts zu tun. Im Dienst der Vermittlung von Geschichte können sich historio_____________ 40 41 42
Vgl. Keßler: Geschichtsschreibung; Harth: Geschichtsschreibung. Quintilian: Institutiones oratoriae 10,1,31: »Historia [...] est enim proxima poetis et quodam modo carmen solutum«. Vgl. Meier: Geschichtsschreibung.
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graphische Texte aber auch der Fiktion bedienen: wenn sie modellhafte Szenen entwerfen, die allenfalls in ihren ›Bausteinen‹ durch Quellen belegt sind. Deren Zweck ist einerseits die besonders eindrückliche, weil szenische, mit Figurenrede ausgestattete Darstellung von Entscheidungs- oder anderen Verdichtungssituationen. In der vormodernen Historiographie kommen solche Szenen immer wieder vor; als besonders ausgefeilte Passage sind manche davon klassisch geworden wie die Gefallenenrede in Thukydides’ Peloponnesischem Krieg (entstanden 431 bis nach 399 v. Chr.). Zweck kann andererseits die Modellierung des Typischen, Alltäglichen, deshalb aber schlecht Dokumentierten oder durch Dokumente immer nur partiell Erfassten sein; aus einer langen Reihe solcher Szenen bestehen Gustav Freytags Bilder aus der deutschen Vergangenheit (1859-1867). Heute gelten beide Verwendungen nur in popularisierenden Texten als zulässig; besonders im historischen Sachbuch für Kinder und Jugendliche sind sie verbreitet. In den Horizont der kritischen Öffentlichkeit treten Texte mit solchem Fiktionsgebrauch nur als Literatur. Ein vom Publikum, der Kritik und in der Wissenschaft gleichermaßen positiv aufgenommenes Beispiel stellt Dieter Kühns Parzival des Wolfram von Eschenbach (1986) dar; die umfangreiche Einführung bietet hier, neben ›normalhistoriographischen‹ Informationen und Erörterungen, modellhafte Szenen vom mittelalterlichen Leben auf einer Burg, in einer Handelsstadt usw. 2. Historiographie muss ihren Gegenstand erzählen Sie disponiert ihren Stoff durch die Benennung von Kontrahenten, die Ermittlung oder Unterstellung von Absichten sowie die Identifizierung von Widerständen bzw. Faktoren zu deren Überwindung. Dabei handelt es sich um eine Operation von grundlegender Bedeutung: Erst durch die Formierung von historischem Geschehen nach dem Muster des ›dramatischen Handlungsmodells‹ (Dietrich Harth)43 entstehen der Zusammenhang und die Entwicklungsrichtung, die der Kollektivsingular ›Geschichte‹ impliziert (›syntagmatische‹ Dimension). Weiterhin von einem ›ästhetischen Handlungsmodell‹ lässt sich sprechen, sofern die Akteure als Agenten allgemeinerer Tendenzen (Ideen, Klassenkonflikte, Strukturveränderungen usw.) begriffen werden; als ästhetisch gilt dabei die interpretative Bildung eines Zusammenhangs zwischen dem ›Vordergrund‹ von anschaulicher personaler Interaktion und dem ›Hintergrund‹ überpersönlicher, abstrakter Prozesse (›paradigmatische‹ Dimension). _____________ 43
Vgl. Harth: Biographie, S. 99-104.
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Das dramatische Handlungsmodell liegt bereits Praxis und Theorie der antiken Geschichtsschreibung zugrunde.44 Modern reformuliert wurde es unlängst in der narrativistischen Geschichtstheorie. Danach kommt der Ereigniszusammenhang, den der Begriff der Geschichte impliziert, historiographisch durch eine Konfiguration zum Ausdruck, wie sie Aristoteles’ Poetik für die dramatische Handlung beschreibt. Die »Zusammenfügung der Geschehnisse« wird dort als »der wichtigste Teil« der dichterischen Darstellung (Mimesis) ausgewiesen, denn nur eine geschlossene und folgerichtige, d.h. aus sich selbst heraus verständliche Handlung könne unabhängig von Realitätsreferenzen bestehen, weil sie in sich plausibel ist.45 Schon Aristoteles erkennt dieses Konfigurations- und Konstitutionsprinzip auch der epischen Dichtung zu (nicht jedoch der Geschichtsschreibung, weil sie ein Geschehen nicht nach dem Prinzip folgerichtigen Auseinanderhervorgehens modelliere, sondern schlicht ›alles‹ wiedergebe, was in einem bestimmten Zeitraum passiert sei).46 Umfassend wurde die narrative Struktur der Geschichtsschreibung seit den 1960er Jahren nachgewiesen, und zwar von unterschiedlichen wissenschaftskonzeptionellen Ansätzen aus, die argumentativ aber aufeinander aufbauen. Durchweg geht es dabei nicht um ›Erzählerisches‹ auf der discours-Ebene (plastische Charaktere, Absichten und Interaktionen im Zentrum, Anschaulichkeit des Settings), wie die historiographischen Klassiker von der Antike bis zum Historismus es bieten,47 sondern um eine narrative Tiefenstruktur, die Historiographie generell ausmacht, einschließlich der programmatisch post-narrativen Geschichtsforschung sozialwissenschaftlicher, strukturanalytischer oder ›kliometrischer‹ Orientierung (Fernand Braudel, Hans-Ulrich Wehler).48 Dass Geschichtsschreibung tiefenstrukturell und daher notwendig narrativ verfährt, hat zunächst die Analytische Philosophie herausgearbeitet. Hier wurde die Erzählung als eine für historische Prozesse besonders geeignete Form der Erklärung ausgewiesen:49 Während die Erklärung durch Gesetze bei historischen Prozessen nicht greift, weil diese extrem multifaktoriell bzw. ›kontingent‹ sind, ist der typischen Drei-Phasen-Struktur erzählter Geschichten eine immanente Erklärungsleistung eingeschrieben: Ein Ausgangszustand wird durch ein Ereignis verändert, das die nicht nur temporale, sondern auch qualitative Differenz zum Endzustand ausmacht. Die Erzählung ›erklärt‹ solche Zustandsänderungen, indem sie auf eine im _____________ 44 45 46 47 48 49
Vgl. Cicero: De oratore 2,15,63. Aristoteles: Poetik, Kap. 6 und 7, 1450a-b. Vgl. ebd., Kap. 23, 1459a15-30. So diskutiert Droysen die Erzählung als eine von vier möglichen Typen der Darstellung, vgl. Droysen: Historik, S. 229-249. Vgl. Rüth: Geschichte. Vgl. Danto: Geschichte.
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Erfahrungshorizont oder zumindest dem Vorstellungsvermögen von Erzähler und Rezipient plausible Weise aus Phase 1 in Phase 3 überleitet. Transzendentalphilosophisch wurde die Erzählung darüber hinaus als apriorisches Schema ausgewiesen, das allen Rekonstruktionen, ja Wahrnehmungen von Geschichte zugrunde liegt.50 Danach fungiert das Kohärenzschema der Erzählung im historischen Denken als Anschauungsform, die ›bloßes‹, amorphes Geschehen in strukturierte, durch Kontinuität und sinnvolle Entwicklung ausgezeichnete Geschichte transformiert. In einem prägnanten Sinne ist daher schon historisches Denken genuin und generell narrativ verfasst. Erzählen lässt sich auch etwas, was niemals geschehen ist. Für die Historiographie beginnt die Überschreitung ihrer normalen Erzählkompetenz, sobald sie Situationen und Verläufe darstellt, die sich nicht durch Quellen belegen lassen, während literarische Entwürfe von Geschichte erst durch Konterkarierung des bekannten Geschichtsverlaufs auffällig werden (z.B. durch einen deutschen Sieg im Zweiten Weltkrieg wie in Robert Harris: Fatherland, 1992, dt. Übers.: Vaterland, 1992).51 Um sich nicht dem Vorwurf illegitimen Fabulierens auszusetzen, müssen geschichtswissenschaftliche Texte solche Fiktionen zumindest typographisch auszeichnen (wie eine »Nachtphantasie« Wallensteins in dessen Biographie von Golo Mann von 1971) oder sie ausdrücklich als ›kontrafaktische Geschichtsschreibung‹ präsentieren.52 Ziel bleibt hier das bessere Verständnis des Tatsächlichen. 3. Geschichte zu schreiben, heißt immer, sie zu deuten, nicht zuletzt durch literaturanaloge Darstellungsverfahren Dass Geschichte erzählt werden muss, bezeichnet ihr Strukturprinzip auf allgemeinster Ebene. In den einzelnen Geschichtswerken wird es je besonders ausgestaltet. Wie Hayden White gezeigt hat, sind besonders die Klassiker der Historiographie nach den Handlungsverlaufsmustern literarischer Gattungen erzählt (bei White: Komödie, Tragödie, Romanze und Satire).53 Im Erzählen entsteht nicht nur Geschichte als solche, sondern erhält die jeweils erzählte Geschichte einen Plot (eine sinnhafte Handlungsverlaufsstruktur), der strukturell an die Geschichten-Typen literarischer Gattungen angelehnt ist. Aus den in einer bestimmten Kultur akzeptierten Geschichten-Typen ist dieser Plot prinzipiell frei wählbar; seine _____________ 50 51 52 53
Vgl. Baumgartner: Kontinuität. Vgl. Rodiek: Geschichtsdarstellung. Vgl. Demandt: Geschichte; Ferguson: Geschichte. Vgl. White: Metahistory.
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Wahl ist daher signifikant für die Deutung der jeweils dargestellten Geschichte wie der Geschichte allgemein (eben als Komödie usw.). Über den geschichtskonstitutiven Sinn der Folgerichtigkeit hinaus schafft die historiographische Erzählung einen Sinn, der sehr unterschiedlich ausfallen kann und daher auch einiges über die ideologischen Absichten des Historiographen besagt; so bezeugt die Komödienstruktur von Droysens Geschichte Alexanders des Großen (1833) mit ihrer Versöhnungsorientierung besonders hohe Sinnerwartungen an die Geschichte.54 Die Sinnzuweisung durch Emplotment stellt ein zentrales, aber nicht das einzige Moment der Mehrfachkodierung dar, die historiographische Werke ähnlich wie literarische betreiben. Mehrfachkodierung bedeutet, dass sprachlichen Zeichen außer ihrer konventionell bzw. im jeweiligen Kontext nächstliegenden Bedeutung weitere Bedeutungen zugewiesen werden, aufgrund von Metaphorizität, Isotopien, symbolischem Potential, Klangkorrespondenzen (Reimen), Wiederholungen von Satzteilstrukturen (Anaphern und anderen Figuren) usw. Techniken der Mehrfachkodierung werden auch in der Historiographie genutzt, etwa indem Faktisches (Geschehensdetails, Bauliches, aber auch Horoskope, Träume usw.) als Symbolisches dargestellt wird, dessen Bedeutung über die je konkrete Situation hinausweist,55 oder indem durch die Wiederholung von Motiven Korrespondenzstrukturen zwischen verschiedenen Phasen der Geschichte bzw. Teilen des Textes geschaffen werden.56 Das heißt zugleich, dass auch Geschichtswerke die Autoreferentialität aufweisen können, die häufig als Kennzeichen literarischer Texte angesehen wird. Für ihre Sinnbildung nutzen sie Selbstreferenzen ebenso wie Techniken der Mehrfachkodierung; ihre Sinnbildung _____________ 54 55
56
Vgl. White: Erzählung, S. 78f. So z.B. in Gerrit Walthers Studie über den Fuldaer Abt Balthasar von Bernbach, einer Habilitationsschrift (!): »Kurze Zeit später sahen sie [Balthasar und sein ›geringes Gefolge‹, D.F. / S.M.] die Würzburger kommen. In der Nähe von Langendorf [...] begegneten sich die beiden Gruppen auf freiem Feld. Auch der Bischof hatte nicht viel mehr als vierzig Reiter dabei. Doch welch ein Unterschied! Hier, auf der Seite des Abts, zwei schlichte alte Amtmänner, zwei unbedarfte junge Beamte, einige Knechte und ein paar adlige Verwandte. Dort hingegen die politische Elite des Hochstifts Würzburg.« (Walther: Balthasar, S. 460) So wird der erste Satz in Thomas Nipperdeys dreibändiger Deutscher Geschichte (»Am Anfang war Napoleon«) dadurch ironisiert, dass am Anfang des zweiten Bandes zu lesen steht, mit Bismarck »fing alles an« – und natürlich durch den intertextuellen Bezug auf das Johannesevangelium sowie Fausts Ringen mit der Formulierung des Anfangs (Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 11; Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, S. 9; Goethe: Faust I, Vv. 1224-1238). Was für sich genommen nach einer ›Geschichte großer Männer‹ klingt, erweist sich im – vom Leser zu bemerkenden, nicht explizierten – Kontext als Ausdruck der Relativität von Betrachtungsweisen und zumal von Anfangssetzungen.
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bleibt damit zumindest partiell implizit (neben der Explikation, die als notwendige Bedingung von Wissenschaftlichkeit gilt). 4. Imagination, Einbildungskraft, Konstruktion Was bisher über historiographische Texte gesagt wurde, lässt sich auch hinsichtlich ihres Produktionsprozesses und der dabei eingesetzten Geisteskräfte formulieren: Da Geschichtsschreibung sich nicht in der Sammlung und Zusammenstellung von Quellenzeugnissen erschöpft, kommt der Historiker nicht ohne Imagination aus. Die Tradition verweist dazu in der Regel auf die Einbildungskraft oder Phantasie, auf die Historiker wie Dichter angewiesen sind. Nach Wilhelm von Humboldt wird die vom Historiker dargestellte Geschichte »von der Einbildungskraft dergestalt aufs neue gebohren [...], dass sie, neben der buchstäblichen Uebereinstimmung mit der Natur, noch eine andre höhere Wahrheit in sich trägt«.57 Heute spricht man, um dasselbe auszudrücken, von der Konstruktivität, die der Geschichtserkenntnis nicht nur in einem allgemeinen wissenschaftstheoretischen Sinne eigen ist, sondern weil ›die Geschichte‹ immer wieder erschrieben werden muss (Humboldt spricht von der »Form der Geschichte überhaupt«, welche die »höhere Wahrheit« des jeweils dargestellten Geschichtsabschnitts bilde).58 Im Hinblick auf das Verhältnis der Historiographie zur Literatur ist die Konstruktivitätsdiagnose an sich neutral; sie verbindet sich aber häufig mit der Andeutung einer besonderen Nähe beider Diskursformationen, wenn das konstruktive Moment der Geschichtsschreibung als ›Fiktion‹ bezeichnet wird (s.u.). Tatsächlich bemühen sich gerade Historiker, die die Imagination gegen den Quellenpositivismus hochhalten, um einen literarischen Darstellungsstil (besonders weitgehend der aus dem George-Kreis stammende, gleichwohl akademisch erfolgreiche Ernst Kantorowicz mit seinem Kaiser Friedrich der Zweite von 1927). 5. Referentialität der Literatur, metahistoriographische Fiktion Der traditionsreichen und vielschichtigen Diskussion über literarische Anteile an der Geschichtsschreibung steht in umgekehrter Blickrichtung, also hinsichtlich der Geschichtlichkeit oder Geschichtsförmigkeit der Literatur, nichts Vergleichbares gegenüber. Eine gründliche Paralleluntersuchung beider Diskursformationen, die auch nach Historiographischem in der _____________ 57 58
Humboldt: Geschichtschreiber, S. 591. Ebd., S. 590f.
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Literatur fragt, hat allein der Philosoph Paul Ricœur unternommen. Ricœur zufolge sind Historiographie wie Literatur, um ihre spezifische Darstellungsleistung zu erbringen, auf die Verfahren des anderen angewiesen – sie ›überkreuzen‹ sich.59 Vom Rückgriff der Historiographie auf literarische Verfahren war bereits die Rede: Um im prägnanten Sinne ›Geschichte‹ zu schreiben, also um Vergangenheitsgeschehen in jener Kohärenz und Folgerichtigkeit darzustellen, den der Begriff der Geschichte behauptet, bedient sie sich unweigerlich des in der Literatur kultivierten Verfahrens narrativer Verknüpfung. Literatur wiederum erschaffe die imaginären Welten, die sie vorwiegend darstellt (nicht alle literarischen Texte sind fiktional), durch eine Als-ob-Referenz, die insofern an die faktizistische Referenz der Geschichtsschreibung angelehnt sei, als beide Referenzmodi allein über die Benennung von Figuren, Situationen, Handlungen usw. funktionieren.60 Auch wenn es das, worauf fiktionale Texte quasi referieren, nicht gibt oder jedenfalls nicht geben muss (die Verpflichtung auf Referentialisierbarkeit ist durch den Fiktionsvertrag zwischen Autor und Leser prinzipiell suspendiert), so heiße dies nicht, dass Literatur auf nichts referierte, sondern nur, dass alle Referenzgegenstände fiktiv sein können.61 Die Darstellungsleistung der Literatur verdankt sich demnach entweder – im selteneren Fall nicht-fiktionaler Texte – einer regelrecht historiographischen Referenz oder deren (nicht täuschender) Simulation. In der Gegenwartsliteratur scheinen sich übrigens die Texte zu häufen, die eine regelrecht historiographische Referentialität aufweisen (so dass wie im Fall der aktuell beliebten Familienbiographien von einer ›Literatur ohne Fiktion‹ gesprochen werden kann) oder mit dem entsprechenden Verdacht des Lesers spielen (für solche Texte, z.B. Erzählungen W. G. Sebalds, etabliert sich derzeit der Begriff ›Autofiktion‹). Je stärker die Literaturwissenschaft künftig auf diese speziellen Tendenzen eingeht, desto mehr literaturtheoretisches Gewicht wird vermutlich auch die quasi historiographische Referenz im Allgemeinen gewinnen. Einen weiteren – nicht konstitutiven, sondern reflexiven – Bezug von Literatur auf Historiographie hat die Literaturwissenschaft der letzten Jahre bereits vielfach herausgearbeitet: Literarische Texte entwerfen alternative Geschichtsverläufe (s.o.) oder -deutungen (z.B. eine feministische Universalgeschichte in Günter Grass: Der Butt, 1977), modellieren Konstellationen mit Reflexionspotential hinsichtlich der Erkenntnis- und Methodenprobleme der Geschichtserkenntnis (z.B. Dieter Kühn: N, 1970) oder problematisieren das Denkmuster ›Geschichte‹ und seine Sinnstiftung prinzipiell (z.B. _____________ 59 60 61
Vgl. Ricœur: Zeit. Bd. 3, S. 295. Vgl. ebd., S. 306; Ricœur: Zeit. Bd. 1, S. 122-129. Vgl. auch Martínez / Scheffel: Erzähltheorie, S. 14.
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Gustave Flaubert: Bouvard et Pécuchet, 1881), nicht zuletzt den konstituierenden Anteil der Imagination oder ›Fiktion‹.62 ›Historiographische Metafiktion‹ ist dafür der eingeführte Gattungsbegriff,63 wenngleich ›metahistoriographische Fiktion‹ treffender wäre, weil die Historiographie den Reflexionsgegenstand bildet. So zeichnet Brechts Romanfragment Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar (1938/1939) das Bild eines primär von ökonomischen Interessen getriebenen Politikers, indem u.a. mit den Tagebuchaufzeichnungen seines Sekretärs eine Quelle neuen Typs fingiert wird, um das durch den Gallischen Krieg sowie Theodor Mommsen verbreitete Caesarbild zu ›korrigieren‹. Der Literatur wird hier die Position eines Metadiskurses zugemessen. Wie bei der geschichtskonstitutiven Rolle der Erzählung stellt sie sich als dasjenige dar, das der Historiographie aufhilft. Plausibel ist dieser Anspruch häufig in formaler Hinsicht – wenn die Voraussetzungen, Praktiken und Wirkungen des Geschichteschreibens verhandelt werden, die dieses selbst in der Regel ausblendet –, selten jedoch in seiner inhaltlichen Füllung. Bessere Gründe als die Historiographie hat Literatur kaum je für ihre alternativen Konstruktionen von Geschichte aufzubieten. 6. Typologie Die als 1.-4. nummerierten Typen von Argumenten für eine besondere Nähe der Historiographie zur Literatur unterscheiden sich nicht nur darin, auf welche Dimension von Historiographie sie sich beziehen. Zugleich weisen sie deren literarischem Moment eine mehr oder weniger zentrale Position zu: Gilt das Literarische wie in 1. als Repertoire von sprachlichen Mitteln, welche die Vermittlung von historischem Wissen begünstigen, so bleibt es dem eigentlich Historischen äußerlich. In dieser Perspektive sind literarische Formen etwas sekundär Hinzukommendes, entsprechend der rhetorischen Unterscheidung von res und verba; die geläufige Metapher dafür ist ›Einkleidung‹.64 Wird, wie in 2., die Erzählung hingegen als das ausgewiesen, was einer Geschehensdarstellung Kohärenz, Problematizität und Erklärungskraft verleiht, so betrifft die Analogie zur Literatur den Kern von Historiographie. In dieser Perspektive hat die literarische Form eine konstituierende Bedeutung, und zwar nicht allein für das je einzelne Geschichtswerk, sondern darüber hinaus schon für das Denkmuster ›Geschichte‹. Ebenfalls als _____________ 62 63 64
Vgl. z.B. Deeds Ermarth: Sequel; auf breiter Materialgrundlage und zugleich stark systematisierend Nünning: Fiktion, Kimmich: Wirklichkeit. Ausgehend von Hutcheon: Postmodernism. Vgl. als einen Beleg für viele Gatterer: Vorrede, S. *2: »Die reine lautere Wahrheit halten wir für das Wesen der Geschichte: eine gute Einkleidung nur für eine nüzliche und wünschenswerte, aber doch an sich und wenn es seyn muß entbehrliche Zugabe.«
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unverzichtbar gilt in der unter 4. skizzierten Diskussion über den Schritt von der Quellenarbeit zur Geschichtsdarstellung der Einsatz der Einbildungskraft oder von ›Fiktionen‹. Zwischen beiden Sichtweisen steht die unter 3. zusammengefasste Diskussion über die interpretative Funktion des narrativen Emplotments und anderer Mehrfachkodierungen in der Historiographie. Hier geht es um die je nach Geschichtswerk unterschiedlichen Konfigurierungen von Geschichte und die Botschaften, die sich aus den jeweils eingesetzten Darstellungsmitteln ergeben; sie unterliegen der mehr oder weniger freien Wahl des Historikers, kommen aber nicht sekundär zu einer fertigen Geschichte hinzu, sondern haben formierende Wirkung.65 Zu der im ersten Teil dieses Aufsatzes entworfenen Typologie von Verbindungen zwischen Literatur und Philosophie weisen die angeführten Argumente für eine besondere Nähe von Geschichtsschreibung und Literatur starke Parallelen auf. Auf beiden Feldern werden literarische Darstellungsweisen 1. als hilfreich für die publikumswirksame Vermittlung von Wissen (historischem oder philosophischem) diskutiert und genutzt. Literarische Formen gelten 2. als Erkenntnisinstrumente: Das Handlungsmodell des Dramas und die Verknüpfungsstruktur der Erzählung dienen als Heuristiken zur historiographischen Konfiguration des amorphen Vergangenheitsgeschehens (wie die Quellen es bezeugen) zu einer folgerichtigen Geschichte, so wie der Metapher eine Erschließungs- und Verknüpfungskraft jenseits der begrifflichen Sprache zugemessen werden kann. Mit der narrativen Verknüpfung verbinden sich 3. spezifische Handlungs- und Gesellschaftsmodelle und womöglich Weltbilder, so wie mit der Wahl einer Gattungsform eine philosophische Positionsnahme einhergehen kann. Dies gilt schon für die prinzipielle Voraussetzung, dass Geschichte erzählförmig sei, und noch deutlicher für die Wahl dieses oder jenes Geschichten-Musters durch den Geschichtsschreiber. Überdies enthalten literarische Texte ein historiographie- oder philosophiekritisches Potential, wenn sie ihre eigene Funktionsweise (Imagination, Semantik der Form) als Verfahren auch der Historiographie oder Philosophie ausweisen und reflektieren (= 4. Typ im philosophischen Teil). Schließlich gilt für die Rolle literarischer Formen sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der Philosophie, dass sie als deren Akzidens oder Konstituens, als sekundär hinzukommend oder genuin dazugehörig angesehen werden, je nach Zuordnungsdimension. _____________ 65
Hayden White behandelte die narrative Geschichtsschreibung lange als eine Möglichkeit der Geschichtsschreibung neben anderen (Chronik, Strukturanalysen nach dem Muster der Annales). Erst ein 1989 erschienener Aufsatz spricht von einer geschichtskonstituierenden Funktion der Erzählung: »[W]here there is no narrative, there is no distinctively historical discourse« (White: Literary Theory, S. 21).
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B. Zur Grenze zwischen Literatur und Geschichtsschreibung Was folgt aus all diesen Interferenzen für die ›Grenze‹ zwischen Literatur und Geschichtsschreibung? Die in der Historiographie- und Erzählforschung gezogenen Schlüsse gehen z.T. diametral auseinander. Manche Autoren sehen die ›Grenze‹ zwischen Literatur und Geschichtsschreibung unterminiert, sei es dass sie davor warnen,66 sei es dass sie selbst in diese Richtung argumentieren. Auf der Gegenseite versucht man, textinterne Kriterien zu benennen, nach denen sich geschichtsdarstellende Erzähltexte in fiktionale und historiographische sortieren.67 Beide Extrempositionen – die der Grenzverwischung ebenso wie die der Grenzziehung – sind in wichtigen Punkten problematisch. Aus dem Befund, dass die Erzählung die genuine Form der Geschichte darstellt, wurde verschiedentlich gefolgert, dass eine so verstandene Historie von der Wissenschaft zur literarischen Gattung mutiere. In solchen Fällen wird übersehen, dass die Erzählung kein Spezifikum der Literatur darstellt, sondern einen schon lebensweltlich omnipräsenten Modus der Auffassung, Strukturierung, Deutung und Vermittlung von realen oder imaginierten Erfahrungen, von Wissen, Vorstellungen und Intentionen bildet. Sieht man wissenschaftliche Erkenntnis nicht auf die Aufstellung von und Ableitungen aus Gesetzen beschränkt, so kann die Verknüpfungs- und Repräsentationsleistung der Erzählung durchaus als wissenschaftsfähig gelten – wenn die Gewinnung von Geschichte in den Erzählungen der Historiographie methodisch reflektiert erfolgt.68 Beabsichtigt ist die Homogenisierung von Historiographie und Literatur dort, wo der Begriff ›Fiktion‹ undifferenziert verwandt wird. Hayden White charakterisiert die Geschichtsschreibung als »sprachliche Fiktionen, deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften«.69 White unterstellt der Historiographie zum einen fiktive Inhalte, da nicht alle ihre Aussagen schon in den Quellen stehen. Tatsächlich haben Kollektivsubjekte wie ›das Bürgertum‹ oder gar personifizierte Abstrakta wie ›die Moderne‹ keinen identifizierbaren Referenten. Zum anderen schließt White von der narrativen Form der Historiographie auf deren Zugehörigkeit zur diese Form kultivierenden fiktionalen Literatur. Gegen solche Argumente hat eine Fiktionstheorie Einspruch zu erheben, die kognitive oder methodische (einschließlich heuristischer) von literarischen Fiktionen unter_____________ 66 67 68 69
Vgl. Evans: Fakten. Vgl. Nünning: »Verbal Fictions«. Vgl. Chartier: Vergangenheit, S. 35f. White: Text, S. 102.
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scheidet, nämlich sowohl in deren Realitätsbezug als auch in deren Pragmatik: Macht die Historiographie Aussagen, die über das von Quellen Belegte hinausgehen (und sei es nur, indem sie das Abstraktionspotential der Sprache nutzt oder historischen Verläufen die Struktur erzählter Geschichten verleiht), so wird von ihr erwartet, dass sie damit an der Erkenntnis von vergangener Wirklichkeit arbeitet; sie hat aber nicht die Lizenz zum Spiel mit Referentialität, die die literarische Fiktion durch einen zwischen Autor und Leser abgeschlossenen ›Fiktionsvertrag‹ erhält. Im Sinne einer strikten ›Grenzziehung‹ werden häufig die durch die Fiktion gegebenen »Privilegien bei der Selektion und literarischen Vermittlung von Geschichte« betont.70 Ansgar Nünning rechnet dazu: die Möglichkeit uneingeschränkter Innenweltdarstellung; die Möglichkeit, fiktive Bestandteile (Figuren, Schauplätze, Geschehnisse) und solche mit Realitätsreferenz völlig frei zu kombinieren; intertextuelle Referenzen auch auf fiktionale statt lediglich auf andere wissenschaftliche Texte; eine metafiktionale Rückbezüglichkeit, die den Text als Fiktion ausstellt; die Unterschiedenheit von Autor und Erzähler (einer bei fiktionalen Texten stets fiktiven Instanz); ein breiteres Spektrum von Perspektivierungsmöglichkeiten, z.B. die interne Fokalisierung (das personale Erzählen), so dass das Wie der Vermittlung wichtiger werden kann als das Was des Erzählten; szenisches Erzählen mit ausgiebigen Dialogen, Semantisierung des Raumes. Nünning zufolge bestehen in diesen Punkten »nicht bloß graduelle Unterschiede«, vielmehr lassen sich Historiographie und fiktionale Geschichtserzählung anhand dieses Merkmals als »kategorial verschiedene Modi der Geschichtsdarstellung« ausweisen.71 Gegen eine prinzipielle Scheidung von literarischen und historiographischen Geschichtsdarstellungen, die sich in dieser Weise auf Textmerkmale bezieht, sind indes Einwände möglich. Einiges, was nach Nünning der Fiktion vorbehalten ist, findet sich, wie in den Abschnitten II.A.1.-3. erwähnt, auch in manchen Geschichtswerken und nicht allein in vormodernen oder außerwissenschaftlichen Texten: szenisches Erzählen mit Dialogen, erlebte Rede, Symbolisierungen.72 Für eine künftige Narratologie der Geschichtsschreibung (so etwas liegt trotz des Siegeszugs der narrativistischen Geschichtstheorie noch nicht vor) dürfte zudem wichtig sein, dass _____________ 70 71 72
Nünning: Fiktion, S. 173-199. Ebd., S. 173. Ähnlich die Tendenz bei Cohn: Fiktionalität. Eine weitere Schwäche von Nünnings Gegenüberstellung von Historiographie und Fiktion besteht in der unausgesprochenen Reduktion von literarischen Geschichtsdarstellungen auf fiktionale Texte. Ausgeblendet wird dadurch die für die gegenwärtige literarische Auseinandersetzung mit Geschichte charakteristische ›Literatur ohne Fiktion‹ wie Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders, 2003, Dieter Kühn: Schillers Schreibtisch in Buchenwald, 2005 usw.
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die Identifikation der historiographischen Erzählinstanz mit dem Autor keineswegs so sicher ist, wie es in der (spärlichen) Forschung dazu den Anschein hat.73 Zwar verweisen Ich-Aussagen in der historiographischen Erzählung stets auf den Historiker-Autor. Doch kann sich die Erzählinstanz sowohl zeitlich als auch ideologisch von der Position des Autors entfernen.74 Auf die historische Entwicklung literarischer Erzähltechniken bezogen, steht die Historiographie dem realistischen Roman des 19. Jahrhunderts am nächsten. Das gilt auch für die Historiographie der Gegenwart; die Experimente der literarischen Moderne (Fragmentierung, Achronie, Depersonation) hat sie nicht mitvollzogen – und kann dies wohl auch nicht, soll ihr auf narrative Folgerichtigkeit gegründetes Konzept von Geschichte nicht Schaden leiden. Die immer wieder erhobenen Forderungen nach Modernisierung der Geschichtsschreibung nach literarischem Vorbild lassen sich lediglich im experimentellen Einzelfall befriedigen (z.B. Richard Price: The Convict and the Colonel, 1998). Wo sie als generelle Maßgabe auftreten, ignorieren sie jene Grenze zwischen beiden Diskursformationen, die durch die Literaturgeschichte der letzten 100 Jahre gezogen wurde. Einen weiteren Ansatz zur prinzipiellen Unterscheidung von literarischen und historiographischen Texten bildet der Verweis auf die beiden distinkten Sozialsysteme, in denen Literatur und Historiographie seit etwa zwei Jahrhunderten produziert werden. Die rezeptive Zuordnung zum einen oder anderen System kann ganz ohne Bezug auf textinterne Merkmale erfolgen, nämlich schon aufgrund von paratextuellen Hinweisen (›Roman‹ als Gattungsbezeichnung, Informationen zum Autor) oder nach dem jeweiligen Distributions- oder Kommunikationsort (belletristische oder historische Abteilung in einer Buchhandlung, Zeitungsbesprechung in der Rubrik ›Literatur‹ oder ›Sachbücher‹, literaturwissenschaftliches oder historisches Seminar usw.). In den quantitativ bedeutsamen ›niederen‹ Marktsegmenten des populären oder jugendadressierten Geschichtsbuchs sowie der Trivialliteratur im historischen Gewand scheint die systemische Differenzierung allerdings weniger stark habitualisiert. So wird ein Roman wie Ken Folletts The Pillars of the Earth (1990, dt. Übers. Die Säulen der Erde, 1992) durchaus auch als Einführung in den mittelalterlichen Kathedralenbau gelesen. Auf avanciertem Rezeptionsniveau sind Grenzüberschreitungen gleichfalls mög_____________ 73 74
Bezeichnend ist die plakative Formel »A = N → faktuale Erzählung, A ≠ N → fiktionale Erzählung« bei Genette: Fiktion, S. 83. So erzählt der Protestant Ranke die Geschichte der Römischen Päpste (1834-1836) aus der Perspektive dieser geschichtlichen Macht, fällt zugleich jedoch Urteile von seinem konfessionellen Standpunkt aus. Die Rückversetzung in den Zeithorizont der historischen Akteure mit einer noch offenen Zukunft ist das Programm des Historikers und Geschichtstheoretikers Lucian Hölscher (Hölscher: Annalistik).
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lich, sie erfolgen hier aber reflektierter, etwa wenn ein historiographischer Text unter dem Gesichtspunkt seiner literarischen Qualität kommuniziert wird (wie die Römische Geschichte, für die Theodor Mommsen den Literaturnobelpreis des Jahres 1902 erhielt) oder vice versa (wie die attische Tragödie in Christian Meiers Buch über Die politische Kunst der Tragödie). Die Behandlung im ›anderen‹ System bedeutet meist nicht, dass der jeweilige Text in dieses System ›eingemeindet‹ würde; er gibt vielmehr Anlass, über die Kriterien für jene Grenzziehung nachzudenken, sie zur Anwendung zu bringen und dadurch immer wieder neu zu prozessieren. Die Grenze zwischen Literatur und Geschichtsschreibung wird mithin aus beiden Systemen heraus entworfen. Obgleich die meisten textinternen Kriterien nicht sicher sind, weil sich Gegenbeispiele finden lassen, haben sie ihre praktische Relevanz, also für den tatsächlichen Umgang mit literarischen oder historiographischen Texten. Einen Text beispielsweise mit Innenweltdarstellung ordnet man spontan der Literatur zu – mit dem guten Grund einer hohen Wahrscheinlichkeit –, wenngleich Innenweltdarstellung auch in der Historiographie vorkommt. Die Kommunikation über Literatur und Historiographie arbeitet mit einer an dominanten Merkmalen oder Funktionen bzw. an ›Normaltypen‹ orientierten Grenzziehung. Die theoretische Reflexion über den Verlauf dieser Grenze sollte sich hüten, deren Marksteine zu substantialisieren. Ebenso wenig empfiehlt es sich aber, ihre Orientierungsfunktion anzuzweifeln: Ohne eine Grenze ›in den Köpfen‹ der Autoren wie Leser gäbe es weder die sozialsystemische Differenzierung von Literatur und Geschichtswissenschaft, noch wären Grenzüberschreitungen möglich, sei es mit einem historiographischen Text (wie Golo Manns Wallenstein), sei es in der Theorie der Geschichtsschreibung (wie bei Hayden White). Die (Mit-)Zuständigkeit der Literaturwissenschaft für die Historiographie und ihre Analyse setzt nicht voraus, diese Textsorte als literarische Gattung oder als Fiktion zu vereinnahmen. Sie ergibt sich vielmehr daraus, dass sprachliche Strukturen, die in der Literatur besonders elaboriert werden, auch in anderen kulturellen Feldern auftreten und Funktionen haben. Hier kann die Literaturwissenschaft ihre im Umgang mit den meist komplexeren Texten der Literatur ausgebildete Analyse- und Modellbildungskompetenz interdisziplinär einbringen. Dabei kann sie ihre spezifische Kompetenz sowohl in den Dienst des fremddisziplinären Erkenntnisinteresses stellen (z.B.: Wie entsteht Geschichte aus narrativen Strukturen?) als auch ein Interesse des eigenen Fachs verfolgen (z.B.: Welche Ausstrahlung haben literarische Muster in andere kulturelle Bereiche?). In jedem Fall sollte sie beachten, welche unterschiedlichen Funktionen die aus der Literatur bekannten Strukturen ebendort und in anderen kulturellen Feldern haben können. Solche Strukturen auch außerhalb der Literatur zu identifi-
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zieren und beide Sphären zu unterscheiden sollten nur zwei Seiten derselben Medaille sein. Auf dem Gebiet einer anderen Disziplin zu arbeiten, heißt, so verstanden, nicht, die dabei überschrittenen Grenzen zu verwischen. III. Dreieckskonstellationen zwischen Philosophie, Literatur und Geschichtsschreibung Wo das Verhältnis der Literatur zu Philosophie oder Geschichtsschreibung zum Thema gemacht wird, ist zugleich die Frage nach der Erkenntnisleistung der Literatur oder ihrer Fähigkeit, ›Wahrheit‹ zu ermitteln oder zu vermitteln, gestellt. Antworten darauf werden nicht selten durch Vergleiche mit der Philosophie und zugleich der Geschichtsschreibung gegeben. Von Aristoteles bis ins späte 18. Jahrhundert wird die ›Wahrheit‹ der Literatur in der Regel näher an der philosophischen Wahrheit aus Prinzipienerkenntnis angesiedelt als an der historischen Wahrheit, die sich lediglich auf einzelnes und Besonderes beziehe (die Übertragung des poetischen Kohärenzprinzips auf die Geschichtsdarstellung, die den Kern der aktuell diskutierten Literaturförmigkeit der Historiographie bildet, steht hier also noch bevor). Denn die Dichtung stelle, so Aristoteles, das Wahrscheinliche oder sogar Notwendige dar und teile damit »mehr das Allgemeine« mit bzw. stehe, so Schiller, »unter dem strengen Gesetz der Naturwahrheit«.75 Philosophie und Geschichtsschreibung stellen mithin nicht bloß alternative Bezugspunkte oder Interferenz-›Partner‹ der Literatur dar. Vielmehr wurden und werden die drei Diskursformationen immer wieder als zusammengehörige (und in ihrer Trias vollständige) Fluchtpunkte aufgefasst, zwischen denen Erkenntnispotentiale zu bestimmen sind. In der Entstehungsphase der modernen Geschichtsschreibung um 1800 war die Orientierung an der Literatur nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil die Literatur als Darstellungsform mit doppelter Kompetenz galt: In einem konkreten Geschehen von hoher Anschaulichkeit vermag sie – quasi philosophisch – Prinzipien, Geistiges, Ideen hervortreten zu lassen. Diese Kombination von Konkretion und Idealität galt es lediglich, so das ausdrückliche Anliegen des jungen Ranke, von den fiktiven Geschichten der Literatur auf die Geschichte als das tatsächlich Gewesene zu übertragen.76 Die Geschichtsschreibung übernahm hier weitgehend das bisherige (Aristotelische) Kompetenzideal der Literatur, mit dem Unterschied ›nur‹ des _____________ 75 76
Vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 9, 1451b; Schiller: Kunst, S. 167; vgl. Schiller an Caroline von Beulwitz, 10./11.12.1788. Übergreifend Kayser: Wahrheit, Damerau: Wahrheit. Vgl. Fulda: Geschichtsschreibung, S. 310f.
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zusätzlichen Anspruchs auf empirische Gewissheit. Die Literatur wiederum begann sich zur selben Zeit von der legitimatorischen Anlehnung an die philosophische Erkenntnis des Allgemeinen abzusetzen, indem sie eine »innere Wahrheit« beanspruchte, »die aus der Konsequenz eines Kunstwerkes entspringt«.77 Die Geschichtstheorie im Gefolge des ›linguistic turn‹, die die zentrale Bedeutung von Erzählstrukturen für die Plausibilität von Geschichtsdarstellungen herausstellt, vollzieht im Grunde diese Wendung nach. Gelockert scheint der Bezug zur Philosophie, sobald die Literatur sich autonomisiert und die Geschichtsschreibung nicht mehr ›Ideen‹-Kämpfe und -Entwicklungen verfolgt. Wo die Philosophie ihre Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis zur Sprachreflexion ausgestaltet sowie das Systemdenken zugunsten der Betonung von Situativität und damit Irreduzibilität des Besonderen zurückstellt, sind ihre Interferenzen mit den beiden anderen Diskursformationen aber so lebhaft wie eh und je. Dementsprechend intensiv bezog sich die Literatur der klassischen Moderne auf Nietzsche und bezieht sich die zeitgenössische Literatur auf die philosophische Postmoderne. Auf deren programmatische Äußerungen stützt sich die Ansicht, damit gehe eine Vernichtung alles Faktischen, aller Geschichte in die Fiktion einher. Tatsächlich jedoch hat die Geschichte mit der Einsicht, dass sie immer wieder erschrieben werden muss, an Attraktivität sowohl für die philosophische wie auch für die literarische Beschäftigung mit ihr gewonnen. Literarische Essays zu historischen Themen sind dementsprechend zu einem kennzeichnenden Bestandteil der Gegenwartsliteratur geworden, z.T. auch mit ausgesprochen philosophischer Ausrichtung (z.B. Stephan Wackwitz: Neue Menschen, 2005). Literaturhistorisch gesehen lieferte die Philosophie weit häufiger als die Geschichtsschreibung die Kategorien zur Bestimmung von Leistung und Aufgaben der Literatur (›Wahrscheinlichkeit‹ in der vormodernen Dichtungsprogrammatik, Idealität als literarische Aufgabe von der Goethezeit bis einschließlich des ›Realismus‹, Sprach- und Wahrnehmungskritik in der klassischen Moderne usw.). Auf Geschichtsschreibung bezog sich Literatur vorwiegend zum Zweck der Abgrenzung. Aktuell freilich scheint das Überschreiten jener traditionellen Grenzziehung seinen eigenen, erheblichen Reiz auszuüben – auf die literaturtheoretisch fundierte Geschichtstheorie ebenso wie auf die Literatur selbst.
_____________ 77
Vgl. Goethe: Kunstwerke, S. 70.
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III. Fiktionalität und Literarizität
SIMONE WINKO
Einleitung
Kaum zu trennen von der Debatte über den Literaturbegriff im Allgemeinen ist die Diskussion über die spezifischen Qualitäten, die literarische Texte als solche auszeichnen und von anderen Texten abgrenzen. Eine aus der philosophischen Tradition stammende Richtung dieser Debatte sieht eine solche Qualität in der Dimension des Ästhetischen liegen. Mit ihr wird Literatur eine den bloßen Text transzendierende Eigenschaft zugeschrieben, für die es unterschiedliche Beschreibungen gibt.1 Oftmals wird diese ästhetische Qualität mit Bezug auf Funktionen bestimmt, die Literatur übernimmt und die erst ihr Spezifikum ausmachen. Solche spezifische Leistung kann in einer besonderen Weise der »Weltaneignung« gesehen werden2 oder in einer eigenständigen Art der Vermittlung von Subjektivität.3 Neben dieser ästhetische Funktionen anführenden Richtung gibt es Ansätze, die die ästhetische Qualität der Literatur in einer besonderen Sprachverwendung sehen. Zusammen mit den Fiktionalitätstheorien bilden sie die Positionen, die nach den intrinsischen Qualitäten von Literatur fragen. Dabei ist es in neueren Arbeiten durchaus umstritten, ob das entscheidende Moment tatsächlich in manifesten Merkmalen oder nicht vielmehr in spezifischen Praktiken des Umgangs mit diesen Texten liegt. Am weitaus lebhaftesten wird seit den 1970er Jahren die Fiktionalität diskutiert. Dies hängt sicher auch damit zusammen, dass das Spektrum der Probleme, die mit dem fiktionalen Status vieler literarischer Texte verbunden sind, besonders breit ist. Es umfasst die ehrwürdige Frage nach der ›Wahrheit‹ der Literatur, verstanden als oft genieästhetisch begründeter privilegierter Zugang zu einer höheren Einsicht in die conditio humana oder als semantiktheoretische Überprüfung der Rede vom Wahrheitsanspruch der _____________ 1 2 3
Vgl. Zima: Ästhetik, z.B. S. 1-14. Jahraus: Literaturtheorie, S. 115ff. Siehe dazu den Beitrag von Christoph Reinfandt in diesem Band.
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Literatur;4 anthropologisch orientierte Fragen wie die nach der Leistung, die das ›Grundbedürfnis‹ des Fingierens für die menschliche Natur erbringt;5 Probleme der Klassifikation unterschiedlicher Sprachakttypen sowie der pragmatischen Rekonstruktion von Kommunikationsformen in spezifischen Situationen und anderes mehr. Die Fiktionalitätsdebatte ist daher außerordentlich weit verzweigt und in sich differenziert. Außer der Literaturwissenschaft beteiligt sich bekanntlich vor allem die Philosophie an dieser Debatte, zudem die Psychologie in verschiedenen Spielarten, und in neuester Zeit kommt ein Erklärungsvorschlag aus der Evolutionsbiologie. In der sprachlichen Form der literarischen Texte bzw. ihrer Rezeption sehen dagegen Ansätze das spezifisch Literarische liegen, die sich vor allem an linguistischen Arbeiten orientieren. Obwohl der Versuch, Literatur über ihre sprachliche Beschaffenheit eindeutig von Nicht-Literatur abzugrenzen, als gescheitert gelten kann, nehmen doch neuere Studien, die nach multifaktoriellen Kriterien suchen, wieder Bezug auf dieses Merkmal der Literarizität.6 Der Breite der Fiktionalitätsdebatte entsprechend, befassen sich fünf Beiträge dieses Bandes mit eben diesem Problem. Jan Gertken und Tilmann Köppe entwerfen das Projekt der künftigen Bestimmung eines Fiktionalitätsbegriffs, der die in der literaturwissenschaftlichen Praxis vorzufindende Unterscheidung zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten abbildet und für paradigmatische Fälle klare Abgrenzungen bieten kann. Zu diesem Zweck rekonstruieren sie eine Reihe traditioneller und neuerer Fiktionalitätskonzeptionen und konzentrieren sich dabei auf die in der deutschsprachigen Diskussion zu wenig beachteten Ansätze der angelsächsischen ›analytischen Ästhetik‹. Es geht ihnen um keinen lückenlosen Überblick über die Positionen, vielmehr werden diese danach ausgewählt, ob sie einen hinreichend klaren und systematisch ergiebigen Beitrag zur Entwicklung eines leistungsfähigen Fiktionalitätsbegriffs darstellen. Die Autoren unterscheiden die Positionen nach vier systematischen Kategorien und wägen ihre Vor- und Nachteile genau ab. Sie schlagen eine ›provisorisch‹ genannte nicht-triviale, intentionalistische Bestimmung von ›Fiktionalität‹ vor und skizzieren Ansatzpunkte für weiterführende Überlegungen in Richtung auf den anvisierten Fiktionalitätsbegriff. Karl Eibl fasst dagegen Fiktionalität als anthropologisch begründete ›Basis-Disposition‹ auf und erklärt sie mit Bezug auf evolutionspsychologische Erkenntnisse. Es geht ihm damit nicht um das philosophische Problem der Wahrheitsfähigkeit fiktionaler Aussagen, und entsprechend fragt er nicht nach der Begründung von Wahrheit, sondern nach den Ursachen für Plau_____________ 4 5 6
Gabriel: Fiktion, bes. S. 86-96. Iser: Das Fiktive, S. 14 u.ö. Z.B. Miall / Kuiken: Literariness.
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sibilität und interessiert sich dafür, warum etwas für wahr gehalten wird. Aus instrumentalistischer und evolutionsbiologisch informierter Sicht entsprechen der Korrespondenz-, Kohärenz- und Konsenstheorie der Wahrheit Bündel von Motiven, aus denen Menschen Aussagen für wahr halten. Eibl plädiert für einen evolutionspsychologischen Fiktionsbegriff, für den er das Konzept der Metainformation nutzbar macht: Fiktionalität als Modus der Rede, der das Verhältnis von ›Rede und Sache‹ bestimmt, wird anhand dreier evolutionär erworbener Dispositionen des Menschen erklärt: seine Fähigkeit, Informationen durch Metainformationen, die etwas über den Status der Informationen aussagen, zu relativieren (z.B. ›Dies ist ein Spiel‹); seine Kompetenz, Informationen narrativ zu organisieren; und das Moment der ›intrinsischen Belohnung‹ für Aktivitäten, die im Organisationsmodus erprobt werden. Die folgenden zwei Beiträge problematisieren die angenommenen Grenzen zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Sprechen bzw. den entsprechenden Rezeptionsmodi von sehr unterschiedlichen Positionen aus. Mit dem Thema der Autofiktion behandelt Frank Zipfel ein Phänomen, das in mehrfacher Hinsicht Probleme der Grenzziehung mit sich bringt. Zipfel fasst Autofiktionen als Verbindung von ›referentieller Praxis‹ und ›Fiktions-Praxis‹ auf, mithin als Verbindung zweier einander ausschließender Praktiken. Autofiktionale Texte, in denen diese beiden Praktiken in verschiedenen Mischungsverhältnissen eingesetzt werden, werfen Fragen von unterschiedlicher Reichweite auf: die Frage nach der Grenze zwischen Literatur und Nicht-Literatur, nach dem Verhältnis von fiktionalem und faktualem Erzählen und nach der Bestimmung der Gattung ›Autobiographie‹. Zipfel erläutert die Probleme mit Bezug auf verschiedene autofiktionale Texte und setzt sich vor allem mit drei unterschiedlichen Konzeptionen auseinander, die Autofiktionen als besondere Art autobiographischen Schreibens, als spezifische Form fiktionalen Erzählens oder als Verbindung von autobiographischem Pakt und Fiktions-Pakt bestimmen. In der Fiktionalitätsforschung ist des Öfteren problematisiert worden, wie fiktionale Texte überhaupt auf ihre Leser wirken oder sie beeinflussen können. Margrit Schreier nimmt diese Frage auf und beantwortet sie aus der Sicht und mit den Methoden empirischer Leserforschung auf eine unerwartete Weise. Dabei konzentriert sie sich auf ein Phänomen, das angesichts von Bestimmungen fiktionaler Rede als ›nicht-behauptende Rede‹ oder als Rede ohne Wahrheitsanspruch besonders überraschend ist: auf die Übernahme fiktiv vermittelter Informationen ins Überzeugungssystem der Leser. Auf der Basis eines funktionalen Literaturbegriffs skizziert Schreier zunächst ein pragmatisches Konzept von Fiktionalität und stellt dann mehrere empirische Studien vor, die nach dem von fiktionalen Texten verursachten Wandel im Überzeugungssystem von Lesern fragen. Diese Studien stützen
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mit unterschiedlichen Fragestellungen und Versuchsanordnungen die Annahme, dass fiktional vermittelte Informationen nicht gesondert gespeichert, sondern gemeinsam mit anderen Informationen über die Welt verarbeitet werden. Auch wenn sie mit den Konventionen fiktionalen Sprechens bestens vertraut sind, rezipieren Leser fiktionale Texte in der Weise, dass die Überzeugungen, die sie haben, durch diese Texte verstärkt werden und dass ihre Überzeugungen sogar verändert bzw. in eine neue Richtung gelenkt werden können. Fiktionale Texte dienen demnach als eine Quelle, aus der Leser ihr Wissen über die Welt gewinnen. Im Unterschied zu den vorangegangenen Beiträgern nimmt Hans-Edwin Friedrich eine historische Perspektive und damit eine Sichtweise ein, die in der von theoretischen Überlegungen dominierten Fiktionalitätsdebatte zu kurz kommt. Er untersucht Auffassungen von Fiktionalität im 18. Jahrhundert. Den in der Forschung bereits konstatierten Wandel des Fiktionalitätskonzepts in dieser Zeit beschreibt und erklärt Friedrich abweichend: Es handelt sich um keinen ›Durchbruch‹ zu einem modernen Fiktionalitätsbegriff, sondern um die Reflexion und Veränderung eines bereits vorher vorhandenen Konzepts. Diese Veränderung wird im Zuge der Autonomisierung des Kunstbereichs erforderlich und ist als Steigerung oder ›Duplizität‹ beschreibbar. Anhand dreier Beispiele, Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg, Christoph Martin Wielands Geschichte des Don Sylvio von Rosalva und Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, erläutert Friedrich seine These. Die poetologischen Positionen dieser Romane, ihre Reflexionen über das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion und die Aufgabe der Dichtung lassen sich, bei aller Unterschiedlichkeit, in eine gemeinsame Traditionslinie der Entwicklung des Fiktionalitätskonzepts unter den Bedingungen des autonomen Teilsystems ›Kunst‹ bzw. ›Literatur‹ stellen. Der letzte Beitrag dieser Sektion schließlich konzentriert sich auf ein anderes Merkmal, das traditionellerweise zur Abgrenzung der Literatur von Nicht-Literatur angeführt wird und das unter den nicht trennscharfen Bezeichnungen ›Literarizität‹ und ›Poetizität‹ auf unterschiedliche Weise verhandelt worden ist. Simone Winko gibt einen knappen Überblick über verschiedene Positionen, die in dieser Debatte seit Jakobson bis heute vertreten worden sind. Das Spektrum der Positionen reicht von textuell orientierten Ansätzen, die sprachlich manifeste Besonderheiten literarischer Texte anführen, bis zu Ansätzen, die die Literarizität als einen speziellen Modus der Verarbeitung von Texten bestimmen. Es zeigt sich, dass die Suche nach einem einheitlichen Kriterium zur Bestimmung des Literaturbegriffs noch immer einige Attraktivität besitzt, dass aber das Bemühen um trennscharfe Abgrenzungen unerwünschte Ausschlüsse nach sich gezogen hat: Untersuchungen der tatsächlichen sprachlichen Beschaffenheit literarischer Texte unterblieben weitgehend. Winko plädiert dafür, diese
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sprachlichen Merkmale und ihre Verteilung in literarischen Texten verschiedener Epochen zu erforschen und zu diesem Zweck in einer sprach- und literaturwissenschaftlichen Kooperation große Korpora auszuwerten. Bibliographie Gabriel, Gottfried: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Stuttgart 1977. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/M. 1991. Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. Tübingen, Basel 2004. Miall, David S. / Don Kuiken: What Is Literariness? Three Components of Literary Reading: In: Discourse Processes 28 (1999), S. 121-138. Zima, Peter V.: Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft [1991]. 2., überarb. Aufl. Tübingen, Basel 1995.
JAN GERTKEN / TILMANN KÖPPE
Fiktionalität
1. Einleitung Zu den Grundproblemen der literaturwissenschaftlichen Fiktionalitätstheorie gehört die Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs. Bevor man beispielsweise nach dem Zusammenhang von Fiktionalität und Literarizität, nach den Ursprüngen und historischen Ausprägungen fiktionaler Literatur oder nach ihren Effekten und Funktionen fragen kann, muss man sich verständlich gemacht haben, was mit ›fiktionale Literatur‹ überhaupt gemeint ist. In diesem Aufsatz möchten wir den Weg zu einer befriedigenden Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs ebnen. Zu diesem Zweck werden wir eine Auswahl vorliegender Antworten auf die Frage ›Was sind fiktionale Texte?‹ diskutieren. Unsere Auswahl ist einem systematischen Interesse geschuldet und verdankt sich im Wesentlichen drei Gesichtspunkten: Erstens möchten wir möglichst unterschiedliche Ansätze präsentieren und diskutieren; die Unterscheidungskriterien gehen aus der in Abschnitt 2. vorgeschlagenen Systematisierung hervor. Zweitens konzentrieren wir uns auf Ansätze, die einen expliziten sowie unserer Meinung nach hinreichend klaren und systematisch bedeutsamen Beitrag zur Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs leisten.1 Drittens präsentieren wir (insbesondere in den Abschnitten 2.3 bis 2.5) Ansätze, die sich mit Blick auf den von uns favorisierten Bestimmungsvorschlag als fruchtbar erweisen. Diese Ansätze stammen vornehmlich aus dem Diskussionszusammenhang der angelsächsischen ›analytischen‹ Ästhetik.2 Wir glauben, dass diese Ansätze (im deutschen Sprachraum) noch immer nicht ausreichend gewürdigt und _____________ 1 2
Zu den Ansätzen, die wir nicht berücksichtigen können, gehören beispielsweise die Arbeiten von Wolfgang Iser; vgl. z.B. Iser: Akte; Iser: Das Fiktive. Zu den Anliegen und Verfahrensweisen der zeitgenössischen analytischen Philosophie vgl. Bieri: Philosophie.
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popularisiert sind und möchten versuchen, einen Beitrag eben dazu zu leisten. Dieser Beitrag versteht sich also weder als umfassender Forschungsbericht noch handelt es sich um den Versuch einer möglichst umfassenden und detaillierten Präsentation der ausgewählten Ansätze. Wir betonen vielmehr einerseits die unserer Ansicht nach richtigen und zentralen Einsichten, die von diesen Ansätzen herausgearbeitet wurden, und formulieren andererseits eher grundsätzliche Kritik.3 Am Ende unserer Diskussion werden Hinweise darauf stehen, in welche Richtung eine erfolgversprechende Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs gehen sollte und welche Fragen dabei zu beantworten sind. Zum Verfahren der Begriffsbestimmung ›Fiktionalität‹ ist ein theoretischer Term der Literaturwissenschaft und (im Unterschied zu den Ausdrücken ›fiktiv‹ und ›Fiktion‹) gemeinsprachlich kaum etabliert. Zudem divergieren die Vorstellungen über die Konturen einer angemessenen Begriffsbestimmung im Einzelnen nicht unerheblich. Wie sollte in dieser Situation eine Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs überhaupt möglich sein? Man könnte meinen, dass jedem Explikationsvorschlag ein willkürlicher Zug anhaften müsse und dass kein Vorschlag allgemeine Gültigkeit beanspruchen könne. Wir halten dieses Problem nicht für unlösbar, denn es scheint sowohl im Alltag als auch in der Literaturwissenschaft eine weithin geteilte Praxis der Unterscheidung verschiedener Texttypen zu geben. Dies ist so zu verstehen, dass sich der Umgang mit den fraglichen Texten durch Besonderheiten auszeichnet, wobei mit »Umgang« hier textbezogene Reaktionen, Überzeugungen, Verhaltensweisen, Dispositionen etc. – nicht jedoch eine bereits einheitliche begriffliche Unterscheidung bzw. Einordnung – gemeint sind. Anders gesagt: Wir gehen davon aus, dass es bei aller Vielfalt und Uneinheitlichkeit im terminologischen Bereich eine erkennbare Unterscheidungspraxis gibt, die sich in unserem Verhalten manifestiert und darauf hinweist, dass es tatsächlich verschiedene Texttypen gibt. Die Einführung der literaturwissenschaftlichen Ausdrücke ›fiktional‹ und ›faktual‹ lässt sich nach unserem Verständnis als der Versuch verstehen, die
_____________ 3
Ein vergleichbares Anliegen verfolgen in jüngerer Zeit die Beiträge von Nickel-Bacon / Groeben / Schreier: Fiktionssignale, Rühling: Fiktionalität, Zipfel: Fiktion, und Zipfel: Fiktivität, die in ihren Ergebnissen von unseren jedoch z.T. erheblich abweichen.
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vorhandene Unterscheidungspraxis auch begrifflich abzubilden bzw. hieran zumindest anzuschließen.4 Wir können an dieser Stelle nicht ex ante sagen, worin genau der behauptete Unterschied des Umgangs mit Texten des jeweiligen Typs besteht, da dies zentrale Ergebnisse der Untersuchung vorweg nehmen würde. Es sollte aber unstrittig sein, dass im Zusammenhang mit Romanen der Harry Potter-Serie oder Shakespeares Hamlet grundlegend andere Umgangsweisen verbreitet sind (und für angemessen gehalten werden), als dies z.B. bei Dissertationen, Artikeln der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder Willy Brandts Autobiographie der Fall ist. Erstere Texte sind paradigmatische Fälle fiktionaler Texte, letztere faktualer Texte.5 Eine Analyse des Fiktionalitätsbegriffs sollte die besagte etablierte Unterscheidungspraxis innerhalb und außerhalb der Literaturwissenschaft so gut wie möglich abbilden und verständlich machen. Wir werden zunächst nach einer Analyse suchen, die so etwas wie den Kernbereich des Begriffs erfasst und die Klassifikation paradigmatischer Fälle fiktionaler literarischer Werke verständlich macht. Auf problematische Fälle, in denen eine Entscheidung, ob ein Text fiktional ist oder nicht, schwer fällt oder unmöglich zu sein scheint, kommen wir im letzten Teil des Textes zurück. Eine Begriffsbestimmung, die den Kernbereich fiktionaler Texte gut erfasst, kann verständlich machen, wie derartige Fälle an der Peripherie einzuschätzen sind. Damit die Analyse unsere Unterscheidungspraxis verständlich machen kann, soll aus ihr hervorgehen, was alle – genauer: alle paradigmatischen – fiktionalen Texte und nur diese auszeichnet;6 sie soll also notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen dafür spezifizieren, dass ein Text fiktional ist. Bevor wir im nächsten Abschnitt die von uns vorgenommene Auswahl theoretischer Ansätze erläutern, möchten wir eine terminologische Festlegung treffen. Während Fiktionalität eine bestimmte, noch zu explizierende Eigenschaft von Texten ist (also mit ›fiktional‹ Texten eine bestimmte Eigenschaft zugeschrieben wird), wird ›fiktiv‹ im Zusammenhang mit der _____________ 4 5
6
Wer literaturwissenschaftliche Bestimmungen des Fiktionalitätsbegriffs nicht derart versteht, wird Definitionen des Fiktionalitätsbegriffs für stipulativ halten; vgl. zu diesen Unterschieden Pawłowski: Begriffsbildung, S. 18ff. Anderer Meinung scheinen die so genannten ›Panfiktionalisten‹ zu sein, die letztlich alle Texte für (mehr oder weniger) fiktional halten. Mit den Problemen dieser Auffassung setzten wir uns hier nicht auseinander, da sie unserer Ansicht nach auf einer unplausiblen Überstrapazierung des Fiktionalitätsbegriffs basiert (für eine detaillierte Kritik vgl. Carroll: Interpretation; Blume: Fiktion, S. 12-16). Den Zusatz, dass unsere Analyse paradigmatische Fälle fiktionaler Texte abdecken soll, lassen wir fortan der Kürze halber weg.
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Redeweise über das, was in solchen Texten dargestellt wird, verwendet. (Der Ausdruck ›fiktiv‹ betrifft also, narratologisch gesprochen, die Ebene der Geschichte.) Zur Illustration: Der Roman Der Untertan von Heinrich Mann ist ein fiktionaler Text, die Person Diederich Heßling ist eine fiktive Person.7 2. Auswahl und Klassifikation theoretischer Ansätze Bestimmungen des Fiktionalitätsbegriffs kann man nach unterschiedlichen Gesichtspunkten sortieren und einander gegenüberstellen. Als Klassifikationskriterium kann die Frage dienen, welchem Bestandteil der so genannten literarischen Kommunikation die größte Bedeutung zugemessen wird. Orientiert an diesem Kriterium schlägt Frank Zipfel vor, die Ebenen der Textproduktion, Textrezeption, Textstruktur und des Sprachhandlungszusammenhangs – und entsprechend vier Typen von Bestimmungsansätzen – zu unterscheiden.8 Dieser Klassifikationsvorschlag wird hier mit folgenden Abwandlungen übernommen: Als vierte Kategorie verwenden wir anstelle von Zipfels ›Sprachhandlungszusammenhang‹ die weiter gefasste Kategorie ›Text und Welt‹, zugleich wird die Kategorie der ›Textstruktur‹ von uns enger gefasst. Der Grund ist folgender: Zipfel behandelt unter dem Stichwort ›Textstruktur‹ auch Ansätze, die sich mit der Fiktivität der Geschichte und der Frage nach der Existenz fiktiver Entitäten auseinandersetzen.9 Derartige Fragen, die u.a. das Problem der Referenz von Ausdrücken in fiktionalen Texten betreffen, lassen sich nur schwer der Textstruktur zuordnen; sie betreffen vielmehr das Verhältnis zwischen einem Text als linguistischer Entität und einem außertextlichen Zusammenhang. Die Kategorie ›Textstruktur‹ wird von uns daher in einem engeren Sinn verstanden und umfasst nur diejenigen Aspekte, die, erzähltheoretisch ausgedrückt, die Ebene der Erzählung betreffen – wir sprechen nachstehend von ›textimmanenten Ansätzen‹. Semantische und ontologische Fragen erfordern eine eigene Kategorie, die wir ›Text und Welt‹ nennen. In dieser Kategorie, mit der wir unsere Diskussion der Ansätze beginnen, sollen all jene Ansätze berücksichtigt werden, die sich primär mit textexternen Faktoren _____________ 7
8 9
Vgl. u.a. Martínez / Scheffel: Einführung, S. 13; Gabriel: Fiktion, S. 594. Diese Unterscheidungen sollen noch keine substantiellen inhaltlichen Annahmen transportieren. Außerdem soll nicht verschwiegen werden, dass hinsichtlich der Unterscheidungen in der Literaturwissenschaft keineswegs Einheitlichkeit herrscht (vgl. Zipfel: Fiktion, S. 25f.). Vgl. Zipfel: Fiktion, S. 26f. Vgl. ebd., S. 29-34.
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auseinandersetzen, aber nicht den Kategorien ›Produktion‹ und ›Rezeption‹ zugewiesen werden können.10 2.1 Text und Welt Fiktionalität, Wahrheit und Referenz Bei zahlreichen fiktionalen Texten ist es nicht möglich, Elemente der Realität ausfindig zu machen, die dem im Text Dargestellten entsprechen: Weder Kater Murr noch Kapellmeister Kreisler, von denen E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr erzählen, gibt es in (der) Wirklichkeit. Ein nahe liegender Gedanke besteht darin, eben dies zum Ausgangspunkt einer Unterscheidung von fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten zu machen: (F1) Fiktionale Texte stellen nicht dar, was der Fall ist bzw. was sich wirklich zugetragen hat.11 Zunächst ist festzustellen, dass ein Text auf mindestens zweierlei Weise nicht beschreiben kann, was wirklich vorgefallen bzw. wirklich der Fall ist. Zum einen kann er sich – mittels erfolgreich bezeichnender Ausdrücke – auf wirkliche Gegenstände und Ereignisse beziehen, dabei aber etwas aussagen, das nicht zutreffend (d.h. falsch) ist. Zum anderen können in ihm Ausdrücke vorkommen, die noch nicht einmal etwas bezeichnen. Im ersten Fall würde die These darauf hinauslaufen, dass fiktionale Texte falsche Aussagen machen, im zweiten darauf, dass sie – je nach semantischer Analyse von Sätzen mit nicht-bezeichnenden Ausdrücken – Aussagen machen, die entweder falsch oder aber ohne Wahrheitswert sind.12 Es lassen sich daher zwei Lesarten von (F1) unterscheiden: (F1*) T ist genau dann fiktional, wenn er falsche Aussagen macht. (F1**) T ist genau dann fiktional, wenn er nicht-bezeichnende Ausdrücke enthält. _____________ 10
11 12
Die Kategorie ›Sprachhandlungszusammenhang‹ lösen wir auf und weisen die hier zugeordneten Fragen den Kategorien ›Produktion‹ und ›Rezeption‹ zu. Zipfel diskutiert unter der Überschrift »Sprachhandlungszusammenhang« v.a. Probleme der unserem Umgang mit fiktionalen Texten zugrunde liegenden Regeln und Konventionen (vgl. ebd., S. 46-49). Da diese Probleme für ein adäquates Verständnis von Textproduktion und Textrezeption unentbehrlich sind, sollten sie auch den entsprechenden Kategorien zugewiesen werden. Nota bene: Fiktionale Texte werden hier zwar rein negativ abgegrenzt, jedoch wird angegeben, worin der Unterschied zu faktualen Texten besteht. Zu den besagten semantischen Analysen vgl. Lamarque / Olsen: Truth, S. 53-60.
Fiktionalität
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So formuliert, krankt der Ansatz jedoch daran, dass ein Text (T) bereits dann die in (F1*) bzw. (F1**) angegebenen Bedingungen erfüllt, wenn er lediglich einen falschen Satz oder einen nicht-bezeichnenden Ausdruck enthält. Die in (F1*) bzw. (F1**) genannten Bedingungen müssten daher dahingehend verstanden werden, dass hinreichend viele der Aussagen des Textes – oder eine funktional bestimmte Teilmenge, etwa die Aussagen, welche die Handlung des Textes beschreiben – falsch sind oder nicht-bezeichnende Ausdrücke enthalten. Auch diese Modifikation kann den Ansatz gleichwohl nicht retten. Die angegebenen Bedingungen sind nämlich in keinem Fall hinreichend,13 da auch faktuale Texte sowohl überwiegend falsche Aussagen über reale Objekte und Ereignisse machen als auch (aufgrund falscher Existenzannahmen) keinerlei Aussagen über reale Gegenstände beinhalten können. Dies gilt nicht nur für nicht-narrative wissenschaftliche Texte (z.B. solche, die den Planeten Vulkan oder die Beschaffenheit des Äthers beschreiben), sondern auch für eindeutig narrative Texte. Sollten z.B. zukünftige historisch-philologische Studien den Schluss nahe legen, dass es nie einen griechischen Philosophen namens Platon gegeben hat, so würden Texte, die sich mit dem Leben Platons auseinandersetzen, damit nicht zu fiktionalen Texten, sondern blieben Biographien (wenn auch recht wertlose). Das analysans von (F1) fällt somit eindeutig zu weit aus. Fiktionalität und Fiktivität Auch Ansätze, die den Begriff der Fiktionalität durch den der Fiktivität erklären wollen, gehen von der Idee aus, dass fiktionale Texte im Gegensatz zu faktualen in der Regel nicht beschreiben, was sich tatsächlich zugetragen hat, bzw. dass zahlreichen Ausdrücken keine realen Objekte entsprechen, die man als ihre Referenten ansehen könnte. Sie versuchen jedoch, diese Grundannahme positiv zu wenden und einen eigenständigen Bereich von Objekten ausfindig zu machen, die als Referenten sprachlicher Ausdrücke in fiktionalen Texten in Frage kommen. Aus der Idee, dass fiktionale Texte keine Aussagen über reale Objekte machen und keine realen Sachverhalte beschreiben, wird damit die Idee, dass fiktionale Texte sehr wohl Aussagen über Objekte machen und Sachverhalte beschreiben, dass es sich dabei allerdings um fiktive (oder nicht-reale) Objekte und fiktive _____________ 13
Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob (F1*) oder (F1**) zumindest eine notwendige Bedingung formulieren. (F1**) dürfte hier weniger geeignet sein, da es zahlreiche fiktionale Texte zu geben scheint, die überwiegend von Orten und Personen handeln, die es tatsächlich gibt (z.B. Heinrich Manns Henri Quatre-Romane). Schwieriger und interessanter ist der Fall von Texten, die überwiegend oder vollständig wahre Aussagen machen. Hierbei scheint es sich jedoch um potentielle Grenzfälle zu handeln, so dass eine Antwort auf diese Frage erst auf der Grundlage einer adäquaten Begriffsbestimmung erfolgen kann (s.u.).
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Sachverhalte handelt. Für Aussagen fiktionaler Texte wird ein eigenständiger Referenzbereich angenommen, und es wird den Objekten in diesem Bereich ein besonderer ontologischer Status zugesprochen – nämlich der, nicht-real oder fiktiv zu sein. Der Grundgedanke dieses Ansatzes lässt sich damit folgendermaßen zusammenfassen: (F2) T ist fiktional genau dann, wenn gilt, dass T (auch) auf fiktive Objekte Bezug nimmt und fiktive Sachverhalte beschreibt.14 Ansätze, die durch (F2) repräsentiert sind, versuchen, den Begriff der Fiktionalität auf den der Fiktivität zurückzuführen. Als Beispiele können hier Thomas Pavels und Lubomír Doležels Ansätze dienen. Pavel kritisiert Strategien, die versuchen, ohne eine genuine Akzeptanz fiktiver Gegenstände auszukommen, und setzt ihnen die Annahme entgegen, dass Fiktionalität nur mit Rückgriff auf die Annahme fiktiver Gegenstände verständlich gemacht werden kann.15 Doležel geht davon aus, dass Fiktionalität ein semantisches Phänomen ist, das sich (nur) mit Rückgriff auf das Verhältnis zwischen (sprachlichen) Zeichen und dem, was diese Zeichen bezeichnen, erklären lasse.16 Sein Ansatz besagt, dass fiktionale Texte auf Gegenstände Bezug nehmen, die zu fiktiven Welten gehören. Um Fiktionalität zu verstehen, müsse man als Diskursbereiche auch solche zulassen, welche mehr als nur das Inventar unseres Universums (der ›wirklichen Welt‹) umfassen, und somit fiktive Welten als mögliche Diskursbereiche einführen.17 Der durch (F2) repräsentierte Ansatz kann jedoch im Kontext einer Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs kaum überzeugen. Was immer in diesem _____________ 14 15
16
17
Die Qualifikation ›auch‹ ist notwendig, wenn in fiktionalen Texten auf nicht-fiktive Objekte Bezug genommen werden kann. »[W]hile in dealing with scientific concepts one may feel justified in eliminating nonexistent entities, the poetics of fiction needs a technique for introducing such entities.« (Pavel: Worlds, S. 16, Hervorhebung J.G. / T.K.) Pavel verfeinert die durch (F2) repräsentierte Grundannahme auf verschiedene Weise, etwa indem anstatt einzelner fiktiver Gegenstände ganze ›fiktive Welten‹ zum Ausgangspunkt der Erklärung gemacht werden (vgl. ebd., S. 42). Die diesem Ansatz inhärenten Probleme lassen sich jedoch anhand der verkürzten Form (F2) ausreichend verdeutlichen. »I believe that fictionality is primarily a semantic phenomenon located on the axis ›representation (sign) – world‹; its formal and pragmatic aspects are not denied but have an auxiliary theoretical role.« (Doležel: Heterocosmica, S. 2) Und: »Fictional particulars, as nonactualized possibles, are ontologically different from actual persons, events, places.« (Ebd., S. 16, Hervorhebung J.G. / T.K.) Vgl. ebd., S. 1-24. In »One World Frame«, S. 1-12, kritisiert Doležel verschiedene Ansätze, die innerhalb der Annahme agieren, dass es nur eine Welt und damit auch nur einen zulässigen Diskursbereich gibt. In »Possible World Frame«, S. 12-24, stellt Doležel dem die Annahme multipler Diskursbereiche entgegen und versucht ihre Fruchtbarkeit für die Fiktionalitätstheorie aufzuzeigen. Ebenso findet sich hier Doležels Abgrenzung fiktiver Welten von möglichen Welten der Modallogik.
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Kontext auf der rechten Seite des Bikonditionals (F2) angegeben wird, dient als analysans und sollte nach Möglichkeit keine Schwierigkeiten – zumal keine solchen, die sich ggf. nur mit Rückgriff auf den Begriff der Fiktionalität beheben lassen – aufwerfen. Eben dies ist bei (F2) jedoch der Fall. Der Begriff des fiktiven Gegenstandes ist mit zahlreichen eigenen Problemen behaftet, die es als unattraktiv erscheinen lassen, eine Fiktionalitätsanalyse auf seinem Fundament zu errichten.18 Hier spielen vor allem die folgenden Überlegungen eine Rolle: Erstens wird man zugeben müssen, dass es Hamlet und die Buddenbrooks im eigentlichen Sinn nicht gibt (was, um Missverständnisse auszuschließen, durchaus damit vereinbar ist, dass sich reale Vorbilder für diese ausfindig machen lassen). Dennoch soll es sich, folgt man Vertretern dieses Ansatzes, um Objekte handeln, auf die fiktionale Texte Bezug nehmen und die sie beschreiben können. Man ist daher gezwungen, neben dem geläufigen Sinn von ›Existenz‹, gemäß dem es fiktive Gegenstände nicht gibt, noch einen anderen Sinn anzunehmen, gemäß dem es sie eben doch gibt. In irgendeinem Sinn gibt es demnach sowohl Sherlock Holmes als auch Winston Churchill, aber nur letzterer hat darüber hinaus auch die Eigenschaft, im vollen Sinne zu existieren (oder wirklich zu existieren oder real zu sein etc.).19 Das Problem der Fiktionalität – und das heißt in diesem Kontext: das Problem fiktiver Objekte – wird damit zu einem Teilbereich des Problems nicht-existierender Gegenstände und unserer Bezugnahme auf solche.20 Eine Theorie nicht-existierender Gegenstände führt, etwas _____________ 18
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Dies Problem ergibt sich in gleicher Weise für Ansätze, die anstelle von einzelnen fiktiven Gegenständen von fiktiven Welten ausgehen – denn eine fiktive Welt soll zumeist nichts anderes sein als eine Ansammlung fiktiver Gegenstände, zusammen mit fiktiven Gesetzen und Regularitäten (vgl. ebd., S. 31-33). Vgl. die pointierte Formulierung Nelson Goodmans: »Works of fiction, we often hear, are about fictive worlds. But strictly speaking, fiction cannot be about anything nonactual, since there is nothing nonactual, no merely-possible or impossible worlds; for saying that there is something fictive but not actual amounts to saying that there is something such that there is no such thing.« (Goodman: Mind, S. 125) Ein Versuch, die Unterscheidung zwischen verschiedenen Sinnen von ›Existenz‹ auf eine Weise festzulegen, die Raum lässt für genuin nicht-existierende Gegenstände, findet sich bei Alexius Meinong, dessen Unterscheidung zwischen »Existenz« und »Bestand« von Objekten das Problem nicht-existierender Gegenstände zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder in den philosophischen Diskurs einführte (vgl. Meinong: Gegenstandstheorie, S. 485-494). Während – zumindest innerhalb der analytischen Philosophie – lange Zeit die Auffassung vertreten wurde, dass es sich hierbei um ein Pseudoproblem handelt, das durch ein korrektes Verständnis der logischen Form von Existenzsätzen umgangen werden kann (vgl. Quine: On What There Is), gibt es in der zeitgenössischen analytischen Philosophie erneut Versuche, der Idee genuin nichtexistierender Gegenstände einen Sinn abzugewinnen, um damit u.a. bestimmte Prob-
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salopp formuliert, direkt in die tiefsten Abgründe von Sprachphilosophie, Metaphysik und Ontologie. Die Praxis des Umgangs mit fiktionalen Texten wäre unter dieser Bedingung mit einer beträchtlichen ontologischen Verpflichtung verbunden: Der kompetente Umgang mit fiktionalen Texten würde Teilnehmer an der Praxis zu der Annahme verpflichten, in irgendeiner Weise mit (auf eine besondere Weise existierenden) fiktiven Entitäten umzugehen.21 Diese Schwierigkeit wird auch nicht dadurch behoben, dass man statt von nicht-existenten Gegenständen einfach von ›möglichen‹ Gegenständen oder Objekten als Bestandteilen ›möglicher Welten‹ spricht, denn hier wird lediglich ein anderes Vokabular eingeführt, ohne dass dadurch die ontologische Verpflichtung weniger extravagant wirken würde.22 Selbst wenn sich die semantischen und ontologischen Probleme, die unqualifiziertes Reden über nicht-existierende Objekte mit sich bringt, beheben lassen, so bleibt die Frage, ob es nicht einen weniger voraussetzungsreichen Weg zur Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs gibt, der diese Fragen und Probleme außen vor lässt. Ein zweites Problem des durch (F2) repräsentierten Ansatzes besteht darin, dass nicht alle nicht-existierenden Gegenstände fiktive Objekte in dem Sinne sein können, der für eine Analyse von ›Fiktionalität‹ erforderlich ist. Der Planet Vulkan ließe sich als nicht-existierender Gegenstand bezeichnen, aber ein Text wird nicht schon dadurch fiktional, dass er vom Planeten Vulkan handelt. Ebenso bleiben alle Platon-Biographien auch dann nicht-fiktional, wenn sich Platon als nicht-existierender Gegenstand erweisen sollte. Wenn fiktive Gegenstände nicht hinreichend von (sonstigen) nicht-existierenden Gegenständen abgesetzt werden, fällt der Fiktivitätsansatz denselben Einwänden zum Opfer wie der Versuch, Fiktionalität _____________
21 22
leme der Semantik natürlichsprachlicher Sätze zu beheben (vgl. Parsons: Objects; vgl. auch Künne: Fiktion; Inwagen: Geschöpfe). Zum Begriff der ontologischen Verpflichtung vgl. Quine: On What There Is. Diesem Problem kann man auch nicht entgehen, indem man darauf hinweist, dass fiktive Welten nicht einfach ›da sind‹ und ›entdeckt werden‹, sondern stattdessen menschliche Konstrukte sind, die erst erschaffen werden müssen (vgl. Doležel: Heterocosmica, S. 14). Die Schlussfolgerung, »[v]iewing possible worlds as human constructs brings the concept down from the metaphysical pedestal and makes it a potential tool of empirical theorizing« (ebd., S. 14), ist voreilig – denn das Problem ist nicht so sehr, wie mögliche (bzw. fiktive) Welten und fiktive Objekte entstehen, sondern was sie sind. Wer der Auffassung ist, ernsthaftes Reden und Quantifizieren über fiktive Objekte und mögliche Welten sei ontologisch extravagant und schwer verständlich, kann nicht dadurch beruhigt werden, dass er gesagt bekommt, diese Entitäten seien nur ›konstruiert‹. Denn wenn man nicht versteht, was ein F sein soll, dann versteht man erst recht nicht, was es heißt, ein F zu erschaffen. Eine Aufklärung über die Genese von F löst das Statusproblem von F nicht.
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über die Abwesenheit von Wahrheit und Referenz zu bestimmen: Das analysans ist zu weit. Nicht, dass wir für gewöhnlich Probleme hätten, den Unterschied etwa zwischen Sherlock Holmes und dem Planeten Vulkan zu erklären. Die Existenz des letzteren wurde von bestimmten faktualen Texten vorausgesetzt, ersterer hingegen ist Gegenstand mehrerer fiktionaler Texte. Eine solche Erklärung wäre im gegebenen Kontext jedoch eindeutig zirkulär und kann daher von Vertretern des diskutierten Ansatzes nicht angeführt werden. Doležels Erklärungsversuche zeigen denn auch, dass Versuche, dem Zirkularitätsproblem zu entkommen, lediglich in metaphorisch-unklare Rede führen. So führt er die Idee ein, dass fiktive Welten durch ›Welten erschaffende Texte‹ (»world-constructing texts«) hervorgebracht werden.23 Ganz abgesehen davon, dass es schwierig sein dürfte, eine Bestimmung derjenigen Texte zu liefern, die in diesem Sinne ›Welten erschaffen‹, ohne dabei auf den Begriff des fiktionalen Textes zurückzugreifen, hat die Redeweise vom ›Erschaffen‹ einer fiktiven Welt kaum erklärende Kraft. Wenn man derartigen Formulierungen einen Sinn abgewinnen kann, so dürfte das daran liegen, dass man bereits versteht, was ein fiktionaler Text ist, und deshalb die Aussage, der Dichter ›erschaffe mit seinem Text eine fiktive Welt‹ einfach als metaphorisch-bildliche Ausdrucksweise dafür versteht, dass jemand einen fiktionalen Text schreibt. Eine wirkliche Erklärung von Fiktionalität wird damit nicht gegeben. Abschließend sei kurz auf eine Version des durch (F2) repräsentierten Ansatzes verwiesen, die zwar ebenfalls den Fokus auf Fiktivität legt, dies jedoch unter Einbeziehung eines vom Autor ontologisch verschiedenen Erzählers tut. Sie lässt sich folgendermaßen charakterisieren: (F3) T ist genau dann fiktional, wenn gilt, dass zu seiner adäquaten Rezeptionshaltung gehört, ihn als Tatsachenbericht eines fiktiven Erzählers aufzufassen.24 Auch diese Version ist gegen die gegen (F2) angeführten Einwände nicht immun: Selbst wenn (F3) zutreffend ist, ist damit einer Analyse des Fiktionalitätsbegriffes solange nicht gedient, wie der Begriff des fiktiven Objektes (bzw. des fiktiven Erzählers) als explanatorisch basal oder grundlegend angenommen wird. Damit soll nicht die Notwendigkeit oder Relevanz der narratologischen Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler bezweifelt _____________ 23 24
Vgl. Doležel: Heterocosmica, S. 24. Durch (F3) repräsentierte Ansätze finden sich oft im Kontext narratologischer Bestimmungen des Fiktionalitätsbegriffs; vgl. etwa folgende Aussage von Martínez/ Scheffel: »Soll sie [fiktionale Dichtung, J.G. / T.K.] ihre Wirkung entfalten können, müssen wir ihre Rede als die authentische (wenn auch fiktive) Rede eines bestimmten (wenn auch fiktiven) Sprechers verstehen, die nicht auf nichts, sondern auf bestimmte (wenn auch z.T. fiktive) Dinge referiert.« (Martínez / Scheffel: Einführung, S. 14)
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werden. Auch soll nicht bezweifelt werden, dass typische Erzähler fiktionaler Texte als fiktive Person anzusehen sind. Es geht ganz allgemein an dieser Stelle nicht darum, die Rede von fiktiven Gegenständen, Welten und Erzählern einem philosophischen Exorzismus zu unterziehen. Wir sind jedoch der Meinung, dass (F3) – ebenso wie (F2) – nicht zur Erklärung des Phänomens ›Fiktionalität‹ geeignet ist, solange die Erklärungslast vom als grundlegend aufgefassten Begriff der Fiktivität (der fiktiven Person, der fiktiven Welt, des fiktiven Tatsachenberichts) getragen wird. Der Begriff der Fiktivität sollte, wie wir nachstehend zeigen möchten, durch den Begriff des fiktionalen Textes erklärt werden – und nicht umgekehrt. Mit anderen Worten: In bestimmten Kontexten ist es durchaus in Ordnung, von fiktiven Gegenständen zu sprechen, und auch im Kontext der Fiktionalitätstheorie kann diese Redeweise sinnvoll sein (dazu unten mehr). Nicht akzeptabel ist dagegen die durch (F3) und (F2) nahe gelegte Explikationsrichtung. 2.2 Textimmanente Ansätze Im Folgenden geht es um Ansätze, die Fiktionalität mit Rückgriff auf im engeren Sinne linguistische Eigenschaften bestimmen.25 Textimmanente Ansätze sehen bestimmte Vorkommnisse sprachlicher Ausdrücke oder anderer sprachlich-manifester Strukturen als konstitutiv für die Fiktionalität eines Textes an. Als Beispiel ziehen wir die einflussreichen Überlegungen Käte Hamburgers heran.26 Hamburger zufolge zeichnet sich das so genannte ›epi_____________ 25 26
Vgl. Zipfel: Fiktion, S. 23. Textimmanente Ansätze werden heute in Reinform offenbar nur noch selten vertreten. Vgl. Hamburger: Logik, S. 57-80. Hamburgers Position ist in der literaturtheoretischen Diskussion oft als Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs rezipiert worden (vgl. Scheffel: Hamburger). Ob eine solche Bestimmung von Seiten Hamburgers tatsächlich intendiert war, möchten wir hier offen lassen – wir ziehen ihre Position heran, weil sie im Sinne eines textimmanenten Ansatzes verstanden wurde und sich zu dessen Illustration eignet. Nicht verschweigen möchten wir jedoch, dass die Position bedeutend komplexer ist als hier dargestellt. Zum einen ist aus Hamburgers Text ersichtlich, dass sie Vorkommnisse von Verben innerer Vorgänge und des epischen Präteritums als hinreichend für die Fiktionalität eines Textes ansieht. Vor allem Bemerkungen wie die, dass im fiktionalen Text die »der Wirklichkeitsaussage sozusagen eingeborenen logisch-grammatischen Gesetze ihre Gültigkeit verloren haben« (ebd., S. 70), und die Behauptung, fiktionale Texte seien der »einzige […] Ort, wo die IchOriginität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann [nämlich durch Verwendung von Verben innerer Vorgänge, J.G. / T.K.]« (ebd., S. 79), legen diese Interpretation nahe. Allerdings ist Hamburger darüber hinaus der Ansicht, für die Tatsache, dass Vorkommnisse solcher sprachlicher Konstruktionen hinreichend für die Fiktionalität eines Textes ist, lasse sich noch eine tiefer gehende
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sche Präteritum‹ dadurch aus, dass es trotz seiner grammatischen Form die Funktion verliert, die Vergangenheit des Bezeichneten anzuzeigen, und also nicht der Vergangenheitsdarstellung dient. Dies zeige sich vor allem anhand der möglichen Kombination von grammatischem Tempus und gegenwarts- bzw. zukunftbezogenen Zeitadverbien (›Morgen war Weihnachten‹). Eine derartige Verwendung des Präteritums ist nach Hamburger nur in fiktionalen Texten möglich und damit eine hinreichende Bedingung für die Fiktionalität eines Textes.27 Mit »Verben innerer Vorgänge« sind bei Hamburger solche sprachlichen Ausdrücke gemeint, mittels derer mentale Zustände, Ereignisse und Prozesse zugeschrieben werden. Eine ausführliche und detailfreudige Zuschreibung mentaler Zustände durch solche Verben ist nach Hamburger ebenfalls nur in fiktionalen Texten möglich.28 Weder episches Präteritum noch Vorkommnisse von Verben innerer Vorgänge scheinen jedoch hinreichend für die Fiktionalität eines Textes zu sein.29 Es spricht prima facie nichts dagegen, dass derartige sprachliche Konstruktionen und Vorkommnisse auch in eindeutig nicht-fiktionalen Texten vorkommen können. Jemand könnte sich zum Beispiel in einer (Auto-)Biographie aus stilistischen Gründen des epischen Präteritums bedienen. Obwohl das epische Präteritum eher typisch für fiktionale Texte ist, kann es dennoch problemlos in faktuale integriert werden. Auch detail_____________
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(erkenntnistheoretische) Erklärung angeben: »Das Erlebnis der Nicht-Wirklichkeit hat seine bestimmte logische, im weiteren Sinne erkenntnistheoretische Ursache, die […] in ganz bestimmten Phänomenen des fiktionalen Erzählens ihren grammatischsemantischen Ausdruck findet.« (Ebd., S. 62, Hervorhebung J.G. / T.K.) Diese Erklärung macht ferner wesentlich von der Annahme Gebrauch, dass fiktionale Texte dadurch ausgezeichnet sind, »daß das Erzählte nicht auf eine reale Ich-Origo [bei Hamburger der raumzeitliche Bezugspunkt einer erkennenden Person, J.G. / T.K.], sondern auf fiktive Ich-Origines bezogen, also eben fiktiv ist« (ebd., S. 71f.). So verstanden würde Hamburgers Ansatz letztendlich auf dem Begriff der Fiktivität aufbauen, anhand dessen das wesentliche Merkmal fiktionaler Texte spezifiziert wird, um von dort ausgehend eine erkenntnistheoretisch motivierte Erklärung dafür zu geben, dass sich der fiktionale Status eines Textes in bestimmten sprachlichen Charakteristika manifestiert. Hamburgers Ansatz wäre damit strikt genommen nicht angemessen als textimmanenter klassifiziert. Im Weiteren wird von Hamburgers erkenntnistheoretisch motivierten Erklärungen abgesehen und diejenige Hamburger-Interpretation betrachtet, die sich als einflussreich erwiesen hat. Vgl. ebd., S. 63-78, bes. S. 65, 70-72. Vgl. ebd., S. 78-80. Als notwendig scheiden sie von vornherein aus, da sich jeder fiktionale Text problemlos derart umformen lässt, dass er ohne Rückgriff auf die für das epische Präteritum charakteristischen Konstruktionen auskommt. Außerdem gibt es zahlreiche fiktionale Texte, die ohne mentale Zuschreibungen irgendeiner Art auskommen (also Beispiele dessen sind, was Genette »externe Fokalisierung« nennt, vgl. Genette: Erzählung, S. 135).
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lierte Zuschreibungen mentaler Zustände machen einen Text nicht zu einem fiktionalen. Wenn jemand seine Autobiographie (in der dritten Person) schreibt,30 könnte er sich auf seine Erinnerungen oder alte Tagebuchaufzeichnungen berufen, um seine damaligen Gedankengänge (sowie sonstige mentale Vorkommnisse) in beliebiger Komplexität und Detailliertheit zu rekonstruieren und dem Leser mitzuteilen.31 – Das analysans ist mithin sowohl zu weit als auch zu eng. Exkurs: Epistemische Kriterien und Fiktionssignale Auch wenn Vorkommnisse bestimmter sprachlicher Ausdrücke weder notwendig noch hinreichend für die Fiktionalität eines Textes sind, können sie eine wichtige Rolle bei der Identifikation fiktionaler Texte spielen. Textuelle Merkmale sind oft wichtige epistemische Kriterien, auf die wir uns stützen, wenn wir herausfinden wollen, ob ein Text fiktional ist oder nicht, und wenn wir ein solches Klassifikationsurteil begründen wollen. Es handelt sich bei solchen Kriterien um Merkmale eines Textes, anhand derer der Leser einen Text als fiktionalen erkennt bzw. einstuft. Die Beziehung zwischen epistemischen Kriterien für Fiktionalität einerseits und Fiktionalität andererseits zeichnet sich durch Fallibilität aus: Das Vorliegen eines epistemischen Kriteriums (und selbst einer hohen Anzahl solcher Kriterien) ist in einer Vielzahl von Fällen ein guter Grund dafür zu glauben, dass es sich um einen fiktionalen Text handelt, ohne jedoch die Fiktionalität des Textes zu garantieren. Eben deshalb kann sich ein begründetes Urteil über den Status eines Textes insbesondere dann als schwierig erweisen, wenn verschiedene Hinweise in unterschiedliche Richtungen deuten, d.h. wenn es Gründe für und gegen ein bestimmtes Klassifikationsurteil gibt. Verstärkt wird dieses Phänomen durch den spielerischen Einsatz epistemischer Kriterien.32 Fiktionssignale sind allerdings nicht auf Texteigenschaften im engen Sinne beschränkt. Sie umfassen darüber hinaus u.a. paratextuelle Merkmale (wie etwa die Tatsache, dass ein Text vom Verlag _____________ 30 31
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Der Zusatz »in der dritten Person« ist notwendig, da nach Hamburger die IchErzählung nicht in den Bereich fiktionaler Texte in ihrem Sinne fällt (vgl. Hamburger: Logik, S. 60). Man könnte versuchen, Hamburgers Ansatz dahingehend zu retten, dass man ihn auf Fälle einschränkt, in denen verschiedenen Personen ausführlich mentale Zustände zugeschrieben werden. Auch diese Modifikation überzeugt nicht, wie folgende Überlegung zeigt: Ein Biograph könnte alle fraglichen Personen bitten, ihn über ihre damaligen Gedanken und Gefühle aufzuklären oder aber diese anhand ihrer Tagebuchaufzeichnungen rekonstruieren. Die beteiligten Personen könnten auch gemeinsam einen Tatsachenbericht verfassen, der konsequent in der dritten Person geschrieben und reichlich mit Verben innerer Vorgänge versehen ist. Vgl. Zipfel: Fiktion, S. 44.
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mit der Bezeichnung ›Roman‹ versehen wird) und inhaltliche Aspekte eines Textes (d.h. der Geschichte). Wird in einem Text etwa von Sachverhalten berichtet, die äußerst unrealistisch sind und nicht zu unserem Weltbild passen, kann dies ein Indiz für die Fiktionalität des Textes sein.33 2.3 Textproduktion Allgemeine Bemerkungen Das Hauptmerkmal produktionsorientierter Ansätze ist, dass sie den Schwerpunkt der Analyse auf den Verfasser eines Textes und dessen Einstellungen, Absichten und Überzeugungen legen. Die zugrunde liegende Idee ist dabei, dass sich die Frage, unter welchen Bedingungen ein Text fiktional ist, nur mit Rückgriff auf das Verhältnis des Autors zu eben diesem Text bestimmen lässt. Für diese Grundannahme spricht zumindest prima facie einiges. Denn erstens ist das Verfassen fiktionaler Texte etwas, das Autoren tun. Zweitens scheint es so, als hätten die Ansichten und Absichten der Verfasser sowohl für die Beschreibung als auch für den Erfolg dieses Tuns erhebliche Konsequenzen. Es klingt seltsam zu sagen, man könne quasi aus Versehen einen fiktionalen Text schreiben (obwohl man eigentlich eine Biographie schreiben wollte). Auch können Texte hinsichtlich ihres Status als fiktional/faktual radikal missverstanden werden (dazu später mehr). Auch wenn hiermit das letzte Wort natürlich nicht gesprochen worden ist, rechtfertigen diese Überlegungen zumindest, Autorintentionen eine echte Chance einzuräumen.34 Eine Möglichkeit, die relevanten Absichten des Verfassers ausfindig zu machen, besteht darin, das Verhältnis von Autor und Text im Kontext eines sprechakttheoretischen Ansatzes zu bestimmen, etwa indem das Verfassen eines fiktionalen Textes als (oder mit Rückgriff auf) eine bestimmte Form von Sprechakt erklärt wird. Paradigmatisch für ein solches Vorgehen ist bekanntlich der Ansatz John Searles.35 _____________ 33 34
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Zu Fiktionssignalen vgl. ausführlich Zipfel: Fiktivität, Kap. 6.1. Wir abstrahieren hier von allen Grundlagenfragen der Handlungstheorie und der Rolle von Intentionen und Konsequenzen für die Handlungsindividuierung (vgl. etwa Beckermann: Handeln; Davidson: Agency). Nur so viel: Als (sozial eingebundene) sprachliche Handlung scheint das Schreiben eines fiktionalen Textes eher dem Machen einer Behauptung zu gleichen als beispielsweise dem Einwerfen eines Fensters oder dem Umwerfen eines Glases Milch – so zumindest die Intuition, von der wir ausgehen wollen. Eine vom Grundansatz her identische Position wird auch von Gabriel in Fiktion und Wahrheit vertreten, die von Searles Position lediglich in Details (z.B. hinsichtlich der zugrunde gelegten Bestimmung assertiver Sprechakte) abweicht (vgl. z.B. Gabriel: Fik-
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Der sprechakttheoretische Ansatz John Searles Searles Ansatz legt den Fokus auf Sprechhandlungen, die mit den einzelnen Sätzen eines Textes vollzogen werden. Sein Ziel ist es, eine Charakterisierung fiktionaler Sprachverwendung (»fictional discourse«) zu finden.36 Ein fiktionaler Text kann dann als das Ergebnis fiktionaler Sprachverwendung aufgefasst werden. Searles Theorie lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Fiktionale Rede liegt genau dann vor, wenn ein Autor vorgibt, bestimmte illokutionäre Akte auszuführen (in der Regel Assertiva), dies aber nicht tut.37 Jemand, der im hier einschlägigen Sinne vorgibt, eine Handlung H auszuführen, versucht nicht, andere damit zu täuschen: Der Autor eines fiktionalen Textes beabsichtigt in der Regel nicht, seine Leser glauben zu machen, er stelle genuine Behauptungen auf.38 Aus diesem Grund charakterisiert Searle das Verhalten des Autors auch folgendermaßen: »[An author] is engaging in a non-deceptive pseudoperformance which constitutes pretending to recount to us a series of events.«39 Searle weist darauf hin, dass vorzugeben, etwas zu tun, ein intentionaler Akt ist und eine entsprechende Absicht erfordert. Da ein fiktionaler Text aus fiktionaler Sprachverwendung, also dem Vorgeben illokutionärer Akte, hervorgeht, und dieses Vorgeben entsprechende Absichten erfordert, folgert Searle: »[T]he identifying criterion for whether or not a text is a work of fiction must of necessity lie in the illocutionary intentions of the author.«40 Ergänzt und präzisiert wird dieser Ansatz auf zweierlei Weise. Zum einen betont Searle, dass fiktionale Sprachverwendung nur vor dem Hintergrund einer Praxis von Konventionen verständlich ist, welche die Regeln und Erfordernisse, die normalerweise mit den entsprechenden illokutionären Akten verbunden sind, außer Kraft setzen. So gehört zum Beispiel zum illokutionären Akt des Behauptens (unter anderem), dass der Sprecher sich auf die Wahrheit des von ihm Gesagten festlegt und unter _____________
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tion, S. 45-47, und Searle: Status, S. 322). Searles Fiktionalitätsbestimmung gibt Anlass zu grundlegender Kritik, welche in gleicher Weise auch auf Gabriels Ideen zutrifft, weshalb letztere hier nicht eigens betrachtet werden. Searle: Status, S. 320. »[T]he author of a work of fiction pretends to perform a series of illocutionary acts, normally of the assertive type.« (Ebd., S. 323) Vergleichbare Gedanken finden sich bereits bei Gottlob Frege, ohne jedoch wie bei Searle systematisch zu einer Fiktionalitätsbestimmung ausformuliert zu werden (vgl. Frege: Der Gedanke, S. 35f.). In diesem Sinne ließe sich auch eine Neuinterpretation von (F1) vornehmen, indem man sagt, dass fiktionalen Texten nicht die Absicht zugrunde liegt zu beschreiben, was der Fall ist. Auch dies wäre eine Interpretation von ›Fiktionale Texte beschreiben nicht, was der Fall ist‹. Searle: Status, S. 323. Ebd. Dieser Schluss ist nur vor dem Hintergrund bestimmter (sprach-)handlungstheoretischer Annahmen plausibel, die wir hier nicht thematisieren.
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bestimmten Umständen fähig sein muss, Belege und Gründe für seine Behauptung anzuführen, sowie ferner, dass der Sprecher im Modus des Behauptens seine Überzeugungen ausdrückt und der Hörer somit berechtigt ist, Schlüsse auf die Überzeugungen des Sprechers zu ziehen.41 Diese Anforderungen und Regeln werden nun nach Searle im Falle fiktionaler Sprachverwendung durch eine Reihe eigenständiger Konventionen außer Kraft gesetzt.42 Darüber hinaus weist Searle darauf hin, dass man, um vorzugeben, eine bestimmte Handlung H auszuführen, einige derjenigen Teilhandlungen ausführen muss, die normalerweise konstitutiv für die Handlung H sind. Nach Searle ist diejenige Sprachhandlung, die auch beim Vorgeben eines illokutionären Aktes ausgeführt werden muss, der »Äußerungsakt« (»utterance act«), d.h. das Aussprechen oder Aufschreiben bestimmter sprachlicher Ausdrücke.43 – Zusammenfassend lässt sich Searles Ansatz auf folgende Formel bringen (F4) Das Vorgeben eines illokutionären Aktes, das konstitutiv für fiktionale Sprachverwendung ist, besteht im tatsächlichen Vollziehen von Äußerungsakten in der Absicht, spezifische Konventionen zur Anwendung zu bringen, welche die normalerweise mit den illokutionären Akten verbundenen Regeln und Anforderungen außer Kraft setzen.44 Abschließend will Searle in seiner Konzeption berücksichtigen, dass viele fiktionale Texte auch Aussagen enthalten, aufgrund derer man ihren Verfassern bestimmte Überzeugungen zuschreiben kann; die besagten Konventionen, die eben dies verhindern sollen, werden hier also nicht angewandt. Als Beispiel nennt Searle den berühmten ersten Satz aus Anna Karenina. Es handelt sich nach Searle um eine wirkliche Behauptung Tolstois, und man kann dem Autor eine entsprechende Überzeugung zuschreiben. Searle unterscheidet daher nicht nur zwischen einem fiktionalen Text und fiktionaler Sprachverwendung, sondern betont zugleich, ein fiktionaler Text sei zwar das Resultat fiktionaler Sprachverwendung, bestehe jedoch nicht nur aus solcher.45
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Vgl. ebd., S. 322. Vgl. ebd., S. 323f. Vgl. ebd., S. 324. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 327.
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Kritik an Searles Theorie Searles Theorie ist von verschiedener Seite kritisiert worden.46 Ein nahe liegender Einwand ist, dass die mit (F4) zum Ausdruck gebrachten Bedingungen nicht hinreichend sind. Es gibt Verwendungen von Sprache, bei denen man im Searleschen Sinne vorgibt zu behaupten, dass p, ohne damit in irgendeiner Form fiktionale Sprachverwendung zu betreiben, etwa wenn man die Aussagen einer anderen Person nachahmt oder im Kontext einer Sprachlehrsituation nicht-zusammenhängende Sätze äußert (etwa um die Aussprache zu üben). In solchen Fällen werden Äußerungsakte mit der Absicht vollzogen, dass bestimmte Konventionen die normalerweise mit Äußerungen dieser Art einhergehenden Regeln außer Kraft setzen. Das Vorliegen solcher Bedingungen ist hinreichend dafür, dass ein Searlesches Vorgeben zu behaupten, dass p, vorliegt, nicht jedoch dafür, dass fiktionale Sprachverwendung vorliegt bzw. fiktionale Texte entstehen. Der Schwachpunkt von Searles Ansatz scheint zu sein, dass die ausgeführte Sprachhandlung durch die von Searle angegebene Intention unterbestimmt ist. Die fragliche Intention ist zu allgemein beschrieben und kann daher die gewünschte Sprachhandlung nicht herausgreifen, da sie mit verschiedenen spezifischeren Intentionen vereinbar ist, die jeweils konstitutiv für Sprachhandlungen sind, die in keinem Zusammenhang mit fiktionalen Texten stehen müssen. Eine Searlesche Intention reicht nur dafür aus, Sprache ohne Geltung der für einen bestimmten illokutionären Akt relevanten Regeln zu verwenden, aber dies muss – wie gesehen – nicht auf fiktionale Sprachverwendung hinauslaufen. (F4) müsste daher um spezifische Merkmale fiktionaler Sprachverwendung bzw. eine spezifischere Beschreibung der für das Verfassen eines fiktionalen Textes konstitutiven Intention ergänzt werden. Die Suche nach einer geeigneten Autorintention kann – auch wenn Searles Ansatz keine adäquate Charakterisierung anbieten kann – noch nicht als gescheitert gelten. Vor der Darstellung entsprechender Ansätze ist jedoch zunächst die Darstellung des rezeptionsorientierten Ansatzes von Kendall Walton erforderlich, denn erfolgversprechende Versuche, Fiktionalität mit Rückgriff auf die Intentionen des Autors zu bestimmen, bauen, wie sich zeigen wird, auf Waltons grundlegenden Ideen auf. _____________ 46
Vgl. Davies: Fiction, S. 265; Zipfel: Fiktivität, Kap. 5.1.2. – Man hat den Eindruck, es gehöre in der literaturwissenschaftlichen Diskussion fast schon zum guten Ton, Searles Ansatz zu kritisieren. Demgegenüber möchten wir die Güte der Searleschen Ideen hervorheben. Es ist wohl keine Übertreibung, wenn man sagt, dass Searles – bereits 1974/1975 erstmals vorgetragene – Überlegungen für die neuere fiktionalitätstheoretische Debatte richtungweisend gewesen sind.
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2.4 Textrezeption: Kendall Walton und make-believe Games of make-believe Kendall Walton versucht, Fiktionalität mit Rückgriff auf bestimmte mentale Vorgänge und Zustände zu erklären, die den Umgang von Rezipienten mit fiktionalen Texten bestimmen.47 Waltons Grundthese ist dabei folgende: Fiktionale Texte sind solche, deren sozial anerkannte Funktion es ist, eine bestimmte Rolle in so genannten »games of make-believe« zu spielen. Im Folgenden wird es zunächst darum gehen, diese These zu erläutern. Aufgrund der zentralen Bedeutung für Waltons Ansatz beginnen wir mit der Idee eines make-believe-Spiels.48 Waltons Ausgangspunkt ist eine Analogie zwischen dem Umgang von Rezipienten mit fiktionalen Texten und so genannten make-believe-Spielen von Kindern.49 Bei make-believe-Spielen kommt es darauf an, dass die Teilnehmer sich bestimmte Dinge vorstellen. Walton versucht nicht, eine präzise Bestimmung der mentalen Vorgänge zu geben, die mit ›make-believe‹ erfasst werden sollen, und baut stattdessen auf ein intuitives Grundverständnis seiner Leser.50 Wichtig ist, dass das Sich-etwas-Vorstellen erstens _____________ 47
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Walton geht es dabei nicht nur um die Frage, was bestimmte Texte oder Sprachäußerungen zu fiktionalen macht, sondern um eine allgemeine Theorie der Fiktionalität (eigentlich: der Repräsentationalität), die sich ebenso auf Bilder, Filme, Theaterstücke und sogar Alltagsgegenstände wie etwa Puppen und Spielzeugautos bzw. deren Funktion ausweiten lässt (vgl. Walton: Mimesis, S. 1-8). Diese weiterreichende Zielsetzung Waltons wird im Folgenden aus Platzgründen außer Acht gelassen. Da Versuche, ›make-believe‹ ins Deutsche zu übertragen, nicht sehr aussichtsreich sind, wird der englische Ausdruck im Folgenden als terminus technicus verwendet. Der Ausdruck ›make-believe‹ hat gegenüber dem ungefähr bedeutungsgleichen ›vorstellen‹ den Vorteil, dass er bestimmte Bedeutungsnuancen von ›sich etwas vorstellen‹ akzentuiert, die leicht aus dem Blick geraten können. Ebenso wie es nämlich einen Unterschied gibt zwischen dem Haben einer Überzeugung im Sinne eines dispositionalen Zustands und dem expliziten Nachdenken über etwas, gibt es auch einen Unterschied zwischen Sich-etwas-Vorstellen in dem Sinne, dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt explizit daran denkt, und Sich-etwas-Vorstellen in einer Weise, die analog zu dispositionalen Überzeugungen zu verstehen ist. Der Vorteil des Ausdrucks ›makebelieve‹ besteht darin, dass er nicht dazu verleitet, ›Vorstellen‹ nur im ersteren Sinne zu verstehen, ohne damit jedoch über die Standard-Bedeutung von ›Vorstellen‹ hinauszugehen; vgl. ebd., S. 16-18. Vgl. ebd., S. 12. Der Vergleich mit Spielen ist dabei nicht im Sinne eines Fehlens von Ernsthaftigkeit zu verstehen; vielmehr soll auf die für (manche) Spiele charakteristische Regelhaftigkeit sowie ihre soziale Natur hingewiesen werden (s.u.). Vgl. ebd., S. 21. Der Versuch einer theoretischen Erklärung von make-beliefs bzw. Vorstellungen als zu Überzeugungen und Wahrnehmungen funktional analogen mentalen Zuständen findet sich in Currie: Imagination (vgl. bes. S. 258-260). Es verdient, besonders hervorgehoben zu werden, dass es sich beim Sich-etwas-Vorstellen um eine zentrale kognitive Fähigkeit handelt, die uns aus vielen Bereichen des Alltags ver-
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in eine soziale Praxis eingebunden, d.h. zusammen mit anderen ausgeführt werden kann51 und dass es zweitens im Rahmen bestimmter Regeln geschehen kann, die bestimmen, was man sich vorzustellen hat bzw. was als angemessenes (richtiges) oder unangemessenes Vorstellen gilt.52 Wenn sich zum Beispiel mehrere Kinder zusammentun, um ›Seeräuber‹ zu spielen, dann gehört zu diesem Spiel, dass man sich vorstellt, dass jeder der Beteiligten ein Seeräuber ist. Wer sich nicht vorstellt, dass seine Mitspieler Seeräuber sind, spielt nicht mit, da er eine fundamentale Regel des Spiels bricht. Eine dritte wichtige Eigenschaft vieler make-believe-Spiele ist, dass sie sich bestimmter Hilfsmittel bedienen, die Walton »props« nennt.53 Sein Beispiel ist das Abenteuerspiel von Kindern, die verabreden, dass jeder größere Holzstumpf im Wald als Bär zu betrachten ist: Wann immer man auf einen solchen Holzklotz trifft, hat man sich vorzustellen, dass man einem Bären gegenüber steht.54 Nach Walton beziehen sich viele Regeln, die bestimmen, was man sich als Teilnehmer (in bestimmten Situationen) vorzustellen hat, auf derartige Hilfsmittel.55 Fiktionale Texte als props Walton zufolge sind auch literarische Texte Hilfsmittel in make-believeSpielen. In solchen Spielen gibt es Regeln, die besagen, dass man sich auf der Basis des zugrunde gelegten Textes bestimmte Dinge und Sachverhalte vorzustellen hat.56 Eine entsprechende Bestimmung des Fiktionalitäts_____________
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traut ist (vgl. auch Stevenson: Imagination). Aus diesem Grund kann gegen Waltons Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs nicht eingewandt werden, hier werde das Obskure durch das noch Obskurere erklärt. Gegenüber den durch (F2) repräsentierten Ansätzen hat Waltons Ansatz vielmehr den Vorteil, dass er Fiktionalität auf eine einfache und vertraute – und im Wortsinne kinderleichte – Tätigkeit zurückführt. Überdies lassen sich seinem Ansatz zumindest Hinweise darauf entnehmen, wie die Kompetenz des Umgangs mit fiktionalen Texten erworben bzw. erlernt wird. Walton: Mimesis, S. 18-20. Derartige Regeln können einem Spiel zugrunde liegen und von allen Teilnehmern akzeptiert werden, ohne dass diese Regeln zu irgendeinem Zeitpunkt explizit formuliert werden müssten. Vgl. ebd., S. 35-43. Der englische Ausdruck ›prop‹ hat mehrere Bedeutungen. Wir schlagen die Übersetzung ›Hilfsmittel‹ vor, da sie sich am besten für eine kohärente Interpretation von Waltons Theorie eignet; vgl. auch unten, Anm. 56). Vgl. ebd., S. 35-39. Vgl. ebd., S. 35-43. Vgl. ebd., S. 51. An dieser Stelle wird deutlich, wie weit der Begriff ›prop‹ bei Walton gebraucht ist. Im Unterschied zum Holzstumpf, von dem man sich im Zuge des Abenteuerspiels vorstellen soll, er sei ein Bär (s.o.), soll man sich vom Text eines literarischen Werkes in der Regel nicht vorstellen, er sei etwas anderes. Die Vorstellungsaktivität beruht hier vielmehr auf den durch den Text zum Ausdruck gebrachten Inhalten. Aus diesem Grund wäre es missverständlich, ›prop‹ beispielsweise als ›Requisite‹ zu überset-
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begriffs besagt, dass ein Text genau dann fiktional ist, wenn er die Funktion hat, als Hilfsmittel in einem make-believe-Spiel zu dienen. Walton lehnt allerdings ab, präzise anzugeben, unter welchen Bedingungen ein Gegenstand die entsprechende Funktion hat.57 Denkbar sind hier verschiedene Optionen: Man kann die Funktionen von Objekten etwa als abhängig davon betrachten, wie eine bestimmte Personengruppe mit den jeweiligen Objekten tatsächlich umgeht; davon, welchen Umgang sie als angemessen ansieht; davon, welchen Umgang die Hersteller normalerweise erwarten oder intendieren; oder auch davon, wie die Hersteller tatsächlich wollen oder erwarten, dass sie gebraucht werden. Obwohl Walton ablehnt, sich in dieser Frage festzulegen, schließt er bestimmte Sichtweisen implizit aus, da er die Auffassung vertritt, dass Funktionen stets relativ zu einer bestimmten Gesellschaft vorhanden sind.58 Damit ist ausgeschlossen, dass die Intentionen des Autors in irgendeiner Form entscheidend für die Fiktionalität eines Textes (T) sind.59 Nach Walton gilt demnach: (F5) T ist fiktional relativ zu Gesellschaft G genau dann, wenn es Ts Funktion relativ zu G ist, als Hilfsmittel in einem make-believeSpiel zu dienen. Kritik Aufgrund der Nichtbeachtung der Autorintentionen und der Relativität der Funktionen eines Textes schließt Waltons Ansatz die Möglichkeit eines weitreichenden Irrtums über den Status eines Textes aus. Wenn zwei Gesellschaften demselben Text unterschiedliche sozial legitimierte Funktionen zuweisen, ist dieser Text fiktional für die eine und nicht-fiktional für die andere Gesellschaft. Die Frage, welche von beiden die richtige Sichtweise vertritt, lässt sich dann nicht mehr sinnvoll stellen. Dass diese _____________
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zen. Der Vergleich von Kinderspielen und fiktionalen literarischen Werken hat also Grenzen. Er ist dennoch fruchtbar, weil es mehrere Gemeinsamkeiten gibt, auf die es hier ankommt: das Soziale der Aktivität, die Bedeutung der Vorstellungsaktivität, die Regelhaftigkeit sowie nicht zuletzt die ›Implizitheit‹ des Regelbewusstseins und die Spontaneität, mit der die spezifischen Regeln eines Spiels generiert werden können. (Letzteres bedeutet: Was genau man sich anhand eines bestimmten fiktionalen literarischen Werkes vorzustellen hat, lernt man erst in dem Moment, in dem man das Werk liest.) Vgl. ebd., S. 51-54, 91. Vgl. ebd., S. 52-53, 91. Wenn die Intention des Autors die Funktion eines Textes in Waltons Sinn bestimmt, dann hat derselbe Text in allen Gesellschaften dieselbe Funktion. Aus demselben Grund ist die Annahme, dass die Intention eines Autors eine notwendige oder hinreichende Bedingung für die Fiktionalität eines Textes darstellt, mit der Waltonschen Annahme inkompatibel, dass Fiktionalität – qua Relativität der Funktion – stets relativ zu einer Gesellschaft ist.
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Position letztlich unbefriedigend ist, kann ein Gedankenexperiment zeigen. Man betrachte folgenden Fall: Eine Person S verfasst einen Text mit der Absicht, andere über den Hergang bestimmter Vorfälle zu informieren. Wenn sich nun herausstellt, dass die Leser des Textes dessen Wahrheitsgehalt ignorieren und den Text als Hilfsmittel für make-believe-Spiele gebrauchen, so würde sich S vermutlich vollständig missverstanden fühlen (zu Recht, wie es scheint).60 Wie lässt sich die Idee erklären, dass hier ein echtes Fehlverhalten auf Seiten der Leser vorliegt? Die Antwort auf diese Frage scheint damit zu tun zu haben, dass die Autorintention von Seiten der Leser nicht erkannt wurde. Aber das kann nicht alles sein. Wäre dies der Fall, so würde kein Fehler auf Leserseite vorliegen, wenn die Autorintention zwar in der Tat erkannt, der Text aber dennoch entgegen der Autorintention gebraucht wird. Es scheint jedoch, als würde man in diesem Fall immer noch davon ausgehen, dass hier ein Fehler des Lesers vorliegt (der darüber hinaus noch eklatanter zu sein scheint als im ersten Fall).61 Einen Text trotz des Wissens darum, dass sein Autor mit ihm einen Tatsachenbericht schreiben wollte, nur als Hilfsmittel in einem make-believe-Spiel zu verwenden, scheint genau deshalb offenkundig unpassend zu sein, weil das Wissen um die Autorintention hinreichend dafür ist, zu wissen, dass es sich um einen nicht-fiktionalen Text handelt. Insofern man diesem Gedankengang zustimmt, kommt man nicht umhin, der Autorintention eine konstitutive Rolle für die Fiktionalität eines Textes zuzusprechen.62 Dabei kann und sollte man allerdings auf die wesentlichen Einsichten der bisherigen Diskussion zurückgreifen. Waltons Grundidee, dass die Fiktionalitätsrezeption Züge eines regelhaften make-believe-Spiels aufweist, in denen Texte die Funktion von props haben, lässt sich mit der Auffassung verbinden, dass der Intention des Autors eine wesentliche Rolle zukommt.63 Nimmt man diese Punkte zusammen, so ergibt sich: Die relevan_____________ 60
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Dasselbe gilt übrigens auch für den umgekehrten Fall – wenn also ein als fiktional intendierter Text als nicht-fiktionaler aufgefasst wird. Orson Welles Hörspiel-Fassung von H. G. Wells The War of the Worlds ist hier ein lehrreiches Beispiel, vgl. Faulstich: Radiotheorie, bes. S. 94f., Anm. 22. Man könnte sagen, der Fehler sei teleologisch, insofern die Leser den Witz des Textes nicht begreifen, und moralisch, insofern die Leser den Autor nicht ernst nehmen. Natürlich soll damit nicht gesagt sein, dass man faktuale Texte nicht auch im Waltonschen Sinne als props verwenden könne oder dürfe; problematisch vom Standpunkt der Frage nach der adäquaten Rezeption ist jedoch, wenn ein faktualer Text nur in dieser Weise rezipiert wird. Entgegen des durch (F4) repräsentierten Ansatzes sollte man davon ausgehen, dass sich die Intentionen des Autors – in den hier in Rede stehenden paradigmatischen Fällen fiktionaler Texte – auf den ganzen Text beziehen; Searles Ansatz ist oft dafür kritisiert worden, dass er Fiktionalität demgegenüber primär als eine Sache einzelner Äußerungen (Sätze) ansieht; vgl. z.B. Lamarque / Olsen: Truth, S. 65-67, 284f. u.ö.
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te Autorintention muss zum Inhalt haben, dass Leser den Text als Hilfsmittel in einem make-believe-Spiel gebrauchen sollen. Es ist diese Idee – gewissermaßen die Synthese der bisherigen Erläuterungen und Kritikpunkte –, die nun anhand der Ansätze von Gregory Currie sowie Peter Lamarque und Stein Olsen diskutiert werden soll. In diesem Zusammenhang wird auch der bisher vernachlässigten Frage nachgegangen, was genau es heißen kann, einen Text als prop im Waltonschen Sinne zu gebrauchen. 2.5 Eine zweite Chance für Autorintentionen Lamarque/Olsen Die von Lamarque und Olsen entwickelte Fiktionalitätstheorie ist äußerst komplex und beruht auf einer ebenso ausführlichen wie subtilen Argumentation, die an dieser Stelle nur verkürzt – und mit Bezug auf die hier behandelte Fragestellung – skizziert werden kann. Grundlegend für Lamarque/Olsen ist die Annahme, dass sich Fiktionalität nur mit Rückgriff auf eine soziale und regelgeleitete Praxis erklären und beschreiben lässt, zu der eine bestimmte Form von Sprachverwendung des Sprachproduzenten und bestimmte Reaktionen, Verhaltensweisen und Einstellungen auf der Seite des Rezipienten gehören.64 Fiktionale Texte sind demnach das Produkt einer fiktionalen Sprachverwendung.65 Diese wiederum ist nach La_____________
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Intentionen, die sich auf die Aufnahme eines Textes als ganzen beziehen, bezeichnet man auch als ›kategoriale Intentionen‹: Sie betreffen die Kategorie, der ein Text von seinen Lesern zugeordnet werden soll: »Categorial intentions involve the maker’s framing and positioning of his product vis-à-vis his projected audience; they involve the maker’s conception of what he has produced and what it is for, on a rather basic level; they govern not what a work is to mean but how it is to be fundamentally conceived or approached.« (Levinson: Intention, S. 188; vgl. Bühler: Autorabsicht, S. 71f.) Eine Sonderrolle spielen in dieser Hinsicht allerdings echte Mischfälle, d.h. Texte, die aus verschiedenen, klar trennbaren Textteilen bestehen. Man kann hier an das Beispiel einer Dissertation denken, die als faktualer Text aufzufassen ist, jedoch fiktionale Textbeispiele (z.B. als Gedankenexperimente) enthält. In solchen Fällen muss für den Leser klar sein, welche Umgangsweise mit dem Text an der jeweiligen Stelle angemessen ist. »The controlling idea is [...] that the fictive dimension of stories (or narratives) is explicable only in terms of a rule-governed practice, central to which are a certain mode of utterance (fictive utterance) and a certain complex of attitudes (the fictive stance).« (Lamarque / Olsen: Truth, S. 32, vgl. auch S. 35-40) Hinzuzufügen ist, dass die fiktionale Sprachverwendung nach Lamarque und Olsen nicht im Sinne eines irrreduziblen Sprechaktes im Sinne der Sprechakttheorie aufzufassen ist. Ihre Gründe hängen mit bestimmten Grundannahmen über Sprechakte und deren theoretische Beschreibung zusammen, die an dieser Stelle nicht weiter verfolgt
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marque und Olsen aufzufassen als Handlung mit einer bestimmten Absicht, die den Konventionen einer sozialen Praxis unterliegt.66 Bei der Bestimmung der relevanten Absicht greifen Lamarque und Olsen auf Walton zurück: Einschlägig ist die Absicht, auf Seiten der Rezipienten die für die fiktionsbezogene Rezeptionshaltung (»fictive stance«) konstitutiven Einstellungen hervorzurufen. Diese Rezeptionshaltung nimmt ein Rezipient nach Lamarque und Olsen dann ein, wenn er sich vorstellt (im Sinne von make-believe), dass die Sätze des Werks Resultate gewöhnlicher Sprechakte sind, obwohl er weiß, dass gewöhnliche Sprechaktkonventionen – insbesondere die Berechtigung, dem Urheber des Sprechakts bestimmte Überzeugungen, Wünsche etc. zuzuschreiben – aufgehoben sind.67 Da man sich nicht vorstellen könne, dass Sprechakte ausgeführt werden, ohne sich ebenfalls vorzustellen, dass diese von einem Sprecher ausgeführt werden, beinhaltet die Rezeptionshaltung des fictive stance nach Lamarque und Olsen die Vorstellung, dass ein Erzähler diverse Sprechakte ausführt: »Thus with indicatives an audience is invited to make-believe that a narrator is asserting something, with interrogatives that a narrator is asking something, and so forth«.68 Diese Bestimmung besagt lediglich, dass man sich vorzustellen hat, dass ein Erzähler bestimmte Sprechakte ausführt, nicht jedoch, wie man sich diesen vorzustellen hat. Sie lässt offen, ob man sich (immer oder manchmal) von einem realen Sprachproduzenten vorzustellen hat, er sei ein Erzähler, der genuine Sprechakte ausführt, oder ob man sich (immer oder manchmal) eine von diesem verschiedene Sprecherinstanz vorzustellen hat, die genuine Sprechakte ausführt. Zur Verdeutlichung: Wenn Person A Person B eine fiktionale Erzählung vorträgt (deren Autor sie sein kann, die sie aber auch nur nacherzählen oder vorlesen kann), dann könnte sich B sowohl von A vorstellen, dass A eine Reihe echter Sprechakte ausführt, als auch vorstellen, dass eine von A verschiedene Person dies tut oder dass A qua Erzähler neue Eigenschaften annimmt (letzteres ist dann der Fall, wenn B sich von A beispielsweise vorstellt, dass A über neue Wissensbestände verfügt oder bestimmte Erlebnisse gehabt hat usw.). Mit Blick auf den schriftlichen Sprachgebrauch: Der Leser eines fiktionalen Textes kann sich sowohl vom Autor vorstellen, er habe mit seinen Sätzen eine Reihe genuiner Sprechakte ausgeführt, als auch, dass eine vom Autor verschiedene Instanz dies getan habe. In beiden Fällen würde die fiktionale Einstellung eingenommen. _____________
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werden können (vgl. Lamarque / Olsen: Truth, S. 74f. für die entsprechende Argumentation). Vgl. ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 43f. Ebd., S. 44.
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Gregory Currie Im Gegensatz zu Lamarque und Olsen geht Currie (in einer frühen Publikation) von der Idee eines genuin fiktionalen Sprechaktes aus, den er »uttering fiction« nennt.69 Demnach führt eine Person S mit einer Äußerung, dass p, genau dann einen fiktionalen Sprechakt aus, wenn S die Intention hat, dass die Rezipienten sich vorstellen, dass p, und dies auf der Grundlage ihrer Erkenntnis der Absicht von S tun. (Das heißt: Das Vorliegen der Absicht ist für die Rezipienten ein hinreichender Grund, sich vorzustellen, dass p.)70 Bezogen auf einen Text würde dies Folgendes bedeuten: Der Autor beabsichtigt, dass seine Leser den Text als Hilfsmittel in einem make-believe-Spiel gebrauchen, wobei der Text genau dann als ein solches Hilfsmittel eingesetzt wird, wenn die Rezipienten sich für alle ›Aussagen‹ des Textes mit dem Inhalt p vorstellen, dass p.71 Der Unterschied zu Lamarque und Olsen liegt auf der Hand, denn sich vorzustellen, dass p, ist weder notwendig noch hinreichend dafür, sich vorzustellen, dass jemand behauptet, dass p. Die von Currie und Lamarque und Olsen für die Fiktionalität eines Textes angeführten konstitutiven Absichten sind demnach verschieden. Vergleich – und ein erstes Ergebnis der Analyse Curries Vorschlag weist zwei Nachteile auf. Zum einen ist er nur auf solche Sätze anzuwenden, mit denen man normalerweise Sprechakte des Behauptens vollzieht. Wenn in einem fiktionalen Text ein Fragesatz mit dem propositionalen Gehalt p auftaucht, dann ist es unsinnig anzunehmen, der Rezipient solle sich vorstellen, dass p. Darüber hinaus können in fiktionalen Texten auch Sätze vorkommen (z.B. ›Verdammt noch mal‹), die keinen propositionalen Gehalt haben. Hinzu kommt, wie das Beispiel des unzuverlässigen Erzählens verdeutlicht, dass nicht jeder Aussagesatz eines fiktionalen Textes mit dem Inhalt p auch stets mit der Absicht auf _____________ 69
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Im Rahmen dieser Arbeit wird nur Curries Ansatz aus »What Is Fiction?« dargestellt. Currie hat seine Ideen in späteren Publikationen substantiell modifiziert; vgl. bes. Currie: Nature. Wir beschränken uns auf die Darstellung des frühen Aufsatzes, weil bereits dort die systematisch zentrale Position entwickelt wird, auf die es uns hier ankommt. Vgl. Currie: Fiction, S. 387. Im Hintergrund von Curries Konzeption steht dabei ein Kommunikationsmodell, das von Paul Grice entwickelt wurde (grundlegend Grice: Meaning, bes. S. 385). Am Rande sei bemerkt, dass der hier vorgestellte Ansatz geeignet sein könnte, die beliebte Rede vom »Fiktionspakt« verständlich zu machen (vgl. z.B. Eco: Wald, S. 103, 105 u.ö.). Am Ausdruck ›Fiktionspakt‹ ist an und für sich nichts auszusetzen. Es handelt sich jedoch um eine Metapher, und die interessante Frage ist daher, wie genau sie ausbuchstabiert werden kann oder sollte.
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Seiten des Autors verbunden ist, der Leser möge sich vorstellen, dass p.72 Im Rahmen einer adäquaten Rezeptionshaltung muss man diese Phänomene berücksichtigen – aber dies geht nur dann, wenn man nicht alles, was an Aussagesätzen im Text steht, sozusagen ›für bare Münze nimmt‹ und direkt in entsprechende make-beliefs umsetzt. Der Ansatz von Lamarque und Olsen ist Curries insofern überlegen, als in ihm die Vielzahl möglicher Sprechakte und Sprachverwendungen berücksichtigt wird. Allerdings scheint er in der angegebenen Form ebenfalls nicht zu einer befriedigenden Antwort zu führen, denn zu einer angemessenen Rezeption von fiktionalen Texten scheint mehr zu gehören als die Vorstellung, eine Person führte eine Reihe von Sprechakten aus. Der Rezipient hat sich für gewöhnlich nicht nur das Berichten eines Erzählers vorzustellen, sondern auch das, was dieser Erzähler berichtet. Wenn wir den Begriff einer Vorstellungswelt so einführen, dass er alles umfasst, was man sich im Rahmen eines bestimmten make-believe-Spiels vorstellen soll,73 dann lässt sich der Kritikpunkt folgendermaßen formulieren: Der Leser hat sich nicht nur vorzustellen, dass eine Reihe genuiner Sprechakte ausgeführt wird, sondern seine Vorstellungswelt muss auf dem Gehalt dieser Sprechakte beruhende weitere Sachverhalte beinhalten und sollte so umfassend und detailliert wie nötig sein. Der Sprecher wird dabei als jemand vorgestellt, der (unter anderem) über diese vorgestellte Welt Behauptungen aufstellt, über Ereignisse in ihr berichtet, über Handlungen informiert etc. Als Rezipient gilt es, zu einer hinreichend umfassenden Vorstellungswelt auf der Grundlage der vorgestellten illokutionären Akte zu gelangen. Kombiniert man in dieser Weise die Ansätze Curries und Lamarque/Olsens, so gelangt man zu folgendem (provisorischen) Vorschlag einer Fiktionalitätsbestimmung: (F6) T ist genau dann ein fiktionaler Text, wenn gilt: T wurde von seinem Verfasser (unter anderem) mit der Absicht A verfasst, dass der Rezipient diesen Text als Hilfsmittel in einem make_____________ 72 73
Zum unzuverlässigen Erzählen vgl. Currie: Unreliability. Man beachte, dass der Begriff der Vorstellungswelt hier nicht als explanatorisch basal eingeführt wird (vgl. oben, Abschnitt 2.1). Weder wird der Begriff der Fiktionalität durch den hier eingeführten Begriff der Vorstellungswelt erläutert, noch lädt letzterer zu ontologischen Spekulationen eigener Art ein. Auf der Basis der gegebenen Fiktionalitätsdefinition lässt sich eine Erklärung der Redeweise über fiktive Gegenstände geben, die frei von problematischen ontologischen Verpflichtungen ist. Aussagen über fiktive Objekte lassen sich vor diesem Hintergrund z.B. verstehen als Aussagen über die Regeln bestimmter make-believe-Spiele (für eine differenzierte Ausführung dieser Idee vgl. Walton: Mimesis, Kap. 10). Die Rede von Vorstellungswelten ist lediglich eine sprachliche Abkürzung, die dazu dient, ein ausuferndes Reden von Vorstellungen zu vermeiden. (Kurzum: p ist Teil der Vorstellungswelt von S genau dann, wenn S sich vorstellt, dass p.)
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believe-Spiel einsetzt, und zwar dergestalt, dass der Leser L aufgrund von A (i) sich vorstellt, dass ein Sprecher/Erzähler mit den im Text vorkommenden Sätzen bestimmte Sprechakte ausführt (obwohl L weiß, dass gewöhnliche Sprechaktkonventionen z.T. aufgehoben sind) und (ii) auf der Grundlage dieser vorgestellten Sprechakte zu einer hinreichend umfassenden Vorstellungswelt gelangt.74 Diese Bestimmung weist verschiedene Vorteile auf: Sie liefert eine nicht triviale Analyse von ›Fiktionalität‹, berücksichtigt die Intentionen des Autors und kann so, bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Unterscheidung von Autor und Erzähler, das Verfassen eines fiktionalen Textes als Sprachhandlung darstellen. Ein weiterer Vorteil des Erklärungsansatzes ist darin zu sehen, dass er Fiktionalität als etwas verständlich macht, das in engem Zusammenhang mit menschlichen Fähigkeiten, Konventionen und Praktiken steht, die auch außerhalb einer philosophischen oder literaturtheoretischen Beschäftigung mit Fiktionalität beschrieben und erklärt werden können. (F6) ist ferner – wie durch das Vorkommen von ›unter anderem‹ in der Definition angedeutet – mit der Idee kompatibel, dass ein Autor mit einem Text mehrere Dinge zugleich beabsichtigen kann. Die Intention, der Text möge als Hilfsmittel in einem make-believe-Spiel gebraucht werden, ist zum Beispiel mit der Absicht kompatibel, durch den Text einen Überzeugungswandel zu veranlassen (dazu unten mehr). Ein Text kann, allgemein gesprochen, mit der Absicht verfasst werden, verschiedene Funktionen auszufüllen. Kritik Unser Anliegen war nicht, eine endgültige Analyse des Fiktionalitätsbegriffs zu unterbreiten, sondern es besteht vielmehr darin, ausgehend von den Vorzügen und Problemen einer Reihe traditioneller und moderner Ansätze eine bestimmte Art und Weise, das Projekt einer Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs zu verfolgen, als attraktiv zu präsentieren. Mit dem zuletzt formulierten Vorschlag sind unserer Ansicht nach zentrale Elemente des Umgangs mit fiktionalen Texten benannt worden, die in die richtige Richtung weisen. Es sollte beispielsweise unstrittig sein, dass jemand, der sich innerhalb der von Walton, Currie und Lamarque/Olsen angeregten Rahmenbedingungen bewegt, anders an weiterführende Fra_____________ 74
Diese Definition darf nicht so verstanden werden, dass jeder Autor eines fiktionalen literarischen Werkes die explizite Absicht A hat. Richtig ist vielmehr folgendes: Damit T fiktional ist, muss es möglich sein, dem Verfasser A zuzuschreiben.
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gen der Fiktionalitätstheorie herangehen dürfte als jemand, für den sich Fiktionalität ausschließlich über die Idee fiktiver Gegenstände erschließt.75 Im letzten Teil dieses Textes werden wir auf eine Reihe von offenen Fragen, weiterführenden Problemen und verbleibenden Schwierigkeiten hinweisen, die ausgehend von (F6) in den Mittelpunkt rücken. Wir tun dies nicht zuletzt um anzudeuten, auf welche Weise sich der von uns favorisierte Ansatz bewähren kann. Noch einmal: Fiktionalität und Wahrheit Ein erstes Problem wird durch die Frage aufgeworfen, ob mit (F6) tatsächlich hinreichende Bedingungen für die Fiktionalität eines Textes spezifiziert werden. Lamarque und Olsen diskutieren eine Reihe hypothetischer Gegenbeispiele, denen gemeinsam sein soll, dass die fraglichen Texte zwar mit der in (F6) genannten Absicht produziert wurden, dabei jedoch mit Recht für nicht-fiktional gehalten werden könnten. So ist der Fall einer Person denkbar, die eine strikt autobiographische Erzählung schreibt und zugleich möchte, dass Leser den Text als fiktionalen auffassen und behandeln (Fall 1); in einer Variante dieses Falles schreibt ein Autor eine wahre Geschichte, ohne dies zu wissen, da die Geschichte von Erlebnissen berichtet, die er (etwa im Sinne der Psychoanalyse) verdrängt hat (Fall 2). In einem dritten Fall findet ein Autor das Manuskript eines faktualen Textes, hält diesen jedoch fälschlicherweise für einen fiktionalen Text und entscheidet sich dafür, den Text als (plagiierten) fiktionalen Text zu veröffentlichen (Fall 3).76 Wenn man diese Texte nicht zu den fiktionalen zählen möchte, so dürfte das vor allem zwei Gründe haben: Zum einen bestehen die fraglichen Texte – zumindest zum großen Teil – aus wahren Sätzen; zum anderen ist der Gehalt dieser Texte offensichtlich nicht erfunden.77 Wie ist mit diesen Fällen umzugehen? _____________ 75
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Man denke etwa an die Frage nach den Funktionen oder dem Wert fiktionaler Literatur. Anschließend an (F6) liegt es nahe, als eine Funktion fiktionaler Literatur die Erweiterung unseres Vorstellungshorizonts anzunehmen. Fiktionale Literatur könnte demnach unter anderem insofern wertvoll sein, als sie uns den (angeleiteten) imaginativen Nachvollzug beispielsweise moralisch relevanter Szenarien ermöglicht (vgl. z.B. Currie: Realism). Für jemanden, der das Problem fiktiver Gegenstände ins Zentrum einer Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs stellt, liegen solche Überlegungen wohl weniger nahe bzw. sind nicht in gleicher Weise erhellend – denn warum die Lektüre fiktionaler Texte unter der Beschreibung ›Es werden Informationen über fiktive Gegenstände geliefert‹ einen Effekt wie den angeführten haben sollte, ist nicht unmittelbar einsichtig. Vgl. Lamarque / Olsen: Truth, S. 50; die Beispiele entstammen Currie: Fiction, S. 388; vgl. auch Currie: Nature, S. 42-45. Vgl. Lamarque / Olsen: Truth, S. 50. Die Intuition, dass Fiktionen mit dem Ausdenken oder Erfinden von etwas zu tun haben, findet sich beispielsweise in der Defini-
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Die einfachste Lösung bestünde darin, die Fälle als das zu nehmen, was sie dem Anschein nach sind, und es dabei bewenden zu lassen: Es handelt sich um hypothetische Sonderfälle, bei denen unsere Urteile darüber, ob wir es mit fiktionalen oder faktualen Texten zu tun haben, schwanken oder in unterschiedliche Richtungen gehen dürften. Auf der Grundlage dieser Beobachtung ließe sich argumentieren, dass diese Fälle nicht den Kernbereich des Fiktionalitätsbegriffs betreffen und aus unserer Analyse folglich ausgeklammert werden können.78 Obwohl diese Reaktion grundsätzlich am Platz ist, möchten wir zeigen, dass es möglich ist, mit diesen Problemfällen auf der Basis von (F6) in einer Weise umzugehen, die erstens zu Ergebnissen führt, welche die Analyse selbst intakt lassen, und zweitens verständlich macht, warum die Klassifikation in diesen Fällen schwierig ist.79 Ausgehend von (F6) lässt sich zu den genannten Fällen Folgendes sagen: Obwohl die Wahrheit fiktionaler Äußerungen bei der Analyse des Fik_____________
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tion des Duden, Bd. 3, S. 1087. Zum Problem der Wahrheit vgl. oben, Anm. 11; ähnlich liest man bei Goodman: »Literal falsity distinguishes fiction from true report« (Goodman: Mind, S. 124). Vgl. oben, Abschnitt 1. Zur Frage, welche Rolle kontrafaktische Szenarien bei der Begriffsbestimmung spielen sollten, vgl. Craig: Untersuchungen, bes. S. 12-24. Lamarque und Olsen schlagen eine komplexe Lösung vor, die auf der Unterscheidung zwischen dem »Gehalt« (»content«) einer fiktionalen Äußerung, und deren »Präsentationsmodus« (»mode of presentation«) beruht: Bei ersterem handelt es sich um die Dinge, die man sich auf der Basis des fiktionalen Textes vorzustellen hat, während der spezifische Präsentationsmodus eines fiktionalen Textes eben darin besteht, dass die Sätze des Textes mit den in (F6) spezifizierten Absichten geäußert werden. Lamarque und Olsens Lösung besteht nun in dem Hinweis, dass nicht nur der Präsentationsmodus sondern auch der Gehalt eines fiktionalen Textes ›fiktional‹ sein muss: »While propositional content in general consists of the characterization of objects, events, places, people, and so on, content is fictional just in case what is true of those objects, events, etc. is dependent on the fictive descriptions which characterize them in the first place. […] Fictional content is such that how things are (in the fiction) is determined by how they are described to be in a fictive utterance.« (Lamarque / Olsen: Truth, S. 51, Kursivierung im Original) Zwar stimmen wir mit der Beurteilung der Fälle, die Lamarque und Olsen im Anschluss an diese Unterscheidung vorschlagen, im Ergebnis offenbar überein (s.u.) – ihr Weg zu diesem Ergebnis überzeugt jedoch nur bedingt. Misslich kann man an ihrem Lösungsvorschlag finden, dass er mit der Rede vom Gehalt einer fiktionalen Äußerung und von Wahrheiten über fiktive Gegenstände zum einen erneut das Konzept der Wahrheit in die Analyse einzuführen scheint, und dass der Lösungsvorschlag zum anderen als naher Verwandter der durch (F2) repräsentierten ›ontologischen‹ Ansätze missverstanden werden kann. Beide Probleme lassen sich unserer Ansicht nach vermeiden, wenn man auf die Rede vom Gehalt fiktionaler Äußerungen verzichtet. Die durch die genannten Fälle aufgeworfenen Probleme kann man auch auf der Basis eines Fiktionalitätsbegriffs lösen, der allein Regeln und Konventionen der Produktion und Rezeption fiktionaler Texte in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt.
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tionalitätsbegriffs keine Rolle spielt, können wir angesichts eines Textes, dessen Sätze (zum großen Teil) wahr sind, in Zweifel darüber geraten, ob der Autor des Textes tatsächlich die Absicht gehabt hat, einen fiktionalen Text zu verfassen. Denn mit wahren Äußerungen verbinden wir normalerweise Informationsabsichten, d.h. wir unterstellen für gewöhnlich, dass der Autor seine Zuhörer oder Leser zu einem Überzeugungserwerb oder -wandel, nicht jedoch zu make-believe-Spielen bewegen möchte.80 Wenn wir merken, dass die Sätze eines Textes zum großen Teil wahr sind, so liegt es nahe, dem Autor zu unterstellen, er habe keine fiktionalen Äußerungen im Sinne von (F6) getätigt. – Ausgehend von dieser Beobachtung kann man den drei angeführten Szenarien folgendermaßen begegnen: In Fall 1 liegt es nahe, dem Autor zu unterstellen, er habe eine (faktuale) Biographie schreiben wollen und dies auch getan – wenngleich mit der zusätzlichen Absicht, sein Publikum über diesen Sachverhalt zu täuschen. Selbst wenn er hierbei erfolgreich ist, ändert das nichts daran, dass es sich immer noch um eine Autobiographie (und damit einen faktualen Text) handelt. Der Text in Fall 2 ist dagegen als fiktional aufzufassen. Wahre Aussagen in fiktionalen Texten sind zunächst einmal nichts Ungewöhnliches und werfen, wie gesehen, hinsichtlich der Beurteilung des Textes als fiktional keine Probleme auf. Fall 2 allerdings ist so konstruiert, dass alle Sätze des Textes wahr sind. Das Unbehagen, das man angesichts des Vorschlags verspüren kann, den Text ›fiktional‹ zu nennen, ist vielleicht schlicht auf die Außergewöhnlichkeit des Falls zurückzuführen – was nichts an der Klassifikation des Textes als fiktional ändern würde. Eine andere Beschreibungsmöglichkeit tut sich auf, wenn man darauf besteht, dass es einen solchen Text nicht geben könne, ohne dass zugleich eine – ebenfalls unbewusste – Absicht vorläge, einen Tatsachenbericht zu verfas_____________ 80
Hier ist jedoch Vorsicht geboten. Ein Autor kann beabsichtigen, dass seine Leser anhand des fiktionalen Textes bestimmte Überzeugungen erwerben. Das make-believeSpiel ist dann ein Mittel, das Leser dazu bringen soll, bestimmte Auffassungen in Bezug auf die Welt oder sich selbst zu erwerben. Entsprechende Absichten gibt es ausgesprochen oft; sie dürften so etwas wie den Kern der traditionellen humanistischen Auffassung von fiktionaler Literatur ausmachen. Entscheidend ist jedoch, dass weder die Absicht, ein Leser möge einen fiktionalen Text zum Anlass nehmen, über sich und die Welt nachzudenken, noch der Wunsch, ein Leser möge aufgrund dieses Nachdenkens zu einem Überzeugungswandel gelangen, mit den in (F6) spezifizierten Absichten verwechselt werden darf. Es handelt sich um (sekundäre) Wünsche/Absichten, die zu der (primären) Absicht, einen fiktionalen Text zu produzieren, hinzutreten können (aber nicht müssen). Und das heißt: Für den Status eines Texts als fiktional ist diese primäre Absicht und nur sie ausschlaggebend. Die weiteren Absichten betreffen die Frage, was der Autor darüber hinaus erreichen möchte, indem er einen fiktionalen Text schreibt; vgl. auch Lamarque / Olsen: Truth, S. 63f.
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sen. In diesem Fall wäre das hypothetische Szenario in seiner vorliegenden Form unterbestimmt; wenn wir darauf bestehen, dass es um eine entsprechende (unbewusste) Absicht ergänzt wird, so können wir den Text in Fall 2 als faktualen bezeichnen. Fall 3 ist deshalb schwierig zu beurteilen, weil hier nicht einfach zu entscheiden ist, ob wir es mit einem oder mit zwei Texten zu tun haben. Diese Frage muss entschieden werden, bevor man sich über die Fiktionalität der/des Texte(s) Gedanken macht. In jedem Fall scheint klar zu sein, dass es sich bei dem ursprünglichen Text, wenn er von seinem Autor mit den für faktuale Texte einschlägigen Intentionen produziert wurde, um einen faktualen Text handelt (auch wenn dies unter bestimmten Umständen verborgen bleiben kann). Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entscheidet man sich dafür, dass es sich beim Originaltext und dessen plagiierter Version um zwei verschiedene Texte handelt, so ließe sich sagen, dass wir es beim zweiten Text mit einem fiktionalen zu tun haben (wobei die Entstehungsgeschichte dieses Textes kein gutes Licht auf dessen Verfasser wirft). Als Alternative bietet sich folgende, zweite Beschreibung an: Es handelt sich um einen faktualen Text, der von jemandem, der sich in Unwissenheit über dessen Status befindet, als fiktionaler Text ausgegeben wird. In diesem Fall befänden sich zahlreiche Personen im Irrtum, den die in das Szenario involvierten Personen aber nicht erkennen können und der nichts am Status des Textes ändert. Was Fall 3 deutlich vor Augen führt, ist erstens, dass es unter bestimmten Umständen deshalb besonders schwer oder sogar unmöglich sein kann, den Status eines Textes korrekt einzuschätzen, weil einem die notwendigen Informationen fehlen, und zweitens, dass massive Irrtümer über den Status eines Textes nicht ausgeschlossen sind. Bei genauerem Hinsehen erweist sich dies, wie das folgende Gedankenexperiment zeigen kann, jedoch als Vorzug der hier vorgeschlagenen Analyse. Angenommen, wir finden einen alten Brief aus dem vorletzten Jahrhundert, von dem wir nur erkennen können, dass er an eine in Berlin wohnhafte Person mit dem Vornamen ›Franz‹ adressiert war. Es kann uns hier prinzipiell unmöglich sein, den originalen Adressaten ausfindig zu machen. Das ändert nichts daran, dass es sich um einen Brief handelt, der an eine bestimmte Person in Berlin adressiert war. Wenn nun jemand diesen Brief als sein Erzeugnis hinstellt und andere dazu bewegen möchte, gegenüber diesem Text die für fiktionale Texte typische Rezeptionshaltung einzunehmen, dann dürfte klar sein, wie dieser Fall zu beurteilen ist: Die Leser werden in doppelter Weise getäuscht – nämlich sowohl über den Verfasser des Textes als auch
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über dessen kategorialen Status.81 Fall 3 ist in diesen Hinsichten sicherlich analog zu beurteilen. Näheres zu Grenzfällen Fälle, in denen die Unsicherheit über die Klassifikation eines Textes auf Informationsdefiziten beruht, lassen sich als epistemische Grenzfälle bezeichnen: Wir können hier einen Text nicht zuordnen, weil wir nicht wissen, ob er mit den in (F6) spezifizierten Absichten hervorgebracht wurde. Ein zweiter Typ von Grenzfällen – wir könnten von materialen Grenzfällen sprechen, da sie sich dem Gehalt der fiktionalitätsspezifischen Absichten verdanken – kann beispielsweise im Falle von Texten vorliegen, von denen wir annehmen können oder müssen, dass sie mit Absichten produziert wurden, die den in (F6) spezifizierten lediglich ähneln. Auch in solchen Fällen kann unter Umständen nicht entschieden werden, ob wir den Text noch als fiktional bezeichnen sollten oder nicht. Einschlägig dürften hier beispielsweise vormoderne Texte sein. Die Regeln und Konventionen des adäquaten Umgangs mit fiktionalen Texten sind – wie alle kulturellen Größen – historisch wandelbar und dürften eine Reihe von Entwicklungsstufen durchlaufen haben, bevor sie ihre heutige Form angenommen haben.82 Man kann allerdings vermuten, dass es gewisse Rudimente der in (F6) spezifizierten Regeln schon sehr lange gegeben hat. Make-believeSpiele können wir vermutlich relativ problemlos auch als Bestandteile von Kulturen annehmen, die von unserer Kultur sehr verschieden sind – und die jedenfalls nicht über ein ausdifferenziertes Kunst- bzw. Literatursystem verfügen, wie wir es ungefähr seit dem 18. Jahrhundert haben. An dieser Stelle liegt es nahe, auf den wichtigen Unterschied aufmerksam zu machen, der zwischen ›fiktional sein‹ und ›als fiktional behandelt werden‹ besteht. Wir können nämlich einen Text, von dem wir nicht wissen, ob er als fiktionaler intendiert ist (oder von dem uns egal sein kann, ob er als fiktionaler intendiert ist), behandeln, als sei er als fiktionaler intendiert. Das dürfte beispielsweise für mythische Texte gelten. Solche Texte kann man (zumindest in bestimmten Kontexten) mit Gewinn behandeln, als seien sie fiktional, da zum einen keine Sanktionen zu gewärtigen sind (es wird niemand auftreten, der sich missverstanden fühlt) und da _____________ 81 82
Ist der Täuscher selbst (wie in Fall 3) unsicher, so wird der Leser dahingehend getäuscht, dass ihm vorenthalten wird, dass hier ein Text vorliegt, dessen Status aus Gründen mangelnder Information nicht sicher bestimmt werden kann. Wenn man die These der kulturspezifischen Variabilität der einschlägigen Regeln und Konventionen ernst nimmt, so kann man annehmen, dass es auch synchrone kulturrelative Unterschiede gibt. Wir können diese Überlegungen hier nicht vertiefen.
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die Texte zum anderen heutigen paradigmatischen fiktionalen Texten in verschiedener Hinsicht sehr ähnlich sind. Es gibt noch eine weitere Klasse von Fällen, die sich nicht ohne weiteres auf die diskutierten Weisen verstehen lassen. Solche Fälle liegen vor, wenn die adäquate Rezeption eines Textes offenbar an mehr als nur einem Regelset orientiert sein muss. Einschlägig dürften hier die Beispiele des Schlüsselromans und des historischen Romans sein. Für Schlüsselromane ist charakteristisch, dass sie auf make-believe-Spiele ausgerichtet sind und bestimmte Elemente der Wirklichkeit zutreffend charakterisieren wollen.83 In solchen Fällen einzelne Textpassagen entweder als fiktional oder als faktual auszeichnen zu wollen, wäre problematisch, da dieselben Textstellen sowohl für fiktionale wie auch für faktuale Texte einschlägige Funktionen erfüllen können (und auch vom Autor so intendiert sein können). Hier scheint die vorgeschlagene Analyse also tatsächlich an ihre Grenzen zu stoßen. Ein Nachteil der Analyse ist das aber nicht unbedingt. Dass Schlüsselromane, historische Romane und sonstige Texte, die sich einer einfachen Kategorisierung entziehen, indem sie es gezielt darauf anlegen, die Grenzen zwischen fiktionalen und faktualen Texten verschwimmen zu lassen, einer Analyse ihre Grenzen aufzeigen, ist nämlich erwartbar. Es kann einer Analyse als Vorteil angerechnet werden, wenn sie nicht mehr Klarheit und Eindeutigkeit in den Fiktionalitätsbegriff ›hineinanalysiert‹, als ihm von sich aus innewohnt. Was den begrifflichen Umgang mit diesen Texten angeht, gibt es offenbar drei Optionen: Man könnte erstens dafür plädieren, dass das begriffliche Netz, das mit den Ausdrücken ›fiktional‹ und ›faktual‹ ausgeworfen ist, schlicht und ergreifend zu grobmaschig ist, um Schlüsselromane und vergleichbare Texte zu erfassen, und dass solche Texte entsprechend weder fiktional noch faktual sind. In diesem Fall könnte die fiktional/faktual-Unterscheidung – entgegen einer verbreiteten Annahme – nicht als vollständig angesehen werden. Zweitens ließe sich dafür plädieren, einen solchen Text sowohl als fiktional als auch als faktual anzusehen. Dann wäre die fiktional/faktual-Unterscheidung – einer verbreiteten Annahme zum Trotz – nicht exklusiv. Drittens könnte man aber auch darauf beharren, dass wir es hier mit einem unauflöslichen Fall von Vagheit zu tun haben: Es ist demnach unbestimmt, ob ein solcher Text als fiktional, faktual, beides oder keins von beiden zu klassifizieren ist. Und natürlich kann _____________ 83
Es handelt sich dabei um gleichberechtigte Intentionen, die man nicht in ›primäre‹ und ›sekundäre‹ unterscheiden kann. Das in Anm. 80 benannte Manöver – man hat die sekundäre Absicht, bestimmte Elemente der Wirklichkeit zu charakterisieren, indem man die primäre Absicht verwirklicht, einen fiktionalen Text zu schreiben – ist zur Beschreibung dieser Fällen nicht einschlägig.
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man auf Nummer sicher gehen und – angesichts verschiedener Beispiele – verschiedene dieser Optionen wählen.84 Noch einmal: Die Rolle des Erzählers Ein weiteres Problem von (F6) betrifft die Rolle des Erzählers. Während in manchen fiktionalen Texten ein figürlicher Erzähler auftritt, ist dies in anderen Texten nicht der Fall; das »extradiegetische Aussagesubjekt der Erzählrede [kann] mehr oder minder körperlos bleiben und scheinbar unabhängig von jeder festen Bindung an Zeit und Raum sprechen«.85 Es ist daher fraglich, ob es sinnvoll ist, dem Erzähler in der Analyse des Fiktionalitätsbegriffs einen derartig prominenten Platz einzuräumen, wie dies in (F6) der Fall ist. Genau genommen ließe sich geltend machen, dass man sich nicht im Falle aller fiktionalen Texte vorstellen müsse, ein Erzähler führe mit den Sätzen des Textes bestimmte Sprechakte aus. Nicht selten nämlich würde dies zu erheblichen Problemen mit der kohärenten Ausgestaltung der Vorstellungswelt führen. Wie soll man beispielsweise die Existenz eines allwissenden Erzählers, der souverän über Wissen verfügt, das für sterbliche Wesen unmöglich zu erlangen ist, kohärent in eine vorgestellte Welt integrieren? Hinzu kommt, wie das folgende Beispiel zeigt, dass es in bestimmten Fällen nicht sinnvoll ist, einen Erzähler als Teil der erzählten Welt mit Autorität hinsichtlich bestimmter Tatsachen auszustatten. Nehmen wir an, in einer Erzählung wird von einem Mord berichtet, der nie aufgeklärt wurde, und von den Folgen für den Täter. Wie soll man _____________ 84
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Hier das Stimmungsbild im Autorenteam: Jan Gertken plädiert dafür, alle drei Konsequenzen zu ziehen. Tilmann Köppe meint, die fiktional/faktual-Unterscheidung sei nicht vollständig, aber exklusiv – und nimmt an, dass man beispielsweise im Falle von Schlüsselromanen letztlich von einem eigenen Set von Konventionen und Regeln ausgehen muss. – Nicht für aussichtsreich halten wir übrigens die Idee, den Fiktionalitätsbegriff zu einem graduellen Begriff zu erklären und zu sagen, dass ein Text mehr oder weniger fiktional sein kann (vgl. Hempfer: Fiktionstheorie, S. 116). Anschließend an (F6) lässt sich diese Idee kaum sinnvoll ausbuchstabieren – denn es ist unklar, woher die Gradualität des Begriffs eigentlich kommen (bzw. worauf sie beruhen) soll. Erstens ist es sicher nicht so, dass die für fiktionale Texte konstitutive Intention mehr oder weniger stark vorliegt. (Sollte das heißen, dass man die Fiktionalität eines Textes öfters nur halbherzig intendiert?) Zweitens scheint nicht der Fall zu sein, dass die Gradualität auf dem Inhalt der Intention beruht (dies würde besagen, dass man einen Text mehr oder weniger als prop gebrauchen soll). Eine dritte Möglichkeit, die Gradualität von ›Fiktionalität‹ zu erklären, bestünde in der Annahme, dass mehr oder weniger Bestandteile des Textes fiktional sein könnten; dies liefe offensichtlich auf eine Aufteilung der Sätze in fiktionale und faktuale hinaus – eine Version, gegen die wir uns bereits ausgesprochen haben (s.o.). Martínez / Scheffel: Einführung, S. 85; vgl. auch Kania: Ubiquity; Wilson: Narrators; Alward: Ubiquity; Kania: Reply.
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sich zugleich vorstellen, dass der Erzähler von dem Mord weiß und dass niemand von dem Mord weiß?86 Man kann diesem Einwand recht einfach begegnen, indem man (F6) folgendermaßen abschwächt: Der Verfasser eines fiktionalen Textes intendiert, dass Leser sich insoweit eine konkrete Erzählinstanz als Sprecher vorstellen und gedanklich ausmalen sollen, als dies aufgrund der Textgrundlage sinnvoll ist (wobei dies die Möglichkeit umfasst, dass es nicht sinnvoll ist). Handelt es sich beim Sprecher/Erzähler des Textes sozusagen um ein ›körperloses Aussagesubjekt‹, so sind derartige Vorstellungen nicht Bestandteil der Vorstellungs-Vorschriften, die das Werk enthält und daher auch nicht sinnvoll. In solchen Fällen kann man die Sätze des Textes gleichsam als direkte Vorstellungsangebote oder -aufforderungen verstehen. Solche Sätze können wir als mit einem impliziten ›Stell Dir vor, dass…‹-Operator versehen auffassen, im Gegensatz zu anderen, die den Umweg über die vorgestellte Erzählerinstanz wählen und daher als mit dem Zusatz ›Stell Dir vor, jemand sagt…‹ versehen verstanden werden können. Dass diese Lösung nicht in unnötiger Weise ad hoc ist, kann durch folgende Überlegung verdeutlicht werden. Die Einbeziehung eines Erzählers in die Analyse wurde durch die Existenz von Texten nahe gelegt, in denen eine direkte und ausschließliche Umsetzung der Sätze des Textes in entsprechende Vorstellungen eine unangemessene, weil verzerrte, Rezeptionshaltung darstellen würde. Man tut dieser Idee aber nicht unbedingt einen Gefallen, wenn man sie dadurch überstrapaziert, dass man den Erzähler zu einer Notwendigkeit macht, die durch die Tatsache einer imaginierten Sprachhandlungssituation ins Spiel gebracht wird. Manche Texte evozieren eine solche Sprachhandlungssituation tatsächlich und erfordern entsprechende Vorstellungen. Aber dem muss nicht so sein. Das Argument ›Jemand muss die Sätze doch äußern‹ überzeugt deshalb nicht, da es möglich und, gegeben die obigen Ausführungen, auch sinnvoll ist, die entsprechenden Sätze eines fiktionalen Textes als implizit mit einem ›Stell Dir vor, dass…‹-Operator versehen zu interpretieren.87 Die Frage lautet dann im Einzelfall, ob es sinnvoll und für eine adäquate Rezeption erforderlich ist, diesen Operator in einen ›Stell Dir vor, jemand sagt …‹-Operator umzuwandeln. Diese Anregungen sind natürlich nicht dazu gedacht, wichtige Fragen der Erzähltheorie zu beantworten. Es soll lediglich darauf hingewiesen _____________ 86
87
Hier bietet sich auch ein Vergleich mit Filmen an. Es wäre seltsam, davon auszugehen, dass man sich stets einen Kameramann mit vorstellen müsste oder aber jemanden, mit dessen Augen man die Szenerie sieht. Das ist unplausibel, denn man blickt bei sehr vielen Filmen gleichsam direkt auf das Geschehen. Natürlich erfordern diese Sätze dann sehr wohl einen Produzenten. Aber dieser ist leicht ausfindig zu machen: Es handelt sich um den Autor.
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werden, dass es je nach Text mehr oder weniger angemessen sein kann, einen konkreten Erzähler in die Vorstellungswelt mit einzubeziehen. (Dass es hier Grenzfälle gibt, soll nicht bestritten werden und ist mit der Analyse kompatibel.) Entscheidend ist hier vor allem, dass dieser Sachverhalt im Rahmen der Analyse auf einfache Weise berücksichtigt werden kann, womit wichtige Fragen der Textrezeption zwar angesprochen, aber nicht mehr, wie in der Formulierung von (F6), vorweg genommen werden. Noch einmal: Fiktionssignale Die bislang angestellten Überlegungen ermöglichen auch, einen weiteren Zweifel auszuräumen, der insbesondere produktionsorientierten Ansätzen gegenüber geltend gemacht werden kann. Auch dieser Einwand beläuft sich darauf, dass die bloße Absicht, einen fiktionalen Text zu produzieren, für die Fiktionalität des Textes nicht hinreichend ist. Wenn ein Text alle in (F6) genannten Bedingungen erfüllt und man dem Text dennoch in keiner Weise ansehen kann, dass er als fiktionaler intendiert ist, so können Zweifel an der Fiktionalität des Textes aufkommen. Man könnte von dem Autor sagen wollen, er habe zwar aufrichtig versucht, einen fiktionalen Text zu schreiben, es sei ihm aber nun einmal nicht gelungen. Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, genügt es, zwei Überlegungen zu verknüpfen, von denen bereits die Rede war. Es handelt sich um Curries Idee, dass Leser einen Text auf der Grundlage ihrer Erkenntnis der Autorabsicht als fiktional einstufen,88 und um die Rolle, die Fiktionssignale dabei spielen.89 Fiktionssignale sorgen dafür, dass die Leser eines Textes tatsächlich einen hinreichenden Grund haben, dem Text gegenüber eine make-believe-Rezeptionshaltung einzunehmen. Nur wenn entsprechende Signale vorliegen, kann der Text tatsächlich als mit der Aufforderung oder Einladung an den Leser verbunden verstanden werden, in ein make-believe-Spiel einzutreten. Der Autor muss daher Sorge tragen, dass sein als fiktional intendierter Text mit hinreichend deutlichen Fiktionssignalen verbunden ist, deren Vorliegen dem Leser ermöglicht, die mit dem Text verbundene Absicht im Sinne von (F6) zu erkennen. Dieser Punkt ließe sich auch folgendermaßen formulieren: Intentionen als mentale Zustände unterscheiden sich von bloßen Wünschen. Man hat also nicht bereits dann die Intention, einen fiktionalen Text zu schreiben, wenn man es nett fände, wenn Leser ihn in einem make-believe-Spiel einsetzen würden. Man muss vielmehr Sorge tragen, dass dies auch geschieht (und zwar über Fiktionssignale irgendeiner Art, seien sie textueller, paratextueller oder sonstiger Natur). Natürlich kann der Fall einer Person auftreten, die letztendlich so wenig Wissen über _____________ 88 89
Vgl. oben, Anm. 70. Vgl. oben, Abschnitt 2.2.
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fiktionale Texte und mögliche Fiktionssignale hat oder so ungeschickt in deren Handhabung ist, dass das Resultat ihrer Produktion auch bei genauer Untersuchung nicht als fiktional zu erkennen ist. Hier ließe sich jedoch fragen, ob man in einem solchen Fall dem Verfasser wirklich noch die entsprechenden Intentionen zuschreiben sollte. (Man vergleiche: Jemand bastelt an einem riesigen Stück Knetmasse herum, dessen Resultat einer missgestalteten Leiter ähnelt. Sollte man von dieser Person sagen, dass sie die Absicht hatte, einen Stuhl herzustellen?) Die These muss hier nicht lauten, dass dies in allen Fällen unangemessen bzw. falsch wäre. Aber es ist klar, dass die Antwort in vielerlei Hinsicht problematisch sein kann. Unsere Beurteilungen hinsichtlich des Textstatus dürften in analogen Fällen schwanken bzw. schwierig, wenn nicht unmöglich sein. Dies kann im Rahmen der vorgeschlagenen Analyse – in der die Kenntnis bestimmter Regeln und Konventionen eine zentrale Rolle spielt – aber erklärt werden und wäre demnach eher als Vorzug denn als Schwäche der Analyse zu verbuchen. Noch einmal: Vorstellungswelten Zentral für die Fiktionalität eines Textes ist die Absicht auf Seiten des Autors, der Leser möge auf der Grundlage der fiktionalen Äußerungen zu einer hinreichend umfassenden Vorstellungswelt gelangen. Die dahinter stehende intuitive Idee scheint sich durch das Konzept von make-believeSpielen verständlich machen zu lassen. Näherer Erläuterung bedarf allerdings insbesondere, wie man zu verstehen hat, dass das Inventar der Vorstellungswelt durch den Gehalt fiktionaler Aussagen festgelegt ist – und inwiefern es festgelegt ist. Dass diese Fragen nicht trivial sind, geht zum einen daraus hervor, dass man sich nicht immer alles vorstellen darf, was ein Erzähler berichtet: Unzuverlässige Erzähler sind keine vertrauenswürdigen Informationsquellen in Bezug auf das, was sie berichten; man muss sich hier vorstellen, man habe es mit dem Bericht eines Informanten zu tun, der Anhaltspunkte in Bezug auf ein bestimmtes Geschehen liefert, der jedoch keine vollständige (oder vollständig korrekte) Beschreibung liefert.90 Zum anderen muss man sich bei allen Texten offensichtlich mehr vorstellen als nur den Gehalt der fiktionalen Äußerungen. So wie die Beschreibungen, die ein faktualer Bericht enthält, niemals alle Aspekte eines wirklichen Sachverhalts erfassen, erfasst eine fiktionale Beschreibung niemals alle Aspekte eines vorzustellenden Sachverhalts. Oft ist es sogar so, dass fiktionale Texte gerade interessante oder relevante – und manchmal sogar zentrale – Aspekte der Vorstellungswelt unerwähnt lassen. Man mag hier an die Fragen denken, ob Hamlet in Shakespeares Drama an einem _____________ 90
Es sind unter anderem eben diese Fälle, die die Einführung der Erzählerinstanz in die Vorstellungswelt erforderlich machen.
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Ödipuskomplex leidet, was Kohlhaas in Kleists Michael Kohlhaas zu seinem Rachefeldzug motiviert oder ob Nathanael in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann von Anfang an verrückt ist oder nicht. An dieser Stelle berührt die Fiktionalitätstheorie Kernfragen der Interpretation literarischer Texte. Interpretationen betreffen oft zunächst einmal die Handlungsebene literarischer Texte bzw. die Ebene der Geschichte. Erst wenn man festgestellt hat, worum es in einem fiktionalen Text geht, kann man sich komplexeren interpretatorischen Fragen widmen. Dies ist nicht der Ort, in eine Klärung der Frage einzusteigen, welche Überlegungen man anstellen muss, um herauszufinden, welche Konturen eine Vorstellungswelt annehmen sollte;91 wir möchten es mit einem Hinweis darauf bewenden lassen, dass sich die hier vorgeschlagene Analyse des Fiktionalitätsbegriffs auch in Bezug auf diese Frage als anschlussfähig erweist. Bibliographie Alward, Peter: For the Ubiquity of Nonactual Fact-Telling Narrators. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 65 (2007), S. 401-404. Beckermann, Ansgar: Handeln und Handlungserklärungen. In: A.B. (Hg.): Analytische Handlungstheorie. Bd. 2: Handlungserklärungen. Frankfurt/M. 1977, S. 7-84. Bieri, Peter: Was bleibt von der analytischen Philosophie? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), S. 333-344. Blume, Peter: Fiktion und Weltwissen. Der Beitrag nichtfiktionaler Konzepte zur Sinnkonstitution fiktionaler Erzählliteratur. Berlin 2004. Bühler, Axel: Autorabsicht und fiktionale Rede. In: Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Matías Martínez / Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999, S. 61-75. Carroll, Noël: Interpretation, History, and Narrative. In: N.C.: Beyond Aesthetics. Philosophical Essays. Cambridge 2001, S. 133-156, 410-413. Craig, Edward: Was wir wissen können. Pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff. Hg. von Wilhelm Vossenkuhl. Frankfurt/M. 1993. Currie, Gregory: What Is Fiction? In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 43 (1985), S. 385-392. Currie, Gregory: The Nature of Fiction. Cambridge u.a. 1990. Currie, Gregory: Unreliability Refigured: Narrative in Literature and Film. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 53 (1995), S. 19-29. Currie, Gregory: Realism of Character and the Value of Fiction. In: Jerrold Levinson (Hg.): Aesthetics and Ethics. Essays at the Intersection. Cambridge 1998, S. 161-181.
_____________ 91
Highlights der Diskussion sind Lewis: Truth, und Walton: Mimesis, Kap. 4. Es scheint, dass man, um zu einer adäquaten Vorstellungswelt zu kommen, neben den fiktionalen Äußerungen auch Genre- und Erzählkonventionen berücksichtigen muss, und dass man nicht zuletzt über Wissen über die Wirklichkeit sowie insbesondere über die individuellen Kontexte einzelner Werke verfügen muss.
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»Fictio, eine Erdicht-Einbildung, ist in Jure, wenn etwas vorgestellet wird, als wenn es wahr wäre, da es doch nicht ist.«1 Damit kommt man durch, nicht nur in Jure, sondern auch im gemeinen Leben und auf weite Strecken sogar in der Literaturwissenschaft. Trotzdem gerät die Grundsatzdiskussion über Fiktionalität immer wieder in Widersprüche und Sackgassen.2 Weshalb? Ich äußere vorweg die Vermutung, dass hier eine oder mehrere Sprachfallen wirksam sind, die letztlich anthropologische Wurzeln haben: Wir behandeln die Ergebnisse von Abstraktionen, die wir zu instrumentellen Zwecken vorgenommen haben, wie Dinge, die an und für sich bestehen, und wundern uns dann, dass sie bei näherem Gebrauch nicht Stand halten. Mit Wörtern wie ›fiktiv‹ (oder ›fingiert‹) oder ›Fiktion‹ kommen wir noch ganz gut zurecht. Wenn wir aber über ›das Fiktive‹ zu sprechen versuchen, schiebt sich schnell die Vorstellung einer Substanz ins Denken. Ähnlich verdächtig ist die Wortbildung ›Fiktionalität‹. Das Wort gehört in die Klasse der substantivierten Adjektive, die ihrerseits von einem Substantiv abgeleitet sind, wie: Hundeartigkeit, Eisernheit, das Dramatische oder die Wissenschaftlichkeit. Die Wortbildung durchläuft dabei zwei Abstraktionsschritte, von einem relativ konsensuell identifizierbaren Referenzobjekt (Hund) über dessen wesentliche Eigenschaft (hundeartig) zu einer Substanz, deren Exemplar diese Eigenschaft ist (Hundartigkeit). Solche Wortbildungen können praktische Hilfsmittel sein, wenn man sie mit nominalistischem Bewusstsein verwendet, aber sie führen unweigerlich in die Welt der Metaphysik und ihre Aporien, wenn man sie substantialistisch gebraucht und z.B. sucht, wo in der Welt ein Ding ›Fiktionalität‹ aufzufinden sei: im Reich der platonischen Ideen natürlich. Nicht viel anders steht es um ›das Fiktive‹. _____________ 1 2
[Zedler]: Universal-Lexicon. Bd. 9, S. 810. Ich verweise hier generell auf den gründlichen Überblick von Zipfel: Fiktion.
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Das gilt nicht minder für die andere grundlegende Bestimmung des Zedler, für das Wörtchen ›wahr‹. Die meisten Probleme mit der Fiktionalität sind vielleicht darauf zurückzuführen, dass man sich mit dem Begriff der Wahrheit mehr Probleme macht als notwendig und nicht nach der Wahrheit von Sätzen fragt, sondern nach einer dahinter liegenden Wahrheitlichkeit. Ob eine Behauptung oder Abbildung wahr/zutreffend oder falsch sei, ist zwar manchmal schwer zu entscheiden, aber in der Regel nur deshalb, weil unser Wissen dafür nicht ausreicht. Man sieht dann entweder selbst nach oder man prüft, ob sie mit den bisherigen bewährten Überzeugungen übereinstimmt, oder man fragt einen Experten. Wenn man allerdings abstrahiert und der Abstraktion Dingcharakter verleiht, d.h. fragt, was ›Wahrheit‹ sei und wo sie wohnt, zieht Unheil auf. Ich will mich aber nicht damit begnügen, die Probleme mit der Fiktionalität zu Scheinproblemen zu erklären. Auch Scheinprobleme haben reale Ursachen und Folgen. Um Fiktionalität als anthropologische Basis-Disposition herauszuarbeiten, werde ich ansetzen bei den (1.) philosophischen Wahrheitsbegriffen, werde diese sodann (2.) bioanthropologisch rekonstruieren, (3.) die philosophische und evolutionär-psychologische Einführung des Konzepts der Metainformation skizzieren und schließlich darauf aufbauend (4.) den evolutionär-psychologischen Begriff der Fiktion vorstellen. 1. Philosophische ›Wahrheitstheorien‹ Ich beginne mit den so genannten Wahrheitstheorien. Schon die Bezeichnung ist auf typische Weise problematisch. Denn ebenso gut, vielleicht besser, könnte man von ›Wahrheitsdefinitionen‹ sprechen. Die Wahrheit wäre dann als Eigenschaft einer Aussage zu fassen, und die entsprechende Definition würde festlegen, wie wir diese Eigenschaft näher bestimmen. Eine Wahrheitstheorie aber kann auch sagen, was das ›Wesen‹ der Wahrheit ist. In der idealistischen Tradition gibt es da keinen Unterschied, denn im einen wie im anderen Falle wird nicht aus der Empirie geurteilt, sondern aus dem Zusammenspiel von Begriffen, möglichst solchen, die als ›unhintergehbar‹ gelten. – Wie es sich gehört, gibt es drei ›Wahrheitstheorien‹ (und noch ein paar Unter- und Nebentheorien, von denen zwei, die Redundanztheorie und die instrumentalistische Theorie, später noch herangezogen werden).3 _____________ 3
Es handelt sich um die Rekapitulation von philosophischem Einführungswissen, deshalb verzichte ich hier auf ausführliche Literaturangaben. Die älteren Positionen – noch nicht Habermas oder Derrida – findet man in Skirbekk: Wahrheitstheorien.
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Als erste ist die Korrespondenztheorie zu nennen, weil sie die älteste und in der Lebenspraxis verbreitetste ist. Sie besagt, dass eine Aussage dann wahr ist, wenn sie mit den Tatsachen übereinstimmt. So ähnlich hatte das schon Aristoteles formuliert, ebenso Thomas von Aquin und last but not least meine Eltern. Die Aussage ›Der Schnee ist weiß‹ ist genau dann wahr, wenn der Schnee weiß ist.4 Gegen diese Auffassung gibt es eine Reihe von Einwänden. Der meines Erachtens interessanteste besagt, dass Aussagen immer nur mit anderen Aussagen verglichen werden können, nicht aber mit Tatsachen, weil diese (wenn es sie überhaupt gibt – na gut!) nicht zum System Sprache gehören. Man könne die Aussage ›Der Schnee ist weiß‹ nur mit einer anderen Aussage konfrontieren, also z.B. ›Der Schnee ist schwarz‹, nicht aber mit einer sprachunabhängigen Erfahrung, die den Schnee als schwarz auswiese. Diese Behauptung widerspricht zwar aller lebenspraktischen Intuition, nach der die Aussage ›Die Herdplatte ist kalt‹ schlüssig durch das sprachlose Anfassen der heißen Herdplatte geprüft und widerlegt werden kann. Sie weist aber immerhin darauf hin, dass hier ein Problem liegt, zumindest für einige Philosophen. Jedenfalls führt diese Argumentation hinüber zum zweiten Wahrheitsbegriff, zur Kohärenztheorie der Wahrheit: Wahrheit besteht nicht in einer Entsprechung von Aussagen und Tatsachen, sondern in der Verträglichkeit von Aussagen mit anderen Aussagen. (Die Frage, ob man hier besser von Kohärenz oder von Konsistenz spricht, lasse ich beiseite.) Auch dafür gibt es gewichtige Belege aus unserem Alltag. Allerdings gibt es da eine Asymmetrie: Man wird Äußerungen, die logische Fehler aufweisen, nicht als ›wahr‹ akzeptieren. Ob man allerdings Äußerungen schon deshalb als ›wahr‹ einstuft, weil sie kohärent oder konsistent sind, hängt von zusätzlichen Voraussetzungen ab. Wenn man zum Beispiel den Hegelschen Lapidarsatz voraussetzt »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig«,5 dann kann man diese Auffassung durchaus mit einiger Konsequenz vertreten: Eine ›Wirklichkeit‹, die nicht kohärent (›vernünftig‹) ist, wäre demnach bloßer Schein; da hat dann das berüchtigte Hegel-Diktum »Umso schlimmer für die Tatsachen« durchaus Sinn. Es ist ja die Kernüberzeugung aller idealistischen Auffassungen (und in diesem Sinne wird im Weiteren die Marke ›Idealismus‹ gebraucht), dass das erkennende Subjekt über ein verlässliches Vor-Wissen verfügt, das nur begrifflich ausgewickelt werden muss, während die Tatsachen bestenfalls als Katalysatoren oder veranschaulichende Beispiele taugen. Aber das heißt auch: Die Kohärenztheorie ist nur tragfähig auf der Basis eines festen _____________ 4 5
Nach wie vor als herausgehobene Referenz für die Explikation der Korrespondenztheorie gilt Tarski: Wahrheit. Hegel: Grundlinien, S. 55 (Vorrede).
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Glaubens an diese a priori-›Richtigkeit‹ der menschlichen Vernunft. Ohne diesen Glauben gilt das Bertrand Russell zugeschriebene Diktum: »Eine inkonsistente Theorie kann nicht ganz richtig, aber eine konsistente Philosophie kann sehr wohl völlig falsch sein.« Der dritte Kandidat ist die Konsenstheorie der Wahrheit: Als wahr ist eine Aussage dann einzustufen, wenn ihr alle relevanten Gesprächsteilnehmer zustimmen. Diese Auffassung nimmt die Kritik an den anderen beiden auf und verlegt die Begründungsbasis ins Soziale. Auch für diese Auffassung lässt sich einiges anführen. Nicht nur religiöse Wahrheiten werden auf das von der Gemeinde geteilte Vertrauen in bestimmte Autoritäten begründet, sondern auch Wissenschaften konstituieren sich durch Traditionen und kritischen Austausch in einer Forschergemeinschaft, vom traditionsgeleiteten, konsensgesteuerten Alltagshandeln ganz abgesehen. Selbst der demokratische Brauch, Entscheidungen durch Abstimmungen herbeizuführen, gehört in diesen Zusammenhang. Die Geschichte ist freilich auch voll von Unsinn, der auf Konsens beruhte. Deshalb müssen Vertreter der Konsenstheorie – wie z.B. Habermas – eine ideale Sprechsituation bemühen, in der keineswegs jeder vor sich hinplappern darf, sondern nur die relevanten oder kompetenten Gesprächsteilnehmer – die natürlich auch darüber entscheiden, wer relevant und kompetent ist ... Das Instrumentarium dieser ›Theorien‹ ist das reflexionswissenschaftliche der Begründungsphilosophie mit den traditionellen Fragen nach der apriorischen ›Bedingung der Möglichkeit von‹ und/oder dem ›Wesen von‹. Ich will diese Fragestellung umbiegen ins Realwissenschaftliche, d.h. in den Rahmen einer empirisch-anthropologischen Fragestellung (aus der idealistischen ›Theorie‹ eine empirische Theorie machen). Es geht dann nicht mehr um Wahrheit, sondern darum, weshalb etwas für wahr gehalten wird (auch wenn es vielleicht ganz falsch ist), also um Plausibilität (Wahrscheinlichkeit im Sinne von verisimilitudo) und um deren Ursachen. Konsens und Kohärenz und Korrespondenz bezeichnen dann Bedingungen, unter denen uns eine Aussage oder Auffassung plausibel erscheint. Wenn offenkundig ist, dass eine Aussage nur den Tatsachen entspricht oder nur mit anderen Aussagen zusammenpasst oder nur von anderen geteilt wird, haben wir ein Problem. 2. Bioanthropologische Rekonstruktion: Instrumentalismus und Panlinguismus Zur näheren Erläuterung ist noch eine weitere Wahrheitskonzeption einzuführen, die im philosophischen Milieu etwas scheel angesehen wird:
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Instrumentalismus (lat.), philosoph. Anschauung (J. Dewey), nach der die menschl. Intelligenz nur Instrument der Anpassung an die Realitäten ist. Die Gedanken, Vorstellungen u.a. unterscheiden sich nur nach ihrer entsprechenden Brauchbarkeit.6
So steht es in einem der zahlreichen Philosophischen Wörterbücher, die das Internet besiedeln. Hinzuweisen ist bei dieser Definition zunächst auf das zweimalige Erscheinen des Wörtchens ›nur‹: nur Instrument, nur nach ihrer entsprechenden Brauchbarkeit. Damit ist diese ›philosoph. Anschauung‹ überreich als defizitär gekennzeichnet. Ich will sogar noch weiter gehen: Es ist gar keine ›philosoph. Anschauung‹, sondern eine kognitionsbiologische Hypothese, die auch den Wahrheitsbegriff und damit den Fiktionsbegriff einem empirischen, realwissenschaftlichen Zugriff darbietet. Dieser Instrumentalismus gehört zu den ersten großen intellektuellen Erschütterungen der geistigen Welt durch den Darwinismus. Er ist in Deutschland dann bald wieder durch die geisteswissenschaftlichen Gegenströmungen zurückgedrängt worden, hatte aber in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einige Bedeutung. Schon hier gab es Tendenzen zu einer Art Panlinguismus und Panfiktionalismus, der beim instrumentellen Charakter unserer Kognitionen und insbesondere beim weltkonstituierenden Charakter der Sprache ansetzte. Es gibt da eine recht breite Strömung von Ernst Mach,7 der mit seinem Begriff der Denkökonomie eine frühe instrumentalistische Denkposition einnahm und ganz folgerichtig auf den Fiktionscharakter unserer Wirklichkeitsbilder stieß, über Fritz Mauthner, der die Sprache als brauchbares Werkzeug fürs ›irdische Wirtshaus‹ klassifizierte, das aber zum irreführenden Marterinstrument wird, wenn man Wahrheit von ihr erwartet, bis zu Hans Vaihinger, der ein ganzes System des Fiktionalismus entwarf. Mauthner wie Nietzsche blieben letztlich in der theatralischen Schreckensstellung der enttäuschten Idealisten befangen, die immer wieder von neuem in dieselben Klagen oder Befreiungsschreie ausbrechen: Klagen darüber, dass all unsere scheinbar eingeborenen _____________ 6
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Außer Deweys ›Instrumentalismus‹ wäre natürlich William James’ ›Pragmatismus‹ zu nennen. Nicht untypisch ist, dass im deutschen geistigen Milieu immer Charles Sanders Peirce als Exponent des Pragmatismus gilt, aber fast nur als Zeichentheoretiker und Logiker rezipiert wird. Ein zustimmendes Peirce-Referat bei James: Pragmatismus, S. 28, mag die Last einer Definition übernehmen: »Peirce weist darauf hin, dass unsere Überzeugungen tatsächlich Regeln für unser Handeln sind, und sagt dann, dass wir, um den Sinn eines Gedankens herauszubekommen, nichts anderes tun müssen, als die Handlungsweise bestimmen, die dieser Gedanke hervorzurufen geeignet ist.« Einen Einblick in gegenwärtige ›kontinentale‹ Diskussionen des Pragmatismus gibt Sandbothe: Pragmatismus. Bei der Lektüre hat man zuweilen den Eindruck, dass die Pragmatisten verkappte oder heruntergekommene Kantianer oder Hegelianer waren ... Mach: Analyse.
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Ideen nur Produkte der Sprache sind, und Befreiungsschreie, weil auf diese Weise der alte Gott und seine Zersetzungsprodukte erledigt schienen. Die fetzigsten Formulierungen für diesen manisch-depressiven Zustand hat Friedrich Nietzsche gefunden, der deshalb bis in die Gegenwart als Zitatensteinbruch für professionelle Entlarver dienen kann.8 Was von der darwinistischen Erschütterung an ideengeschichtlicher Breitenwirkung immerhin blieb, war eine erhöhte, kritische Aufmerksamkeit auf die Sprache (der ›linguistic turn‹ liegt um 1880-1900). Dominierend blieb dabei aber die idealistische Grundhaltung. Der letzte Versuch, die Tendenzen des 19. Jahrhunderts auf der Basis der biologischen Verhaltensforschung wieder aufzunehmen, die ›Evolutionäre Erkenntnistheorie‹ der 1970er und 1980er Jahre, wagte sich unseligerweise an die Bastionen der Transzendentalphilosophie und wurde bald von deren Sperrfeuer niedergemäht. – Man kann zwei Varianten der philosophischen Verarbeitung des ›linguistic turn‹ identifizieren, die sich letztlich nur durch das Ausmaß ihres Festhaltens an alten idealistischen Positionen unterscheiden. Die erste könnte man als heroischen Idealismus bezeichnen. Sie hat Nietzsche als einen ihrer Hausgötter gewählt, Mauthner gehört in die Tradition, und in der Gegenwart ist sie vertreten durch Derrida und seine Jünger und Jüngerinnen. Ihre Vertreter halten weiterhin fest an einem emphatischen Wahrheitsbegriff, sehen den Zugang zur Wahrheit aber verstellt durch die (logozentrische, penisförmige) Sprache und versuchen nun, da die Welt der Begriffe entlarvt ist, durch eine Art unendlich iterierende Aufhebung der Sprache oder direkt durch sprachlose Mystik die Schätze in ihrer Seele zu heben. Interessanter für eine Auseinandersetzung ist die zweite Variante, die z.B. durch den frühen Wittgenstein, genauer durch dessen vielhundertfach wiederholtes Diktum repräsentiert ist: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt«.9 Das ist natürlich Unsinn, jedenfalls wenn der Satz mit dramatisch-schicksalhaftem Unterton zitiert wird, als bedeute er so etwas wie die Einkerkerung der Seele in die Entfremdung der Sprache. Hinzudenken muss man vielmehr, dass diese Grenzen sich im Gegensatz zu Kerkermauern jederzeit verschieben lassen – und dann wird die Aussage eher trivial: Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Sprache. Ins Aktive gewendet wird die Auffassung denn auch von Nelson Goodman, der die sprachliche Welterzeugung auf eine Pluralität von Welten ausdehnt. Aber sein Dekret »Wir können zwar Wörter ohne eine Welt _____________ 8
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Typisch für die ausbeuterische Art des Umgangs mit Nietzsche ist Bolz: Geschichte des Scheins. Er zitiert aus fünf verschiedenen Werkausgaben, immer ›korrekt‹ mit Angabe von Band und Seite, aber kaum je mit Werktitel, so dass es ein eigenes Forschungsunternehmen wäre, wenn man die jeweiligen Zitatkontexte und damit die entsprechende Argumentation aufsuchen wollte. Satz 5.6 des Tractatus logico-philosophicus.
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haben, aber keine Welt ohne Wörter oder andere Symbole« ist gleichfalls nur als Tautologie zu ertragen.10 Der Panlinguismus Wittgensteins wie Goodmans fordert im Umkehrschluss, dass es außerhalb der Sprache überhaupt keine Welt gibt. Was machen dann die armen Tiere, die keine Sprache haben; haben sie keine Welt? Nach alter Idealistenweise wird auch hier die Welt aus der Idee/Sprache gezeugt. – Gewiss ist die Sprache von großer Bedeutung für unsere Orientierung und unser Verhalten. Und dass wir das von Sprache Verschnürte als unsere ›Welt‹ bezeichnen, hat gute Gründe: Es ist die Vergegenständlichungsleistung der Sprache, die es uns ermöglicht, sozusagen Weltkonserven (und zwar, durchaus im Sinne Goodmans, eine Vielzahl davon) herzustellen. Aber eine Welt haben auch der Nacktmull und die Zecke. Dabei wäre anzusetzen, wenn man den darwinistischen Ansatz fortführen möchte. Da wäre dann die sprachlich konstruierte ›Welt‹ in der Tat erklärbar als ein Instrument, mittels dessen diese spezielle Art in ihrer speziellen ökologischen Nische überlebt. Eben im Sinne jener (natürlich vom üblichen Wehklagen durchsetzten) Bestimmung, die Nietzsche vom menschlichen Intellekt gegeben hat: Dieser sei »gerade nur [!] als Hilfsmittel den unglücklichsten, delikatesten, vergänglichsten Wesen beigegeben [...], um sie eine Minute im Dasein festzuhalten, aus dem sie sonst, ohne jene Beigabe, so schnell wie Lessings Sohn zu flüchten allen Grund hätten.«11 Es besteht eine gewisse Hoffnung, dass das Forschungsprogramm, das in der instrumentalistischen Position steckt, realisiert werden kann, und zwar durch einen neuen Ansatz der evolutionären Erklärung menschlichen Verhaltens, der besonders in den USA unter dem Namen einer ›Evolutionären Psychologie‹12 von sich reden macht, sich keinen Deut um die ›alten Paläste‹ der Philosophie schert und wenigstens dadurch vielleicht vor einigen Irrwegen der Vergangenheit bewahrt bleibt (vielleicht sich auch neue einhandelt). Da sind die drei ›Wahrheitstheorien‹ denn recht gut unterzubringen. Allerdings handelt es sich dann nicht so sehr um drei Definitionen der Wahrheit, sondern um drei Gruppen von Motiven, aus denen die Menschen Aussagen für wahr oder plausibel halten (und insgesamt ist es weniger eine Unternehmung der Begründung als eine der Erklärung). So ist die Auffassung von der Korrespondenz von Aussagen und Tatsachen wahrscheinlich evolutionär tief in uns verankert: Unser kognitiver Apparat hat _____________ 10 11 12
Goodman: Welterzeugung, S. 19. Nietzsche: Wahrheit, S. 309. Einen Überblick bietet jetzt Buss: Psychologie. Fruchtbarer für die Erhellung menschlicher Kognitionen erscheinen mir die Beiträge von John Tooby und Leda Cosmides (s.u.). Die Hauptthesen sind in einem ›Primer‹ zusammengefasst: Cosmides / Tooby: Psychology.
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sich im Laufe der Evolution so entwickelt, dass er uns ein für die Reproduktion hinreichend langes Leben ermöglicht, und das heißt: Er ist hinreichend gut an die Umwelt angepasst, in der wir uns bewegen. Ob man dieses Passen als Erkenntnis oder gar als Wahrheit bezeichnet, ist eher nebensächlich. Das Problem, wie der Hiatus zwischen Aussagen und Tatsachen überbrückt werden kann, ist jedenfalls auf dieser Ebene leicht zu lösen: Die Brücke zwischen Aussagen und Tatsachen besteht in Handlungen (wozu natürlich auch Nichthandlungen zählen) und ihren Folgen. Aussagen haben die Funktion, Informationen über die Umwelt zu konservieren und zu transportieren, damit man in dieser Umwelt erfolgreich handeln kann. Ist eine solche Information falsch, dann führt das zu unangepasstem Handeln. Unangepasstes Handeln aber tut in irgendeiner Weise weh; wir werden deshalb im Falle einer Schmerz-Meldung unseren Informationspool so umzubauen versuchen, dass es beim Handeln nicht mehr weh tut (oder aus der Evolution verschwinden). Als wissenschaftlich ausgearbeitete Methode nennt man das dann Falsifikation. Da wir aber Beobachtungen immer schon im Lichte von Erwartungen/ Theorien durchführen, spielt auch das Moment der Kohärenz eine große Rolle. Das liegt nicht nur daran, dass unser kognitives System autopoietisch strukturiert ist, d.h. Neues nur als Bestätigung oder Irritation des Alten verarbeitet, sondern hat auch große Bedeutung für die praktische Orientierung. Da wird es dann sinnvoll sein, immer wieder Konsistenz- oder Kohärenzproben durchzuführen. Denn widersprüchliche Informationen sind instrumentell wertlos. Das ist die evolutionäre Wurzel unserer Neigung, kohärenten Informationen mehr zu trauen als inkohärenten (Kohärenztheorie). Und selbstverständlich ist es auch nützlich, die Erfahrungen unserer Mitmenschen zu Rate zu ziehen, unser Wissen mit ihrem Wissen abzugleichen, es gemeinsam zu nutzen und zum Zwecke gemeinsamen Handelns gemeinsame Wissensbestände zu pflegen (Konsenstheorie). Alle drei ›Theorien‹ bezeichnen Tendenzen, denen evolutiver Nutzen unterstellt werden kann und von denen man deshalb mit guten Gründen annehmen kann, dass sie uns angeboren sind. Tierfreunde werden uns überdies darauf hinweisen, dass auch viele Tiere aus Schaden klug werden und zumindest ansatzweise auch Informationen austauschen. Schwierigkeiten dürfte allerdings der Nachweis eines Bedürfnisses nach Kohärenz bereiten, und sei’s auch nur aus technischen Gründen.13 Aber wie dem auch sei: Es kommt beim Menschen als wesentliches Moment die Sprache hinzu und damit die Möglichkeit, Wissen zu verge_____________ 13
Es müsste dafür ja der Nachweis erbracht werden, dass heterogene Wissensbestände auf Kompatibilität geprüft werden, und das geht wohl nur, wenn man ein Vergegenständlichungsmedium hat.
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genständlichen.14 Das ist eine recht ambivalente Gabe der Evolution. Ihr verdanken wir z.B. eine Fülle falscher Vergegenständlichungen, die Vorstellung, dass Fiktion oder Realität oder Wahrheit und vieles andere etwas sei, dem Dingcharakter zukommt. Aber aufs Ganze gesehen waren solche Vergegenständlichungen höchst nützlich. Ihnen verdankt die Art homo sapiens wahrscheinlich ihren immensen evolutionären Erfolg. Sie ermöglichen es, Allgemeinbegriffe zu bilden und über Nichtanwesendes zu reden, d.h. z.B. Botschafter auszusenden, die uns mitteilen können, dass drei Tagereisen weiter eine Herde fetter Antilopen weidet, oder das Wissen zu verwalten, wann im Jahr die Rentiere kommen, oder Geschichten von Gott und seinen Heiligen oder den zwölf Kategorien zu erzählen, ja sogar über die Richtigkeit dieser Geschichten zu streiten. 3. Diskurs, Argumentation – Metainformation Es kommt hier etwas zum Zuge, was man mit aller Vorsicht doch als eine spezifisch menschliche Fähigkeit ansehen kann. Zur Beschreibung dieses ›Etwas‹ greife ich noch einmal auf die philosophischen ›Wahrheitstheorien‹ zurück, und zwar auf eine, die man Redundanztheorie nennt.15 Sie besagt, dass man auf den Begriff der Wahrheit eigentlich ganz verzichten kann, weil er redundant sei. Wenn ich sage ››Der Schnee ist weiß‹ ist wahr‹, sage ich ja nicht mehr als wenn ich sage ›Der Schnee ist weiß‹. Also wozu der Umstand? In der Tat könnte man auf dieses Ist-wahr-Tagging verzichten, wenn es nur um den Austausch wahrer Informationen ginge. Beim Informationsaustausch zwischen Tieren dürfte das so sein.16 Kaum als redundant wird man aber das Urteil ›ist wahr‹ bei Sätzen vom Typus ›Einsteins Theorie ist wahr‹ oder ›Der Zeuge sagt die Unwahrheit‹ einstufen. Es gibt offenbar eine sehr relevante Klasse von Aussagen, die ihrerseits zu Gegenständen von Aussagen über ihre Wahrheit gemacht werden können. Ich setze noch einmal beim Philosophendisput an. Ich mache mir dabei den Spaß, Habermas und Popper zusammenzuspannen, denn tatsächlich stehen sie einander in vieler Hinsicht näher, als sie und ihre Anhänger dachten. In einem weiteren Schritt werde ich ihre Position dann in der der _____________ 14 15
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Eibl: Vergegenständlichung. Z.B. bei Habermas: Wahrheitstheorien, S. 215, ohne Nennung eines Autors. Genannt wird gelegentlich Frank Plumpton Ramsey (ein Text in Skirbekk: Wahrheitstheorien, S. 244f., »Tatsachen und Propositionen«). Ich habe den Eindruck, dass diese Position von kaum jemandem ernsthaft vertreten wird, aber ein ganz praktischer Dummy ist. Vgl. aber Sommer: Lüge. Nach Sommers Belegen werden von Tieren zwar falsche Informationen gegeben, aber es wird nicht über die Richtigkeit diskutiert.
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beiden theoretisch raffiniertesten Vertreter der evolutionären Psychologie, John Tooby und Leda Cosmides,17 nun ja: aufheben. Habermas ist ein Vertreter der Konsensus-Theorie der Wahrheit. Das Gespräch über die Geltung von Aussagen heißt bei ihm ›Diskurs‹. Für Habermas steht dabei das Ideal einer herrschaftsfreien Kommunikationsgemeinschaft im Vordergrund, in der die verschiedenen Positionen ihre Auffassungen mit Gründen zu rechtfertigen versuchen. Der Konsensus verdankt sich also nicht dem Zufall, sondern ist »begründeter Konsensus«.18 Da Habermas jedoch seine binnensprachliche Perspektive nicht verlässt und nach Philosophenart nach Begründungen sucht, statt nach Erklärungen, gerät er in eine widersprüchliche Lage. Auch der Diskurs muss sich ja an Wahrheit orientieren, wenn er nicht zu zufälligen Ergebnissen führen soll, und das heißt, er setzt die Wahrheit bereits voraus, die er erst begründen will. Um diesem Zirkel zu entgehen, setzt Habermas auf eine letztlich ethische Qualität, nämlich die »rationale Motivation«.19 Wenn das keine bloße Gesinnungsqualität sein soll, gerät er damit allerdings in den anderen Zirkel, den der Normbegründung durch Norm. Da wir hier freilich nicht dem philosophischen Begründungsideal anhängen, ist das Habermassche Dilemma eher ein Beleg dafür, dass wir gar nicht anders können als Wahrheit (hier nur zu verstehen als die Summe der Wahrheiten) konsensuell zu konzipieren, wenn sie denn irgendwie mit Handeln verbunden bleiben soll. Man kann dieses ›Nicht-anders-Können‹ mit Habermas und mehr noch mit Apel transzendental bestimmen, aber man kann es auch biologisch erklären. Handeln von Menschen ist dann immer durch sprachliche Weltentwürfe geleitet, die nicht anders als konsensuell konzipiert sein können. Karl Raimund Poppers Erkenntnislehre markiert zwar scheinbar das Gegenteil von Habermas’ Position, nämlich die Korrespondenz-Theorie, aber es gibt bei ihm eine Position, die dem Habermasschen Diskurs ganz ähnlich ist: die Argumentation.20 Popper schließt dabei an Karl Bühlers Organon-Modell der Sprache an. Bühler hatte drei Grundfunktionen der Sprache unterschieden: Kundgabe, Appell, Darstellung. Für Popper sind die ersten beiden Funktionen (er nennt sie die ›expressive‹ und die ›Signalfunktion‹) charakteristisch für Tiersprachen, während er die dritte, die deskriptive Funktion, für ein menschliches Spezifikum hält.21 Er fügt die_____________ 17 18 19 20 21
Cosmides / Tooby: Source, sowie Tooby / Cosmides: Beauty. Habermas: Wahrheitstheorien, S. 239. Ebd., S. 240. Popper: Erkenntnis, z.B. S. 137ff. Unter evolutionärem Aspekt würde ich allerdings etwas anders konzipieren: Tiersprachen enthalten auch Darstellungsmomente, sind insofern ›trifunktional‹. Das menschliche Spezifikum ist nicht die Darstellungsdimension, sondern deren Ausdifferenzierung,
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sen Funktionen jedoch noch eine vierte hinzu, die argumentative, die es uns ermöglicht, deskriptive Aussagen zum Gegenstand der Rede zu machen und sie zu kritisieren. Auch hier geht es also um eine Metaebene, auf der Geltungsfragen verhandelt werden. Beide, Habermas wie Popper, argumentieren philosophisch und stehen damit vor dem Problem, wie man sich die Begründung von Entscheidungen auf dieser Metaebene denn nun vorzustellen hat. Muss über die Metaebene dann noch eine Metaebene gelegt werden usw.? Habermas stößt bis zu der These vor, dass die letzte Metasprache dann doch die Umgangssprache sei. Für Popper ist das Prinzip der kritischen Prüfung immer mit der (möglichen) Konfrontation mit empirischen Basissätzen verbunden. Beide nähern sich damit der Auffassung, dass die letzte Instanz in der Lebenswelt, im praktischen Handeln zu suchen sei. Aber sie haben zu große Vorbehalte gegenüber einer instrumentalistischen Position, um eine biologische Lösung anzustreben. Eine solche biologische Erklärung können wir bei den Evolutionären Psychologen John Tooby und Leda Cosmides finden. Sie operieren, vielleicht nicht ganz glücklich, mit dem Begriff der Metarepräsentation. Repräsentation wäre das, was im Sinne Bühlers durch die Darstellungs- oder Deskriptionsfunktion der Sprache geleistet wird, nämlich die Vergegenständlichung von Gedanken, Wahrnehmungen usw. durch sprachliche Fixierung.22 Das ist die Voraussetzung aller Weltkonserven. Es ist natürlich auch die Voraussetzung unangemessener Verdinglichungen, wie sie oben schon angesprochen wurden. Aber das wiegt anscheinend wenig gegenüber den Vorteilen, die dadurch für die Kommunikation gewonnen werden können, dass man auch über Nichtanwesendes kommunizieren kann, über Vergangenes, Zukünftiges, Fernes, Abstraktes. Die Pointe der Metarepräsentation besteht nun darin, dass Informationen auf der Ebene der Repräsentation mit zusätzlichen Metainformationen versehen werden können, die es erlauben, ihren Geltungsbereich näher zu bestimmen. Während also Habermas und Popper die Metaebene benötigen, um kritische Auseinandersetzungen über Wahrheit und Falschheit von Propositionen der Darstellungsebene zu ermöglichen, wird die wahr/falschDichotomie hier um weitere, sehr viel differenziertere Arten der Geltungszuweisung bereichert. Deshalb lasse ich den Begriff der Metarepräsentation jetzt weg, auch die Raummetapher einer Meta-›Ebene‹ mit all den Fallen, die in einer solchen Metaphorik stecken, und spreche nur noch von _____________
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die es dann ermöglicht, über Deskriptionen zu diskutieren. Vgl. Eibl: Animal poeta, S. 224ff. Ich habe das ausführlich dargelegt in Eibl: Vergegenständlichung, ferner in Eibl: Animal poeta, S. 232ff.
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Metainformationen, um hervorzuheben, dass diese durchaus auch punktuellen Charakter besitzen können. Die Metainformationen erlauben es, sehr produktiv mit Informationen umzugehen, die nur für einen bestimmten Raum oder eine bestimmte Zeit oder unter bestimmten Bedingungen gelten. Sie erlauben ferner, statistische Informationen hinzuzufügen, aus denen Grade der Zuverlässigkeit hervorgehen (Modalitäten wie ›sicher‹, ›wahrscheinlich‹, ›vielleicht‹), ferner Quellenangaben, die einer Information unterschiedliche Grade der Verbürgtheit zuweisen. Ein ungemein produktiver Musterfall ist z.B. die Erklärung von Handlungen in fremden Zeiten oder Kulturen aus den fremden Überzeugungen, wie es von Geschichtswissenschaft und Ethnologie, jedoch auch im Alltag betrieben wird. Weshalb haben die deutschen Kaiser immer wieder die Tortur auf sich genommen, sich in Rom krönen zu lassen? Weshalb hat Othello Desdemona ermordet? Es ist die Kenntnis fremder Überzeugungen, die uns eine Erklärung dieser Verhaltensweisen erlaubt (und es gibt natürlich auch immer wieder das problematische hermeneutische Verfahren, dass diese fremden Überzeugungen als Sinnressourcen mit den eigenen ›verschmolzen‹ werden). Doch auch unser eigenes Verhalten wird von solchen Geltungseinschränkungen geregelt, wenn wir unser Handeln auf wechselnde Umstände einstellen. Hierin liegt die eigentlich menschen-spezifische Fähigkeit, die für die immense Erfolgsgeschichte unserer Art verantwortlich ist, die Fähigkeit nämlich, einen riesigen Vorrat an (ganz unterschiedlich) bedingt ›wahren‹ Informationen zu verwalten. Durch Metainformationen vom Typus ›Dies ist Spiel‹ oder ›Dies ist ein Gedankenexperiment‹, wird ein weiter Formulierungsbereich geschaffen, in dem hypothetische und kontrafaktische Annahmen durchgespielt, Vermutungen über mögliche Folgen von Handlungen unter hypothetischen Bedingungen angestellt werden und sehr differenzierte Planungen vorgenommen werden können für den Fall, dass die Bedingung A oder aber die Bedingung B eintritt. Informationen können auf diese Weise von aktuellen Handlungsnotwendigkeiten abgekoppelt und im Sinne einer Vorratshaltung für Handlungsoptionen schematisiert werden. Zur Veranschaulichung bediene ich mich nun doch der Raummetaphorik: Man könnte zur Illustration von einem Quarantäne-Raum, einem Puffer-Raum, mentalen Experimentier-Raum, Gedankenlabor usw. sprechen. In jedem Falle werden Elemente unseres semantischen Gedächtnisses von direkten Anwendungslasten und damit von der Pflicht, sich in aktuellen Handlungen als ›wahr‹ zu erweisen, zeitweise suspendiert. Es dürfte deutlich geworden sein: Hierher gehört auch das, was wir ›Fiktion‹ nennen. Das ist freilich kein eigener dinghafter Bestand, den man als ›das Fiktionale‹ oder auch als ›das Imaginäre‹ zu bezeichnen hätte. Viel-
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mehr sollten wir strikt daran festhalten, dass Fiktionalität eine Eigenschaft der Rede ist, genauer ein Modus der Beziehung von Rede und Sache, in der grammatischen Ordnung vergleichbar dem Indikativ, Konjunktiv, Imperativ, Optativ, Jussiv, Konditional, Suppositiv ... Durch Modi, so sagt die Grammatik, werde die subjektive Stellungnahme des Sprechers zur Satzaussage ausgedrückt, d.h. die Modi geben Metainformationen zur Aussage. Damit wird deutlich, dass das unter ›Diskurs‹ oder ›Argumentation‹ oder ›Metarepräsentation‹ gefasste Verhältnis von Information und Metainformation generell unter dem grammatischen Begriff des Modus gefasst werden kann. Das übersteigt natürlich die bloßen Flexionsformen bei weitem, geht über die Modalverben zu kleinen sprachlichen Unregelmäßigkeiten, wie sie als Zeichen des Epischen Präteritums gelten (›Morgen fuhr sein Zug ab‹), hinaus zu weit allgemeineren semantischen Markern bis hin zu nichtverbalen Äußerungen wie einem Augenzwinkern oder dem bei amerikanischen Kollegen gebräuchlichen putzigen Brauch, beidhändig Anführungszeichen in die Luft zu hängen, bis hin zu institutionellen Vorkehrungen, die besagen: ›Dies ist Theater‹. Ob auf diese Weise fremde Rede markiert und zur Disposition überlegenen Nachdenkens gestellt wird, ob die Rede ironisch oder metaphorisch oder eben fiktional wird: Immer wird durch das Hinzufügen einer Ebene der Metainformation die Information selbst in den Status der Uneigentlichkeit gerückt. 4. Metainformation, Fiktion, ästhetische Lust Die Technik des Abkoppelns von Informationen durch Metainformationen ist schon aus dem Tierreich bekannt: Die Spielaufforderung des Hundes oder des Papageis, das Spielgesicht des Schimpansen (eine Frühform unseres Lächelns) sind bekannte Beispiele dafür. Die Metainformation lautet da allemal: ›Dies ist Spiel‹. Aber das sind nur Ansätze, an denen die Evolution ›weiterarbeiten‹ konnte. Differenziertere Stellungnahmen wie ›Das glaube ich nicht‹ oder ›Nimm das nicht allzu wörtlich‹ bleiben dem Menschen vorbehalten. Gar das Abwägen zweier widersprüchlicher Auffassungen oder die Vorratshaltung von Wissen mit begrenztem Gültigkeitsbereich, die Möglichkeit, Propositionen so zu markieren, dass sie intakt bleiben, aber gleichwohl nicht blindlings als handlungsrelevante Informationen verwendet werden, gibt der Menschenart eine immense Überlegenheit gegenüber allen Konkurrenten in wechselnden Milieus. Mein Lieblingsbeispiel dafür: Die Familie der Ameisen braucht nicht weniger als 12.000 hochspezialisierte Arten, um die ganze Welt zu besiedeln, der homo sapiens sapiens hingegen schafft das mit nur einer. Ursache dafür ist die Möglichkeit, bedingt wahre Annahmen zu verwalten und damit eine immense Breite
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exosomatisch verankerter Anpassungsmöglichkeiten zu erwerben. Verantwortlich dafür ist gewiss die Sprache, genauer, die mit der Sprache entstandene Fähigkeit zur Vergegenständlichung von Wissen, die es überhaupt möglich macht, eine derartige Wissensregie zu führen. Es sollte nun, nach der Einfügung in ein allgemeines anthropologisches Rahmenkonzept, möglich sein, erneut zu differenzieren und die zwischendurch eher locker und zu Illustrationszwecken hingestreuten Zusammenhänge des Einsatzes von Metainformationen in eine systematischere Form zu bringen und dabei auch der Fiktionalität einen präziseren Platz zuzuweisen. Natürlich wären dabei in hohem Maße historisch-kulturelle Faktoren zu berücksichtigen. Es ist z.B. nicht selbstverständlich, dass seit etwa 500 Jahren das Prinzip der kritischen Prüfung eine so rasante Karriere gemacht hat oder dass das Prinzip der Ironie, das vor 200 Jahren noch Entdeckung einer Avantgarde war, heute fast schon vulgär wirkt. Ich will vielmehr die hier anberaumte Dimension der Erklärung aus anthropologischen Basisdispositionen noch etwas weiterführen. Wenn wir den kulturellen Phänotyp einer solchen Disposition beobachten, haben wir es ja nicht nur mit seinen kulturellen Modifikationen zu tun, sondern auch mit zuweilen durchaus wechselnden Kombinationen und Folgephänomenen von Dispositionen. Genauer gefragt: Wie ließe sich unser geläufiger Begriff der Fiktionalität nun näher bestimmen, im Unterschied zu Ironie, Metaphorik, Scherz, Sachstreit und tausend anderen Manifestationen der Rede mit Elementen der Metainformation? Ich stelle dabei keineswegs den Anspruch, eine gültige Bestimmung von ›Fiktionalität‹ zu liefern. ›Fiktionalität‹ ist ein Alltagsbegriff und es wäre wieder einmal eines der idealistischen Missverständnisse, wenn man aus dem Vorhandensein eines Begriffs schlösse, es müsse auch eine Sache geben, die er eineindeutig repräsentiert, quasi seitdem der Schöpfer uns in die Geheimnisse seiner Namengebung eingeweiht hat. Was also assoziieren wir mit dem Begriff der ›Fiktion‹? Es ist in aller Regel etwas, das wir als ›Erzählung‹ bezeichnen können, in dem Sinne, in dem ich diesen Begriff einmal zu definieren versucht habe: Als Repräsentation einer nicht-zufälligen Ereignisfolge.23 Labov/Waletztky hatten Erzählen bestimmt als »eine Methode [...], vergangene Erfahrung dadurch zu rekapitulieren, dass eine verbale Folge von Teilsätzen auf die Ereignisfolge, die tatsächlich stattgefunden hat, bezogen wird.«24 Ich weiche davon ab, weil Labov/Waletzkys Definition erfundene Ereignisfolgen und nichtverbale Darstellungen ausschließt. Unter dem Aspekt der Paläoanthropologie aber bezeichnet die Labov/Waletzky-Definition sicherlich den historischen Kernbereich _____________ 23 24
Eibl: Animal poeta, S. 255, als Modifikation der Definition von Labov/Waletzky. Labov / Waletzky: Erzählanalyse, S. 95.
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des Erzählens: Es geht um die Rekapitulation vergangener Erfahrung, und zwar tatsächlicher Erfahrung. Wir dürfen annehmen, dass es sich hier um die ursprüngliche überlebenspraktische Funktion des Erzählens handelt, nämlich um das Fixieren von Erfahrungen, die in Form von Erzählungen gespeichert und weitergegeben werden. Das kann sogar noch bei Erzählungen der Gegenwart beobachtet werden, die von Belehrungsabsichten geleitet sind oder mit belehrenden Absichten interpretiert werden. Da ist es dann ziemlich gleichgültig, ob und in welchem Umfang die Inhalte erfunden sind. Denn die Geschichten werden ja deshalb erzählt, weil in ihnen, Wolffisch gesprochen, ein Allgemeines im Besonderen anschauend erkannt werden kann. Entscheidend ist da die Wahrheit dieses Allgemeinen. Das Besondere entzieht sich ohnedies häufig der Autopsie, wenn es in der Vergangenheit liegt oder in weiter Ferne. Allerdings ist das auch eine Quelle des Missverständnisses und der Manipulation. Unternehmer erzählen Geschichten von faulen Arbeitslosen, Gewerkschafter erzählen Geschichten von ausgebeuteten Arbeitnehmern. Beider Geschichten mögen erfunden oder wahr sein – entscheidend ist, dass sie als typisch ausgegeben werden. Ähnlich dürften schon die Geschichten unserer Vorfahren immer auch interessegeleitet gewesen sein.25 Aber solche manipulatorischen Effekte sind natürlich nur denkbar vor dem Hintergrund des ›ehrlichen‹ Erzählens, bei dem auf Tatsachen referiert wird. Gleichwohl gibt es auch das Phänomen einer reinen oder fast reinen Lust am Erzählen und Zuhören, ohne dass die Referentialisierbarkeit eine mehr als bloß punktuelle Rolle spielt. Auch hier gibt es eine bioanthropologische Erklärung. Ich habe sie freilich nun schon so oft dargelegt,26 dass ich sie hier zum Schluss nur noch als Merkposten aufführen möchte. Es ist das, was Cosmides und Tooby als den ›organizational mode‹ (Organisationsmodus) unserer Adaptationen bezeichnen. Im Funktionsmodus ist eine Adaptation dann aktiv, wenn sie die Probleme löst, als deren Lösung sie entstanden ist, wenn also z.B. das Sprachsystem Laute zum Zwecke der Kommunikation produziert oder wenn die Laufwerkzeuge zum Verfolgen oder Davonlaufen benutzt werden. Der Organisationsmodus hingegen dient dazu, die Adaptationen auszubauen, sie mit den korrekten Einstellungen, Informationen und Repräsentationen zu versehen und insgesamt eine bessere Organisation zur Ausführung ihrer Funktion zu entwickeln, z.B. Lallen für die Entfaltung eines effektiveren Sprachsystems oder Herumtollen zur körperlichen Ertüchtigung. Hierher gehört der ganze große Bereich des Spiels, der Betätigung von Adaptationen ohne Be_____________ 25 26
Vgl. hierzu Scalise Sugiyama: Food, sowie speziell zu interessegeleitetem Erzählen Scalise Sugiyama: Origins. U.a. in Eibl: Lustmodus.
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zug auf eine reale Zielhandlung, ebenso der nahe verwandte Bereich des Lernens, vielleicht auch der des Träumens. Damit bekommt der obskure ›Spieltrieb‹ eine funktionale Begründung im Organisationsmodus.27 Jeder komplexe Organismus muss sich nach seiner Geburt überhaupt erst einmal fertig bauen, und dieses Fertigbauen geschieht im Organisationsmodus. Beim Menschen hält sich dieser Organisationsmodus offenbar bis ans Lebensende durch, weil er wegen der höchst komplexen und heterogenen Struktur des menschlichen Gehirns auch nach der Fertigstellung zu Instandhaltungsund Reparaturaufgaben benötigt wird. Betätigung im Organisationsmodus kostet Energie, bringt aber im Augenblick der Betätigung nichts ein. Mit dem Hinweis auf den ultimaten Nutzen, dass man nämlich die entsprechenden Fertigkeiten später einmal, ›im Leben‹, gebrauchen kann, bringt man schon Menschenkinder schwer in Bewegung, und Tiere haben für solch längerfristige Planungen erst recht keinen Sinn. Zum Organisationsmodus gehört deshalb unabdingbar die intrinsische Belohnung des momentanen Verhaltens – das ist die Lust. Cosmides/Tooby sprechen, fürs deutsche Geisteswissenschaftlerohr in einem etwas provokativ weiten Sinn, auch von ›Aesthetics‹: Es gibt offenbar eine evolutionär entstandene adaptive Schaltung in unserem endokrinen Belohnungssystem, die bestimmte proximat zweckfreie Betätigungen mit Lust belohnt. – Das gilt auch für das Geschichtenerzählen. Es ist offenbar eine uraltanfängliche Neigung, anzusiedeln bereits bei den ersten sprachlichen Äußerungen darstellend-vergegenständlichender Art, und schon diese ersten Anfänge wurden befestigt und ausgebaut durch Geschichten, die sich immer wieder einmal vom tatsächlichen Hergang der Handlung augenzwinkernd entfernten, dann wieder eingeholt wurden, markiert durch die Spielgesichter und das schallende Gelächter der Erzählenden und der Zuhörenden. Drei Dispositionen aus alter Zeit wirken also zusammen bei dem, was wir gemeinhin Fiktion nennen: Die Fähigkeit, Informationen durch Metainformationen zu relativieren, u.U. bis zur Nullstufe, ferner die Fähigkeit, Sachverhalte in eine narrative Ordnung zu bringen, und schließlich die intrinsische Belohnung, die aus der ›zweckfreien‹ Betätigung dieser beiden Fähigkeiten erwächst. Die biologischen Funktionen dieser drei Dispositionen sollten klar geworden sein. Die kulturellen Funktionen, die die Fiktionen wahrnehmen können, sind ein anderes Thema.
_____________ 27
Diese ›Einübungs-Theorie‹ ist natürlich nicht grundsätzlich neu. Ich verweise dazu nur auf die noch immer lesenswerten Bücher von Karl Groos.
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Tooby, John / Leda Cosmides: Does Beauty Build Adapted Minds? Toward an Evolutionary Theory of Aesthetics, Fiction and the Arts. In: SubStance. A Review of Theory and Literary Criticism 30/1-2, Special Issue: On the Origin of Fictions (2001), S. 6-25. (Dieser Aufsatz in deutscher Übersetzung in: Uta Klein / Katja Mellmann / Steffanie Metzger (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Paderborn 2006, S. 217-244). Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Berlin 1911. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung [1921]. Frankfurt/M. 1963. [Zedler, Johann Heinrich]: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. 64 Bde. Halle, Leipzig 1732-1750. Zipfel, Frank: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001.
Die vorstehenden Überlegungen wurden weitergeführt und in einen größeren Zusammenhang integriert in: Eibl, Karl: Kultur als Zwischenwelt. Eine evolutionsbiologische Perspektive. Frankfurt/M. 2009.
FRANK ZIPFEL
Autofiktion Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?
Der Begriff ›Autofiktion‹ wurde im Jahre 1977 durch den französischen Literaturwissenschaftler und Autor Serge Doubrovsky geprägt. Im Vorwort des schon im Titel mit Ambiguitäten spielenden ›Romans‹ Fils wird die Gattungszugehörigkeit des Textes wie folgt thematisiert:1 Autobiographie? Non, c’est le privilège réservé aux importants de ce monde, au soir de leur vie, et dans un beau style. Fiction, d’événements et de faits strictement réels, si l’on veut, autofiction […].2
Einmal geprägt fand der Begriff ›Autofiktion‹ schnell Eingang in die literarische Praxis und in die literaturwissenschaftliche Forschung, in die erstere dadurch, dass Doubrovskys Konzept der fiktionalen Autobiographie Schule machte, so z.B. bei Hervé Guibert, dessen autobiographische ›Aids-Trilogie‹ mit der Gattungsbezeichnung ›roman‹ veröffentlicht wurde,3 in die zweitere dadurch, dass bei der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung des Konzepts ältere Texte zur Autofiktion oder als deren Vorreiter erklärt wurden, so z.B. Gertrude Steins The Autobiography of Alice B. Toklas oder Roland Barthes par Roland Barthes.4 Doubrovskys implizite Bestimmung der Autofiktion als ›Fiktion von absolut wirklichen Ereignissen‹ ist in vieler Hinsicht interpretationsbedürftig _____________ 1
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Die Gattungsbezeichnung ›roman‹ findet sich auf der Titelseite des Textes. Der Titel spielt mit der Doppeldeutigkeit von ›Fils‹, das zum einen ›Sohn‹ bedeutet und sich damit auf die im Buch thematisierte Psychoanalyse des Autors bezieht, in der er die Beziehung zu seiner Mutter aufarbeitet, und zum anderen als Plural von ›fil‹ (›Faden‹) gelesen und dann auf die Erzählfäden des Textes bezogen werden kann. Doubrovsky: Fils, S. 10. Guibert: Ami; Guibert: Protocole; Guibert: Homme. Zum Katalog der inzwischen als ›Autofiktion‹ bezeichneten Texte vgl. Lecarme: Autofiction, S. 235-236 und Lecarme / Lecarme-Tabone: Autobiographie, S. 274-275.
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und ist in der französischen Literaturtheorie auf breiter Front diskutiert worden. So gut wie alle großen Namen der Autobiographie-Forschung (z.B. Philippe Lejeune, Jacques Lecarme) und der Gattungs- und Fiktionstheorie (z.B. Gérard Genette, Jean-Marie Schaeffer) haben sich früher oder später zur Frage der Autofiktion geäußert und damit dem Begriff zu einer Reihe recht unterschiedlicher Interpretationen und Bestimmungen verholfen. Dorrit Cohn stellte die Verbindung mit Autoren der amerikanischen Postmoderne wie Ronald Sukenick und Frederick Exley her, die fiktionale Texte schreiben, in denen sie mit eigenem Namen als Figur auftreten.5 Das Konzept und die Praxis der Autofiktion, verstanden als Kombination von Autobiographie und Roman, werfen in mehrfacher Hinsicht Fragen der Grenzen der Literatur auf. Neben der offensichtlichen Frage der Grenze zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen berühren sowohl die zur Autofiktion gerechneten Texte wie die literaturtheoretischen Konzepte der Autofiktion Fragen der Gattungsgrenzen und der Grenzen zwischen Literatur und Nicht-Literatur. Der vorliegende Beitrag stellt sich die Aufgabe, diese mit unterschiedlichen autofiktionalen Texten und den unterschiedlichen Interpretationen des Konzepts verbundenen ›Grenz-Fragen‹ zu erörtern. In einem ersten Teil werden einige Grundlagen des autobiographischen und des fiktionalen Erzählens in Erinnerung gerufen, im zweiten Teil die literaturtheoretischen Beziehungen zwischen Faktualität, Fiktionalität und Literatur erörtert; auf diesem Hintergrund werden im dritten und letzten Teil die konkreten Realisierungen dieser Beziehungen sowohl in unterschiedlichen autofiktionalen Texten wie in unterschiedlichen Konzepten der Autofiktionalität diskutiert. 1. Autobiographisches versus fiktionales Erzählen Im Begriff der Autofiktion werden zwei in der Regel als gegensätzlich betrachtete Konzepte zusammengebracht: das der Autobiographie bzw. des autobiographischen Erzählens und das der Fiktion bzw. des fiktionalen Erzählens. Zur Klärung der Frage, ob und inwiefern autobiographisches und fiktionales Erzählen als Gegensatzpaar zu betrachten sind, sollen im Folgenden die charakteristischen Merkmale autobiographischen und fiktionalen Erzählens einander gegenübergestellt werden.
_____________ 5
Vgl. Cohn: Distinction, S. 94.
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1.1 Autobiographisches Erzählen Grundlegend für die Gattung der Autobiographie wie auch für die Schreibweise des autobiographischen Erzählens bleiben die inzwischen zwar kritisch kommentierten, aber nach wie vor unhintergehbaren Erläuterungen von Lejeune. Lejeunes Definition der Autobiographie lautet wie folgt: »Récit rétrospectif en prose qu’une personne réelle fait de sa propre existence, lorsqu’elle met l’accent sur sa vie individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personnalité.«6 Aus dieser Definition leitet Lejeune vier charakteristische Merkmale der Autobiographie ab: 1. a) Prosa, b) Erzählung; 2. Thema: persönliches Leben, Geschichte einer Person; 3. Identität von Autor und Erzähler; 4. a) Identität von Erzähler und Figur, b) RetrospektionsPerspektive. Nach Lejeune sind von den vier Merkmalen eigentlich nur zwei zentral und unumgänglich, nämlich die Merkmale 3 und 4a – und dies gilt erst recht, wenn es, wie im vorliegenden Zusammenhang, weniger um die Gattung der Autobiographie, sondern vielmehr um die Schreibweise des autobiographischen Schreibens geht.7 Diese beiden Merkmale können in der Formel ›A(utor) = E(rzähler) = F(igur)‹ zusammengefasst werden. Lejeune geht zudem der Frage nach, wie dem Leser angezeigt wird, dass der ihm vorliegende Text durch diese Merkmale bestimmt ist, und kommt so zu seiner Theorie des ›autobiographischen Paktes‹. Dem Leser muss deutlich gemacht werden, dass die Person, von der berichtet wird, keine andere ist als der Autor selbst. Es gibt nach Lejeune zwei Möglichkeiten für den Autor, den autobiographischen Pakt herzustellen bzw. anzubieten:8 1) durch die Namensidentität von Autor, Erzähler und Figur; 2) durch paratextuelle Angaben, z.B. durch eine Gattungsbezeichnung oder durch entsprechende Bekundungen im Paratext (Vorwort, Klappentext, ... ). Das Angebot des autobiographischen Paktes ist nach Lejeune deshalb notwendig, weil die Referenz des selbstreflexiven Personalpronomens ›Ich‹ im Schrifttext explizit etabliert werden muss. Das schreibende bzw. geschriebene Ich _____________ 6 7
8
Lejeune: Pacte, S. 14. Das Merkmal 1 grenzt die Gattung ›Autobiographie‹ vom autobiographischen Gedicht bzw. vom autobiographischen Essay ab, das Merkmal 2 unterscheidet die Autobiographie von den mehr auf die zeitgeschichtlichen Umstände ausgerichteten Memoiren. Zur der mit 4b von Lejeune anvisierten Abgrenzung der Autobiographie vom Tagebuch müsste Differenzierteres gesagt werden: Auch Tagebuch-Aufzeichnungen sind letztlich retrospektiv, da für alle Narration der Grundsatz der Erzähllogik gilt: erst erleben, dann erzählen. Ich verstehe Lejeunes autobiographischen Pakt als die Verdeutlichung an der Textoberfläche, dass es sich um autobiographisches Schreiben handelt, auch wenn Lejeune selbst keine klare Bestimmung dessen, was er unter autobiographischem Pakt versteht, gibt und sich die Aspekte, unter denen er den autobiographischen Pakt betrachtet, im Laufe seines Textes verändern.
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muss sich identifizieren, da die Identifikation als der, der spricht/schreibt, in der zerdehnten Sprachhandlungssituation – im Gegensatz zur face-to-faceKommunikation der gesprochenen Sprache – nicht ausreicht. Die Identifikation über die Übereinstimmung von Figuren- und Autor-Namen funktioniert, weil nach dem sozialen Kontrakt des Literaturbetriebs ein auf dem Buchdeckel gedruckter Autorname auf eine real existierende Person verweist (Ausnahmen bestätigen die Regel).9 Lejeunes Überlegungen bezüglich des Personalpronomens ›Ich‹ gehen vom Normalfall des autobiographischen Schreibens in der ersten Person aus. Allerdings ist auch Lejeune nicht verborgen geblieben, dass es auch autobiographisches Schreiben in der dritten Person gibt.10 Lejeune interpretiert diesen Fall als Texte, die zwar durch die Gleichung ›A = E = F‹ bestimmt sind, jedoch die dritte grammatische Person verwenden. Allerdings könnte man auch sagen, es handele sich um Texte, die durch die Gleichungen ›A = E‹, ›A = F‹ und ›E ≠ F‹ beschrieben werden. Damit reduziert sich illokutionstechnisch der autobiographische Pakt auf den auch von Lejeune angesprochenen referentiellen Pakt,11 also auf die Tatsache, dass etwas tatsächlich Passiertes berichtet wird und der Autor die Intention hat, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu berichten, bzw. mit etwas Selbstreflexion formuliert: die Wahrheit, so wie sie der Autor erinnert, das Geschehene, so wie es dem Autor erschienen ist.12 Der autobiographische Pakt ist damit eine Art emphatische Formulierung der allgemeinen Referenzregeln der Sprache bzw. des Behauptens wie sie z.B. John R. Searle in seinen Behauptungsregeln oder Paul Grice in seinem Kooperationsprinzip der Kommunikation ausformuliert haben. Die in diesem Zusammenhang relevanten Behauptungsregeln bei Searle sind die »essential rule: the maker of an assertion commits himself to the truth of the expressed proposition« und die »sincerity rule: the speaker commits himself to a belief in the truth of the expressed proposition«;13 bei Grice handelt es sich um die Qualitätsmaxime »do not say what you believe to be false«.14 Diese Behauptungsregeln bzw. Kommunikationsmaximen scheinen als Vorschriften für die (im Kommunikationsmodell in der Regel als ›Sender‹ bezeichneten) Textproduzenten formuliert, man kann sie jedoch auch und zutreffender als Ausformulierung eines stillschweigend eingegangenen Kommunikationsvertrages zwischen Produzent und Rezipient verstehen. Die Ausformulierung der in gewisser Weise von Produzent und Rezipient bewusst oder unbe_____________ 9 10 11 12 13 14
Vgl. Lejeune: Pacte. Vgl. Lejeune: Autobiography. Vgl. Lejeune: Pacte, S. 36. Vgl. ebd. Searle: Discourse, S. 322. Grice: Logic.
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wusst gekannten und befolgten Basisregeln, die das Gelingen der Kommunikation quasi garantieren, ist das, was man mit Lejeune den ›referentiellen Pakt‹ nennen kann. Dieser referentielle Gebrauch der Sprache wird in jeder faktualen Erzählung und damit auch im autobiographischen Schreiben realisiert. 1.2 Fiktionales Erzählen Der alte Vorwurf, dass Dichter lügen, rührt daher, dass fiktionales Erzählen sich offensichtlich nicht an die Regeln des im vorigen Abschnitt erläuterten referentiellen Gebrauchs der Sprache hält. Um diesem Vorwurf zu begegnen, kann fiktionales Erzählen als eine vom normalen Sprachgebrauch abweichende soziale, kulturelle, in gewisser Hinsicht institutionalisierte, jedenfalls etablierte Praxis beschrieben werden.15 Mein Versuch, die soziale oder kulturelle Praxis ›Fiktion‹ als eine Sprachhandlungspraxis d.h. eine regelgeleitete Praxis auszuformulieren, die bestimmte Sprachhandlungen ermöglicht, die durch diese Regeln definiert werden und die ohne diese nicht möglich wären, lautet abgekürzt wie folgt: Der Autor produziert einen Erzähl-Text mit nicht-wirklicher Geschichte mit der Intention, dass der Rezipient diesen Text mit der Haltung des make-believe aufnimmt, und der Rezipient erkennt diese Absicht des Autors und lässt sich aus diesem Grunde darauf ein, den Erzähl-Text unter den Bedingungen eines make-believe-Spiels zu lesen.16 Einige Punkte dieser Ausformulierung sollen kurz erläutert werden. Die Ausformulierung betrifft drei verschiedene Ebenen: den Erzähltext, die Produktionsseite und die Rezeptionsseite – der Erzähltext wird dabei nach der klassischen narratologischen Unterscheidung in Geschichte und Erzählung, histoire und discours aufgeteilt. Die Ausformulierung spricht von »Erzähltexten mit nicht-wirklicher Geschichte«. Auch wenn diese Formulierung philosophisch-ontologisch bedenklich sein mag, kommt man m.E. in einer literaturtheoretischen Fik_____________ 15
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Eine soziale, in gewissem Sinne institutionalisierte Praxis kann mit Lamarque / Olsen wie folgt definiert werden: »An institutional practice, as we understand it, is constituted by a set of conventions and concepts which both regulate and define the actions and products involved in the practice. [...] An institution, in the relevant sense, is a rulegoverned practice which makes possible certain (institutional) actions which are defined by the rules of the practice and which could not exist as such without those rules.« (Lamarque / Olsen: Truth, S. 256) Searle hat eine ähnliche Theorie der institutional facts formuliert, die er von brute facts unterscheidet: »Brute facts exist independently of any human institutions; institutional facts can exist only within human institutions.« (Searle: Construction, S. 27) Solche institutionellen Fakten können nur in einem System von konstitutiven Regeln ent- und bestehen (vgl. ebd., S. 43-48). Vgl. Zipfel: Fiktion, S. 297.
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tionstheorie um die Rede von der Nicht-Wirklichkeit fiktiver Geschichten nicht herum.17 Spricht man von Fiktion auf der Ebene der Geschichte eines Erzähl-Textes, meint man damit letztlich, dass die dargestellte Geschichte nicht wirklich stattgefunden hat.18 Das Prädikat ›ist eine Fiktion‹ besagt in diesem Fall, dass der erzählten Geschichte kein Geschehen in der Realität entspricht, dass sie nicht auf tatsächlichen Ereignissen beruht.19 Verkürzt gesagt: Die Geschichte handelt von nicht-wirklichen Ereignissen, nichtwirklichen Figuren, nicht-wirklichen Orten oder nicht-wirklichen Zeiten. Fiktive Geschichten sind allerdings nie ganz und gar unwirklich. Die Welt einer fiktiven Geschichte, die so genannte fiktive Welt, basiert immer (wenn auch in unterschiedlichem Maße) auf der Welt unserer Wirklichkeitskonzeption. Der Zusammenhang von fiktiver und realer Welt kann durch das so genannte ›Realitätsprinzip‹ erläutert werden. Das Realitätsprinzip besagt, kurz gefasst, dass eine fiktive Welt so nah wie möglich an der realen Welt konstruiert wird. Insofern kann man das Realitätsprinzip auch als »principle of minimal departure« bezeichnen, wie Marie-Laure Ryan es in ihrer Explikation dieser Regel tut: This principle states that we reconstrue the world of a fiction [...] as being the closest possible to the reality we know. This means that we will project upon the world of the statement everything we know about the real world, and that we will make only those adjustments which we cannot avoid.20
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Man kann zwar wie z.B. Gabriel anstatt von nicht-wirklichen Gegenständen von der Nichtreferenzialisierbarkeit von referenzialisierbaren Ausdrücken sprechen, aber das ist letztlich auch nur eine Umformulierung der Rede von nicht-wirklichen Geschichten, Ereignissen oder Figuren. Literaturtheoretisch kann man mit einer gewissen ontologischen Indifferenz von nicht-wirklichen Ereignissen sprechen, d.h. man kann die philosophische Diskussion darüber, ob Existenz mit raum-zeitlicher Identifizierbarkeit einhergeht, beiseite lassen (vgl. Zipfel: Fiktion, S. 103-106). Diese literaturtheoretische Rede von ›Fiktion‹ ist m.E. unabhängig von erkenntnistheoretischen Positionen hinsichtlich der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Erkennens und nach den daraus abgeleiteten ontologischen Konsequenzen. Spricht man in dieser erkenntnistheoretischen Hinsicht von ›Fiktion‹ in Bezug auf Wirklichkeit, so spricht man von solchen allgemeinen Einsichten wie z.B., dass die Kategorien unserer Beschreibungssysteme vom Betrachter eher erfunden als vorgefunden werden, dass nur relativ zu einem Beschreibungssystem oder einer Theorie zu klären ist, was als Gegenstand oder Tatsache angesehen wird, oder dass es zur Beurteilung von Erkenntnissen letztlich keine von allen Beschreibungssystemen unabhängigen Daten oder Fakten gibt. Die Rede von ›Fiktion‹ in Bezug auf literarische Texte hingegen bezieht sich auf die Frage, inwieweit das in diesen Texten Dargestellte in denotativer Art auf eine vorgegebene Welt-Version Bezug nimmt. Ähnlich formuliert Stierle, jedoch unter Rückgriff auf das Konzept der Kommunikation: »Die fiktionale Kommunikation ist zunächst dadurch bestimmt, daß einer Sachlage bzw. einer Sequenz von Sachlagen kein Sachverhalt zugeordnet ist.« (Stierle: Negation, S. 237) Ryan: Fiction, S. 406.
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Zur fiktiven Welt gehören also neben dem, was in den expliziten Aussagen des Textes über die Geschichte gesagt wird, alle Sachverhalte der realen Welt, sofern sie nicht durch den Erzähl-Text ausdrücklich aufgehoben oder negiert werden. So ist das Realitätsprinzip ein Beispiel für die unausgesprochenen Regeln, die die Sprachhandlungspraxis ›Fiktion‹ bestimmen. Erwähnenswert ist des Weiteren, dass die Fiktivität von Geschichten letztlich immer mit der Fiktivität der Ereignisträger, also in der Regel der Figuren, verbunden ist. Zum einen gibt es in Geschichten, die in fiktiven Orten angesiedelt sind oder in fiktiven Zeiträumen spielen, immer auch fiktive Ereignisträger. Ereignisträger, die sich an fiktiven Orten oder in fiktiver Zeit bewegen, müssen letztlich selber fiktiv sein. Zum anderen können Geschichten auch nur dadurch fiktiv sein, dass in ihnen fiktive Ereignisträger vorkommen, wenn die fiktiven Geschichten vor sowohl zeitlich wie örtlich realem Hintergrund spielen.21 Für den Bereich des Erzählens (discours) genügen zwei Bemerkungen, eine die Ebene der Erzähltheorie und eine die Ebene der Erzählpraxis betreffend. Auf der Ebene der Theorie geht es um die Behauptungsstruktur fiktionalen Erzählens. Wie faktuale Erzählungen bestehen auch fiktionale Erzählungen zum größten Teil aus Behauptungssätzen. Man kann aber nicht sagen, dass es der Autor ist, der behauptet, sonst müsste man sagen, dass er etwas behauptet, was gar nicht stimmt. Das Problem lässt sich durch die klassische Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler lösen: Nicht der Autor behauptet, sondern der Erzähler; oder anders: Der Autor ist verantwortlich für den Text, weil er ihn produziert hat, aber der Erzähler zeichnet sozusagen verantwortlich für die Behauptungen. Der Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler entspricht auf der Rezeptionsseite die Unterscheidung zwischen dem Adressaten, d.h. der dem Text eingeschriebenen Rezipientenrolle, und dem empirischen Leser. Auf der Ebene der Erzählpraxis führt die Fiktionalität des Erzählens zu einer Reihe fiktionspoetischen Lizenzen. Der Erzähler, der ja letztlich ein fiktiver Erzähler ist, ist nicht an die Erzähllogik des faktualen Erzählens gebunden. Die naheliegendsten Beispiele sind die: interne Fokalisierung oder der allwissende Erzähler heterodiegetischer Erzählungen, aber auch der mit übermenschlichem Erinnerungsvermögen ausgestattete homodiegetische Erzähler gehört in diese Kategorie. Natürlich sind die Abweichungen von der faktualen Erzähllogik ein mögliches, aber kein notwendiges Merkmal einer fiktionalen Erzählung. In fiktionalen Erzählungen kann auch _____________ 21
Diese Feststellung stimmt mit der Ansicht Käte Hamburgers überein, dass erst das Vorhandensein von fiktiven Figuren einen Text zur literarischen Fiktion macht, auch wenn Hamburger ihre Position auf gänzlich andere Argumente stützt (vgl. Hamburger: Logik, insb. S. 60, 63).
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faktuales Erzählen simuliert werden. In diesem Fall ist der fiktionale Erzähl-Text erzähllogisch nicht von einer faktualen Erzählung unterscheidbar. Für den Bereich der Textproduktion stellt sich die Frage nach dem Sprachhandlungsverhältnis zwischen dem Autor und seinem Text, also letztlich nach der Illokutionsintention, die der Autor mit dem Gesamttext verbindet.22 Diese wird in meiner Ausformulierung der Sprachhandlungspraxis ›Fiktion‹ in Anlehnung an die Ausführungen von Gregory Currie als die Intention des Autors, dass der Leser den Text in der Haltung des make-believe rezipiere, beschrieben. Das Konzept des make-believe ist in gewisser Weise eine Neuformulierung Coleridges bekannter Umschreibung von Fiktion bzw. Fiktionsrezeption als »willing suspension of disbelieve«.23 Der Begriff ›make-believe‹ wurde in den 1980er Jahren von Kendall L. Walton in die englischsprachige Literatur- und Fiktionstheorie eingeführt und ist inzwischen dort zu einem Schlüsselbegriff geworden.24 Fiktionstheoretisch wird mit ›make-believe‹ die Haltung bezeichnet, sich selber bzw. der Gruppe, mit der man zusammen spielt, etwas glauben zu machen: »We are intended by the author to make believe that the story as uttered is true.«25 Um die rezeptionsspezifische Seite der Sprachhandlungspraxis ›Fiktion‹ zu erläutern, kann man die mit dem make-believe verbundene Einklammerung des Unglaubens unter Berücksichtigung der Unterscheidung zwischen Autor/Erzähler bzw. Leser/Adressat wie folgt weiter ausformulieren. Zum einen kann man sagen: Der Rezipient hält die fiktive Geschichte ebenso wenig für wahr, wie der Autor sie als wahre Geschichte behauptet. Zum anderen gilt: Der fiktive Adressat liest die Geschichte ebenso sehr als wahr, wie der fiktive Erzähler sie als eine innerhalb der fiktiven Welt tatsächlich passierte Geschichte erzählt. Die Tatsache, dass der Leser eine fiktive Geschichte in der Haltung des make-believe für wahr hält, kann man also auch mit der Formulierung umschreiben, dass der Leser bei der Lek_____________ 22
23 24 25
Wenn hier von der Intention oder Absicht des Autors gesprochen wird, handelt es sich selbstverständlich nicht um die Intention des Autors, eine bestimmte ›Botschaft‹ zu vermitteln, sondern um die fiktionsspezifische sprachhandlungslogische Intention des Autors. Coleridge: Biographia. Bd. 2, S. 6. Vgl. Walton: Mimesis. Currie: Fiction, S. 18. In Analogie zum make-believe von Kinderspielen kann man die Bedeutung von make-believe als Rezeptionshaltung gegenüber fiktionalen ErzählTexten ungefähr wie folgt formulieren: So wie Kinder für die Zeit des Spiels in einer gewissen Weise daran glauben, dass die einen Cowboys und die anderen Indianer sind, dass ein halbwegs adäquat geformter Baumast ein Gewehr ist, dass derjenige, der bei dem Ruf ›Bäng‹ des Gewehrinhabers in der Schusslinie steht, getötet wird, usw., so soll und wird der Leser für die Zeit der Lektüre in einer ähnlichen Weise daran glauben, dass das, was er liest, eine wahre Geschichte ist.
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türe versucht, die Position des (dem Text eingeschriebenen) fiktiven Adressaten einzunehmen. Nach dieser Erläuterung einiger Elemente der Sprachhandlungspraxis ›Fiktion‹ auf unterschiedlichen Kommunikationsebenen wird deutlich, dass der Kommunikationszusammenhang zwischen Autor und Leser beim fiktionalen Erzählen in ähnlicher Weise wie beim autobiographischen Erzählen als Pakt oder Vertrag verstanden werden kann. Ein Fiktionsvertrag wird stillschweigend bei jeder Produktion und Rezeption von fiktionalen ErzählTexten auf der Grundlage der die soziale Praxis ›Fiktion‹ bestimmenden Regeln abgeschlossen. 2. Faktualität, Fiktionalität, Literarität Die Konzepte der Faktualität und der Fiktionalität werden in der Literaturtheorie oft mit der Frage nach der Literarität in Verbindung gebracht. Insbesondere die literaturtheoretischen Bestimmungen des Verhältnisses zwischen Literarität und Fiktionalität sind vielfältig. Sie reichen vom Aufgehen der Literarität in der Fiktionalität (unter dem Stichwort: ›Alle Literatur ist fiktional‹) über die Bestimmung von Teilbereichen der Literatur mit Hilfe des Begriffs der Fiktion (oft unter dem Stichwort: ›Alle Fiktion ist Literatur‹) bis zur theoretischen Unabhängigkeit der beiden Konzepte mit der Begründung, dass sie unterschiedliche Phänomenbereiche bezeichnen. Im Hinblick auf die im dritten Teil zu behandelnde Frage nach den Grenzen der Literatur im Zusammenhang mit der Autofiktion sollen hier drei mögliche Verhältnismodelle unterschieden werden. 2.1 Fiktion als das Bestimmungskriterium für Literatur Zuweilen wird der Begriff der Fiktion als Kriterium der Ästhetik von Texten und damit als die Bestimmungsgröße von Literatur verwendet. Explizit geschieht dies in Äußerungen wie: »Der Begriff der Fiktionalität beschreibt das regulative Prinzip, das alle semantischen Operationen bzw. Evaluationen im sozial und historisch institutionalisierten System literarischer Kommunikation steuert«;26 implizit, wenn die Theorie der Literatur auf der Hypothese einer Ästhetik-Konvention aufgebaut wird, die darin besteht, dass die alltagssprachliche Konvention, Äußerungen primär auf das vorherr-
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schende Wirklichkeitsmodell zu beziehen, vernachlässigt wird.27 Diese Position, die mit dem Schlagwort ›Alle Literatur ist Fiktion‹ gekennzeichnet werden kann, erscheint vor dem Hintergrund des sprachhandlungstheoretisch erläuterten Fiktionsbegriffs als problematisch. So können manche Autobiographien, Reiseberichte oder Reportagen als literarische Texte bezeichnet werden, ohne dass sie fiktional sein müssten. Geht man davon aus, dass alle Literatur fiktional ist, wird es unmöglich, solche Texte in den Bereich der Literatur zu integrieren – es sei denn, man definiert ›Fiktion‹ entsprechend um, wodurch dieser Begriff jedoch seine spezifische Differenzqualität verliert. Insofern ist ein Konzept, das Literatur auf Fiktionalität festlegen will, bereits für erzählende Texte zu eng – abgesehen von den Problemen, die durch eine solche Bestimmung für die Betrachtung anderer literarischer Gattungen entstehen. 2.2 Fiktion als ein Bestimmungskriterium für Literatur »Si donc il existe un et un seul moyen pour le langage de se faire à coup sûr œuvre d’art, ce moyen est sans doute bien la fiction.«28 So lautet die Aussage von Genette, mit der er behauptet, dass fiktionale Texte immer auch literarisch sind, dass also Fiktionalität ein sicheres Kriterium für Literarität darstellt. Neben der Fiktionalität als inhaltliches Kriterium sieht Genette die Poetizität als ein formales Kriterium des Literarischen. Im Rahmen einer so genannten essentialistischen Poetik gelten beide Kriterien als konstitutiv,29 d.h. als hinreichende Bedingung für die Literarität von Texten.30 Unter ›Poetizität‹ versteht Genette Formen von Literarität, wie sie von Roman Jakobson als Dominanz der »poetischen Funktion« bzw. der »Aus_____________ 27
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Vgl. Schmidt: Fictionality, S. 542-543; Schmidt: Grundriß, S. 196. Vgl. auch die Diskussion von Schmidts Standpunkt in Hempfer: Fiktionstheorie, S. 113f. Man findet die hier exemplarisch mit Äußerungen von Schmidt dargestellte Position in verschiedensten Bestimmungsversuchen von ›Literatur‹. Genette: Fiction, S. 20. Unter einer essentialistischen Poetik versteht Genette den traditionellen Versuch, Literarität als Eigenschaft oder Eigenschaftskomplexion von Texten zu beschreiben, d.h. notwendige und hinreichende Merkmale anzugeben, die einen Text zu einem literarischen machen – im Gegensatz zu einer konditionalistischen Poetik, nach der Texte dann als literarisch gelten, wenn sie von einem oder einer Gruppe von Rezipienten als ästhetische Objekte aufgenommen werden. Ein ähnliches Unterscheidungsprogramm findet sich z.B. bei Günter Saße, der zwischen syntaktischen und semantischen Bestimmungen der Literatursprache unterscheidet (vgl. Saße: Literatursprache, S. 698-702), oder bei Tzvetan Todorov, der Fiktion und Poetizität als die zwei Möglichkeiten einer strukturellen Definition von Literatur ansieht, die er jedoch zugunsten einer funktionellen Definition zu überwinden sucht (vgl. Todorov: Notion).
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richtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen« beschrieben wurden und die sich vor allem für die Beschreibung des ästhetischen Charakters von Lyrik eignen.31 Fiktionalität hingegen wäre das vorherrschende Literaritätskriterium für erzählende und dramatische Texte. Genettes Fiktionsbegriff stützt sich damit hauptsächlich auf die Fiktivität des Erzählten: »Est littérature de fiction celle qui s’impose essentiellement par le caractère imaginaire de ses objets.«32 Einen Zusammenhang zwischen den beiden Literaritäts-Kriterien Fiktionalität und Poetizität versucht Genette über das Konzept der Intransitivität herzustellen. Le trait commun me semble consister dans ce caractère d’intransitivité que les poétiques formalistes réservaient au discours poétique (et éventuellement aux effets de style), intransitif parce que d’une signification inséparable de sa forme verbale – intraduisible en d’autres termes, et donc destiné à se faire incessamment ›reproduire dans sa forme‹.33
Etwas verkürzt zusammengefasst lautet Genettes Argumentation wie folgt: Die Verwendung von Sprache in literarischen Texten ist als intransitiv zu bezeichnen, weil die Referenzfunktion der Sprache in den Hintergrund gedrängt wird. In qua Poetizität literarischen Texten wird die Bezugnahme auf die Welt durch die Form, durch die Jakobsonsche poetische Funktion überlagert, in qua Fiktionalität literarischen Texten wird die Referenz durch das Erzählen von fiktiven Objekten unterlaufen. Le texte de fiction est lui aussi intransitif, d’une manière qui ne tient pas au caractère immodifiable de sa forme, mais au caractère fictionnel de son objet, qui détermine une fonction paradoxale de pseudo-référence, ou de dénotation sans dénoté.34
Auch wenn Genettes Argumentation, die hier nicht weiter verfolgt werden kann, in ihren Einzelheiten nicht völlig überzeugend ist,35 bleibt die Aussage ›Alle Fiktion ist Literatur‹ durchaus bedenkenswert. Eine solche Sichtweise impliziert eine Ausweitung des Literatur- bzw. Kunstbegriffs: Alle fiktionalen Erzähl-Texte (von Perry Rhodan bis Joyces Ulysses) werden als Literatur angesehen. Eine solche Ausweitung des Literaturbegriffs kann im Sinne einer ›Demokratisierung‹ des Literaturbegriffs für manche literaturwissenschaftlichen Ansätze und den mit ihnen verbundenen Gegenstands_____________ 31 32
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Jakobson: Linguistik, S. 92. Genette: Fiction, S. 31. Genette berücksichtigt daneben jedoch auch die Verdoppelung der Sprachhandlungssituation – »dissociation entre l’auteur (énonciateur réel) et le narrateur (énonciateur fictif)« (ebd., S. 36) – sowie die Intentionalität des Textproduzenten, die Genette jedoch im Rahmen der pretense-Theorie als Fingieren expliziert (vgl. ebd.). So kann man den in der vorliegenden Arbeit explizierten Fiktionsbegriff als eine Präzisierung von Genettes Fiktionskonzept begreifen. Ebd., S. 35f. Ebd., S. 36. Vgl. Zipfel: Fiktion, S. 317-320.
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bestimmungen der Literaturwissenschaft wünschenswert sein.36 In letzter Konsequenz wird hierbei nicht nur die so genannte Trivialliteratur in den Bereich der Literatur integriert, sondern z.B. auch Werbetexte in Form von fiktionalen Erzähl-Texten. 2.3 Die grundsätzliche Unabhängigkeit von Fiktion und Literatur Betrachtet man die beiden dargestellten Anstrengungen, Literatur und Fiktion in einen Begründungszusammenhang zu bringen, so ist ihnen gemeinsam, dass sie versuchen, mit der Fiktionalität eine Art objektivierbares Kriterium für die Bestimmung von Literatur zu gewinnen. Allerdings gibt es auch Konzeptionen von Literatur, die Literarität und Fiktionalität klar voneinander trennen. Als exemplarisch hierfür kann das Konzept von Literatur als soziale Praxis von Lamarque/Olsen angesehen werden.37 Texte, die im Rahmen der sozialen Praxis ›Literatur‹ produziert, vervielfältigt und rezipiert werden, werden nach Lamarque/Olsen als Objekte ästhetischer Wertschätzung aufgefasst: »The mode of apprehension which the practice defines is one of appreciation.«38 Lamarque/Olsen unterscheiden in der sozialen Praxis ›Literatur‹ zwei charakteristische Dimensionen der Wertschätzung: eine kreativ-imaginative und eine mimetische Dimension. Der kreativ-imaginative Aspekt der Literatur umfasst die formale Konzeption bereits vorhandener Geschichten oder Sachverhalte und die inhaltliche Konzeption neu zu erfindender Geschichten. Man erwartet von literarischen Werken Komplexität und Kohärenz in der formalen Gestaltung.39 Neben diese kreativ-imaginative Dimension stel_____________ 36
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Eine soziologisch orientierte Literaturwissenschaft kann an einem erweiterten Literaturbegriff interessiert sein, um z.B. der Forderung nach einer Einbeziehung der Trivialliteratur als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen Nachdruck zu verleihen. Das Interesse an der Analyse solcher Texte scheint mir dabei vorwiegend ein soziologisches, z.B. ideologiekritisches, und weniger ein ästhetisches zu sein. Eine Bestimmung von Literatur als soziale Praxis entspricht in vieler Hinsicht anderen Bestimmungen von Literatur, z.B. als »offenes System« (Landwehr: Text, S. 15), als »Gesamtkomplex der Produktion, Vermittlung, rezeptiven Verarbeitung und Wirkung sprachlicher Texte« (Schmidt: Literaturwissenschaft, S. 18), als »soziale Institution« (Fricke: Norm, S. 101), als »Sozialsystem Literatur« (Vgl. Pfau / Schönert: Probleme, S. 8-11). Lamarque / Olsen: Truth, S. 256. Vgl. ebd., S. 265: »Using the distinction between form and subject, we can say that the aesthetic value defined by the creative-imaginative aspect of the concept of literature is constituted by the imposition of form on a subject. Imposing form on a subject is to impose coherence on a complexity of elements: a manifold of elements is in construal both identified and recognized as forming a unity. An expectation of a complex and coherent form is thus one central element in the literary stance; and appreciation,
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len Lamarque/Olsen die so genannte mimetische Dimension. Sie wird als Darstellung eines Inhalts von allgemein menschlichem Interesse beschrieben; was literarische Texte darstellen, betrifft die Leser in ihrem wesentlichen Menschsein.40 Die beiden Dimensionen der die soziale Praxis ›Literatur‹ definierenden Wertschätzung – komplexe und kohärente Form sowie menschlich interessanter Inhalt – gelten sowohl für faktuale als auch für fiktionale Texte.41 So wird der Begriff ›Literatur‹ völlig ohne Bezug auf den Begriff der Fiktion bestimmt. Lamarque/Olsen sind der Ansicht, dass ›Literatur‹ und ›Fiktion‹ schon deshalb grundsätzlich voneinander unabhängige Begriffe sind, weil ›Fiktion‹ ein deskriptiver Begriff ist, während ›Literatur‹ nur als evaluativer Begriff expliziert werden kann. Die beiden durch die jeweilige soziale Praxis definierten Bereiche haben zwar eine Schnittmenge, sie sind jedoch weder deckungsgleich, noch geht der eine in dem anderen auf. In gewisser Weise kann man die Theorie von Lamarque/Olsen mit Nelson Goodmans Theorie der Exemplifikation als ›Symptom des Ästhetischen‹ in Verbindung bringen.42 Goodmans Konzept der Exemplifikation kann als »das Kondensat aller Redeweisen darüber, daß sich in beispielhafter Weise an einem Besonderen etwas Allgemeines [...] zeigt«,43 angesehen werden. Die Rezeption von Kunstwerken als neue Kategorien und Erfahrungsschemata exemplifizierende Objekte ist dabei unabhängig von deren faktualem oder fiktionalem Status. Auch wenn das Fehlen der Denotation in fiktionalen Texten eine exemplifizierende Rezeption ermutigt oder gar erfordert, ist der Umkehrschluss, dass die Denotation in faktualen Texten Exemplifikation verhindere, nicht zutreffend. Exemplifikation als Symptom des Ästhetischen ist somit grundsätzlich unabhängig von Fiktionalität.44
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the mode of apprehension defined by the literary stance, aims at identifying the complex and coherent form of a literary work of art.« Vgl. ebd., S. 265: »The interest which literature has for human beings, it has because it possesses a humanly interesting content, because what literature presents or says concerns readers as human beings. [...] To recognize something as a literary work is to recognize it as being intended to convey a humanly interesting content.« Inwieweit diese beiden Kriterien tatsächlich die soziale Praxis ›Literatur‹ in umfassender Weise bestimmen, wäre zu diskutieren. Das Augenmerk liegt jedoch hier stärker auf der formalen Konzeption als auf den Inhalten der Literatur-Definition von Lamarque/Olsen. Vgl. Goodman: Languages, S. 252-255; Goodman: Worldmaking, S. 67-69. Thürnau: Versionen, S. 90. Vgl. hierzu ausführlicher Zipfel: Fiktion, S. 270-277.
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3. Autofiktion und die Grenzen der Literatur In Abschnitt 1 wurden zwei unterschiedliche soziale Praktiken der Verwendung von Sprache erläutert: die referentielle Praxis, die jeder faktualen Erzählung und damit auch dem autobiographischen Erzählen zugrunde liegt, die Fiktions-Praxis, die fiktionales Erzählen bestimmt. Beide Praktiken scheinen sich gegenseitig auszuschließen: »En principe, le statut illocutoire de la fiction et celui de l’autobiographie s’opposent, s’excluent absolument l’un de l’autre.«45 Die referentielle Praxis wird durch die Behauptungsregeln bzw. durch die Konversationsmaximen der Ehrlichkeit in Bezug auf das tatsächlich in der Welt Passierte, die Fiktions-Praxis wird durch Regeln wie das Realitätsprinzip und durch den make-believe-Zusammenhang in Bezug auf erfundene Geschichten bestimmt. Im Hinblick auf die Autofiktion stellt sich also die Frage: Ist es möglich und, wenn ja, wie, dass ein und derselbe Text durch zwei unterschiedliche, sich gegenseitig ausschließende Praktiken oder Pakte bestimmt wird, wie es Doubrovskys Definition von ›Autofiktion‹ als ›Fiktion realer Ereignisse‹ nahe zu legen scheint? Diese Frage kann differenziert beantwortet werden, indem man drei verschiedene Interpretationen des Konzepts ›Autofiktion‹ unterscheidet. Für jedes Konzept stellt sich dabei zudem die Frage nach seiner Bedeutung für die Grenzen zwischen Faktualität, Fiktionalität und Literarität. 3.1 Autofiktion als eine besondere Art autobiographischen Schreibens Doubrovsky gilt als Erfinder der Autofiktion, oder genauer: Ihm kommt das Privileg zu, als erster den Begriff ›Autofiktion‹ im Zusammenhang mit einem seiner Erzählwerke gebraucht zu haben. Bei näherer Betrachtung jedoch beschränken sich Doubrovskys Texte erzähllogisch relativ eindeutig auf autobiographisches Schreiben. Lecarme stellt fest, dass im Laufe der Zeit mit Werken wie Le livre brisé (1989) oder L’après-vivre (1994) die Duobrovskysche Autofiktion zur Autobiographie wird: »L’autofiction ne s’oppose plus à l’autobiographie, mais en devient, sinon un synonyme, du moins une variante ou une ruse [...].«46 Jedoch war bereits in Doubrovskys erster Autofiktion Fils (1977) das Fiktionale auf zwei Elemente reduziert: die paratextuelle Bezeichnung ›roman‹ und die Erzählweise, die einen Tag, in dessen Zentrum eine psychoanalytische Sitzung steht, als Rahmen für eine eher assoziative und nicht chronologisch geordnete Darstellung des Lebens von Doubrovsky benutzt. Doubrovsky selbst unterstreicht in einem sich auf Fils _____________ 45 46
Gasparini: Roman, S. 13. Lecarme: Autofiction, S. 227.
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beziehenden Artikel, dass die erzählte Geschichte sein wirkliches Leben darstellen soll und in keiner Weise fiktive Elemente enthält. Non seulement auteur et personnage ont la même identité, mais le narrateur également: dans ce texte, je, c’est encore moi. En bonne et scrupuleuse autobiographie, tous les faits et gestes du récit sont littéralement tirés de ma propre vie; lieux et dates ont été maniaquement vérifiés. La part d’invention dite romanesque se réduit à fournir le cadre et les circonstances d’une pseudo-journée, qui serve de fourre-tout à la mémoire.47
Im Gegensatz zu späteren Autofiktionen anderer Autoren betrifft Doubrovskys Fiktionalisierung, wenn man von einer solchen überhaupt reden kann, nicht die erzählten Ereignisse, sondern lediglich deren durch die Psychoanalyse inspiriertes Arrangement in der Erzählung. Mais qu’en est-il de la fiction [...]? Elle se réduit au travail du style et à la science des jeux de languages; elle ne déborde guère l’usage assez discret du déplacement et de la condensation, elle ne modifie pas essentiellement une expérience vécue dont le contenu n’a rien de fictif, et elle ne dissout pas cette matière vraiment première dans l’imaginaire.48
Was Doubrovsky als das fiktionale Element seines Buches ansieht, ist nichts anderes als dessen Konstruktion. Diese Konstruktion ist jedoch nicht wirklich fiktionsspezifisch: Die nicht-chronologische psychoanalytisch-assoziative Anordnung der Ereignisse erscheint zwar statistisch gesehen eher untypisch für autobiographisches Schreiben, ist jedoch erzähllogisch im Hinblick auf die Fiktion unproblematisch, so dass auch auf der von Doubrovsky als relevant angegebenen Fiktionsebene des Erzählens keine wirkliche Fiktionalisierung (z.B. durch eine faktual nicht mögliche Perspektive) stattfindet. Obwohl Doubrovsky davon überzeugt ist, dass seine Erzählweise bereits als eine Art Fiktionalisierung anzusehen ist, gesteht er immerhin, dass die Bezeichnung seines autobiographischen Werks als ›Roman‹ auch als eine Art Trick intendiert war: Den Satz des Vorwortes »Autobiographie? Non, c’est un privilège réservé aux importants de ce monde, au soir de leur vie, et dans un beau style« erläutert Doubrovsky in einem Artikel wie folgt: La fiction serait donc ici une ruse du récit; n’étant pas de par son mérite un des ayantsdroit de l’autobiographie, ›l’homme quelconque‹ que je suis doit, pour capter le lecteur rétif, lui refiler sa vie réelle sous les espèces plus prestigieuses d’une existence imaginaire.49
Die Fiktion ist dabei jedoch weniger eine List des Textes qua Erzählung als eine List des Textes qua Paratext – die Gattungsbezeichnung ›roman‹ – und damit eine List des Autors in der paratextuellen Kommunikation mit dem Leser. Die Bezeichnung ›roman‹ soll das Interesse des Lesers für eine _____________ 47 48 49
Doubrovsky: Autobiographie, S. 89. Lecarme: Nouvel, S. 46. Doubrovsky: Autobiographie, S. 90.
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Erzählung wecken, für die der Autor eigentlich kein Publikum erwartet, die er möglicherweise als nicht interessant genug empfindet, als dass es sich lohnen würde, sie zu erzählen und besonders sie zu lesen. Doubrovskys List wirft unweigerlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Autofiktion und Literatur auf. Je nachdem, wie man die Bezeichnung ›Roman‹ interpretiert, wird der Zusammenhang zwischen Doubrovskys Art der Autofiktion und dem Literarischen auf unterschiedliche Art und Weise hergestellt. ›Roman‹ kann zum einen die Einordnung des Textes in den Bereich des Fiktionalen bedeuten. So ist Marie Darrieussecq der Ansicht, dass Doubrovskys List eigentlich darin besteht, seine Texte durch die Zuordnung zur Fiktion nach den essentiellen Kriterien Genettes zur Literatur zu machen.50 Da Fiktion für Genette ein hinreichendes Merkmal für Literatur ist, werden Doubrovskys Texte durch ihre Einordnung in die Fiktion zur Literatur ohne Wenn und Aber. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Einordnung von Doubrovskys Fils in den Bereich der Literatur nach Genetteschen Kriterien eigentlich eher über die formalen Aspekte des Textes herzustellen wäre. Die besondere Konstruktion des Textes – die Ereignisse werden eher psychoanalytisch-assoziativ als kausal-chronologisch präsentiert – könnte durchaus als eine Form der Poetizität angesehen werden.51 Da Doubrovsky jedoch Konstruktion direkt mit Fiktionalität verbindet, benutzt er die Behauptung der Fiktionalisierung als ›Mittel‹ der Literarisierung. Die Bezeichnung ›Roman‹ kann aber in Doubrovskys Verwendung nicht nur ›Darstellung einer fiktiven Geschichte‹, sondern auch ›Erzählung einer besonders spannenden, faszinierende Geschichte‹ bedeuten. Es handelte sich also um den Versuch, die eigene Person durch die (vorgebliche) Fiktionalisierung dem Leser interessant zu machen, bzw. um den Versuch, den Rezipienten durch die Bezeichnung ›Roman‹ die Autobiographie eines unbedeutenden Mannes ›unterzujubeln‹. Mit Lamarque/Olsen könnte man sagen, dass hier durch die Bezeichnung ›Roman‹ behauptet wird, dass eine Geschichte von allgemein menschlichem Interesse erzählt werden soll. Auch in dieser Interpretation erscheint die paratextuelle Bezeichnung als Versuch, einen Text von zweifelhaftem Status (zumindest in den Augen des Autors) im Bereich der Literatur zu verorten, allerdings nicht über das Kriterium der Fiktionalität, sondern über das des menschlichen Interesses. Bemerkenswert ist, dass auch in dieser Sichtweise Doubrovsky zu einem inhaltlichen und nicht zu einem formalen Kriterium greift, um seinen Text zu literarisieren. _____________ 50 51
Vgl. Darieussecq: Autofiction, S. 372f. Vgl. die Aussage von Weitzmann über Doubrovsky: »Pour lui, il s’agissait moins de mentir sur les faits que de les ›lyriciser‹, si je puis dire.« (Weitzmann: Chaos, S. 78)
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Schließlich kann man die Bezeichnung ›Roman‹ für die Darstellung des wirklichen Lebens des Autors als einen Versuch verstehen, die ›Zensur‹ zu umgehen: »Que reste-t-il alors de la fiction, hormis une annonce générique à laquelle tous les lecteurs n’apportent pas nécessairement leur adhésion, mais qui permet de tourner beaucoups de censures?«52 Gemeint ist damit sowohl die ›äußere Zensur‹ durch die Anderen (Verwandte, Freunde und Bekannte des Autors), die sich möglicherweise nicht adäquat dargestellt sehen, wie auch die ›innere Zensur‹, die mehr oder weniger peinliche Taten oder Ansichten des eigenen Lebens zu unterdrücken sucht. Den Anderen soll durch die Zuordnung des Textes zur Fiktion der Wind aus den Segeln genommen werden mit dem Hinweis, dass gar kein Anspruch auf Darstellung wirklicher Personen vorhanden sei; dem Ich soll die Ummantelung des Geschilderten als Fiktion das Zurückschrecken vor peinlichen Geständnissen nehmen. Die Autofiktion wird damit zur entfesselten Autobiographie (»autobiographie déchaîné«).53 Auch in dieser Interpretation ist die Bezeichnung ›Roman‹ als List zu verstehen. Ein eigentlich unter den Bedingungen des autobiographischen Erzählens verfasster Text wird mit dem Fiktions-Pakt bemäntelt und es wird davon ausgegangen, dass sowohl der Produzent wie auch der Rezipient sich entsprechend verhalten, ersterer durch das Umgehen der Auto-Zensur, letztere durch Einklammerung der Denotation und der aus der konkreten Referenz möglicherweise entstehenden persönlichen und rechtlichen (Frage der Verletzung der Persönlichkeitsrechte) Konsequenzen.54
_____________ 52 53 54
Lecarme / Lecarme-Tabone: Autobiographie, S. 268. Ebd. Interessant ist in diesem Zusammenhang die kuriose Doubrovsky/Weitzmann-Kontroverse. Doubrovsky beklagte sich 1997 öffentlich darüber, dass sein Neffe Marc Weitzmann in dessen autofiktionalem Roman Chaos die Familiengeschichte der Doubrovsky/ Weitzmanns falsch darstelle und damit auch ihn selbst (Doubrovsky) in einem falschen Licht erscheinen ließe. Der treffende Kommentar hierzu in Le Monde des Livres (05.09. 1997): »Issus de la même famille, Serge Doubrovsky et Marc Weitzmann n’ont pas la même perception de ce que fut l’ancêtre Max, de la manière dont pères, mères, oncles et cousins vécurent la Shoah, ni de la ruse employée par un écrivain qui choisit l’autofiction. Personne ne pourra jamais juger si, comme l’affirme Serge Doubrovsky, les propos qui lui sont attribués sont ›déformés ou falsifiés‹ (quoique Marc Weitzmann revendique le droit de déformer la réalité pour la rendre plus lisible). Mais en accusant Weitzmann d’avoir signé une ›réécriture frauduleuse du Livre Brisé‹, Doubrovsky dénie à son jeune neveu le droit d’avoir sa propre interprétation des faits, le droit de se fabriquer à son tour un être fictif pour éloigner la nausée qui l’assaille, le droit de se débarasser de son propre chaos.« (Douin: Autofriction) Vgl. auch Hughes: Recycling.
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3.2 Autofiktion als eine besondere Art des fiktionalen Erzählens In der französischen Literaturwissenschaft wird inzwischen allgemein zwischen einer engen und einer weiten Definition von ›Autofiktion‹ unterschieden. Die weite Definition wird in der Regel mit dem Autor der ersten größeren, aber lange nicht veröffentlichten Arbeit über Autofiktion, Vincent Colonna, und mit Genette in Verbindung gebracht.55 Diese weite Definition geht davon aus, dass Autofiktion durch die Namensidentität von Autor und Figur zusammen mit einer Fiktionalität behauptenden Gattungsbezeichnung gekennzeichnet ist, insofern wäre die Autofiktion durch die Gleichung ›A ≠ N = F‹ bei gleichzeitig A = F beschrieben. Dieses zum Teil kontradiktorische Gleichungsset lässt sich in zwei Hinsichten auflösen. Genette ist der Ansicht, dass in dem Fall, wo ›A = F‹ eine tatsächliche Identität bedeuten soll, man eigentlich auf ›A = N = F‹ zurückfällt und die Autofiktion nichts anderes als eine »autobiographie honteuse« sei, eine ›uneingestandene‹ Autobiographie. Genette zieht es vor, die Autofiktion in den Bereich der Fiktion einzuordnen: Sie wird dann durch die Gleichung ›A ≠ N‹ bestimmt, und ›A = F‹ bezieht sich in diesem Falle nur auf die Identität der Namen von Autor und Figur. Die Tatsache, dass der Autor unter dem eigenen Namen in das fiktionale Universum seiner Erzählung eintritt, bedeutet dann nichts anderes, als dass im fiktionalen Universum der Erzählung eine fiktive Figur, die den Namen des Autors trägt (und möglicherweise ein paar Persönlichkeitsmerkmale mit ihm teilt), vorkommt.56 Besonders greifbar wird eine solche Interpretation der Autofiktion in Texten, deren Geschichten ans Phantastische grenzen. Als klassisches Beispiel hierfür gelten Erzählungen von Borges wie Das Aleph (eine Figur namens Borges bekommt die Gelegenheit ein Aleph zu betrachten, d.h. einen »Ort, an dem, ohne sich zu vermischen, alle Orte der Welt sind, aus allen Winkeln gesehen«),57 Der Zahir (eine Figur namens Borges wird von einem Zahir, einem Gegenstand an den man, hat man ihn einmal gesehen, unablässig denken muss, in den Wahnsinn getrieben) oder Der Andere (der 70-jährige Borges begegnet dem 19-jährigen Borges auf einer Bank die für den einen am Charles River in Boston für den andern an der Rhône in Genf steht). Als einer der ersten Texte dieser Art könnte Dantes Divina Commedia angesehen werden, auf die bezeichnenderweise in Das Aleph auf mehreren intertextuellen Ebenen Bezug genommen wird. In diesem Verständnis bedeutet ›Autofiktion‹ eine besondere Art fiktionaler Erzählung, in der eine der fiktiven Figuren den Namen des Au_____________ 55 56 57
Vgl. Colonna: Autofiction. Vgl. Genette: Fiction, S. 85-88. Borges: Aleph, S. 140.
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tors trägt. Es stellt sich natürlich dann die Frage, wie die Tatsache, dass der Autor einer der Figuren seiner fiktionalen Erzählung seinen Namen gibt, zu interpretieren ist. Im vorliegenden Zusammenhang ist Mansbrügges Interpretation der Texte von Borges als poetologische Erzählungen interessant.58 Mansbrügge geht davon aus, dass die Tatsache, dass die Hauptfiguren in Das Aleph und Der Zahir den Namen des Autors tragen, dadurch erklärt werden kann, dass es sich in beiden Fällen um poetologische Äußerungen von Borges über das Schreiben allgemein und sein Schreiben im Besonderen handele. Beide Texte führten Formen der schriftstellerischen Obsession vor: Das Aleph das Phantasma des Schriftstellers der unendlichen Produktivität bzw. der Inkorporation der ganzen Welt in sein Werk, Der Zahir im Gegensatz dazu die obsessive Konzentration auf das Detail. Beide schriftstellerischen Haltungen werden in gewisser Weise als legitimes Ziel dargestellt, das aber, in extremis verfolgt, zugleich zu einer Autor und Werk zerstörenden Obsession wird. Auch diese Form des autofiktionalen Erzählens betrifft damit in gewisser Weise die Grenzen der Literatur. Es geht dabei allerdings weniger um die Grenzen zwischen Literatur und Nicht-Literatur, sondern um die Grenzen zwischen den literarischen Gattungen. Die poetologischen Äußerungen, deren angestammte Gattung der faktuale Essay ist, wird in die fiktionale Erzählung verlagert. Diese Verbindung zwischen poetologischem Essay und autofiktionalem Erzählen lässt sich auch in anderen Texten beobachten. Louis Aragon verbindet in seiner Erzählung Le mentir-vrai (auto)fiktional erzählende Abschnitte, die Ereignisse aus seiner Kindheit thematisieren, abwechselnd mit poetologisch-essaystischen Passagen, wobei fiktionales Erzählen und poetologische Essays sich gegenseitig beleuchten. Roland Barthes par Roland Barthes wird vom Autor als eine Gattungsmischung beschrieben, als ein Essay, der quasi zum Roman wird, allerdings zu einem Roman ohne Namen:59 La substance du livre, finalement, est donc totalement romanesque. L’intrusion, dans le discours de l’essai, d’une troisième personne qui ne renvoie cependant à aucune créature fictive, marque la nécessité de remodeler les genres: que l’essai s’avoue presque un roman: un roman sans noms propres.60
_____________ 58 59
60
Vgl. Mansbrügge: Aleph. Barthes’ Text wird in der Regel als Vorläufer autofiktionalen Erzählens angesehen. Er besteht im ersten Teil aus Photographien, im zweiten aus einer mehr oder weniger alphabetisch geordneten Abfolge von vorwiegend essayistischen Texten, die jedoch auch Erinnerungen enthalten. Dem Text vorangestellt ist die paratextuelle, in Barthes’ Handschrift gedruckte Anweisung, das Ganze als von einer Romanfigur verfasst zu lesen: »Tout ceci doit être considéré comme dit par un personnage de roman.« Barthes: Barthes, S. 110.
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Erwähnt sei, dass auch unabhängig von dieser spezifischen Mischung von poetologischem Essay und fiktionalem Erzählen sich in fast allen autofiktionalen Texten eine mehr oder weniger starke poetologische Komponente ausmachen lässt. Stein z.B. lässt Toklas ihre (Steins) literarische Vorgehensweise beschreiben und scheint damit gleichzeitig eine Begründung für die spezifische Erzählsituation von The Autobiography of Alice B. Toklas zu liefern,61 Max Frischs Montauk ist durchsetzt von Reflexionen über das Schreiben des Autors, und sogar Marguerite Duras’ L’amant, ein Text, der ohne explizit poetologische Passagen auskommt, kann als Darstellung der Entwicklung der Protagonistin zur Schriftstellerin und damit als Begründung ihres Schreibens (sowohl des Dass wie auch des Wie) gelesen werden. 3.3 Autofiktion als Kombination von autobiographischem Pakt und Fiktions-Pakt Auch wenn bereits Autofiktionen, die entweder als Form des autobiographischen Schreibens oder als Spielart des fiktionalen Erzählens gesehen und gehandhabt werden, zu Grenzüberschreitungen zwischen Faktualität, Fiktionalität und Literarität führen, so geht die größere Verunsicherung von Konzepten und Texten aus, bei denen eine eindeutige Zuordnung zum Faktualen oder Fiktionalen fragwürdig wird. Theoretische Konzepte von Autofiktion werden ebenso wie konkrete Texte dann besonders interessant, wenn sie sich nicht mehr auf die eine oder andere Art des Erzählens und des Sprachgebrauchs festlegen lassen. Darrieusecq definiert deshalb ›Autofiktion‹ wie folgt: [...] l’autofiction est un récit à la première personne, se donnant pour fictif (souvent, on trouvera la mention roman sur la couverture), mais où l’auteur apparaît homodiégétiquement sous son nom propre, et où la vraisemblance est un enjeu maintenu par de multiples ›effets de vie‹.62
Wichtig ist Darrieusecq in ihrer Definition, dass der autofiktionale Text sich sowohl als referentiell wie auch als fiktional zu erkennen gibt (»l’autofiction _____________ 61
62
Vgl. z.B. den Absatz: »Gertrud Stein, in her work, had always been possessed by the intellectual passion for exactitude in the description of inner and outer reality. She has produced a simplification by this concentration, and as a result the destruction of associational emotion in poetry and prose. She knows that beauty, music, decoration, the result of emotion should never be the cause, even events should not be the cause of emotion nor should they be the material of poetry and prose. Nor should emotion itself be the cause of poetry and prose. They should consist of an exact reproduction of either an outer or an inner reality.« (Stein: Autobiography, S. 228) Darrieusecq: Autofiction, S. 369f.
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demande à être crue et demande à être non crue; ou pour le dire encore une fois autrement, l’autofiction est une assertion qui se dit feinte et qui dans le même temps se dit sérieuse«)63 bzw. dass dem Leser sowohl der autobiographische Pakt wie auch der Fiktionspakt angeboten werden, ohne dass er die Möglichkeit an die Hand bekommt, den Text ganz oder teilweise nach einem der beiden Pakte aufzulösen (»se présentant à la fois comme roman à la première personne et comme autobiographie, l’autofiction ne permet par au lecteur de disposer des clés pour différencier l’énoncé de réalité de l’énoncé de fiction«).64 Darrieusecqs Ausgangsdefinition ist sicherlich in mehreren Punkten zu wenig differenziert. So gibt es zum einen andere Möglichkeiten der Identifikation des Autors mit einer Figur der erzählten Geschichte als die Namensgleichheit, z.B. über die vorherigen Werke, und zum anderen Möglichkeiten der Fiktionalisierung jenseits des Paratextes, z.B. durch die Integration fiktiver Elemente auf der Ebene der Geschichte oder die Verwendung der dritten Person anstatt der ersten. Allerdings ist die Zielrichtung der Definition klar: Das pragmatische Paradoxon des »C’est moi et ce n’est pas moi« soll erhalten bleiben.65 Eine Erzählung, die ins Unwahrscheinliche oder gar Phantastische gleitet, ist für Darrieusecq keine Autofiktion mehr, weil sie dem Leser die Unsicherheit darüber, was fiktiv und was wirklich ist, nimmt.66 Der autofiktionale Text ist somit immer mit Ambiguität behaftet. Betrachtet man Darrieusecqs Definition und verschiedene Texte, auf welche die Definition zutrifft, im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Grenzen der Literatur, stellt sich die Frage nach den potentiellen Funktionen autofiktionalen Erzählens. Darrieusecq geht davon aus, dass es die Funktion der Autofiktion sei, vorhandene literarische Praktiken in Frage zu stellen. Diese Infragestellung kann unterschiedlich interpretiert werden. Im Sinne einer postmodernen Kritik der Referentialität, der zufolge Referenz als Illusion und Sprache ausschließlich als endlose Semiose von Signifikanten ohne Signifikat angesehen wird, könnte Autofiktion als die literarische Darstellung oder Verdeutlichung der Auflösung der Grenze zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen oder als die literarische Inszenierung der grundsätzlichen Fiktionalität des Realen verstanden werden. So behauptet Paul de Man, dass letztlich zwischen autobiographischem und fiktionalem Erzählen nicht unterschieden werden kann: »It appears [...] that the distinction between fiction and autobiography is not an either/or polarity, but _____________ 63 64 65 66
Ebd., S. 377. Ebd. Genette: Fiction, S. 97. Vgl. Darrieusecq: Autofiction, S. 378.
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that it is undecidable.«67 Eine solche Interpretation widerspricht jedoch der Definition von Darrieusecq und meiner Ansicht nach auch der Leseerfahrung. Das Besondere der Autofiktion in Darieusecqs Verständnis besteht darin, dass der sprachhandlungslogische Widerspruch zwischen referentiellem Pakt und Fiktionspakt erhalten bleibt. Geht man jedoch davon aus, dass es durch die Autofiktion zu einer gänzlichen Fiktionalisierung der (Wirklichkeits-)Darstellung käme, würde damit der referentielle Pakt aufgegeben und zurück bliebe nur die reine Fiktion. Ich möchte einen weiteren Punkt hinzufügen, der zugegebenermaßen auf meiner persönlichen Leseerfahrung beruht. Es erscheint mir kaum möglich, einen Text durchgehend sowohl nach dem referentiellen Pakt wie auch nach dem Fiktions-Pakt zu lesen. Ich denke vielmehr, dass das vom autofiktionalen Text inszenierte Spiel darin besteht, dass der Leser von einem Pakt zum andern wechselt und dies mehrmals im Laufe der Lektüre. Die dabei möglicherweise entstehende Verwirrung ist nicht eine Vermischung zwischen referentiellem Pakt und Fiktions-Pakt, sondern nur die Verwirrung, dass der Text weder nach den Leseinstruktionen des Referenz-Paktes noch nach denen des Fiktions-Paktes eindeutig aufzulösen ist. Damit jedoch bleibt die Unterschiedlichkeit der beiden Pakte gewahrt, man könnte sogar sagen, dass der Leser gerade durch das Hin und Her zwischen dem einen und dem anderen auf die Spezifik der beiden Pakte aufmerksam gemacht wird. Es mag dem Leser am Ende nicht gelingen, bis ins Letzte sagen zu können, welche Elemente des Textes auf wirklichem Erleben beruhen und welche als fiktiv anzusehen sind, die grundsätzliche Unterscheidung zwischen der Praxis des faktualen und der des fiktionalen Erzählens bleibt davon unberührt. Autofiktion ist bei genauerer Betrachtung also nicht dazu geeignet, die Entgrenzung des Fiktionsbegriffs und damit die Entgrenzung eines auf Fiktion beruhenden Literaturbegriffs zu befördern oder auch nur zu illustrieren. Eine andere Interpretation der Infragestellung vorhandener Praktiken bezieht sich vornehmlich auf den Bereich des autobiographischen Schreibens. In vielen autofiktionalen Texten werden klassische Probleme des autobiographischen Schreibens thematisiert. Das prominenteste dieser Probleme betrifft die Erinnerung. Unzuverlässigkeit und die Lückenhaftigkeit des Gedächtnisses sind Probleme, die in der rein autobiographischen Literatur fast immer eine Rolle spielen und thematisiert werden. Die klassische autobiographische Erzähl-Situation – in einer fortgeschrittenen Lebensphase versucht ein/e Autor/in sein/ihr Leben seit der Kindheit zu erzählen – führt quasi automatisch zu Fragen nach der Verlässlichkeit der Erinnerung besonders im Hinblick auf die frühen Lebensphasen. In der Regel werden diese Reflexionen über das Gedächtnis in autofiktionalen Texten _____________ 67
De Man: Autobiography, S. 921.
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in mehrerer Hinsicht verschärft. Thematisiert wird nicht nur, dass Erinnerungen unzutreffend oder lückenhaft sein können. Es wird zudem in mehr oder weniger durch die Psychoanalyse inspirierten Überlegungen darüber spekuliert, ob der/die Autor/in seine/ihre Erinnerungen bewusst oder unbewusst erfindet. So legt Duras im Nachhinein und quasi willkürlich fest, welche Schuhe sie am Tag der Begegnung mit dem chinesischen Liebhaber getragen hat: »Ce jour là je dois porter cette fameuse paire de talons hauts en lamé or. Je ne vois rien d’autre que je pourrais porter ce jour-là, alors je les porte.«68 Alain Robbe-Grillet reflektiert schon ab der ersten Seite seines Textes über die Erfindungen seines Gedächtnisses: Mais les souvenirs personnels qu’il me semble parfois avoir gardés de ces brèves entrevues [...] ont très bien pu avoir été forgés après coup par ma mémoire – mensongère et travailleuse – sinon de toutes pièces, du moins à partir seulement des récits décousus qui circulaient à voix basse dans la famille, ou aux alentours de la vieille maison.69
Diese Reflexionen gewinnen im Laufe der Lektüre dadurch an Schärfe, dass der Leser darüber im Dunkeln gelassen wird, ob es sich bei Henri de Corinthe, um den es hier geht, um eine reale Person oder um eine fiktive Figur handelt. Zugespitzt wird mit diesen Aussagen und Reflexionen die Frage, inwieweit der vielen Autobiographien zugrunde liegende Prozess der Selbstfindung besser als ein Prozess der Selbsterfindung zu beschreiben wäre. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass fast alle autofiktionalen Texte durch eine profunde Skepsis, wenn nicht durch eine radikale Ablehnung des Konzepts der Selbstfindung und deren Darstellung geprägt sind. Abgelehnt wird die retrospektive Darstellung eines Lebens als sinnerfülltes Ganzes, weil das Konzept eines das Leben zusammenhaltenden Sinns als nicht mehr tragfähig oder sogar als gefährliche Illusion angesehen wird.70 Zum Tragen kommt dabei auch die grundsätzliche (post)moderne Kritik am Konzept eines homogenen, kohärenten, autonomen, selbstbewussten und sich selbst transparenten Subjekts. Als eindeutiges Zeichen eines Gefühls der Opazität, der Diskontinuität und der Sinnentleertheit des Ich kann die oft unchronologisch assoziative Erzählweise und die damit einhergehende Fragmentierung sowohl des Textes wie auch der Darstellung der Lebensgeschichte gesehen werden: »Écrire par fragments: les frag_____________ 68 69 70
Duras: L’amant, S. 19. Robbe-Grillet: Miroir, S. 7f. Vgl. z.B. den Anfang von Angélique ou l’enchantement, dem zweiten Teil von RobbeGrillets autofiktionaler Trilogie Romanesques: »Aussi ne saurais-je partager l’avis de Philippe Lejeune concernant la mise en texte des souvenirs. ›L’exigence de signification est le principe positif et premier, dit-il, de la quête autobiographique.‹ Non, non! Certainement pas! Cet axiome n’est pas valable [...] pour ma propre entreprise actuelle.« (Robbe-Grillet: Angélique, S. 67)
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ments sont alors des pierres sur le pourtour du cercle: je m’étale en rond: tout mon petit univers en miettes; au centre, quoi?«71 Die von Barthes wohl angedeutete Unbeantwortbarkeit der rhetorischen Frage nach der Mitte, um die seine Fragmente kreisen, soll wohl die postmoderne Auflösung des Subjekts oder die Entlarvung des Subjekts als Spracheffekt (»le sujet n’est qu’un effet de language«) verdeutlichen.72 Allerdings übertrifft Barthes andere Autoren autofiktionaler Texte an Reflexionskraft, wenn er auch den Glauben an die Möglichkeit der Auflösung des Subjekts durch seine fragmentierte Darstellung und damit den Glauben an den ausschließlich fiktionalen Charakter der Selbstdarstellung als Illusion entlarvt. J’ai l’illusion de croire qu’en brisant mon discours. je cesse de discourir imaginairement sur moi-même, j’atténue le risque de transcendance; mais comme le fragment […] est finalement un genre rhétorique et que la rhétorique est cette couche-là du langage qui s’offre le mieux à l’interprétation, en croyant me disperser, je ne fais que regagner sagement le lit de l’imaginaire.73
In der Tat ist zu fragen, ob in Texten wie z.B. Robbe-Grillets Le miroir qui revient, der in fragmentierter Form einen durchaus umfassenden Bericht seiner Kindheit und Jugend liefert, sich nicht gegen die explizite Absicht des Autors aus den Fragmenten ein kohärentes, sinnerfülltes Bild einer Lebensgeschichte ergibt. Zu fragen wäre dann wiederum, ob der Autor seine im Text explizierten Absichten bewusst oder unbewusst durch den Text konterkarieren lässt. Festhalten kann man, dass in autofiktionalen Texten in der Regel eine Infragestellung des traditionellen autobiographischen Diskurses und seiner subjekttheoretischen Voraussetzungen erfolgt. Die Integration von fiktionalen Elementen, sei es auf der Ebene der Geschichte oder auf der Ebene der Erzählung, scheint die Unsicherheit des referentiellen Diskurses im Hinblick auf die Vergangenheit unterstreichen zu wollen. An der Oberfläche scheint es so, als ob der mit dem autobiographischen Diskurs verbundene referentielle Pakt damit mehr oder weniger grundsätzlich infrage gestellt würde. Allerdings bemerkt bereits Lejeune, dass die Frage des autobiographischen Paktes (als Ausformulierung bestimmter Regeln einer sprachlichen Praxis) unabhängig ist von der Fragestellung, ob in der Autobiographie das gelebte Leben den Text bestimmt oder der Text das Leben.74 Ähnlich wie in dem in 3.1 diskutierten Fall Doubrovskys führt auch hier die Fiktionalisierung nur dann zu einer Literarisierung, wenn Fiktion als hinreichendes Kriterium für Literatur angesehen wird, während die zuweilen als Fik_____________ 71 72 73 74
Barthes: Barthes, S. 89. Ebd., S. 77. Ebd., S. 90. Vgl. Lejeune: Moi, S. 29-30.
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tionalisierung angesprochene, aber letztlich unabhängig vom Fiktions-Pakt entstehende Fragmentierung der Texte im Sinne einer Poetisierung als Literarisierung angesehen werden könnte. Eine in gewisser Weise ebenfalls mit der Zersplitterung des Subjekts verbundene, aber weniger radikale und recht spekulative Funktionszuschreibung der Autofiktion führt stärker in den Bereich des Persönlichen. Die kanadische Literaturwissenschaftlerin und Soziologin Régine Robin gibt zu bedenken, dass ein beträchtlicher Teil der Autoren autofiktionaler Texte einen jüdischen Hintergrund haben.75 Auch wenn Robin einräumt, dass weder die Autofiktion spezifisch für die Darstellung jüdischer Identität noch jüdische Identität spezifisch für autofiktionale Texte ist, scheint sie doch nahe legen zu wollen, dass die Gegensätzlichkeiten jüdischer Identität ihren adäquaten Ausdruck in der Gegensätzlichkeit der Pakte in autofiktionalen Texten finden (können). Der französische Autor Marc Weitzmann hebt in einer Passage poetologischer Reflexion seines autofiktionalen Textes Chaos nicht nur die auffällig hohe Zahl jüdischer Autoren hervor, sondern auch die Beliebtheit der Autofiktion bei homosexuellen Autoren (von denen Hervé Guibert und Christophe Donner die in Frankreich prominentesten sind).76 So legt Weitzmann den Robins Bemerkung verallgemeinernden Schluss nahe, dass die Autofiktion wegen ihrer grenzüberschreitenden Qualität allgemein zur Darstellung von ›grenzüberschreitenden‹ Lebensgeschichten besonders geeignet sei. Einer solchen Funktions-Interpretation können Überlegungen, die die Ambiguität der Autofiktion mit dem Konzept der Exemplifikation in Verbindung bringen, entgegengestellt werden. Trotz der theoretischen Unabhängigkeit zwischen Fiktion und Exemplifikation, wird in der Praxis oft davon ausgegangen, dass fiktionale Texte eher in exemplifizierender Weise, d.h. durch Erfassen eines Allgemeinen im Besonderen, und faktuale Texte eher in denotativer Weise, d.h. im Falle des autobiographischen Schreibens als Nachvollzug einer individuellen Lebensgeschichte, rezipiert werden. Zwar ist es grundsätzlich möglich, faktuale Texte exemplifizierend zu rezipieren, manche Autoren, wie z.B. Anderegg, sind jedoch der Meinung, dass eine solche Rezeption dem Vorwurf ausgesetzt ist, das Einzelschicksal nicht wirklich ernst zu nehmen: »Das Wirkliche pflegt sich als solches der Verwandlung in symbolische Zeichenhaftigkeit zu widersetzen.«77 So könnte das Angebot von zwei widersprüchlichen Pakten zu einer komplexen Rezeptionshaltung einladen: auf der einen Seite die Individualität des Einzelschicksals wahrzunehmen und zu respektieren, auf der anderen die _____________ 75 76 77
Vgl. Robin: Golem, S. 32-33. Vgl. Weitzmann: Chaos, S. 77f. Anderegg: Sprache, S. 117f.
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Scheu vor einer exemplifizierenden Lektüre des Individuellen zu verlieren. Duras scheint diese doppelte Rezeption in L’amant u.a. dadurch zu unterstützen, dass sie manche Episoden in der dritten Person erzählt und dabei zudem anstatt des Possessivpronomens den bestimmten Artikel verwendet (z.B. la mère anstatt ma mère oder sa mère). Durch die Verwendung des bestimmten Artikels scheint die Geschichte ins Allgemeine transferiert zu werden.78 In diesem Sinne der Ermutigung zur exemplifizierenden Lektüre fände durch die Autofiktion eine Literarisierung des Individuellen statt. Eine andere im Hinblick auf die Grenzen zwischen Faktualitiät, Fiktionalität und Literarität interessante Interpretation von Autofiktion ist, dass mit der Integration fiktionaler Elemente in die Lebensgeschichte bzw. mit dem gleichzeitigen Angebot von referentiellem und Fiktions-Pakt eine Art Überwindung der Grenze zwischen literarischem Werk und Autor-Biographie, und damit zwischen Kunst und Leben inszeniert werden soll. So unterschiedliche Autoren wie Duras oder Raymond Federman treffen sich in dem Verfahren, in verschiedenen Texten dieselben Ereignisse mit denselben Figuren in unterschiedlichen Versionen zu erzählen. Damit scheinen sie für den Leser die Grenze zwischen der von ihnen gelebten und der von ihnen erfundenen Welt verwischen zu wollen. Auch Robbe-Grillet inszeniert ein Verwischen der Grenzen zwischen Lebenswelt und Werkwelt, allerdings indem er innerhalb seiner Autofiktion sein ganzes Werk für autobiographisch erklärt. Er stellt den Satz »Je n’ai jamais parlé d’autre chose que de moi« an den Beginn seines Textes und verdeutlicht im Laufe des Textes, welche lebensgeschichtlichen Details (Orte, Personen, Situationen) in welcher Form in seine Romane Eingang gefunden haben.79 In ähnlicher Art und Weise hatte bereits Aragon in seiner Erzählung Le mentir-vrai deutlich gemacht, wie er Elemente seines Lebens durch kleine Veränderungen in Literatur verwandelt. Robbe-Grillet liefert zudem eine theoretische Rechtfertigung seines Tuns: Einige Schlüsselkonzepte der modernen französischen Literaturwissenschaft wie die Verabschiedung des Autors, das Verständnis des Textes als kombinatorisches Spiel und die Depersonalisierung der Textintention, Konzepte, die Robbe-Grillet selber vertreten hatte, werden nun als Albernheiten bezeichnet und sollen als verblasste Ideologien überwunden werden.80 Es erfolgt also eine Rückbindung des literarischen Textes an die Lebenswelt des Autors und damit eine Zurücknahme der Kon_____________ 78 79 80
Ob sich dieser Effekt auch in Max Frischs Montauk einstellt gegen die explizite Intention des Autors, in diesem Werk nicht ins Allgemeine auszuweichen, wäre zu diskutieren. Der Satz erscheint erst auf der vierten Textseite (Robe-Grillet: Miroir, S. 10), ist aber der Anfangssatz der ersten Version des Textes, wie dem Leser am Beginn des veröffentlichten Textes mitgeteilt wird, vgl. ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 10f.
Autofiktion
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zeption des Werkes als autonomes, vom Leben des Autors abgetrenntes Kunstobjekt. In ähnlicher Weise interpretiert Adams die autofiktionalen Texte von Ronald Sukenick.81 Der Leser werde durch die Mischung von fiktiven und realen Elementen dazu gezwungen, die Gültigkeit der traditionellen Trennung zwischen Kunst und Leben in Frage zu stellen. Autofiktion würde in diesem Fall in besonderer Weise die Frage nach den Grenzen der Literatur und der Kunst thematisieren. 4. Schlussbemerkung Das Charakteristikum der Autofiktion ist die Verbindung von zwei sich eigentlich gegenseitig ausschließenden Praktiken: die referentielle Praxis und die Fiktions-Praxis. Die verschiedenen Formen der mehr oder weniger paradoxen Verknüpfung des referentiellen Paktes mit dem Fiktions-Pakt werfen in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlicher Intensität Fragen der Grenzen der Literatur auf. Die Grenzen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen werden in letzter Konsequenz eher verdeutlicht als verwischt. Die Gattungsgrenzen zwischen poetologischem Essay und fiktionaler Erzählung werden in Frage gestellt. Das Verhältnis von Fiktionalität und Literarität wird in all seinen Variationen thematisiert: von der literaturtheoretischen Frage, inwiefern Literarität durch Fiktionalität bestimmt werden kann, über die Frage des Verhältnisses zwischen Fiktionalität und Poetizität bis hin zu rechtlichen Problemen zwischen der ›Freiheit‹ der Fiktion und den Persönlichkeitsrechten der Dargestellten. Berührt werden auch die Grenzen zwischen exemplifizierender und Individualität respektierender Rezeption. Schließlich wird die Frage des Verständnisses von Literatur im persönlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang und damit die Frage der Grenze zwischen Kunst und Leben gestellt. Bibliographie Adams, Timothy Dow: Obscuring the Muse. The Mock-Autobiographies of Ronald Sukenick. In: Critique. Studies in Modern Fiction 20/1 (1978), S. 27-39. Anderegg, Johannes: Sprache und Verwandlung. Zur literarischen Ästhetik. Göttingen 1985. Aragon, Louis: Le mentir-vrai. Paris 1964. Barthes, Roland: Roland Barthes par Roland Barthes. Paris 1975. Böning, Thomas: Dichtung und Wahrheit. Fiktionalisierung des Faktischen und Faktizierung der Fiktion. Anmerkungen zur Autobiographie. In: Gerhard Neumann / Sigrid Wei-
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MARGRIT SCHREIER
Belief Change through Fiction: How Fictional Narratives Affect Real Readers
1. Introduction: Literary Texts and Their Readers What if you woke up one morning, finding yourself surrounded by strangers, without a clue to your name and your identity, but snippets from all the books you have ever read floating through your mind? How would you go about reconstructing and piecing together your memories and yourself, the essence of what constitutes you as a person – and can all those books you read in your previous life help you achieve this? This is the concern at the centre of Umberto Eco’s recent novel The mysterious flame of Queen Loana, and it illustrates in more than one way how literary texts can transcend the boundaries that have traditionally been associated with the concept of literature:1 within the fictional world, it turns out that books are indeed an integral part of the identity of Yambo, the main protagonist, and books serve as the clues that gradually lead him back to a sense of self. Outside the fictional and within our everyday world, readers may begin to wonder about the nature of memory and identity and how it is that we know that our memories are indeed our own – and not something we have read or heard from someone else. Traditionally, the study of literature has focused on the literary work as such, within the nexus of other literary works. Especially within the hermeneutic tradition, an essentialist conceptualization of the literary text has been predominant: the text is assumed to exist on its own, independent of its readers, and to carry certain meanings which can be uncovered by an appropriate exegesis of the text.2 Against the background of an essentialist concept of the literary text, readers’ reactions to such texts fall into two _____________ 1 2
Eco: Loana. Groeben / Schreier: Literature.
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Margrit Schreier
categories: they are either right, by realizing what is already inscribed in the text, or they are wrong. If they are right, they are of no additional interest by comparison to the text itself. If they are wrong, they are of no interest precisely because they fail to do justice to the text. Within this framework, the question of the effects of a literary text upon its readers is basically a question of aesthetics. Yet reports have always existed of effects which, like Yambo piecing together his past from Tom Sawyer, A la recherche du temps perdu, and many other books, extend well beyond the realm of the aesthetic. Goethe’s Werther, for instance, is reputed to have incited quite a number of young men to commit suicide, and Harriet Beecher-Stowe’s Uncle Tom’s Cabin has even been claimed to have contributed to the outbreak of the US Civil War between the North and the South.3 The study of how readers process literary texts, what meanings they attribute to them and the effects these texts subsequently have on their readers has been approached from a different tradition which starts out not from an essentialist, but from a functionalist notion of the text.4 This tradition has its roots in conceptualizations of the literary text in reception aesthetics and semiotics on the one hand and in constructivist theories of thinking and cognition, including text processing, on the other hand. In both reception aesthetics and semiotics the literary text has been conceived of, in contrast to pragmatic texts, as quintessentially open and potentially polyvalent, allowing not for one, but a number of different meanings.5 It is thus ultimately the reader who fills these open slots and thus in the process of reading brings the literary work into existence. While Iser’s implied reader is still very much inscribed into and thus constrained by the text,6 Schmidt takes up and extends this notion of the open into a functional concept of the literary text. In fact he no longer speaks of the text, but of a Kommunikat, a kind of template that is provided by the polyvalent literary work which is completed and realized as a text only in the act of reception.7 Starting from the same ›template‹, i.e. the same literary text, different readers may generate different realizations, and even the same reader may read a text differently, depending on the reading situation. The final text as the result of an individual reception process is thus conceptualized as a function of the specific reader and the reading situation (and, of course, of the text itself). _____________ 3 4 5 6 7
Green / Brock: Persuasiveness, pp. 117f. For this and the following, see Groeben: Literaturwissenschaft; Meutsch / Viehoff: Comprehensions; Schmidt: Grundriß; Steen / Schram: Study. On the polyvalence convention, see Groeben / Schreier: Hypothesis. Iser: Leser. Schmidt: Grundriß.
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These assumptions concerning a functional concept of the literary text converge with the results of research on the processing of non-literary, pragmatic texts. It is one of the most robust results in psycholinguistics and cognitive psychology that the meaning that a reader assigns to a text is a function both of textual and of reader characteristics.8 In text reception, bottom up-processes starting out from textual characteristics converge with top down-processes drawing upon cognitive schemata and prior knowledge on the reader’s side.9 Text reception is thus not a process whereby a text carries, so to speak, a specific meaning that is then recognized by the reader and extracted from the text, but the reader actively constructs meaning, and in this process reader and textual characteristics interact. This interactionist and constructivist notion of text processing has been shown to apply not only to the reception of pragmatic texts where it originates, but even more to the processing of literary texts which has been demonstrated to require and involve even more and at times different cognitive inferences than the processing of pragmatic texts.10 It is a particular type of text-reader-interaction and its subsequent effects that will be at the centre of this contribution: the ways in which literary texts can change readers’ beliefs about the world and thus extend the boundaries of the literary. In this, the focus will be on fictionality as a central characteristic of the literary (without, however, going into the relation between the two).11 To start with, a pragmatic approach to conceptualizing fiction will be outlined that is based on a functional concept of the literary text as it is described above. The main part of this contribution will provide an overview of some pertinent studies and findings concerning belief change through fiction, drawing also upon our own research. 2. Extending the Functional Concept of Literary Texts: The Pragmatic Conceptualization of Fiction From an essentialist point of view, there has been a strong concern with defining fictionality as a textual characteristic and with clearly distinguishing fiction and non fiction on conceptual grounds.12 A first tradition that starts out from an essentialist notion has been concerned with defining fiction in terms of formal textual characteristics, such as the epic form of _____________ 8 9 10 11 12
Christmann / Groeben: Psychologie. Van Dijk / Kintsch: Strategies. Christmann / Schreier: Kognitionspsychologie. Hoops: Fiktionalität. For an overview, cf. Nickel-Bacon / Groeben / Schreier: Fiktionssignale.
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the past tense,13 the difference between author and narrator,14 or the poeticity of the language.15 While these are certainly typical of fictional texts, they are neither necessary nor sufficient characteristics of fictionality.16 Poetic language by itself does not yet make a text a work of fiction, and a fictional text may well be written in an everyday type of language. As a consequence, Anderegg for instance has suggested that language in fiction be more appropriately conceptualized as a »world of transition«, comprising the entire range from the everyday to highly poetic types of language.17 A second (also essentialist) tradition has drawn upon the apparent lack of external referents of entities and settings in fictional texts. Against this background, fiction has been considered an ›as if‹ type of discourse, references to protagonists and settings as »empty labels«.18 Yet once again, such fictitious elements can be considered typical, but neither necessary nor sufficient characteristics of fiction. Although fictional texts will usually contain many fictitious elements, they will also make reference to many factual places and protagonists (Milan, for instance, the home town of Yambo, the main protagonist of Eco’s The Mysterious Flame of Queen Loana, most certainly has an existence outside the novel). Moreover, fictitious content is by no means restricted to fictional texts.19 A third, pragmatic approach to defining fictionality extends the functional notion of the literary text to the conceptualization of fiction by abandoning the assumption that fictionality constitutes a textual quality.20 Instead, fictionality is considered a characteristic that is ascribed to a text as a result of operations of fictionalization carried out by the authors and the readers of these texts alike according to certain conventions.21 Schmidt, for instance, distinguishes between an everyday type of communication system where the fact and the monovalence conventions obtain on the one hand and a literary-aesthetic communication system that is governed by the aesthetic and the polyvalence conventions on the other hand.22 _____________ 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
Hamburger: Logik. Cohn: Signposts; Stierle: Rezeption. Petersen: Fiktionalität; Schlaffer: Poesie. Searle: Status. Anderegg: Das Fiktionale, p. 172. Thürnau: Versionen; see also Gabriel: Fiktion; on the ontic status of fiction, Pavel: Worlds, ch. 2. Barsch: Fiktion/Fiktionalität. See for instance Eco: Walks; Hoops: Fiktionalität; Landwehr: Text; Schmidt: Fiktionalität; Schmidt: Grundriß. Iser: Das Fiktive; Rusch: Fiktionalisierung; Searle: Status. Schmidt: Grundriß. Where Schmidt uses the terminology of ›convention‹, Eco speaks of a ›contract‹ between author and reader (Eco: Walks), and Landwehr refers to the
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Utterances in an everyday context or texts produced in such a context (such as the menu in a restaurant, news items in the paper, or the departure times at the train station) are expected to have primarily one meaning (monovalence convention) and to be correct, at least as far as the speaker / author is aware of (fact convention). That especially the fact convention does indeed govern our interactions in an everyday context becomes apparent when the convention is flaunted, for instance by printing incorrect news items in the paper or wilfully displaying departure times of trains that do not in the least correspond to the actual departure times. In such cases, sanctions will usually follow. With a novel, on the other hand, these conventions are clearly not in place. In a literary-aesthetic communicative context, meaning is not expressed explicitly and in so many words; on the contrary, as outlined above, different readers may well find different meanings in the same text, or the same reader may discover different meanings in a renewed reading.23 At the same time (and this is really a consequence arising from the polyvalence convention being in place), truth is not a relevant criterion in evaluating texts produced within the literary system. If a novel contains fictitious elements, if the events described have never taken place, no sanctions will follow, but according to the aesthetic convention this is only to be expected. But if the text turns out to be not sufficiently appealing in aesthetic terms, or boring, this may well be followed by sanctions, for instance in terms of bad reviews, low sales figures, and problems for the author in securing another book contract. Within this conceptualization, it is the fact convention that leads us back to the issue of fiction and fictionality. How is it, though, that readers know in which communication system to operate, that operations of fictionalization, not factualization, are called for in the reception process? It is probably first and foremost paratextual information that functions as an orienting signal here:24 the information about the book and its author on the jacket or on the back cover, references to the genre (which are also indicated by the section of the bookstore where the book is placed), the author’s cautionary note alerting the readers to the fictitious nature of the characters, assuring them that any resemblance to any living persons is purely coincidental, or introductory formulae such as the traditional ›once upon a time‹ or the reference to the old manuscript or letters that the author came upon one day when clearing out the attic. Such paratextual _____________
23 24
›co-intentionality‹ of the production and reception of works of fiction (Landwehr: Text). Polyvalence convention: Groeben / Schreier: Hypothesis. Eco: Walks; Genette: Paratexte.
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signals provide the reader with a frame of reference pointing towards the literary-aesthetic system of communication even prior to the beginning of the actual reception process. Formal and semantic criteria that are more typically and more frequently found in fictional than in non fictional texts (see above), such as fictitious events or characters, poetic language, the difference between author and narrator, and the like, can likewise function as orienting signals, albeit – because of the overlap between fiction and non-fiction pointed to above – as less clear-cut ones.25 It is by inserting such orienting signals into the text that the author acts in accordance with the aesthetic convention, and it is by ›reading‹ these signals correctly and acting within the relevant communication system that the reader fulfils his or her part within the contract. Processing a literary text according to the aesthetic convention thus requires some knowledge on the reader’s side about how the literary-aesthetic system ›works‹, which signals in the text are typically used to denote fictionality and which signals point towards a factual frame of reference. If a reader is not familiar with the framing convention of the manuscript discovered in an attic, she/he may well – mistakenly – consider the text to be of a factual kind. It is by taking this part of the reader into account that the pragmatic approach to conceptualizing fiction and fictionality is more comprehensive compared to other approaches that it integrates into a more general framework. Moreover, the pragmatic approach draws attention to the permeability of the borderline separating fiction from non fiction. By abandoning the notion that there are fictional texts and non fictional texts and replacing it by the assumption that fictionality and factuality are the result of a match between operations carried out by the author and the reader, the notion of a ›mismatch‹ opens up an entire borderland area in between the realms of ›fact‹ and ›fiction‹. It is here that we find the author ›stretching‹ the conventions to their limits, using relevant orienting signals in what is meant to be a fictional text only sparingly and thus leaving the reader in doubt: is it real or not?26 And this borderland is also the home of the reader who simply disregards relevant orienting signals, reading a travelogue as she/he would read a novel, or a novel set in foreign parts as others might peruse a Lonely Planet guide. Concerning this issue of permeability, however, even the pragmatic approach does not go far enough. It permits of conceptualizing ways of reading that are not in accordance with the conventions – this is its advan_____________ 25
26
This is not to claim that paratextual signals are necessarily unambiguous: there can of course be frames within frames (see the famous example of The War of the Worlds: for an analysis, see Groeben / Schreier: Grenze). Nevertheless, paratextual signals tend to be less ambiguous compared to other orienting signals (Eco: Walks, ch. 6). For a digital example, see Schreier: Recipients.
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tage over other approaches. But at the same time these readings are characterized as somehow flawed, as a violation of the conventions, wilfully stepping outside the literary-aesthetic system of communicative actions. But is it really such a rare, such an unconventional way of reading a fictional text to bring truth-related criteria to its reception? Or, to put it differently: what exactly does it entail for the reception of a text to say it is fiction? To say that truth is irrelevant to the reception of fiction would be far too simplistic a way of putting it. Indeed the fact convention is suspended (see above), and a fictional text will usually not be true in the literal sense: the events described did not in fact occur and are not claimed or expected to have occurred:27 there exists no Yambo, for instance, who has lost all memory of his self and his family. Many types of fiction are, however, expected to be true in the metaphorical sense of conveying a ›higher truth‹: a truth about life, about man- and womankind – for instance about memory, remembering, and the question to which extent our memories are indeed our own. Fiction is thus frequently expected to be relevant to life, and it is upon this expectation that many of the functions rest that have been ascribed to literary works, such as their moral, educative, or informative function.28 And research has shown that readers do indeed look for such ›higher truths‹ in fiction and apply works of fiction to their everyday lives.29 But how does this ›higher truth‹ of fiction come about if works of fiction lack truth in the literal sense? Iser speaks of the ›imaginary‹ in this context,30 Eco points out that fiction invariably draws upon fact,31 and Gerrig terms such information that equally applies in the everyday world and in the world of fiction ›context-free assertions‹.32 Reality provides the building blocks not only for truth, but also for constructing the possible, the imaginary, that which might have been and bears some similarity to what was (›verisimilitude‹). It is thus per default the laws and assumptions of our everyday world that obtain even in the world of fiction, unless explicitly stated otherwise. Where Eco tells of the bookstore owned by Yambo, the readers will assume that this bookstore looks much like any other bookstore for second hand and rare books – unless the author makes it clear that we are dealing with a world departing from our own in this respect. We will expect characters to be consistent, and if an ordinary man like Yambo suddenly no longer recognizes his wife and his daughters _____________ 27 28 29 30 31 32
Gerrig refers to such information as ›context details‹ (Gerring: Worlds, p. 216). Wild: Literatur. For instance Charlton / Pette / Burbaum: Strategies; Pette: Psychologie. Iser: Das Fiktive. Eco: Walks. Gerrig: Worlds, p. 216.
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we will – rightly – assume that something momentous must have occurred to bring about behaviour that is so much ›out of character‹. In the same vein, if a work of fiction is placed in a real-world setting, as for instance parts of The Mysterious Flame of Queen Loana that are set in Milan, we will assume that the author did some research prior to writing, that the fiction will in relevant aspects conform to reality (that the cathedral, for instance, will in reality be situated in the same location as it is in the novel). The characters, settings, and events in a work of fiction thus do not usually correspond to characters, settings, and events in reality, and the reader is not supposed to ›go looking‹ for them. But some settings, characters, or events might have a referent in reality, and the reader would then be justified in assuming that central aspects of that character, setting, or events are portrayed in a truthful way; the reader can thus learn something factual from the work of fiction. But even if there is no immediate referent in reality, reference will usually be made to reality, be it in terms of similarity, exaggeration, or contrast. Exhausting the full potential of such a work of fiction would then mean to not merely enjoy the narrative for its own sake, or the language for its aesthetic quality, but to also infer something about reality. Just as, on the textual side, fact lies at the core of fiction, relating fiction to fact and to reality seems to be central to the reception of fictional works. These distinctions and interrelations between ›fact‹ and ›fiction‹ make reading a work of fiction ›correctly‹ a daunting task indeed. Especially if a reader is not familiar with the setting portrayed, how is she/he to know where it is ›safe‹ to take information at face value? It is therefore hardly surprising that, as recent research has shown, readers do indeed integrate information that they have drawn from fiction with real-world knowledge, sometimes mistakenly taking information at face value from which conclusions about reality were merely meant to be inferred on a more abstract level, if at all. In the following section, an overview of such research will be provided. 3. How Fiction Can Change the Way We Think: An Overview of Findings 3.1 Belief Change through Fiction: Empirical Evidence In the early days of conceptualizing the storage and remembering of information drawn from fiction, the assumption prevailed that this occurred in a neatly compartmentalized manner, with information from fictional sources being stored and remembered separately from factual, real-world
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type information.33 This compartmentalized approach to the storing of information from fictional sources also entailed assumptions concerning the processing of such information, neatly summarized in Samuel Taylor Coleridge’s phrase »suspension of disbelief«:34 when reading fiction, this implies, our default mode of processing would be to disregard the information contained therein as incorrect and irrelevant. In order to gain anything from the work of fiction, we therefore have to actively work against this tendency, for the time being acting as though it were true, even though in the back of our minds we remain aware of the fact that it isn’t – storing the information away as ›fiction‹. Recently, however, this assumption has been questioned, notably by Richard Gerrig and Deborah Prentice.35 Drawing upon theories about information processing from social and cognitive psychology, they assume that our default response to any information we encounter, whatever its source, is to accept it as correct. We will doubt information only, they argue, if we have reason to do so and if thinking about the issue at any length seems to be worth the cognitive effort. If we come across information embedded in a work of fiction, we know, on the one hand, that this information need not be correct and therefore have reason to doubt it. On the other hand, also because we know that fiction need not be true to reality, our motivation to think at any length about information from a fictional source might be low because we dismiss it from the start. Most likely, Gerrig and Prentice assume, our main concern with a fictional narrative will not be with the truth status of the information it contains, but with other aspects, such as the degree to which it succeeds in drawing us into the fictional world – an assumption that mirrors the distinction between the fact and the aesthetics conventions outlined above (see section 2). Gerrig and Prentice thus argue that we might paradoxically come to accept information from a fictional source as correct precisely because we know that it is unreliable and consequently do not subject it to closer scrutiny. A first seminal study designed to test the hypothesis that readers will change their beliefs as a consequence of reading fiction was carried out by Prentice, Gerrig, & Bailis.36 They created a story expressly for the purpose of the study which focused on the abduction of a university professor and a student that is later revealed as a hoax. Built into the story were eight statements that went counter to common everyday beliefs, such as ›Eating chocolate makes you lose weight‹ or ›Psychological disorders are conta_____________ 33 34 35 36
For an overview, see Gerrig: Worlds, ch. 6; Winterhoff-Spurk: Fernsehen. Coleridge: Biographia, p. 6. Gerrig: Worlds, ch. 6; Prentice / Gerrig: Boundary. Prentice / Gerrig / Bailis: Readers.
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gious‹. All statements were context-free assertions, i.e. they did not refer to details specific to the respective fictional world. These statements were embedded into the dialogue occurring between characters. More accurately, two versions of the story were constructed, containing altogether 16 key statements. Of these key statements, eight were in accordance with common knowledge (for short, these will also be referred to as ›plausible statements‹), and eight were not (for short, these will also be referred to as ›implausible statements‹). The two versions of the story were mirror versions of each other: the eight statements that would be correct in the first version would be changed into incorrect ones in the second version, and vice versa. The ›correct‹ mirror statement of ›Eating chocolate makes you lose weight‹ would for instance read ›Eating chocolate makes you gain weight‹. In the study by Prentice et al., participants read one version of the story each or they read a control story that was unrelated to the topics of the 16 key statements. Afterwards they were presented with 32 statements and asked to indicate the extent to which they agreed with these statements. Among these 32 statements, 16 corresponded to the key statements in the story, the remaining 16 statements were included for control purposes and unrelated to the topic of the narratives. In order to measure belief change, it was assessed to what extent participants who had previously read an incorrect statement embedded in a fictional narrative then agreed with this statement and to what extent participants agreed with the statement who had not previously read it. Belief change through fiction was assumed to have occurred to the extent that participants agreed with an incorrect statement more after they had read it in a fictional context than if they had not previously read it. This is also the design that was used, with minor variations, in subsequent research on the topic. As described above, Prentice et al. assumed that readers would be especially likely to accept information from a fictional source as correct because their motivation to critically read and process this information would be low. Strictly speaking, this assumption falls into two parts. The first part translates into the hypothesis that readers will actually be more likely to change their beliefs after reading a piece of information in a fictional than in a factual context. The second part refers to the type of processing that leads to a belief change. This translates to the hypothesis that, whatever the source, belief change will be greater if the reader does not think about the information in any detail. To test their hypothesis that belief change would be greater after reading a fictional than a factual narrative, Prentice et al. gave the participants in their research additional information about the texts they would be reading: in the ›fact condition‹ they were told that they would be reading a report by a journalist on recent events; in the ›fiction condition‹ they were told that they would be reading a fictional
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short story. For testing the second hypothesis concerning critical reading and processing independent of the source, Prentice et al. varied the participants’ familiarity with the story setting, assuming that if the story was set in familiar surroundings, the readers would be more strongly motivated to identify any incorrect information. As participants were recruited from two different universities, Princeton and Yale, this last variation was achieved by changing the name of the universities where the events in the story took place: in one version, it was Princeton, in the other version, it was Yale. The participants from Princeton were familiar with the setting of the story located in Princeton, but not familiar with the setting of the story located in Yale, for the Yale participants, the mirror situation obtained; in all other respects, the two versions of the story were identical. The hypothesis concerning critical processing was that there would be no belief change for participants reading a narrative set at their home university, regardless of the fictional or the factual character of the narrative. These hypotheses put forward by Prentice et al. could be fully confirmed. It was indeed the case that those participants who read the story as fiction agreed more with statements such as ›Eating chocolate makes you lose weight‹ than did readers who read the story as a factual report. Prentice et al. could also show that the students who read the story as set at their home university – who were supposed to read the story more critically – did indeed agree significantly less with statements embedded in the fictional text than those students who read the same text set at a different university. Belief change through fiction thus seemed to be limited to unfamiliar settings. The basic finding of this study by Prentice et al., namely that even information that is blatantly at odds with common sense can indeed lead to a belief change if it is read in the context of a fictional narrative, has since been confirmed in several studies.37 The results could be replicated with both the ›artificial‹, specially constructed narrative used by Prentice et al.38 and with natural, only slightly modified narratives.39 The results were also obtained for context-free statements that were not explicitly part of the narrative, but had to be inferred by the readers.40 Finally, the hypotheses could also be confirmed cross-culturally, for German as well as for USAmerican participants.41 _____________ 37 38 39 40 41
For an overview, see Green / Brock: Persuasiveness; Green / Garst / Brock: Power. See for instance Appel: Realität. See for instance Green / Brock: Transportation. For instance inferences concerning the belief in an essentially just or unjust world: Green / Brock: Transportation. Appel: Realität; Appel / Richter: Effects.
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In most of these studies, the focus was on belief change as a result of reading statements or reading about events that ran counter to common sense beliefs. Two studies also assessed readers’ reactions to statements that were in accordance with everyday knowledge,42 exploring whether the reading of such statements would also increase subsequent agreement compared to a control group. On average, this turned out not to be the case: participants who had previously read such assertions embedded into or implied by a fictional narrative did not agree with such assertions more than did participants who had read a different, unrelated text (for exceptions, see section 3.2 below). Fiction thus appears to induce readers to adopt beliefs that they had not previously held, but it does not cause readers to change beliefs to a more extreme position in the same direction if readers already hold these prior to reading. The large majority of these studies have also focused on assessing belief change immediately following the reception of the fictional text. Consequently one might wonder whether fictional narratives can indeed lead to an enduring change of beliefs, or whether the effects reported are only a transitory phenomenon: perhaps study participants are more inclined to agree with counter-intuitive statements immediately after reading, but once the narrative is no longer cognitively and emotionally present, these statements are forgotten and beliefs return to what they were before. This question of the duration of belief change through fiction was addressed by Appel and Richter:43 they presented participants with a slightly modified, German version of the texts used by Prentice and collaborators, or an unrelated control story. As in the study by Prentice et al., participants were asked to indicate their agreement with 16 statements immediately after reading, eight of which ran counter to everyday beliefs and had been embedded in the narrative. But in addition the participants were asked to return to the lab approximately two weeks after they had read the text and to again indicate their agreement with the same 16 statements. It turned out that the belief change had not only persisted, but actually increased during these two weeks; in other words, two weeks after reading the story, participants agreed even more with counter-intuitive statements such as ›Eating chocolate makes you lose weight‹. Belief change through fiction is thus by no means a transitory, but an enduring phenomenon which increases in strength over time (for potential reasons why this might be the case, see section 3.2 below). When participants are asked to indicate the extent to which they agree or disagree with a given statement, it is belief extremity that is being assessed. _____________ 42 43
For instance Appel / Richter: Effects; Schreier / Odag / Groeben: Roman. Appel / Richter: Effects.
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Another component of the belief system concerns the certainty of our beliefs.44 Belief extremity and belief certainty are not entirely unrelated: if a person agrees strongly that chocolate helps one lose weight, she will most likely also be quite certain that this is indeed the case. Nevertheless, these two components have been distinguished in empirical research in the past, and Appel and Richter explored the effects of reading fiction not only on belief extremity (as reported above), but also on belief certainty;45 in other words, after reading one of the three fictional texts used in the study, participants were asked to indicate not only the extent to which they agreed with each of the 16 statements presented, but also how certain they were that the statement was indeed correct or incorrect. It turned out that the reading of counter-intuitive statements embedded in a fictional text had no effect on belief certainty. Participants who had read in a fictional text that chocolate helps one lose weight were thus not any more certain that this was indeed the case than were participants who had not previously read any such statement. A different picture emerged, however, for statements that were in accordance with everyday beliefs: after they had encountered such plausible statements as part of a fictional text, participants expressed greater certainty that these statements were indeed correct than did participants who had not previously come across these statements embedded in a fictional narrative. Two weeks later, this certainty effect for plausible statements had disappeared. In summary, recent research has shown that when readers encounter improbable statements in a fictional text, be they explicitly expressed or merely implied, readers will more strongly endorse such statements, and their endorsement will even increase over a period of two weeks. If the information embedded in a fictional narrative is in accordance with everyday beliefs, readers’ agreement with such statements will not be affected. Readers will, however, be more certain that the information is indeed correct, at least immediately following the reading of the fictional narrative into which the statements have been embedded. Thus, fiction clearly has the power to affect our beliefs, be it by changing them in a new direction or by making us more secure in our previously held beliefs. 3.2 Belief Change through Fiction: How Does It Work? It was pointed out above that this interest in readers’ reactions to a fictional narrative is very much part of an empirical approach to the study of litera_____________ 44 45
Belief certainty: Krosnick / Petty: Attitude. Appel / Richter: Effects.
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ture that is in turn based on a functional concept of the literary, fictional text and on a conceptualization of the reader as actively and constructively processing the text. But at the same time this conceptualization of reading as an active, constructive process appears to be at odds with the results concerning belief change through fiction described above: if readers actively process what they read, bringing together story content and their own knowledge about the world, should they not be able to recognize information that is at odds with common sense and consequently reject and not adopt it? This raises the question of what exactly happens during the processing of information from fictional narratives. Prentice and Gerrig assume, in explicit contrast to Coleridge’s tenet of the »willing suspension of disbelief«, that human beings treat any information they come across as correct, unless they have reason to doubt it (see above).46 In this, Prentice and Gerrig draw upon so-called dual-process theories of persuasion.47 All theories of this type have in common the distinction between two modes of information processing, the first being systematic, elaborative, and indepth, the other non-systematic and superficial. In the systematic mode, information is subjected to scrutiny before it is accepted as correct or rejected as incorrect. This mode is adopted if the recipient of a message is either knowledgeable about the topic in question or highly motivated to question the information; usually, both topic-related knowledge and motivation are assumed to be present to some extent if information is processed critically. Concerning the second, non-systematic mode, theories differ concerning the exact cognitive processes: whether information is simply accepted as correct without any further processing taking place, whether it is processed, but according to misleading cognitive ›shortcuts‹ (so-called cognitive heuristics), or whether inappropriate and inadequate criteria are used to evaluate the information (such as the attractiveness of a communicator). In either case, information is accepted as correct due to insufficient processing. It is further assumed that this second mode obtains if the recipient of a message either does not know anything about the message topic or is not motivated to scrutinize the message further. It was also pointed out earlier that Prentice and Gerrig hypothesize that readers of fiction will usually not be sufficiently motivated to process information from a fictional source in any greater depth precisely because in our society truthfulness is not the major criterion for evaluating fiction (see section 2 above). _____________ 46 47
Prentice / Gerrig: Boundary. For an overview, see Chaiken / Trope: Theories.
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A somewhat different model of the processes underlying belief change through fiction has been proposed by Green and Brock:48 the transportation imagery model. Here it is not, as in dual process theories, the lack of cognitive processing per se that is considered decisive in bringing about belief change through fiction, but that particular state of mind of being drawn into and fully absorbed by a book. They call this state ›transportation‹, drawing upon a term introduced by Gerrig.49 Unlike the elaborative type of critical processing, transportation is assumed to constitute a convergent process by which readers become fully focused on the events transpiring in a narrative, even to the point of temporarily forgetting about the world around them. Green and Brock postulate that transportation affects belief change through fiction both directly and indirectly: in addition to directly increasing belief change, it is assumed to decrease the degree of critical cognitive processing and to increase the perceived realism of a narrative and the extent to which the reader identifies with the characters.50 The less critical processing and the higher the perceived realism and the degree of identification, the more belief change is assumed to occur. In order to measure transportation, Green and Brock developed a 15-item questionnaire that contained statements such as »While I was reading the narrative, I could easily picture the events in it taking place.«; participants are asked to indicate the extent to which they agree on a seven-point scale (ranging from very much to not at all).51 These two models are not mutually exclusive, to the extent that the reduction of critical processing that is at the centre of the first model is also, as an intervening process, part of model 2. Nevertheless, the models are based on somewhat different assumptions. In model 1 (cognitive elaboration model), belief change through fiction is supposed to occur due to a lack of critical, elaborative processing. In model 2 (transportation imagery model), it is assumed to primarily result from a strong sense of engagement with the text. According to the cognitive elaboration model, there should be belief change in the direction of ›incorrect‹ statements after reading such statements in a fictional, but not in a factual context – with fiction acting as a cue for processing with low elaborative scrutiny. Moreover, there should be belief change only if the fictional setting is unknown to the participants; if participants know the setting, the model would predict that they adopt an elaborative mode of processing and reject pertinent statements _____________ 48 49 50 51
Green / Brock: Mind’s Eye. Gerrig: Worlds, pp. 10f. Termed participatory reactions by Gerrig, see Prentice / Gerrig: Boundary, p. 543. Green / Brock: Transportation.
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as incorrect. Both assumptions were examined in the seminal study by Prentice, Gerrig and Bailis and could be confirmed (see section 3.1 above).52 Other research, however, has yielded less conclusive results. No differential effect of reading ›fiction‹ versus ›fact‹ upon belief change was found in research by Strange and Leung,53 involving a narrative about a teenager planning to drop out of high school, nor in research by Green and Brock,54 involving a ›natural‹ fiction story. The effect of familiarity on belief change obtained by Prentice and collaborators could not be replicated in a study by Wheeler, Green, & Brock – instead, all readers expressed opinions that were more in line with statements put forward in the story world than non-readers did, regardless of familiarity with the story setting.55 Evidence concerning the distinctive cues that lead readers to adopt a cognitively elaborative or non-elaborative mode of processing according to model 1 is thus inconclusive. The transportation-imagery model predicts first of all that degree of transportation should coincide with degree of belief change.56 Concerning mediating processes, the model further predicts a negative association between transportation and critical processing and a positive association between perceived realism and identification with the protagonists on the one hand and transportation on the other hand. Finally, it is assumed that more critical processing will lead to less belief change and that more perceived realism and greater extent of identification will result in more belief change. The central assumption in this model, i.e. the positive relationship between degree of transportation and extent of belief change, has repeatedly been confirmed.57 It is noteworthy, though, that the exact results differ somewhat, depending on the instrument that was used to assess transportation. The most clear-cut results were achieved using the transportation questionnaire developed by Green and Brock.58 An alternative instrument, differentiating between altogether 14 experiential states during reading, was developed by Appel, Koch, Schreier, and Groeben.59 Appel identified a positive relationship between transportation and belief change only for _____________ 52 53 54 55 56 57 58 59
Prentice / Gerrig / Bailis: Readers. Strange / Leung: Accounts. Green / Brock: Transportation. Wheeler / Green / Brock: Narratives, employing the same narrative as Prentice et al.; for further negative evidence, see also Green: Transportation. Green / Brock: Mind’s Eye. Appel / Richter: Effects; Green: Transportation; Green / Brock: Transportation; overview in Green / Brock: Persuasiveness. Green / Brock: Transportation. Appel / Koch / Schreier / Groeben: Aspekte.
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the specifically emotional aspects of transportation.60 Schreier and collaborators, using the same 14 scales instrument, again found a general positive relationship between transportation and belief change.61 But here belief change concerned not only the information provided in the fictional narratives, but extended to other statements that had not been part of the narratives and could not be inferred from them. This last result suggests that transportation might generate in readers a general predisposition to believe information that is encountered while in a state of transportation. The assumptions concerning mediating processes within the transportation imagery model could also largely be confirmed. Green and Brock showed that higher transportation does indeed result in less critical processing and goes along with increased identification with the story protagonists;62 moreover, increased transportation, as predicted, coincides with an increase in perceived reality.63 While the evidence thus supports the postulated relationship between transportation and the various mediating processes, the relationship between these processes and belief change is much less clear-cut. Higher perceived realism of a fictional narrative does not appear to be related to subsequent belief change.64 Critical processing appears to reduce belief change65 – a finding which is in line with both the transportation imagery model (2) and the reduced cognitive elaboration model (1). Degree of critical processing, however, should also vary with the extent to which a person is typically inclined to thoroughly consider and weigh information. This personality characteristic has been termed ›need for cognition‹ and can be measured by questionnaire.66 If critical processing is assessed at the personality level, it does not appear to be related to belief change.67 Appel, however, found a relationship between need for cognition and belief change in the direction of previously held beliefs:68 whereas in general belief-consistent information embedded in fiction did not appear to affect readers, readers high in need for cognition endorsed previously held beliefs even more strongly after having read pertinent information. Especially with respect to critical processing, the results concerning the relationship between supposedly mediating processes and subsequent belief change have thus been inconclusive. _____________ 60 61 62 63 64 65 66 67 68
Appel: Realität. Schreier / Odag / Groeben: Roman. Green / Brock: Mind’s Eye. Green: Transportation. Ibid. Green / Brock: Transportation. Cacioppo / Petty: Cognition. Appel: Realität; Green / Brock: Transportation, study 2. Appel: Realität.
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It has already been mentioned above that Appel and Richter did not only look at belief change immediately following the reading of a fictional narrative, but also at belief change after two weeks.69 At the same time, they used the degree of belief change over time to differentiate between the cognitive elaboration and the transportation imagery models of persuasion through fiction. According to the cognitive elaboration model, belief change is assumed to persist only if it is based on systematic processing and consequently on a restructuring of pertinent cognitions. Belief change based on non-systematic processing would be expected to deteriorate over a two-week period. But there are exceptions to this general rule: if a persuasive message remains vivid over time and the source-related information that caused the recipient to not process the message systematically is forgotten (such as: the information that the source is fictional), an absolute sleeper effect can occur.70 In this case, belief change would be expected to actually increase over time. Appel and Richter assume that the processing of information from fiction according to the transportation imagery model meets the conditions for an absolute sleeper effect. It has been shown that verbal and visual memory for information from a fictional source is stronger than memory for such information from a factual source; and it has also been demonstrated that source details concerning stories are forgotten after about one week.71 The transportation imagery model therefore predicts that because of the state of high transportation during reading memory for information from a fictional source will remain vivid over time. Accompanied with a loss of source memory, this vivid memory for fictional information should result in an absolute sleeper effect, i.e. an increase of belief change over time. The results of the study, showing an increase of belief change over time, have already been reported in the previous section. The research by Appel and Richter thus confirms the transportation imagery model: readers change their beliefs after reading fiction not because they fail to think in sufficient detail about what they read, but because they are so thoroughly absorbed in the story. Two models have thus been proposed to account for the phenomenon of belief change following the reading of fiction. According to the cognitive elaboration model, belief change occurs because readers consider the fictional nature of the narrative as a discounting cue and do not consider it worthwhile to process fictional information systematically. According to the transportation imagery model, on the other hand, belief change occurs primarily as a result of the extent to which readers are transported into the _____________ 69 70 71
Appel / Richter: Effects. Hovland / Lumsdaine / Sheffield: Mass Communication. Marsh / Meade / Roediger: Facts.
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story. Degree of transportation is supposed to decrease critical processing and to increase perceived realism of the narrative and readers’ identification with the story protagonists, and all three mediating processes are assumed to contribute to belief change. While evidence concerning these models has not been clear-cut, overall the results favour the transportation imagery model. Only the cognitive elaboration model predicts a difference in belief change as a result of the source being labelled ›fact‹ or ›fiction‹, with belief change expected to occur for a fictional source only. In the majority of studies, this prediction has not been confirmed. The hypothesis that familiarity with the story setting and events increases systematic processing of story-related information is also unique to the cognitive elaboration model, and this hypothesis has also not received sufficient empirical support. By contrast, predictions derived from the transportation imagery model could for the most part be confirmed. In particular, transportation (even if varying in kind) has repeatedly been shown to be related to belief change and to even result in an increase of belief change over time (absolute sleeper effect). What remains somewhat unclear on the basis of research conducted so far is the role of critical and elaborative processing which is in fact part of both models. 4. Outlook This research, although only in its beginning phase, demonstrates the importance of taking the reader into account when discussing issues of literariness and fictionality. Just as fiction builds upon fact, readers – who can be assumed to be perfectly aware of the general distinction between factual and fictional texts and the conventions governing their production and reception – make use of this factual information contained in the text, draw their conclusions, and integrate this information with other information about the world. Information taken from factual and from fictional sources is thus by no means neatly compartmentalized and differentiated, but fiction appears to be used as an important source of information about the world by its readers. While the possibility that fiction may affect our opinions has thus been clearly demonstrated, other aspects of the process of belief change through fiction remain much less clear. Taken together, findings so far suggest that transportation plays a key role in this. But how exactly transportation affects the process of belief change and how it interacts with critical processing, perceived reality, and other mediating factors remain open questions. It is also not clear which parts of readers’ belief systems are affected by reading fiction: readers appear to be persuaded not only by
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what they explicitly read as part of a fictional narrative, but also by what they infer from the story. Does this apply to all types of inferences alike, or to some more than others? Are readers, for instance, more inclined to believe what they infer about story protagonists than about other aspects of the story world? So far, research on belief change through fiction has operated with fairly short, usually suspenseful narratives that were presented to readers in a laboratory context; effects of the texts were assumed to be similar across readers, excepting cognitive-emotional processes such as transportation or degree of critical thinking about the text. But if one applies the functional concept of the text consistently to the question of belief change through fiction and conceptualizes reading and its effects as an interaction of textual and reader characteristics, these characteristics have to be taken into account more explicitly than has been the case in the past. What about different genres, for instance: are the effects on belief change the same across genres? Readers, in turn, come with varying knowledge of literary genres, narrative forms, and stylistic devices, with their distinctive likes and dislikes: how do these interact with textual characteristics in their effects on belief change? And what about readers’ own notions of fictionality and literariness – do effects on belief change vary with such individual notions? Prior research on this topic almost seems to suggest that fiction affects the readers’ beliefs in a quasi-automatic fashion. If one considers reading an active, constructive process, this is unlikely to be the case, and it is up to future research to show what the boundary conditions of belief change through fiction are. Bibliography Anderegg, Johannes: Das Fiktionale und das Ästhetische. In: Dieter Henrich / Wolfgang Iser (eds.): Funktionen des Fiktiven. Munich 1983, pp. 153-172. Appel, Markus / Erik Koch / Margrit Schreier / Norbert Groeben: Aspekte des Leseerlebens: Skalenentwicklung. In: Zeitschrift für Medienpsychologie 14 (2002), pp. 149-154. Appel, Markus: Realität durch Fiktionen: Rezeptionserleben, Medienkompetenz und Überzeugungsänderungen. Berlin 2005. Appel, Markus / Tobias Richter: Persuasive Effects of Fictional Narratives Increase over Time. In: Media Psychology 10 (2007), pp. 113-134. Barsch, Achim: Fiktion/Fiktionalität. In: Ansgar Nünning (ed.): Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart 1998, pp. 149-150. Brock, Timothy / Melanie C. Green: Persuasiveness of Narratives. In: T.B. / M.C.G. (eds.): Persuasion: Psychological Insights and Perspectives. 2nd rev. and enl. ed. Thousand Oaks 2005, pp. 117-142. Cacioppo, John / Richard Petty: The Need for Cognition. In: Journal of Personality and Social Psychology 42 (1982), pp. 116-131.
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SIMONE WINKO
Auf der Suche nach der Weltformel Literarizität und Poetizität in der neueren literaturtheoretischen Diskussion
Gibt es immanente Eigenschaften oder Funktionen von Texten, die sie zu literarischen machen? Gibt es textinterne Kriterien, nach denen sich literarische von nicht-literarischen Texten unterscheiden lassen? Die Frage nach dem alle literarischen Texte zusammenhaltenden Literarizitätskriterium gleicht der Suche nach der Weltformel: Gäbe es sie und wäre sie akzeptiert, dann wäre alles einfacher. Entsprechend hätte es auch die Literaturwissenschaft erheblich leichter mit der Bestimmung ihres Gegenstandes, ihrer Verfahren und letztlich auch mit ihrer Fachidentität, wenn sie auf distinkte und akzeptierte Literarizitätskriterien zurückgreifen könnte. Nach den Phasen des Suchens in den 1930er und 1970er Jahren werden Fragen wie die einleitenden heute aber in aller Regel verneint1 oder nur unter diversen Einschränkungen vorsichtig bejaht. Kein Kandidat für ein textinternes Literarizitätskriterium hat allgemeine Zustimmung erhalten, und selbst für minimalistische Lösungen ist ein disziplinärer Konsens ausgeblieben. Auffällig ist jedoch, dass die Skepsis gegenüber solchen Kriterien einer Intuition zu widersprechen scheint, die den Umgang der ›Normalleser‹ mit Literatur kennzeichnet, und auch in professionellen Kontexten ist die Unterscheidung immer dann unproblematisch, wenn keine Begründungen gefragt sind. So werden z.B. in literaturwissenschaftlichen Seminaren ungebrochen sichere Antworten auf die Frage gegeben, was Literatur auszeichne, etwa Literatur behandle Erfundenes und sei gut geschrieben.2 Die _____________ 1 2
Radikal z.B. Eagleton: Einführung, S. 12. An diesen Merkmalen orientieren sich auch einige Untersuchungen zur Bestimmung von Literatur, vgl. z.B. Brenners Kriterien der Fiktionalität und Schönheit, die er (neben dem der Vieldeutigkeit) aus der Untersuchung poetik- und ästhetiktheoretischer Diskussionen gewinnt; Brenner: Literatur, S. 14-25, auch S. 25-34.
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theoretisch schwierig oder auch gar nicht zu leistende klare Abgrenzung literarischer Texte von nicht-literarischen stellt im ›täglichen Umgang‹ mit diesen Texten offenbar kein Problem dar. Die Grenzen verlaufen erkennbar, und sie werden mit Bezug auf Textqualitäten begründet. Unter der leitenden Frage dieses Bandes nach den ›Grenzen der Literatur‹ liegt es nahe, die verschiedenen Antworten, die auf die Frage nach internen Bestimmungskriterien für Literatur gegeben worden sind, ebenso wie die Einwände gegen sie Revue passieren zu lassen und zu fragen, wie wir es heute damit halten. Die Antworten wurden bekanntlich in zwei Debatten formuliert, die – wie schon die Alltagsintuition zeigt – zwar verwandt sind, aber weitgehend eigenständig geführt wurden: in der Literarizitätsdebatte und der heute erheblich lebhafteren Fiktionalitätsdebatte. Ich werde mich im Folgenden auf die Debatte über die Merkmale der ›Literarizität‹ und ›Poetizität‹ konzentrieren – nicht etwa, weil das Problem der Fiktionalität als geklärt gelten kann (die Beiträge im vorliegenden Band zeigen dies aus unterschiedlichen Perspektiven), sondern weil diese Debatte heute seltener behandelt wird. In ihr geht es in erster Linie um die sprachlich manifesten Besonderheiten literarischer Texte;3 beteiligt sind neben der textorientierten Literaturwissenschaft die Linguistik und die empirische Leserforschung. Nach einleitenden Begriffsklärungen (1.) und einem knappen und keineswegs vollständigen Durchgang durch die verschiedenen Positionen seit den 1960er Jahren (2.) soll abschließend (3.) gefragt werden, für welche Aspekte des Problems Forschungsbedarf besteht und welche zu Recht ad acta gelegt worden sind. 1. Begriffsklärungen »Literarizität siehe Poetizität« heißt es im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.4 Die Tatsache, dass ›Literarizität‹ hier nur als Verweisstichwort vorkommt, zeigt bereits an, was im Artikel »Poetizität« auch belegt wird, nämlich die Synonymie von ›Literarizität‹ und ›Poetizität‹, die allerdings nur partiell ist.5 Es lassen sich mindestens drei Bedeutungen unterscheiden. So wird unter ›Literarizität‹ (1) eine besondere Art der Sprachverwendung verstanden, die Syntax bzw. Grammatik (Kohäsion), Semantik (Referenz) und Pragmatik (situativer Bezug) betrifft. Der Begriff wird hier auf den _____________ 3 4 5
Die Annahme, dass das Literarische gerade in einer über die Texte hinausgehenden ›transtextuellen‹ Eigenschaft liege, z.B. in einer besonderen Weise der Weltaneignung (vgl. Jahraus: Literaturtheorie, S. 116), wird im Folgenden nicht behandelt. Fricke u.a.: Reallexikon, S. 441. Van Peer: Poetizität. Da sie sich auf ›Literarizität‹ konzentriert, weicht meine Erläuterung von der van Peers ab.
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Sprachgebrauch bezogen und dient dazu, die spezifische ›Sprache der Literatur‹ von der Alltagssprache oder der Gebrauchssprache abzugrenzen.6 In dem umfassenden Sinne von (1) sind ›Literarizität‹ und ›Poetizität‹ austauschbar,7 so dass die Frage nach den sprachlichen Kandidaten für Literarizität auch als Frage nach den typisch poetischen Merkmalen des Sprechens gestellt werden kann. Daneben wird ›Literarizität‹ aber auch (2) auf Textsorten bezogen und bezeichnet dann die Eigenschaft von Texten, literarisch zu sein. Die Bedingungen, unter denen Texte literarisch sind, können solche sein, die unter (1) genannt werden, jedoch sagt die zweite Begriffsbestimmung selbst nichts über diese Bedingungen aus. Wird ›Literarizität‹ im Sinne von (2) verwendet, dann verweist ›poetisch‹ auf eine Untergruppe literarischer Texte, nämlich die traditionell ›poetisch‹ genannten Texte, in erster Linie also solche in gebundener Rede. Von gleicher Allgemeinheit wie (1) ist eine dritte Verwendungsweise der beiden Begriffe, die sich jedoch auf die soziale Praxis des Umgangs mit für literarisch gehaltenen Texten, vor allem auf ihre Rezeption und nicht auf ihre Beschaffenheit bezieht. So wird (3) mit ›Literarizität‹ und/oder ›Poetizität‹ ein bestimmter Modus der Verarbeitung von Texten bezeichnet. Nicht die Eigenschaften der Texte, sondern die Einstellung ihnen gegenüber und die Verarbeitung ihrer Informationen sind in diesem Sinne ›literarisch‹ oder ›poetisch‹.8 Ein mit (1) verwandtes Konzept stellt ›Ästhetizität‹ dar. In der Regel ist mit diesem Begriff eine allgemeinere, nicht allein auf Sprache bezogene Eigenschaft von Artefakten oder des Umgangs mit ihnen gemeint. Prager Strukturalisten wie Jan Mukařovský sprechen von der ästhetischen Funktion der Sprache, zielen mit dieser Bezeichnung aber (zumindest tendenziell) auf dasselbe Phänomen wie Jakobson mit dem geläufigeren Ausdruck ›poetische Funktion‹.9 Ein Problem der Bezeichnung ›Literarizität‹ (gleiches gilt für ›Poetizität‹) liegt darin, dass auch innerhalb einzelner Ansätze nicht immer klar zwischen (1) und (2) unterschieden werden kann. In Beiträgen, denen es um die textsortenbezogene Bestimmung des Attributs ›literarisch‹ geht, kann der Terminus auch im Sinne von (1) verwendet werden. Zugleich besteht aber ein hierarchischer und extensionaler Unterschied zwischen den beiden Bedeutungen. So stellt ›Literarizität‹ im Sinne von (2) einen übergeordneten Begriff dar, dem eine Teilmenge der ›fiktional‹ genannten Texte zuzuordnen ist und zugleich alle Texte, denen ›Literarizität‹ im Sinne von (1) attestiert wird. Dagegen besteht zwischen ›Literarizität‹ in der ersten _____________ 6 7 8 9
Saße: Literatursprache, S. 698, 705. Van Peer: Poetizität, S. 111. Ebd. Z.B. in Mukařovský: Ästhetische Funktion.
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Bedeutung und ›Fiktionalität‹ kein derartiges Zuordnungsverhältnis. Im Folgenden wird es in der Regel um ›Literarizität‹ und ›Poetizität‹ im Sinne von (1) gehen.10 2. Skizze der Positionen 2.1 Roman Jakobson Der Begriff ›Literarizität‹ erweitert das literaturtheoretische Vokabular bekanntlich seit dem Russischen Formalismus. Dessen »literaturnost’«, das ›spezifisch Literarische‹ oder die ›Literaturhaftigkeit‹,11 wird in ihrer technischer klingenden Variante ›Literarizität‹ zu einem wichtigen und zugleich umstrittenen Begriff auch der deutschsprachigen Diskussion der 1970er Jahre über die Reichweite linguistischer Poetik (Abschnitt 2.2). Mit ihrem Ziel, literarische Texte und nicht deren Entstehungsbedingungen in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Untersuchung zu stellen, setzen sich die Formalisten explizit von vorherrschenden Literaturauffassungen ihrer Zeit ab. Zahlreiche ihrer Arbeiten verfolgen die Frage, was denn das Spezifische von Literatur sei, und sie finden es in einer besonderen Art der Sprachverwendung. Auch wenn die einzelnen formalistischen Antworten etwa von Šklovskij, Ejchenbaum, dem frühen Jakobson und Tomaševskij voneinander abweichen, stimmen sie doch in ihrer Zielsetzung und in ihrer Ablehnung gängiger emotivistischer Bestimmungen des Literarischen überein.12 Es ist hier nicht der Ort, die unterschiedlichen Auffassungen von Literatur zu beleuchten, die die Formalisten und die wohl am direktesten an sie anschließenden Prager Strukturalisten vertreten haben.13 Für die nachfolgenden Auseinandersetzungen ist vielmehr wichtig, die be_____________ 10
11 12 13
Käte Hamburgers Suche nach »den logischen Gesetze[n] des dichtenden Sprachvorganges« (Hamburger: Logik, S. 14) ist vom Ziel her, spezifische Merkmale für Literatur herauszuarbeiten, den im Folgenden einbezogenen Beiträgen zur Literarizitätsdebatte vergleichbar. Anders als Jakobson entwickelt sie ihren Ansatz aber primär in der Analyse von Erzähl- und nicht von Lyriktexten, und für sie ist die referentielle Sprachfunktion wichtiger als die poetische. Auch sie sucht nach textuellen Merkmalen, die Literatur als solche kennzeichnen, und findet sie bekanntlich im epischen Präteritum, in der erlebten Rede und Verben innerer Vorgänge in der dritten Person, verbunden mit besonderen Zeitangaben (ebd., S. 60ff.). Hamburgers Versuch einer Bestimmung von Dichtung bezieht sich jedoch auf die Fiktionalität literarischer Texte und soll daher hier nicht behandelt werden. Dazu Erlich: Russischer Formalismus, S. 190f.; auch Striedter: Russischer Formalismus, S. XIX. Vgl. Erlich: Russischer Formalismus, S. 201ff. Dazu ausführlicher ebd., Kap. X.
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kannteste und wissenschaftsgeschichtlich folgenreichste Auffassung zu betrachten, also einmal mehr die Position Roman Jakobsons, die er 1960 in seinem Aufsatz »Linguistics and Poetics« formuliert hat und die noch heute zitiert wird. Anders als in seinem Beitrag zur »neuesten russischen Poesie«, in dem Jakobson ›Literarizität‹ (als diejenige Eigenschaft, die »das vorliegende Werk zum literarischen Werk macht«)14 als Ausrichtung einer Äußerung auf den Ausdruck bei gleichzeitiger Reduktion der kommunikativen Funktion bestimmt, verwendet er in seinem Beitrag von 1960 den Begriff ›Poetizität‹. Jakobson versteht unter der poetischen Funktion der Sprache »die Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen«.15 Sie ermöglicht »die unmittelbare Erfahrbarkeit der Zeichen« (108). Mit dieser Funktion bewirken die Texte das, was als ihre genuine Leistung angesehen wird und was sie zu besonders wertvollen Kulturprodukten macht: die viel diskutierte Entautomatisierung der Wahrnehmung. Dichtung hebt die Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem ins Bewusstsein. Damit wirkt sie der unreflektierten Gleichsetzung beider entgegen, die, so Jakobson, die Verwendung der Alltagssprache kennzeichnet und die letztlich zur ›Verflüchtigung‹ der Realitätswahrnehmung führt.16 Bekanntlich begrenzt Jakobson die poetische Funktion der Sprache nicht nur auf die Dichtung, sondern bestimmt sie als eine der sechs Funktionen, die Sprache generell aufweist. In literarischen Texten herrscht die poetische Funktion aber vor und ›dominiert‹ die anderen (108). Das »empirische linguistische Kriterium«, mit dem Jakobson die poetische Funktion abgrenzt, bringt er in Begriffen der »Grundordnungsarten« sprachlichen Verhaltens auf die berühmte Formel: »Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.« (110) Jedes Element eines poetischen Textes steht in einer Äquivalenzbeziehung zu Elementen gleichen Typs. Das gilt nicht nur für phonetische, morphologische oder syntaktische Einheiten, wie Jakobson vor allem am Beispiel von Versen ausführlich zeigt (110ff.), sondern auch für semantische Einheiten (124). Zu den poetischen Stilmitteln zählen insbesondere solche des Parallelismus, der Wiederholung in verschiedensten Variationen: der Silbengradation, der Paronomasie (z.B. »I like Ike«), der Alliteration, der Assonanz, des Reimes u.a. (124). Äquivalenzen auf solchen ›niedrigerstufigen‹ Ebenen der Sprache bedingen aber, so Jakobson mit _____________ 14 15 16
Jakobson: Poesie, S. 31. Jakobson: Linguistik, S. 108. Die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diesen Beitrag. Dazu Erlich: Russischer Formalismus, S. 200.
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G. M. Hopkins, auch Äquivalenzen auf der Bedeutungsebene.17 Übereinstimmung wird auf jeder Ebene poetischer Texte angezielt: »Similarität, die Kontiguität überlagert, verleiht der Dichtung ihre durchgehende symbolische, vielfältige, polysemantische Essenz« (126). Mehrdeutigkeit, später ›Doppeldeutigkeit‹ genannt, wird so zum notwendigen Merkmal von Texten mit dominanter poetischer Funktion, also von Literatur. Sie resultiert aus der Nachordnung der referentiellen Sprachfunktion. Doppeldeutig ist aber nicht nur die Nachricht, also der Text selbst, sondern sind auch Sender und Empfänger auf der innerliterarischen und der realen Kommunikationsebene (126f.). Dass diese letzte Konstellation nur für eine Gruppe literarischer Texte, nämlich für fiktionale Texte gilt, thematisiert Jakobson nicht. Damit sind die – deutlich heterogenen und unterschiedlich abstrakten – sprachlichen Merkmale benannt, die in den späteren Diskussionen als Literarizitätskandidaten, behandelt werden: - Abweichung, Verfremdung (mit der Wirkung der Entautomatisierung) - Äquivalenz/Rekurrenz - poetische Sprachfunktion: Bezug auf die Nachricht/Zeichen als solche; Selbstreferenz - Mehrdeutigkeit - Dominanz der poetischen Sprachfunktion - Konvergenz von Form/Ausdruck und Inhalt Auffällig ist zum einen, dass einige dieser Kandidaten traditionellen Teilbestimmungen des ›Literarischen‹ entsprechen, die in älteren Poetiken bzw. Ästhetiken formuliert worden sind, so etwa das Postulat von der Übereinstimmung von Form und Inhalt. Zum anderen zeigt ein Blick auf die Literaturbegriffe neuerer Literaturtheorien, dass manche dieser Merkmale des ›spezifisch Literarischen‹ noch immer Konjunktur haben, wenn auch in anderen Begründungszusammenhängen. Am erfolgreichsten sind die Merkmale der Mehrdeutigkeit bzw. Polyvalenz18 und der Selbstreferenz,19 die mit recht unterschiedlichen Theorierahmen kompatibel zu sein scheinen. Dazu im Abschnitt 2.3 mehr. Darüber hinaus fällt auf, dass Jakobson in seinen Ausführungen zwei Perspektiven einnimmt: die Sicht auf das Sprachmaterial (Was unterscheidet literarische Texte materialiter von nicht-literarischen?) und auf dessen _____________ 17
18 19
»Äquivalenz auf der Lautebene, die als konstitutives Prinzip auf die Wortfolge projiziert wird, impliziert unausweichlich auch semantische Äquivalenz« (Jakobson: Linguistik, S. 124). Zur Darstellung und Kritik der Projektionsthese Jakobsons vgl. Lauten: Kommunikation, S. 60-67. Jannidis: Polyvalenz. Sie bildet das wichtigste ›Merkmal‹ für poststrukturalistische und systemtheoretische Ansätze.
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Funktionen (Was bewirken diese Texte bzw. Textstrukturen, welchen ›Effekt‹ haben sie?). Diese Funktionen umfassen wiederum zwei unterschiedliche Bezugsbereiche: eine ›innertextuelle‹ Leistung des Sprachmaterials, manifest in einer besonderen Art des Bedeutens, und eine außertextuelle Leistung im Sinne einer Wirkung auf den Leser: die oben genannte Entautomatisierung. Schon früh ist erkannt worden, dass hier mit dem Text- und dem Leserbezug zwei Aspekte thematisiert werden, die nicht nur systematisch unterschieden werden müssen, sondern deren Verhältnis zueinander auch alles andere als klar ist. Sie entsprechen weitgehend den oben erläuterten Bedeutungen (1) und (3) von ›Literarizität‹. Beide werden in der anschließenden Literarizitätsdebatte aufgenommen. 2.2 Positionen der 1970er Jahre: Jakobson-Kritik und Polarisierung Vor allem drei der Poetizitätskandidaten, die Jakobson anführt, wurden in den folgenden Jahren demontiert oder in ihrem Anspruch geschwächt. Das Abweichungskriterium wird in Form der Annahme linguistischer Poetiken kritisiert, Poetizität sei im Verstoß gegen das System sprachlicher Regeln fassbar. Eingewandt wird, dass mit Bezug allein auf das Sprachmaterial nicht eindeutig zwischen zufälligen und als funktionstragend eingestuften poetischen Abweichungen unterschieden werden könne.20 Zahlreiche Beiträge nehmen sich das Merkmal der Äquivalenz bzw. Rekurrenz von der graphematischen bis zur semantischen Ebene vor und sehen vor allem drei Probleme. Repräsentativ für den ersten Vorwurf ist Paul Werths minutiöse Kritik an Jakobsons Ansatz, vor allem aber an seiner Umsetzung in den Lyrikanalysen: Die von Jakobson aufgezeigten Äquivalenzstrukturen seien, so Werth, keineswegs charakteristisch für literarisches Sprechen, sondern für Sprache generell, und taugen daher nicht als Abgrenzungskriterium.21 Darüber hinaus wird bereits die Identifizierbarkeit der Äquivalenzen bestritten. Roland Posner weist Jakobsons Annahme, dass sich semantische Textmerkmale ›neutral‹ beschreiben lassen, zurück, eine Annahme, auf die eine Identifikation von Äquivalenzen zurückgreifen muss. Tatsächlich könne man, so Posner, »die Semantik nur adäquat beschreiben, wenn man von einem Text ausgeht, der bereits voll rezipiert und verstanden worden ist«.22 Zentral ist, drittens, ein operationales Problem der Analysen: Es gibt keine allgemeingültigen, textunabhängig festlegbaren Kriterien, die regeln, welche _____________ 20 21 22
Dazu zusammenfassend Begemann: Poetizität, S. 13ff. Werth: Poetry, zusammenfassend S. 72. Posner: Strukturalismus, S. 171. Dies entspricht auch der Position der Rezeptionsästhetiker.
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Äquivalenzen in einer Analyse als relevant herauszustellen sind und welche nicht einbezogen zu werden brauchen. Dies entspricht Cullers Einwand gegen Jakobsons exemplarische Untersuchungen an Gedichten, in denen man auch ganz andere Strukturen hervorheben könne und in denen Culler Jakobsons subjektive Vorlieben die Auswahl steuern sieht.23 Auch wenn Jakobson in einer Replik versichert, er habe sich stets um Objektivität bemüht und nur die grammatischen Kategorien herangezogen, deren Relevanz unbestreitbar sei,24 kann er diesen Einwand nicht widerlegen. Wie in der Forschung immer wieder hervorgehoben wurde,25 zeigt die Debatte die theorieabhängige Relativität von Relevanzkriterien. Allerdings ist Jakobsons Hinweis, dass die gegen ihn ins Feld geführten möglichen Äquivalenzverteilungen in Gedichten, von denen er nur eine kleine Anzahl untersucht habe, faktisch gar nicht vorkommen, nicht allein als Rechtfertigungsstrategie einzustufen. Er belegt zugleich, dass die ›grundsätzlichen‹ Argumente und die Belege historisch Forschender nicht auf derselben Ebene ausgetauscht werden, sondern vielmehr aneinander vorbeigehen. Die gegen Jakobsons Ansatz gewendeten prinzipiellen Argumente haben, bei aller Berechtigung, die Tendenz, historisch-empirischen Forschungen zur tatsächlichen Beschaffenheit von Texten, die als ›literarisch‹ eingestuft werden, den wissenschaftlichen Boden zu entziehen. Diese Tendenz war folgenreich: Heute fehlen solche Studien tatsächlich, worauf abschließend noch einzugehen sein wird. Nicht in Frage gestellt werden meines Wissens die These von der Mehrdeutigkeit als notwendiges Merkmal literarischer Texte26 sowie die Annahme, es gebe so etwas wie eine poetische Sprachfunktion, deren Charakteristikum es ist, die Aufmerksamkeit auf die Nachricht oder die Zeichen als solche zu lenken.27 Was aber problematisiert wird, ist die These von der Dominanz dieser Sprachfunktion in literarischen Texten. Hier richtet sich die Kritik wieder auf die fehlende Operationalisierbarkeit: Es lässt sich kein sprachliches oder textuelles Kriterium dafür angegeben, wie diese Dominanz festzustellen ist und wie sie sich auf das sprachliche Material eines Textes auswirkt. Die Konzeption eines ›literarischen‹ bzw. ›poetischen Effekts‹, der aus der Dominanz der poetischen Sprachfunktion _____________ 23 24 25 26
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Culler: Structuralist Poetics, S. 57-63. Jakobson / Pomorska: Poesie, S. 106ff. Z.B. bei Begemann: Poetizität, S. 16ff. Dazu auch Nyholm: Sprache. Nyholm bestimmt Poetizität als »Weglassung, Reduktion oder auch Relativierung der zeitlich/räumlichen Orientierungssignale nicht nur im Text, sondern auch in der Redesituation« (ebd., S. 173) und stellt damit die Bedeutungsoffenheit in den Mittelpunkt seines Poetizitätskonzepts. Die Annahme der poetischen Konvergenz von Form und Inhalt wird in den entsprechenden Diskussionen kaum thematisiert.
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resultiert, wird als zu weitreichend aufgefasst, um allein auf linguistischer Basis modelliert werden zu können. Tatsächlich, so z.B. Werth, seien neben statistischen Aussagen über sprachliche Normen und Abweichungen von ihnen zwei weitere Typen von Informationen erforderlich, um überhaupt sinnvoller Weise von einem »literary effect« sprechen zu können: psychologische Informationen über die Reaktion von Lesern auf Textmerkmale und semantische Informationen über den thematischen und implizierten Inhalt des Textes.28 Zusammenfassend lassen sich zwei Gruppen von Einwänden unterscheiden: (i) Alle als ›spezifisch literarisch‹ angeführten sprachlichen Mittel bzw. Funktionen kommen in dieser Form auch in der Alltagssprache vor;29 um als distinktive Kriterien dienen zu können, müssten sie sich differenzieren lassen. Zugleich weist offenbar nicht jeder als literarisch eingestufte Text die genannten Merkmale auf; es fehlen also weitere distinktive Kriterien.30 (ii) Die Instanz des Lesers wird vernachlässigt; welche Rolle die angeführten Poetizitätsmerkmale für die Konstitution von Bedeutung im aktuellen Leseprozess spielen, bleibt unthematisiert. Diese Polarisierung der Kritik führt zur Ausbildung zweier Typen von Poetizitätsauffassungen, wie sich am Beispiel der entsprechenden Debatte in der Zeitschrift Poetica (1978 und 1980) zeigen lässt. Hier werden die beiden oben angedeuteten Richtungen weiterentwickelt, die Roland Posner schon 1969 gegeneinander abgrenzt und abgewogen hatte: der text- bzw. strukturbasierte und der rezeptionsorientierte Ansatz.31 Ausgangspunkt ist ein umfangreicher Beitrag von Walter A. Koch.32 In ihm entwickelt er die Grundideen eines neuen Modells der Poetizität, die er 1981 in einer Monographie noch präzisiert und weiter ausführt. Er legt damit den meines Wissens umfassendsten Versuch vor, Poetizität im Rahmen eines semiotisch-linguistischen Modells zu bestimmen, das über _____________ 28 29 30
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32
Werth: Poetry, S. 72. Dazu z.B. schon Kloepfer: Poetik, S. 13f. u.ö. Zusammenfassend z.B. Hoffstaedter: Poetizität, S. 43. – Entsprechend weist Harald Fricke in seinem abweichungstheoretischen Vorschlag zur Bestimmung von Literatur den Funktionen, die sich für die sprachlichen Besonderheiten literarischer Texte (fassbar als sprachliche Regelverstöße) nachweisen lassen, einen entscheidenden Stellenwert zu. Zugleich ist jedoch für ihn »die Existenz von Poetischem« ein notwendiges Textmerkmal, genauer: das einzige notwendige, Intersubjektivität der Zuschreibung ermöglichende Textmerkmal für Poesie, das sie von anderen Arten des Sprechens klar abgrenzt (Fricke: Norm, S. 103). Posner skizziert die Vor- und Nachteile beider Ansätze in seiner Auseinandersetzung mit Jakobsons und Lévi-Strauss’ strukturbasierter Baudelaire-Interpretation und Riffaterres rezeptionsbezogener Gegeninterpretation; vgl. Posner: Strukturalismus, zusammenfassend Kap. VIII. Koch: Poetizität zwischen Metaphysik und Metasprache.
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die Reduktionismen der meisten linguistischen Ansätze hinausgehen will und sogar eine evolutionsbiologische Verankerung seiner Kategorien zumindest andeutet.33 Für Koch beruht Poetizität »auf Texteigenschaften, die explizit von der Metaphysik oder der Metasprache behandelt werden«.34 Er nimmt drei »poetische Codes« an – Ästhetik, Metaphysik und Metasprache –, die sich in literarischen Texten in poetischen Oberflächenphänomenen manifestieren.35 Der metaphysische Code äußert sich in bestimmten informationellen Strukturen eines Textes, während der metasprachliche sich in stilistischen Eigenschaften konkretisiert und dem ästhetischen Code metrische Phänomene korrespondieren. Ohne auf Kochs komplexes dreistufiges Modell hier näher eingehen zu können, sei eine wichtige Erweiterung gegenüber dem Jakobsonschen Ansatz hervorgehoben: Es kommt ein zusätzlicher, nun inhaltlich bestimmter Poetizitätskandidat ins Spiel, die »poetische Information«.36 Damit wird dem offensichtlich zutreffenden Einwand begegnet, dass bestimmte als literarisch eingestufte Texte weder metrische noch stilistische Besonderheiten aufweisen. In Texten finden sich, so Koch, solche informationellen Strukturen in Form »konkretmetaphysischer Themen«, die z.B. Annahmen über die Verfasstheit des Universums oder die Bedingungen des Menschen als denkendes, fühlendes oder soziales Wesen betreffen.37 Auch sie werden in syntagmatischen Strukturen organisiert, die aber linguistisch nicht erfassbar sind. Diese inhaltliche Größe nehmen spätere empirische Untersuchungen wieder auf. Gegen dieses Modell, das Jakobsons Ansatz vor allem um semantische Poetizitätskriterien erweitert, grundsätzlich aber an einer »morphologischen« Bestimmung von Literatur festhält, wenden sich zwei Beiträge, die den »funktionalen« Aspekt von Poetizität stärker machen:38 Hans Ulrich Gumbrecht, der mit Foucault für eine »science de l’homme« und die Berücksichtigung variabler Erkenntnisinteressen zur Bestimmung von Poetizität argumentiert,39 und Siegfried J. Schmidt mit einem Plädoyer für ein konsequent leserorientiertes Poetizitätskonzept,40 das er später in seinem Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft (1980/1982) genauer ausführt. Beide Positionen führen dazu, die Frage nach der Literarizität allein in ei_____________ 33 34 35 36 37 38 39 40
Koch: Poetizität, S. XIIf., 91ff. Ebd., S. 27f. Ebd., S. 37-54. Ebd., S. 55. Koch nimmt an, dass diesen »konkret metaphysischen« Inhalten übergeordnete »abstrakt metaphysische« Modelle etwa Hegels oder Freuds entsprechen; ebd., S. 38, 50-53, 58ff. Zum nur vermeintlichen Gegensatz zwischen einer morphologischen und einer funktionalen Bestimmung von ›Poetizität‹ vgl. Koch: Morphologie. Gumbrecht: Poetizitätsdefinitionen. Schmidt: Theorie.
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nem institutionellen, konventionalistischen Rahmen für sinnvoll gestellt und beantwortbar zu halten.41 Damit sind gewissermaßen die Siegerpositionen benannt; denn als Konsens der Diskussionen in den 1970er Jahren ergibt sich, dass literarisches Sprechen nicht eindeutig von nicht-literarischem Sprechen unterschieden werden kann. Alle als potentielle Kandidaten für Literarizität in der oben erläuterten Bedeutung (1) ins Spiel gebrachten Merkmale kommen auch in alltagssprachlichen Kontexten vor, und nicht jeder ›literarisch‹ genannte Text weist solche sprachlichen Merkmale auf. Als Konsequenz aus diesem Befund wurde der Versuch, auch nur notwendige sprachliche Kriterien für Poetizität zu finden, als gescheitert angesehen und von den meisten Theoretikern aufgegeben.42 Die nachfolgenden Versuche, das ›spezifisch Literarische‹ festzumachen, schlugen in aller Regel einen der beiden eben angedeuteten Wege ein. 2.3 Positionen der 1980er Jahre In den 1980er Jahren gestalten sich diese Wege zumeist als poststrukturalistische Verlagerung des Problems auf die Ebene der Sprache generell und als empirische Konzentration auf die Leserkomponente. Poststrukturalistische Theoretiker treffen sich mit anderen Vertretern anti-essentialistischer Positionen in der Annahme, dass die Suche nach Kriterien im Sinne von Wesensmerkmalen des Literarischen als verfehlt einzustufen sei.43 Generell gehen sie davon aus, dass sich keine Eigenschaften in Texten auffinden lassen; vielmehr handle es sich bei solchen vermeintlichen Eigenschaften stets um prinzipiell variable, mithin nicht-notwendige Zuschreibungen, die auf Konventionen beruhen. Ausführlich wird die These in den verschiedenen Spielarten dieser Richtung bekanntlich für Bedeutungszuschreibungen entfaltet.44 Ausgehend von grundlegenden Annahmen über die Funktionsweise der Sprache und ihrer Zeichen wird Bedeutungsgenese als Akt der permanenten Aufschiebung konzipiert. Weniger prob_____________ 41
42 43 44
Holenstein setzt den Positionen vor allem Gumbrechts und Schmidts das Plädoyer für eine ästhetische Bestimmung des Literarischen entgegen, für die er allerdings nur die theoretischen Rahmenbedingungen formuliert; Holenstein: Schönheit, S. 502-507. Mit der Frage ›Was ist schön?‹ statt ›Was ist poetisch?‹ ließe sich, so Holenstein, ein neuer Gegenstandsbezug herstellen, der in den pragmatischen Ansätzen nicht mehr gegeben sei. Der Ansatz wurde in der weiteren literaturtheoretischen Debatte über Literarizität meines Wissens nicht weitergeführt. Was nicht heißt, dass außerhalb dieser Debatten nicht dennoch weiter so gesprochen wurde, als gäbe es klare Unterscheidungsmöglichkeiten, die in den Texten lägen. Z.B. Fohrmann / Müller: Einleitung, S. 16. Z.B. Foucault: Ordnung, S. 31f.; Derrida: Différance, S. 88ff.
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lematisch als die Zuschreibung notwendiger Merkmale des Literarischen scheint dabei die Annahme universaler Bedingungen für Sprache und Schreiben zu sein. Sprache zeichne sich demnach durch Eigenschaften aus, die traditionellerweise als ›literarisch‹ bzw. für den besonderen Sprachgebrauch in literarischen Texten typisch angesehen wurden, vor allem durch Selbstbezüglichkeit, Rhetorizität und Polyvalenz. Damit wird die These, es gebe eine spezifisch literarische Qualität, zugunsten der Annahme fallengelassen, ein traditionell der Literatur zugeschriebenes Merkmal der Sprachverwendung sei wesentlich für Sprache generell. Demnach besteht also kein Unterschied zwischen der Sprache literarischer und der nicht-literarischer Texte. Dennoch wird zwischen beiden Texttypen unterschieden, und dies geschieht nicht immer im Sinne »historisch variierende[r] Zurechnungskonvention[en]«.45 So scheinen amerikanische Dekonstruktivisten wie Paul de Man eine Variante des Kriteriums ›Selbstbezüglichkeit‹ als neues, mindestens notwendiges Kriterium für Literatur aufzufassen, eine Kombination von rhetorischer Verfasstheit und inhärenter Stellungnahme zu ihr: »Ein literarischer Text behauptet und verneint zugleich die Autorität seiner eigenen rhetorischen Form […].«46 In der Annahme einer solchen Bewegung, die dazu führt, dass »literarische Sprache ständig ihre eigene Bedeutung unterminiert«, sieht Eagleton – provokanterweise und m.E. zu Recht – eine neue, dekonstruktivistisch begründete Wesensdefinition des Literarischen.47 Sie basiert auf der oben genannten Annahme essentieller Eigenschaften in der Definition von Sprache generell. Literarische Texte werden dann als solche bestimmt, in denen diese Eigenschaften der Sprache nicht oder weniger stark durch diskursive Vorgaben reglementiert werden.48 Die Zwänge, denen Sprache in nicht-literarischen Zusammenhängen unterworfen ist, sind nach dieser Auffassung in der Literatur aufgehoben. Selbstreferentialität als ›Normalfall‹ der Sprache etwa wird in wissenschaftlichen und Alltagsdiskursen vermieden, in Literatur aber zugelassen; die rhetorische Verfasstheit von Sprache wird erst im literarischen Sprechen bewusst. Für die Literarizitätsdebatte haben diese Positionen zwei gegenläufige Konsequenzen. Einerseits unterstützen sie die Auffassung, dass die Suche _____________ 45 46
47 48
Fohrmann / Müller: Einleitung, S. 16. De Man: Allegorien, S. 48. Ähnliches scheint auch die Behauptung auszusagen, dass »wir jeden Text ›literarisch‹ im vollen Sinne des Wortes nennen [können], der implizit oder explizit seinen eigenen rhetorischen Modus bezeichnet und seine mögliche Fehldeutung als Korrelat seines rhetorischen Charakters, seiner ›Rhetorizität‹, vorwegnimmt« (de Man: Ideologie, S. 221). Eagleton: Einführung, S. 131. Zu dieser ›befreienden‹ Verwendung von Sprache in Literatur vgl. auch Foucault: Sprechen, S. 93, 101f.
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nach überzeitlichen Merkmalen literarischen Sprechens obsolet sei: Sprache in literarischen und in nicht-literarischen Texten funktioniert nach genau denselben Prinzipien. Anders ausgedrückt wird ›Literarizität‹ in der Bedeutung (1) zum Merkmal von Sprache überhaupt. Jeder Text kann nach dieser Auffassung als Literatur wahrgenommen werden, je nachdem, mit welcher Einstellung und unter welchen situativen Vorgaben er gelesen werde.49 Andererseits wird die Unterscheidung zwischen literarischer und nicht-literarischer Sprechweise aber aufrecht erhalten und zugleich mit einer Wertung verbunden: Literarische Texte sind solche, in denen – vereinfacht gesagt – Sprache zeigen darf, was sie eigentlich ist; es sind damit die wertvolleren Texte. Diese Eigenart der Literatur (nun im Sinne von ›Literarizität‹ (2)) entspricht der formalistischen Bestimmung des Literarischen in zwei zumindest gleich benannten Aspekten: Selbstbezüglichkeit und Mehrdeutigkeit.50 In empirischen Untersuchungen der 1980er Jahre wird die Forderung nach einer konsequent leser- bzw. rezeptionsorientierten Konzeption von Literatur umgesetzt und die Komponente des Lesers systematisch erforscht. Im Anschluss an eine allgemeine Texttheorie auf der Grundlage kognitionspsychologisch ausgerichteter Forschungen zum Textverstehen51 wird Verstehen als eine konstruktive Tätigkeit konzipiert. Auf der erkenntnistheoretischen Basis eines kognitiven Konstruktivismus und ausgehend von der Einsicht in das Scheitern der textbasierten Literarizitätsbestimmungen wird Literarizität bzw. Poetizität nun als Eigenschaft nicht mehr der Texte, sondern der Verarbeitungsprozesse gesehen, die mit diesen Texten vollzogen werden.52 In den empirischen Untersuchungen dieser Richtung werden die sprachlichen Merkmale der Texte als ein Faktor unter anderen aufgefasst, der den literarischen Modus induzieren kann. Von ausschlaggebender Bedeutung für die Verarbeitung eines Textes als ›literarisch‹ sind aber die individuellen, situativen und konventionellen Umstände der Rezeption.53 _____________ 49 50
51 52 53
Eagleton: Einführung, S. 12; Fish: Text. Systemtheoretische Ansätze greifen – mit unterschiedlichen Begründungen und Begriffsbestimmungen – eines dieser Merkmale als spezifisch literarisch auf: die Selbstreferenz, auch ›Autoreferenz‹, ›Autoreflexivität‹ oder ›Selbstreflexivität‹ genannt; vgl. z.B. Jahraus: Literaturtheorie, S. 155 u.ö. Der Begriff kann sogar in ungebrochener Anknüpfung an Jakobsons Konzept der poetischen Funktion verwendet werden; so etwa Simon: Blick, S. 77f. u.ö. So z.B. van Dijk / Kintsch: Model; van Dijk / Kintsch: Strategies. So fasst Meutsch »sogenannte Literarizitätsmerkmale als Resultate spezifischer Verstehensprozesse« auf (Meutsch: Literatur, S. 160). Zusammenfassend vgl. auch Begemann: Poetizität, S. 49-69. Repräsentativ ist hier Meutschs Position: Als »ursächliche Größe für literarisches Textverständnis genügt die differenzierte Konstitution des Verstehenskontextes, die
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Bei der Beschreibung der Texte, die neben den Lesern einen Faktor der Versuchsanordnungen bilden, wird auf das Arsenal textorientierter Poetizitätskonzepte zurückgegriffen. Petra Hoffstaedter etwa untersucht die Texte, deren Verarbeitung sie in verschiedenen Versuchen erhebt, zunächst nach formalen Merkmalen, nach ihren Äquivalenzen, Abweichungen (vor allem semantischer Art) und Mehrdeutigkeiten. Darüber hinaus nutzt sie auch das inhaltliche Kriterium, um das Koch sein Modell ergänzt hatte, und weist bestimmte Inhalte, vor allem Beschreibungen von Natur und emotionalen Zuständen, als potentiell literarisch aus.54 Die poetische Textverarbeitung folgt, wie erwartet, nicht zwingend aus dem Vorkommen dieser Eigenschaften, sondern wird vielmehr durch andere Faktoren bedingt. Hierzu zählen vor allem die Leserdisposition und eine Reihe von Konventionen, die die Einstellung der Leser lenken, etwa paratextuelle Informationen. Auch in anschließenden Studien wird versucht, dieses Zusammenspiel von Text-, Kontext- und Leserfaktoren zu erhellen.55 In diesen Versuchen kann die Funktion von Textmerkmalen unterschiedlich weitreichend konzipiert werden: vom bloßen Auslöser eines poetischen Verarbeitungsmodus,56 vor allem bei Vertretern einer radikalkonstruktivistischen Erkenntnistheorie,57 bis hin zu einem bedingenden Faktor unter mehreren.58 In den empirischen Studien zur poetischen Textverarbeitung wird das Konzept der Literarizität allein in der Bedeutung (3) aufgefasst; für die stets zumindest rudimentär erforderliche Analyse der Texte greifen sie aber auf Merkmale zurück, die in der Tradition der Literarizitätskonzepte im Sinne von (1) erarbeitet worden sind. Diesen kommt selbstverständlich nicht mehr der Status notwendiger Kriterien zu, vielmehr haben sie heuristischen Wert. 2.4 Positionen der 1990er Jahre Bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Ziele und Verfahren stimmen die dargestellten poststrukturalistischen und empirischen Ansätze doch in der Annahme überein, Literarizität sei keine in Texten nachweisbare Eigenschaft. Poststrukturalistisch orientierte Literaturwissenschaftler begründen ihre Annahme in der Regel mit Bezug auf ihre Zeichentheorie und auf situativ _____________
54 55 56 57 58
allerdings als obligatorische Konstituente implizit eine Verstehenszielfestlegung enthält« (Meutsch: Literatur, S. 157). Hoffstaedter: Poetizität, S. 75-84, 243ff. Umfassend z.B. Begemann: Poetizität, Kap. IV. Zwaan: Aspects, z.B. S. 31f. Z.B. Alfes: Literatur. Hanauer: Poetry, S. 115f.
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bzw. institutionell vorgegebene Konventionen, die den Umgang mit Literatur regeln;59 Verfasser kognitionswissenschaftlicher Untersuchungen konzentrierten sich auf Mechanismen des Textverstehens generell und bewerten die Beschaffenheit der Texte, die Basis des Verstehensprozesses, als nicht entscheidend für die poetische Verarbeitung. Beide Arten des Ausblendens textueller ›literariness‹ werden in neueren empirischen Arbeiten als reduktiv kritisiert. So haben David S. Miall und Don Kuiken mehrere empirische Studien vorgelegt, deren Befunde für die Annahme von Literarizität als Eigenschaft bestimmter Texte sprechen. Diese Eigenschaft ist gerade nicht auf die Größen reduzierbar, mit denen die beiden genannten Erklärungsversuche arbeiten.60 Miall und Kuiken schlagen ein Drei-Komponenten-Modell vor, das die spezifische sprachliche Beschaffenheit von Texten mit berücksichtigt und ihr einen wichtigen Stellenwert einräumt. Als diese drei Komponenten gelten »foregrounded stylistic or narrative features, readers’ defamiliarizing responses to them, and the consequent modification of personal meanings«.61 Erst im Zusammenspiel dieser drei Faktoren entsteht Literarizität: Briefly, literariness is constituted when stylistic or narrative variations defamiliarize conventionally understood referents and prompt reinterpretive transformations of a conventional feeling or concept.62
Damit ist zugleich gesagt, dass die Verarbeitungsprozesse im Lesen von Literatur eben nicht allein durch institutionelle Konventionen ausgelöst, sondern durch sprachliche Eigenschaften der Texte mitbestimmt werden.63 Ebenso wie der besondere Verarbeitungsmodus und der Effekt der Modifikation von Konzepten oder Gefühlen werden die stilistischen und narrativen Merkmale der Texte als notwendige, wenn auch nicht als hinreichende Bedingungen für Literarizität aufgefasst.64 Mit dieser Annahme wenden sich die Autoren gegen die Thesen, literarisches Lesen und Verstehen sei ein Prozess, der sich unabhängig von Textmerkmalen vollzieht, und argumentieren zugleich gegen eine Verwendung des Ausdrucks ›Literarizität‹ ausschließlich in der Bedeutung (3) eines reinen Verarbeitungsmodus. Den _____________ 59 60 61 62 63 64
Repräsentativ ist hier immer noch Stanley Fishs vielzitierter Beitrag; vgl. Fish: Text. So z.B. Miall / Kuiken: Literariness, S. 121f.; auch Miall: Empirical Approaches, S. 291f., 307f. Miall / Kuiken: Literariness, S. 121. Ebd., S. 123. Vgl. auch Miall / Kuiken: Form. So schon in Miall / Kuiken: Text Theory, S. 339f. und S. 342, wo gegen die texttheoretische Annahme einer propositionalen ›Normalisierung‹ stilistischer Besonderheiten in der Verarbeitung literarischer Texte argumentiert wird. Die Studien von David Hanauer belegen die Relevanz formaler Textmerkmale für die Klassifikation von Texten als ›literarisch‹ bzw. ›poetisch‹; vgl. Hanauer: Judgements, S. 198f.
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spektakulären Gegenbeispielen der ›found poems‹ – also der Texte aus dezidiert nicht-literarischen Zusammenhängen, die von Versuchspersonen in bestimmten Rezeptionssituationen als literarisch eingestuft werden – messen sie eine erheblich geringere Aussagekraft zu, als dies in früheren empirisch ausgerichteten Ansätzen der Fall war: Es sind Ausnahmen, aus denen sich keine prinzipiellen Aussagen über die Relevanz von Textfaktoren ableiten lassen und in denen zudem nicht alle der für eine literarische Verarbeitung in ihrem Sinne erforderlichen Bedingungen erfüllt sind.65 Von einer textorientierten Position her kommend, legt Gérard Genette 1991 einen ebenfalls integrativen Vorschlag zur Bestimmung von Literarizität vor: In seinem ›Mischmodell‹ einer essentialistisch-konstitutiven und konditionalistischen Poetik66 knüpft er an Jakobson an und stärkt zugleich die Rolle des Lesers bei der Konstituierung von Literarizität. Genette fasst »Fiktion« und »Diktion« als die beiden »Modi« der Literarizität auf, die gemeinsam »den Text als autonomen Gegenstand« konstituieren,67 wenn auch auf unterschiedliche Weise. Fiktionale Texte zählen wegen des thematischen Kriteriums – sie entwerfen eine fiktive Welt – immer zur Literatur und sind der konstitutiven Grundform der Literarizität zuzurechnen.68 Im Falle ›diktionaler‹ Texte sind es deren formale Qualitäten und ihre Wirkung auf die Leser, in denen Genette das »rhematische« Kriterium der Literarizität sieht.69 Literatur als Diktion teilt Genette, wenn auch nicht trennscharf, in die beiden Modi »Poesie« und »nicht-fiktionale Prosa« ein, und nur den ersten Modus zählt er zur konstitutiven, den zweiten dagegen zur konditionalen literarischen Grundform. Im diktionalen Modus sind also beide Grundformen der Literarizität repräsentiert. In Genettes Entwurf geht es in erster Linie um die Bestimmung von ›Literarizität‹ in der Bedeutung von (2), und der »Diktion« genannte Modus in seiner konstitutiven Variante der Poesie scheint mir mit dem Bereich zusammenzufallen, dessen notwendige sprachliche Merkmale Jakobson und andere Literarizitätstheoretiker postuliert und untersucht haben.70 Genettes »Poesie« wäre dann – zumindest grob – Literarizität (1) in der _____________ 65 66
67 68 69 70
Nach Miall / Kuiken: Literariness, S. 125, sind solche Beispiele »suggestive but marginal, offering an insufficient basis on which to found a theory of literary reading«. Dagegen z.B. Begemann: Poetizität, S. 51. Genette: Fiktion; Essentialisten nehmen an, dass Texte inhärente, objektive und universale Gründe für die Zuschreibung von Literarizität enthalten; Konditionalisten dagegen behaupten, dass Literarizität unter bestimmten Bedingungen zugeschrieben werden kann, die nicht in den Texten selbst liegen (ebd., S. 14f.). Ebd., S. 37. Ebd., S. 34. Genettes klassifikatorische Probleme mit nicht-literarischen fiktionalen Texten lasse ich hier beiseite. Ebd., S. 33f. Dazu auch ebd., S. 25 und, mit explizitem Bezug auf Jakobson, S. 24.
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Bedeutung einer besonderen Sprachverwendung zuzuschreiben. Diesen Zugriff sieht Genette aber als unzureichend an und erweitert ihn einerseits um den genannten fiktionalen Modus und andererseits um die Kriterien der konditionalistischen Poetiken. Allerdings basieren diese auf dem Prinzip des Geschmacksurteils, das Literarizität unterschiedlich bestimmt und dem individuellen oder kollektiven Subjektbezug der Literarizitätszuschreibung breiteren Raum bietet.71 Fraglich ist jedoch, wie diese unterschiedlichen Bestimmungsmomente zusammenhängen. Genette bleibt hier einige Begründungen schuldig, legitimiert seine Mischkalkulation aber mit dem Hinweis auf die ›Natur der Sache‹: Die Literarität ist ein plurales Faktum, und darum verlangt sie eine pluralistische Theorie, die die verschiedenen Arten der Sprache berücksichtigt, der praktischen Funktion zu entkommen, sie zu überleben und Texte hervorzubringen, die als ästhetische Objekte rezipiert und bewertet werden können.72
Offen bleibt zum Beispiel, wie sich fiktionaler und diktionaler Modus zueinander verhalten und welches die notwendigen Merkmale der ›Poesie‹ genannten diktionalen Texte sind. Dass Genette nicht allein auf die Leser baut, sondern auch im konditionalen Modus Texteigenschaften wirken sieht, machen seine Ausführungen zum Stil deutlich: In Texten, die weder fiktional noch poetisch sind, wird der Stil zum ausschlaggebenden Moment für die Zuschreibung von Literarizität, dies allerdings nach der jeweiligen Einschätzung der Leser.73 3. Konsequenzen Der knappe Überblick über wichtige Positionen, die in der Literarizitätsdiskussion der letzten gut dreißig Jahre vertreten worden sind, hat gezeigt, dass die Suche nach Bestimmungskriterien für Literatur kaum noch allein auf Literarizität im Sinne von (1), also auf eine besondere Art der Sprachverwendung zielt. Die oben gesichteten Positionen beziehen sich zwar – mehr oder minder konkret und in unterschiedlicher Vollständigkeit – auf einen Katalog von Textmerkmalen, der im Großen und Ganzen dem Jakobsonschen entspricht: Als ›literarisch‹ oder doch ›potentiell literarisch‹ werden Oberflächenphänomene der Texte wie Rekurrenzen graphematischer, phonologischer, morphologischer und syntaktischer Art aufgefasst, Äquivalenzen, dazu semantische Abweichungen, Mehrdeutigkeit und gegebenenfalls bestimmte Inhalte. Die Funktionen, die diesen besonderen _____________ 71 72 73
Ebd., S. 27. Ebd., S. 31. Ebd., S. 148.
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sprachlichen Merkmalen für die Bestimmung von ›Literatur‹ jeweils zukommen, weichen jedoch voneinander ab. Als gescheitert kann der Versuch angesehen werden, die textinternen Kriterien als notwendige und hinreichende Bedingungen für Literatur zu postulieren: Es ist nicht der Fall, dass jeder Text, der diese Merkmale aufweist, zur Literatur zählt und dass alle der Literatur zugerechneten Texte diese Merkmale aufweisen. Gegenbeispiele gibt es aber auch schon für jede der beiden schwächeren Annahmen. So werden z.B. Werbetexte im Lyrikformat als Einwand gegen die Annahme angeführt, die genannten Textmerkmale seien hinreichende Bedingungen für Literarizität; und notwendige Bedingungen können sie aus dem Grunde nicht sein, weil es Texte gibt, die als literarisch klassifiziert werden, sprachlich aber in keiner Weise von nicht-literarischen abweichen. Unproblematisch dagegen ist es, eine schwächere Beziehung zwischen den sprachlichen Besonderheiten und der Bestimmung von ›Literatur‹ anzunehmen: Die besondere Sprachverwendung bildet ein häufiges Merkmal von Literatur, d.h. Texte, die als literarisch eingestuft werden, weisen oft die genannten Merkmale auf. Diese Auffassung ist nicht umstritten, bleibt allerdings auch weit hinter den Leistungen zurück, die man sich im Zuge des Verwissenschaftlichungsschubes von dem Konzept ›Literarizität‹ (1) erhofft hatte. Der Durchgang durch die Forschungsdebatte hat jedoch auch gezeigt, dass die Suche nach vereinheitlichenden Modellen nach wie vor attraktiv ist und die neueren Modelle komplexer sind – wie das bei einer ›Weltformel‹ ja auch der Fall sein muss.74 Sie zielen auf ›Literarizität‹ im Sinne von (2) und stützen sich dabei nicht allein auf sprachliche und den Texten inhärente Merkmale. Noch relativ nahe am älteren Ideal einer textbasierten Bestimmung ist Genette, auch wenn er mit dem konditionalen Modus berücksichtigt, dass die Leser den Texten Literarizität zuschreiben und dies möglicherweise variabel tun. So kann er auch die Texte einbeziehen, deren Zuordnung zur Literatur diachron schwankend ist. Unklar bleibt in seinem Ansatz aber, wie gesagt, unter anderem das Verhältnis von Fiktionalität und Poetizität. Das von Miall und Kuiken vorgeschlagene Drei-Komponenten-Modell ist ebenfalls komplexer angelegt, da es hier um das Zusammenwirken von textuellen Bedingungen (hervorgehobenen stilistischen und narrativen Mustern) und Rezeptionsfaktoren auf der Leserseite (Wirkung und Effekt) geht: Die Texte müssen bestimmte sprachliche Merkmale aufweisen, um einen bestimmten Rezeptionsmodus nahezulegen und eine bestimmte Reaktion hervorzubringen. Die These von der Interaktion zwischen den drei Komponenten scheint das Phänomen am differenziertesten beschreiben zu können und sollte daher weiter verfolgt werden, sinn_____________ 74
(07.03.08).
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vollerweise unter Einbeziehung abweichungstheoretischer Beschreibungen ›poetischer‹ Sprachverwendung.75 Beide Befunde aus der Übersicht lassen sich zusammenführen und zu einem Forschungsprogramm verbinden: die Notwendigkeit, das Zusammenwirken textueller und rezeptionsbestimmender Faktoren genauer zu untersuchen, und die unter definitorischem Aspekt zunächst wenig ergiebig scheinende quantitative Aussage, dass Texte, die als literarisch eingestuft werden, ›oft‹ den genannten Katalog sprachlicher Merkmale aufweisen. Um das Phänomen der Literarizität genauer erfassen zu können, ist zum einen die Zusammenarbeit von rezeptions- und textorientierter Literaturwissenschaft zu verstärken76 und sind die jeweiligen Aufgabenfelder klar zu benennen. Die erste der drei Komponenten im skizzierten Modell, die sprachlichen Faktoren, zählt zum genuinen Forschungsbereich einer textorientierten Literaturwissenschaft, deren Akzent in der Regel auf der Erforschung textueller Strukturen und Strategien sowie auf den Wirkungspotentialen dieser textuellen Merkmale liegt. Allerdings weiß die Wissenschaft von der Literatur über die materiale Beschaffenheit ihres Gegenstandes in diesem engeren Sinne noch viel zu wenig, und so erhält die quantitative Bestimmung ein Potential, das bislang nur ansatzweise genutzt worden ist: Auf der Grundlage gezielter Forschungen ließe sie sich erheblich präzisieren und von einer eher pauschalen Behauptung in eine differenzierte, die historischen und gattungsgeschichtlichen Varietäten benennende Aussage umwandeln. Erhoben wurden die meisten der Merkmale, die als Literarizitätskandidaten gehandelt wurden und werden, bekanntlich in der Untersuchung von Lyriktexten. Dies geschah aber noch nicht auf der Basis großer Korpora, und es geschah unter der Maßgabe eines engen Literaturbegriffs. Die Basis ist also denkbar schmal und muss in Zeiten eines allenthalben postulierten erweiterten Literaturbegriffs breiter angelegt werden. Wie in Abschnitt 2.2 angesprochen, haben jedoch die berechtigten Demontagen einzelner Literarizitätskandidaten dazu geführt, dass genaue Analysen tatsächlicher Oberflächenmerkmale literarischer Texte, wie die Formalisten und Strukturalisten sie vorgenommen haben, in den Folgejahren ausblieben. Als Effekt dieser Interessenverlagerung kann zwar überzeugend gegen die generalisierenden Thesen z.B. Jakobsons argumentiert werden, es fehlen aber Informationen über die Häufigkeit und Verteilung syntaktischer Äquivalenzen in der deutschsprachigen romantischen Lyrik, um ein beliebiges Beispiel zu wählen. Es fehlen also Untersuchungen, die belegen, _____________ 75 76
Vgl. dazu Fricke: Norm, Kap. 2. Differenzierte Untersuchungen der Textkomponente, die zugleich die Faktoren ›Leser‹ und ›Kontext‹ im Blick haben, werden z.B. im Rahmen der ›Cognitive Poetics‹ vorgenommen; vgl. Stockwell: Cognitive Poetics, S. 2, 4ff. u.ö.; vgl. auch Tsur: Aspects.
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welche textuellen Merkmale sich tatsächlich in einer jeweils zu bestimmenden großen Gruppe als ›literarisch‹ klassifizierter Texte häufig finden und wie sie sich über die Epochen der deutschsprachigen Literatur verteilen. Solche korpusgestützten empirischen Untersuchungen zur sprachlichen und formalen Beschaffenheit der Texte, die als ›literarisch‹ eingestuft werden, sollten in Zusammenarbeit von Sprach- und Literaturwissenschaft vorgenommen werden und computerphilologische Möglichkeiten nutzen. Damit lassen sich keine notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Literatur finden, jedoch genauere Kenntnisse über quantitative Verteilungen und ihre qualitativen Funktionen in als ›literarisch‹ eingestuften Texten zu verschiedenen Zeiten gewinnen. In entsprechend angelegten Analysen großer Korpora wären, ähnlich wie in empirischen Autorschaftsanalysen,77 hochliterarische Texte, Unterhaltungs- und Schemaliteratur zusammen mit nicht-fiktionalen Texten wie Tagebüchern und Autobiographien epochenund gattungsübergreifend nach gemeinsamen Mustern und Unterschieden zu untersuchen. Ein korpusgestütztes Forschungsprogramm, das das Wissen über die tatsächliche sprachliche Beschaffenheit von als ›literarisch‹ klassifizierten Texten differenzieren und vertiefen kann, nimmt sich gegenüber den traditionellen Versuchen einer Definition des Literarischen eher bescheiden aus, und es liefert zudem Argumente, die auf einer anderen Ebene anzusiedeln sind: Aus Hinweisen auf eine gegebenenfalls abweichende Empirie, die ihrerseits an kontingente und historisch variable Zuschreibungen gebunden ist, lassen sich beispielsweise keine sinnvollen Einwände gegen eine klassifikatorische Begriffsbestimmung gewinnen. Jedoch scheint es im Fall des historisch variablen Phänomens ›Literatur‹ gerade angebracht zu sein, die unterschiedlichen Bestimmungen des Literaturbegriffs seit der Antike zu beachten und das Konzept prototypisch zu fassen. In einer prototypischen Bestimmung von ›Literatur‹ haben Hinweise auf empirisch nachweisbare Eigenschaften der zugeordneten Texte einen höheren Stellenwert und dienen dazu, als nicht-distinktive Merkmale die Prototypen zu beschreiben. Wird dieses Forschungsprogramm umgesetzt, könnte auch die Suche nach der Weltformel vielleicht noch zu einem erfolgreichen Ende kommen.
_____________ 77
Vgl. dazu Martindale: Texts.
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Auf der Suche nach der Weltformel
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IV. Soziale und institutionelle Aspekte des Phänomens ›Literatur‹
GERHARD LAUER
Einleitung
Im ersten Paragraphen seines posthum erschienenen Hauptwerkes Wirtschaft und Gesellschaft formuliert Max Weber die Aufgabenstellung der verstehenden Soziologie als einer Wissenschaft, »welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insoweit als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist«.1 Was Max Weber hier für das von ihm mitbegründete Fach der Soziologie formuliert, gilt auch darüber hinaus für das methodische Tun und die Wertungen eines Faches wie der Literaturwissenschaft. Auch in ihrem Feld wird Literatur als eine Form des menschlichen Verhaltens aufgefasst, das mit einem subjektiven Sinn verbunden ist, und dieser Sinn wird wiederum als ein solcher verstanden, der auf das Verhalten anderer bezogen ist und erst damit sinnhaft wird. Als 1991 Louis Begleys Wartime Lies die verstörend-unglaubliche Geschichte eines Holocaust-Überlebenden erzählte,2 gewann das Buch die Aufmerksamkeit durch die ihm vorausgehende gesellschaftliche Debatte um die angemessene Erinnerung an die Massenvernichtung der Juden im II. Weltkrieg. Spezifischer war die Aufmerksamkeit für dieses Buch durch die Konventionen gelenkt, die sich in diesem Gedenken Anfang der 1990er Jahre herausgebildet hatten. Sie waren axiologische Voraussetzung dafür, dass ein solches Buch auch privilegierter Gegenstand der Literaturwissenschaft werden kann. Seinen Sinn in dieser Bestimmung Webers auch für die Literaturwissenschaft hat das Buch also erst durch seinen Bezug auf die Gesellschaft. Das gilt auch für _____________ 1 2
Weber: Wirtschaft, S. 1. Begley: Wartime.
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Gerhard Lauer
die Art und Weise, wie es geschrieben ist, und ebenso dafür, wie es gelesen und wie es im Fach bewertet wurde. Literatur ist sinnhaft, weil sie soziales Verhalten ist. Die Grenzen der Literatur sind damit immer auch soziale. Das sieht man immer dann besonders deutlich, wenn ein Text, der als literarisch klassifiziert und hoch bewertet, aus dem Gegenstandsfeld Literatur wieder ausgeschlossen wird, so geschehen mit Binjamin Wilkomirskis Bruchstücke. Erinnerungen an eine Kindheit 1939-1948 aus dem Jahr 1995. Schien dieser Text höchste Wertungen im Fach wie darüber hinaus gerade deshalb zu genießen, weil er ästhetisch positiv bewertete Schreibweisen des Fragmentarischen nutzt, um ein zugleich zentrales Thema gesamtgesellschaftlicher Moral aufzuarbeiten, gilt er seit dem Bekanntwerden, dass sein Autor sich das alles nur ausgedacht und eingebildet hat, was er als seine eigene Kindheit ausgegeben hat, als Lüge und sein Autor als »Betrüger«.3 Derselbe Text ist auf einmal nicht einmal mehr zu kaufen; sein Sinn ist ein ganz anderer. Aus dem Buchmarkt ist er verschwunden und aus dem Fach getilgt. Literaturwissenschaftliche Aufsätze wurden noch schnell umgeschrieben, denn derselbe Text hatte nun einen anderen Sinn, eben weil auch Literatur ihre Sinnhaftigkeit jeweils in Bezug auf das Verhalten anderer gewinnt. Von solchen sozialen Regulierungen des Literaturbegriffs handeln die folgenden Beiträge. Das Fach Literaturwissenschaft unterscheidet meist zwischen einer Soziologie der Literatur, deren methodischer Zugang zum gesellschaftlichen Phänomen ›Literatur‹ vor allem genuin soziologische Methoden nutzt, um die Produktion, Distribution und die Rezeption von Literatur zu untersuchen, und einer Literatursoziologie, die mit eher literaturwissenschaftlichen Methoden entweder soziale Thematiken in der Literatur beschreibt oder die sozialen Voraussetzungen der Literatur aufzuzeigen versucht. Die einfache Unterteilung in die eher textexternen und textinternen Zugänge verliert freilich an Distinktionskraft, wenn das Gegenstandsfeld des Faches so weit geöffnet wird, dass Literatur nur eine Art und Weise von Texten neben anderen meint, die sich kaum mehr von anderen zu unterscheiden scheinen. Tatsächlich, so argumentiert Liesbeth Korthals Altes, löst sich der Begriff der Literatur deshalb aber nicht auf. Gerade dort, wo etwa in poststrukturalistischen Ansätzen auf den ersten Blick der Literaturbegriff aufgelöst zu sein scheint, zeigt sich ein emphatischer Begriff von Literatur, der alle sie umgebenden Diskurse zu integriert behauptet. Je weiter die Literatur im Fortgang ihrer Entwicklung Wirklichkeiten der modernen Welt aufnimmt, wie besonders an der Entwicklung des modernen Romans zu studieren ist, je stärker andere Medien die Literatur deprivilegieren, desto _____________ 3
So etwa auf der Wikipedia-Site (15.04.2009); zur Übersicht vgl. Mächler: Fall.
Einleitung: Soziale und institutionelle Aspekte des Phänomens ›Literatur‹
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emphatischer betonen die literaturwissenschaftlichen Ansätze die erkenntniskritische Funktion der Literatur. Die Schwächung des bildungsbürgerlichen Begriffs der Literatur schlägt, so Korthals Altes, in eine erneuerte Disziplinarität der Literaturwissenschaft als eine Medienkulturwissenschaft um. Nur fehlt dieser erneuerten Fachbestimmung eine historische und systematische Untersuchung der wechselnden Funktionen von Literatur. Tatsächlich untersucht das Fach ja immer noch weitgehend dieselben Texte, wiederholt dieselben ästhetischen Konventionen im Umgang mit Literatur und geht nur selten dazu über, auch andere Bücher in einer stärker funktionalen Perspektive zu untersuchen. Wer welche Art von Büchern schreibt, vertreibt, bewertet und liest und das in Beziehung auf wen – das alles ist noch selten Gegenstand des Faches. Elisabeth Stuck zeigt in ihrer empirischen Untersuchung zur Akzeptanz von Aussagen, Entscheidungen, Verfahren und Handlungen der deutschsprachigen Literaturwissenschaft auf, wie sehr das Fach den Text als Objekt über jedes Interesse am Leser stellt und empirischen Befragungen generell eher ablehnend gegenüber steht. Sich selbst zum sozialwissenschaftlichen Gegenstand zu machen und Literaturwissenschaft als Institution zu begreifen, die mit darüber entscheidet, was als Literatur Sinn gewinnt, wird eher nicht akzeptiert. Seit dem Ende der vor allem neomarxistisch inspirierten gesellschaftswissenschaftlichen Literaturtheorien wird kaum noch gefragt, wen es kümmert, wer liest. Jost Schneider ist da die Ausnahme und hat mit seinem Buch Sozialgeschichte des Lesens4 den liegen gebliebenen Forschungsansatz wieder aufgenommen, dass Literatur ihren Sinn in Abhängigkeit von sozialen Schichtungen erlangt. Seine Unterscheidung in die Literatur in der Kompensationskultur der Unterschichten, in die der Unterhaltungskultur der Mittelschichten, derjenigen in der gelehrten Kultur der Bildungseliten und in der Repräsentationskultur der Machteliten macht gerade in ihrer zunächst betont kruden Typologie deutlich, wie unterschiedlich Literatur ist, vor allem aber, wie viel noch zu tun ist, wenn Literaturwissenschaft doch mehr als ein im Kern geistesgeschichtliches Unternehmen sein will, das motivgeschichtlich untersucht, was die Literatur zu diesem und jenem Feld gesellschaftlicher Aufmerksamkeit zu sagen hat. Gerade weil sich in den sich demokratisierenden Gesellschaften soziale Rollen schneller ändern und sich damit Funktionen von Literatur unübersichtlich wandeln, wären Methoden notwendig, die große Korpora von Texten und statistisch signifikante Gruppengrößen für eine systematische Untersuchung der Funktion von Literatur für diese Leser nutzen würden. Eine solche Methodik, die auch Mischungen und Neukombinationen von Funktionen erfassen könnte, fehlt aber dem Fach weitgehend, gerade weil es an dem emphati_____________ 4
Schneider: Sozialgeschichte.
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Gerhard Lauer
schen Begriff von Literatur mehr oder minder festhält. Els Andringa führt anhand ihres Projektes zur Rezeption der ausländischen Literatur in den Niederlanden vor, wie ein Korpus von mehr als 60.000 Rezensionen und Essays über gelesene Autoren in den Niederlanden eine solche Forschung ermöglichen könnte. Sichtbar werden in ihrer Forschung Subsysteme mit unterschiedlichen Aktanten, die über unterschiedliche Literaturkenntnisse verfügen, andere Wertungen vornehmen und Vergleiche unternehmen und verschiedenen Strategien und Konventionen im Umgang mit Literatur folgen. Wie sich etwa der Abstand in der Bewertung der ausländischen Literatur gegenüber der inländischen ändert, ob diese Literaturen gegeneinander gesetzt werden oder eher getrennt abgehandelt werden, kann so überhaupt erst verstanden werden. Eine solche Forschung stellt aber immer noch die Ausnahme im Fach dar. Sollte das Fach Literaturwissenschaft ernsthaft nach dem sozialen Sinn der Handlung Literatur (wieder) fragen, statt ihn implizit vorauszusetzen, und Funktionen und Institutionen, die an der Grenzziehung der Literatur beteiligt sind, als Teil der Bestimmung von Literatur untersuchen, wird weder das Einzelwerk, noch die kleine Gruppe enthusiastischer Leser Gegenstand des Faches sein können, sondern vielleicht eine Million Bücher. Um sie methodisch überhaupt in den Griff zu bekommen, braucht es freilich ganz andere Verfahren, von denen wir gegenwärtig erst Umrisse formulieren können.5 Bibliographie Begley, Louis: Wartime Lies. New York 1991. Clement, Tanya / Sara Steger / John Unsworth / Kirsten Uszkalo: How Not to Read a Million Books, (15.04.2009). Mächler, Stefan: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie. Zürich, München 2000. Schneider, Jost: Sozialgeschichte des Lesens. Berlin, New York 2004. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie [posthum 1922]. Hg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 1980.
_____________ 5
Vgl. Clement / Steger / Unsworth / Uszkalo: Million Books.
LIESBETH KORTHALS ALTES
The End of Literature as a Basis for a Renewed Disciplinarity
The end of literature is at hand. […] Literature, in spite of its approaching end, […] will survive all historical and technological changes. [It] is a feature of any human culture at any time and place. These two contradictory premises must govern all serious reflection ›on literature‹ these days.1
Few will disagree with the observation that literary studies have witnessed an explosion of their object, their theories and methods. After the autonomistic approaches of literature common in the nineteen-sixties and seventies (New Criticism, werkimmanente Interpretation, specific branches of Structuralism), all kinds of claims for contextualisation have broadened the perspective on literary works and literature as a practice. Consequently, in order to describe the various forms of embeddedness of the literary work, literary studies have embraced many neighbouring or less close disciplines, such as sociology, cultural history, philosophy of culture, ethics, or cognitive sciences, to name just a few. In the same period, literary studies have enlarged their domain to all texts, literary or not, fictional or not, written or not, even linguistic or not, at times professing a vehement disinterest for any autonomy of the literary, a notion fallen under the suspicion of elitism. ›Literature‹, in this new perspective, is sometimes approached as just one cultural practice among others, as just another manifestation of discours in a Foucauldian, or of texte in a Derridian sense. This expansion of the object ›literature‹ as well as the blossoming of contextualisation, from New Historicism to cultural studies, have left the academic study of literature in a crisis pertaining to the autonomy of the object ›literature‹, as well as to the autonomy of the discipline of ›literary studies‹. To some, this _____________ 1
Hillis Miller: Literature, p. 1.
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Liesbeth Korthals Altes
blurring of boundaries is highly problematic, to others, it is a sign of vitality, and a culturally inevitable phenomenon. It also seems to partake of a wide-spread tendency towards inter- and transdisciplinarity, observable in sciences as well as in aesthetics.2 This paper opens with some general considerations on disciplinarity and boundaries, which may shed their light on the issue at stake, before discussing more specifically in what senses ›literature‹ is necessarily a problematic object of study. I will argue that the issue of the boundaries of literature is best de-dramatised, and replaced by questions such as: what is aesthetic or literary behaviour? What qualifies the relation to literature of makers and users: what do we do with literature? What is its functionality for individuals, for collectivities, for culture in general? I will argue that ›literature‹, in the light of such questions, can very well offer grounds for a specific discipline, which however cannot but overlap with others, with which it shares part of its object (for instance: the use of signs, language, narrativity, tropes), of its theorising (semiotics, theory of culture, of narrative etc.) and of its methods (historical, sociological, stylistic, narratological, etc.). The Interest of ›Disciplines‹ In our reflection on literature and on how it constitutes the object of a discipline, the following considerations on disciplinarity may well be kept in mind, as they highlight the various kinds of (social) interests that can be at stake, which may explain the vehemence of the debates about such issues. Disciplines are usually conceived of as a conceptual domain, a field of research with specific kinds of questions, data, theories, and methods. Disciplines tend to find an institutional form in university departments. The history of the university shows their rise and fall, and movements of autonomisation and de-autonomisation with respect to neighbouring do_____________ 2
According to Hal Foster, for instance, after Modernism’s tendency to foster disciplinarity, specialisation and the autonomy of the different arts, we now encounter »a scepticism regarding autonomous ›spheres‹ of culture, or separate ›fields‹ of experts. […] The very notion of the aesthetic […] is in question here: the idea that aesthetic experience exists apart, without ›purpose‹, all but beyond history.« (Foster: AntiAesthetic, p. xv) As for the scientific field, Peter Weingart and Nico Stehr, for instance, observe that »[s]omething quite fundamental is happening to the established order of knowledge as it has emerged with the modern universities in the nineteenth century: the organizational matrix is beginning to dissolve« (Weingart / Stehr: Interdisciplinarity, p. xi).
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mains. Such a history of disciplines, preferably in an internationally comparative perspective, is a fascinating field of research, which for ›Literaturwissenschaft‹ or ›literary studies‹ (which are not necessarily the same) still needs pursuing. However, I will limit myself to some observations which may throw their light on current developments. Although members of a discipline may have quite a different perception, rather than being founded on epistemological arguments, disciplines often consist of a quite heterogeneous conglomerate of approaches of a certain domain of knowledge, historically grown, along national and international cultural traditions (the different impact of international developments on national disciplinary traditions forms a revealing field of research). A discipline, in the words of Julie Thompson Klein, is no more than »a ›shifting and fragile homeostatic system‹ that evolves and adapts to changing environments«.3 But these ›fissured sites‹4 constituted by disciplines actually present the intellectual structures through which knowledge is defined and transmitted from one generation to the other. And their workings are by no means trivial, as will be clear to anyone considering the current discussions on the evolution or disappearance of literary studies as a discipline. From a sociological perspective, disciplines have provocatively been described in concurrential (›improper‹, from a scholarly perspective) rather than epistemological terms (which would be ›proper‹, conform to the field’s self-perception). Stephen Turner, for instance, notes that ›disciplinary cartels are fundamentally about monopolies in the production and consumption of students destined for academic careers‹ – a phenomenon all too familiar in the current blanket-pulling between the ›traditional‹ language and literature studies and ›fashionable‹ cultural studies.5 Elsewhere, Turner describes disciplines as »shotgun marriages, either of specialities [...] or of multiple and often conflicting purposes, […] kept together by the reality of the market and the value of the protection of the market that has been created by employment requirements and expectations«.6 The advantage of such ›cartels‹ is clear: they establish an adjustment of offer and demand, a market; they constitute »a kind of protectionist device that responds to the alteration of the market by the action of others«, which also allows the exclusion of unwanted, ›unqualified‹, players in the field.7 Disciplinary training happens within – and contributes to maintain – a _____________ 3 4 5 6 7
Thompson Klein: Conceptual Vocabulary, p. 18. Ibid. Turner: Disciplines, p. 59. Ibid., p. 55. Ibid., p. 50.
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community and a public which understand each other, and share assumptions and practices. This quite down-to-earth description raises many questions for literary studies as a discipline, of which only some shall be considered here, but which are worthwhile to keep in mind:8 - can one still talk about literary studies as a discipline, since the academic (if not social) consensus about what the object of literary studies is, seems to have diminished steadily during the last decennia? - is it necessary (if it would be possible), and what aims would it serve, to define on a new basis the boundaries of a ›literary‹ discipline? - what kind of knowledge does a community – and which community – want to preserve and foster regarding literature, by entrusting it to a ›discipline‹? - what kind of scientific rationality is considered valid inside such a literary discipline? - since the enrolment of students for academic careers in ›language & literature‹ has in many countries become scarce, what market expectations as to their competence do literary students have to meet? Or: what cultural needs and expectations may have to be created, by those convinced of the relevance of their profession and knowledge, in the light of the often-presumed waning popularity and prestige of literature itself? To discuss literature as the object of a discipline leads necessarily into such questions, which always at a certain point regard the cultural, social and epistemological legitimacy of literary studies. Such questions are hardly new, but they have to be re-addressed each time again, as not only literature itself, but the angles under which it is studied, and perhaps even more importantly: the social legitimisation of literature and the interests invested in it, keep changing in the (changing) culture in which it is embedded. Is There ›Literature‹? To take literature as the object of a discipline is in fact far from evident. First, because the term has only fairly recently received its current accep_____________ 8
I will not discuss here the differences or overlap between ›literary studies‹ and ›Literaturwissenschaft‹ as disciplines, nor between these and the specific language-bound disciplines such as Germanistics, Anglistics, Romanistics (see for instance Nünning / Sommer: Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft), though there certainly are significant differences with respect to the more or less expanded notion of literature and of the ›literary discipline‹ adopted.
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tion, as has often enough been outlined.9 In the light of the historical changes to which the notion of literature bears witness, it would be surprising if the notion and the practices it refers to would have remained untouched in the passage from the twentieth to the next century. The more so, if one considers the intimate link between the development of literature in the current sense and that of the print medium and the corresponding literacy: with the booming of new media, ›literature‹ in the acception it received since the second half of the 18th century, cannot but be affected. Although it remains to be assessed how exactly. Is there a specific object ›literature‹? It may be useful to distinguish between literature as a cultural object or practice, and as the object of a discipline. This should also help explain why a stricter delimitation of ›what is literature‹ will not automatically solve the problem of the blurring of the boundaries of literary studies as a discipline. Literature is not a simple object: it is not a ›thing‹, not even the literary work understood as a ›well wrought urn‹, observed in its splendid autonomy. It is a complex interaction, involving makers, re-makers (readers, theatre- or film-makers involved in re-mediating literature), distributors, critics, and a whole ensemble of communications, based on conflicting beliefs and conventions about what (doing) literature means.10 Changes in the cultural object or practice ›literature‹ have an impact on the discipline of literary studies, but the developments of the two are not necessarily simultaneous nor the same. This has not prevented literary scholars from attempting to define some specific class of texts constituting ›literature‹ on the basis of intrinsic – formal, thematic – characteristics, or at least: on the basis of the dominance of certain characteristics, or of acknowledged ›value‹ (of the latter, Wellek’s »The Attack on Literature« offers a good example). Jakobson famously turned the dominant attention to linguistic form itself – the poetic function – into a distinctive criterion for literarity, while at the same time cleverly recognising that this poetic function could be at work in any type of word-use. Thus, we do not have a criterion for literature – a specific class of works – but for literariness, which can be ascribed to any text. _____________ 9 10
To mention just one source, see René Wellek’s 1972 essay »The Attack on Literature«, reprinted in 1982 (Wellek: Attack, pp. 3-18). Or, in van Heusden’s adequate simile: »To study literary texts in order to discover what literature is, seems to me as senseless as studying a certain type of leather ball in order to discover what football is. The shape of the ball is, of course, a function of the game, but the game is not revealed to us by the shape of the ball, but by people playing the game. […] A text is an artifact, and its material structure is a function of what we do with it.« (van Heusden: Literature, p. 235)
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Focusing on narrative literary texts, Dorrit Cohn in The Distinction of Fiction (1999) makes much of the distinctive criterion of fictionality, already recognised by Käte Hamburger (but unduly limited by her to third-person fiction), which would allow to discriminate between fiction and historical or other factual writing, namely: the »moments […] where fiction conveys the intimate subjective experiences of its characters, the here and now of their lives to which no real observer could ever accede in real life«.11 But as Genette’s approach (following) will allow us to say: Cohn in fact absolutises a convention, which, like all conventions, may change throughout history. On this distinction of literature, I find indeed Genette’s approach most helpful to date, although – or perhaps, because – it is fairly pragmatic, in the colloquial sense. In good structuralist fashion, Genette starts in Fiction et diction (1991) with classifying: he distinguishes formal, thematic and rhematic12 ›empirical‹ features that can be used to define literature. On the one side, ›literature‹ encompasses fiction (corresponding to the Aristotelian definition of mythos), based on formal and thematic characteristics; on the other side, there is poetry (as advanced by German Romanticism), exploiting linguistic form, which Genette labels diction. However, neither the formal nor the ›fictional‹ criteria are sufficiently distinctive, Genette concedes, since pragmatic factors ultimately will determine the fictional or factual reception of a text.13 In fact, he argues, texts can in two ways fall under a ›regime of literariness‹: either literariness is constitutive, guaranteed by a complex of (attributed or claimed) intentions and generic conventions (for which specific formal and semantic features can function as a signal – be it through their absence, in a setting where they are in fact expected); or it is conditional, depending on a subjective (receiver’s) appreciation of a ›literary quality‹, which may be contested, and which usually boils down to ›this text gives me aesthetic pleasure‹. Another tradition would combine that aesthetic pleasure with moral value, see the quoted essay by Wellek.14 This conditionalist view is becoming dominant, says Genette: everybody nowadays can define for herself what she considers literature. However, this free aesthetic judgement cannot affect literarity which is such constitutively: a play by Racine or Corneille, whether I enjoy it or not, is literature by its genre, tragedy for instance.15 _____________ 11 12 13 14 15
Cohn: Distinction, p. 24. That is: relating to the type of discourse a text exemplifies, so mainly generic conventions. Genette: Fiction, pp. 89, 93. Ibid., p. 28. Ibid., p. 29.
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The advantage of this approach is that even Genette’s ›constitutive‹ definition of literature avoids essentialising, as it is based on historically traceable conventions of form, themes and uses of texts. There is however a clear shift in criteria between the first and the second category. When a text is literary by ›constitution‹, this does not, for Genette, imply any value judgment. If however a text, which is not constitutively literary – such as a historical or philosophical work, or documentary –, is taken as literary, it is because it is considered aesthetically worthwhile. Genette’s distinction seems to me quite useful, as it allows for the historical changes in definition of ›literature‹; it does not turn such attempts at definition into a purely subjective matter, but pins it down to collectively maintained conventions, while at the same time heeding individual variations in appreciation, which however have a different status (incidental, and evaluative). Thus, for the literary scholar, defining literature can be a descriptive rather than an evaluative undertaking, taking as its object the various competing conceptions of literature at play in a given culture. Genette’s approach, however, begs the question of the functionality of literature, which is in fact more interesting than its presumed purely formal or semantic characteristics, as it pertains to the anthropological, psychological and social raison d’être of literature. Indeed, the specificity of ›literature‹ has been tracked by others not so much in its formal and thematic conventions, but in its functions. In a rather radical form, such is the position of the French philosopher of aesthetics Jean Marie Schaeffer. According to him, any pretension to formal or semantic distinctiveness, such as Cohn’s, cannot hold. Referring to Hume’s reflection on beliefs, Schaeffer argues that in our perception, there is no epistemological break between two kinds of representations, some fictional, others factual. All representations consist similarly of mental impressions, whether or not triggered by something ›in reality‹. There are however, distinct uses of our representations, the one fictional, the other factual.16 Hence, »Pour comprendre la spécificité de la fiction ludique, il faut abandonner le terrain sémantique pour le terrain pragmatique«.17 Literariness will have to be defined as rules governing the understanding and use of texts. Somewhat surprisingly, perhaps, considering the positions usually attributed to him, Derrida takes a fairly similar stand on this issue, insisting on the pragmatic character of literariness, a stand close as well to Genette’s
_____________ 16 17
Heinich / Schaeffer: Art, p. 179. Ibid., p. 177.
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insistence on the conventionality and historicity of ›literariness‹.18 Derrida rejects any ontological specificity of literary texts, but this by no means implies that ›literature‹ has become for him an obsolete notion, as is often inferred. Quite to the contrary: even though Derrida worked as happily on non-literary (Rousseau’s or Heidegger’s philosophical work) as on literary texts (Mallarmé or Celan), literature is at the heart of his investigations, and more precisely, the question of definition that this ultimately undefinable practice raises. This is brought out very clearly, for instance, by several seminal essays on literature collected by Derek Attridge in Acts of Literature. Literature, Attridge summarises, is for Derrida »an institution: it is not given in nature or the brain, but brought into being by processes that are social, legal, and political, and that can be mapped historically and geographically«.19 Since its autonomisation around the eighteenth century, this institution has acquired »certain features that make it an unusual member of the set of verbal practices around us«.20 Literature in fact parasitizes upon all kinds of discourses. It incorporates these, taking over their reference function and truth pretensions, while suspending them, resisting the illusion of immediate reference and of truth. Thus it precisely exhibits those as an illusion, challenged by other views that are orchestrated in the same text, or that act as a foil against which a text is understood. Quite similarly, in fact, to the sociological and historical analyses of S. J. Schmidt or Bourdieu, Derrida stresses that the institutionalised language practice ›literature‹ comes into its own only in a societal form which guarantees its autonomy: in democracy, or at least in a society in which democracy is a leading ideal. This is due to the critical function he considers fundamental to literature: in literature, language turns upon itself, exhibits itself. »If we subtract from this text [Kafka’s text Vor dem Gesetz, L.K.A.] all the elements which could belong to another register – everyday information, history, knowledge, philosophy, fiction, and so forth – anything that is not necessarily affiliated with literature, […] what is at work in this text retains an essential rapport with the play of framing and the paradoxical logic of boundaries, which introduces a kind of perturbation in the ›normal‹ system of reference, while simultaneously revealing an essential structure of referentiality« – and, one could add, of boundary drawing.21 Thus, quite like Schaeffer, Derrida concludes that »There is no text which _____________ 18
19 20 21
»No internal criterion can guarantee the essential ›literariness‹ of a text. […] And even the convention which allows a community to come to an agreement about the literary status of this or that phenomenon remains precarious, unstable, and always subject to revision.« (Derrida: Acts, p. 73) Ibid., p. 23. Ibid. Ibid., p. 213.
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is literary in itself. Literarity is not a natural essence, an intrinsic property of the text. […] There is therefore a literary functioning and a literary intentionality, an experience rather than an essence of literature (natural or a-historical)«.22 This intricate relation between literature and other language uses – which makes it so difficult to define, to draw strict boundaries separating it from (what is never really) its ›other‹ – is also focused upon, albeit in a very different vocabulary, by the Canadian ›sociocritic‹ Marc Angenot. In the wake of Bakhtin, Angenot rejects the idea that the specificity of literature lies in its (modernistic) formal-semantic characteristics such as complexity, ambiguity and polyvalence; he rather locates it in the fact that literature exhibits the multiple discourses which constitute a culture’s way of constructing and knowing reality, and pits them against each other, thus revealing the underlying ›heteroglossia‹ of society itself. So if literature is polysemic, it is not in contrast with a non-literary, standardly ›monosemic‹ discourse, which would be capable of knowing and naming the world, presenting itself as intelligible; it is rather because literature highlights this occulted nature of the »discursive cacophony […] which hides under the apparent logic of social discourse«.23 Others too have attempted to pinpoint literature’s specificity in its functionality: John Carey, after a devastating analysis of all the possible arguments in favour of the specificity of the arts, has only literature to save. Literature, to him, is the only art with a distinctive function. This is due to its linguistic medium, which holds such a crucial function in human (self)communication and knowledge gathering and storing. Literature, to Carey, is the only art that »can reason«;24 »literature gives you ideas to think with […] It does not indoctrinate […] it encourages questioning and self-questioning«. It functions as a »mind-developing agency«, and as such, it has special relevance in contemporary culture.25 It can, of course, be debated whether only literature (and literature always) has this critical potential; whether film, (pop)music and other art-forms could not present this (self)reflexivity that Carey considers the specific function of literature. However, normative conceptions as argued in this essay offer food for thought, important enough in a cultural setting in which the prestige of verbal art and skills (including analytical, argumentational and oratorical skills, besides the art of literature) is waning, with consequences for the self-reflexive potential in culture, which still have to be assessed. Food for thought also in the contention of, for instance, Barend van Heusden, who _____________ 22 23 24 25
Ibid., pp. 44f. Angenot: Littérature, pp. 16, 18 (my translation, L.K.A.). Carey: Arts, p. 177. Ibid., p. 208.
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argues that only literature, as a verbal art, represents the process of meaning-giving in a concrete iconic way, re-presenting in a second-order move »representations of reality in language«; with the judicious addition: »In a culture indifferent to linguistic representation, literature necessary becomes a peripheral form«.26 In a sense, these ›pragmatic‹ reflections point, notwithstanding their differences, to the same function of literature, which would be to train humans in a playful way in this crucial aptitude: to interpret, to attribute meaning and value to experience, and to weigh against each other competing world-views. This corresponds to cognitive, anthropological and (psycho-)linguistic analyses of a specific ›display‹ function of language art, whether or not labelled as literature, which calls attention to the text itself, to the speaker and to the process of meaning-making. In the words of Marie-Louise Pratt: »In telling, a speaker is not only reporting but also verbally displaying a state of affairs, in such a way that he invites his addressee(s) to join him in contemplating it, evaluating it, and responding to it. His point is to produce in his hearers not only belief but also an imaginative and affective involvement in the state of affairs he is representing and an evaluative stance toward it. [...] Ultimately what he is after, is an interpretation of the problematic event, an assignment of meaning and value supported by the consensus of himself and his hearers.«27 All these approaches raise the question of the medial (im)possibilities of literature as a verbal art, distinguishing it from other linguistic practices as well as from other arts, with all of which it cannot but share many functions as well. Further empirical research, of a psychological and neurological, sociological and anthropological kind, is dearly needed in order to test the hypothesis of the ›distinction of literature‹, or rather, of a specific ›literary use‹ of texts. Such research would be useful to strengthen, or to dismiss, the claim of the importance of ›literature‹ for individuals as well as for culture. The End of Literature? As a cultural object, embedded in time and space, literature undergoes changes of definition, some of which in recent times have been experienced as so drastic as to dismantle ›literature‹ itself. Such crises have in fact occurred time and again throughout history.28 Roughly, the following _____________ 26 27 28
Van Heusden: Literature, pp. 158f. Pratt: Speech Act, p. 136. See for instance Diaz: L’autonomisation, on the ongoing crisis of literature.
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›threats‹ to the boundaries of literature can be listed, some pertaining to literature as a cultural object or practice, threatened by extinction, others to the construction of its object by the discipline of literary studies.29 Literature at risk as a cultural practice First, literature would be menaced by the blurring of boundaries between literature and non-literature: the notion of literature has been extended to sorts of texts hitherto considered non-literary because of being non-fictional (such as faction, documentary, autobiography), or because of lacking a ›specific quality‹ (as in pornography, entertainment, and other more commercial forms of fiction). Such a more inclusive definition of literature is operated, for different reasons and sometimes with different distributions, by writers, critics and literary scholars. In the light of Genette’s insistence on the historicity of literary conventions, and of Derrida’s or Schaeffer’s claim that there are no (non-)literary discourses in se: there are only literary and non-literary uses of discourse, there is nothing here that really challenges ›literature‹. If one looks at the developments of the novel in the 18th and 19th century, such systolic and diastolic movements appear time and again: the novel happily absorbed daily correspondence or concurrenced sociology and other sciences (Zola), phagocyting all kinds of discourses deemed non-literary. What however is an interesting issue here, is what kind of functions literature thus appears to annexate, or to lose, what happens to such (cognitive, ethical, ideological…) functions when they are transformed into literature, as Derrida asks, and how those changes can be interpreted as culturally relevant. Moreover, what becomes visible in the expansion of ›literature‹ to genres formerly less highly ranked from an aesthetic point of view, be they fictional (›cheap‹ romance, science-fiction, detectives) or non-fictional (documentary, historiographical), is that the democratisation of culture has deeply transformed the criteria for what is recognised as ›literature‹, in the qualitative sense. The defining power of a small group of connoisseurs has been challenged. The broader public has established itself as an alternative consecration power, as attested for instance by the prizes awarded in most western countries by an actual reading public. Concomitantly, literature is _____________ 29
Interestingly, many of the ›threats‹ to literature currently diagnosticised already feature prominently in Wellek’s 1972 survey of the ›Attacks on Literature‹ (re-published in 1982). Others may find as interesting as myself the exercise of comparing Wellek’s diagnosis and following conclusions, with those many scholars nowadays would achieve: many similarities in the analysis, probably, and quite different conclusions, which I expect to be less normative, attesting the extent to which diversification of culture has become consensual. But precisely that ›extent‹ is at stake in the discussion to which this volume is dedicated.
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revealed to serve many functions, besides aesthetic delight in formal mastery, some aestheticist, ›autonomistic‹ in the Kantian sense, others more ›heteronomous‹, orientated on ethical or political interests, or on factual knowledge. The distinction between commercial (best-seller) or ideological fiction, and literature of ›restricted production‹, cultivating aestheticist values (to use Bourdieu’s notion), is not easy to make anymore. Again, these developments do not in themselves endanger the category of ›literature‹, although they do inflect and diversify the kind of criteria and valuejudgments that are considered adequate. But as long as there are such competing conceptions, and as they find institutionally guaranteed ways of expressing themselves, literature, as a cultural and institutional practice, is alive and kicking. Not so much a ›threat‹, but rather an argument against literature was already signalled by Wellek in 1972: literature is considered as an elitist form of art, bound to disappear in a more democratised society, or otherwise, it should to be helped to die, as it is an »instrument of class oppression« (Wellek here quotes with indignation the 1971 President of the MLA). This critique of elitism is still to be heard in a specific academic discourse on literature, especially in some brands of cultural studies, but much less in the actual field of production and reception of literature, which seems content with the diversification that has occurred (research into the criteria for appreciation of various kinds of fiction displayed in journalistic literary criticism, for instance, shows a broadening of the range of values, from aestheticist to all kinds of more ›heteronomous‹ values, or at least, a less simple opposition between high and low forms of culture)30. The specificity of literature, as of the other arts, appears consequently a matter of scaling, and of convention and reception, rather than of a clear black or white distinction. One could dismiss this attack, as Wellek does, by evoking the emancipating function literature has fulfilled throughout history (just as it has fulfilled conservative roles). But there is a crucial issue at stake here, namely the social legitimacy of literature, and the ensuing attention it is allotted in the social transmission of knowledge, especially in the education system. In many western countries, literature has lost its unquestioned prerogative as a preferential cultural medium, and this is translated into the educational system. It now shares this function with other arts, especially film. It is, I think, a mistake to conclude from there that the study of literature has lost its relevance, as will be argued more extensively further on. A third development threatening literature comes from the development of new, electronic, digital, and prominent visual media: these more _____________ 30
See for instance DiMaggio: Classification.
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accessible media would make literature, with its fairly abstract, linguistic (and written) medium requiring high concentration, a transitory form of human communication. Wellek already came with the easy counter-argument, pointing to the still increasing quantities of literary publications, and to the continuing importance of language to human civilisation. In our days as well, despite the vociferous claims that the language era has been supplanted by the visual, many visual expressions go accompanied with written or oral texts, and the publication of literary works still blooms. However, an interesting change does take place: with the increasing impact of other media, the function of the written verbal art is changing. These changes have to be investigated carefully: what functions have literary texts abandoned to other media (for instance, web-logs concurrencing written, published autobiography), what audiences are reached by which medium? In this respect, this ›threat‹ to literature can in fact be considered as an argument for a renewed interest in the study of literature, in comparison to other media, artistic and non-artistic. Literature at Risk as a Disciplinary Object As far as the academic construction of ›literature‹ as a disciplinary object is concerned, attacks on the boundaries of that object, and hence on the autonomy and legitimacy of a discipline focusing on literature, have come from various angles. Crucial in this respect have been the poststructuralist redefinitions of ›text‹ by Foucault and Derrida, which have been used as an argument in the attack on ›literature‹ as a legitimate distinctive object of study. Foucault’s analysis of »l’ordre du discours« included all kinds of representational forms, among which literature, which shares with all other discourses an ideological dimension, and is just one expression of the episteme of an epoch. It is on the basis of such a conception of texts, that New Historicism can approach literary texts alongside all kinds of (other) documents as ›scenes‹ on which are negotiated competing cultural representations. And some scholars have concluded that a discipline concerning itself with just one specific and ›superior‹ class of texts, would simply reproduce an elitist, obsolete and illusory class-distinction (in the Marxist sense, this time). As for Derrida’s presumed demolition of the boundaries between kinds of texts, implied by the statement, ›il n’y a pas de hors-texte‹ (if everything is text, there is no distinctive ›literary‹ sort of texts): This conclusion seems a strategic misreading, which Derrida himself has taken pains to rectify.31 _____________ 31
Besides the quoted collection of Derrida’s essays on literature (see note 18), particularly useful on this issue are Derek Attridge, The Singularity of literature, and Nico van
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›Il n’y a pas de hors-texte‹, first, does not mean that there would be no non-linguistic experience of reality, but that any experience of reality needs a semiotic form (›text‹) to represent it. This entails two things: constructedness, and necessary severance from any substantialised reality – which, I repeat, does not mean that there is no reality to which a text refers. For Derrida, in ›text‹, the Latin notion of ›textum‹, woven fabric, resonates. Such a conception invites a reading of texts intent on traces of their constructedness, and of the possible ideological dimension of the representations involved. Secondly, that there is no ›hors-texte‹ does not entail that the distinction of literature does not exist for Derrida, as I have argued in the former section. Quite the opposite is the case: literature, as a specific use of texts, in Derrida’s perspective has a fundamental role to play in culture, as the ›space‹ where discourses are reflected, exhibited. So this definition of texts, and of literature, does not permit the conclusion that there is no such practice as ›literature‹, and that it therefore should not be the object of a specific discipline. What can be concluded, though, is that through its textual nature, literature like other texts can and should be analysed as a representation, or with Foucault, as a vehicle and a ›scene‹ for competing world views. The critique on the concentration on ›literature‹, which came mainly from Cultural Studies, feminist and other kinds of ›critical‹ theory, has proved fruitful in important respects: the art disciplines, and in any case, literary studies, have reacted to this critique with a principled expansion of their object, which has come to include the whole range between ›high‹ and ›low‹ art, allowing the investigation of exclusion and gate-keeping mechanisms, and of the border-wars between art and non-art, fiction/ faction, and between the arts themselves. Such border-wars are highly interesting, as they reveal competing cultural interests. But Derrida’s own reflection on the problematic definition of literature precisely gives strong arguments for the careful study of the specific ›literary‹ functioning to which texts can be put (Genette would add: some constitutively, others conditionally). The disciplinary object ›literature‹ has been challenged by yet another blurring of boundaries, related to methodological developments within the discipline of literary studies. The insight into the contextuality of the literary text brought along the necessity to rely on other disciplines, better suited to describe such historical, social, or cultural contexts. Literature was (re)discovered to share many functions with other cultural media: it _____________ der Sijde, on Derrida’s conception of literature, which includes all major thinkers with whom Derrida was in dialogue: Heidegger, Bataille, Blanchot, Nancy (van der Sijde: Experiment, unfortunately only available in Dutch).
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expresses and problematises ideology in all its forms; it contributes, as do other kinds of texts, to nation-building, to collective identities and to cultural memory; it offers, like religion, philosophy, science and history, Deutungsmuster, norms and values, which individuals and collectivities can take as ethical and ideological guide-lines. From this observation, often added to the presumed ›elitism‹ of literature (and its studying), some concluded the obsoleteness of a specifically literary discipline. ›Literature‹ as an object would have lost its autonomy and legitimacy, hence, literary studies have lost theirs, in favour of a broader, general cultural studies (which come in various creeds). Moreover, many of the insights and analytical instruments which have been developed within literary studies, or proved particularly useful there, have appeared relevant for other forms of linguistic texts and artefacts in general, or for cultural (›symbolic‹) products in general, from narrativity or ideology as expressed in ›discourse‹, to tropes and rhythm. Hence, literary studies expanded, extending themselves to the study of narrativity, discursive manifestations of ideology, or tropes, in all kinds of cultural expressions: film, religious texts, advertisement, culture in general. This expansion was followed by the reversal that was to be expected, in which literary studies were buried under the more encompassing, and by then more ›sexy‹, studies for which they helped develop (in fact only very partial) questions and tools. Ensued a crisis in literary studies: Obituaries were pronounced, while elsewhere restorative tendencies could be observed. No Re-Canonisation of Literature, but a Renewed (Inter/Trans)Discipline? What to conclude from this somewhat random survey of ›attacks‹, both on the cultural practice ›literature‹ and on the literary discipline? In the light of what precedes, a re-canonisation of literature as a cultural practice does not seem an option. As Nathalie Heinich and Jean-Marie Schaeffer suggest in their dialogue on »Art, Creation, fiction«, a ›segregationist logic‹ defending the boundaries of literature is always linked to a »projet axiologique de valorisation de l’art et de fixation de la dignité ›ontologique‹ des objets«.32 Such a project is motivated by normative arguments, belonging to the role of participant in the cultural field, rather than by epistemological arguments. The changes in conceptions and forms, but also in appreciation, of literature that can be observed in the literary field itself can be taken as what they are: adaptations of an art-form to a changing cultural _____________ 32
Heinich / Schaeffer: Art, p. 23.
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context. These changes will necessarily elicit debates, as there are important cultural and social interests at stake. But such debates would benefit from a more analytical contribution from the side of literary and cultural scholars. Research on the historically variable – and perhaps invariable anthropological – functions of literature would provide better arguments in the debate than recurring to a pre-established cultural prestige of literature (although it should be obvious that striving for a more analytical approach does not mean that one’s own argument is not shot through with values and preconceptions, as also this paper surely demonstrates). Distinct from the growing inclusivity of the cultural notion of literature, though obviously related to it, is the ongoing de-definition of literature as a disciplinary object. As we have seen, disciplines have no natural objects, only constructed ones. As also Heinich and Schaeffer observe, »les connaissances sont toujours des modélisations ou des constructions aspectuelles du réel [...]. Cela ne revient nullement à défendre un relativisme cognitif: chacune des voies cognitives est contrainte par le réel dont elle veut rendre compte«.33 The floor is open to competing conceptions, and it is important to realise that there are always other than epistemological arguments involved: conceptions of culture, of participation to culture, and of the role of symbolic forms in society. This should not lead to a theoretical defeatism, but to a serious debate, on the basis of explicitated arguments. The idea that ›all is text‹ does not, in all respects, diminish the legitimacy of the distinction of literary texts, or of a literary functioning of texts, as I hope to have convincingly argued, with Derrida. Nor does the fact that literature has at certain moments in the history of cultures, contributed to social ›distinction‹ (in the Bourdieu sense) lead to the conclusion that literature always and only serves ›elitist‹ interests. Such phenomena rather belong themselves to the object to be studied. As long as there is a culturally distinguished ›literary‹ practice of language, in whatsoever form, this can be object of study: not because of a pre-established value, but precisely as a historically changing cultural practice. There is, I presume, a fairly strong consensus on the fact that the study of literature is a complex, multi-facetted undertaking; that it requires multi- or inter-disciplinary approach, at least for the analysis of its cultural, psychological or anthropological functioning. Literary studies cannot but overlap in various ways with other disciplines: the cultural object and practice ›literature‹ shares (basic semiotic) features and functions with other cultural objects and practices; methods and theories developed within literary studies have proved useful in other fields, and vice-versa. This _____________ 33
Ibid., p. 9.
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however does not necessarily lead to the conclusion, drawn by many nowadays, that any form of disciplinarity is needs obsolete. The call for anti-disciplinarity has been especially strongly voiced from within Cultural Studies, where disciplinarity is often associated with stagnation and an obsolete elitist cherishing of high literature as an object. Grossberg, for instance, writes: »cultural studies challenges the assumed impenetrability between the disciplines; [...] it denies the implicit but necessary assumption that each discipline should have the power to define the proper ways to study its object of research. Cultural studies says that there are many different ways to study disciplinary objects, to work across disciplinary fields, depending on where you begin, what question you are asking and what sort of an answer you are seeking. [...] cultural studies demands a willingness to speak outside of one’s ability to confidently claim mastery of some body of knowledge. And this means that one has to be humble enough to take the risk of even looking a little foolish.«34 This kind of free interdisciplinarity however runs the risk of making the followed approach immune to criticism. In this respect the plea for the inclusion of literary studies in a wider Kultur- Medienwissenschaft appears more convincing, as for instance argued by Nünning and Sommer, especially in their introduction to the 2004 volume on Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. In a similar vein, and in the same direction of an overlapping science of the cultural, the urgency of opening up the disciplinary boundaries is claimed in contemporary historiography: »Die Geschichtswissenschaft bedarf einer entschlossenen EntDisziplinierung, und das gilt vielleicht auch für andere kulturwissenschaftliche Fächer«, observes Oexle, as these share the »Konstituierung eines gemeinsamen Bewußtseins von Kulturwissenschaft als Aufgabe«.35 But with the caveat, which I cannot but heartily underscribe, that this »›Ent-Disziplinierung‹ jederzeit einer ebenso intensiv wahrgenommenen ›Disziplinierung‹ [bedarf], in dem Sinne nämlich, daß die einzelnen kulturwissenschafltlichen Fächer sich ihrer [...] historisch ausgeprägten spezifischen Leistungsfähigkeit bewußt sind und sie zur Geltung bringen«.36 Such an articulation of literary studies within a broader science of culture can provide the necessary stimulus for integrated research on the (historically changing) forms and functions of the arts in general – or of »aesthetic behaviour«, as advocated by Schaeffer – and of literature specif_____________ 34 35 36
Grossberg: Sins, p. 26. This vehement anti-disciplinarity came under fire from within Cultural Studies as well, leading to a more nuanced, and workable, defense of transdisciplinarity, as in Bal: Crossroad Theory. Oexle: Kulturwissenschaft, p. 109. Ibid.
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ically, in comparison to other media and ›discourses‹.37 Two aspects deserve special attention: the verbal nature of literature as an art and cultural practice, including verbal artistry, and the investigation into the functions of literature, or rather, of literariness. Literature can obviously be studied from many angles, as a document for historical, ideological, or moral developments for instance. But at some point, the question has to be addressed what forms and functions, what specific verbal practice are involved when in a culture distinct texts receive or claim the label ›literary‹. Not in a restorative urge, grounded on the presumed self-evident status of literature, but as the investigation of what a specific writing and reading practice means and how it functions. If formal characteristics do not seem sufficient to define a category of texts as ›literature‹ (although in current western culture, features such as ambivalence, density of information, and attention to form are good candidates), their function, use, and the kind of framing they involve deserve more research. It is significant that anthropologists as well as speech-act theorists, philosophers as well as sociologists, observe among all cultural practices the existence of a special class of texts: texts that frame human experience, and display it for emotional and cognitive reflection and reenactment, while calling attention to their constitution. Reflection on the pragmatic conditions defining ›literature‹ may bring more unity and focus in the broad range nowadays implied in literary studies. Which amounts to a plea for a relative autonomy of literary studies, and in any case for a more reflective recourse to (the indispensable) inter- or transdisciplinarity. Bibliography Angenot, Marc: Que peut la littérature? Sociocritique littéraire et critique du discours social. In: Jacques Neefs / Marie-Claire Ropars (eds.): La Politique du texte. Enjeux sociocritiques. Lille 1992, pp. 9-27. Attridge, Derek: The Singularity of Literature. London 2004. Bal, Mieke: Crossroad Theory and Travelling Concepts. From Cultural Studies to Cultural Analysis. In: Jan Baetens / José Lambert (eds.): The Future of Cultural Studies. Leuven 2000, pp. 3-21. Carey, John: What Good Are the Arts? London 2005. Cohn, Dorrit: The Distinction of Fiction. Baltimore 1999. Derrida, Jacques: Acts of Literature. Ed. and trans. from the French by Derek Attridge. New York 1992. Diaz, Luis: L’autonomisation de la littérature. In: Littérature 124 (2001), pp. 9-22. DiMaggio, Paul: Classification in Art. In: American Sociological Review 52/4 (1987), pp. 440-455.
_____________ 37
Heinich / Schaeffer: Art, p. 23.
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Genette, Gérard: Fiction et diction. Paris 1991. Foster, Hal: The Anti-Aesthetic. Essays on Postmodern Culture. Port Townsend 1984. Grossberg, Lawrence: The Sins of Cultural Studies. In: Jan Baetens / José Lambert (eds.): The Future of Cultural Studies. Essays in Honour of Joris Vlasselaers. Leuven 2000, pp. 23-34. Heinich, Nathalie / Jean-Marie Schaeffer: Art, création, fiction. Entre sociologie et philosophie. Nîmes 2004. Heusden, Barend van: Why Literature? An Inquiry into the Nature of Literary Semiosis. Tübingen 1997. Hillis Miller, John: On Literature. London 2002. Nünning, Ansgar / Roy Sommer (eds.): Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Disziplinäre Ansätze – Theoretische Positionen – Transdisziplinäre Perspektiven. Tübingen 2004. Oexle, Otto G.: Auf dem Wege zu einer Historischen Kulturwissenschaft. In: Christoph König / Eberhard Lämmert (eds.): Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900. Frankfurt/M. 1999, pp. 105-123. Pratt, Marie-Louise: Towards a Speech Act Theory of Literary Discourse. Bloomington 1977. Sijde, Nico van der: Het literaire experiment. Jacques Derrida over literatuur. Amsterdam 1998. Thompson Klein, Julie: A Conceptual Vocabulary of Interdisciplinary Science. In: Peter Weingart / Nico Stehr (eds.): Practising Interdisciplinarity. Toronto 2000, pp. 3-24. Turner, Stephen: What Are Disciplines? And How Is Interdisciplinarity Different? In: Peter Weingart / Nico Stehr (eds.): Practising Interdisciplinarity. Toronto 2000, pp. 46-65. Wellek, René: The Attack on Literature and Other Essays. Brighton 1982. Weingart, Peter / Nico Stehr (eds.): Practising Interdisciplinarity. Toronto 2000.
ELISABETH STUCK
Akzeptanz in der Literaturwissenschaft Überlegungen zu den Grenzen der literaturwissenschaftlichen Praxis
Der vorliegende Beitrag diskutiert die Grenzen der literaturwissenschaftlichen Praxis unter dem Aspekt der Akzeptanz. Der Terminus wird hier literatursoziologisch gefasst und bezeichnet im Folgenden die Wahrscheinlichkeit, für gewisse Aussagen, Entscheidungen, Verfahren und Handlungen in der literaturwissenschaftlichen Forschung bei einer bestimmten Personengruppe in einem beschreibbaren Kontext Zustimmung zu finden. In einem solchen Verständnis von Akzeptanz wird diese kommunikativ und interaktiv hergestellt. Ein Ergebnis von solchen Prozessen kann auch Verwerfung sein. Wenn im Folgenden von Akzeptanz gesprochen wird, ist die Nicht-Akzeptanz immer auch eingeschlossen. Akzeptanz ist mit Rückgriff auf Doris Luckes soziologische Modellierung des Begriffs1 in einem theoretischen Bezugsrahmen zu betrachten, der eine dreifache Orientierung enthält: - Objektbezogenheit: Die Akzeptanz bezieht sich auf Gegenstände und Themen. - Kontextbezogenheit: Objekte und Subjekte literaturwissenschaftlicher Akzeptanz stehen immer in kultur- und sozialhistorischen Kontexten. - Subjektbezogenheit: Die Akzeptanz geht von einer Person/einer Gruppe aus. Luckes relationale Definition, die ›Akzeptanz‹ als »Beziehung zwischen Akzeptanzsubjekt, Akzeptanzobjekt und Akzeptanzkontext« fasst,2 dient im Folgenden als Ausgangspunkt für eine literatursoziologische Differenzierung des Begriffs. _____________ 1 2
Lucke: Akzeptanz. Ebd., S. 89.
Akzeptanz in der Literaturwissenschaft
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Innerhalb des objektbezogenen Bereichs spielt die Frage, welche literaturwissenschaftlichen Gegenstände auf Zustimmung/Ablehnung stoßen, eine zentrale Rolle. Bei Analysen, Situationsbeurteilungen, Handlungen und Handlungsmustern, die sich auf die Primärliteratur, auf literaturtheoretische Modellierungen, auf Forschungsmethoden sowie auf Forschungsergebnisse beziehen können, kann es zu Akzeptanz-Prozessen kommen. Objekte und Subjekte literaturwissenschaftlicher Akzeptanz stehen in variierenden kultur- und sozialhistorischen Kontexten. Situative und mediale Voraussetzungen wie z.B. Publikationsorte (z.B. Zeitschriften), Rezeptionsumstände (z.B. Tagungen) und institutionelle Konstellationen prägen literaturwissenschaftliche Kontexte und beeinflussen auch Handlungsnormen für literaturwissenschaftliche Gruppen. Aus einer subjektorientierten Perspektive betrachtet, ist die Frage, von wem die Zustimmung/Ablehnung ausgeht, relevant. In dieser Orientierung rücken die im literarischen Feld handelnden Personen und Personengruppen in den Blickpunkt. Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass individuelle und kollektive Prozesse der Zustimmung/Ablehnung zu literaturwissenschaftlichen Gegenständen mit berücksichtigt werden können. Für die allgemeine Akzeptanzforschung wurde zu Recht festgehalten, dass »Akzeptanzbereitschaft kein situations- und bereichsübergreifendes oder gar angeborenes Persönlichkeitsmerkmal« sei.3 Dies gilt insbesondere auch für Versuche, mit der Kategorie ›Akzeptanz‹ gewisse Aspekte eines Geschlechts-, Gruppen- und Nationalcharakters festschreiben zu wollen: Würde man in der Literaturwissenschaft von ›kompromisslosen Feministinnen‹, von ›sturen Empirikern‹ oder von ›überangepassten Schweizer Germanisten‹ sprechen, wäre dies ein Zeichen dafür, dass Akzeptanz als fester Bestandteil eines Gruppen- oder Persönlichkeitscharakters behandelt wird. Was Literaturwissenschaftler und andere Personen/Gruppierungen im literarischen Feld als akzeptierbar betrachten, ist immer durch Kontextfaktoren vermittelt und hängt jeweils auch vom Objekt ab. Die subjektbezogene Bestimmung von Akzeptanz ermöglicht, die von der institutionstheoretisch orientierten Literatursoziologie häufig etwas vernachlässigte subjektive Seite von sozialen und fachlichen Normen und Werten besser zu berücksichtigen. Für eine Disziplin wie die Literaturwissenschaft, die sich in wichtigen fachlichen Ausdruckformen auf die Forschungs- und Lehrmeinung einzelner Persönlichkeiten bezieht, ist dieser Einbezug der subjektiven Komponente eine wichtige Grundlage zum Verständnis von sozialen Normen und von Prozessen, die zu deren Durchsetzung in einem Kollektiv führen und die deren institutionellen Status und Geltungsmodus mit beeinflussen. Es handelt sich bei dieser Berücksichtigung der subjektiven Komponente nicht _____________ 3
Ebd., S. 91.
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Elisabeth Stuck
um einen Ausschluss der kollektiven und institutionellen Aspekte, sondern es wird darauf aufmerksam gemacht, dass diese institutionell gebundenen Prozesse beeinflusst werden von subjektbezogenen Einschätzungen. Bei Diskrepanzen zwischen individuellen und kollektiven Stellungnahmen zu einem literaturwissenschaftlichen Gegenstand ist je nach Kontext, Gegenstand und beteiligten Personen auch mit einem erhöhten Konfliktpotential zu rechnen. Die hier vorgenommene theoretische Modellierung sieht im Vorgang des Akzeptierens keinen dezisionistischen Akt, der sich losgelöst vom gesellschaftlichen Kontext auf eine individuelle Willensäußerung zurückführen ließe. Im literaturwissenschaftlichen Bereich zählen zum subjektbezogenen Kreis einzelne Literaturwissenschaftler und Gruppen wie Mitglieder von Fachgesellschaften sowie Personen oder Gruppen aus weiteren wissenschaftlichen Disziplinen. Forschungsgeschichtliche und methodische Überlegungen Angaben zur Akzeptanz von Primärliteratur sind in literaturwissenschaftlichen Texten häufig zu finden. So können z.B. sozialhistorische Kanon-Studien die Akzeptanz eines Textes in verschiedenen historischen Kontexten rekonstruieren.4 Die Akzeptanz von literaturwissenschaftlichen Forschungsprozessen und von literaturwissenschaftlicher Sekundärliteratur wurde hingegen selten untersucht. Voraussetzung für eine solche Untersuchung ist, dass man beobachtbare Situationen zur Verfügung hat, die auf Akzeptanzprozesse hin analysiert werden können. Methodisch bestehen verschiedene Möglichkeiten, an solches Untersuchungsmaterial zu gelangen: So kann man schon zur Verfügung stehendes Material im Hinblick auf die Akzeptanz auswerten und beobachtbare Situationen wie z.B. Reaktionen auf bestehende Studien analysieren. Zudem kann man durch ein Experiment oder durch eine eigens dafür konzipierte Untersuchung solche Daten generieren. Im Bereich ›Experiment‹ gibt es einige seltene Fälle, wo wir aus der experimentellen Anlage einer Studie auf gewisse Aspekte der literaturwissenschaftlichen Akzeptanz schließen können: So können literaturwissenschaftliche Grubenhunde und die Kommentierung von Fälschungen wie beispielsweise die Reaktionen auf den Fall des Physikers Alan Sokal – mit seinen poststrukturalistische Ansätze und Rhetorik parodierenden Ausführungen in einer kulturwissenschaftlichen Zeitschrift – aufzeigen, unter welchen Voraussetzungen erfundene Forschungsergebnisse trotz Unstimmigkeiten auf Zustimmung stoßen. In der Primärliteratur ist das Motiv der Fälschung ein viel benutztes und beliebtes Mittel, um Fra_____________ 4
Vgl. Winko: Negativkanonisierung.
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gen von Fiktion und Wirklichkeit, Wahrheit und Lüge und poetologischen Aspekten der erfundenen Wirklichkeit nachzugehen;5 in der literaturwissenschaftlichen Sekundär- und Forschungsliteratur dagegen sind Fälschungen, die mit parodistischen Verfahren arbeiten und die mit seriösen literaturwissenschaftlichen Erkenntniszielen verbunden sind, rar. Experimente mit verschiedenen stilistischen Fassungen von literaturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen wie die Publikation derselben Forschungsergebnisse in zwei rhetorisch verschiedenen Fassungen in verschiedenen Publikationsorganen machten deutlich, dass die Akzeptanz von literaturwissenschaftlichen Gegenständen je nach deren rhetorischen Merkmalen und je nach Kontext wie dem Publikationsort variieren kann.6 D.h. dass die Sprache der Literaturwissenschaft und mit einer Zeitschrift/einem Verlag verbundene Erwartungen Kontext-Faktoren sind, die die Wahrscheinlichkeit, dass ein literaturwissenschaftlicher Gegenstand Zustimmung oder Ablehnung erfährt, beeinflussen. Als Fallbeispiele für eine so angelegte Untersuchung von Zustimmung und Verwerfung in der Literaturwissenschaft sind insbesondere Studien aus der literatursoziologischen, aus der literaturpsychologischen und aus der kognitivistisch orientierten Literaturwissenschaft interessant, weil mit einer solchen Ausrichtung auch die Personen/Personengruppen Bestandteil des Untersuchungsgegenstands sind. Für die vorliegende Untersuchung der Akzeptanz habe ich kein Experiment gemacht, sondern es stand ein literatursoziologisches Fallbeispiel zur Verfügung, d.h. ich habe die Forschungsprozesse an einer abgeschlossenen und publizierten Studie im Hinblick auf Akzeptanz analysiert. Aspekte von Akzeptanz an einem Fallbeispiel Es stehen mir beobachtbare Situationen aus der Kanon-Forschung zur Verfügung, u.a. aus einer Studie, in der ich den akademischen Umgang mit Lektüre-Empfehlungen untersucht habe.7 Mit dieser Studie verfolgte ich das Ziel, die Kanonisierungsprozesse an Universitäten theoretisch, historisch und empirisch zu untersuchen, insbesondere Konsensusbildungen bzw. das Konfliktpotential von Kanon-Entscheidungen an einer Bildungs_____________ 5
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Erzählende Literatur aus der jüngeren Gegenwart mit dem Motiv der Fälschung stammen von Peter Carey (Mein Leben als Fälschung, dt. 2004), Javier Cercas (Der Mieter, dt. 2003, Relatos Reales, dt. Wirkliche Erzählungen, 2000) und Pascal Mercier (Perlmanns Schweigen, 1995, mit Akzent auf der wissenschaftlichen Fälschung). Fricke: May; Fricke: Wiederholungen; Fricke: Suggestion. Stuck: Kanon.
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institution wissenschaftlich zu erfassen.8 Als Grundlage für die nachstehenden Überlegungen zur Akzeptanz/Verwerfung literaturwissenschaftlicher Forschung wurde folgendes Vorgehen gewählt: - Es werden die Metakommentare zu der erwähnten Befragung ausgewertet. Innerhalb des Fragebogens gab es einen offenen Teil für Bemerkungen und Kommentare. Für die hier vorgelegte Untersuchung der Akzeptanz habe ich diese Kommentare und Bemerkungen sowie andere auf dem Fragebogen angebrachte Randbemerkungen einer Inhaltsanalyse unterzogen. - Als Indikator für Akzeptanz werden zudem Antwortquoten zum empirischen Teil der genannten Kanon-Studie betrachtet. Bei dieser empirischen Untersuchung handelt es sich um eine schriftliche Befragung, die ich im Jahr 2000 bei Lehrenden im Bereich ›Deutsche Literaturwissenschaft‹ in Deutschland, Österreich und der Schweiz durchgeführt habe.9 - Zudem werden Reaktionen auf die Präsentation der Resultate reflektiert. Ich greife exemplarisch Rückmeldungen zu drei Vorträgen in verschiedenen Gremien heraus: zu einem Beitrag an einer literaturwissenschaftlichen Tagung, zu einem Vortrag an einer Lehrerfortbildung und zu einem öffentlichen Vortrag, der sich an ein breiteres und gemischtes Publikum, wie es an Veranstaltungen von Volkshochschulen und öffentlichen Bibliotheken zu erwarten ist, richtete. - Die folgenden Beobachtungen sollen aufzeigen, in welchen Bereichen Auffälliges zur Akzeptanz auftrat. Die einzelnen Punkte berücksichtigen die oben festgehaltene Objekt-, Subjekt- und Kontextorientierung von Akzeptanz. Metakommentare zu einer schriftlichen Befragung von Lehrenden Als ›Metakommentare‹ werden im Folgenden Äußerungen bezeichnet, die sich auf das Vorgehen der Studie und auf Einzelaspekte des Fragebogens bezogen. 62 der Befragten benutzten den für Bemerkungen und Kommentare vorgesehenen Teil der Befragung oder ergänzten einzelne Punkte mit Randbemerkungen. Davon machten 35 Personen, d.h. ein gutes Drittel der Antwortenden, Metakommentare. Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Metakommentare vor allem dann erfolgen, wenn jemand explizit auf _____________ 8
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Die Stoßrichtung meiner Studie entsprach einem damals festgehaltenen Forschungsdesiderat, das Elrud Ibsch folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat: »We have numerous cultural discourses on Kafka, but we do not have valid explanations of the process that made him into a canonized author.« (Ibsch: Relationship, S. 31) 113 Lehrende beteiligten sich an der Befragung.
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Probleme bei der Akzeptanz aufmerksam machen will, ist hoch. Als solche mehrheitlich kritischen Bemerkungen sind sie interessant, weil wir dadurch Hinweise erhalten, was einen Prozess des Akzeptierens stören kann und über welche Teilbereiche von literaturwissenschaftlichen Studienanlagen oft Dissens besteht. Schon in der Konstruktion des Fragebogens spielten Überlegungen und Abklärungen zur Akzeptanz eine Rolle. Es war zu erwarten, dass gegenüber einer solchen Studie auch Skepsis bei den zur Teilnahme eingeladenen Personen auftreten könnte. Diese Erwartung einer problematischen Akzeptanz stützte sich auf Überlegungen, die objekt-, subjekt- und kontextorientierte Aspekte tangieren: 1. Bezüglich des Akzeptanzobjekts gibt es wertungstheoretische, forschungsgeschichtliche und methodische Aspekte, die eine Rolle spielen können. Explizite Kommentare zum theoretischen Hintergrund des Fragebogens waren sehr selten (2 Metakommentare). So wurde in einer Rückmeldung einer befragten Lehrperson der wertungstheoretische Bezugsrahmen des Projekts als falsch bezeichnet, weil dieser der Durchsetzung von Geltungsansprüchen und den Machtbeziehungen zu wenig Rechnung trage. Ich hatte der theoretischen Modellierung des Gegenstands als einen wichtigen Ausgangspunkt die sozialhistorische Theorie literarischer Wertung von Renate von Heydebrand und Simone Winko zu Grunde gelegt10 und um eine prozedurale Dimension erweitert, die insbesondere institutions- und argumentationstheoretische Aspekte der Konsensbildung bzw. das Dissensund Konfliktpotential von Kanon-Entscheidungen an Bildungsinstitutionen berücksichtigt. Als weiterer objektorientierter Faktor ist die Forschungsgeschichte des Gegenstands zu beachten. Kanon-Diskussionen in der Fachöffentlichkeit wurden oft kontrovers, manchmal auch polemisch geführt. Die Forschungsgeschichte des Gegenstands ist schon geprägt von Verwerfungen.11 Auch hier kann die Ebene des Objekts den Prozess des Akzeptierens prägen. Ein dritter heikler Bereich war die empirische Forschungsmethodik. Es war damit zu rechnen, dass trotz vieler Plädoyers für die Integration von verschiedenen Methoden die Mehrheit der Befragten gegenüber empirischen Studien eher skeptisch sein würde. Dem war zumindest auf der Ebene der Metakommentare zur Studie nicht so. Nur eine Person äußerte Skepsis in Bezug auf das Vorgehen einer Befragung, weil man damit der Komplexität des Gegenstands nicht gerecht werden könne, und schlug vor, stattdessen eine Kanon-Tagung zu veranstalten. Es ist freilich davon auszugehen, dass Personen, die mit der Methode grundsätzlich nicht einver_____________ 10 11
Von Heydebrand / Winko: Wertung. Vietta: Kanon- und Theorieverwerfungen.
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standen waren, kommentarlos auf die Teilnahme an der Befragung verzichtet haben. Es ging von einer angeschriebenen Person – insgesamt wurden 300 Personen zur Teilnahme an der Befragung eingeladen – eine schriftliche Begründung für den Verzicht auf die Teilnahme an der Befragung ein, worin die Methode der schriftlichen Befragung kritisch kommentiert wurde. 2. Zum anderen waren auch subjektbezogene Faktoren, die die Akzeptanz stören könnten, zu erwarten: Die Befragten wurden in einem Teil des Fragebogens auch eingeladen, über ihre individuellen Postulate, welchen Status ein Kanon an Universitäten haben sollte, und über Prozesse der kollektiven Entscheidungsfindung Auskunft zu geben. Hinzu kam ein Fragebogenteil mit individuellen Werturteilen zu acht exemplarischen literarischen Einzelwerken. Das Ziel dieses Teils bestand darin, zu überprüfen, ob alle im theoretischen Modell genannten Faktoren bei Auswahlentscheidungen wirksam und welche davon einflussreich sind. Zu diesem Fragebogenteil gab es einzelne Metakommentare wie: Ein Kanon bilde sich nicht auf der Grundlage von Auswahlentscheidungen einzelner Literaturwissenschaftler. Aus einer solchen Randbemerkung lässt sich ablesen, dass in einzelnen Fällen Annahmen über Ziele der Studie getroffen wurden, die nicht mit den effektiven Intentionen übereinstimmten. Ein wichtiger subjektorientierter Faktor für die Akzeptanz von Forschung scheint in der fachlichen Orientierung der Befragten zu liegen. Mehrere befragte Personen beteiligten sich über die Beantwortung des Fragebogens hinaus an der Studie, indem sie Stellungnahmen zum Thema ›Kanon‹ formulierten sowie Publikationshinweise und auch eigene Forschungsbeiträge zu Fragen des literarischen Kanons beilegten. Die Mehrheit solcher Rückmeldungen kam von Personen, die einen Forschungsschwerpunkt im Bereich ›Literarischer Kanon‹, ›Literatursoziologie‹ und ›Literaturdidaktik‹ nannten. Von diesen Personen wurde auch explizit das ganze Forschungsvorhaben grundsätzlich positiv gewürdigt; aus demselben Kreis stammte auch die Verwerfung von Einzelaspekten. 3. In den Vorabklärungen zur Akzeptanz des Fragebogens war als kontextueller Aspekt die institutionelle Einbindung wichtig: Wenn innerhalb eines literaturwissenschaftlichen Forschungsprojekts, das von einem universitären Institut unterstützt wird, Aspekte der Lehre an anderen Instituten untersucht werden, könnte dies als Einmischung verstanden werden. Dies könnte sich negativ auf die Akzeptanz auswirken. Als weiterer kontextueller Faktor, der die Akzeptanz des Fragebogens vermutlich beeinflusste, ist ein anderer institutioneller Aspekt zu erwähnen: Die Studie wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt und finanziert. Dies wurde den Personen, die zur Teilnahme an der Befragung eingeladen wurden, in einem Begleitschreiben mitgeteilt. Mit dieser Unterstützung konnte
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den Angeschriebenen signalisiert werden, dass die Wissenschaftlichkeit des Projekts überprüft worden war. Es ist anzunehmen, dass dies die Akzeptanz bei einem akademischen Adressatenkreis förderte. Zu den Kontextfaktoren gingen wenig Metakommentare ein. Nur in einem Fall wurde der Forschungskontext, in dem die Studie entstanden war, kommentiert.12 Ausgelöst wurde dieser Metakommentar vermutlich durch eine Bemerkung im erwähnten Begleitschreiben zum Fragebogen, in dem einige Personen aus diesem Forschungskontext namentlich erwähnt wurden. Als dritten Faktor gilt es den weiteren Forschungskontext zu bedenken. Kanon-Forschung befasst sich mit Normen und Wertzuschreibungen. Dies kann zur Folge haben, dass ein Forschungsprojekt zum Thema ›Kanon‹ in Verdacht gerät, es ziele selber auf die Postulierung eines normativen literarischen Kanons. Eine solche Annahme ist nicht ganz abwegig, zumal es in der literaturwissenschaftlichen Praxis entsprechende Beispiele gibt wie etwa Harold Blooms Kanon-Studien, die in den meisten Fällen als Plädoyers für einen bestimmten materialen Kanon13 und auch für einen operationalen Kanon14 verfasst sind. Es war denkbar, dass die Befragung wegen Studien mit anderen Zielsetzungen im gleichen Forschungsgebiet als wissenschaftlich nicht haltbar abgelehnt werden könnte. Es gab einen Metakommentar zu einer Einzelfrage, in dem die Befürchtung geäußert wurde, es solle mit diesen Daten ein neuer Kanon postuliert werden. Antwortquoten Für die erwähnte Befragung der Lehrenden im Jahr 2000 wurde auf Grund einer theoretischen Modellierung ein mehrseitiger Fragebogen entwickelt. Dessen Beantwortung erforderte eine knappe Stunde. Trotz dieses Aufwands war der Rücklauf gut: 89 % der angeschriebenen Institute beteiligten sich an der Befragung. Von den 300 angeschriebenen Personen antworteten 113. Die Antwortquote auf die einzelnen Fragen war insgesamt hoch (über 90 %). Auch die Ausführlichkeit der Antworten in den offenen Teilen der Befragung war größer als erwartet. Es fiel jedoch auf, dass die Antwortquote bei einem der sechs Teile des Fragebogens deutlich tiefer lag: Dieser Teil war nur auf 80 % der eingegangenen Frage_____________ 12
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Auffällig an den beiden Metakommentaren zum Forschungskontext ist deren Formulierung, die sich durch appellative Direktheit von den übrigen Metakommentaren abhebt: »Sie sollten sich wissenschaftlich besser beraten lassen!« und »Analysieren Sie sorgfältig, was im DFG-Symposien-Band von Heydebrand [1998] nicht steht!«; im Begleitbrief beim Versand des Fragebogens wurde Heydebrand namentlich erwähnt. Bloom: Genius. Bloom: Lektüre.
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bogen beantwortet. In diesem Teil ging es darum, die Angeschriebenen in einem möglichst offenen, aber dennoch möglichst konkreten Rahmen zu Aussagen über Kriterien der Kanonizität und über Begründungsfiguren für Wertzuschreibungen anzuregen. Deshalb wurde dieser Teil als prognostische Frage formuliert. Die Angeschriebenen wurden gebeten, drei Werke aus der Literatur zu nennen, denen sie für das 21. Jahrhundert hohe Kanonizität prognostizieren. Zu jedem der drei Werke (je eines aus den drei Gattungen) gab es eine Rubrik für »Begründende Bemerkungen zu dieser Prognose«. Mögliche Erklärungen für die tiefere Antwortquote finden wir in den Metakommentaren. Allein die Zahl der Metakommentare zu dieser Prognose-Frage ist auffällig. Insgesamt äußerten 35 Personen Metakommentare zur Befragung. Davon bezogen sich 18 auf die Prognose-Frage. In 17 Fällen wurden Begründungen angegeben, weshalb dieser Teil des Fragebogens nicht beantwortet wurde; in einem Fall beurteilte die befragte Person die prognostische Formulierung als so produktiv, dass sie diese als Anregung für die Arbeit mit Studierenden in einer Lehrveranstaltung benutzt habe. Viele Äußerungen bezogen sich darauf, dass eine solche Frage nicht mit dem eigenen Wissenschaftsverständnis kompatibel sei. Neben sachlich gehaltenen Aussagen wie »Ich bin Historiker, nicht Prognostiker« oder »Ich mache keine Prognosen« kam es auch zu einzelnen vehementeren Verwerfungen wie »Diese Frage ist eine groteske Zumutung, fast eine Absurdität«. Die Verwerfung mit Bezug auf das eigene Wissenschaftsverständnis machen deutlich, dass die subjektorientierte Perspektive der Akzeptanz hier ein wichtiger Faktor ist. Zwei Metakommentare kritisierten bei dieser Prognose-Frage die Reduktion auf drei Werke: »Je ein Titel scheint mir nicht machbar. Das würde absurde Wertungen voraussetzen.« Und: »Das 20. Jh. in drei exemplarischen Werken dem kulturellen Gedächtnis anzudienen ist eine unlösbare Aufgabe. Sie zu stellen sogar eine Unverschämtheit, wenn das ernst gemeint war.« Aus dieser letzten Bemerkung geht hervor, dass die Unklarheit bezüglich des hypothetischen Vorgehens in dieser Prognose-Frage die Akzeptanz gestört hat. Intendiert war dieses prognostische Szenario im Hinblick auf eine möglichst offene Stimulation von Aussagen, und die Frage war nicht ›ernst gemeint‹ in dem Sinne, dass aus diesen Angaben eine weitere Kanon-Hitliste erstellt werden sollte. Solche hypothetische Szenarien in der Fragenformulierung sind vermutlich für viele Literaturwissenschaftler ein Grund dafür, etwas zu verwerfen.
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Reaktionen auf die Präsentation der Resultate Die Erwartungen in Bezug auf konkrete Kanon-Empfehlungen unterscheiden sich deutlich in verschiedenen Kontexten. Von einem literaturwissenschaftlichen Publikum gingen keine Erwartungen aus, dass aus einer Kanon-Studie konkrete Lektüre-Empfehlungen entstehen. In einem didaktisch orientierten Rezipientenkreis richteten sich einzelne Diskussionsbeiträge und Fragen auf die Praxisrelevanz, und es gingen einige Anfragen nach der Bildung von Lektürevorschlägen für einen schulischen Kontext ein. In einem öffentlichen Kontext hingegen bin ich nach der Präsentation von Forschungsergebnissen mehrmals gebeten worden, konkrete LektüreEmpfehlungen abzugeben, zum Teil mit deutlichen Erwartungen, normative Empfehlungen im Stil von ›Alles, was man lesen muss‹ zu vermitteln. Die Flut von Ratgeberliteratur, die einer breiteren Öffentlichkeit das gesellschaftliche Minimalwissen als literarische Bildung verkauft, fördert solche konkreten Kanon-Erwartungen in einem breiteren Publikum. Bei Äußerungen zur empirischen Methodik kam es zu keinen generellen Verwerfungen, sondern es kam zu Einwänden gegenüber methodischen Einzelaspekten. So stieß z.B. an einer literaturwissenschaftlichen Tagung der Ansatz, den Umgang, den Lehrende an der Universität mit KanonFragen pflegen, zu untersuchen, zwar insgesamt auf Akzeptanz. Aber ein Einwand, der in dieser Diskussionsrunde vorgebracht wurde, scheint mir aus methodischen Gründen interessant für die Akzeptanz von literaturwissenschaftlicher Forschung. Gegenüber der Studie mit der Befragung von Lehrenden wurde die Gültigkeitsdauer der Resultate in Zweifel gezogen und es wurde empfohlen, die Befragung später zu wiederholen. Gegenüber empirischen Kanon-Studien ist das Bewusstsein für die Kontextabhängigkeit der literaturwissenschaftlichen Tätigkeit hoch entwickelt: Bei empirischer Forschung wird die zeitliche Reichweite und damit der kontextbedingte beschränkte Geltungsmodus von literaturwissenschaftlichen Aussagen als Grenze beachtet. Gegenüber hermeneutisch angelegten Kanon-Studien hingegen treten solche Zweifel an der Gültigkeitsdauer der Forschungsergebnisse kaum auf, obwohl man mit derselben Begründung, dass sich der Kontext ändere, genauso jemanden einladen könnte, eine historische Kanon-Studie in zehn Jahren zu wiederholen. Subjektorientierung als Problem für die Akzeptanz Aus obigen Überlegungen zeichnet sich ab, dass die Subjektorientierung eines Forschungsdesigns die Wahrscheinlichkeit des Akzeptierens senken kann. Insbesondere wenn die persönliche Interaktion des Literaturwissen-
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schaftlers mit dem Gegenstand untersucht wird, kommt es zu Verwerfungen. Dies deckt sich mit Ergebnissen einer Befragung von Elrud Ibsch: Die Interaktion Leser – Text spielt für Literaturwissenschaftler in ihrer beruflichen Tätigkeit in 29,6 % eine Rolle, die Auseinandersetzung mit dem Text ist dagegen 48,1 % wichtig. Die persönliche Interaktion der befragten Literaturwissenschaftler mit einem Text wurde in Ibschs Befragung von keiner befragten Person genannt.15 Akzeptanzorientierung als Problem für die (Literatur-)Wissenschaft Wenn hier der Versuch unternommen wird, mit der Kategorie ›Akzeptanz‹ den Grenzen von literaturwissenschaftlichen Handlungszusammenhängen auf die Spur zu kommen, so muss von vornherein ein problematischer Bereich mitbedacht werden: Aus der Tatsache, dass ein literaturwissenschaftlicher Befund bei vielen Zustimmung findet, kann nicht abgeleitet werden, dass dieser auch richtig ist.16 Hier wird aus der soziologischen Akzeptanzforschung zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass eine zunehmende Verunsicherung darüber festzustellen sei, was richtig und wichtig ist, dass im Zuge dieser Unsicherheit Zustimmung/Verwerfung und Konsens/Dissens zur Handlungsorientierung würden und dass es zur »Legitimation durch Akzeptanz« komme.17 Für die Wissenschaft ist zu bedenken, dass die Verwerfung bzw. teilweise Verwerfung von Forschung der Motor für die weitere Forschung ist. Nicht nur für die innerfachliche Zusammenarbeit, sondern auch für interdisziplinäre Projekte ist eine breite theoretische und methodische Grundlage die Voraussetzung dafür, dass auch komplexe Forschungsfragen angegangen werden können.18
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Fokkema: Empirie; Ibsch: Relationship. Vgl. die Gegenüberstellung von Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit und Lyotards Dissenstheorie bei Grant: Dialogizität. Lucke: Annahmen, S. 23. Ibsch macht auf diesen interdisziplinären Aspekt aufmerksam: Literaturwissenschaftler sollen auch hochkomplexe Probleme mit anderen Wissenschaftlern erforschen können (wie beispielsweise longitudinale Effekte der Lesesozialisation zusammen mit Psychologen, Ibsch: Relationship, S. 33).
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Bibliographie Bloom, Harold: Genius. Die hundert bedeutendsten Autoren der Weltliteratur. München 2004. Bloom, Harold: Die Kunst der Lektüre. Wie und warum wir lesen sollten. München 2000. Fokkema, Douwe: Empirie und Geschichte. In: Achim Barsch / Gebhard Rusch / Reinhold Viehoff (Hg.): Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion. Frankfurt/M. 1994, S. 142-157. Fricke, Harald: Karl May und die literarische Romantik. In: Jahrbuch der Karl-MayGesellschaft 1980, S. 11-35. (Wiederabgedruckt in: Dieter Sudhoff / Hartmut Vollmer (Hg.): Karl Mays Old Surehand. Paderborn 1995, S. 115-139). Fricke, Harald: Wie trivial sind Wiederholungen? Probleme der Gattungszuordnung von Karl Mays Reiseerzählungen. In: Zdenko Škreb / Uwe Baur (Hg.): Erzählgattungen der Trivialliteratur. Innsbruck 1984, S. 125-148. Fricke, Harald: Wieviel Suggestion verträgt die Interpretation? Ein Versuch am lebenden Objekt der Karl-May-Forschung. Mit einem Exkurs zur Psychoanalyse. In: H.F.: Literatur und Literaturwissenschaft. Beiträge zu Grundfragen einer verunsicherten Disziplin. Paderborn 1991, S. 45-62. Grant, Colin: Kritik der Dialogizität. Jenseits der Asymmetrien literarischer Kommunikation. Siegen 1997. Ibsch, Elrud: The Strained Relationship between the Empiricist’s Notion of Validity and the Hermeneutician’s Notion of Relevance. In: Roger J. Kreuz / Mary Sue MacNealy (Hg.): Empirical Approaches to Literature and Aesthetics. Norwood/N.J. 1996, S. 23-33. Heydebrand, Renate von / Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn 1996. Lucke, Doris: Akzeptanz. Legitimität in der ›Abstimmungsgesellschaft‹. Opladen 1995. Lucke, Doris: Riskante Annahmen – angenommene Risiken. In: D.L. / Michael Hasse (Hg.): Annahme verweigert. Beiträge zur soziologischen Akzeptanzforschung. Opladen 1998, S. 15-35. Stuck, Elisabeth: Kanon und Literaturstudium. Theoretische, historische und empirische Untersuchungen zum akademischen Umgang mit Lektüre-Empfehlungen. Paderborn 2004. Vietta, Silvio: Kanon- und Theorieverwerfungen in der Germanistik der siebziger Jahre. In: S.V. / Dirk Kemper (Hg.): Germanistik der siebziger Jahre. Zwischen Innovation und Ideologie. München 2000, S. 9-57. Winko, Simone: Negativkanonisierung. August v. Kotzebue in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. In: Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart, Weimar 1998, S. 341-364.
JOST SCHNEIDER
Die Sozialgeschichte des Lesens und der Begriff ›Literatur‹
Sich gewisse Bücher in gewissen Händen denken! Falstaff z.B., wie er Werthers Leiden liest.1
Einfache Instrumente wie Hammer, Meißel oder Säge kann man so verwenden, wie man sie aus der Werkzeugkiste holt. Kompliziertere Werkzeuge wie Spinnrad oder Isolierzange bedürfen hingegen der Feinadjustierung, bevor sie mit Erfolg benutzt werden können. Die Kategorie ›Literatur‹ gehört zu den in diesem Sinne besonders komplizierten Instrumenten. Es bringt geringen Nutzen, diesen Begriff tel quel aus dem Fachwörterbuch zu holen und anzuwenden. Vielmehr bedarf es von Fall zu Fall einer neuen Kalibrierung, damit diese Kategorie abdeckt, was sie innerhalb eines gegebenen Kontextes abdecken sollte. Im Folgenden findet sich deshalb ein Plädoyer für einen weitgefassten und variabel handhabbaren Literaturbegriff, der in verschiedenen Gebrauchszusammenhängen verschiedenartige Phänomene zu bezeichnen vermag. I Vergangene und aktuelle Literatur begegnet uns in der pluralistischen, offenen, an Archiven reichen Gegenwartsgesellschaft in derartig vielen unterschiedlichen Erscheinungsformen, dass es schlechterdings unmöglich ist, irgendein tertium comparationis auszumachen, das einen stabilen ›Wesenskern‹ der Literatur im Allgemeinen darstellen könnte. Erheblich übersichtlicher stellt sich die Lage hingegen dar, wenn man nach konkreten Relationen zwischen Lebensumständen, Sozialstatus, Bildungsniveau, Freizeitverhalten, _____________ 1
Hebbel: Tagebücher, S. 277, Nr. 5822.
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Mediennutzungsgewohnheiten, Lektüreanforderungen und Rezeptionspraktiken fragt. Auch noch in unserer ›offenen‹, sozial relativ mobilen Gesellschaft stößt man auf sehr stabile statistische Korrelationen zwischen bestimmten kulturellen Praktiken und bestimmten Positionen im sozialen Raum.2 Denn zwar räumt die offene Gegenwartsgesellschaft ihren Mitgliedern einen gewissen Spielraum des Verhaltens ein. Doch es wird registriert, wenn jemand diese Grenzen überschreitet; und es wird mit Ausgrenzung sanktioniert, wenn derartige Überschreitungen zu häufig auftreten.3 Phänomen und Begriff ›Literatur‹ haben deshalb innerhalb der einzelnen Bildungs- und Sozialmilieus jeweils ganz spezifische Funktionen und Bedeutungen. In meiner Sozialgeschichte des Lesens habe ich das Spektrum dieser schichtenspezifischen Literaturkonzeptionen von der Antike bis zur Gegenwart in seiner ganzen Spannbreite auszuloten und darzustellen versucht.4 Zusammenfassend lässt sich hier feststellen, dass es im historischen Längsschnitt vier verschiedene Hauptformen der literarischen Kultur gibt, denen vier verschiedene Arten des Umgangs mit dem Wort ›Literatur‹ entsprechen. Nachfolgend seien hier kurz – ausgehend von den gegenwärtigen Verhältnissen – diese vier Hauptformen und die ihnen jeweils zuzuordnenden Begriffsverwendungsweisen charakterisiert. 1. (›)Literatur(‹) in der Kompensationskultur der Unterschichten5 Der Anteil der Unterschichten an der Gesamtbevölkerung beträgt heute in der BRD – bei steigender Tendenz – ungefähr 15 %. Die Lebensumstände in diesen Schichten können als prekär bezeichnet werden. Charakteristisch sind geringe Vermögen (oder sogar Schulden), niedrige Einkommen und unsichere Berufskarrieren. Oft werden befristete Hilfstätigkeiten oder schwere, gefährliche körperliche Arbeiten ausgeführt. Der Krankenstand ist überdurchschnittlich hoch; oft kommen Probleme wie Drogenabhängigkeit oder Delinquenz hinzu. Das Bildungsniveau ist im Durchschnitt sehr niedrig. Häufig fehlen Schulabschlüsse oder abgeschlossene Berufsausbildungen. Eine mittel- oder langfristige Lebensplanung ist unter diesen Voraussetzungen kaum möglich. Man schlägt sich von Tag zu Tag durch und schwankt zwischen Depression und Euphorie. _____________ 2 3 4 5
Dazu: Bourdieu: Lektüre, S. 119-131. – Stiftung Lesen / SPIEGEL-Verlag: Leseverhalten. Standardwerk hierzu nach wie vor: Foucault: Discours. Schneider: Sozialgeschichte. Ausführliche Erörterungen hierzu mit Quellennachweisen: ebd., S. 33-36, 61-80, 175-198, 339-352, 389-402, 448-451.
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Das Freizeitverhalten ist hier von einer Neigung zum Sensualismus und Materialismus geprägt. Es dominieren Aktivitäten, die eine möglichst schnelle und vollständige Abfuhr von elementaren Triebimpulsen in Aussicht stellen. Dazu gehören beispielsweise die Ausübung von Kampfsportarten, das erotische Tanzen, der Besuch einer Kirmes, eines Autorennens, einer Erotikmesse, eines Boxkampfes oder einer Moto-Cross-Veranstaltung, ein Ausflug in einen Vergnügungspark oder auch das Teleshopping. Das Mediennutzungsverhalten ist von einer Dominanz der elektronischen Medien geprägt. Im Vordergrund stehen Actionfilme, schnelle Videospiele, Horrorfilme, Pornofilme und ähnliche Angebote, die einer Ästhetik der starken sinnlichen Reize verpflichtet sind und die viel Spannung, Tempo, Erotik, Komik oder Nervenkitzel zu liefern versprechen. Das Interesse an Lektüre ist demgemäß eher schwach ausgeprägt. Nur wenige Formate wie zum Beispiel das Groschenheft oder der (erotische) Liebesroman können in dieser Schicht mit einer regelmäßigen Leserschaft rechnen. Das Wort ›Literatur‹ spielt hier im aktiven Wortschatz fast keine Rolle. Begriff und Sache sind hier fremd, Randphänomene. Dann und wann kauft man sich ›was zu lesen‹, aber in der Regel nicht in der Buchhandlung, sondern im Kiosk, an der Tankstelle oder allenfalls im eingangsnahen Discount-/Bestsellerbereich der großen Medienkaufhäuser. Aus literarhistorischer Perspektive kommt dem Kolportageroman des 19. Jahrhunderts in der Geschichte der literarischen Bildung der Unterschichten die größte Bedeutung zu, und zwar als Instrument der Zivilisierung und der Sensibilisierung. Bis zum 19. Jahrhundert waren die Angehörigen der Unterschichten, die damals mehr als drei Viertel der Bevölkerung stellten, fast durchgängig Analphabeten oder Fast-Analphabeten. In ihrer mündlich tradierten oral poetry spielten derb-sinnliche, grobianische Elemente eine zentrale Rolle. Der Kolportageroman des 19. Jahrhunderts präferiert demgegenüber deutlich gedämpftere Trieb- und Affektregungen. Sex and crime spielen auch hier noch eine tragende Rolle, doch das lustvolle Kotzen, Raufen, Fluchen, Spucken, Furzen, Rülpsen und was sonst noch zur Unterschichtenkultur des vorbürgerlichen Zeitalters gehört hatte, bleibt daraus verbannt. Und auch die Ausdifferenzierung feinerer Empfindungen wie z.B. Liebe, Ehrgefühl, Scham oder Familiensinn schreitet voran. Mit dem Aufkommen des Films und der elektronischen Medien verliert zwar der Kolportageroman rapide an Bedeutung, doch unzweifelhaft hat er einen wichtigen Beitrag zu jener ›Verkleinbürgerlichung‹ des deutschen Proletariates geleistet, die um 1900 einen schnellen Übergang von der Industriezur Dienstleistungsgesellschaft, von der Arbeiter- zur Angestelltenkultur ermöglichte. Trotz der geringen Bedeutung der Literatur und des Literaturbegriffs in der Unterschicht darf der zivilisatorische Wert der Kolpor-
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tageromane des 19. Jahrhunderts und der heutigen Groschenromane in einer Geschichte der deutschen Literatur deshalb nicht unberücksichtigt bleiben. 2. (›)Literatur(‹) in der Unterhaltungskultur der Mittelschichten6 Zu den Mittelschichten rechnet man in der gegenwärtigen Lebensstilsoziologie – bei sinkender Tendenz – ungefähr 70 % der Gesamtbevölkerung Deutschlands. Dabei darf nicht vergessen werden, dass der Mittelstand bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine gesellschaftliche Minderheit bildete. Erst die demokratisch-pluralistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des 20. Jahrhunderts hat die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir die deutsche Gesellschaft heute als eine Mittelstandsgesellschaft bezeichnen können. Ihrem Selbstverständnis nach handelt es sich bei den Angehörigen dieser Schichten um den gesellschaftlichen ›Normalfall‹, dessen Werte, Einstellungen und Gewohnheiten sowohl nach oben als auch nach unten hin verteidigt werden müssen und können. Neben einem dezidierten Anti-Intellektualismus, dem überdurchschnittliche Intelligenz als Monstrosität oder allenfalls als Quiz-Show-Attraktion erscheint, gibt es hier deshalb auch einen vehement verteidigten Anti-Primitivismus, der den ständigen Kampf gegen das Absinken in die Sphären der Unterbürgerlichkeit unterfüttern soll. Die Angehörigen dieser Schichten verfügen in der Regel über keine ›höhere‹ Bildung, wohl aber über abgeschlossene Berufsausbildungen, die eine Existenz auf mittlerem Vermögens- und Einkommensniveau ermöglichen. Zu ihrem Bildungsideal gehören nicht nur schulische Abschlüsse, sondern oft auch noch jene ›zünftigen‹ Kardinaltugenden des Mittelstandes wie Ordnung und Sauberkeit, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Höflichkeit, Leistungsbereitschaft, Disziplin u.ä., deren Verinnerlichung im Rahmen einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung sowohl beruflich als auch privat von Vorteil sein kann. Auch im Freizeitverhalten dieser Schichten macht sich die Internalisierung und Habitualisierung derartiger Tugenden geltend, etwa in der hier weit verbreiteten Neigung zum Engagement in Vereinen, die mit ihren Hierarchien und Gratifikationssystemen (Vereinsmeisterschaften, Vorstandswahlen, Pokale, Rangabzeichen etc.) eine berechenbare Möglichkeit zur Gewinnung und Inszenierung gesellschaftlicher Anerkennung bereitstellen. Den Künsten und den Medien kommt in diesem Wertesystem die vergleichsweise unbedeutende Aufgabe zu, mit Hilfe ›gepflegter Unterhaltung‹ für Erholung, für ein gelegentliches ›Abschalten‹ zu sorgen. Kulturgeschichtlich ist daran immerhin bemerkenswert, dass eine solche folgenlose (bzw. _____________ 6
Ausführliche Erörterungen hierzu mit Quellennachweisen: ebd., S. 81-106, 199-224, 303-338, 377-388, 403-414, 445-448.
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für folgenlos gehaltene) ›Berieselung‹ ein gewisses Zivilisations- oder ›Anstands‹-Niveau nicht unterschreiten darf. Derb-Sinnliches, Horror, Pornographie oder Gewaltdarstellungen werden abgelehnt bzw. – zumindest nach außen hin – nur in deutlich geringerer Dosierung als in der Kompensationskultur akzeptiert. Volksstücke und Krimibestseller sind Kulturphänomene, an denen sich die in den Mittelschichten verbreiteten Rezeptionspraktiken und Lektüreanforderungen beispielhaft studieren lassen. Es ist hier auch keineswegs unüblich, mit Familienangehörigen oder Freunden über die letzte Strandlektüre oder über den letzten Musical-Besuch zu sprechen, doch hierbei steht nicht der intellektuelle Gehalt des Werkes, sondern sein Erlebniswert für den Rezipienten im Vordergrund. Eine entsprechende Besuchs- oder Lektüreempfehlung besagt demnach, dass das gelobte Werk erstens den Rezipienten zu ›fesseln‹ vermag, d.h. ein ›Abschalten‹ ermöglicht, und zweitens weder zu primitiv noch zu intellektuell ist. Das Wort ›Literatur‹ spielt in solchen Gesprächen keine Rolle. Es gehört zwar zum aktiven Wortschatz der Angehörigen dieser Schichten, wird jedoch nur sehr selten benutzt und hat dann überwiegend die Bedeutung ›hohe Literatur‹, ›nicht-unterhaltende Literatur‹, ›Lesestoff für Menschen mit höherer Bildung‹. Lesen kann in dieser Schicht durchaus zum Hobby werden, doch die damit verbundenen Hoffnungen und Erwartungen bleiben in der Regel gering. Erkenntnis, Orientierung und persönliche Anerkennung verschafft man sich im Beruf und im direkten Gespräch mit Familienangehörigen, Freunden, Vereinskameraden oder Nachbarn. Trotz dieser Marginalisierung der literarischen Kommunikation verdient die Literatur der Mittelschichten jedoch das Interesse der Literaturgeschichtsschreibung, und zwar deshalb, weil sie ein wichtiges Medium zur Ausformulierung, Durchsetzung und Konservierung ihrer so wirkungsmächtigen Normalitätsvorstellung war und ist. In der wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung fehlt es jedoch bisher an Hilfsmitteln, an Analysekategorien und oft wohl auch habitusbedingt an der Fähigkeit zu jener Selbstüberwindung, die bei der Bearbeitung dieses kultur-, mentalitätsund gesellschaftsgeschichtlich so bedeutsamen Arbeitsfeldes erforderlich wäre. 3. (›)Literatur(‹) in der gelehrten Kultur der Bildungseliten7 Die Angehörigen dieser Schicht verfügen über hohe und höchste Schulabschlüsse und Berufsqualifikationen. Als ›dominierte Fraktion der herrschen_____________ 7
Ausführliche Erörterungen hierzu mit Quellennachweisen: ebd., S. 43-46, 107-128, 249-276, 419-437, 442-445.
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den Klasse‹8 besitzt die Bildungselite jedoch in der Regel nur begrenzte Handlungs- und Entscheidungsgewalt in Politik und Wirtschaft, deutlich geringeres Privatvermögen und auch ein geringeres soziales Kapital als die eigentlichen Machteliten, weshalb ihre Lebensführung oftmals eher den Gegebenheiten in der Mittelschicht als denen in der Oberschicht, zu der gleichwohl oft allerlei Kontakte und Verbindungen bestehen, ähnelt. Während die Priester des Stammeszeitalters, dann die Geistlichen und die lateinischen Gelehrten des feudalistischen Zeitalters und schließlich die Bildungsbürger des langen 19. Jahrhunderts weniger als 1 % der Bevölkerung stellten, kann in der Wissensgesellschaft des demokratisch-pluralistischen Zeitalters nahezu ein Fünftel der Bevölkerung dieser Gruppe zugerechnet werden. Die Expansion der Bildungssysteme ging hierbei allerdings mit einer Inflation der Bildungsprädikate einher, die den Abstand zwischen Bildungs- und Machteliten tendenziell vergrößerte und dazu führte, dass Menschen mit höherer Bildung keine eigene Gesellschaftsschicht mehr bilden, sondern über sämtliche Mittel- und Oberschichtenmilieus verteilt sind. Interesse an höherer Literatur ist deshalb heute kein Indikator mehr für die Zugehörigkeit zu einem ganz bestimmten gesellschaftlich-lebensstilsoziologischen Milieu, sondern primär das Kennzeichen einer Berufsgruppe, nämlich der vielen professionellen Produzenten und Vermittler von (kanonisierter) Kultur wie zum Beispiel Lehrer, Journalisten, Schauspieler, Bibliothekare usw. Charakteristisch für das Freizeit- und Mediennutzungsverhalten der heutigen Intelligenz ist der von Bourdieu beschriebene Ekel vor dem Leichten, Seichten, Groben (der in der modischen, raffinierten Ironisierung bestimmter Elemente der Trivialkultur nicht seine Widerlegung, sondern natürlich seine subtilste Bestätigung findet, demonstriert doch nichts nachdrücklicher die Festigkeit der eigenen ästhetischen Einstellung als die Fähigkeit, dieselbe spielerisch auf dazu eigentlich nicht geeignete bzw. vorgesehene Objekte anzuwenden). An die Stelle bloßer Berieselung tritt der kritischselektive Umgang mit Programmzeitschriften und Buchkatalogen, wobei die Angebote geeigneter Anbieter wie z.B. Arte oder Suhrkamp mit habitualisierter ästhetischer Einstellung, also interesselosem Wohlgefallen und/oder kritisch-wissenschaftlicher Distanz, rezipiert werden. Gewiss gönnt man sich kleine Nachlässigkeiten (dann und wann einen Gutenachtkrimi, eine Länderspielübertragung, eine Modezeitschrift o.ä.), doch der dieser Schicht eingeräumte Spielraum des Verhaltens wird dabei insgesamt selten gesprengt. In der Literaturrezeption dominiert eine schulisch-philologische Lektürepraxis, zu der das Nachschlagen unbekannter Begriffe, das Aufdecken von Zitaten und Anspielungen, die Textunterstreichung und Randkommentie_____________ 8
Dazu Bourdieu: Unterschiede, S. 287 u.ö.
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rung, die Lektüre von Vor- und Nachwörtern, die Beschaffung und Auswertung von Sekundärliteratur sowie das quasi-philologische Interpretationsgespräch im Freundeskreis gehören. Zu den zahlreichen Anforderungen, die in dieser Schicht an die Lesestoffe gestellt werden, zählen insbesondere die gedankliche Tiefe, die psychologische Subtilität, die gestalterische Komplexität oder Originalität sowie der intellektuelle Rang, der es – beim Geheimtipp des Connaisseurs nicht minder als beim konventionelleren Verweis auf Kanonizität oder Kanonrelevanz – erlaubt, das Privatvergnügen der Lektüre auf beiläufige Weise mit dem Mehrwert der Akkumulation kulturellen Kapitals anzureichern. Das Lesen ist demnach in den Bildungseliten kein bloßes ›Hobby‹. Subjektiv wie objektiv wird hier vielmehr Ernst mit der Kunst gemacht, ja unter Umständen wird die Teilhabe an anspruchsvoller literarischer Kommunikation schlechterdings zum Nonplusultra der menschlichen Existenz erklärt. Von Schiller bis hin zu Ingeborg Bachmann stellt gerade die deutschsprachige Literatur bekanntlich eine Fülle ästhetischer Konzeptionen zur Auswahl, die eine solche Hochschätzung der künstlerischen Kommunikation zu legitimieren versuchen, – eine Hochschätzung, die in den anderen drei hier vorgestellten Hauptformen der Kultur mit Achselzucken, Augenbrauenhochziehen oder Lächeln quittiert wird. Es versteht sich, dass der Begriff ›Literatur‹ in der Bildungselite seine eigentliche Heimat, um nicht zu sagen: seine sicherste Bank besitzt. Aus dem Blickwinkel der Intelligenz besitzt nur sie selbst genügend literarische Bildung und eine ausreichend gefestigte ästhetische Einstellung, um Kanones zu legitimieren, Lehrpläne aufzustellen oder auch staatliche Kultursubventionen zuzuteilen. Mag hierin auch eine problematische Prise Selbstapotheose zu erkennen sein, so kann doch andererseits nicht das kulturhistorische Faktum geleugnet werden, dass die von den Bildungseliten betriebene Intellektualisierung der literarischen Kommunikation zu einer außerordentlichen Niveausteigerung sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht geführt hat. Es kann deshalb als List der kulturhistorischen Vernunft durchgehen, dass (auch) die Bildungseliten ihr eigenes Literaturkonzept für das einzig wahre, das einzig plausible, das einzig mögliche erklärten und damit die weitgehende Skotomisierung aller anderen Erscheinungsformen von literarischer Kommunikation innerhalb der von ihnen und ihrem Habitus geprägten Literaturwissenschaften beförderten.
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4. (›)Literatur(‹) in der Repräsentationskultur der Machteliten9 Zu den Machteliten gehören jene Familien und Individuen, die besonders hohen Einfluss in Wirtschaft, Politik und/oder Militär besitzen und die deshalb vor der Aufgabe stehen, Ehre, Macht und Reichtum zu inszenieren, zu verteidigen und zu legitimieren. Es waren zunächst die Stammeshäuptlinge, dann die Adeligen, danach die Besitzbürger und schließlich die modernen Besitz- und Funktionseliten (Unternehmer, Regierungsmitglieder, Topmanager usw.), die mitsamt ihren Familien diesen Personenkreis bilden, der – gerade in Deutschland – zumeist nicht nur über ein weit überdurchschnittliches Privatvermögen verfügt, sondern auch auf eine Kette ähnlich einflussreicher Vorfahren zurückblicken kann. Das Bildungsniveau in dieser Bevölkerungsgruppe ist außerordentlich hoch, wobei zur ›Bildung‹ nach dem Verständnis dieser Machtelite nicht nur akademische Abschlüsse und berufliche Qualifikationen gehören, sondern auch ein weltmännisches Auftreten, eine höhere Lebensart, eben ein gewisses Etwas, das den Abstand zu den Angehörigen der Bildungseliten ausmacht und das den Mann von Geschmack und Herkunft vom homo novus (Bildungsaufsteiger oder nouveau riche) unterscheidet.10 Die Teilhabe an literarischer Kommunikation ist in dieser Bevölkerungsgruppe als integraler Bestandteil eines aufwändigen höheren Lebensstils anzusehen, an dem die Angehörigen der Bildungseliten nur in geringem Ausmaß oder gar nicht partizipieren und zu dem u.a. eine gehobene Wohn-, Bekleidungs-, Tafel- und Festkultur gehören. Neben der Passion für die Jagd, das Polospiel, den Wein oder die Oper kann hier auch eine echte Passion für die Literatur entstehen, die sich z.B. in mäzenatischen Gesten oder bibliophiler Liebhaberei manifestiert (und die aus dem Blickwinkel der Bildungseliten eher aus einer Veredlung der mittelschichtenspezifischen Hobby- und Unterhaltungslektüre als aus der unvollkommenen Adaption bildungsschichtenspezifischer Rezeptionsmuster entsteht). Zwar muss auch hier die Lektüre ›Niveau‹ haben, doch verstanden wird darunter in erster Linie eine Form der sprachlichen und geistig-seelischen ›Kultiviertheit‹, die mehr auf die Verfeinerung des ästhetischen Empfindens (Geschmacksbildung) als auf die intellektuelle Durchdringung philosophischer oder gesellschaftlicher Probleme abzielt. Der Rezeptionspraxis der Bildungseliten haftet aus dem Blickwinkel dieser Bevölkerungsgruppe etwas Philiströses, Trockenes, Pedantisches, Schulmäßiges, Unsouveränes an. Die Teilhabe an literarischer Kommunikation ist in der Machtelite Ausdruck und Element eines Savoir-vivre, das von _____________ 9 10
Ausführliche Erörterungen hierzu mit Quellennachweisen: Schneider: Sozialgeschichte, S. 37-42, 129-152, 225-248, 353-376, 438-442. Dazu Bourdieu: Unterschiede, S. 125-133.
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der gelehrten Rezeptionspraxis verfehlt wird und das die intellektuellen Bemühungen der Schulmeister so bemüht wie vergeblich erscheinen lässt. Höher als editionsphilologisch korrekte Studienausgaben stehen hier kostbar ausgestattete Sammlereditionen und bibliophile Raritäten im Kurs. Der Begriff ›Literatur‹ ist in den Machteliten durchaus gängig, hat hier jedoch einen anderen Klang als in den Bildungseliten. Er ist mit Begriffen wie ›Kulturgut‹, ›Traditionspflege‹ oder ›Besinnung auf (nationale/humanistische/christliche u.ä.) Werte‹ verknüpft, während in den Bildungseliten tendenziell eine distanziertere, kritischere, neutral-objektivere Einstellung gegenüber den Gegenständen der philologischen Analyse gefordert und übernommen wird. Wie sich an Person und Werk Hofmannsthals oder Thomas Manns zeigen lässt, gibt es – aus leicht einzusehenden Gründen – mannigfaltige Versuche zur Verschmelzung beider Sphären. II Es kann nicht die Aufgabe der Literaturwissenschaft sein, einen der vier oben geschilderten Literaturbegriffe zu übernehmen, durchzusetzen, zu verabsolutieren, zu ›verwissenschaftlichen‹. Vielmehr müssen alle vier Hauptformen der literarischen Kommunikation zur Kenntnis genommen und wissenschaftlich analysiert werden. Dass dies bisher nicht in angemessener Weise geschieht, hat zwei Ursachen: extrinsisch Habituseffekte und intrinsisch Dynamisierungseffekte. 1. Extrinsische Ursachen: Habituseffekte Zu den Schlüsselqualifikationen eines jeden Wissenschaftlers gehört die Fähigkeit, den Gegenständen seiner Wissenschaft gegenüber eine wissenschaftliche Einstellung einnehmen zu können.11 Diese Einstellung ermöglicht es ihm, Angst, Ekel, Scham, Befangenheit, Verachtung und ähnliche Empfindungen zu überwinden und als Biologe den Skorpion, als Mediziner die Inkontinenz, als Psychologe das Tourette-Syndrom, als Jurist den Massenmord oder als Soziologe die Verwahrlosung zur Kenntnis zu nehmen und sachlich zu analysieren. Die wissenschaftliche Einstellung lässt sich aller_____________ 11
Zur Klassifikation der inzwischen mehr als 100 konkurrierenden Definitionen des Begriffs ›Einstellung‹ vgl. Bonfadelli: Medienwirkungsforschung, S. 87-95. Im Folgenden wird mit einer gegenüber Rickert, Husserl und den Protagonisten des Werturteilsstreites defensiveren Konzeption von ›wissenschaftlicher Einstellung‹ gearbeitet, die im Sinne von Bourdieu v.a. das Vermögen und die Bereitschaft meint, die Rahmenbedingungen, unter denen sich in einer gegebenen sozialen und geschichtlichen Situation der ›Wissenschaftlichkeitseffekt‹ herstellen lässt, selbstkritisch zu reflektieren (siehe Bourdieu: Homo academicus, hier v.a. S. 74).
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dings nicht ein für allemal ›anknipsen‹. Sie wird von Tag zu Tag erkämpft, manchmal auch teuer – gesundheitlich – bezahlt. Wer diese Einstellung jedoch nicht einzunehmen vermag, ist in seiner Zunft fehl am Platze. In der Philologie (und vielen anderen Kulturwissenschaften) wird noch immer vielfach die ästhetische Einstellung12 als Surrogat für die echte wissenschaftliche Einstellung benutzt und akzeptiert. In der Tradition der idealistischen Ästhetik ist es sogar möglich und bis heute durchsetzbar, diese ästhetische Einstellung als die einzige sachangemessene Einstellung, also als die genuine Erscheinungsform der wissenschaftlichen Einstellung im Feld der Literaturwissenschaften, auszugeben. Auch die Wende von den Geistes- zu den Kulturwissenschaften hat bisher keinen durchgreifenden Übergang von der ästhetischen zur wissenschaftlichen Einstellung, sondern lediglich eine Erweiterung des Gegenstandsbereiches mit sich gebracht. Mit ästhetischer Einstellung werden jetzt auch solche Objekte analysiert, bei denen eine derartige Behandlung bisher als unergiebig oder gar als Geschmacklosigkeit galt, weil – mit Kant zu reden13 – Reiz und Rührung dabei ins Spiel zu kommen drohten. Man denke hier etwa an die diversen Körperteile des Menschen, deren literarischer Darstellung Aufmerksamkeit geschenkt wurde, oder an literaturwissenschaftliche Arbeitsthemen wie die Sinnlichkeit, die Sinneswahrnehmung, die Affekte, die Geschlechtlichkeit usw. Bei vielen dieser Arbeiten handelt es sich – entgegen der Selbstwahrnehmung ihrer Verfasser und der obligatorischen methodologischen Selbstverortung im Einleitungskapitel – de facto um geistesgeschichtlich grundierte Arbeiten zur Motivgeschichte, in denen die intellektuelle Durchdringung unintellektueller (bzw. bisher für intellektuell unergiebig gehaltener) Phänomene vorgeführt wird. Man erfährt also darin nicht mehr, was Schiller, Thomas Mann und Peter Handke über Freiheit, Sprache und Identitätsfindung dachten, sondern was sie über Haut und Haare, Herz und Hirn, Hass und Heimweh geschrieben haben und wie sich dies zu einer Entwicklungslinie ›des‹ Denkens über solche Phänomene zusammenfügen lässt. Darin liegt ein Fortschritt, aber noch kein Durchbruch. Eine Kulturwissenschaft, die ihren Namen verdient, hätte z.B. vergleichend nach der Behandlung bestimmter Themen, Stoffe und Motive bzw. nach der Verwendungsweise bestimmter Gestaltungstechniken oder Stilelemente in den oben vorgestellten vier Hauptformen der literarischen Kommunikation zu fragen. Beispiele: Wie wird der Kolonialismus um 1900 in der Literatur _____________ 12 13
Detaillierte Erklärung des Terminus bei Bourdieu: Unterschiede, S. 57-81. Kant: Urteilskraft, S. 138 (= A 38; B 38): »Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er die Beimischung der R e i z e und R ü h r u n g e n zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht.«
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der Bildungseliten und im Kolportageroman thematisiert? Welche Funktionen hat im 19. Jahrhundert die Blamage im Schwank (Mittelstand) und in der Erziehungsliteratur für höhere Töchter (Machtelite)? Wann, wo und warum näherten sich einerseits die Kulturen der Macht- und der Bildungselite bzw. andererseits die der Machtelite und des Mittelstandes einander an? Welche Funktionen hat die Erlebte Rede im Groschenroman und im anspruchsvollen Roman? Gibt es im Frauenroman der Mittelschichten (Danella) emanzipatorische Tendenzen, die denen im anspruchsvollen feministischen Roman ähneln? Wie wird in der neueren esoterischen Literatur (Silver Raven Wolf, Clarissa Pinkola Estés usw.) im Unterschied etwa zur Ökolyrik die ökologische Problematik gelöst? Greift der aktuelle gewaltund geschichtsverherrlichende Soldatengroschenroman (›Landser‹) auf ästhetische Innovationen der nationalkonservativen Literatur (Jünger) zurück? Wie verhält sich der Heimatroman zur Regionalismus-Mode in der Hochliteratur? Diese Fragen sind nicht ›spannend‹ in dem Sinne, in dem das Wort bis zum Überdruss in der philologischen Zunft benutzt wird. Es lassen sich nicht sofort Funken daraus schlagen, sondern es sind mühselige, aufwändige Recherchen durchzuführen. Schon die Editionslage ist meistens sehr problematisch, Hilfsmittel und Analysekategorien fehlen. 2. Intrinsische Ursachen: Dynamisierungseffekte Dass die Wende hin zur wissenschaftlichen Einstellung bisher unterblieb, hat auch (scheinbar) intrinsische Gründe: In der demokratisch-pluralistischen Gegenwartsgesellschaft erreicht die soziale Mobilität ein derartiges Ausmaß, dass für ungeschulte Beobachter eine Zuordnung kultureller Phänomene zu bestimmten Positionen im sozialen Raum kontraintuitiv oder schlechterdings unmöglich scheint. Gerade ›die‹ Literatur wird hierbei nicht selten als ›klassenloses‹, alle und jeden betreffendes und ansprechendes Phänomen wahrgenommen, ja es scheint manchen ein Akt des Reduktionismus, wenn nicht gar des Banausentums zu sein, derartige Korrelationen überhaupt ins Spiel zu bringen. Ob ein Buch bei Suhrkamp oder bei Bastei-Lübbe erscheint, ob es in der Zeit oder in der Bild beworben wird, ob es im Fachbuchhandel oder an der Tankstelle zu kaufen ist, wird allerdings niemand ernsthaft als Produkt des Zufalls bezeichnen wollen. Von den Literaturagenten über die Verlagslektoren bis hin zu den Werbefotografen bestreiten ganze Branchen ihren Lebensunterhalt damit, ein Buch an den ›richtigen‹ Mann und die ›richtige‹ Frau zu bringen. Dabei mögen Fehleinschätzungen vorkommen. Doch insgesamt ist es erstaunlich, mit welcher Sicherheit Brancheninsider
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aus dem Distributionssektor prognostizieren können, wo sich welches Buch wie oft verkaufen lässt.14 Wie ist aber dann die beschriebene Unfähigkeit und Unwilligkeit überhaupt zu erklären? Vier Gründe seien hier näher erörtert: a. Verwechslung der Beschreibungsebenen Für alle vier vorgestellten Haupttypen der literarischen Kommunikation in Deutschland gilt, dass sie Korrelationen zwischen bestimmten kulturellen Praktiken und bestimmten Positionen im sozialen Raum beschreiben. In sozial (relativ) mobilen Gesellschaften wie der deutschen Gesellschaft des demokratisch-pluralistischen Zeitalters können Individuen ihre Position im sozialen Raum verändern und demnach im Verlauf ihres Lebens an zwei oder sogar mehr Hauptformen der literarischen Kommunikation teilhaben. Das Lektüreverhalten eines Individuums stellt deshalb heute nicht selten ein Gemisch aus zwei, für je unterschiedliche Hauptformen der literarischen Kommunikation charakteristischen Verhaltensweisen dar.15 Kaum jemand ist ganz und gar einem einzigen Milieu zuzuordnen und ausschließlich von diesem Milieu geprägt. Das ändert aber nichts an der Korrelation zwischen kultureller Praxis und sozialer Position. Ein vielseitiger Spieler mag mal als Stürmer und mal als Torwart agieren, doch nur als Torwart darf er die Hände zu Hilfe nehmen. b. Verwechslung von Synchronie und Diachronie Auch die kulturellen Objekte selbst können im Laufe ihrer Entwicklung eine Statusveränderung erfahren. So ist beispielsweise das Volkslied im späten 18. Jahrhundert ›aufgestiegen‹, während der Roman im Verlauf des 19. Jahrhunderts einen ›Abstieg‹ erlebte. Spricht man nun über ›das‹ Volkslied im Allgemeinen, so kann man bei undifferenzierter Betrachtung zu dem Schluss gelangen, dass diese Gattung – und eigentlich alle anderen ja auch – keine Zuordnung zu einer der vier genannten Hauptformen von literarischer Kommunikation erlaubt. Weiter hilft hier nur die Frage, welche Schichten unter den Rezipienten einer bestimmten Gattung zu einem konkreten Zeitpunkt über- und welche unterrepräsentiert waren. Im Zweifelsfall kann man sich auf die Distributionsumstände beziehen, um zuverlässig Klarheit zu schaffen. So ging die romantische ›Aufwertung‹ des Volksmärchens mit einem Wechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit einher, der – angesichts der damaligen Alphabetisierungsquote von unter 20 % – eine soziale Neuadressierung dieser Gattung implizierte. _____________ 14 15
Vgl. Behm / Hardt / Schulz / Wörner: Büchermacher, S. 111-116. Dazu Bourdieu: Unterschiede, S. 187-193.
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c. Verwechslung von Kulturobjekt und Aneignungsweise Den einzelnen Bildungs- und Gesellschaftsschichten lassen sich jeweils charakteristische Formen des Mediennutzungsverhaltens sowie charakteristische Prozeduren der Literaturaneignung zuordnen. Und der Kunstmarkt stellt, heutzutage unterstützt durch ein professionelles Kulturmarketing, Kulturobjekte (Kunstwerke) bereit, die diesen charakteristischen Verhaltens- und Aneignungsweisen entgegenkommen. In der Regel findet deshalb ein Buch ›seinen‹ Käufer, wird also erfolgreich seinem ›bestimmungsgemäßen‹ Gebrauch zugeführt. Doch in diesem komplizierten Distributionsprozess kann es zu allerlei Pannen und auch zu gezielten Fehlkäufen und zu Experimenten kommen. Nicht jeder besitzt z.B. die Erkennungskompetenz, die erforderlich ist, um das ›richtige‹ Buchgeschenk für den Nachbarn oder den Kollegen zu finden. Phänomene wie der Kitsch oder die Buchmagie beweisen zudem, dass ein nicht-bestimmungsgemäßer Gebrauch von Kulturobjekten durchaus möglich, ja unter Umständen sogar funktional ist.16 Manchmal herrscht auch angesichts des medialen Überangebotes wirkliche Desorientierung vor. Und außerdem ist für einige Bildungs- und Gesellschaftsschichten (stark von der Jugendkultur beeinflusstes hedonistisches und alternatives Milieu; Bevölkerungsanteil zusammen ca. 14 %) die Lust an unkonventionellen Experimenten charakteristisch, was sich nicht nur in Wohn- oder Bekleidungsstilen, sondern auch in der Selektion von Lesestoffen niederschlägt.17 Dass private Büchersammlungen fast immer recht ›bunt‹ und heterogen sind, ist aus allen diesen Gründen leicht nachvollziehbar. Jedenfalls kann daraus aber nicht geschlossen werden, dass das moderne Individuum auch in seinem tatsächlichen Nutzungs- und Aneignungsverhalten nur seinen ganz persönlichen Vorlieben und Interessen folgt. d. Verwechslung von Selbst- und Fremdwahrnehmung Wessen Position im sozialen Raum sich verändert, der muss eine entsprechende Veränderung seines Habitus vornehmen, um auf seiner neuen Po_____________ 16
17
Beim Kitsch handelt es sich – kultursoziologisch betrachtet – um ursprünglich für eine Rezeption im Modus des interesselosen Wohlgefallens bestimmte Objekte, deren Potential zur Erzeugung von ›Reiz und Rührung‹ (s.o.) durch entsprechende ›Verschlimmbesserung‹ so erhöht wird, dass es den Geschmacksdispositionen der Unterund Mittelschichten entspricht. Bei der populären Buchmagie (z.B. Auflegen von Weisheitsbüchern auf erkrankte Organe) handelt es sich um eine vorintellektuelle Fetischisierung des Buches als eines Trägers unendlicher Weisheiten und spiritueller, wunderartiger Wirkungskräfte. Dazu ausführlich Schneider: Sozialgeschichte, S. 327-338, 403-414, 416-418.
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sition wirklich ›anzukommen‹. Doch die Bewältigung dieser Aufgabe setzt Ambitionen, Kompetenzen und Anpassungsleistungen voraus, die nicht jedermann zu erbringen bereit und imstande ist. Sowohl Auf- als auch Abstiege gehen mit neuartigen gesellschaftlichen Verpflichtungen, Selbstdisziplinierungszwängen oder auch Notwendigkeiten zur Veränderung des Sprechverhaltens einher. Dies alles kann Verunsicherung erzeugen oder primär als Unbequemlichkeit wahrgenommen werden. Nicht selten unterbleibt deshalb eine eigentlich überfällige Habitusnachführung bzw. wird erst in der Generation der Erben nachgeholt. Dieses Phänomen der Habitusperseveranz erzeugt einen aus der kultursoziologischen Analyse herauszurechnenden Verzögerungs- und Verzerrungseffekt. Wo der Habitus regelrecht zu einem Kerker oder Panzer geworden ist, kann dieses Phänomen die subjektive Bereitschaft zum Nachvollzug der kultursoziologischen Analyse schmälern. Der solcherart Einzementierte kann sich dann schlechterdings nicht vorstellen, dass jemand kein Lexikon im Haus hat, nicht für den und den Schlagersänger schwärmt, den Namen Shakespeare nicht kennt oder sich nicht für Fußball begeistert. Eine mit wissenschaftlicher Einstellung betriebene Kulturgeschichtsschreibung steht vor der Herausforderung, sich in sämtliche Habitus zumindest bis zu jenem Grade hineindenken und hineinversetzen zu können, der eine zuverlässige Rekonstruktion der jeweiligen Selbstwahrnehmung der Schichtenangehörigen ermöglicht. Man wird hierbei an Grenzen stoßen. III Im ersten Band seines vielzitierten Standardwerkes Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration von 1983 schreibt Gerhard Schulz: Unterhaltungsliteratur als triviale, ephemere Kunst ist stets derivativ. Sie leiht sich nicht nur Gestalten, Motive und Themen von anderer Literatur aus, sondern auch die Konflikte und deren Lösungen, die sie nur dem Geschmack des erwarteten Publikums zuliebe ein wenig zubiegt oder ausschmückt und jedenfalls verflacht.18
Im 1989 publizierten zweiten Band desselben Werkes lesen wir: Alle solche Literatur [sc. Unterhaltungsliteratur, J.Sch.] beläßt im Kopfe der Lesenden die Wirklichkeit unverändert. Ihr Wunsch ist nicht, die Leser in ihrer wirklichen Welt zu beunruhigen und sie darüber nachdenken zu lassen, sondern sie darin zu bestätigen. Nur unter dieser Voraussetzung ist Unterhaltungsliteratur in großen Mengen und immer wieder konsumierbar. Sie zielt also grundsätzlich nicht auf eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und läuft deshalb neben der, aus dieser Absicht entstandenen,
_____________ 18
Schulz: Literatur. Teil 1, S. 270.
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Sprachkunst einher, nur äußerlich oder gar nicht beeinflußt von deren Bewegungen und Tendenzen.19
Aus dem Blickwinkel der modernen Textwirkungsforschung ist an diesen Behauptungen einiges richtig und vieles falsch.20 Zitiert werden sie hier aber nur, um zu veranschaulichen, wie durch die Brille der ästhetischen Einstellung drei der vier Hauptformen von literarischer Kommunikation zu einem Sekundär- bzw. zu einem Epiphänomen deklariert werden können. Die dieser Vorstellung zugrunde liegende Vindikation von kultureller Führerschaft gehört gewiss zu den traditionsreichsten Selbstermächtigungsphantasmen der Bildungseliten und erlaubt es in mustergültiger Weise, den Gegenstand der Literaturgeschichtsschreibung weitestgehend auf jene Phänomene zu reduzieren, die sich unter Beibehaltung einer ästhetischen Einstellung (d.h. ohne Wechsel zur wissenschaftlichen Einstellung) wahrnehmen und analysieren lassen. So gönnt sich Schulz zwar den einen und anderen Seitenblick auf die von ihm ohne weitere Differenzierung so genannte ›Unterhaltungsliteratur‹, doch eine systematische Aufarbeitung der Erscheinungsformen und Funktionen dieser ›anderen‹ Literatur unterbleibt. Schulz war und ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Und dabei hieße es, derartige Skotomisierungen fälschlich für mehr als eine Verlegenheitslösung zu halten, wollte man darin einen Versuch der Gelehrtenkultur erblicken, sich allen Ernstes zum historischen Subjekt der Gesamtkulturentwicklung aufzuschwingen. Vielmehr dürfte es sich bloß um die spezifische Erscheinungsform einer Universalisierungsgeste handeln, die in allen vier Hauptformen der literarischen Kommunikation anzutreffen ist. Denn auch in der Kompensationskultur, stärker noch in der Repräsentationskultur und erst recht in der ›normalen‹ (s.o.) Unterhaltungskultur begegnet man immer wieder der Vorstellung, dass die eigene Kulturform die wahre, die beste, die einzig mögliche ist (›Das musst Du unbedingt lesen!‹). So erscheinen Mediennutzungsverhalten und Rezeptionsprozeduren der Bildungseliten aus dem Blickwinkel der Kompensationskultur als blutarm und langweilig, aus demjenigen der mittelständischen Unterhaltungskultur als abseitig und realitätsfern und schließlich aus demjenigen der Repräsentationskultur als pedantisch und philiströs. Diese Liste ließe sich zu einem Tabellarium gängiger wechselseitiger Missverständnisse ausbauen, doch was hier interessiert, ist lediglich die anhand dieser unilateralen Verkennungen leicht zu veranschaulichende Notwendigkeit, allen vier Hauptformen der literarischen Kommunikation ihre _____________ 19 20
Schulz: Literatur. Teil 2, S. 537. Dies gilt sowohl für die Behauptungen hinsichtlich der Unterhaltungsliteratur als auch für diejenigen hinsichtlich der Sprachkunst. Dazu zusammenfassend: Bonfadelli: Medienwirkungsforschung, S. 261-268.
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je eigene Funktion und ihre je eigene Entwicklungsdynamik zuzubilligen. Natürlich gibt es, wie oben gezeigt, gerade in offenen Gesellschaften eine Fülle von Berührungspunkten zwischen den vier Kulturen. Doch derartige Kontakte sollten nicht als ›derivative‹ Relationen eingestuft werden. So wenig, wie Thomas Manns Doktor Faustus ein verunglückter HorrorRoman ist (Bottom-up-Perspektive), so wenig ist Karl Mays Waldröschen ein missratener Bildungsroman (Top-down-/Trickle-down-Perspektive). IV Wie kann und soll aber ein Literaturbegriff aussehen, der die literarische Kommunikation in allen ihren vier Haupterscheinungsformen zu erfassen erlaubt? Wie schon eingangs erwähnt, muss ein solcher Literaturbegriff einerseits variabel und andererseits weitgefasst sein. 1998 habe ich zur Lösung dieses Problems das so genannte Dreikreisschema vorgestellt, das auf der Kombination von drei Begriffsmerkmalen beruht und zu einem je nach Gebrauchszusammenhang variabel aus sieben Teilmengen zusammensetzbaren Literaturbegriff führt.21 Das Schema basiert auf folgender, im Anschluss genauer zu erklärender Literaturdefinition: Ein literarischer Text ist eine finite Sequenz von Laut- oder Schriftzeichen, die (a) fixiert und/oder (b) sprachkünstlerisch gestaltet und/oder (c) ihrem Inhalt nach fiktional sind. - Text: Als ›Text‹ wird hier eine finite Sequenz sprachlicher Zeichen definiert, wobei es sich um Phoneme oder Grapheme handeln kann, so dass die diversen Varietäten der oral poetry mitberücksichtigt sind. Ein Happening wäre also z.B. (nur) dann als literarisches Phänomen anzusprechen, wenn es Phonemsequenzen enthält oder (wenigstens partiell) auf einem Textsubstrat aus Graphemen beruht. - fixiert: ›Fixierung‹ meint die (auf Dauerhaftigkeit angelegte, relativ stabile) Konservierung von Graphem- und/oder Phonemsequenzen. Als Speichermedium wird hierbei neben Marmorplatte, Pergamentrolle, Buch, CD, Festplatte, Recorder usw. auch das menschliche Gehirn angesehen. Das (relativ zuverlässige) Auswendiglernen von oral poetry wird demnach auch als Fixierung aufgefasst. - sprachkünstlerisch gestaltet: ›Sprachkünstlerische Gestaltung‹ wurde und wird in verschiedenen Epochen, (Bildungs-)Schichten und ästhetischpoetologischen Schulen verschiedenartig definiert. In der Regel wird jedoch bei der konkreten praktischen Unterscheidung zwischen unter die_____________ 21
Schneider: Literaturwissenschaft.
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sem Aspekt literarischen und nicht-literarischen Texten mit nur zwei Kriterien gearbeitet. Das erste, ältere dieser beiden Kriterien rekurriert auf eine – aus heutiger Sicht vielleicht eher kunstgewerblich als künstlerisch zu nennende – Vorstellung von besonderer Komplexität der Diktion. Indizien hierfür wären z.B. die gehäufte Verwendung rhetorischer Elemente (ornatus/Redeschmuck), einer verzwickten Syntax, eines erlesenen Vokabulars oder komplizierter Vers- und Strophenformen. Komplexität wird hierbei manchmal als potenzierte Regelkonformität aufgefasst. Das zweite, neuere Kriterium rekurriert auf die Individualität der Diktion. Als charakteristisch hierfür gelten z.B. autorspezifische Satzbaupläne, Interpunktionsprinzipien, Neologismen oder Metaphern und ähnliche Eigenarten des innovativen idiolektalen Sprechens oder Schreibens. - fiktional: Auch ›Fiktionalität‹ wurde und wird in den verschiedenen Epochen, (Bildungs-)Schichten und ästhetisch-poetologischen Schulen verschiedenartig definiert. Als recht zuverlässige Indizien zur Unterscheidung zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten können in der Praxis die Innenweltdarstellung und die Detailfülle gelten: (1.) In den Oktobertagen des Jahres 1813 begann Napoleon stets zeitig mit der Schlachtplanung. (2.) Am 15. Oktober 1813 stand Napoleon früh auf und begann sofort mit der Schlachtplanung. (3.) Am 15. Oktober 1813 schlug Napoleon schon kurz nach fünf Uhr seine Bettdecke zurück und trat an den Kartentisch, um die Schlachtplanung zu kontrollieren. (4.) Am 15. Oktober 1813 schlug Napoleon schon wenige Minuten nach fünf Uhr mit einem Seufzer seine wattierte Bettdecke zurück und trat an den Kartentisch, um seine Pläne vom Vorabend noch einmal mit der beschlossenen Schlachtordnung zu vergleichen. (5.) Am 15. Oktober 1813 schlug Napoleon schon wenige Minuten nach fünf Uhr mit einem bekümmerten Seufzer seine wattierte, aber kaum wärmende Bettdecke zurück und trat mit einem unguten Gefühl an den verhaßten Kartentisch, um seine Ideen vom Vorabend noch einmal mit der beschlossenen Schlachtordnung zu vergleichen. Auch wenn wir als Leser womöglich nicht genau abschätzen können, welche Fülle an Details aus dem Leben Napoleons der Geschichtswissenschaft überhaupt bekannt sind, werden wir doch den fünften Satz höchstwahrscheinlich von vornherein für literarisch-fiktional erklären. Innenwelt- und Detaildarstellung erreichen hier ein Ausmaß, wie es selbst bei einem möglichen Rückgriff auf Tagebucheintragungen ungewöhnlich wäre, und folgerichtig unterstellen wir, daß der Verfasser einen Teil seiner Informationen fingiert hat. Ziehen sich derartige Passagen über mehrere Seiten hin oder gar durch ein ganzes Buch hindurch, so wird unsere Ahnung beinahe zur Ge-
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wißheit, und der Autor würde arg in Beweisnot geraten, wenn er uns einen solchen Text als nicht-fiktionale, z.B. geschichtswissenschaftliche Darstellung verkaufen wollte.22
Dies gilt natürlich auch für den Fall, dass der Name ›Napoleon‹ dem Leser vollkommen unbekannt wäre. Wie kann nun aber aus der Kombination der drei vorgestellten Definitionsmerkmale ein weitgefasster, variabel handhabbarer Literaturbegriff gewonnen werden? Dazu hier aus der eben zitierten Einführung das besagte Dreikreisschema mit einigen Erläuterungen:
L 1 (Fixierung und künstlerische Sprachverwendung und Fiktionalität) Zu dieser Schnittmenge, die im Dreikreisschema die Zentralposition besetzt, gehören Texte wie z.B. Goethes Wahlverwandtschaften, Thomas Manns Zauberberg oder Hugo von Hofmannsthals Elektra. [...] Wenn die zuverlässige Abspeicherung im Gedächtnis (zuverlässiges Auswendiglernen) – wie oben vorgeschlagen – als Fixierung aufgefaßt wird, ist darüber hinaus auch der größte Teil der ›Oral poetry‹, die seit den 80er Jahren stärker erforscht wird, dieser Gruppe zuzurechnen. L 2 (Fixierung und künstlerische Sprachverwendung, aber keine Fiktionalität) In diese Schnittmenge gehören Textgattungen wie z.B. der Brief, das Tagebuch, die Autobiographie, der Reisebericht, die (feuilletonistische) Glosse oder der Essay. Als Beispiele wären etwa Goethes Briefwechsel mit Schiller, Hebbels Tagebücher oder Alexander von Humboldts Reisebeschreibungen zu nennen. [...] L 3 (Fixierung und Fiktionalität, aber keine künstlerische Sprachverwendung) In diese Schnittmenge gehört vor allem der größte Teil der sogenannten ›Trivialliteratur‹. Die sprachliche Gestaltung von Texten dieses Typs wird im allgemeinen (und manchmal vielleicht etwas zu pauschal und zu voreilig) für nicht-komplex und für nicht-in-
_____________ 22
Ebd., S. 12f.
452
Jost Schneider
novativ gehalten. Als Beispiele wären etwa Groschenhefte, Schlagertexte oder Stücke für das Volkstheater zu nennen. [...] L 4 (Fiktionalität und künstlerische Sprachverwendung, aber keine Fixierung) Zu dieser Schnittmenge gehören vor allem bestimmte Formen der sogenannten ›Alltagserzählungen‹, also z.B. spontan improvisierte Gute-Nacht-Geschichten oder gleichnishaft-didaktische Erzählungen, sofern sie ad hoc erfunden und nicht weitgehend aus der Erinnerung geschöpft sind. Die literaturwissenschaftliche Analyse von Texten dieses Typs setzt schwierige empirische Vorarbeiten voraus und ist erst seit den 1980er Jahren in Gang gesetzt worden. Lyrische Texte sind in dieser Gruppe in der Minderzahl; im Bereich des Dramas wäre vor allem an das Stegreiftheater zu denken. Auch manche Formen der für das Internet geschriebenen Literatur können (tendenziell) dieser Gruppe zugeordnet werden. L 5 (Fiktionalität, aber keine künstlerische Sprachverwendung und keine Fixierung) Hierzu gehören ebenfalls in erster Linie bestimmte Formen der ›Alltagserzählung‹, und zwar beispielsweise prahlerische ›Lügen‹- und Phantasiegeschichten von Jugendlichen (Weiterspinnen von Filmhandlungen, von Comicgeschichten u.ä.) oder monologische bzw. selbstgesprächartige, detailliert ausgemalte Rachephantasien. Texte dieses Typs haben die Literaturwissenschaft bisher kaum beschäftigt. L 6 (Künstlerische Sprachverwendung, aber keine Fiktionalität und keine Fixierung) In diese Teilmenge gehören z.B. Stegreifansprachen im feierlich-gehobenen Stil, Diskussionsbeiträge in geschliffener Sprache oder Wortspiele in der Alltagskommunikation. Texte (bzw. Textpassagen) dieses Typs sind nur von denjenigen Literaturwissenschaftlern stärker beachtet worden, die das stark rhetorisch geprägte Sprechen für eine wesentliche Grundlage des literarischen Sprechens halten. L 7 (Fixierung, aber keine Fiktionalität und keine künstlerische Sprachverwendung) Hierzu zählen z.B. Telefonbücher, Gebrauchsanweisungen und Kochrezepte, aber auch – sofern man sie nicht der Kategorie L 2 zuordnen kann – die sogenannte ›aleatorische Dichtung‹ (Zufallsdichtung), die im Dadaismus, Futurismus und Surrealismus relativ verbreitet war und die heute v.a. in der mit Zufallsgeneratoren erzeugten Computerlyrik eine Wiederbelebung erfährt. Texte dieses Typs finden (verstärkt seit den 60er Jahren) bei denjenigen Literaturwissenschaftlern Interesse, die sich mit (tiefen-) psychologischen Aspekten der Textproduktion oder -rezeption beschäftigen, sowie bei denjenigen, die aufgrund bestimmter sprachtheoretischer Vorannahmen das Lesen für eine sehr aktive, überwiegend kreative Tätigkeit halten. Auch in der Assyriologie, der Hethitologie und anderen relativ quellenarmen Philologien wird häufig ein großzügiger Literaturbegriff verwendet, der Texte der Kategorie L 7 mit einschließt.23
V Für die vier beschriebenen Hauptformen der literarischen Kommunikation sind die sieben Teilmengen des Dreikreisschemas von jeweils unterschiedlicher alltagspraktischer Relevanz: _____________ 23
Ebd., S. 13-17.
453
Die Sozialgeschichte des Lesens und der Begriff ›Literatur‹
L1
L2
L3
L4
L5
-
-
+
+
+
-
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-/ +/-
Kompensationskultur Unterhaltungskultur Gelehrte Kultur Repräsentationskultur
L6
L7
Kompensationskultur
Unterhaltungskultur
Gelehrte Kultur
Repräsentationskultur
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Jost Schneider
Über einige Eintragungen in dieser Tabelle und über einige Schattierungsgrade in den Graphiken lässt sich streiten. Zur wissenschaftlichen Analyse der literarischen Kommunikation in ihren vier Haupterscheinungsformen bedarf es aber jedenfalls eines alle sieben Teilmengen umfassenden Grundverständnisses von literarischer Kommunikation. Mit welchem Literaturbegriff dann im Einzelfall zu arbeiten ist, wie viele und welche der sieben Teilmengen also jeweils Berücksichtigung finden sollen, hängt von der konkreten Fragestellung ab. Fatal wäre es aber offensichtlich, wollte sich der Literaturwissenschaftler zum Anwalt dieser oder jener Kulturform machen und bestimmte Teilmengen a priori ausblenden. Der Literaturbegriff der heutigen Literaturwissenschaft sollte weit gefasst sein und je nach Gebrauchszusammenhang neu kalibriert werden. Bibliographie Behm, Holger / Gabriele Hardt / Hermann Schulz / Jochen Wörner: Büchermacher der Zukunft. Marketing und Management im Verlag. 2., grundlegend überarb. Aufl. Darmstadt 1999. Bonfadelli, Heinz: Medienwirkungsforschung. Bd. 1: Grundlagen und theoretische Perspektiven. Konstanz 1999. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt/M. 1987 (Erstdruck frz. u.d.T. ›La distinction. Critique sociale du jugement‹, Paris 1979). Bourdieu, Pierre: Homo academicus. Übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurt/M. 1992 (Erstdruck frz., Paris 1984). Bourdieu, Pierre: Lektüre, Leser, Gebildete, Literatur. In: P.B.: Rede und Antwort. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Frankfurt/M. 1992 (Erstdruck frz. u.d.T. ›Choses dites‹, Paris 1987). Foucault, Michel: L’ordre du discours. Paris 1971. Hebbel, Friedrich: Tagebücher. Hg. und mit Anm. vers. von Karl Pörnbacher. Bd. 3. München 1984. Kant, Immanuel: Werkausgabe. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 10: Kritik der Urteilskraft [1790]. Frankfurt/M. 1974. Schneider, Jost: Einführung in die moderne Literaturwissenschaft [1998]. 5. Aufl. Bielefeld 2008. Schneider, Jost: Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland. Berlin, New York 2004. Schulz, Gerhard: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Teil 1: Das Zeitalter der Französischen Revolution. 1789-1806. München 1983. Teil 2: Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration. München 1989 (= Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begründet von Helmut de Boor und Richard Newald. Bd. 7,1-2). Stiftung Lesen / SPIEGEL-Verlag (Hg.): Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend. o.O. 2001.
ELS ANDRINGA
Grenzübergänge Das Niederländische Polysystem im Spiegel der Rezeption ausländischer Literatur
Die Grenzen der Literatur entsprechen den Grenzen der Menschheit.1
1. Einleitung Die hier vorgestellten vorwiegend theoretischen und methodologischen Überlegungen zu Systemgrenzen in einem nationalen ›Polysystem‹ sind im Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt zur Rezeption ausländischer Literatur in den Niederlanden entstanden. Wenn man die traditionellen niederländischen Literaturgeschichten betrachtet, stellt sich heraus, dass sie, was das 19. und 20. Jahrhundert betrifft, stark nationalzentriert und aus der Innenperspektive heraus verfasst sind. Ausländische Autoren und Strömungen werden nur behandelt, wenn sie sich ausdrücklich auf die nationale Produktion ausgewirkt haben. Dies erscheint paradox, wenn man sich die lange und reiche Geschichte des Übersetzens und die Tradition der Literaturkritik vergegenwärtigt und in Betracht zieht, dass internationale Werke recht häufig intertextuell und intermedial in die nationalen Produktionen eingearbeitet worden sind. Diese Situation war Anlass, die Rezeption ausländischer Literatur in den Niederlanden als Forschungsprojekt in Angriff zu nehmen. Ziel der Untersuchungen ist herauszufinden, wie sich Beschaffenheit und Wandel eines nationalen Polysystems in der Rezeption des Nicht-Nationalen spiegeln. Es geht darum, Teile des Polysystems in Fallstudien zu beleuchten und anhand der Überschneidungen und Divergenzen dieser Studien ein umfassenderes Bild der sich wandeln_____________ 1
Kesten: Grenzen, S. 184.
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Els Andringa
den nationalen Situation über eine längere Zeit hinweg zu gewinnen. Dabei ist zu erwarten, dass die Fokussierung ausländischer Œuvres in ihrer Interaktion mit der nationalen Produktion und dem nationalen discours nicht nur ein ergänzendes, sondern möglicherweise ein neues Bild des niederländischen Systems liefert.2 Der vorliegende Beitrag stellt dazu einen theoretisch-methodologischen Rahmen vor. 2. Ein systemtheoretischer Rahmen Für eine solche Studie sollte ein theoretischer Rahmen bereitgestellt werden, der den Untersuchungen einen Halt bieten und zu systematischen Forschungsschritten anleiten kann. Bei der Bestimmung dieses Rahmens wird Anschluss bei den Konzepten der Systemtheorien der 1970er Jahre und ihrer Vorgänger gesucht. In diesem Beitrag stelle ich einen Ansatz dazu vor, wobei es vor allem um die Fragen geht, wie Systeme und Subsysteme definiert und voneinander abgegrenzt werden können und wie man Systemgrenzen und -übergänge methodologisch beobachtbar machen kann. Zu diesem Zweck fange ich mit einer vergleichenden Übersicht einiger wichtiger Modelle an. Schon beim Russischen Formalisten Tynjanov war von ›Systemdenken‹ die Rede, betrachtete er ja literarische Formen und deren Wandel im Sinne von Differenzen in und zwischen literarischen Reihen, die sich sukzessiv oder im Nebeneinander manifestieren.3 Obwohl er zusammen mit Jakobson eine Reihe von Thesen veröffentlichte, in denen der Wandel der Literatur mit Entwicklungen in anderen sozialen Systemen in einem ›System von Systemen‹ korreliert wurde, richtete er sich vor allem auf die interne Dynamik der literarischen Evolution und arbeitete den Zusammenhang mit weiteren sozialen Faktoren nicht aus.4 Es waren seine tschechischen Nachfolger Mukařovský und Vodička, welche die literarischen ›Fakten‹ mit sozialen Gegebenheiten in Zusammenhang brachten.5 Mukařovský erörterte die Frage, wie sich soziale ›Morphologie‹ und sozialer Wandel in Ver_____________ 2
3 4 5
Ergebnisse des Projekts, an dem eine Gruppe niederländischer Forscher aus Utrecht, Den Haag und Nimwegen seit drei Jahren zusammenarbeitet, sind in einem Sonderheft von Nederlandse Letterkunde 11/3 (2006) erschienen; es enthält Fallstudien zur Rezeption von Schnitzler, Valéry, Gide, Woolf und Borges. Es folgt Sonderheft 2 der Zeitschrift Arcadia 44 (2009), zum Thema ›Transfer and Integration. National Literatures in International Contexts‹. Siehe ferner auch Andringa: Sesshaftigkeit. Siehe die Essays in Tynjanow: Poetik. Tynjanov / Jakobson: Problems. Mukařovský: Kapitel; Vodička: Struktur. Siehe für eine genauere Darstellung dieser Rezeptionstheorien Andringa: Polysystem, S. 504-510.
Grenzübergänge
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schiebungen ästhetischer Funktionen, Normen und Werte spiegeln. In eben diesem Morphologie-Begriff, den Mukařovský gleichbedeutend mit den Begriffen ›Segmentierung‹ und ›Schichtung der Gesellschaft‹ verwendet, schimmert das Konzept der Gesellschaft als System durch, mit dem sich das Ästhetische verbindet. Ausdrücklich betrachtet Mukařovský das Soziale wie auch das Ästhetische als im fortwährenden Wandel begriffen, wobei er die sozialen Impulse als Komplement der von Tynjanov beschriebenen internen Dynamik versteht: Der ästhetische Wert ist also ein Prozeß, dessen Verlauf einerseits durch die immanente Entwicklung der Struktur selbst bestimmt wird (vgl. die aktuelle Tradition, vor deren Hintergrund jedes Werk gewertet wird), andererseits durch die Bewegung und die Verschiebungen der Struktur des gesellschaftlichen Zusammenlebens.6
In seinen Beispielen greift Mukařovský schon der Entdeckung jener Mechanismen vor, die später Bourdieu und seine Nachfolger offengelegt haben. Zum Beispiel weist er darauf hin, dass eine soziale Gruppe manchmal die ästhetischen Formen einer ›höheren‹ Gruppe übernimmt, weil sie einen höheren Status repräsentieren, oder dass sich manchmal eine neue Kunstform als Ausdruck sozialen Widerstandes entwickelt. Denn auch Bourdieu sieht das soziale System als einen Raum, in dem soziale Gruppen und Instanzen bestimmte Positionen einnehmen, die durch Macht und Ansehen gekennzeichnet sind. Das Bestreben, in einem kontinuierlichen Wettkampf solche Positionen zu erwerben oder zu stärken, führt zu einer anhaltenden Dynamik und Bewegung im sozialen Raum, die sich in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft auswirken. Kultur, Literatur und Kunst bekommen in diesem Wettkampf einen symbolischen Stellenwert als Manifestationen von sozial-intellektuellem Aufstieg und Prestige. Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet scheinen Kultur, Literatur und Kunst kaum mehr als Instrument und Spielball im sozialen Kampf um Prestige und Macht zu sein. In seinen Überlegungen zum spezifisch literarischen Bereich hat Bourdieu sich jedoch darum bemüht aufzuzeigen, dass sich dieser Bereich historisch zu einer gewissen Autonomie entwickelt hat, die mit der Idee der Autonomie des literarischen Werks zusammenhängt. Demnach hat sich seit dem 18. Jahrhundert die Anschauung immer mehr durchgesetzt, ein Kunstwerk solle im Prinzip frei von ideologischen, politischen und ethischen Restriktionen sein, und der Künstler unabhängig von sozialen und (wenn irgend möglich) von ökonomischen, also von ›feldexternen‹ Zwängen. Die Autonomie hat die weitgehende Selbstbestimmung des literarischen Feldes zur Voraussetzung, eine vollkommene Trennung von den oben erwähnten Mechanismen ist jedoch nicht denkbar, weil sich der Kampf _____________ 6
Mukařovský: Kapitel, S. 81.
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Els Andringa
um Anerkennung und Ruhm innerhalb des literarischen Feldes fortsetzt. Deshalb kann absolute Autonomie zwar als Idealvorstellung Geltung beanspruchen, aber in der Wirklichkeit können sowohl Marktmechanismen als auch ideologisch-politische Faktoren einen großen Einfluss haben. Das literarische Feld steht also unter ›heteronomen‹ Bedingungen und die Autonomie fluktuiert je nach Umständen. Wie sich die Verhältnisse von ideologisch-politischen, ökonomischen und künstlerischen Kräften im Laufe der Zeit in Frankreich wandeln, hat Gisèle Sapiro herausgearbeitet.7 Wie sich unterschiedliche Phasen und Stufen von Autonomie unterscheiden lassen, hat Joseph Jurt anhand von mehreren Autoren, Strömungen und Perioden, ebenfalls in Frankreich, gezeigt.8 Wo es also einerseits den Anschein hat, Bourdieu vermeide, bestimmte Bereiche zu differenzieren, weil sie alle einer universellen psycho-sozialen Dynamik unterliegen, die auch die kulturellen Sektoren instrumentalisiert, ist andererseits doch der Versuch zu erkennen, die Felder der Kunst und Literatur gegen andere Felder abzugrenzen. Die Differenz ist dabei einmal stärker, einmal schwächer durch die Autonomie gegenüber feldexternen Faktoren bestimmt. Im Grunde genommen spielen hier zwei Arten von Abgrenzungen eine Rolle: Einmal geht es um die Frage, wie ein durch weitgehende Autonomie charakterisierter literarischer Bereich sich von benachbarten Bereichen unterscheidet. Die zweite Frage führt wieder zu den von Mukařovský aufgezeigten Zusammenhängen zwischen sozialen Strukturen einerseits und ästhetischen Werten und Funktionen andererseits zurück. Nebenbei sei gleich bemerkt, dass auch die Stufen der Autonomie sozial bedingt sind. Die erste Frage ist von zentraler Bedeutung in der Systemtheorie von Siegfried Schmidt, die unter anderem von Luhmann inspiriert wurde.9 In ihr werden (Funktions-)Systeme als kommunikative Systeme definiert, die zentrale gesellschaftliche Aufgaben übernehmen: zum Beispiel die Politik, die Wirtschaft, das Rechtssystem und auch die Kultur, wobei letztere wieder zu unterteilen ist in Subsysteme wie Religion oder Kunst. Zwar werden hierarchische Ordnungen sichtbar, indem Subsysteme auf höherer Ebene zu größeren Einheiten zusammengefasst sind, aber alle Systeme sollen in Schmidts Modell durch Innen-Außen-Differenzierung unterscheidbar sein. Da die Systeme ausdrücklich als kommunikative Handlungssysteme vorgestellt werden, müssen sich die Differenzen in den Kommunikationshandlungen oder in der Art und Weise, wie diese gesteuert werden, manifestieren. Schmidt bestimmt die Systemgrenzen durch Konventionen, das heißt, allgemein akzeptierte und tradierte Regulative für die Kommunika_____________ 7 8 9
Sapiro: Literary Field. Jurt: Feld. Schmidt: Grundriß.
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tion. Die Grenzen des Literatursystems kennzeichnet er entsprechend durch ein Set von Konventionen, die ausschließlich für das literarisch kommunikative Handeln gültig sein sollen. Eine zentrale Konvention ist die so genannte Ästhetische Konvention, die er in Abgrenzung von der so genannten Tatsachenkonvention negativ definiert. Unterstellt wird, dass sprachliche Äußerungen anderer Kommunikationsbereiche als Äußerungen interpretiert werden, die auf die bestehende Wirklichkeit (›Tatsachen‹) Bezug nehmen, während der Umgang mit literarästhetischen Gegenständen nicht dieser Konvention gehorche. Diese würden stattdessen unter Gesichtspunkten betrachtet, die im jeweiligen Kontext als ästhetisch gelten, wie zum Beispiel unter dem Gesichtspunkt des Innovativen, Überraschenden, Schönen, Poetischen. Ein derartiges ästhetisches Kriterium erscheint bei Schmidt ausdrücklich als eine zweite Konvention, nämlich in der Form der so genannten Polyvalenz-Konvention, nach der von literarischen Werken eine gewisse Polyinterpretabilität und Polyfunktionalität erwartet wird. Die Ästhetische Konvention verträgt sich gut mit der AutonomieAuffassung, da Claims im Sinne wirklichkeitsbezogener ›Botschaften‹, seien sie ideologischer, ethischer, erzieherischer oder religiöser Art, wenn sie schon zum Tragen kommen, von untergeordneter Bedeutung sind. Es wird deutlich, dass auch diese Konvention historisch bestimmt und wohl auch auf einen bestimmten Kreis von Aktanten beschränkt ist. Jedoch ist das Entstehen des Autonomie-Ideals bei Bourdieu das Resultat einer sozialhistorischen Entwicklung, während sich in der Ästhetischen Konvention bei Schmidt eher eine Literaturanschauung normativer Art zu manifestieren scheint. Wie schon Mukařovský argumentiert hat, können Funktionen und Bedeutungen von Kunstwerken sukzessiv oder auch nebeneinander von verschiedenen Gruppen unterschiedlich gewertet werden. Schmidts Modell trifft vor allem auf die westliche literarische Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert zu und ist zudem einer literarischen Elite verpflichtet, die auf pragmatische Funktionen verzichtet und in der Akzeptanz der Polyvalenz auf komplexe, ›höhere‹ Werke ausgerichtet ist. Mit solchen Abgrenzungskriterien a priori wird eine bestimmte Konstellation festgeschrieben, wodurch der Aspekt der sozialen Pluriformität und Mobilität, der von den Tschechen hervorgehoben wird und bei Bourdieu die eigentliche Grundlage seiner Theorie bildet, weitgehend ausgeblendet bleibt. Die oben formulierte zweite Frage, wie die sich wandelnde soziale Segmentierung sich im Bereich des Literarischen niederschlägt, erfordert eine Theorie, die einer solchen Diversität und Mobilität gerecht wird und auch zulässt, dass diese mit offenem Blick beobachtet werden. Manche der so sorgfältig herausgearbeiteten und definierten Konstituenten des Schmidtschen System-
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Els Andringa
modells sind dafür gleichwohl wertvoll und brauchbar, wie sich noch zeigen wird. Die Polysystemtheorie Itamar Even-Zohars ist vielleicht am wenigsten ausgearbeitet und überprüft. Es zeichnet sie aber eine Flexibilität aus, die sie gerade für ein Unternehmen, das Spannungsverhältnisse und dynamische Veränderungen aufdecken möchte, geeignet macht.10 Die grundlegende Idee ist, dass es ein System von Subsystemen gibt, die zueinander in sich wandelnden hierarchischen Ordnungen stehen und die, jedes für sich, auch wieder hierarchisch strukturiert sind. Die unausgearbeitete Formulierung von Tynjanov und Jakobson taucht hier wieder auf und man erkennt den Anschluss an das Denken der Strukturalisten. Mit dem Systembegriff ist ferner das für die Theorie zentrale Konzept des Repertoires verbunden, eines gemeinsamen Instrumentariums, dessen sich die Aktanten in einem System bei der Produktion und Rezeption literarischer Werke bedienen. In den Definitionen der Konzepte werden einige Probleme sichtbar. Erstens wird das tragende Konzept des Systems nicht eindeutig bestimmt, sondern hauptsächlich mit Beispielen erläutert. Einmal erwähnt der Autor bestimmte kontrastive Textgruppen wie ›Erwachsenenliteratur versus Kinderliteratur‹, ›hohe versus niedrige Literatur‹, ›nationale versus übersetzte Literatur‹. Ein anderes Mal spricht er davon, dass es unterschiedliche Gruppen von Aktanten gibt, die eigene Systeme bilden, wie Kritiker, Verleger und Leser. Es bleibt unklar, ob die Pfeiler eines Systems aus Textgruppen oder Aktantengruppen bestehen. Außerdem werden die Grenzen zwischen den Subsystemen durch schwer vergleichbare Aspekte bestimmt: durch soziale Unterschiede, Wertunterschiede, die Zugehörigkeit zur eigenen bzw. fremden Sprache und durch verschiedene Rollen der Aktanten. Dies macht das Konzept zu heterogen für eine systematische, empirisch ausgerichtete Forschung. Auch der Repertoire-Begriff ist nicht eindeutig, weil sich die Definitionen laufend verschieben. Einmal lautet die Beschreibung »R. is conceived of here as the aggregate of laws and elements«;11 ein anderes Mal heißt es »repertoires are sets of options invented by humans for conducting their lives«;12 später findet sich eine neue Abwandlung »culture is ›a repertoire‹, or ›toolkit‹ of habits, skills, and styles from which people construct ›strategies of action‹«.13 Abgesehen davon, dass Bestimmungen wie ›laws‹, ›elements‹, ›options‹, ›habits‹, ›skills‹ und ›styles‹ jeweils andere sind, haben sie einen so hohen Abstraktionsgrad, dass sie ohne weitere Ausfüllung nicht zu operationalisieren sind. _____________ 10 11 12 13
Ich beziehe mich hier vor allem auf die Beiträge von Even-Zohar in Poetics Today 11/1 (1990). Even-Zohar: Polysystem Theory, S. 17. Even-Zohar: Repertoire, S. 47. Even-Zohar: Literature, S. 76.
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Eine Brücke zwischen Schmidt und Even-Zohar lässt sich herstellen, wenn wir festhalten: Das Gerüst eines (Sub-)Systems besteht aus Aktanten in ihren institutionellen und nicht-institutionellen Rollen, die ein Repertoire teilen. Um den Repertoire-Begriff zu konkretisieren und das Problem des Verhältnisses von Textkorpora und Aktantengruppen zu lösen, definieren wir das Repertoire als eine mentale Ausrüstung, deren sich die Aktanten beim Produzieren und Rezipieren von Literatur und beim Denken und Kommunizieren über Literatur bedienen. ›Literatur‹ sei hier nachdrücklich möglichst weit gefasst und nicht von vornherein auf anspruchsvolle, fiktionale, schriftliche Produkte eingeengt, weil das gerade dem Polysystemgedanken zuwiderlaufen würde. Die Bestimmung des Repertoires als mentale Ausrüstung bedeutet, dass es sich um Formen des Wissens handelt, welche sich die Aktanten in einem Sozialisierungsprozess angeeignet haben.14 Es geht sowohl um ›Sachwissen‹ bezüglich der Texte, Œuvres und Gattungen als auch um ›soziales Handlungswissen‹, wie man mit ihnen umgehen und über sie kommunizieren soll. In meinem auf Operationalisierung ausgerichteten Vorschlag unterscheide ich folgende drei Komponenten eines Repertoires.15 Es handelt sich 1) um Kenntnisse von Œuvres und Werken bzw. von deren prägnanten Merkmalen, die im Gedächtnis der Aktanten als Vorbilder und Referenzrahmen präsent sind, 2) um Werte und Maßstäbe, die Vergleichen und Urteilen zugrunde liegen, und 3) um Strategien und Konventionen, die den Umgang mit und _____________ 14
15
Bourdieu und Even-Zohar kannten sich auf jeden Fall dem Namen nach und haben flüchtig auf einander hingewiesen. Es ist aber, soweit ich sehe, nicht zu einer Auseinandersetzung gekommen, in der grundlegende Konzepte miteinander verglichen wurden. Ich denke, dass Even-Zohars Repertoire-Begriff und Bourdieus HabitusBegriff, der ebenfalls relativ abstrakt definiert ist, durchaus vergleichbar sind und sich allenfalls in dem Grade der den Aktanten jeweils zugeschriebenen Bewusstheit unterscheiden. Wo Bourdieu argumentiert, dass der Aktant den als ›Habitus‹ bezeichneten Komplex von Einstelllungen und Verhaltensweisen so stark internalisiert hat, dass er unbewusst von ihm gesteuert wird (siehe z.B. Bourdieu: Field, S. 64, 71), suggeriert Even-Zohars ›toolkit‹-Metapher, dass der Aktant dem Instrumentarium nach Belieben entnehmen kann, was er braucht. Nun lässt sich über die Rolle, die die Bewusstheit für Bourdieus Habitus-Konzept spielt, diskutieren, während man Even-Zohar entgegenhalten kann, dass wohl nicht alle Instrumente gleichermaßen gezielt gewählt werden. Ferner ist Bourdieus Begriff noch ideologisch koloriert: Sein Habitus-Begriff ist als zentrales Element einer Theorie, die soziale Machtmechanismen auch im kulturellen Bereich aufzeigen will, daraufhin angelegt, soziale Klassenunterschiede durch Herkunft, Erziehung und Sozialisierung zu repräsentieren. Demgegenüber ist EvenZohars Repertoire im Prinzip neutral, kann aber je nach dem Subsystem, mit dem es sich verbindet, einen ideologisch akzentuierten Inhalt bekommen, zum Beispiel dann, wenn es einer Gruppe von Aktanten darum geht, mittels eines Repertoires eine bestimmte Identität zu stärken oder gar herzustellen. Eine weitere Diskussion dieser Konzepte findet sich bei Codde: Polysystem, einen detaillierteren Versuch, diese Konzepte zu empirisieren, bei Andringa: Polysystem.
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Kommunikation über Literatur steuern. Die erste Komponente macht Gebrauch von dem alten Kanon-Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung als ›Richtlinie‹, allerdings ausdrücklich nicht als Textkorpus definiert, sondern als mentale Repräsentationen von solchen Texten, die im discours als Leitbilder dienen. Auch die Werte und Maßstäbe, welche die tschechischen Vorläufer der Rezeptionstheorie so nachdrücklich in den Vordergrund rückten, sind Repräsentationen von dem, was in einer gewissen Zeit und in einem bestimmten Kreis als literarisch wertvoll und wünschenswert gilt, sei es in ästhetischer, ethischer, poetologisch-programmatischer oder kommunikativer Sicht. Unter ›Strategien‹ sind mentale Vorstellungen von Handlungsmustern zu verstehen, die auf das Erreichen bestimmter Ziele ausgerichtet sind. Ein extremes Beispiel ist die Vorstellung eines Handlungsmusters, das auf die Verhinderung der Lektüre bestimmter Texte durch Zensurmaßnahmen zielt oder das umgekehrt die Stimulation des Verkaufs von Texten durch die Einschaltung von Massenmedien zum Ziel hat. Konventionen sind sozial integrierte, historisch gewachsene Regeln für die Art und Weise, wie man mit Literatur umgeht und über sie kommuniziert. Die Schmidtschen Konventionen sind dafür ein Beispiel. Implikationen eines solchermaßen bestimmten Repertoire-Begriffs sind, dass die drei Komponenten zwar miteinander zusammenhängen – alle sind mit Wertungen besetzt – aber doch einzeln beobachtbar gemacht werden können, wie wir gleich sehen werden. Wichtig ist vor allem, dass nicht a priori Grenzen gezogen werden, sondern dass die Separierung von Subsystemen durch das Verhalten und die Selbstdeterminierung der Subsysteme bestimmt ist. Manchmal zeichnen sich graduelle Differenzen und unterschiedliche Akzente zwischen Repertoires ab, die neben- oder nacheinander bestehen. Auch sind Überschneidungen möglich: Zwei unterschiedliche Aktantengruppen können einen Teil eines Repertoires gemeinsam haben, sich aber durch einen anderen Teil unterscheiden. Letzteres lässt sich zum Beispiel an der Kinder- und Jugendliteratur illustrieren: Autoren, Verleger und Leser teilen Kenntnisse von Werken. Dagegen unterscheiden sich die Wertmaßstäbe zwischen erwachsenen Lesern und Kindern, wenn man die Ergebnisse von Erwachsenen- und Kinderurteilen bei Preisverleihungen vergleicht. Es erscheinen zwei Subsysteme, die sich teilweise überschneiden, sich aber auch unterscheiden. Die Repertoires sind des Weiteren, in Übereinstimmung mit EvenZohars Voraussetzungen, intern hierarchisch strukturiert: Manche Elemente (Werke, Werte, Konventionen) dominieren zeitweise über andere dadurch, dass sie entweder für eine Mehrheit oder für angesehene Autoritäten innerhalb des Subsystems als maßgebend gelten. Doch auch das gesamte Polysystem weist eine hierarchische Ordnung auf: Manche Subsysteme haben mehr soziales Ansehen oder auch mehr wirtschaftlichen
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oder medialen Erfolg als andere.16 Schließlich unterliegen Subsysteme und Repertoires – wiederum sei auf Mukařovský hingewiesen – infolge interner oder externer Impulse fortwährendem Wandel. Bevor wir zur Frage des Verhältnisses von eigener und ausländischer Literatur übergehen, mag ein Beispiel aus der Rezeption von Virginia Woolf in den Niederlanden einiges veranschaulichen.17 Auf die folgende Skizzierung der sozial-geschichtlichen Lage der Niederlande in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden wir auch im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes zurückgreifen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts war die niederländische Gesellschaft stark ›versäult‹. Man unterscheidet generell vier Hauptsäulen, die lebensanschaulich bzw. sozial-politisch demarkiert sind: eine protestantische, eine katholische, eine ›neutral‹-liberale Säule und eine die anderen teilweise durchkreuzende sozialistisch-kommunistische Säule. Die Segmentierung wirkte sich auf fast alle Bereiche der Gesellschaft, auf Politik, Unterricht und Kultur, aus. Alle Säulen hatten ihre eigenen Medien, Mediatoren und Leser, die ihre Positionen zum Teil polemisch voneinander abgrenzten. Zwischen den zwei Weltkriegen zeichnen sich also die Konturen verschiedener Subsysteme im Sinne Even-Zohars ab. In den neutral-liberalen, aber auch in den fortschrittlich katholischen Kreisen kam es zur Rezeption junger ausländischer Autoren wie Joyce, Woolf, Lawrence, Mansfield, Hemingway und Faulkner aus dem angelsächsischen Bereich, die später zu den angesehenen ›Modernisten‹ gezählt wurden. Bezeichnenderweise wurden sie an der protestantischen Front überhaupt nicht erwähnt. Doch die Urteile der neutral-liberalen Kritiker unterscheiden sich von denen der katholischen Autoren: Die ersten schreiben insgesamt wohlwollend über Woolf, loben die innovative Schreibweise, die weibliche Sensibilität und ihren Scharfsinn. Die letzteren erkennen zwar das künstlerische Vermögen an, weisen aber vor allem auf einen Mangel an Glauben an Höheres und Ewiges hin, weshalb sie die Bücher als missglückt betrachten. Woolf ist in ihren Augen nur geeignet für reife Erwachsene, die imstande sind, die Werke im Rahmen ihres eigenen Lebenshorizontes ›richtig‹ einzuschätzen. Joyces Ulysses landete auf der schwarzen Liste verbotener Bücher. Hier sehen wir also einen klaren Unterschied in sozial bedingten Subsystemen mit teilweise verschiedenen Repertoires von Werten. Wenn wir jedoch die Rezensionen genau betrachten, fällt auf, dass auch in den Medien der Neutral-Liberalen manchmal, fast unter_____________ 16
17
Die ›heteronomen‹ Bedingungen implizieren also auch unterschiedliche Hierarchien: einerseits gibt es Werke und Autoren, die wirtschaftlich mehr oder weniger erfolgreich sind, also kurzfristig hohe Auflagen erreichen, und andererseits solche, die im kleineren Umkreis und oft langfristig von Kennern Ansehen gewinnen. Die Rezeptionsgeschichte von Woolf in den Niederlanden ist ausführlich dargestellt in Andringa: Polysystem, und Andringa: Translation.
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schwellig, Kritik durchklingt: Woolf taste sich zwar an große Lebensfragen heran, gebe aber keine Antworten, so heißt es. Man bezieht sich dabei nicht auf Gott und Ewigkeit, aber es entsteht doch der Eindruck, dass die meisten Kritiker dieser Zeit von der Literatur eine Auseinandersetzung mit den großen Lebensfragen – Tod, Vergänglichkeit, Sinn des Lebens – erwarteten, und zwar im Sinne eines Bemühens um eine Antwort. In der zweiten Jahrhunderthälfte vollzog sich in den Niederlanden, wenigstens im öffentlichen Leben, die Säkularisierung. Als Folge davon verloren die Säulen an Identität und Kraft und die relativ scharfen Grenzen, die in der Zwischenkriegszeit galten, wurden verwischt. Die Werke der angelsächsischen ›Modernisten‹ kamen erst in den 1960er Jahren erneut zur Geltung und erschienen nun in Übersetzungen. Woolfs Werke gewannen freilich erst in der Mitte der 1970er Jahre Anerkennung und wurden seit 1976 in niederländischer Übersetzung publiziert. Wenn man die Rezensionen aus dieser Periode mit denen aus der Periode zwischen den Weltkriegen vergleicht, sieht man beträchtliche Unterschiede. Vor allem hat sich das Repertoire von Werten stark erweitert und ist mehr von individuellen Kritikern geprägt. Man sieht aber auch, dass die Frage nach tieferen Bedeutungen verschwunden ist. Stattdessen widmet man sich sozialkritischen und feministischen Themen, fragt nach der besonderen Art und Weise, wie Woolf die Innenwelt der Charaktere darstellt, wie sie die Zeitschichten gestaltet, und verlagert die Aufmerksamkeit auf Fragen der Sprache und des Stils. Der Wandel der sozialen Segmentierung schlägt sich also in dem Wertungsrepertoire nieder. Dieselben Werke werden anders wahrgenommen, und zwar in einer Weise, die soziale Entwicklungen reflektiert: Einerseits ist ein neues Engagement mit sozialkritischen und emanzipatorischen Fragen zu beobachten, andererseits auch ein veränderter Blick für ästhetische Werte, der möglicherweise von den ›Modernisten‹ selbst inspiriert worden ist. Auf jeden Fall sind diese Autoren jetzt in hohem Maße im literarischen Diskurs präsent. Insgesamt ist zu beobachten, dass die Veränderungen in den Repertoires der wahrgenommenen Werkeigenschaften und Werte mit dem Wandel der ethischlebensanschaulichen und sozio-politischen Positionen verknüpft sind. 3. Zum Grenzbezug ausländischer und inländischer Literatur: Versuche zur Operationalisierung Das obige Beispiel ist nicht spezifisch für das Verhältnis zwischen nationaler und internationaler kultureller Produktion, obwohl es zeigt, dass die Bedeutsamkeit der ausländischen ›modernistischen‹ Autoren erst allmäh-
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lich, in Abhängigkeit von wechselnden Bedingungen, erkannt wurde.18 Wie aber überschreitet ausländische Literatur die Sprach- und Kulturgrenze, inwiefern bildet sie ein oder mehrere separate Subsysteme und inwiefern wird sie im niederländischen Polysystem integriert? In einem Versuch, diese Fragen ansatzweise zu empirisieren, konzentriere ich mich in diesem Artikel auf die erste der drei Komponenten des Repertoirebegriffs, nämlich auf die Kenntnisse von Œuvres und Werken und deren Merkmalen, die als Referenzpunkte und Vorbilder dienen. Ich stelle dazu ein quantitatives Verfahren vor und ein qualitatives Vorgehen, das die globalen quantitativen Daten ergänzen soll. 3.1. Rosengrens mention technique als Maß des Repertoires Bereits in den 1960er Jahren versuchte der schwedische Soziologe KarlErik Rosengren, Prozesse der Kanon-Bildung empirisch zu erfassen. Sein Verfahren war verblüffend einfach, abgesehen davon, dass die Techniken der elektronischen Datenverarbeitung damals noch mit wesentlich mehr Aufwand verbunden waren. Rosengren argumentierte, dass die Häufigkeit, mit welcher Namen von Autoren in kritischen und literaturwissenschaftlichen Schriften auftreten, ein Indiz dafür ist, wie präsent die Autoren im Bewusstsein der Kritiker sind. In dem von Rosengren ›Mention-Technik‹ genannten Verfahren werden einfach alle Namen, die in einem großen Korpus von kritischen und essayistischen Dokumenten vorkommen, verzeichnet. Sie vertreten »the ›lexicon‹ of authors available to critics and reviewers: the stock of classic and modern, minor and major poets and writers whose oeuvres embody the literary tradition and its present-day continuation«.19 Durch statistische Prozeduren kann man die Auf- und Abnahme der mentions einzelner Autoren, aber auch von Kohorten über längere Perioden hinweg verfolgen. Rosengrens Daten zeigen Kurven von Autorenkohorten vom 18. Jahrhundert an. Dabei werden die Wechsel in der Hierarchie der Präsenz sichtbar. Einzelne Autoren heben sich im zeitlichen Prozess von ihren Zeitgenossen ab, indem sie längere Zeit sichtbar bleiben, wie im schwedischen System zum Beispiel Strindberg. Damit liegt eine Operationalisierung jener Komponente eines Repertoires vor, welche wir als die Kenntnisse von Werken und Autoren, die als Referenzpunkte im discours dienen, bezeichnet haben. _____________ 18 19
Die Bedingungen sind allerdings noch viel komplizierter, weil auch Marktmechanismen, Meinungen über Übersetzungen und Entwicklungen der nationalen und internationalen Poetik eine Rolle spielen. Siehe dazu weiter Andringa: Polysystem. Rosengren: Criticism, S. 298.
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Das Verfahren lässt sich auch in eingeschränkter Weise anwenden, indem nur die mentions von einzelnen Autoren oder Autorengruppen vergleichsweise verfolgt werden. Heutzutage eröffnet die fortschreitende Digitalisierung von Dokumenten und Quellen neue Anwendungsmöglichkeiten der Datensammlung und -auswertung. In den Niederlanden steht seit einiger Zeit ein Korpus von fast 60.000 Rezensionen und Essays über niederländische Autoren, die in Zeitungen und Wochenzeitschriften seit etwa 1900 erschienen sind, digital zur Verfügung. Das Korpus kann auf Wörter und Namen hin durchsucht werden, und abrufbar sind nicht nur die Texte, sondern auch die Namen der Zeitungen, Data und Namen der Rezensenten. Das ermöglicht es, sowohl quantitative Daten zu sammeln als auch einzelne Kontexte qualitativ zu überprüfen. Um die Grenzen zwischen einheimischer und ausländischer Literatur sichtbar zu machen, wurde probeweise wie folgt vorgegangen. Im Rahmen der Fallstudie zur Virginia Woolf-Rezeption wurden vier weitere Autoren derselben Kohorte aus zwei verschiedenen Sprachgebieten ausgewählt um quantitative Vergleiche zu ermöglichen und zu sehen, ob Repräsentanten dieser Kohorte über eine längere Zeit hinweg ein ähnliches Rezeptionsprofil aufweisen. Diesen Autoren ist gemeinsam, dass sie alle zwischen 1920 und 1924 in den niederländischen discours eingeführt wurden und dass sie im Verlauf der Zeit internationales Ansehen gewannen. Daneben wurden für diese Gelegenheit außerdem fünf niederländischsprachige Autoren aus derselben Kohorte als ›matching partners‹ gesucht. Für diese Autoren gilt, dass sie bis heute in niederländischen Literaturgeschichten zu finden sind und noch oder wieder aktuell sind: Willem Elsschot – übrigens ein flämischer Autor –,20 Nescio und Ferdinand Bordewijk gelten als sehr bedeutsame Autoren; Carry van Bruggen wurde in den 1930er Jahren bereits mit Virginia Woolf verglichen und wird ihr bis zum heutigen Tag zur Seite gestellt. Jakob Israël de Haan ist wohl etwas weniger bekannt, hat aber einen festen Platz in der Literaturgeschichte. Darüber hinaus sei darauf hingewiesen, dass im internationalen Zusammenhang die niederländische Literatur mit Recht eine ›kleine Literatur‹ genannt werden kann. Nur wenige unserer Autoren sind in anderen Sprachgebieten bekannt geworden und geblieben, und kaum welche haben sich einen Platz in der ›Weltliteratur‹ erworben. Die Niederlande haben keinen Homer, Shakespeare, Goethe oder Kafka hervorgebracht. _____________ 20
Auf das komplexe Verhältnis der nord-niederländischen und der flämischniederländischen Sprache und Literatur gehe ich hier nicht weiter ein. Elsschot gilt in beiden Gebieten gleichermaßen als ein sehr bedeutsamer Autor und wurde deswegen aufgenommen.
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Die Autoren sind in Tabelle 1 aufgelistet samt der Summe ihrer mentions von 1920 bis 2000.21 Ausländische Autoren
Mentions Niederländischsprachige
Mentions
Autoren Franz Kafka (1883-1924)
1051
Willem Elsschot (1882-1960)
1431
James Joyce (1882-1941)
823
Nescio (1882-1961)
870
Virginia Woolf (1882-1941)
221
Ferdinand Bordewijk (1884-1965)
729
Robert Musil (1880-1942)
213
Carry van Bruggen (1881-1932)
349
Katherine Mansfield (1880-1923)
36
Jakob Israël de Haan (1881-1924)
242
Eine gewisse Hierarchie ist hier bereits abzulesen, die als Indiz für die Präsenz der einzelnen Autoren im gesamten kritischen discours gelten kann. Es treten auch Unterschiede zwischen den in- und ausländischen Kohorten ans Licht: Die Zahlen der nationalen Autoren liegen insgesamt höher als die der ausländischen. Die Daten lassen sich aber noch differenzierter betrachten, indem sie über Perioden von zehn Jahren berechnet werden. Es wäre zum Beispiel zu fragen, ob die drei niederländischen Autoren, die zwanzig Jahre länger gelebt haben als die ausländischen ›Partner‹, aufgrund ihrer längeren Lebenszeit eine größere Wirkung entfalten konnten, die Anzahl ihrer mentions also über einen längeren Zeitraum hinweg ansteigen oder konstant bleiben. Dass dies nicht der Fall ist, zeigt sich in Abb. 1, in der die Daten für die beiden Gruppen zusammengezählt und pro tausend Dokumente wiedergegeben werden. Die logarithmischen Trendlinien zeigen den globalen Verlauf der Kurven.
_____________ 21
Die Daten wurden zusammengestellt auf der Grundlage der Dokumente, die in der Periode 2003-2005 im Korpus LiteRom zur Verfügung standen.
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Abb. 1: Mentions (promille) internationaler und nationaler Autoren 1930-2000
Eine Logit-Analyse, welche die Abweichung der beobachteten von den modellgemäß erwarteten Werten statistisch prüft, bietet die Möglichkeit, die Unterschiede genauer zu inspizieren. Die unabhängigen Variablen sind hier die Autorenkohorte (national und international) und die Perioden (sieben Jahrzehnte); die abhängigen Variablen sind die Anzahl der Dokumente für jede Periode und die Häufigkeiten der mentions. Die Häufigkeit der mentions verschiebt sich von Periode zu Periode in signifikanter Weise (X2 = 73.37; df = 6; p< 0.001). Auch unterscheiden sich die Autorengruppen signifikant: X2 = 275.5; df = 1; p< 0.001. Die Beobachtung, dass die nationale Kohorte insgesamt über der internationalen Kohorte liegt, wird also bestätigt. Doch auch die Unterschiede zwischen den Autorengruppen in den einzelnen Perioden sind sehr signifikant mit z-Werten über 2.576 (p < 0.01). Hieraus kann man schließen, dass insgesamt eine signifikante Distanz zwischen den beiden Kohorten besteht, die man als Indiz für eine Systemtrennung gelten lassen kann. Interessant ist jedoch eine weitere Beobachtung, welche die Trendlinien bereits veranschaulichen. Es verändert sich nämlich die Distanz im Verlauf der Zeit: Die Interaktion zwischen Autorengruppe und Periode zeigt einen Wert z = 2.050 (p < 0.05). In den 1960er Jahren steigen die mentions der ausländischen Autoren stärker als die der nationalen Autoren. Die Periode der 1970er Jahre zeigt keinen signifikanten Unterschied, jedoch in der Periode der 1980er Jahre steigt die ausländische Kohorte an, während die der nationalen Autoren gleich bleibt (z = 2.510; p < 0.02), und im letzten Jahrzehnt senken sich die men-
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tions der nationalen Autoren stärker als die der ausländischen Autoren (z = 3.281; p < 0.01). Insgesamt wächst also die Anzahl der mentions der ausländischen Autoren seit den 1960er Jahren relativ stärker an und ihre Kurve könnte, wenn der Trend sich fortsetzen würde, auf Dauer die Kurve der nationalen Gruppe kreuzen. Wenn man sich die anhaltende internationale Bedeutung von Autoren wie Kafka und Joyce vergegenwärtigt, wäre das nicht überraschend. Die kanonisierten Autoren der Weltliteratur würden dann als Referenzrahmen einen stabileren Platz im niederländischen Polysystem einnehmen als die nationalen Autoren aus derselben Kohorte. Zunächst einmal ist aber festzuhalten, dass bis heute das Nationale als Referenzrahmen im discours dominiert.22 3.2. In- und Auslandbezüge im literarischen Diskurs zwischen den Weltkriegen Ist nun eine Systemtrennung von In- und Ausland auch qualitativ im literarischen discours sichtbar und, wenn ja, wie? Um diese Frage probeweise anzugehen, beschränke ich mich jetzt auf einen knappen Zeitausschnitt um die Mitte der 1930er Jahre herum – die Distanz Inland–Ausland ist dann am allergrößten – und sondiere, wie niederländische literarische Publizisten auf ausländische Werke und Autoren Bezug nehmen. Zwei Beobachtungen seien gleich vorweggenommen. Erstens fand ich unter den Kontexten der mentions nur wenige Belege, in denen die Bezüge zwischen in- und ausländischer Literatur inhaltlich weiter vertieft werden; meistens handelt es sich um kurze Hinweise, die zwar zeigen, dass die Namen in den Repertoires der Rezensenten vorhanden sind, die aber inhaltlich wenig ergiebig sind. Zweitens fällt auf, dass die kulturellen Medien in dieser Zeit eigene Rubriken für ausländische Literatur haben unter Titeln wie »Englische, Deutsche, Französische usw. Literatur«. Manchmal heißen sie auch einfach »Literatur aus dem Ausland«, zu der auch für die Niederlande weniger geläufige Literaturen gezählt werden. Die Rubriken werden oft von Rezensenten gefüllt, die auf eine oder mehrere fremdsprachige Literaturen spezialisiert sind.23 Diese beiden Faktoren unterstützen _____________ 22 23
Ich danke Huub van den Bergh für seine Hilfe bei der Statistik. Wahrscheinlich – aber das soll noch weiter überprüft werden – wurde diese Spezialisierung von Entwicklungen im Ausland, namentlich in Frankreich, angeregt. Die Niederlande waren zu der Zeit stark an Frankreich orientiert und folgten den dortigen literarischen Entwicklungen relativ genau. Die einflussreiche literarische Zeitschrift N.R.F. [Nouvelle Revue Française] (1909) führte im Jahre 1911 eine Rubrik für Übersetzungen ein, die 1913 in eine Rubrik für ausländische Literatur umgewandelt wurde. Zwei Spezialisten wurden für englische und deutsche Literatur engagiert, näm-
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die quantitativ beobachtete Repertoire-Trennung der in- und ausländischen Literatur, indem sie zeigen, dass die ausländische Literatur, zumindest teilweise, gesondert behandelt wird. Dagegen liegen ausführlichere Hinweise auf und Vergleiche mit ausländischer Literatur eher in Essays vor, die nicht nur einzelne Autoren oder Neuausgaben rezensieren. Zwei Beispiele mögen Dimensionen der In- und Ausland-Differenzierung in den 1930er Jahren illustrieren. Zugleich sei kurz ein methodologischer Vorschlag erläutert, der den Zugriff auf derartige Materialien erleichtern und systematisieren soll. Beispiel 1: Menno ter Braaks Betrachtungen über ›die schreibende Frau‹ Menno ter Braak (1902-1940), einer der einflussreichsten Kritiker in der neueren niederländischen Literaturgeschichte, schrieb in Le chemin des dames eine Sammelkritik über »das Phänomen der ›schreibenden Frau‹«, der folgende Belegstelle entstammt. Es gibt nur relativ wenig Frauen in unserer Literatur, die sich dieser Sphäre [der bürgerlichen Hausbackenheit, E.A.] haben entziehen können. Uns fehlen eine Virginia Woolf, eine Katherine Mansfield, eine Annette Kolb, eine Vera Figner, sogar eine Marie Baskirtsjeff. Eine Schriftstellerin von so besonderer Begabung wie Carry van Bruggen ist doch in vielerlei Hinsicht (und bestimmt in der Gestalt von Justine Abbing) steckengeblieben in der ewigen Problematik der Frauengattung; […] Die Frau Boudier-Bakker repräsentiert wohl am besten (auch qualitativ gemeint), was die ›Dame‹ in der Literatur erreichen kann und was nicht: einen Roman wie Armoede kann man in dieser Hinsicht als klassisch bezeichnen. Das Familienleben als das Leben, die Tragödien des Niederländischen bürgerlichen Milieus als die große Tragödie der Menschheit: siehe da die Möglichkeiten und Grenzen des Damenromans, den man allerdings nicht mit dem weiblichen Akzent in der Literatur im allgemeinen verwirren soll! Es gibt glücklicherweise noch einen anderen weiblichen Akzent; man lese dazu die Romane von Virginia Woolf (Mrs Dalloway; To the Lighthouse).24
Um gezielt die Beziehungen von in- und ausländischer Literatur herauszuarbeiten, entnehme ich dem Verfahren der so genannten Differenztheoretischen Textanalyse (DTA) die Grundidee. Dabei folge ich der Darstellung von Titscher/Wodak/Meyer/Vetter.25 Das von Luhmann inspirierte Verfahren geht von der Annahme aus, dass jede kommunikative Mitteilung einen bestimmten Wahrnehmungsbereich selektiert, diesen von anderen Bereichen abgrenzt und innerhalb dieses Bereichs eine bestimmte Seite oder Position markiert. Um diese Grundannahme textanalytisch umzuset_____________
24 25
lich Valery Larbaud und Félix Bertaux (siehe Anglès: Accueil, und Kalinowski: Hölderlin). Ter Braak: Chemin. Das Fragment wurde von mir aus dem Niederländischen übersetzt. Titscher / Wodak / Meyer / Vetter: Methoden. Die DTA wird vorgestellt auf S. 234-244 und beispielhaft angewandt auf S. 292-308.
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zen, wird die Analyse in drei Schritte gegliedert, die den Komponenten im wahrnehmbaren Textmaterial entsprechen. Erstens wird, räumlich vorgestellt, die Grenze definiert, durch die ein Innenbereich von Außenbereichen abgegrenzt wird; zweitens wird die Markierung der im Innenbereich vertretenen Seite aufgespürt und drittens werden, verbunden damit, die Bezeichnungen dieser Seite in der Mitteilung bestimmt. Solche Markierungen kommen dann explizit zum Ausdruck, wenn die Position im Gegensatz zur gegenüberliegenden Seite formuliert wird (Phrase – Gegenphrase, Begriff – Gegenbegriff, markiert – unmarkiert). Manchmal bleibt jedoch der Gegenpol unbenannt und muss aus dem Kontext erschlossen werden. Das Verfahren richtet sich vor allem auf die semantischen und textlinguistischen Merkmale auf der Ebene der Satzkonstituenten. Signale sind zum Beispiel adversative Elemente, explizite Gegenüberstellungen, Gegensätze und Hervorhebungen. Die aufgestellten Regeln für das Benennen impliziter Differenzen fordern zur Formulierung von Gegenbegriffen auf. Das Verfahren versteht sich als ein theoriegeleitetes, heuristisches Instrument, das dabei behilflich sein soll, intersubjektiv bedeutsame Differenzen zu finden und Zusammenhänge darin zu erkennen. Es ist für unser Anliegen deswegen sinnvoll, weil es sich dabei um Vergleiche und Gegenüberstellungen zwischen in- und ausländischer Literatur in ihren verschiedensten Varianten handelt und Grenzziehungen ausdrücklich thematisiert sind. Ein erster Bereich, der im Fragment von ter Braak hervorsticht, bietet ein Musterbeispiel für die DTA. Der Fokus im Fragment, ja im gesamten Artikel, ist das geschlechtsdifferenzierte Schreiben, das vom Bereich des Schreibens und der Literatur überhaupt abgehoben wird. Auf der ›Gender-Achse‹ markiert der Autor den ›Pol‹ der schreibenden Frau mit den Bezeichnungen »Frauen in unserer Literatur«, »Schriftstellerin«, »›Dame‹ in der Literatur«, »der weibliche Akzent«, »der Damenroman«. Auffällig ist jedoch, dass der Gegenpol, der des schreibenden Mannes, implizit bleibt. Es tritt hier gleichsam ein ›blinder Fleck‹ auf: Der Autor identifiziert sich so selbstverständlich mit dem Gegenpol, dass er ihn selber als solchen nicht mehr wahrnimmt, geschweige denn explizit zur Sprache bringt. Im Hintergrund ist er jedoch dominant mitgesetzt durch die ausdrückliche Hervorhebung der weiblichen Autoren und ihrer Werke. Wenn man die Polarität noch weiter ausfüllt, wären im Grunde genommen alle negativen Aussagen durch ihre positiven und normativen Gegenteile auf der männlichen Seite zu ergänzen. Doch auch innerhalb des Pols weiblichen Schreibens ist ein Gegensatz angedeutet. Als positiv vermerkt werden die Namen ausländischer Schriftstellerinnen und im letzten Satz »der andere weibliche Akzent«. Warum dieser anders und besser wäre, bleibt wieder-
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um implizit: Die Hinweise auf die ausländischen Autoren sollen da anscheinend für sich sprechen. Damit ist ein zweiter Bereich abgegrenzt: die Achse der literarischen Nationalität mit den Polen des Eigenen und des Ausländischen. Die eigene Nationalität ist markiert im deiktischen »unsere Literatur« und »uns« gegenüber den Namen der ausländischen Autorinnen, welche »uns fehlen«, und im (niederländischen) »Damenroman« versus »Literatur im allgemeinen« und »dem anderen weiblichen Akzent«. Zusammenfassend kann man den Bereich bestimmen als den der nationalen Identität mit den Polen ›National-Eigen‹ versus ›Ausländisch-Ander‹. Der dritte Bereich überlagert die beiden anderen und betrifft den wertenden Gehalt fast aller Aussagen; global zwischen den Polen positiv und negativ angeordnet, ist hier vor allem die negative Seite markiert. Dieses Negative, die Schwäche der »Frauengattung«, wird genauer bezeichnet, wenn ter Braak schreibt, »die Frau Boudier-Bakker« repräsentiere am besten, »was die ›Dame‹ in der Literatur erreichen kann und was nicht«. Die klar angekündigte Polarität zwischen ›erreichen‹ und ›nicht erreichen können‹ wird bezeichnenderweise jedoch nur auf der negativen Seite ausgefüllt: Das kleinbürgerliche niederländische Milieu prätendiere, ›das Leben‹ und ›die Tragik des Lebens‹ zum Ausdruck zu bringen. Der Anspruch der Verallgemeinerung schlüge also jämmerlich fehl. Demgegenüber wird ein positiver Gegenpol wiederum nicht formuliert: Die ›Möglichkeit‹ in »Möglichkeiten und Grenzen« fällt offenbar mit den ›Grenzen‹ zusammen. Drei polare Achsen (›männlich–weiblich‹, ›negativ–positiv‹, und ›nationalausländisch‹) überschneiden sich also. Aus der Perspektive des männlichen, holländischen Kritikers26 wird ein separates ›Subsystem‹ schreibender Frauen mit einer eigenen Prosagattung und einem eigenen »Akzent« ausgegrenzt. Einerseits findet außerhalb dieses Bereichs Wertung statt durch den impliziten Kontrast mit dem unbezeichneten Gegenpol der (von Männern produzierten) Literatur generell. Andererseits findet innerhalb des Bereichs eine Wertung statt durch den Vergleich zwischen in- und ausländischen schreibenden Frauen. Dabei wird die negative, inländische Seite zusammenfassend als ›hausbacken‹ abgetan, während der positive, mit dem Ausland verbundene ›andere weibliche Akzent‹ zwar angedeutet ist, aber unausgefüllt bleibt. Festzuhalten ist, dass die Inland-Ausland-Differenzierung mit der negativ/positiv-Wertung verbunden ist, wobei das unbestimmte ausländische ›Andere‹ das Richtmaß ist. _____________ 26
Ich gehe hier nicht weiter auf diese Art des Urteilens ein. Für den niederländischen Sprachraum hat van Boven: ›Vrouwenromans‹ aufgezeigt, dass weibliche Autoren in der Kritik der ersten dreißig Jahre des 20. Jahrhunderts mit anderen Wertungen und Bezeichnungen rezensiert worden sind als ihre männlichen Kollegen.
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Beispiel 2: Eddy Du Perrons Darstellung der holländischen Literatur in der Exil-Zeitschrift Die Sammlung Das polarisierende Denken des Kritikers ter Braak samt seinen blinden Flecken kommt durch die schrittweise Analyse der Differenzen verschärft ans Licht. Im Rückblick hat ter Braak eine sehr wichtige Stimme in der Bildung des niederländischen Kanons bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg gehabt. Sein Einfluss ist bis heute spürbar. Mit seiner internationalen Orientierung, seinen Essays und Kritiken zur Literatur, Kultur und Politik und seiner führenden Rolle in einigen prominenten Medien prägte er eine kritisch-literarische Position, die später voll zur Geltung kam. Unerlässlich war dabei die Zusammenarbeit mit seinem langjährigen Freund Eddy du Perron (1899-1940), der sowohl als polemischer Kritiker als auch als literarischer Autor hervortrat und sich inzwischen als wichtiger ›modernistischer‹ Schriftsteller in der niederländischen Literaturgeschichte etabliert hat. Auch bei ihm, einem Polemiker pur sang, ist eine polarisierende Rhetorik unverkennbar. Da du Perron sich oft für längere Zeit im Ausland aufhielt, kommunizierten die Freunde häufig per Brief: Ihre ausführliche Korrespondenz liegt heute in veröffentlichter Form vor.27 In den Briefen ist es oft du Perron, der unumwunden in wertenden Gegensätzen Stellung nimmt, wobei er das ›Wir‹ unzweideutig von ›den Anderen‹ abgrenzt auf Grund klar zugeordneter Wertungs- oder anderer Unterscheidungskriterien. Das nächste Beispiel stammt von seiner Hand. Es handelt sich um ein komplexes Dokument, dessen Kontext zunächst einer Erläuterung bedarf. Dieser Kontext selbst repräsentiert zugleich einen separaten Teil des niederländischen Polysystems in den 1930er Jahren. Als 1933 Hitler in Deutschland an die Macht kam, wurde die Situation für diejenigen, die nicht in die Nazi-Ideologie passten, zunehmend schwieriger. Die Bücherverbrennungen, Publikationsverweigerungen und direkte Lebensbedrohung veranlassten Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler zu flüchten und sich in einem liberaleren Klima niederzulassen. Frankreich, die Schweiz, die Niederlande, Skandinavien, England wurden innerhalb Europas Fluchtziele, und Städte wie Paris, Prag, Zürich, Stockholm, London und auch Amsterdam wurden zu Knotenpunkten der Emigranten, die ihrerseits wieder internationale Netzwerke bildeten.28 Eine wichtige Rolle in der Formierung und Kommunikation solcher Netzwerke spielten die Exil-Zeitschriften, die, im ›Ausland‹ gedruckt, eine freie Gegenwelt in meist deutscher Sprache hochhalten und verbreiten sollten. Eine solche _____________ 27 28
Ter Braak / du Perron: Briefwisseling. Ein ausgezeichneter Aufsatz über die wechselseitigen literarischen Beziehungen zwischen Deutschland und den Niederlanden in der Periode 1920-1940 im Kontext des damaligen Zeitgeschehens ist Fontijn / Polak / Ross: Relatie.
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Zeitschrift, hauptsächlich der Literatur und Kultur gewidmet, war die von Klaus Mann initiierte und herausgegebene Die Sammlung. Sie wurde vom Querido Verlag, einem der niederländischen Verlage, die Exil-Ausgaben betreuten, gedruckt und verbreitet. Nur zwei Jahrgänge, 1934-1935, sind von der Zeitschrift erschienen, dann musste ihre Produktion wegen finanzieller Probleme eingestellt werden. In diesen Jahrgängen präsentierte sich ein internationales Forum von Exil-Autoren und Sympathisanten in Essays, literarischem Werk, Rezensionen und Berichten. Die Namen André Gides, Aldous Huxleys und Heinrich Manns waren als ›Patronat‹ mit der Zeitschrift verbunden. Neben uns heute weniger geläufigen Namen sehen wir literarische Autoren erscheinen, die auch nach dem Krieg bekannt geblieben oder geworden sind, wie zum Beispiel Bertolt Brecht, Franz Kafka (wohl über die Vermittlung von Max Brod, der auch selber Werke beisteuerte), Joseph Roth, die Mann-Familie (mit Ausnahme von Thomas) und Alfred Döblin. Für die Niederlande hatten die Initiativen, Exil-Autoren herauszugeben, zur Folge, dass in kürzester Zeit ein neues Subsystem innerhalb des etablierten, durch die oben erwähnte Versäulung gekennzeichneten Polysystems zustande kam.29 Es war und blieb mehr oder weniger ein Fremdkörper, war es doch hervorgebracht von Ausländern, produziert in einer Fremdsprache und hauptsächlich für fremdsprachige Leser und für den Export bestimmt. Ein größeres Publikum war innerhalb der Niederlande nicht zu erwarten, zumal die deutsche Sprache generell zunehmend unpopulär wurde.30 Wohl aber erschienen von relativ erfolgreichen Autoren _____________ 29
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Es gibt eine stattliche Anzahl von Publikationen über die Exil-Literatur und ihre internationalen Kontexte; darauf kann ich hier natürlich nicht eingehen, daher beschränke ich mich auf die Informationen, die zur Erläuterung des zu analysierenden Dokuments notwendig sind. Auch die Frage, wie die Verbindungen zu den vorhandenen ›Säulen‹ verliefen, kann aus Platzgründen nicht weiter behandelt werden. Es sei jedoch hervorgehoben, dass es sich insgesamt um ein eindrucksvolles Beispiel von Prozessen der Ein-, Aus- und Entgrenzung handelt. Zur Exil-Literatur in den Niederlanden vgl. Würzner: Exilliteratur; Würzner / Kröhnke: Literatur; Andringa: Sesshaftigkeit. Spätestens hier sehen wir, dass von einem einheitlichen Subsystem der ausländischen Literatur keine Rede sein kann: Die ausländische Literatur zerfällt notwendigerweise in verschiedene Subsysteme, die nicht nur durch die Herkunftssprache und -kultur, sondern auch, wie hier, von ganz spezifischen sozial-politischen Umständen geprägt sein können. In diesem Fall ist die Sache insofern noch komplizierter, als in den Niederlanden bereits eine lange Tradition der Rezeption deutschsprachiger Literatur bestand, in der Klassiker wie Goethe, aber auch neuere Autoren zur Kenntnis genommen und teilweise übersetzt wurden. Deutsch war außerdem eine Fremdsprache, die in den höheren Schulen gelernt wurde. Inwiefern nun die Exil-Literatur in diesen Kontext eingeordnet bzw. von ihm getrennt wurde, ist eine Frage, die hier unbeantwortet bleiben muss.
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wie zum Beispiel Stefan Zweig, Vicki Baum und Joseph Roth auch niederländische Übersetzungen. Es gab außerdem Begegnungen und geteilte Interessen: Persönliche Kontakte führten manchmal zu einem Austausch und bewirkten, dass über einzelne Werke und Autoren Kritiken geschrieben wurden.31 Die Verlage mit den größten Exil-Abteilungen, Querido und Allert de Lange, beide in Amsterdam, genossen ein allgemeines Ansehen und gaben auch Werke wichtiger niederländischer Autoren heraus, zu denen zum Beispiel auch du Perron gehörte. Einzelne Individuen, manche aus dem Emigranten- und Immigrantenkreis, andere aus dem niederländischen Kontext, traten als Mediatoren auf und versuchten, durch Übersetzungen und journalistische Arbeiten zwischen den Sprachen und Kulturen zu vermitteln. Zu diesen Mediatoren können wir auch ter Braak zählen, der stark politisch engagiert war, sich bereits früh große Sorgen um die Entwicklungen in Europa machte und ein offenes Auge für die deutschsprachigen Veröffentlichungen hatte. In seinen Essays und Rezensionen für die Zeitung Het Vaderland schenkte er der ausländischen Literatur regelmäßig Aufmerksamkeit und drückte darin häufig seine politischen Standpunkte aus. So verfasste er sofort eine Kritik über die erste Ausgabe der Sammlung in ›seiner‹ literarischen Zeitschrift Forum.32 In einem anderen Exil-Medium erschienen gleichfalls Beiträge von seiner Hand, nämlich in Das Neue Tage-Buch.33 Umgekehrt steuerte Klaus Mann als einer der weni_____________ 31
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Paul Buurman hat die Rezeption deutschsprachiger Autoren in den niederländischen Zeitungen in den Jahrzehnten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht und stellte dabei fest, dass viele Autoren, die in den 1930er Jahren regelmäßig rezensiert wurden, darunter auch eine Anzahl Exil-Autoren wie zum Beispiel Vicki Baum, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Joseph Roth und Stefan Zweig, nach dem Krieg von Rezensenten nur noch wenig beachtet wurden. Das galt übrigens nicht nur für deutschsprachige Autoren: Siehe dazu Andringa: Polysystem. Zu den Ausnahmen zählen vor allem Thomas Mann und, obwohl natürlich kein eigentlicher Exil-Autor, Franz Kafka (siehe Buurman: Literatuur). Ter Braaks Kritik über die erste Sammlung-Ausgabe erschien 1933 unter dem Titel »Jakob Wassermann en ›die Sammlung‹«. Der Ton war insgesamt kritisch und seine Kritik galt besonders dem Beitrag Wassermanns, den er aus mehreren, besonders aber politischen Gründen verreißt. Er beschließt den Artikel jedoch mit den Worten: »Ich schrieb diese Zeilen in der Annahme, dass die Redaktion von Die Sammlung einen kritischen Empfang wohl mehr zu würdigen weiß als den leeren Händedruck einer formellen Rezeption. Wie sehr wir uns hier freuen, dass wir, als ›gute Europäer‹, in den Niederlanden diese Ausgabe begrüßen dürfen, brauchen wir für diejenigen, die den Geist Forums kennen, wohl kaum explizit zu erwähnen.« (Ter Braak: Wassermann, S. 704; der Ausdruck ›gute Europäer‹ wird unten in Anm. 60 erläutert). Ter Braaks Artikel zur Emigrantenliteratur sind in einer Sammelausgabe erschienen (Ter Braak: Artikelen). Siehe dazu auch Würzner: Ter Braak. Der Artikel in Das Neue Tage-Buch und die Diskussion, die dadurch ausgelöst wurde, sind in niederländischer Übersetzung, begleitet von einer Einleitung, noch einmal veröffentlicht in van der Heijden: Discussie.
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gen ausländischen Autoren einen Beitrag zu Forum bei, kurioserweise einen Artikel in deutscher Sprache über die Schwestern Brontë.34 Ein Austausch zwischen den Exilanten und den etablierten niederländischen Kreisen schien jedoch eher eine Ausnahme zu sein. So schrieb ter Braak in einem Brief vom 18. Februar 1934 an du Perron: Die Emigrantenliteratur wird hier übrigens in den großen Zeitungen genauso systematisch verschwiegen wie der Fall Liepmann[35] (mit Ausnahme von H Vad[36], für die jetzt Thelen[37] ›Sonderkorrespondent‹ für die ›deutsche Literatur in der Fremde‹ geworden ist). Todesangst für Mussert[38] und für die offizielle deutsche Regierung […].39
Anlass zu seiner Bemerkung über die gängige Vernachlässigung der ExilLiteratur war ein vorangegangener Brief von du Perron aus Paris, in dem er schrieb, dass er eben auf Antrag einen Essay über holländische Literatur für Die Sammlung verfasse.40 Er bittet ter Braak, sich mit Klaus Mann in Verbindung zu setzen, weil er gerne möchte, dass ter Braak sich der Korrekturfahnen annimmt. Der Text wurde von Albert Vigoleis Thelen ins Deutsche übersetzt und sollte in einer Sondernummer erscheinen, die der holländischen Literatur und Kultur gewidmet war. Der Kontakt zwischen ter Braak und Mann verlief positiv und auch ter Braak steuerte unter dem Titel »Geist und Freiheit« einen Beitrag bei.41 Hier sehen wir also ein Beispiel des Versuchs, eine Brücke zwischen dem Emigrantenkreis und dem Umfeld eines Gastlandes zu schlagen: Die Sondernummer sollte die deutschsprachigen Leser der Zeitschrift mit der niederländischen Kultur bekanntmachen. Dass Klaus Mann diese Nummer jedoch nur als ein taktisches Manöver betrachtete, ist einem Brief an _____________ 34 35
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Mann: Die Schwestern Brontë. Heinz Liepmann (1905-1966) war ein deutsch-jüdischer Schriftsteller, der antifaschistische Werke verfasste. Er wurde 1934 in Amsterdam festgenommen wegen Beleidigung des deutschen Präsidenten Hindenburg. Ter Braak kritisierte, dass das Recht der freien Meinungsäußerung verletzt worden sei und plädierte für seine Freilassung. Die Tageszeitung Het Vaderland [Das Vaterland]. Albert Vigoleis Thelen (1903-1989) schrieb unter dem Pseudonym ›Leopold Fabrizius‹ in den Jahren 1934-1940 für Het Vaderland Kritiken über Exil-Literatur. Er, gebürtiger Deutscher, hatte 1930 Deutschland verlassen und wohnte einige Zeit in Amsterdam. Er kannte die niederländische Sprache und war als Publizist und Übersetzer tätig. Siehe weiter unten. Anton Mussert (1894-1946) war Leiter der niederländischen nationalsozialistischen Partei (NSB). Er war bei der Mehrheit der Niederländer sehr verhasst und wurde nach dem Krieg zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ter Braak und du Perron warnten bereits früh vor seiner Einflussnahme. Ter Braak / du Perron: Briefwisseling. Bd. 2, S. 331f. Ebd., S. 311. Übrigens unterließ ter Braak es nicht, selbst wieder eine Rezension über diese »Hollandnummer« zu schreiben, in der er sich hauptsächlich mit der politischen Situation auseinandersetzte (ter Braak: Cultuur).
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seinen Vater Thomas (»Herr Zauberer hochgeehrt«) zu entnehmen: »Unsere dumme Hollandnummer ist nun auch endlich herausgekommen, und dafür, daß sie ein Akt der schlauen Höflichkeit ist, ist sie am Ende gar nicht so dumm geworden. Ich glaube, der Aufsatz von Menno ter Braak über Geist und Freiheit ist sogar ganz geistreich und lesenswert«.42 Zugleich sehen wir wieder den Namen Thelens, einer auffällig schillernden Figur, die eine Sonderrolle in der Vermittlung zwischen verschiedenen Kulturen gespielt hat als Übersetzer, Kritiker, Essayist und Lobbyist.43 Einerseits schrieb er Kritiken über Exil-Literatur in niederländischen Medien wie Het Vaderland44 – seine Texte wurden von ter Braak übersetzt – andererseits publizierte er auch über niederländische Literatur in Deutschland. So erschienen von ihm 1933/1934 zwei »Holländische Briefe« in Die Literatur. Monatschrift für Literaturfreunde, in denen er, ähnlich wie du Perron, die moderne niederländische Literatur den deutschen Lesern vorstellt45 – ich komme unten auf diesen zweiteiligen Aufsatz zurück. Von Bedeutung sind seine Auffassung, dass kleine Literaturen oft zu Unrecht international unbekannt bleiben, und die damit verbundene sich selbst gestellte Aufgabe, zur Verbreitung solcher Literaturen beizutragen.46 Du Perron quälte sich ordentlich mit dem Stück für Die Sammlung ab, wie sich einem anderen Brief an ter Braak entnehmen lässt, fand es aber wichtig, dass »einer von ›uns‹ das Stück schreibt«;47 später gab er an, dass er mit dem Ergebnis leidlich zufrieden sei. Allerdings geht etwas schief mit den Korrekturen. Klaus Mann, der sich der Korrekturen selber angenommen hatte, übersah so einige Fehler und es ist auch zu bezweifeln, dass die Übersetzung überall gelungen ist: Das Stück, das unter dem Titel »Holländische Literatur« im ersten Jahrgang 1934, Nr. 8 abgedruckt wurde, enthält eine beträchtliche Anzahl an Fehlern und ›Hollandismen‹. Aber, und damit gelangen wir wieder zum Thema dieses Aufsatzes, das Stück bietet eine ausgefallene Möglichkeit zu beobachten, wie ein zentraler niederländischer Kritiker einen Versuch macht, die niederländische Literatur für ein ausländisches Publikum darzustellen, und zwar mit Rücksicht _____________ 42 43 44
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Brief an Thomas Mann vom 12.04.1934 (Mann: Briefe, S. 163). Siehe dazu Staudacher: Thelen. Er schrieb zum Beispiel mehrere Rezensionen über Schalom Asch, Max Brod, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Georg Hermann, Hermann Kesten, Irmgard Keun, Klaus Mann, Alfred Neumann, Joseph Roth, René Schickele, Jakob Wassermann, Ernst Weiß, Arnold Zweig und Stefan Zweig. Thelen: Echo. Seine Vermittlerrolle zeigte sich auch in persönlichen Beziehungen; so hat er unter anderem ter Braak mit Thomas Mann in Kontakt gebracht (was übrigens ter Braak weniger eingebracht hat als erhofft). Siehe für die Kontakte zwischen Thelen und ter Braak: Hanssen: Thelen. Ter Braak / du Perron: Briefwisseling. Bd. 2, S. 317.
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auf ihren Stellenwert im ausländischen Kontext. Du Perron nimmt seine Aufgabe derart ernst, dass er seinen »Brief an den Redakteur« teilweise aus der Perspektive eines Ausländers gestaltet. Das macht er einerseits dadurch, dass er sich selber als einen Außenseiter vorstellt, als jemanden, »der in der vaterländischen Literatur – mit Recht, denkt er zuweilen selbst – gewissermaßen als unerwünschter Fremdling betrachtet wird.«48 Andererseits nimmt er fortwährend auf ausländische Literatur Bezug und bietet dadurch Anhaltspunkte für die internationale Einordnung und Vergleiche. Schließlich hebt er explizit hervor, was er für typisch holländisch hält. Übrigens berichtet er nicht nur über die niederländische, sondern auch über die flämische Literatur. Auf knapp zwölf Seiten präsentiert er einen Überblick über die aktuelle Situation und ihre Vorgeschichte, in dem eine Vielzahl von Gattungen, Richtungen und Autoren vertreten ist. Doch fast überall klingen seine, des Polemikers, eigenen Urteile und Werthierarchien durch. Kein Wunder also, dass auch bei ihm die zahlreichen Hinweise auf das Ausland mit wertenden Aussagen verflochten sind. Demnach ist auch hier eine Analyse von Differenzen als Beobachtungsraster angebracht. Weil eine detaillierte Analyse des gesamten Essays zu umfangreich wäre, beschränke ich mich auf einige markante Stellen, die Unterscheidungen aufweisen, welche die Essenz von du Perrons Differenzdenken ausmachen. Kriterium für die Auswahl der unten zitierten sechs Belegstellen ist die Thematisierung des Nationalen, Holländischen im Kontrast zu dem, was als ›nicht-holländisch‹ bezeichnet wird. Diese Gegenüberstellung wird meistens explizit mit semantischen Mitteln zum Ausdruck gebracht in Gegensatzpaaren wie ›holländisch‹ versus ›unholländisch‹, ›ein/unser kleines Land‹ versus ›Europa‹, ›wir/uns‹ versus ›Ausland‹. Thematisch gesehen haben diese Stellen alle mit Prosa-Autoren zu tun, die ihrerseits im Gegensatz zu den Dichtern stehen, welche von du Perron insgesamt höher eingeschätzt werden. 1 […]; wir besitzen für die Prosa ein paar heftig ringende, mehr oder weniger gestutzte und an die Wand gedrückte Geister, die man ›highbrows‹ nennen könnte, die aber immerhin nach etwas anderem streben, als nur holländischer Autor zu sein; wir haben dann das Heer der Schreiberiche, bei denen die Ergebung in eigene Beschränktheit schon gleich beim ersten Roman einsetzte und die mit unermüdlichem Vertrauen und dito Erfolg die Bücherlieferanten des geistigen Mittelstandes wurden. Das ist immer so gewesen.49 2 Die Schriftsteller für den geistigen Mittelstand hingegen empfingen zur selben Zeit [in den 1880er Jahren, E.A.] das Embryo ihrer Kunst: als sie begriffen hatten, dass ein ›In-
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Du Perron: Literatur, S. 400. Ebd., S. 402.
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halt‹ nicht nötig und eigentlich wohl gar vom Bösen sei, dass die ›Form‹ alles decke bis zum Banalsten und Kläglichsten herunter,[50] da schienen auch sie gerettet, und unermüdlich gebaren sie die einzige Kunst, die eine spezifisch holländische Tradition seit dem 19ten Jahrhundert zu haben scheint: den Wohnstubenroman und den Bauernroman als seinen vollkommen ebenbürtigen Rivalen. […] [D]as Land wurde überflutet mit dieser Klasse von Romanen, da die Autoren ja so bequem aus ihrem eigenen noch so kleinen Gärtchen ernten konnten.51 3 Einen Romancier von Bedeutung findet der Fremde bei uns erst dann, wenn er den Mut nicht allzu schnell aufgibt. Doch verfügt unser echt vaterländischer Realismus über eine Unzahl Autoren-Damen; alle mit genau demselben mitleidschwangeren Ton und mit so ziemlich dem gleichen Talent, so wie man sichs auch im Ausland bei den Durchschnitts-Autoren-Damen vorstellt. Daneben dann eine mehr oder weniger entsprechende Anzahl Autoren-Herren, die den anderen in nichts nachstehen; […] Die besondere ›holländische Seele‹ bei all dem zeigt sich in einem ständigen Schmachten nach reinem Leben, das dann doch ganz vortrefflich mit dem Teetisch harmoniert, mit dem holländischen – wohl zu verstehen.52 4 Für jene, die sich der Prosa zuwenden wollten, war die Aufgabe anders und unendlich schwieriger [als für die Poesie, E.A.]. Wir haben Essays geschrieben und kurze Erzählungen, ehe wir uns überhaupt an den Roman heranwagten und möglicherweise auch, um uns von dem Fatum zu befreien, dass unser Roman klebt [sic!];[53] denn in Wirklichkeit besteht die eine Gefahr, die noch grösser ist als zu scheitern: allzu gut damit fertig zu werden, wirklich aufgenommen zu werden von diesem geistigen Mittelstand, ohne den der Romancier in einem kleinen Lande nicht bestehen kann, und dessen Beifall ihn unversehens in die Rolle des Bücherlieferanten zu zwingen vermag.54 5 Im allgemeinen lautete die Parole, die nach und nach unter den sogenannten ›Jüngeren‹ erkannt und weitergegeben wurde: Die Erkenntnis der Verengung Hollands im Wohnstuben- und Bauernroman, die Notwendigkeit, über die Grenzen hinauszusehen, um den Wert eines Autors festzulegen, das Streben nach einem sogenannten ›Europäischen Niveau‹.55
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Die Bemerkung über die ›Form‹ spielt auf eine Diskussion an, die ich hier nicht weiter ausführe (siehe dazu Oversteegen: Vorm). Du Perron: Literatur, S. 403. Ebd., S. 404. Diese Formulierung befremdete (auch) du Perrons Frau, die in den 1950er Jahren eine Ausgabe von du Perrons Gesamtwerk betreute. Sie bat Thelen 1958 um eine Erläuterung. Thelens Frau – Thelen war erkrankt – antwortete, dass gemeint war: Der niederländische Roman »klebt am Herkömmlichen« (Brief vom 15.01.1958 von Frau Thelen an Frau du Perron). Im Jahre vorher hatte Thelen übrigens seine Erlaubnis gegeben, das Stück aufs Neue herauszugeben. Interessanterweise gab er die »Anregung«, das Stück ins Niederländische zurückzuübersetzen (der Originaltext war verlorengegangen), um dem Stil des Autors (besser) gerecht zu werden (Brief vom 23.06.1957 von Thelen an Frau du Perron). In der Ausgabe des Gesamtwerks erschien jedoch unverändert der deutsche Text. (Mit Zustimmung für das Verwenden der Briefe vom Letterkundig Museum Den Haag.) Du Perron: Literatur, S. 408. Ebd., S. 409.
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6 Der ›Elite-Autor‹ scheint bei uns nicht gut möglich zu sein; dafür ist unser Publikum zu klein,[56] Neuauflagen gehören bei uns zu den Ausnahmen.57
Diesen Zitaten ist Folgendes zu entnehmen. Abgegrenzt wird zunächst als Wahrnehmungsbereich, und das gilt für den ganzen Artikel, das holländische literarische Feld, das es in seiner Eigenart zu charakterisieren gilt. Die Charakterisierung geschieht jedoch nicht sozusagen ›neutral‹ beschreibend, sondern nach subjektiv wertender Gewichtung: Das, was der Autor jeweils schätzt oder eben kritisiert, wird hervorgehoben und dem Gegenpol explizit oder implizit gegenübergestellt. Das grundlegende polare Schema von ›wertvoll‹ und ›nicht-wertvoll‹ wird aber ausdifferenziert und von anderen Polaritäten überlagert. Wenn wir die linguistischen und semantischen Hinweise inventarisieren, können wir vier (Teil-)Bereiche unterscheiden, die im folgenden Schema wiedergegeben sind. (Teil-)Bereich Markierte Negativ-Seite Produktion
Markierte Positiv-Seite
Quantität
Qualität
das Heer der Schreiberiche (1)
ein paar ... Geister (1)
unermüdlich gebaren sie (2) das Land wurde überflutet (2) eine Unzahl Autoren-Damen (3) entsprechende Anzahl AutorenHerren (3)
einen Romancier von Bedeutung ... erst dann (3)
in einem kleinen Lande (4) Publikum/Markt
Autor
Durchschnitt
Elite
geistiger Mittelstand (1, 2, 4)
›Elite‹ (6)
Durchschnitt
Hohe Qualität
Schreiberiche (1)
›highbrows‹ (1)
Bücherlieferanten (1, 4)
streben nach etwas anderem, als nur holländischer Autor zu sein (1)
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Du Perron lebte zu der Zeit in Paris und war ohnehin stark auf die französische Literatur ausgerichtet. Kein Wunder also, dass er die niederländische Situation oft mit der französischen verglich. Vorbildlich waren die Anerkennung und das Prestige einer ›Elite‹ in Frankreich. Du Perron: Literatur, S. 410.
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Grenzübergänge Schriftsteller für den geistigen Mittelstand (2) Autoren-Damen und -Herren (3)
diejenigen, die nach einem ›Europäischen Niveau‹ streben (5) ›Elite-Autor‹ (6) Werk
Beschränktheit
Weitsicht
›Europäisches Niveau‹ (5) Wohnstuben- und Bauernroman als spezifisch holländische Tradition (2, 5) echt vaterländischer Realismus (3) besondere ›holländische Seele‹ etc. (3)
Zusammengefasst: Heere minderwertiger Autoren produzieren en masse erfolgreiche Romane nach einer festen typisch holländischen Formel für ein Publikum des geistigen Mittelstandes. Dem stehen einzelne Autoren gegenüber, die nach etwas anderem suchen, die Einengung durch die holländische Tradition übersteigen wollen und sich an eine erwünschte Elite wenden. Wo aber das Mittelmaß unzweideutig benannt wird – damit verflochten ist dann auch noch einmal ter Braaks Kategorie der ›DamenAutoren‹ –, bleibt auch hier ›das Andere‹, das ›europäische Niveau‹, weitgehend unbestimmt. Zwar lobt du Perron Qualitäten einzelner Autoren mit verschiedenen Aussagen – ein absoluter Höhepunkt und Maßstab in der niederländischen Literatur ist für ihn Multatuli –,58 doch es ist nicht möglich, einen gleichwertigen Gegenpol zu dem negativ Gekennzeichneten zu erkennen. Wir müssen uns also das entgrenzende Andere fast wie in Kafkas Aufbruch als »weg von hier« vorstellen, hinaus aus der Bedrängung und Verengung des eigenen Umfeldes. Fest steht auf jeden Fall, dass ›das Holländische‹, der ›vaterländische Realismus‹, die ›holländische Seele‹, alles auf der negativen Seite und das Positive, hier sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinne, in der Entgrenzung oder jenseits der Grenze liegt. Ähnlich wie im Zitat von ter Braak ist das Andere, das Ausländische, _____________ 58
Multatuli (1820-1887), mit bürgerlichem Namen Eduard Douwes Dekker, wurde berühmt durch seinen Roman Max Havelaar, der sich mit den kolonialen Verhältnissen in ›Niederländisch-Ostindien‹, der heutigen Republik Indonesien, beschäftigt. Der Roman gilt noch immer als ein Meisterwerk der niederländischen Literatur. Zu du Perrons Verhältnis zu Multatuli siehe Snoek: Du Perron, S. 824ff.
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auch hier Maßstab für die Bewertung der Situation und Orientierung für die Zukunft. Werfen wir zum Vergleich einen Blick auf die Übersicht der holländischen Literatur, die vom Übersetzer Thelen selbst im gleichen Jahr in der deutschen Zeitschrift Die Literatur erschien. Sein Zugriff als ›Chronist‹ ist ein ganz anderer, wie er in den Abschlusszeilen angibt: »Im Vorausgegangenen habe ich versucht, in der Hauptsache die soziologischen Schichtungen der Literatur der letzten zwei Jahre in ihren Hauptadern sichtbar zu machen.«59 Er folgte dabei der Segmentierung, die wir zu Anfang skizziert haben: den beiden lebensanschaulichen und den neutral-liberalen bzw. sozialistischen Segmenten, wie sie in ihren Zeitschriften und durch einzelne Autoren repräsentiert sind. Seine Übersicht der Positionen ist informativ-beschreibend, mit wertenden Aussagen ist er eher zurückhaltend. Wohl aber schenkt er den beiden Freunden ter Braak und du Perron samt ihrer Zeitschrift Forum – in der er auch selber publizierte – die meiste Aufmerksamkeit und misst ihnen die größte Bedeutung für die damalige Zeit bei. Er hebt dabei ihre polemische Stellungnahme hervor – charakterisiert du Perron als verbissenen Kritikaster – und unterlässt es auch nicht, ihr Streben nach »gutem Europäertum im Sinne Nietzsches« zu zitieren,60 jedoch kein Vergleich mit anderen europäischen Literaturen entschlüpft seiner Feder: Das niederländische literarische System erscheint als eine parzellierte Arena, in der ideologische und poetologische Kämpfe stattfinden und eine jüngere Generation im Gewirr der unterschiedlichen Positionen nach neuen Werten sucht. Wenn wir Thelens Stück mit du Perrons Beitrag vergleichen, zeichnet sich ein für unsere Fragestellung relevanter Unterschied ab, dem mit den lexikalischen und semantischen Kategorien der DTA nicht ausreichend beizukommen ist. Es liegt eine perspektivische Differenz vor, durch die _____________ 59 60
Thelen: Echo, S. 349. Im Vorwort zur ersten Ausgabe der Zeitschrift Forum wird das Streben nach ›gutem Europäertum‹ als Teil des Zeitschriftprogramms formuliert. Rekurriert wird hier auf Nietzsches Jenseits von Gut und Böse (1886), in dem Nietzsche sein Zukunftsbild einer kulturellen und seelischen Entgrenzung der Nationalitäten auf ein ›gutes Europäertum‹ hin entwirft. Als Wegbereiter und Meilensteine einer solchen Entwicklung galten ihm die künstlerischen und philosophischen Genies aus der europäischen Geschichte. Hier sieht man auch die Quelle von ter Braaks und du Perrons beschwingtem Denken, ihrem ›europäischen‹ Vokabular und der scharfen Verurteilung eines jeden Nationalismus oder, schlimmer, Provinzialismus. Auch in seinem Beitrag in Das Neue TageBuch (s.o.) weist ter Braak auf diese Idee hin und betont, dass sie im Licht des nationalsozialistischen Denkens wieder höchst aktuell sei. Zugleich ist dadurch auch sein Engagement für die Exil-Autoren motiviert. Übrigens gab ter Braak du Perron und seiner Frau eine Nietzsche-Gesamtausgabe als Hochzeitsgeschenk (Snoek: Du Perron, S. 682).
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sich die ›objektive‹ Wiedergabe Thelens von einer Darstellung du Perrons unterscheidet, in der ein eigenes Selbstbild mitinszeniert ist. Bei du Perron ist eine Spaltung der Perspektive zu beobachten, indem er sich zunächst als Außenseiter präsentiert,61 sich dann mittels der deiktischen Ausdrücke »uns«, »wir«, »unser« doch mit der Seite des holländischen oder ›vaterländischen‹ Literatentums identifiziert, das er dann quasi von innen heraus, aber zugleich mit dem Blick des Außenseiters kritisch-wertend seziert. Im Sinne Sternbergs liegt hier ein Heterogram vor:62 Der Insider schreibt als Outsider und umgekehrt oder, noch verzwickter, der Insider schreibt als Outsider über den Insider als Outsider. Der negativen semantischen Konnotation, die dem ›holländisch‹ beigegeben wird, ist eine ironischkritische Selbstdarstellung mit feindlichen Augen inbegriffen, der sich der Autor zugleich selber zu entreißen wünscht. Doch an anderer Stelle, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Poesie oder mit den wenigen Prosaisten, die du Perron schätzt, erscheint auch die Bestimmung ›holländisch‹ entsprechend positiv besetzt. Die Nationalbezeichnung bleibt also ambivalent und es vermittelt sich dem deutschen Leser ein uneinheitliches Bild und Selbstbild der nationalen Literatur, die mit wenigen Ausnahmen hinter dem Ausland zurückbleibt. Die fast paradoxe Spaltung erscheint noch einmal zusammengeballt in seiner Charakterisierung des von ihm so bewunderten Multatuli, in dem er »alles, was unholländisch sein kann in einem _____________ 61
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Du Perron war übrigens auch nicht in den Niederlanden, sondern in der ehemaligen Kolonie Niederländisch-Ostindien, dem heutigen Indonesien, aufgewachsen und kehrte dorthin zeitweise zurück, lebte aber auch in Frankreich und Belgien; er fühlte sich wohl oft auch als ein ›Fremder‹. Das kommt sowohl in seinem literarischen Werk als auch in seinen Briefen zum Ausdruck (zu seiner Biographie siehe Snoek: Du Perron). In hochkomplizierten Analysen von vielschichtigen narrativ-perspektivischen Gebilden in alt-hebräischen Texten zeigt Sternberg in seinem Hebrews between Cultures auf, wie mittels Gruppenbezeichnungen Grenzen zwischen Gruppen in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung an ethnogeographischen, kulturellen, sprachlichen, politischen, historischen und anderen Achsen entlang demarkiert werden. Seinen virtuosen Analysen sind keine direkten methodologischen Vorgehensweisen zu entnehmen, aber sie schärfen den Blick für verschachtelte linguistische, semantische und narrative Implikationen von Gruppenbezeichnungen in ihrem historisch-soziologischen Zusammenhang. Auch in unserem Beispiel sind Bezeichnungen wie ›holländisch‹, ›vaterländisch‹, ›europäisch‹ semantisch komplex und durch unterschiedliche Perspektiven gefärbt. Wie sich der Gebrauch in der Sprache von ter Braak und du Perron zum discours ihrer Zeit verhält, müsste weiter geklärt werden. Solche Komplexität wird mittels der DTA, welche mehr an der Oberfläche des sprachlich Manifesten bleibt, nicht greifbar und erfordert somit eine Erweiterung und Vertiefung. Dennoch sind Sternbergs Darlegungen durchaus mit dem DTA kompatibel, weil es sich auch hier um Differenzen und Grenzziehungen handelt. Siehe zum »Heterogram« Sternberg: Hebrews, S. 85-87 und die Hinweise im Register.
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Holländer« verkörpert sieht.63 Und der Kontrast mit ›Europa‹ kommt am Schluss seines Beitrags noch einmal deutlich zum Ausdruck, wenn er Werke, die gerade erschienen sind, noch kurz beleuchtet, zugleich auf den aktuellen Kontext hindeutend: […] wir besitzen trotz alledem noch keinen einzigen ›grossen‹ Autor. Doch wird es an verschiedenerlei Ausdrucksformen von soviel neuer Kraft gewiss nicht mangeln: dieses Jahr haben wir schon unseren kleinen Döblin oder Dos Passos in dem Roman Shanghai von Wagener bekommen, wir besitzen unseren kleinen Ehrenburg in dem jungen Autor Revis, und unsere revolutionäre Kraft liegt zünftig vor uns in Partij Remise von Jef Last. Die faschistische Inspiration hat sich, soweit mir bekannt, bis heute lediglich offenbart in einem ebenso billigen wie possierlichen Theaterstück von George Kettmann Jr., aber aller Anfang ist schwer, und die Bewunderung der Parteigenossen findet sich ja des rechten Gleichgewichtes wegen leicht ein.64
Mit Alfred Döblin und Ilja Ehrenburg sind Namen aus dem Umkreis der Exil-Autoren, ja von Autoren der Sammlung genannt, durch die du Perron zuletzt auch seine Bekanntschaft mit der Zeitschrift sichtbar macht und diesen Kreis gleichsam als Zeichen der Anerkennung dem großen Europäertum zuordnet.65 Seine politische Gesinnung und damit auch seine Solidarität sind im letzten ironischen Satz unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. 4. Zum Abschluss Kehren wir am Schluss zu unserer ursprünglichen Frage zurück und fassen wir noch einmal zusammen, was die Daten und Analysen von den Grenzen im niederländischen Polysystem sichtbar gemacht haben. Die quantitativen Daten der mentions waren ein Hinweis darauf, dass die nationale und die internationale Literatur im letzten Jahrhundert unterschiedliche Kompartimente in den Repertoires der niederländischen Kritiker einnehmen. Für die 1930er Jahre fand das eine Bestätigung darin, dass inund ausländische Literatur oft auch separat rezensiert und diskutiert wurden. Die textanalytischen Proben einiger kritischer Dokumente zeigten, dass, wenn beide ausführlicher im gleichen Kontext thematisiert werden, dies oft in kontrastiver Weise geschieht. Die nationale literarische Produktion wird selbstkritisch in der Gegenüberstellung mit dem umgebenden _____________ 63 64 65
Du Perron: Literatur, S. 401. Ebd., S. 410. Dass du Perron jedoch selbst kein Liebhaber von Döblin und Ehrenburg war, davon zeugt ein Brief (an Victor van Vriesland, du Perron: Brieven. Bd. 2, S. 368), in dem er Werke dieser beiden Autoren und zudem eines von Lion Feuchtwanger, der in Die Sammlung prominent vertreten ist, für unlesbar erklärt.
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›Europa‹ als kleinbürgerlich und eingegrenzt abgewertet. Evaluative Differenzen sind demnach mit der Inland-Ausland-Unterscheidung unmittelbar verflochten. In allen Argumenten war die ausländische Literatur der positive Maßstab, an dem die nationalen Produkte zu ihrer Ungunst gemessen wurden. Auffällig ist jedoch, dass das positive Gegenstück des Ausländischen nur vage in Termen eines ›Anderen‹ oder als grenzüberschreitend schlechthin vorgestellt wird. Natürlich sind zwei Beispiele nicht repräsentativ, aber es handelt sich um Aussagen zweier verbündeter Kritiker, die den Lauf der niederländischen Literaturgeschichte entscheidend mitgeprägt haben. Deswegen kann man ihre Stellungnahme als bedeutsam für den Kreis sehen, dem sie angehörten: den Kreis der ›neutral‹-liberalen Literaten, die sich unter anderem dadurch selbst als »Elite« zu profilieren bemühten, dass sie eine kosmopolitische Haltung einnahmen und sich auf ein Repertoire ausländischer Elite-Autoren beriefen.66 Das schließt bei zwei von Even-Zohars Hypothesen an: einerseits, dass ausländische Literatur vor allem dann ins Blickfeld rückt, wenn Bedürfnis nach Innovation und Veränderung innerhalb eines nationalen Systems besteht und bestimmte Aktanten aktiv versuchen, Erneuerungen durchzuführen;67 andererseits, dass Repertoires manchmal auch bewusst konstruiert oder instrumentalisiert werden, um die Identität eines Subsystems zu stärken und für diese auch soziales Ansehen zu erwerben.68 Das polemische Sich-Absetzen-von und Sich-Berufen-auf könnte auf das Bestreben dieses Kreises, sich eine anerkannte Position zu erkämpfen, hindeuten. Die linguistischen Hinweise auf ein gewisses Hin- und Hergerissenwerden bei du Perron lassen sich auch als Zeichen einer noch nicht ganz verfestigten Identität interpretieren. Das Bestreben, aus der nationalen Begrenztheit einer ›kleinen Literatur‹ auszubrechen unter anderem durch das Bemühen, sich einer ausländischen »Elite« oder dem »Europäischen Niveau« anzuschließen, ist auch mit Pascale Casanovas Theorie zu verbinden, nach der die Anerkennung innerhalb anderer Sprachgemeinschaften – vor allem in der Form von Übersetzungen – als Zeichen von Prestige und für die ›kleinen Literaturen‹ als ein wesentlicher Beitrag zum Selbstgefühl gilt.69 In diesem Beitrag sind Grenzen zwischen den Repertoires in- und ausländischer Literatur innerhalb des niederländischen lebensanschaulich neutral-liberalen Subsystems in der Periode zwischen den Weltkriegen sichtbar geworden. Doch dabei sind auch andere Subsysteme zur Sprache gekommen. Von den ›Säulen‹ haben wir in der Einleitung auch kurz das _____________ 66 67 68 69
Siehe zur Elite-Frage ausführlicher Andringa: Translation. Even-Zohar: Position, S. 46ff. Even-Zohar: Factors, S. 26f. Casanova: World Republic. Diese Annahme durchzieht das ganze Buch und wird reichlich exemplifiziert.
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katholische Segment mit seinen teilweise anderen Beurteilungskriterien gestreift. Gesehen durch die Augen der ›neutralen‹ Kritiker zeichnete sich weiter eine Kategorie von Autoren, Literatur und Publikum ab, die ihnen als Repräsentanten einer ur-holländischen Tradition kleinbürgerlichen Realismus galten. Eine Kategorie schreibender Frauen wurde von den beiden männlichen Kritikern ausgesondert und teilweise diesem kleinbürgerlichen Realismus zugeordnet. Darin können wir den Umriss eines provinzialistischen oder ›populären‹ Kulturkreises erkennen.70 Dazu kam dann in den 1930er Jahren der Kreis der Exilanten, der sich durch Sprache, kulturellen Hintergrund, Lebenslage und teilweise wohl auch durch die Art ihres Werks stark von dem nationalen Umfeld abhob. Doch ist im Sinne Mukařovskýs allen diesen Subsystemen gemeinsam, dass sie in sozialen Segmenten verankert sind, deren Merkmale und Veränderungen sich in der literarischen Produktion und Kommunikation spiegeln. Die Grenzen liegen vor allem in den sozialen Unterschieden, ob sie lebensanschaulicher, geo-politischer, kulturell-sprachlicher, geschlechtlicher oder ideologischer Art sind. An den Rändern der Systeme, in den Überschreitungen und Gegenüberstellungen, treten die Differenzen und damit die Grenzen zwischen den Repertoires am ehesten ans Licht und manifestieren sich manchmal auch als Anzeichen gesellschaftlicher Gegensätze und Veränderungen. Durch alles hindurch sehen wir die Wirkung individueller Mediatoren, die in ihrer Rolle als Übersetzer, grenzüberschreitender Kommunikator, Publizist oder Herausgeber zwischen den Subsystemen vermitteln. Bibliographie Andringa, Els: Penetrating the Dutch Polysystem. The Reception of Virginia Woolf, 19202000. In: Poetics Today 27/3 (2006), S. 501-68. Andringa, Els: »For God’s and Virginia’s Sake Why a Translation?« Virginia Woolf’s Transfer to the Low Countries. In: Comparative Critical Studies 3/3 (2006), S. 201-226. Andringa, Els: „Die Sesshaftigkeit hat in Europa aufgehört“. Rezeption und Reflexion der deutschen Emigrantenliteratur im niederländischen Polysystem der dreißiger Jahre. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 33/2 (2008), S. 146-183. Anglès, Auguste: L’accueil des littératures étrangères dans la NRF, 1909-1914. In: Revue des revues 2 (1986), S. 6-12. Boven, Erica van: Een hoofdstuk apart. ›Vrouwenromans‹ in de literaire kritiek 1898-1930. Amsterdam 1992.
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Hier können keine präziseren Angaben darüber gemacht werden, welcher Art ein solcher Kreis ist und inwiefern hier die Grenze zu einem trivialeren Literaturkreis (›populärer Kultur‹) überschritten wird.
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V. Literatur in verschiedenen Kulturen und Medien
GERHARD LAUER
Einleitung
Teilt die Literatur des Alten Ägypten noch etwas mehr mit der digitalen Literatur unserer Gegenwart als die Zufälligkeit eines Wortes wie ›Literatur‹? Eine erste Antwort mag skeptisch ausfallen, wenn nicht auf ein ›Nein‹ erkennen. Zu verschieden scheinen altägyptische Spruchweisheiten auf Tonscherben und die emphatischen Kunstansprüche der Netzperformanz zu sein. Auch fehlt den Alten Kulturen so etwas wie ein eigener Begriff der Literatur, so dass behauptet wird, es habe keinen Sinn, etwa mit Blick auf die ägyptische Hochkultur von ›Literatur‹ zu sprechen, weil hier ein genuin neuzeitlicher Begriff auf eine Alte Kultur rückprojiziert würde, der dieser fremd sei.1 Dieser kulturalistischen Auffassung der Literatur als einer je verschiedenen steht die Vorstellung einer Weltliteratur gegenüber, ein Begriff, der selten ohne Enthusiasmus gebraucht wurde.2 Seit Goethe und Marx wird darunter nicht dasselbe verstanden, sondern so unterschiedliche Dinge wie der ›Wechseltausch‹ der Literatur, die Ablösung der Nationalliteraturen durch eine Literatur für den Weltmarkt oder auch der Kanon transkultureller Werke von Homer über Shakespeare bis hin zu Salman Rushdie. Wie immer man den Begriff der Weltliteratur näherhin fasst, man braucht für ihn mehr als nur die Metapher einer Ähnlichkeit der unterschiedlichen Literaturen. Teilen also die Literaturen der Welt doch Ähnlichkeiten? Überblickt man die Beiträge in dieser Sektion, dann fällt zunächst auf, dass zumindest in den hier untersuchten Alten Hochkulturen der Welt kaum ein expliziter Begriff im Gebrauch war, der dem europäisch-neuzeitlichen Begriff vergleichbar in der Extension wie in dem Set der Merkmale wäre, wenn man darunter vor allem solche Merkmale wie ›Fiktionalität‹ und ›Literarizität‹ fasst. Wichtiger als uns gegenwärtig sind dagegen die Momente der Materialität des Schreibens und Lesens, um Literatur zu fassen. Die schiere Schwierigkeit und damit Seltenheit, schreiben und lesen zu können, tritt _____________ 1 2
Gumbrecht: Egyptology. Vgl. Koch: Weltbewohner.
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hervor, wenn darauf abgehoben wird, in welcher Schrift geschrieben oder welches Schreibmaterial verwendet wurde, mit welchen Instrumenten wie etwa dem Pinsel ein Text abgefasst oder wer der Besitzer eines Textes ist. Auch wenn etwa die Zeit zwischen 1500 und 1100 v. Chr. am Übergang vom Mittleren zum Neuen Reich des Alten Ägyptens massenhaft hergestellte Texte zu kennen scheint, ja, wie Henrike Simon hier aufzeigt, auch ein privater Gebrauch nicht auszuschließen ist, im antiken Rom in den großen Skriptorien ebenfalls für große Auflagen Literatur abgeschrieben und dann verkauft wurden,3 so bleibt doch der Befund, wie Karl-Heinz Pohl in dieser Sektion für die klassische chinesische Literatur herausstellt, dass das Schreiben, Lesen und Besitzen von Literatur mit sozialer Exklusivität verknüpft war und sich darin von neuzeitlichen Vorstellungen von Literatur unterscheidet. Noch ein weiteres Unterscheidungskriterium fällt auf, das mit der Exklusivität zusammenhängt: Die Texte nehmen aufeinander Bezug, gerade weil ihre Verbreitung und ihr Gebrauch auf überschaubare, nicht selten auch in unmittelbarer Kommunikation miteinander stehende Gruppen beschränkt blieb. Wie Alexander Arweiler anhand der römischen Literatur belegt, zitieren die Texte sich gegenseitig, nehmen auf sich selbst als Gattungen Bezug, parodieren sich wechselseitig und haben dabei eine kritische Vorstellung davon, was Literatur ausmachen soll. Sie kennen die heutige Unterscheidung in Kritik und Literatur so nicht und kritisieren sich doch. Sie haben eine explizite Vorstellung davon, wie die Texte entstehen, welche Normen für ihre Abfassung gelten und welches ihre Leser sind und sogar, wie diese zu sein haben. Das gilt mit Einschränkungen auch für Teile der ägyptischen Literatur, wie Henrike Simon zeigt, noch mehr allerdings für die chinesischen Beamtenschichten, die, wie Karl-Heinz Pohl vorführt, sich über einen Kanon von Texten definiert haben, den sie bis hin in die Art und Weise, wie diese Texte kalligraphisch geschrieben werden müssen, zu unterscheiden gewusst haben. Die Eigenschaften der Texte und das Wissen ihrer Schreiber und Leser um diese Texteigenschaften hängen hier auf das Engste zusammen. Dieser Schriftkultur gehört man daher nur an, wenn man die kanonischen Texte angemessen abzuschreiben wusste. Die Grenzen der Literatur sind daher solche ihrer Einübung. Gerade über diese Besonderheit der Alten Kulturen, dass ihre Texte so eng aufeinander Bezug nehmen und so dicht in eine noch wenig zerdehnte Kommunikationssituation eingebunden waren,4 wird deutlich, dass man wohl nicht über einen Begriff der Literatur im engeren Sinne verfügt hat, aber nur deshalb, weil man eines solchen nicht bedurft hat. Wer schreiben _____________ 3 4
Brockmeyer: Stellung. Vgl. Oesterreicher: Revisited.
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und lesen konnte, Texte besaß, wusste sehr wohl, was Literatur in einem engeren Sinne ausmacht. Gerade hier in den Hochkulturen bestimmt der Gebrauch weit mehr als der Begriff darüber, was als Literatur zählt. Die literarische Kommunikation sichert Literatur als Literatur ab. So unterschiedlich diese Hochkulturen zwischen Ägypten, Indien und China auch sind, das Kriterium der Moralität und Weisheit spielt dabei eine signifikante Rolle, denn der Umgang mit dieser Literatur sollte eine Einübung in öffentlich sichtbare, gesellschaftliche Normvorstellungen sein, die als invariant gedacht sind. Entsprechend ist etwa die durch die Kolonialisierung Indiens erzwungene Öffnung der Marathi-Literatur im 19. Jahrhundert, wie Niteen Gupte zeigt, darum bemüht, die Kontinuität zur ältesten Tradition und ihrer Jenseitsbetonung hervorzuheben. Dass einmal mehr auch im Kolonialismus die Schulen den für das Literaturverständnis entscheidenden Rahmen abgegeben haben, steht in der Tradition dieses älteren Verständnisses von Literatur als moralischer Richtschnur. Es ist diese dichtere literarische Kommunikation, die Literatur auch als Kollektivsingular, wenn auch ohne Begriff handhabbar macht. Anders gewendet ist die Vorstellung von Literatur über die Jahrtausende geradezu selbstverständlich von inhaltlichen Erwartungen begrenzt, die etwas mit Weisheit und dem Erhalt des Gemeinwesens zu tun haben. Das schließt, wie mehrere der Beiträge hier zeigen, eine unterhaltende Funktion von Literatur nicht aus. Aber zur Begrenzung des Phänomens trägt diese Funktion weniger bei als die inhaltliche Bestimmung. Damit wird deutlich, dass das Phänomen Literatur schon sehr früh immer auch inhaltlich bestimmt ist und die Erwartung an die Literatur, etwas zur gesamtgesellschaftlichen Moral beizutragen, zu den ältesten Bestimmungen von Literatur gehört, die bis heute nicht verloren ist. Formale Bestimmungen der Literatur kommen dann hinzu, ohne zwingend zu sein, wie die Beiträge zeigen. Auch sie sind uns heute noch vielfach geläufig, wenn auch mit anderen Betonungen. Einleitungs- und Ausleitungsformeln, eine metrische Strukturierung, die Korrespondenz von Inhalt und Form bzw. die sprachliche Angemessenheit an den dargestellten Gegenstand, damit auch ein Ideal der Vollkommenheit, das zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem eines Textes mindestens vage unterscheidet, gelegentlich auch Fiktionalitätssignale oder die Simulation einer gespielten Mündlichkeit zählen dazu. Des Weiteren sind auch solche Merkmale wie Selbstreflexivität und Kritik zu nennen, durchaus auch autor- und werkbewusst, die in der Regel ältere Texte als kanonischer denn neuere ansehen. Schließlich ist auch auf die Benennung der intendierten Wirkung, meist einer solchen die ›zu Herzen‹ gehen soll, hinzuweisen. Das alles sind wiederkehrende Merkmale, die selten alle zusammen, sondern im Sinne einer Familienähnlichkeit ein Feld ausmachen. Das freilich nicht abstrakt und nicht unbedingt als Begriffe, son-
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dern gebunden an die jeweilige Gattung. ›Zur Harfe gesprochen‹ ist im Alten Ägypten an lyrische Gattungen gebunden, Handschrift und Druck unterscheiden Epen von Erzählungen. Erst als Gattung ist Literatur und wird Literatur gehandhabt. In der Summe sind so keineswegs beliebige und unterschiedlich zu gewichtende Merkmale des Phänomens ›Literatur‹ in den unterschiedlichen Kulturen aufzufinden. Zusammen ergeben sie eine Familienähnlichkeit von Merkmalen, die als Prototypen jeweils gattungsabhängig organisiert sind. Die radikale Erweiterung der Möglichkeiten, wie diese Merkmale der Literatur in den digitalen Welten rekombiniert werden können, ist daher nicht darin neu, solche Merkmale von Literatur anders anzuordnen, sondern darin, in dieser Rekombination bisher nicht gekannte Gattungen zu bilden. Wie Roberto Simanowski aufzeigen kann, erlaubt die digitale Literatur, Elemente der bildenden Künste mit solchen der Literatur ineinander zu blenden, so dass hybride, neue Gattungen entstehen, für die es keine Vorbilder gibt. Und doch fällt es niemandem schwer, solche Objekte der Netzkunst als Literatur zu identifizieren. Eben weil die menschliche Wahrnehmung wesentlich über Ähnlichkeitsbeziehungen die Welt erfasst,5 – auch die der Literatur –, stellen selbst radikale Textexperimente wie die der digitalen Literatur ihre Leser und Betrachter nicht vor unüberwindliche Hindernisse. Diese Literatur nutzt nur die Merkmale und Funktionen mit anderen Verknüpfungen und Betonungen. Doch sind die nicht so radikal wie die Gesten, mit denen die digitale Literatur mindestens in ihrer Gründungsphase aufgetreten ist. All diese Befunde der unterschiedlichen philologischen Disziplinen plausibilisieren nicht einen einheitlichen Begriff von Weltliteratur, nach dem alle Literaturen über ein Minimalset von Merkmalen, Funktionen oder Gebrauchsweisen gleichermaßen verfügen würden, noch spricht es umgekehrt für die Auffassung einer radikalen Verschiedenheit der Literaturen. Dass sie weitgehend übersetzbar und zugleich regional und national unterschiedlich sind, schließt sich nicht aus. David Damrosch macht in dieser Sektion eröffnend klar, wie gerade die Ungleichheit der Literatur und ihre Ungleichzeitigkeit zusammengehen mit Vorstellungen einer wachsenden Differenzierung der Literaturen und ihrer Gattungen. Damrosch vertritt dabei die These, dass, je mehr gegenwärtig immer weitere Literaturen in den Kanon der Weltliteratur aufgenommen werden, desto mächtiger der ›Hyperkanon‹ der als Referenzliteratur aufgefassten Texte wird. Auch hier werden die Reichen reicher, die Grenzen nicht unbedingt eingeebnet. Entscheidend für die Vorstellung wie für den Begriff der Literatur sind in diesem Prozess seiner Ausdehnung die Konzepte, wie die Ähnlichkeit und die Ver_____________ 5
Vgl. Hoffmann / Battaglia / Harris / MacLean / Marshall / Mehta: Upshot.
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schiedenheit der Literatur gefasst werden, ob in den Metaphern von Wellen oder Bäumen,6 nach den Mustern von Klassik, Meisterwerken oder als Fenster zur Welt. Die Literatur des Alten Ägypten teilt also mehr mit der digitalen Literatur unserer Gegenwart, als konzeptuell bislang auf den Begriff gebracht worden ist. Bibliographie Brockmeyer, Norbert: Die soziale Stellung der ›Buchhändler‹ in der Antike. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 13 (1973), S. 237-248. Gumbrecht, Hans-Ulrich: Does Egyptology Need a ›Theory of Literature‹? In: Antonio Loprieno (Hg.): Ancient Egyptian Literature. History and Forms. Leiden u.a. 1996, S. 3-18. Hoffmann, Kari L. / Francesco P. Battaglia / Kenneth Harris / Jason N. MacLean / Lisa Marshall / Mayank R. Mehta: The Upshot of Up States in the Neocortex. From Slow Osciallations to Memory Formation. In: Journal of Neuroscience 27 (2007), S. 11838-11841, auch (15.4.2009). Koch, Manfred: Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff ›Weltliteratur‹. Tübingen 2002. Moretti, Franco: Conjectures on World Literature. In: New Left Review 1 (2000), S. 54-68, auch (15.4.2009). Moretti, Franco: More Conjecture. In: New Left Review 20 (2003), S. 73-82, auch (15.4.2009). Oesterreicher, Wulf: Revisited: Die ›zerdehnte Sprechsituation‹. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 130 (2008), S. 1-21.
_____________ 6
Moretti: Conjectures; Moretti: More Conjecture.
DAVID DAMROSCH
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At first sight, it may seem paradoxical to include a discussion of world literature in a volume on »Grenzen der Literatur«, as world literature may be considered to consist of those works that ignore borders and boundaries of many sorts – geographic, generic, and temporal. Yet if the scope of world literature truly is boundless, how can we make sense of the vast array of all the works ever written anywhere in the world? »What can one make of such an idea?« the comparatist Claudio Guillén has asked in alarm. The sum total of all national literatures? A wild idea, unattainable in practice, worthy not of an actual reader but of a deluded keeper of archives who is also a multimillionaire. The most harebrained editor has never aspired to such a thing.1
The present essay will attempt to sketch the boundaries of a global world literature that may be attainable in practice by actual readers, archivists, and editors alike. From Goethe in the 1820s to Franco Moretti and Pascale Casanova today, different observers have sought to chart the conceptual and material boundaries of world literature, but no one definition or approach has yet compelled general agreement. In what follows, I will argue that world literature must be understood in multiple senses. Whether considered as a set of texts or as a mode of circulation, world literature does have definable boundaries, but these boundaries cannot be sketched at only one level, on a single plane. Rather, world literature operates in a multi-dimensional space, in relationship to four frames of reference: the global, the regional, the national, and the individual. These frames of reference, moreover, continually shift over time, and so the temporal dimension serves as a fifth frame within which world literature is continually formed and reformed. Common to most definitions of world literature is a recognition that it is possible to delineate the concept of world literature as something more _____________ 1
Guillén: Challenge, p. 38.
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specific than the plenum of all the world’s literatures, for which the unmodified term ›Literature‹ already suffices. If we consider world literature as including works that achieve an effective life outside their country of origin, we have already begun to give definite boundaries to the concept. Most literary works do not in fact find readers beyond their country of origin, and so the canon of world literature is a fairly selective canon even in expansive times such as the present. Some works can circulate broadly in the original language – Vergil was widely read in Latin in Europe for many centuries, and writers in global languages such as English or Spanish can be read untranslated in many countries. Yet even the writers in global languages are regularly translated into many other languages when they achieve a substantial presence beyond their country of origin: Paul Auster is read in some thirty languages today, and may well sell more copies in translation than in English. This is all the more true of a writer in a less commonly spoken language: Orhan Pamuk has been translated into fifty languages, and his foreign sales vastly outnumber his sales in Turkey. A defining feature of world literature, then, is that it consists of works that thrive in translation. There are always serious stylistic losses when a work is translated, and yet there can be offsetting gains as well, not only in terms of the size of the audience but also in terms of understanding. A work that profoundly challenges home-country values may find its best readers abroad: the Book of Job could only be read in a relatively cautious manner by orthodox readers in the classical Hebrew tradition, and the Thousand and One Nights was long regarded in the Arab world as sub-literary, not worth serious attention at all. Even a work that has a classic status at home gains new dimensions when it travels abroad: Seen together with Sophocles, Kalidasa, and Brecht, Shakespeare looks different than when he is viewed only in the company of compatriots like Marlowe and Jonson. Many works, however, do not take on new meaning and new stature when read in abroad, either because their language simply is not translatable without crippling losses, or because their frame of reference is so exclusively local that they have little resonance abroad. Such works may be treasured and influential within their home tradition but never become works of world literature in any effective sense; they are read abroad, of at all, only by specialists in their culture and language of origin. The distinction between works that thrive in translation and ones that fail to do so is not a distinction in terms of literary quality or even in terms of the author’s own local or global perspective. There can be no more global work than James Joyce’s Finnegans Wake, yet its prose is so intricate and so bound to English – despite, or even because of, its complex multilingual punning – that it becomes a curiosity in translation, hardly readable
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at all. Joyce’s Dubliners, a far more localized work, has been much more widely translated than the Wake, and has had a far greater impact abroad. Indeed, for several decades Dubliners had a far greater impact abroad than at home, where the first edition was quickly destroyed by its own publisher, after he started receiving complaints about the book’s use of vulgarisms and its unflattering portraits of Dublin citizens, some of them by name. The West and the Rest Most works, then, remain within their culture and language of origin; only some ever travel effectively abroad. The selectivity of the corpus of world literature is greatly heightened by the fact that some countries contribute more works to the corpus of world literature than do most other countries, a fact that introduces important issues of political and economic power, worldly matters that must be taken into consideration in any discussion of world literature today. Until recently, students of comparative literature generally took such imbalances for granted. Though some early comparatists such as the Transylvanian Hugo Meltzl advocated a global perspective, more common was a great-power perspective centered on Western Europe. Though himself a Dane, for example, the literary historian Georg Brandes confined himself to discussing the literatures of England, France, and Germany in his Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts in ihren Hauptströmungen (1882). Throughout the twentieth century, most comparative studies focused on the literatures of Western Europe and North America, perhaps extending as far east as Russia but usually skipping over Eastern Europe in the process. The rest of the world was rarely discussed, much less included in full partnership with studies of Western literature. As the comparatist Sukehiro Hirakawa has written of his education in Tokyo in the 1950s, [i]t is true that great scholars such as Curtius, Auerbach and Wellek wrote their monumental scholarly works in order to overcome nationalism. But to outsiders like me, Western Comparative Literature scholarship seemed to be an expression of a new form of nationalism – the Western nationalism, if I may use such an expression. It seemed to us an exclusive club of Europeans and Americans. It was a sort of Greater West European Co-Prosperity Sphere.2
Hirakawa’s ironic analogy of postwar Comparative Literature to Japan’s prewar economic imperialism underscores the discipline’s general bias in the 1950s and 1960s, even though many comparatists thought of themselves as promoting a literary world without borders, a kind of cultural _____________ 2
Hirakawa: Culture, p. 47.
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analog to the United Nations. Idealistic though the Euro-American vision of world literature certainly was, Hirakawa and his colleagues in Tokyo were well aware that the field was dominated by a literary Security Council of quite limited membership, not coincidentally largely coinciding with the membership of the actual United Nations Security Council. In 1960 Werner Friederich, founder of the Yearbook of Comparative and General Literature, regretted that ›world literature‹ rarely encompassed very much of the world at all: Apart from the fact that such a presumptuous term makes for shallowness and partisanship which should not be tolerated in a good university, it is simply bad public relations to use this term and to offend more than half of humanity. [...] Sometimes, in flippant moments, I think we should call our programs NATO Literatures – yet even that would be extravagant, for we do not usually deal with more than one fourth of the 15 NATO-Nations.3
The major-power focus continued to dominate well after Friederich issued his call for an opening out of world literature in Comparative Literature programs. In 1971 the German comparatist Horst Rüdiger offered a strong defense of a major-power comparatism, now by a negative analogy to the United Nations: Comparative Literature, he wrote, must not be seen as eine Vollversammlung der UNO, in der die Stimme der Großmächte so viel zählen wie die der politischen Provinz. Sie ist der liber aureus der ästhetisch geglückten und historisch wirksamen Werke der Literatur in allen Sprachen. Nur diese Beschränkung [...] macht sinnvolle komparatistische Arbeit möglich.4
In principle, Rüdiger’s definition can encompass great books from any point on the globe, yet it is suggestive that in his United Nations analogy he doesn’t even allow that the smaller powers are nations at all, but merely ›political provinces‹. In practice, Rüdiger focuses on writers from the greatpower subset of what Friederich would term ›NATO-literature‹. In his essay, Rüdiger mentions twenty-five writers by name: two classical writers (Homer, Horace), nine Germans, eight French writers, and one writer each from England, the United States, and modern Italy. Comparable proportions can be seen in the most widely used midcentury French survey of the field, Marius-François Guyard’s La Littérature comparée, first published in 1951 by the Presses Universitaires de France in their series ›Que sais-je?‹ and re-issued several times thereafter. Surveying major trends and tasks of comparative literature, Guyard refers to just over 150 writers in the course of his book. This is certainly a substantial number, and yet eighty percent of these writers – 124 in all – come from only three countries: France, Germany, and Great Britain. In addition, Guyard _____________ 3 4
Friederich: Integrity, p. 15. Rüdiger: Grenzen, pp. 4f.
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makes (always brief) reference to twelve Italians, six Americans, four classical Greek writers, four Spaniards, and three Russians. The only writers he mentions from elsewhere in Europe are Erasmus (who wrote in Latin and spent most of his career outside the Netherlands), and the Paris-based, Francophone dramatist Eugène Ionesco. The entire rest of the world is represented by a single reference to one Latin American poet, Rubén Darío. This great-power emphasis is increasingly giving way today to a global focus, and an increasing number of writers is being made available even in anthologies designed for introductory courses. The Norton Anthology of World Masterpieces was content in its first edition of 1956 to survey the world through a total of only 73 authors, not one of whom was a woman, and all of whom were writers in ›the Western Tradition‹ stretching from ancient Athens and Jerusalem to modern Europe and North America. The numbers of included authors gradually expanded, and in the third edition of 1976 the editors finally found room for two pages of writing by a woman, Sappho, but the European and North American focus persisted into the early 1990s, in the Norton as in most other ›world‹ literature anthologies and the courses they served. The Chinese-American comparatist Rey Chow was rightly concerned at the time that the early efforts to broaden the spectrum of world literature weren’t so much dismantling the great-power canon as extending its sway by admitting a few new great powers into the alliance. As she wrote in 1995: The problem does not go away if we simply substitute India, China and Japan for England, France, and Germany. [...] In such instances, the concept of literature is strictly subordinated to a social Darwinian understanding of the nation: ›masterpieces‹ correspond to ›master‹ nations and ›master‹ cultures. With India, China, and Japan being held as representative of Asia, cultures of lesser prominence in Western reception such as Korea, Taiwan, Vietnam, Tibet, and others simply fall by the wayside – as marginalized ›others‹ to the ›other‹ that is the ›great‹ Asian civilizations.5
To a very real extent, the expansion of our understanding of world literature has improved this situation during the past dozen years. The major American anthologies (such as those now published by Longman, Bedford, and Norton itself) today present as many as five hundred authors from dozens of countries, including works originally written in Akkadian, Chinese, Japanese, Kikuyu, Korean, Nahuatl, Quechua, Swahili, Vietnamese, Zulu, and many other languages. Even within the boundaries of Europe alone, Don Quixote now shares the stage with Arabic and Hebrew writing from medieval Andalus, while Welsh laments, Norse sagas, and the poems of the Polish Nobel Prize winner Wislawa Szymborska further expand the linguistic boundaries of courses that once viewed Europe ex_____________ 5
Chow: Comparative Literature, p. 109.
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clusively in terms of the Romance languages, English, German, and Russian. Comparative Literature surveys a whole new world today, including a new ›Old World‹. Classics, Masterpieces, and Windows on the World The more restricted boundaries of the older world literature did have the virtue of allowing – or enforcing – a degree of built-in coherence in terms of literary history and culture. As the focus of world literature broadens, it becomes newly important to define just what it is we are reading when we read a work of world literature. From Goethe’s time onward, definitions of world literature have oscillated among three basic paradigms: as classics, as masterpieces, and as windows on the world.6 These alternative conceptions are implied in such titles as the following: The Harvard Classics (1910), The Norton Anthology of World Masterpieces (1956), and The HarperCollins World Reader (1994). The dates of these three collections correspond to a gradual shift of emphasis, but the three conceptions are not mutually exclusive, and ideas of the classic and the masterpiece continue to figure in many courses and collections. All three definitions still need to be taken into account today. As Frank Kermode has argued in The Classic, classics are foundational works for their culture, most often of imperial or aristocratic origin, often ancient and certainly influential over time. As enshrined academically in departments of Classics, the term was used to refer to Greek and Latin literature tout court. In principle, the study of Classics could encompass virtually any author active in those ancient cultures, whether major authors such as Sophocles and Vergil or figures of far less exalted literary status, such as the Roman playwright Livius Andronicus. As the Encyclopaedia Britannica admitted in 1910, »to judge from the insignificant remains of his writings, and from the opinions of Cicero and Horace«, Livius Andronicus »can have had no pretension either to original genius or to artistic accomplishment«. Yet the Britannica devoted a respectful article to his work as a translator and a pioneer of Greek techniques on the Roman stage: »His real claim to distinction«, the article declares, »was that he was the first great schoolmaster of the Roman people«. Though classical culture retains a definite prestige today, minor Roman writers can no longer be assured of the attention they received in 1910; the current online edition of the Britannica regrets to inform a searcher that it can find no references at all _____________ 6
I discuss these definitions further in Damrosch: What Is World Literature?, pp. 1-36.
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(much less a free-standing article) for Livius Andronicus in its myriad electronic pages. Whereas collections such as the Loeb Classical Library never hesitated to make room for minor as well as major authors, aesthetic criteria come to the fore in conceptions of world literature as the corpus of the world’s masterpieces. To a practicing author such as Goethe – the first great promoter of the idea of Weltliteratur – an emphasis on world masterpieces had the considerable advantage that his best works could take their place in this pantheon during his own lifetime, rather than only long after his death. In contrast to the vertical orientation of the classical tradition, extending upward in time from the deep past, the category of ›the masterpiece‹ works just as well on a contemporary, horizontal plane. The world masterpiece can be recognized almost as soon as it is published to glowing reviews and begins to circulate in translation. Far from needing to live in a cultural capital such as imperial Rome, the writer of a masterpiece can come from a small country (such as the duchy of Saxe-Weimar in a not-yet-unified Germany), and can personally stem from quite modest origins: Johann Wolfgang Goethe was granted the aspirational ›von‹ by his Duke only at age thirty-three. The emphasis on masterpieces has advantages for the teacher as well as for the writer, since it is a highly selective category. This frees an instructor to take up only a few works in a course, with no need to set the major authors within a frame of the much larger body of less transcendent writing around them. Where The Harvard Classics ran to fifty volumes, the Norton World Masterpieces could make do with two, conveniently arranged for use in a two-semester survey course. The masterpiece thus offers a kind of inverse economy of scale: the greater the works, the fewer of them you really need to teach. A culturally grounded course in Dante might logically entail assigning dozens of associated writers, from the theologians Thomas Aquinas and Bernard of Clairvaux to the poets Brunetto Latini and Bertran de Born – all of whom appear as characters in the Commedia – but a masterworks course can leap directly from peak experience to peak experience: from the Aeneid to the Commedia and on to Paradise Lost and Faust. Such a course can emphasize the gradual unfolding of a classical tradition, but the presentation of world masterpieces can equally take the form of a multi-polar ›great conversation‹ among works grouped in an ideal simultaneity. This conversation can be held among works that are linked by genre or theme, with little reference to historical influence or national context. The conversation may be inscribed within the texts themselves, in references to predecessors or to contemporary rivals, but it can equally be constructed at will by the instructor, as when a course pairs The Iliad and
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The Mahabharata, with no need to show any genetic connection from one to the other. Since the mid-1990s, the classical and masterpiece approaches have increasingly been supplemented by an emphasis on a view of world literature as a set of windows on the world. Reacting to the tendency of earlier models to focus largely or even exclusively on works by a few privileged (usually white and male) authors from a handful of Western countries, many comparatists have broadened their focus to include intriguing conjunctions of compelling works of many origins. These works may be discussed and taught regardless of whether they can be described as ›masterpieces‹ – or at least as what Western readers might readily recognize as masterpieces. Thus the HarperCollins World Reader includes substantial sections on African and Amerindian oral works, which aren’t even literature at all in the etymological sense of ›written in letters‹. In her preface to the collection, general editor Mary Ann Caws emphasizes that the anthology has been created from »a global perspective« and with the selections and arrangement »determined by their own cultural context rather than by Western or Eurocentric preconceptions«.7 Not only do these writers represent different cultural circumstances and artistic norms; they need not be dominant figures even within their home culture. The collection showcases »marginal as well as mainstream voices in literature, particularly the inclusion of women’s voices«.8 Distinct in theory, the three definitions of ›world literature‹ are often combined in practice. Goethe, indeed, held all three views simultaneously, cherishing the Greek and Latin classics he read in the original, promoting the modern masterpieces he and his friend Schiller were composing, and enjoying Chinese novels and Persian poetry as windows on very different worlds of culture and aesthetic expression. World literature surveys have long combined all three approaches, as in the case of Columbia University’s venerable great books course, Literature Humanities, which has a Classics-based fall semester giving a window onto Greco-Roman literary culture, followed by a spring semester of European masterworks. Conversely, the new global anthologies include works far beyond the purview of traditional Western-based courses, but they still typically give most of their pages to works long recognized as masterpieces within their culture of origin. The Tale of Genji can’t be read in the same way as Don Quixote, but it is equally a masterwork, and Murasaki and Cervantes offer windows on their respective worlds of Heian Japan and early modern Spain. _____________ 7 8
Caws / Prendergast: World Reader. Vol. 1, pp. xl-xli. Ibid., p. xli.
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This sort of blending of perspectives is nothing new, and it can already be seen in a multivolume collection published over a century ago under the title The World’s Great Classics (Hawthorne, 1901). The title shows the collection’s debt to the classicist ideal, while the use of the term ›great‹ shows that the collection will be made up of a subset of classics: great books or masterpieces. Interestingly, the series first appeared in 1900 under the title The World’s Greatest Literature; the following year the publisher decided to up the ante from ›Literature‹ to ›Classics‹, but at the same time toned ›Greatest‹ down to ›Great‹. This latter choice reflects the editors’ ambition to move well beyond the ranks of what their readers would have recognized as the greatest names in world literature. The sixty-one-volume series came to include volumes on East Asia, the ancient Near East, ›Moorish literature‹, and even Armenian literature. A 450-page volume is devoted to Turkish literature – »Comprising«, as its subtitle says, »Fables, BellesLettres and Sacred Traditions, Translated into English for the First Time«. The volume’s editor, Epiphanius Wilson, included anonymous folktales together with upper-class poetry and bourgeois drama, offering his readers a mimetic view of literature as directly reflecting national character and culture. One Turkish playwright’s works, for example, »reflect domestic, forensic, and official life at Constantinople during the last century as truly as those of Molière reflect the speech and manners of Parisian society as they existed in the reign of le grand monarque«.9 Writing for the all too aptly named Colonial Press, Epiphanius Wilson wasn’t finally prepared to set Turkish culture on a par with European. »The weaknesses of the Turkish character«, he announces at the outset, are »reflected in fables which contain but little wisdom, [displaying] the apathy which puts up with everything« and »the want of enterprise and energy which is characteristic of the Turk«.10 Yet against his own prejudices, Wilson asserts that the fables »bear a reality about them which is lacking in the artificial productions of Gay and Lessing«,11 and he makes unequivocal claims for Ottoman poetry: »In imagination and passion these Ottoman poems will hold their own in any company.«12 Though we can hope to surpass Epiphanius Wilson in achieving a cosmopolitan equality of regard for the world’s cultures, the reality principle is only useful up to a point. Artifice and realism mingle in the works of Fuzuli, Nedîm, and Orhan Pamuk as much as in the productions of Gay and Lessing. Taken to a logical extreme, moreover, the view of literary works as win_____________ 9 10 11 12
Wilson: Literature, p. iv. Ibid., p. vii. Ibid., p. vii. Ibid., p. iv.
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dows into distant times and places will tend toward extensive culture-specific study: Truly to see Dante in his world, we should devote years of research to him and his immediate contemporaries, ideally supplemented by extended research into Roman and Florentine history, art, religion, and literature. Any broad study even of a single national tradition requires high degree of selectivity in its use of cultural and historical context, but a degree of distancing from the home context is precisely what ensues whenever a work travels beyond its time and place of origin. What occurs with works of world literature is a heightened form of the transformation that already takes place when a work from an early period is read in a later era even within its own country: It enters into new relations with new texts and new readers, who will inevitably know much less about the work’s original context than its first readers did. The original national context will usually continue to have an important weight even for readers abroad, but at the same time the work enters into new regional and global relations. As a result, the work comes to function in a variety of frames of reference, which can interact in new and surprising ways. World, Region, Nation The interplay of national, regional, and global contexts has been present as long as the idea of Weltliteratur itself. If contemporary globalization gives a new prominence to sweeping patterns of distribution and reception, these new planetary movements continue to co-exist along with vital national and regional cultures and markets. In his early discussions of Weltliteratur with his young secretary and disciple Johann Peter Eckermann, Goethe already showed a clear awareness of all three levels of literary circulation. He was intensely interested in the promotion of German literature abroad, and in the refinement of German literary culture in light of foreign views. As John Pizer has emphasized in his book The Idea of World Literature (2006), Goethe’s focus on Weltliteratur in the 1820s was shaped by German intellectuals’ disappointment that Germany had not achieved national unity in the wake of the fall of Napoleon. Goethe felt that as a center of literary production, translation, and circulation, Germany could exercise a cultural sway despite the lack of a unified political identity: He emphasized to Eckermann »daß [er] überzeugt sei, es bilde sich eine allgemeine Weltliteratur, worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle vorbehalten ist«.13 Relatively weak and divided in themselves, Germany’s writers would gain strength, in Goethe’s view, by their participation in the regional culture of _____________ 13
Eckermann: Gespräche, p. 908.
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Western Europe. Throughout his conversations with Eckermann, Goethe stresses the value of the wider regional context, both as a marketplace for ideas and books, and as a source of renewal and new inspiration for local authors: »Eine jede Literatur ennuyiert sich zuletzt in sich selbst, wenn sie nicht durch fremde Teilnahme wieder aufgefrischt wird«14 – a perspective only underscored by Goethe’s choice of a French loan-word to describe the ennui that an isolated German author would come to feel. If the region is Goethe’s primary focus, he is alive to a broader global context as well. It is highly significant that in the very days in which he was first developing his ideas on Weltliteratur in his conversations with Eckermann, Goethe was reading a Chinese novel, in French translation, and a collection of Serbian poetry, in German translation. In his most famous pronouncement on world literature, Goethe identifies Weltliteratur as the coming literature of the modern age, an age he envisions as virtually postnational: »Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.«15 Increasing attention is being paid today to the idea of world literature as a global phenomenon. In Death of a Discipline, Gayatri Spivak has called for a »planetary« perspective that would definitively supplant the Eurocentrism of older comparatist studies. What this perspective might mean in practice can be illustrated by the work of Franco Moretti and Pascale Casanova. In an article entitled »Conjectures on World Literature« (2000) and more recently in a book (Graphs, Maps, Trees, 2005), Moretti has proposed to study world literature through the dual lenses of Immanuel Wallerstein’s world systems theory and of Darwinian evolutionary theory. Arguing that the world’s literature forms a system that is »one, and unequal«.16 Moretti proposes a model that would study the ebbs and flows of genres across regions and around the globe. In Moretti’s view, the European novel can be mapped as an invasive species, spreading around the world in the wake of colonial and neocolonial political and economic developments, putting down roots in cultures that previously had little history of extended prose fiction, and variously suppressing traditional genres and inspiring new creativity, usually after an initial period of uncertain, derivative composition. Moretti’s system operates at a high level of generality, as new genres and new media such as film sweep their way around the world, almost impersonally carried along in the wake of the movements of global capital. _____________ 14 15 16
Ibid., p. 896. Ibid., p. 198. Moretti: Conjectures, p. 149.
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He goes so far as to claim that literary history should eschew close reading in favor of tracing large-scale patterns discernible through »distant reading« of publication data and sales figures.17 Moretti’s model can perfectly well be combined, though, with close reading of exemplary texts, and close study of literary works is surely central in any full understanding of the ways in which the norms of the realist novel, or the film noir, are adapted and reinvented in new cultural contexts. If the pure form of Moretti’s theory is relatively abstract, matters get much more concrete and personal in Pascale Casanova’s La République mondiale des lettres (1999), which sees writers as competing for attention and prestige in an increasingly global market. Like Moretti, Casanova emphasizes the political and cultural inequalities of her »world republic of letters«, in which some nations are favored contenders, and of which Paris was long a crucial node of circulation and recognition. Observers outside France are unlikely to agree that Paris has ever been the sole capital of the republic of letters; certainly London, Berlin, Barcelona, St. Petersburg, New York, and Beijing among other cities have been enters of major publishing industries and have had major impact on the success of works abroad. Casanova’s model is perhaps best seen not as a global model but instead as a regional one, well attuned to the central role of Paris – »capital of the nineteenth century«, in Benjamin’s phrase – within Western Europe and for its colonies and now former colonies. Casanova’s argument shows a complex (and perhaps not fully worked through) mixture of nationalism and anti-nationalism. Paris holds pride of place as the proving-ground for authors who wish to shine on the world stage, and yet throughout her book Casanova argues that it is France’s writers who are in the foreigners’ debt: The vitality of French literature itself is in significant part due to the influx of new ideas and creativity coming in the form of traveling works and immigrant authors. Her book has been criticized for its Paris-centeredness, most sharply by Christopher Prendergast in the introduction to his edited collection Debating World Literature, but it is not altogether surprising that a French writer should see world literature from a nationally-inflected perspective. The nation remains a key locus of the creation and circulation of world literature, as well as of the training of the people who discuss literature. At the same time, there are new efforts under way to conceive of regions such as Europe on a more capacious basis than the focus on just a few large literatures. This expansion is starting to influence the writing of literary history as well as the teaching of world literature. An ambitious first attempt to reconceive the boundaries of European literature can be _____________ 17
Ibid., p. 155.
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found in Annick Benoit-Dusausoy’s and Guy Fontaine’s History of European Literature (2000), to which a hundred and fifty scholars contributed. As the editors say at the outset, »[a] persistent obsession with nationhood, limiting an author to one particular area, linguistically and geographically, is a mindset, passed on to us by the nineteenth century, that dies hard.«18 In place of nations, the volume offers pan-European movements (humanism, the Enlightenment, Romanticism), genres (the traveler’s tale, the picaresque novel), and broad themes (sensibility and genius, Woman and Myth). Though still somewhat top-heavy in its representation of French writing – the Marquis de Sade, for instance, is given major-author attention, unlike Alexander Pope or Friedrich Schiller – Benoit-Dusausoy’s and Fontaine’s volume represents a major shift from most earlier practice, freely interspersing Hungarian, Dutch, and Catalan writers among the great-power figures. Discussing the Symbolist movement, for example, the contributors include the Czech Karel Hlaváč, the Greek Konstantinos Hadjopoulos, the Swede Vilhelm Ekelund, the Hungarian Jenö Komjáthy, the Bulgarian Ivan Vazov, and the Flemish August Vermeylen along with such standard figures as the French poets Rimbaud and Verlaine, the German Stefan George, and the English aesthetician Arthur Symons.19 More has changed in the thirty-five years since Rüdiger delineated the »Grenzen und Aufgaben« of comparative literature than in the century between Rüdiger and Georg Brandes.20 Even in broadly conceived accounts of regional cultures, nations retain a major role, though the nature and extent of their role are far from selfevident. This issue has provoked controversy throughout the postwar era. The debate over the Francocentrism of Casanova’s book, for instance, echoes the critique that the Czech-American comparatist René Wellek made of Guyard’s La Littérature comparée forty years before. Discussing Guyard’s book in the American Yearbook of Comparative and General Literature in 1953, Wellek disparaged Guyard’s emphasis on French writers’ fortunes abroad and on other countries’ relations with France.21 In a preface to a new edition of his book in 1965, Guyard felt the need to defend his emphases against Wellek’s criticism. He roundly denied that his frequent recurrence to French writers might reveal »un nationalisme qui serait plus choquant ici qu’en tout autre domain«. Rather, he says, »ce manuel s’addresse d’abord aux jeunes Français qui abordent en France les études comparatistes«, and _____________ 18 19 20 21
Benoit-Dusausoy / Fontaine: History, p. xxvii. See ibid., pp. 498-502. Rüdiger: Grenzen. Wellek: Concept, pp. 2f.
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so the emphasis on French writers »n’a d’autre explication que ce souci tout pragmatique«.22 We may well share Wellek’s unease about Guyard’s flagrant Francocentrism, and yet Guyard’s self-defense is worth taking seriously. As he recognized, the world’s literature is not an ideal order existing beyond time, space, and culture; it is always seen from somewhere, taking pragmatic shape as what is available to buy in bookstores and what is assigned in classes. Addressing students who would have read little modern literature beyond the French canon during their years in the lycée, Guyard hoped to entice them to look beyond the borders of France by stressing the vital connection of the French classics to German, English, and Italian literature. In the past, the study of world literature often found itself in tension with the study of national literatures. Specialists based in one or another national literature department were often suspicious of world literature courses as culturally superficial and linguistically hobbled by their reliance on translation; such courses were allowed, if at all, only as introductory surveys, preparatory to the serious work that would be done once students committed to mastering a language and studying a national culture in depth. European universities have tended to expect their literature students to work largely or even exclusively in a single linguistic tradition, leaving little time for comparative work. Comparatists, in turn, could speak dismissively of »the nationalistic heresy«, as Albert Guérard put it in a lead article of the Yearbook of Comparative and General Literature in 1958.23 Looking forward to a coming integration of literary studies across national borders, Guérard found an analogy in the nascent plans for the European Union: »Comparative Literature will disappear in its very victory«, he predicted; »just as ›foreign trade‹ between France and Germany will disappear in the Common Market; just as the ›foreign relations‹ between these two countries will be absorbed by a common parliament«.24 The only real question for comparatists, Guérard claimed, was ›How and When Shall We Commit Suicide?‹ His answer was ›Not yet: we are needed so long as the nationalistic heresy has not been extirpated‹.25 Today we can see that Brussels and Geneva are not about to absorb the full governmental authority of Paris and Berlin, and we can allow that the nation continues to be a crucial setting within which most writers work and most books are read. World literature exists in a dialectical relation to the national culture within which any given reader is situated – both ex_____________ 22 23 24 25
Guyard: Littérature comparée, p. 7. Guérard: Comparative Literature, p. 4. Ibid. Ibid., p. 5.
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tending the possibility of what one knows from one’s home tradition and yet also profoundly shaped by it as well. During the past fifty years, the balance has certainly shifted outward toward inclusion of much more of the world, but it remains the case that world literature will take a different shape in each region and country where it is realized in the concrete form of syllabi, available translations, and languages known by a given readership. Shadow Canon, Countercanon, and Hypercanon Thanks to an explosion of high-quality translations of new works and retranslations of older classics, there has been a steady expansion over the past several decades in the range and variety of works that can be read as world literature today. At times, it seems to some observers that the older canon of European classics and masterworks has fallen away altogether. As Christopher Braider has recently written, contemporary postcolonial scholars »have not only completed the critical dismantling of the inherited literary canon, but displaced the European metropolis from the traditional center of comparatist attention«.26 This dismantling, however, is only half the story, and not only because it hasn’t yet occurred in practice to the extent that it has been achieved in postcolonial theory. We do live in a postcanonical age, but our age is postcanonical in much the same way that it is postindustrial. The rising stars of the postindustrial economy, after all, often turn out to look a good deal like the older industries, most of which continue to be in business as well: Amazon needs warehouses of bricks and mortar, and more automobiles than ever crowd the roads in the age of the internet’s ›information highway‹. World literature presents a comparable situation; new writers are now under discussion, but the older European ›major authors‹ are mostly very much in view as well. Indeed, many of them are more discussed than ever, and they continue to be more strongly represented in survey anthologies than all but a very few of the new discoveries of recent decades. The James Joyce who used to be a central figure in the study of European modernism now inspires ambitious collections of articles with titles like »Semicolonial Joyce« and »Transnational Joyce«. Undeniably, comparatists today are giving more and more attention to ›minor literatures‹ and contestatory perspectives, yet these perspectives are applied as readily to the major works of the older canon as to emergent works of the postcanon. How can this be? Something surely has to give. The number of hours in the day, and the number of weeks in the semester, haven’t expanded along _____________ 26
Braider: Monuments, p. 161.
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with the canon of world literature, yet we are definitely reading all sorts of works beyond the pale of the old ›Western Masterpieces‹. We must be reading them in place of something: hence the frequent assumption, especially by the attackers of the recent expansion, that scholars are abandoning Shakespeare for Toni Morrison. But this is not so. Instead, just as in the postindustrial economy, what has happened is that the rich have gotten richer, while most others just scrape by or see outright declines in their fortunes. It is too simple to say that the old canon has vanished. Rather, the canon of world literature has evolved from a two-tiered system into a three-tiered one. Formerly, world literature could be divided into ›major authors‹ and ›minor authors‹. Even in the heyday of the ›masterpiece‹ approach, a range of minor Western authors could still be found accompanying the major authors in anthologies, on syllabi, and in scholarly discussion: Apuleius and Petronius formed the frame from which Vergil and Ovid cast their radiance abroad to the world; the 1956 Norton Anthology included Aleksandr Blok along with its far more extensive selections from Tolstoy and Dostoevsky. In place of this older, two-tiered model, our new system has three levels: a hypercanon, a counter-canon, and a shadow canon. The hypercanon is populated by the older ›major‹ authors who have held their own or even gained ground over the past twenty years. The counter-canon is composed of the subaltern and contestatory voices of writers in less-commonly-taught languages and in minor literatures within great-power languages. Many, even most, of the old ›major‹ authors coexist quite comfortably with these new arrivals to the neighborhood, very few of whom have yet accumulated anything like their fund of cultural capital. In the field of world literature today, it is the old ›minor‹ authors who fade increasingly into the background, becoming a sort of shadow canon that the older scholarly generation still knows (or, increasingly, remembers fondly from long-ago reading), but whom the younger generations of students and scholars encounter less and less. Kafka is extensively represented in all major world literature anthologies today; Kleist is found in none of them. Wordsworth and Byron are more discussed than ever, both by national literature specialists and by comparatists; William Hazlitt and Robert Southey are far less discussed today than thirty years ago even by specialists and have fallen almost completely off comparatists’ radar screens. This canonical bifurcation is pronounced even within a single period in a single country. The disparities of attention are more dramatic still when it comes to world literature, given the severe pressures of time and numbers involved, and the hypercanon is now extending far beyond the classic texts long enshrined in the older fields of study. In world literature, as in some literary Miss Universe competition, an entire nation may be represented by
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a single author: Indonesia, the world’s fifth largest country and home of ancient and ongoing cultural traditions, is usually seen, if at all, in the person of Pramoedya Ananta Toer. Jorge Luis Borges and Julio Cortázar divide the honors for Mr. Argentina. A high degree of selectivity may be understandable in view of world literature’s new scope, yet it is remarkable to see how the hypercanon has come to create divisions even in the newly emergent field of postcolonial studies. This field has shown rapid growth during the past twenty years, but this growth has affected different authors in very uneven ways, to a degree that seems quite disproportionate to any differences of artistic quality or literary influence. A few favorite writers have emerged into a new, postcolonial hypercanon: Salman Rushdie is constantly discussed, as are Chinua Achebe, Derek Walcott, and a handful of others, and yet most other authors have achieved nothing like their ubiquity, and instead are the subject of only a few articles each year.27 Additionally, in postcolonial studies as in British Romanticism, there is a shadow canon of figures everyone ›knows‹ (most often just through one or two brief anthology pieces) but who are rarely discussed in print: Fadwa Tuqan and Premchand have each been the subject of only a small handful of articles in the past twenty years. Some members of this shadow canon formerly loomed larger in discussions of colonial and postcolonial literature but are now being rather directly eclipsed by the ascendancy of other authors into the hypercanon: Alan Paton gives way to Nadine Gordimer, R. K. Narayan is upstaged by Salman Rushdie. The great ghazal poet Ghalib was regularly discussed in the 1960s and 1970s but is almost never written about today outside India, perhaps not in favor of any specific other poet but as a consequence of a general shift toward the twentieth century. All in all, even without the inherited underpinnings of author-specific journals and special interest groups (The Wordsworth Circle; the Shakespeare Studies Association), it appears that postcolonial studies is reproducing the hypercanonical bias of the older Europe-based fields. What Rey Chow warned in 1995 may have been averted at the level of the nation only to return at the level of the celebrity author.
_____________ 27
For tables showing levels of scholarly attention to a variety of postcolonial and other writers, see Damrosch: World Literature, from which this section of the present essay is adapted.
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The Reader For all its theoretical extent, in practice world literature is what an individual reader experiences in reading works written outside the reader’s own home tradition. For the nonspecialist reader of a foreign work, reading takes place in what can be described as an elliptical space bounded by the work’s culture of origin and the reader’s own culture. Inevitably, the reader’s understanding of the foreign work will be conditioned by prior experience, first and foremost the fund of knowledge and expectations developed within the home tradition, but often also the expectations generated by previous reading of other works from the foreign culture: If we pick up a new novel by Murakami Haruki, or a previously unread classic by Gogol, we will read these books with certain expectations as to what ›a Japanese novel‹ or ›a Russian novel‹ will be like, if we already know other books by Kawabata and Tanizaki, or by Tolstoy and Dostoevsky. The new work will interact with these expectations, potentially destabilizing them even as it takes a new shape and significance from these relations. Particularly when we read a work in translation, the book already comes to us shaped by the translator’s choices and the publisher’s framing of the text for its new market. An assimilative edition can adapt the foreign work strongly toward host-country norms, while a ›foreignizing‹ translation can emphasize the work’s difference, its violation of local expectations. Writers and readers alike often turn to world literature to provide resources and aesthetic experiences beyond what is available at home. Even as readers reach out in this way, they may not realize how strongly their prior expectations affect the way they read, and people who have a good knowledge of the foreign work’s language and culture are often distressed to find how the original work has become distorted in the process, whether by mistranslation or by culturally obtuse misreading, whether assimilative or exoticizing in character. It is the role of the scholar and teacher of world literature to keep readers alive to cultural difference and to develop illuminating analyses of creative conjunctions of distant works. At the same time, it would be a mistake to suppose that a work’s foreign reception involves a simple process of loss of essence; rather, a work takes on a new form as it travels abroad, showing new facets and features that are brought into view in its new surroundings. The borders of world literature are formed at once on a global scale and at the most individual level, made and remade in the shifting relations between world-wide capital flows, national publishing industries and university systems, and the personal preferences of individual readers, who may be drawn to very different works for all sorts of reasons. The ultimate boundary of world literature is found in the interplay of works in a reader’s
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mind, reshaped anew whenever a reader picks up one book in place of another, begins to read, and is drawn irresistibly into a new world. Bibliography Benoit-Dusausoy, Annick / Guy Fontaine (eds.): History of European Literature. Trans. by Michael Wooff. London 2000. Braider, Christopher: Of Monuments and Documents: Comparative Literature and the Visual Arts in Early Modern Studies, or The Art of Historical Tact. In: Haun Saussy (ed.): Comparative Literature in an Age of Globalization. Baltimore 2006, pp. 155-174. Brandes, Georg: Die Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts in ihren Hauptströmungen. Leipzig 1882. Casanova, Pascale: La République mondiale des lettres. Paris 1999. Chow, Rey: In the Name of Comparative Literature. In: Charles Bernheimer (ed.): Comparative Literature in the Age of Multiculturalism. Baltimore 1995, pp. 107-116. Caws, Mary Ann / Christopher Prendergast (eds.): The HarperCollins World Reader. 2 vols. New York 1994. Damrosch, David: World Literature in a Postcanonical, Hypercanonical Age. In: Haun Saussy (ed.): Comparative Literature in an Age of Globalization. Baltimore 2006, pp. 43-53. Damrosch, David: What Is World Literature? Princeton 2003. Eckermann, Johann Peter. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Berlin 1982. Eliot, Charles W. (ed.): The Harvard Classics. 50 vols. New York 1910. Friederich, Werner: On the Integrity of Our Planning. In: Haskell Block (ed.): The Teaching of World Literature. Chapel Hill 1960, pp. 9-22. Guérard, Albert: Comparative Literature? In: Yearbook of Comparative and General Literature 7 (1958), pp. 1-6. Guillén, Claudio: The Challenge of Comparative Literature. Trans. by Cola Franzen. Cambridge/MA 1993. Guyard, Marius-François: La Littérature comparée. [1951]. 4th ed. Paris 1965. Hawthorne, W. et al. (eds.): The Best of the World’s Classics. 61 vols. London, New York 1901. Hirakawa, Sukehiro: Japanese Culture: Accommodation to Modern Times. In: Yearbook of Comparative and General Literature 28 (1979), pp. 46-50. Kermode, Frank: The Classic. London 1975. »Livius Andronicus«. In: Encyclopaedia Britannica. 11th ed. London 1910-1911. (06.07.2008) Mack, Maynard et al. (eds.): The Norton Anthology of World Masterpieces. 2 vols. New York 1956. Moretti, Franco: Conjectures on World Literature [2000]. In: Prendergast: World Literature, pp. 148-162). Moretti, Franco: Graphs, Maps, Trees: Abstract Models for a Literary Theory. London 2005. Pizer, John: The Idea of World Literature: History and Pedagogical Practice. Baton Rouge 2006. Prendergast, Christopher (ed.): Debating World Literature. London 2004. Rüdiger, Horst: Grenzen und Aufgaben der Vergleichenden Literaturwissenschaft: Eine Einführung. In: H.R. (ed.): Zur Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Berlin, New York 1971, pp. 1-14.
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HENRIKE SIMON
Literatur im Alten Ägypten
1. Problemskizze und Zielsetzung Die ägyptologische Forschung sieht sich in der Auseinandersetzung mit der Frage, ob es im Alten Ägypten ›Literatur‹ gegeben hat und wenn ja, wie diese zu bestimmen ist, einer Vielzahl fachspezifischer Probleme gegenüber. Die Möglichkeiten werden schon durch die Voraussetzungen eingeschränkt: Das überlieferte Quellenmaterial ist in seinem Umfang vergleichsweise gering und in seinem Erhaltungszustand zumeist fragmentarisch. Erschwerend kommt hinzu, dass in Ägypten keine wissenschaftsähnliche Beschäftigung mit Texten auszumachen ist. Anders als in modernen Gesellschaften, in denen über literarische Strategien und die schöpferische Leistung von Autoren mehr oder weniger intensiv verhandelt wird, fehlt in Ägypten beinahe jegliche Form eines Metadiskurses. Insofern verwundert es nicht, dass weder ein allgemeiner Begriff für ›Literatur‹ überliefert ist, noch, dass die ägyptologische Literaturwissenschaft zur Ordnung ihres Gegenstands nur bedingt auf zeitgenössische Gattungsbezeichnungen zurückgreifen kann. In den ägyptischen Texten begegnen lediglich einige wenige Termini, die auf ein spezifisches Literaturverständnis oder die Zugehörigkeit eines Textes zu einer bestimmten Gruppe hindeuten. In der Regel handelt es sich bei den Begrifflichkeiten um unfeste, okkasionell gebrauchte Vokabeln oder neutrale Bezeichnungen wie ›zx#‹ (›Schrift‹, ›Buch‹), die keine allgemein verbindliche Aussage über Form, Inhalt oder Zweck des niedergeschriebenen Textes ermöglichen. Damit sind jedoch längst noch nicht alle Probleme angesprochen, mit denen die ägyptologische Literaturwissenschaft bei der Untersuchung und Bewertung von Schriftquellen konfrontiert ist. Durch die Adaption fachfremder, vor allem literaturwissenschaftlicher Denkmodelle treten weitere, epistemologische Schwierigkeiten auf, die nicht zuletzt auf eine mangelnde ägyptologische Selbstreflexion zurückzuführen sind. So geht Hans Ulrich Gumbrecht davon aus, dass sich die Übernahme literaturwissenschaftli-
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cher Modelle in die Ägyptologie grundsätzlich verbietet – nicht nur, weil der Ägypter an sich ›nicht über ›Literatur‹ sprach‹, sondern auch, weil die Ägyptologie ganz anderen wissenschaftlichen Standards verpflichtet sei als die moderne Literaturwissenschaft.1 In der Konsequenz spricht er einer ägyptologischen Literaturtheorie gar ihren grundsätzlichen Nutzen ab, um dem Ägyptologen stattdessen eine historische Lektüre der Texte zu empfehlen.2 Die vorliegende Problemskizze zur ägyptischen Literatur und ihrer Bewertung durch die ägyptologische Literaturwissenschaft bildet den Ausgangspunkt für die folgende Untersuchung und beschreibt darüber hinaus das ihr zugrunde liegende Dilemma. Mit Blick auf die angesprochene Problematik wäre es kaum überraschend, hätte die Ägyptologie die Antwort auf die oben gestellte Frage mittlerweile klar verneint und sich von dem Versuch einer Begriffsbestimmung verabschiedet: In ruhiger Gewissheit, dass sich so etwas wie ›Literatur‹ im Alten Ägypten nicht nachweisen lässt. Dies war aber weder in der Vergangenheit der Fall noch trifft es für die gegenwärtige Forschung zu. Vielmehr lässt sich gerade in jüngster Zeit ein deutlicher Anstieg an Beiträgen zu dieser Problematik verzeichnen.3 Lange konzentrierte sich die ägyptologische Literaturwissenschaft nahezu ausschließlich auf den Bereich der Textphilologie und auf eine historische bzw. historisierende Lesart vermeintlich literarischer Werke. In der Absicht, die erhaltenen Schriftquellen zeitgemäß und adäquat bewerten, klassifizieren und interpretieren zu können, bedient sie sich nun jedoch seit einigen Jahren verstärkt moderner literaturwissenschaftlicher Theorien und Methoden.4 Im Wesentlichen kreist die Diskussion dabei um die Fragen ›Was ist ägyptische Literatur?‹ oder ›Wodurch zeichnen sich die literarischen Texte Ägyptens aus?‹ und ›Wie lassen sie sich von Gebrauchstexten abgrenzen?‹. Die Antworten auf diese Fragen variieren mitunter erheblich. Die Gründe dafür liegen in dem unterschiedlichen Erkenntnisinteresse, das der jeweilige Bearbeiter mit seiner Untersuchung verbindet, in den heterogenen Kriterien, die zur Klassifizierung vermeintlich literarischer Texte herangezogen werden, oder in der Verwendung verschiedenster Modelle aus der zeitgenössischen Literaturwissenschaft. Nicht zuletzt spielt der Umfang des berücksichtigten Quellenmaterials bei der Bewer_____________ 1 2 3
4
Gumbrecht: Egyptology, S. 9f. Ebd., S. 16. Den Beginn dieser Entwicklung markiert Jan Assmanns Rezension zur Neuauflage des Abschnitts ›Literatur‹ im Handbuch der Orientalistik (Assmann: Text). Exemplarisch für die Diskussion in der ägyptologischen Literaturwissenschaft sind die Beiträge in Loprieno: Literature. Ein kursorischer Überblick über den derzeitigen Stand ägyptologisch-literaturwissenschaftlicher Forschung findet sich bei Gutschmidt: Tentatives.
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Henrike Simon
tung ägyptischer Texte als literarisch oder nicht-literarisch eine erhebliche Rolle. Unter diesen Voraussetzungen bleiben, will man in diesem Kontext überhaupt von ›Literatur‹ sprechen, lediglich zwei Möglichkeiten: Schließen wir uns Jan Assmann und anderen an, haben wir den Begriff so weit zu dehnen, dass er gewissermaßen als Kollektivum für die gesamte schriftliche Hinterlassenschaft Ägyptens gebraucht werden kann.5 Als zweite Option eröffnet sich der Versuch, unter Bezugnahme auf das Material, dessen Eigenlogik und seine kulturhistorische Verortung eine Annäherung an ein genuin ägyptisches Verständnis von ›Literatur‹ zu erreichen. Es kann hier lediglich von einer ›Annäherung‹ die Rede sein, da eine umfassende Definition des ägyptischen Literaturbegriffs aus den oben angeführten Gründen nicht vorgenommen werden kann. Angesichts dessen beschränkt sich die vorliegende Untersuchung auf die nähere Betrachtung einiger Aspekte, die für ein implizites Wissen um ›Literatur‹ sprechen, – so z.B. auf die Fragen nach einem spezifischen Sprach- und Schriftgebrauch, nach der Funktion und historischen Rezeption von Texten oder nach der Wertschätzung, die den Universalgelehrten als Begründern des rhetorisch-didaktischen Diskurses beigemessen wurde. Um die Untersuchung auf ein sinnvolles Maß einzugrenzen, wird sie sich schwerpunktmäßig auf diejenigen Texte konzentrieren, die gemeinhin unter einem engen Literaturbegriff subsumiert werden. Darunter fallen die so genannten Lehren (sb#y.t) und andere didaktische Werke, die so genannten Klagen bzw. Reden (mdw.t/Tz), die ›Erzählungen‹ und die ›lyrischen Texte‹ des Mittleren Reiches (ca. 2040-1650 v. Chr.) ebenso wie die des Neuen Reiches (ca. 1550-1070 v. Chr.).6 Texte späterer Epochen bleiben hier unberücksichtigt, vor allem weil die Diskussion über Art und Umfang des griechischen Einflusses auf die Literatur der ägyptischen Spätzeit (seit 7. Jh. v. Chr.) trotz zahlreicher Fortschritte noch kein für diese Untersuchung tragfähiges Ergebnis erbracht hat.7
_____________ 5 6 7
Assmann: Texte; Blumenthal: Prolegomena. Eine Zusammenstellung des relevanten Textmaterials bei Burkard / Thissen: Einführung. Bd. 1; Burkard / Thissen: Einführung. Bd. 2. Vgl. dazu z.B. Hoffmann / Quack: Anthologie.
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2. Manuskriptgestaltung und literarische Form Während Texte aus dem religiösen und funerären Kontext als wesentlicher Bestandteil des »monumentalen Diskurses«8 nicht nur auf transportablen Schriftträgern erhalten sind, sondern auch in Form von Hieroglyphen auf Tempel- und Grabwänden angebracht wurden, bleibt die Überlieferung vermeintlich literarischer Texte im Mittleren Reich auf Papyri beschränkt. Im Neuen Reich treten Ostraka, also Ton- oder Steinscherben unterschiedlicher Größe, und stuckierte Holztafeln als Schreibunterlage hinzu.9 Zu ihrer Fixierung verwendete man stets die zeitgenössische hieratische Alltagsschrift, die allerdings auch für Gebrauchstexte üblich war.10 Papyrushandschriften religiösen Inhalts, die sich durch ihre charakteristische Gestaltung deutlich von anderen Texten abheben, können dagegen auch in Kursivhieroglyphen geschrieben sein.11 Die Anordnung und Kombination der verschiedenen Bestandteile auf den Papyri scheint indessen keinen spezielen Gesetzmäßigkeiten zu folgen. So sind auf ein und demselben Schriftträger beispielsweise ›Erzählungen‹, ›Weisheitstexte‹ und/oder ›Liebeslieder‹ mit ›Verträgen‹, ›Briefsammlungen‹, ›Hymnen‹ oder ›administrativen Texten‹ zusammengestellt.12 Unabhängig von ihrer Gattungszugehörigkeit werden zahlreiche literarische Werke mit den Worten ›Anfang von …‹ (H#t-o m)13 eingeleitet und durch ein Kolophon beendet. Bei den ägyptischen Kolophonen handelt es sich um kürzere, standardisierte Schreibernotizen, die im diachronen Vergleich allerdings größere Unterschiede aufweisen. Ist die Wendung ›Es ist angekommen von seinem Anfang bis zu seinem Ende, wie vorgefunden in _____________ 8 9
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Zum monumentalen Diskurs als »… Medium, in dem der Staat zugleich sich selbst und eine ewige Ordnung sichtbar macht«, ausführlicher Assmann: Gedächtnis, S. 169ff, bes. S. 170. Quirke: Literature, S. 25. Eine Ausnahme stellt das so genannte Kadeschgedicht aus der Regierungszeit Ramses’ II. dar. Auf Tempelwänden in Text- und Bildmaterial zur historischen Kadeschschlacht integriert, findet es sich – aus diesem Anbringungskontext heraus gelöst – auch auf mehreren Papyri. Zu den einzelnen Handschriften und ihrer Verwendungssituation siehe von der Way: Textüberlieferung, S. 34f., 39ff. Gleiches gilt auch für die verschiedenen Varianten des so genannten Anteflieds, welches zur Gattung der ›Harfnerlieder‹ gehört. Zu den ›Harfnerliedern‹ des Neuen Reiches s.u. Abschnitt 3.2. Parkinson: Poetry, S. 73. Altenmüller: Beschriftungssystem, S. 59. Die disparate Zusammenstellung völlig unterschiedlicher Texte auf Papyri ist wohl ebenso wie deren obligatorische Mehrfachbeschriftung auf die vergleichsweise hohen Kosten zurückzuführen, die mit der Anschaffung des Materials verbunden waren. Zu einem Fall bewusster Beschriftung eines Papyrus und der daraus für die Texte abgeleiteten Zweckbestimmung siehe Verhoeven: Sitz. Schott: Bücher, S. 291-309 (1350-1422).
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der Schrift‹ (jw H#t=f r pHwj=fj mj gmy.t m zx#) durch das gesamte Mittlere Reich hindurch geläufig, zeichnen sich die Kolophone in der darauf folgenden Epoche durch einen größeren Gestaltungsspielraum aus.14 Obwohl sich Eingangs- und Endformel häufig in diesen Texten belegen lassen, treten sie zur entsprechenden Markierung auch bei ›medizinischen Abhandlungen‹, ›Litaneien‹, ›Zaubersprüchen‹, ›Totenbuchtexten‹ oder anderen religiösen und magischen Schriften auf. Demzufolge sind sie keine sicheren Indizien für die Literarizität eines Textes. Gleiches gilt für die Elemente, die zur graphischen Gliederung eingesetzt wurden. In roter Farbe geschriebene Rubren und Verspunkte, die zur Hervorhebung einzelner Sequenzen bzw. zur Markierung von Teilsätzen dienten, sind ebenso wenig auf das ausgesuchte Korpus beschränkt wie Pausen- (grH) und Strophenzeichen (Hw.t).15 Dieser Überblick macht deutlich, dass sich der anvisierte Untersuchungsgegenstand anhand der genannten Elemente nicht ausreichend definieren lässt. Weder die Wahl des Schriftträgers noch die äußere Gestaltung und Zusammensetzung eines Manuskripts ermöglicht eine endgültige Aussage über die Literarizität eines Textes. Einzig der Umstand, dass die entsprechenden Handschriften in Original und Kopie ausnahmslos unillustriert geblieben sind,16 stellt ein sicheres Kriterium zur Unterscheidung von ›Literatur‹ und Gebrauchstexten dar. Ein Schreibformat, das ausschließlich für literarische Texte Verwendung gefunden hätte, lässt sich im Alten Ägypten somit nicht nachweisen.17 Als kaum vielversprechender für eine Abgrenzung zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten erweist sich der Blick auf die stilistische Ausgestaltung und den formalen Aufbau der überlieferten Schriftquellen. Abgesehen davon, dass Alliterationen, Paronomasien und andere rhetorische Stilmittel18 grundsätzlich nicht als Identifikationskriterien herangezogen werden können, stellen auch formale Kategorien wie der Par-
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Vgl. Lenzo Marchese: Colophones, S. 359-376, bes. S. 362ff. Tacke: Verspunkte, S. 145, 180; Weber: Buchwesen, S. 135-138. Aus dem Neuen Reich sind lediglich Zeichnungen auf Ostraka erhalten geblieben, die neben erotischen Szenen unter anderem auch Darstellungen von Musikanten oder Tieren zeigen. Ob diese Bilder als Illustrationen literarischer Texte gedeutet werden können, lässt sich nicht mit endgültiger Sicherheit sagen. In Anbetracht der Tatsache, dass sich keine der Abbildungen explizit mit einer in den Texten beschriebenen Situation in Verbindung bringen lässt, erscheint diese These wenig überzeugend. Dagegen Fischer-Elfert: Lesefunde, S. 160ff. Parkinson: Poetry, S. 73. Guglielmi: Stilmittel.
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allelismus membrorum oder ein prosodischer Aufbau allein noch kein probates Mittel zum Nachweis von Literarizität dar.19 3. Gattungen20 der ›Schönen Literatur‹ und deren Stellung in der kulturellen Tradition des Alten Ägypten Während das Alten Reich (ca. 2700-2170 v. Chr.) ausschließlich Texte hervorbringt, die durch ihre kontextuelle Verwendung eindeutig definiert werden können, wird mit Beginn des Mittleren Reiches ein fester Kanon an literarischen Werken nachweisbar. Worauf sich ihr plötzliches Aufkommen zurückführen lässt, ist weithin unklar. Nachvollziehbar scheint lediglich, dass sich die ›Schöne Literatur‹ mit ihren Spezifikationen aus den verschiedenen Gattungen der älteren, nicht-literarischen Zweckformen herausgebildet hat.21 Das, was der Ägyptologe gemeinhin unter ›Schöner Literatur‹ versteht, wird also erst im Mittleren Reich, der klassischen Epoche der ägyptischen Geschichte,22 greifbar. 3.1 Der Literaturkanon des Mittleren Reiches An erster Stelle sind in diesem Zusammenhang die so genannten Lebenslehren zu nennen. Das didaktische Genre, zu dessen Leitfunktion die Vermittlung ethischer und sozialer Richtlinien gehörte, ist wahrscheinlich das am besten definierte innerhalb der ägyptischen Literatur und gleichzeitig das einzige, für das ein Gattungsname überliefert ist. Die altägyptische Bezeichnung für die Vertreter dieser Textgruppe lautet ›sb#y.t‹, zu Deutsch ›Lehre‹, ›Unterweisung‹, aber auch ›Strafe‹ oder ›Zucht‹. Ihrer formalen Struktur nach handelt es sich um eine episodische Anhäufung von Maxi_____________ 19
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21 22
Dies zeigt sich z.B. daran, dass religiöse Texte in der Verwendung dieser und anderer Formelemente für gewöhnlich weitaus aufwendiger und kunstvoller geformt sind als ›Lehren‹, ›Klagen‹ oder ›Erzählungen‹, vgl. dazu z.B. Loprieno: Defining, S. 43 oder Assmann: Schrift, S. 80. Zu einem konkreten Beispiel für den besonderen Aufbau religiöser Texte siehe die Form- und Stilanalyse des so genannten Kannibalenspruchs aus den Pyramidentexten des Alten Reiches von Kammerzell: Götter. Unter Bezugnahme auf das Wittgensteinsche Konzept der Familienähnlichkeit wird hier unter Gattung ein offenes System verstanden, an dessen Merkmalskatalog seine einzelnen Vertreter »in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlicher Art und Weise partizipieren« (Goch: Universitätsroman, S. 24). Zum Nutzen von Partizipationsmodellen für eine ägyptologische Gattungstheorie siehe Parkinson: Poetry, S. 32ff. Zu Ursprung und Genese der ägyptischen Literatur ausführlich Helck: Entstehung; Assmann: Schrift, S. 64f., 80-88, und zuletzt Moers: Welten, S. 167ff. Vgl. dazu z.B. Morenz: Schriftlichkeitskultur, S. 3; Assmann: Klassik.
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men, die sich verschiedenen Themenschwerpunkten und Situationen widmen, bis hin zu längeren, stärker verwobenen thematischen Abschnitten. Im Vordergrund der ›Lehren‹ stehen moralisch gefärbte Benimmregeln zu Höflichkeit, Etikette oder rechtem Glauben, die im Gesamtkonzept eines ›Maat-gerechten‹ Verhaltens zu sehen sind.23 Ihr Ton ist belehrend, meist mit einer eher pessimistischen Tendenz behaftet. ›Lehren‹ werden häufig um historisch belegte Persönlichkeiten gesponnen, bei denen es sich um königliche, aber auch um nicht-königliche Individuen handeln kann. Diese richten ihre testamentarischen Unterweisungen entweder an den Sohn oder den Schüler.24 Nach gegenwärtiger Forschungsmeinung dienten diese Texte in erster Linie der Vermittlung allgemein gültiger kultureller Werte und der intellektuellen Erziehung der Schüler- bzw. Indoktrination der Beamtenschaft. Damit waren die Texte auf einen kleinen, elitären Kreis der ägyptischen Bevölkerung beschränkt, der an ihrem Beispiel das Schreiben lernte, sie im Rahmen des Unterrichts kopierte und zum Erwerb sozialer Kompetenz auswendig lernte.25 Hinsichtlich ihrer funktionalen Bestimmung und ihres Verwendungskontextes eng mit den ›Lehren‹ verwandt sind die ›Klagen‹ und ›Reden‹, gleichfalls ›reflexive Diskurse‹, die anhand von Selbstbezeichnungen als ›Wort‹, ›Rede‹ (mdw.t) oder ›Spruch‹, ›Vers‹ (Tz) verstanden werden können.26 ›Klagen‹ und ›Reden‹ sind entweder Mahnworte an Höhergestellte wie Könige und Despoten oder Selbstgespräche. Anders als in den ›Lehren‹ stehen in ihnen nicht das Individuum und dessen Anpassung an die Maat, sondern in der Regel die Gesellschaft und ihre Abhängigkeit von diesem grundlegenden Konzept im Blickpunkt. Statt also den Einzelnen in die rechte Lebensführung einzuweisen, ist es das Anliegen der ›Klage‹, den Umsturz der sozialen Ordnung und ein Abgleiten in Gesetzlosigkeit und Bürgerkrieg anzuprangern. Zentrale Themen sind der Verfall der Staatsgewalt und die daraus resultierenden ökonomischen, sozialen und moralischen Missstände im Land. Die kontrastierende Darstellung von Ordnung und Chaos wird in den verschiedenen Texten durch das Gegensatzpaar ›Einst/Jetzt‹ umgesetzt.27 Abgesehen von den genannten Kriterien und die_____________ 23
24 25 26 27
Das ägyptische Ideal der Maat lässt sich mit den Worten Jan Assmanns wie folgt umschreiben: »Mit dem Konzept Ma‛at hat eine vergleichsweise sehr frühe Kultur auf höchster Abstraktionsstufe einen Begriff geprägt, der menschliches Handeln und kosmische Ordnung miteinander verknüpft und damit Recht, Moral, Staat, Kult und religiöses Weltbild auf eine gemeinsame Grundlage stellt […]. Im Begriff Ma‛at liegt ungeschieden beieinander, was später in Staats-, Moral-, Naturphilosophie und Theologie auseinandertreten wird.« (Assmann: Ma‛at, S. 17, 18). Shupak: Wisdom, S. 31ff. So zuerst van de Walle: Transmission, S. 12ff., und Brunner: Erziehung, S. 85f. Parkinson: Poetry, S. 110. Assmann: Weisheit, S. 480, 485f.
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sem immer wieder kehrenden Prinzip teilen die ›reflexiven Diskurse‹ keine weiteren, gattungsbildenden Merkmale. Zusammengenommen bilden ›Lehren‹, ›Klagen‹ und ›Reden‹ die so genannte Weisheitsliteratur, die gemessen an der geographischen wie zeitlichen Verbreitung ihrer einzelnen Vertreter und deren Varianten den eigentlichen Kern literarischer Produktion wie Reproduktion darstellt. Für den besonderen Stellenwert dieser Texte spricht, dass sie weit über ihren eigentlichen Entstehungszeitraum hinaus zu Ausbildungszwecken weiter tradiert wurden und sich auch in späteren Epochen großer Beliebtheit erfreuten, wovon zahlreiche Abschriften auf unterschiedlichen Schriftträgern zeugen.28 Aus diesem Grund spricht man heute von ›Schulklassikern‹ oder im Sinne Jan Assmanns von ›Kulturellen Texten‹,29 wenn man die traditionellen Werke des Mittleren Reiches bezeichnen will. Ebenfalls vom Mittleren Reich an belegt sind narrativ-fiktionale Texte, die sich durch ihren mimetischen Charakter deutlich von den topischen Weisheitstexten abgrenzen.30 Werkbezeichnungen oder Titelüberschriften sind für diese Textgruppe allerdings nicht belegt.31 Der größte Teil der ägyptischen ›Erzählungen‹ schildert das Geschehen aus dem Blickwinkel einer dritten Person, während der geringere Teil der tradierten Texte in Ich-Erzählung abgefasst ist. Bei dem fiktiven Ich-Erzähler handelt es sich meist um einen bestimmten Menschentyp wie etwa den ›Wanderer‹ oder ›Seefahrer‹. In diesem Fall dient die erste Person zum subjektiven und unvermittelten Erzählen eigener Erlebnisse, Erfahrungen und Emotionen.32 Waren es gerade diese ›Reiseerzählungen‹, die von der ägyptologischen Forschung aufgrund ihrer historischen Detailgenauigkeit, der Nennung exakter Orts- und Datumsangaben oder der Erwähnung historisch fassbarer Personen als Berichte realer Ereignisse gedeutet wurden,33 besteht heute kein Zweifel mehr an ihrer Literarizität. Begründet wird ihre Ansprache – und die anders klassifizierter Erzähltexte34 – als ›Literatur‹ vor allem durch intra- wie extratextuelle Fiktionalitätssignale. So wird etwa die Setzung eines Kolophons, der in diesem Zusammenhang als eine Art Pa_____________ 28 29 30 31 32 33 34
Quirke: Archive. Assmann: Texte. Loprieno: Topos, S. 10f. Gegen die Unterscheidung in topische und mimetische Literatur jüngst Roeder: Erzählen, S. 229, Anm. 61. Als Titel ließen sich lediglich die einleitenden Worte »[…] die Verhandlung zwischen Horus und Seth« (p# wp.t "rj hno ctX, Papyrus ChesterBeatty I rto. 1,1) zur Erzählung vom Streit zwischen Horus und Seth aus dem Neuen Reich interpretieren. Suhr: Erzähler, S. 94f. Zur Bedeutung und den Funktionen von Gefühlen in der ägyptischen Literatur siehe Verbovsek: Angst. Siehe dazu z.B. Brunner: Grundzüge, S. 81. Zu diesen gehören nach Blumenthal: Erzählung, S. 10, etwa die mythologischen oder historischen Erzählungen und die so genannten Märchen.
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ratext fungiert, die Verwendung emblematischer Namen, die die semantische Grundaussage des Textes in sich tragen, oder der ironische Unterton neben »mimetischen Exzessen« und der »diegetischen Überladenheit« als Beleg für den fiktionalen Charakter dieser Gruppe angeführt.35 Zusätzlich dazu wird die These von der Fiktionalität narrativer Texte durch die Nachweisbarkeit intertextueller Bezüge in Form von Zitaten oder Anspielungen untermauert.36 3.2 Die Gattungen des Neuen Reiches – Innovation versus Tradition Die Epoche des Neuen Reiches wird etwa um 1350 v. Chr. für eine Dauer von 20 Jahren durch eine revolutionäre Periode unterbrochen. Bei dieser Zäsur handelt es sich um die Regierungszeit des Königs Echnaton (ca. 1348-1338 v. Chr.), die so genannte Amarnazeit, die sich durch einen starken und alle kulturellen Bereiche betreffenden Wandel auszeichnet. Die tiefgreifendste Veränderung stellt zweifellos die unter politischem Druck herbeigeführte Veränderung des religiösen Systems vom Polytheismus zum Monotheismus dar. Zu den Umwälzungen dieser Periode gehört aber auch die Aufwertung des Neuägyptischen von der Umgangs- bzw. Alltagssprache zur Literatursprache der Epoche.37 Auf der Basis jener sprachlichen Schwerpunktverlagerung kann die Literatur des Neuen Reiches in zwei Hauptphasen unterteilt werden: einerseits in die Zeit vor Amarna, in der religiöse wie profane Texte traditionellerweise auf Mittelägyptisch verfasst werden, andererseits in die Nachamarnazeit, in der das Neuägyptische das klassische Mittelägyptisch aus weiten Teilen des sozialen und kulturellen Lebens verdrängt.38 Infolge dieser Entwicklungen ist eine Erweiterung des traditionellen Literaturkatalogs um zahlreiche bis dahin unbekannte Texte und Textgattungen festzustellen, deren Abfassung bzw. Niederschrift überwiegend in die Ramessidenzeit (ca. 1290-1070 v. Chr.) fällt.39 So treten in dieser Zeit vom Beginn der 19. und bis zum Ende der 20. Dynastie neben den klassischen _____________ 35 36 37 38 39
Moers: Welten, S. 79-101; Loprieno: Defining, z.B. S. 44. Eine detaillierte ägyptologische Begriffsbestimmung bei Moers: Welten, S. 106-154, und Loprieno: Defining, S. 51f. Assmann: Ägypten, S. 258. Baines: Classicism, S. 157; Jansen-Winkeln: Diglossie, S. 91ff. Aus der Voramarnazeit sind dagegen keine zeitgenössischen Textkompositionen überliefert. Die Texte, die erstmals in dieser Epoche belegt sind, werden gemeinhin als Abschriften mittelägyptischer Literaturwerke gedeutet (vgl. Fischer-Elfert: Literature, S. 119). Gegen die Vordatierung und damit für die Entstehung einiger der Texte in der 18. Dynastie siehe Gnirs: Bürgerkrieg, oder Grimal: Corégence, S. 277ff., bes. S. 279.
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Werken des Mittleren Reiches literarische Neuschöpfungen auf, die sich in vielerlei Hinsicht von den ›Schulklassikern‹ der vorangehende Epoche abheben. Während letztere, gemessen an ihrer Überlieferungssituation, im Neuen Reich vielfach tradiert und rezipiert wurden, sind die ›modernen‹, häufig aus dem thebanischen Raum stammenden und neuägyptisch abgefassten Werke, in ihrer Mehrzahl singulär überliefert.40 Das ungleiche Verhältnis zwischen den ›klassischen‹ und den ›modernen‹ Texten hat unter anderem die Auffassung gefördert, dass die neuen Texte und Textgattungen entgegen den tradierten Werken des Mittleren Reiches nicht für den Schulbetrieb gedacht waren, sondern in erster Linie dem Vergnügen dienen sollten.41 Die ägyptologische Literaturwissenschaft fasst diese Werke aufgrund der für sie angenommenen Unterhaltungsfunktion und ihrer vermeintlichen Zweckenthobenheit unter der ägyptischen Bezeichnung ›sXmX-jb‹ (›das Herz erfreuen‹) zusammen. Diese Ansprache der Texte verdankt sich in erster Linie dem Umstand, dass einige Neuschöpfungen der Ramessidenzeit mit diesem Begriff betitelt werden.42 Als ihr spezifischer Kommunikationszusammenhang wird das profane oder religiös motivierte Fest vermutet.43 Bei den modernen Werken handelt es sich ganz konkret um ›Erzählungen‹, um ›Liebes-‹ und ›Harfnerlieder‹, wie um die so genannten lyrischen Kleinformen, zu denen ›Hymnen‹ oder Texte der Kategorie laus urbis gehören. Für die ramessidischen Erzähltexte ist grundsätzlich all das zutreffend, was bereits in Abschnitt 3.1 zur Gattung der narrativ-fiktionalen Literatur festgehalten wurde. Dennoch können sie deutlich von den älteren Vertretern unterschieden werden. Ein wesentliches Differenzierungskriterium stellt – neben dem Gebrauch des Neuägyptischen und ihrer singulären Belegung – ihr vergleichsweise anspruchsloser Stil dar, der an der Schlichtheit der verwendeten Sprache und dem wiederholten Gebrauch formelhafter Wendungen offensichtlich wird.44 Gemessen an den Gemein_____________ 40
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Eine Ausnahme bildet die nur unvollständig überlieferte Erzählung von Chonsuemheb und dem Geist. Der Text ist als einzige neuägyptische Erzählung in Teilen in zweifacher Ausführung bezeugt, vgl. von Beckerath: Chonsemhab. Zu den einzelnen Varianten ein und desselben ›Liebeslieds‹ vgl. die Niederschriften auf den Ostraka O.Gardiner 339 und O.DeM 1079, 2-4 sowie die auf den O.Borchardt 1 und O.CGT 57367 rto. So z.B. Assmann: Texte, S. 78; Loprieno: Variety, S. 522, oder Blumenthal: Erzählung, S. 11, 16. Assmann: Texte, S. 78; Fox: Song, S. 244. Gegen die Interpretation von sXmX-jb als Obergriff für die Texte der Kategorie ›Unterhaltungsliteratur‹ Guglielmi: Liebespoesie, S. 341f. Baines: Classicism, S. 168; Assmann: Hymnen, S. 833. Blumenthal: Erzählung, S. 9; Assmann: Klassik, S. 48f.
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samkeiten im formalen Aufbau und ihrer stilistischen Ausgestaltung sind die Texte bezüglich ihrer Thematik im hohen Maße inkohärent. Ganz anderes verhält es sich dagegen mit den ›Liebesliedern‹, die nur vom Beginn der 19. bis zur zweiten Hälfte der 20. Dynastie auf verschiedenen Papyri und diversen Ostraka belegt sind. Bei den Texten handelt es sich entweder um kürzere, in sich geschlossene Werke, meist aber um längere Zyklen von Gedichten, die aus drei, sieben oder acht graphisch voneinander abgesetzten Strophen bestehen.45 Die Lieder unterschiedlicher Stilhöhe, in denen sich die Liebenden stets als ›Bruder‹ (sn) bzw. ›Schwester‹ (sn.t) ansprechen, sind durch verschiedene Formen des Monologs geprägt. Die meisten ›Liebeslieder‹ sind innere Monologe, die aus einem Selbstgespräch der verliebten Person oder einem solchen mit dem eigenen Herzen bestehen, während der äußere Monolog, der ausschließlich durch die Frau realisiert wird, an eine als anwesend oder zuhörend gedachte Person gerichtet ist. Neben diesen Formen ist auch der doppelte Monolog in den Liedern belegt, der mit der mittelalterlichen Minnesanggattung des Wechsels vergleichbar ist. Diese Lieder sind in Gesprächsform verfasst, in denen eine Männer- und eine Frauenklage miteinander kombiniert sind. Die Liebenden sprechen, ohne dass sie dabei in einen Dialog eintreten würden, abwechselnd von ihrer Sehnsucht, den charakterlichen Vorzügen oder der Schönheit des anderen.46 Aufgrund der für sie belegten Bezeichnungen ›Sprüche der großen Herzensfreude‹ (r#.w n.w t# sXmX-jb o#), ›Lied der Herzensfreude‹ (Hs.t sXmX-jb) oder ›süße Verse‹ (tz(.w) nDm(.w))47 werden die ›Liebeslieder‹ als ›Unterhaltungsliteratur‹, genauer als ›Gelagepoesie‹ klassifiziert.48 Dieser Kategorie ebenfalls zugehörig sind die so genannten Harfnerlieder.49 Während Darstellungen von Sängern zur Harfe bereits in Gräbern oder auf Stelen des Alten und Mittleren Reiches belegt sind,50 treten die eigentlichen Liedtexte erst vom Ende der 18. bis zur 20. Dynastie (und dann häufig in Kombination mit dem Bild des Musikers vor seinem Instrument) als Teil der Grabdekoration auf.51 Für gewöhnlich durch die Formel ›Der Sänger zur Harfe spricht …‹ (Dd (j)n Hs.w n bn.t), und gelegentlich per Eigenbezeichnung als ›Hs.t‹, ›Lied‹, ausgewiesen,52 liegt die _____________ 45 46 47 48 49 50 51 52
Guglielmi: Liebespoesie, S. 342. Mathieu: Poésie, S. 142-149; Guglielmi: Liebespoesie, S. 343; Fox: Song, S. 259ff. pChesterBeatty I vso. 1,1; pHarris 500 rto. 4,1 / 7,3; pChesterBeatty I rto. 16,9. Assmann: Fest, S. 57, 62. Zur Aufführungssituation der ›Liebeslieder‹ Fox: Song, S. 244, 257f. Assmann: Fest, S. 57. Lichtheim: Songs, S. 187f. Osing: Chants, S. 11. Vgl. pHarris 500 rto. 6,2; Neferhotep III, 1.
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wesentlichste Gemeinsamkeit der verschiedenen Kompositionen und ihrer einzelnen Varianten in der Verherrlichung des Diesseits. Die Aufforderung zu einem ›carpe diem‹ erfolgt über die Abqualifizierung der jenseitigen Existenz und steht damit im krassen Widerspruch zum Jenseitsglauben der Ägypter.53 Anders als die ›Liebes-‹ und ›Harfnerlieder‹ zeichnen sich die Texte, die der Gattung laus urbis54 zugewiesen werden können, durch eine große Vielfalt aus.55 Im Gegensatz zu anderen Texten, die sich aufgrund eines mehr oder weniger identischen Merkmalskatalogs und ihres Verwendungskontextes zu einer Gruppe zusammenfassen lassen, erfolgt die Identifikation des relevanten Textmaterials ausschließlich über deren Thematik und Inhalt. Im Vordergrund dieser Texte steht entweder die Sehnsucht eines Exilanten nach seiner Heimatstadt oder die Schönheit einer Metropole, die mal aus der Sicht eines ihrer Einwohner, mal aus der Perspektive eines ›Touristen‹ mit großer Begeisterung in aller Ausführlichkeit geschildert wird.56 Neben der ›Unterhaltungsliteratur‹ bzw. der ›Gelagepoesie‹ gehören schließlich aber auch solche zu den zeitgenössischen Texten, die als spezifische Schulliteratur des Neuen Reiches anzusprechen sind. Die Rede ist dabei von traditionsgebundenen Lehrtexten, die mittlerweile als ›sb#y.t mtr.t‹, ›Erziehungslehre‹, betitelt werden, und den so genannten Miscellanies. Bei den ›Miscellanies‹ handelt es sich genau genommen um lose Sammlungen von Musterbriefen, die hinsichtlich ihrer Orientierung am zeitgenössischen Briefformular und ihrer angenommenen Verwendung im Schulbetrieb eine homogene Gruppe darstellen, die in Bezug auf ihre inhaltliche Spannbreite äußerst heterogen sind. So widmen sich die einzelnen Texte, die in einigen Fällen unter der Bezeichnung ›sb#y.t So.t‹, ›Brieflehre‹, zusammengefasst werden, beispielsweise der hymnischen Verehrung des Königs, dem Lob auf den Schreiberberuf oder der Kritik am Soldatenle_____________ 53
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Von dieser Gruppe abzugrenzen sind diejenigen ›Harfnerlieder‹, die ihrer Form und ihrem Inhalt nach ›Verklärungen‹ (s#Xw) sind. Statt einer negativen Bewertung des Jenseits, schildern sie dem verstorbenen Grabherrn selbiges ›in den höchsten Tönen‹, siehe Assmann: Harfnerlieder, Sp. 977ff. Die Gattung des Stadtlobs ist unter anderem aus der Antike und dem europäischen Mittelalter bekannt. In der antiken Rhetorik existieren neben den praktischen Beispielen einer Städtebeschreibung auch theoretische Anleitungen zur Abfassung dieser Texte. Dazu Schmidt: Städtelob, S. 119; Classen: Stadt, S. 16. Der Gattungscharakter der Texte ist von der ägyptologischen Literaturwissenschaft angezweifelt worden. Während Assmann: Klassik, S. 47, sie als »kleine Gedichte« bzw. als »Kleinformen« ramessidischer Lyrik klassifiziert, finden sie bei Franke: Stadt, S. 38, lediglich als Ausformungen des Stadtthemas Erwähnung. Verhoeven: Ansichtkarten, S. 73, spricht in diesem Zusammenhang von einer Gattung bzw. einem Motiv. Verhoeven: Ansichtkarten.
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ben.57 Im Gegensatz zu den Vertretern der ›Unterhaltungsliteratur‹ existieren für viele dieser meist überregional verbreiteten Schriften Kopien, die in Zahl und Varianz durchaus denen der mittelägyptischen Weisheitstexte vergleichbar sind. Nach ihrer Überlieferungssituation zu urteilen, dürften sie die ›Klassiker‹ des Mittleren Reiches im Verlauf der 20. Dynastie sogar an Popularität übertroffen haben.58 4. Die ›vollkommene Rede‹ (mdw.wt nfr.wt) als Parameter ägyptischer Literaturproduktion Wie eingangs bereits dargelegt, findet sich im ägyptischen Vokabular kein feststehender und konsequent gebrauchter Begriff, der zur Bezeichnung von ›Literatur‹ verwendet wurde.59 Als kaum ergiebiger erweist sich die Suche nach einer ägyptischen Literaturtheorie. Rückschlüsse auf ein zeitgenössisches Konzept von Literatur oder einen genuin ägyptischen Literaturbegriff sind deshalb nur auf der Grundlage des überlieferten Textmaterials und dessen Interpretation möglich. Den größten Erkenntnisgewinn verspricht in diesem Zusammenhang die eingehende Betrachtung der Weisheitsliteratur.60 Ihre Vertreter enthalten selbstreflexive Signale, die nicht nur eine Anleitung zum rechten Textverständnis beinhalten, sondern auch Rückschlüsse auf den ihnen zugrunde liegenden Literaturbegriff ermöglichen. Geradezu konstitutiv für die ›Schulklassiker‹ des Mittleren Reiches ist das Prinzip der ›vollkommenen Rede‹ (mdw.wt nfr.wt), die durch die gekonnte Verknüpfung (Tz) von Wörtern (mdw.wt) zu einem Knoten (Tz) gebildet wird.61 Die vollkommene Rede, von der es heißt, sie sei »… verborgener als Malachit«62 und »… schwieriger als jede andere Tätigkeit«63, gilt als rhetorisch-ästhetisches Ideal. Perfekt geführt verlangt sie nach Verschriftung.64 Die besondere Wertschätzung, die einer derart gestalteten Rede und ihren Produzenten beigemessen wurde, ist in einer ›Klage‹ aus der 12. Dynastie (ca. 1970-1790 v. Chr.) unmittelbar zum Ausdruck gebracht. In der so genannten Prophezeiung des Neferti heißt es: _____________ 57 58 59 60 61 62 63 64
Vgl. dazu die Zusammenstellung von Caminos: Miscellanies. Osing: School, S. 137f. Gleiches gilt auch für andere kulturelle Phänomene wie ›Religion‹, ›Kunst‹, ›Geschichte‹ oder ›Staat‹. Die Erzählungen, die sich durch verschiedene Merkmale als fiktional ausweisen, werden aus dieser Betrachtung ausgelassen. Vgl. Junge: Sprachwissenschaft, S. 261ff. pPrisse 5,10. pPrisse 11,11. Parkinson: Teachings, S. 93.
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Da sprach Seine Majestät zu ihnen: »Ihr Genossen, ich habe euch rufen lassen, damit ihr mir einen eurer Söhne sucht, der weise ist, oder einen eurer Brüder, der verständig ist, oder einen eurer Freunde, der etwas zum Besten zu geben hat: Er soll mir etwas an vollkommener Rede (mdw.wt nfr.wt) und ausgewählte Sprüche (tz.w stp.w) vortragen, die meine Majestät beim Anhören erfreuen.« […] Da streckte er seine Hand zum Schreibkasten aus, nahm sich eine Buchrolle und eine Binse heraus und hielt schriftlich fest, was der Vorlesepriester (xrj Hb) Neferti sagte.65
Die wohl prominenteste Umsetzung findet das Ideal der ›vollkommenen Rede‹ aber in dem Text Der Beredte Bauer, der ebenfalls in der 12. Dynastie entstand. Im Mittelpunkt des Textes steht ein einfacher Landarbeiter, der durch die Willkür eines tyrannischen Gutsherrn sein gesamtes Hab und Gut verliert. In der Hoffnung auf Gerechtigkeit wendet er sich an eine höhere Instanz, vor der er seine Enttäuschung über den Verfall von Recht, Ordnung und Gesetz beklagt und die Rückerstattung seines Besitzes mehrfach nachdrücklich einfordert. Die von ihm geführte Rede ist dabei von solch ausgezeichneter Eloquenz,66 dass sie im Auftrag des Königs ohne Wissen des Bauern schriftlich fixiert und schließlich zu seiner Unterhaltung vorgetragen wird.67 Die hier zitierten Texte explizieren also »ihr rhetorisches Gewordensein, indem sie sich ihren Seinsgrund durch einen Akt literarischer Selbstanzeige selbst einschreiben. Dies geschieht etwa durch die Darstellung einer fingierten, da bereits in Schriftlichkeit übertragenen, Oralität, die durch den Begriff der mdw.wt nfr.wt als eine rhetorische ausgewiesen ist«.68 In der Konsequenz ergibt sich die Deutung des Ideals rhetorischer Perfektion69 als grundlegendes ästhetisches Gestaltungsformat didaktischer Literatur.70 Mit dieser Bewertung ist die semantische Spannbreite des Begriffs allerdings noch nicht ausreichend umschrieben. Dass sich hinter ›mdw.wt nfr.wt‹ mehr verbirgt, ergibt sich in außerordentlicher Deutlichkeit aus der Lehre des Ptahhotep, die als einer der ältesten Weisheitstexte Ägyptens gilt.71 Der Text, der sich quasi wie eine Anleitung zur ›vollkommenen Rede‹ liest, beginnt wie folgt: _____________ 65 66 67 68 69 70 71
pPetersburg 1116 B 5-8; 15ff. pBerlin 3023 106f. Der Bauer selbst wird an dieser Stelle des Textes als einer, »der wahrlich vollkommen redet« (nfr mdw n wn m#o) bezeichnet. pBerlin 3023, 111. Moers: Welten, S. 174. Zum rhetorischen Diskurs innerhalb der Literatur des Mittleren und Neuen Reiches ausführlich Coulon: Rhétorique. Moers: Welten, S. 176. Junge: Ptahhotep, S. 10.
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Beginn mit den Versen (Tz.w) vollkommener Rede (mdw.wt nfr.wt), die formuliert hat der Fürst und Graf, ›Gottesvater‹ und Gotterwählte, ältester Sohn des Königs, Stadtpräfekt und Wesir Ptahhotep, als Unterweisung der Unwissenden in Wissen (rX) und der Regelhaftigkeit (tp Hsb) der vollkommenen Rede (mdw.wt nfr.wt), zum Gewinn für den, der zuhören wird, zum Schaden für den, der sie nicht beachtet.72
Im Prolog kündigt Ptahhotep nicht nur die Vermittlung der Richtlinien (tp Hsb) zur Gestaltung ›vollkommener Rede‹ (mdw.wt nfr.wt) an; er weist seine Lehre durch die enthaltene Werkbezeichnung darüber hinaus auch als ein mustergültiges Exemplar ihrer textuellen Umsetzung aus. Außerdem deutet er auf den gesellschaftlichen Nutzen dieses Prinzips für all diejenigen hin, die es beherrschen. Im Prolog lediglich angerissen wird der Wert des Ideals im Verlauf des Textes weiter konkretisiert, etwa wenn die folgende Aufforderung an Ptahhotep ergeht: Belehre ihn von Anfang an über die Rede (mdw.wt), damit er den Kindern der Edlen zum Vorbild gereiche.73
oder es heißt: Du sollst schweigen, das ist sinnvoller als wirres Geschwätz, du sollst erst sprechen, wenn du deine Lösung gefunden hast: Denn nur ein Experte spricht im Rat. Die Rede (mdw.wt) ist schwieriger als jede andere Tätigkeit. Wer sie beherrscht, der kann sie sich zunutze machen.74
In diesem Sinne wäre die Kunst ›vollkommener Rede‹ weniger ein rein ästhetisches, primär dem intellektuellen Zeitvertreib vorbehaltenes Ideal. Vielmehr dürfte es sich bei dieser Artikulationsform um ein grundlegendes Prinzip gehandelt haben, dessen Vermittlung die Unterweisung in die rechte Lebensführung, die Erziehung in Ethik und Moral, erwirken sollte. Dieses formalästhetische, sozial konnotierte Prinzip ist es dann auch, das allen Weisheitstexten des Mittleren Reiches zugrunde liegt und als rhetorisch geprägter Literaturbegriff interpretiert werden kann.75 Dass das Prinzip der ›vollkommenen, wohlgestalteten Rede‹ auch noch über das Mittlere Reich hinaus Gültigkeit besaß, lässt sich indirekt an den zahlreichen Abschriften mittelägyptischer ›Schulklassiker‹ aus dem Neuen Reich ablesen. Da diese Texte weiterhin Gegenstand des Unterrichts wa_____________ 72 73 74 75
pPrisse 5,6-10. Die Wiedergabe dieser Textpassage richtet sich im Wesentlichen nach Junge: Ptahhotep, S. 172f. pPrisse 5,4-5. Zitiert nach Moers, Welten, S. 176. pPrisse 11,9-11. Zitiert nach Moers, Welten, S. 176. So bereits Moers: Welten, S. 175. Zur Definition von ›mdw.wt nfr.wt‹ als Oberbegriff für die ›belles lettres‹ siehe Kaplony: Literatur, S. 289.
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ren und aller Wahrscheinlichkeit nach auch privaten Bildungs- und Ausbildungsinteressen dienten,76 liegt der Schluss nahe, dass ein generelles Bewusstsein um die und ein grundsätzliches Verständnis von den Richtlinien rhetorischer Perfektion bestanden hat. Ganz konkret zeigt sich die Relevanz des Prinzips für die Verschriftung bzw. für den Prozess des Formulierens im Medium der Schrift an einer Passage aus der so genannten Satirischen Streitschrift des Papyrus Anastasi I, die in der 19. Dynastie entstanden ist. An entsprechender Stelle übt der Schreiber und vermeintliche Verfasser des Textes namens Hori Kritik an seinem Kollegen: Deine Verse (Tz.w) vermischen (nämlich) dieses und jenes. All deine Worte (mdw.wt) sind verkehrt herum und ohne Zusammenhang (bn sn Tz).77
Nachdrücklich bescheinigt er ihm seine Unfähigkeit zur Produktion gebundener und verständlicher Rede. Seine Rüge ist damit gleichsam Indiz für die besondere Wertschätzung, die diesem Ideal noch im Neuen Reich von schriftkundiger Seite beigemessen wurde. In diesem Sinne könnte sie gar als versteckter Aufruf an die Adressaten des Textes zur unbedingten Verpflichtung ihrer stilistischen Perfektionierung verstanden werden. 5. Der ›Autor‹ und sein Werk Die umfassende Bedeutung des Prinzips der ›vollkommenen Rede‹ lässt sich darüber hinaus auch an der positiven Bewertung der Personen ablesen, die als ›Autoren‹ derart gestalteter Texte gelten. Bevor hier allerdings näher auf die Verbindung zwischen schreiberischem Tun und dem Ideal eingegangen wird, sollen vorab einige allgemeinere Bemerkungen zum ›Autor‹ im Alten Ägypten getroffen werden. Über die eigentlichen Verfasser ägyptischer Texte ist kaum etwas bekannt, da die Mehrzahl der literarischen Schriftquellen anonym überliefert ist. Namentliche Erwähnungen von Autorpersönlichkeiten finden sich im Mittleren Reich für gewöhnlich nur in den Texten der Weisheitsliteratur. Allerdings handelt es sich bei jenen hochgestellten Personen, unter denen neben Königen und Prinzen auch Wesire oder Vorlesepriester anzutreffen sind, nachweislich nicht um deren Autoren. Mit dieser Art scheinbarer Selbstnennungen liegen stattdessen Pseudoepigraphien vor. Die Setzung des Namens wäre damit nicht der geistigen Urheberschaft bzw. dem Recht eines Verfassers auf Kenntlichmachung seines Werks geschuldet. Sie resultiert vielmehr aus dem Bedürfnis, dem literarischen Text durch dessen Zuschreibung an eine übergeordnete Instanz, deren Autorität außer Frage _____________ 76 77
Zur Rezeption literarischer Werke außerhalb des Schulbetriebs s.u. Abschnitt 6. pAnastasi I 4,8. Zitiert nach Fischer-Elfert: Streitschrift, S. 50.
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steht, mehr Gewicht und größere Glaubwürdigkeit zu verleihen.78 Der eigentliche Autor tritt dagegen zugunsten der Vermittlung allgemein gültiger und akzeptierter gesellschaftlicher wie kultureller Regelsysteme komplett hinter seinem Werk zurück. 5.1 Individualisierungstendenzen im Neuen Reich Erst mit Beginn des Neuen Reiches lassen sich Hinweise auf ein geändertes Selbstverständnis textproduzierender Individuen finden. Nun können – anders als noch im Mittleren Reich – die Sprecher zweier zeitgenössischer ›Lehrentexte‹ (Lehre des Amunnacht, Lehre des Hori) mit historischen Privatpersonen gleichgesetzt werden, bei denen es sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch um die Verfasser der Texte handelt.79 Mit der möglichen Zuweisung der ›Lehren‹ an eine real existierende Autorinstanz geht zugleich eine geänderte Funktion der in ihnen gesetzten Autorschaft einher. Der Autorname wäre nicht mehr von einem anonymen Schreiber zum Zweck der Aufwertung des literarischen Textes verwendet, sondern von einem autonomen Individuum mit der Absicht gesetzt worden, das entsprechende Werk als sein eigenes zu kennzeichnen. Ob die Abfassung dieser didaktischen Werke allerdings auch persönlich motiviert war, lässt sich – obwohl dies in der ägyptologischen Forschung vermutet wird80 – weder sicher belegen noch verallgemeinern.81 Nach dem erhaltenen Belegmaterial zu _____________ 78 79 80 81
Vgl. dazu z.B. Eichler: Datierung, S. 102f., 106f. Dorn: Lehre, S. 52; Fischer-Elfert: Literature, S. 87. Bickel / Mathieu: Amennakht, S. 49ff. Im Zuge der möglichen Gleichsetzung von ›Sprecher‹ und ›Autor‹ tendiert man mittlerweile dazu, auch die anderen, mit einer Eigensignatur versehenen neuägyptischen ›Lehren‹ (Lehre des Ani, Lehre des Amenemope) zu personalisieren (siehe dazu z.B. Fischer-Elfert: Literature, S. 123). Der Nachweis ihrer historischen Authentizität muss aber erst noch erbracht werden. Vergleicht man die Überlieferungssituation der verschiedenen Texte, spricht einiges gegen die These von der tatsächlichen Verfasserschaft des Ani und des Amenemope. Blieb die Verbreitung der oben aufgeführten Texte auf die Region um Theben, den unmittelbaren Wirkungskreis ihrer ›Autoren‹, beschränkt, sind die anderen nachweislich in ganz Ägypten bekannt gewesen. Außerdem liegen sie in mehreren Fassungen vor, während die regional wie zeitlich begrenzte Überlieferung der thebanischen ›Lehren‹ kaum Varianten zeigt. Unter diesen Voraussetzungen muss die Namenssetzung nicht zwingend als Autorsignatur gedeutet, sondern kann im Sinne mittelägyptischer Autorkonzeption weiterhin als ein bewusster Akt anonymer Schreiber und damit als Teil der Textintention begriffen werden. Angesicht dessen wäre von zwei unterschiedlichen ›Autorpersönlichkeiten‹ im Neuen Reich auszugehen: Den anonymen ›scriptores classici‹, die die literarische Tradition des Mittleren Reiches fortführen auf der einen und den ›scriptores proletarii‹, für die die
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urteilen, dürfte es sich bei diesem Modell von Autorschaft eher um eine regionale Erscheinung gehandelt haben, die auf den thebanischen Raum, genauer gesagt auf die Arbeitersiedlung von Deir el-Medine, beschränkt blieb, in der hochspezialisierte Nekropolenarbeiter mit ihren Familien lebten. Dass zu dieser Zeit aber ein ganz grundsätzliches Bedürfnis bestand, aus der Anonymität herauszutreten und sich mit seinem literarischen Schaffen zu identifizieren, lässt sich auch an der Veränderung der Kolophone ablesen. Handelte es sich bei ihnen im Mittleren Reich noch um genormte Wendungen, werden sie im Neuen Reich hinsichtlich ihres Umfangs und ihres Variantenreichtums entscheidend erweitert.82 Zu den bedeutendsten Neuerungen dieser Zeit gehört daneben die namentliche Nennung des Textproduzenten durch die Formel ›…verfasst durch den Schreiber NN‹. (jrj n zx#w NN)83 Mit der direkten Zuschreibung von Text und Schreiber wandelt sich nicht nur die Form, sondern auch die Zweckbestimmung des Kolophons. Diente es anfänglich ausschließlich als Textabschluss und zur Bestätigung von Vollständigkeit und Originalität, wird es später dazu verwendet, die eigenen Kompetenzen unter Beweis zu stellen und sich als Besitzer des vorliegenden Dokuments auszuweisen.84 Das eben Gesagte lässt sich an nachstehendem Text aus der 18. Dynastie besonders gut belegen. In dem Kolophon, das zu einer Abschrift eines mittelägyptischen Literaturwerks gehört, hält dessen Kopist und Eigentümer mit Namen Chaemwaset Folgendes fest: Es ist zufrieden stellend zuende gekommen, genauso wie es schriftlich gefunden worden war, als Schrift des Schreibers [Cha]emwaset für sich selbst, des wahren Schweigers, dessen Charakter gut ist, geduldig, der die Menschen liebt, der nicht im Auge des anderen steht, der den Diener nicht vor seinem Herzen verleumdet, des Schreibers, der die Rechnungen ausrechnet, erhaben und kundig in der Arbeit des Thot […]85
Der Wandel in der Wahrnehmung der eigenen Leistung und Fähigkeiten zeigt sich zudem an den zahlreichen redaktionellen Eingriffen, die von den Schreibern bei der Abschrift mittelägyptischer wie neuägyptischer Texte _____________
82 83
84 85
Produktion eines Textes individuell motiviert und mit einer bestimmten Absicht verbunden war, auf der anderen Seite. So bereits Loprieno: Defining, S. 53, 56. Lenzo Marchese: Colophones, S. 360ff.; Luiselli: Colophons, S. 346f. Lenzo Marchese: Colophones, S. 365. Der älteste Beleg für eine Namensnennung innerhalb eines Kolophons stammt aus dem späten Mittleren Reich. Er findet sich auf dem Papyrus pPetersburg 1115, col. 186-189, der die einzige Abschrift der Erzählung des Schiffbrüchigen trägt, vgl. dazu Parkinson: Teachings, S. 95. Gnirs: Bürgerkrieg, S. 264. pPetersburg 1116 A, 144-150. Zitiert nach Gnirs: Bürgerkrieg, S. 264f.
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vorgenommen wurden.86 Da alles daraufhin deutet, dass diese zum besseren Textverständnis nach eigenem Ermessen überarbeitet, aktualisiert und verändert werden konnten, dürften sich die Kopisten als ›Schöpfer‹ der von ihnen erstellten Handschrift verstanden haben.87 5.2 Zu den Ansprüchen textschaffender Individuen und dem Idealtyp des altägyptischen ›Gelehrten‹ (rX jX.t) Reflexionen ausführlicher Art über das eigene Tun etwa in Form theoretischer Abhandlungen waren den ägyptischen Schreibern dagegen weitestgehend fremd. Wenn überhaupt Aussagen zu den Mechanismen und Bedingungen literarischer Produktion und den Ansprüchen textschaffender Individuen gemacht werden, finden sich diese in den als literarisch klassifizierten Texten selbst. Als eines der wenigen und gleichzeitig bekanntesten wie aussagekräftigsten Zeugnisse für die Form der Auseinandersetzung kann ein Text aus dem Mittleren Reich angeführt werden, der unter der sekundären Bezeichnung Die Klagen des Chacheperreseneb bekannt ist. In dem Prolog der ›Klage‹, die einem heliopolitanischen Priester gleichen Namens in den Mund gelegt ist, sinniert dieser im Rahmen eines inneren Monologs mit seinem Herzen über die Schwierigkeiten einer angemessenen literarischen Verarbeitung zeitgenössischer Verhältnisse. Schwer umzusetzen erscheint Chacheperreseneb sein Bestreben wohl vor allem deshalb, weil er sich den bis dato üblichen literarischen Verfahren verpflichtet fühlt, diese aber keine geeigneten Mittel bereithalten, um das bestehende Chaos in schriftlicher Form adäquat wiederzugeben. Seine innere Zerrissenheit – hervorgerufen durch das Traditionsbewusstsein auf der einen und den Innovationsdruck auf der anderen Seite – beschreibt der fiktive Ich-Erzähler wie folgt: Verfügte ich doch über unbekannte Ausdruckformen, und ungewohnte Verse (Tz.w) in einer neuen, unvergänglichen Sprache, frei von Wiederholungen sowie ohne Vers (Tz) von dem, was mündlich überliefert wird und was die Ahnen sprachen. Ich will aus meinem Innersten ringen, was in ihm ist, als Lösung für jegliche Redner, denn das, was gesagt wurde, ist nur Wiederholung
_____________ 86
87
Abzulesen ist dies unter anderem an den verschiedenen neuägyptischen Varianten der mittelägyptischen Lehre des Ptahhotep, Junge: Ptahhotep, S. 11ff., oder an den inhaltsund damit sinnverändernden Bearbeitungen der Erzählung des Sinuhe, auf die Parkinson: Sinuhe, bereits hingewiesen hat. Zu den redaktionellen Veränderungen eines zeitgenössischen Werks siehe Quack: Ani, S. 18-23. Gnirs: Bürgerkrieg, S. 264.
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und Gesagtes wurde gesagt. Man sollte die Worte (mdw.wt) der Vorfahren nicht für sich selbst in Anspruch nehmen, auf dass die Nachkommen sie sich aneignen! […] Wüsste ich nur, was anderen unbekannt ist, etwas noch nicht Wiederholtes!88
Das Ringen um die richtige Ausdrucksform und die Suche nach neuen Beschreibungskategorien ließe sich eventuell als erstes Anzeichen für den in Abschnitt 3.2 beschriebenen Bruch in der Kontinuität der literarischen Tradition zur Zeit des Neuen Reiches deuten. Interessanterweise bleibt aber auch dieser Text, der seinen Willen zur literarischen Innovation durch die Aussagen des vermeintlichen Verfassers sozusagen offen vor sich her trägt, im weiteren Verlauf den traditionellen formästhetischen Gestaltungsprinzipien der mdw.wt nfr.wt treu. Als ein weiterer Beleg ist an dieser Stelle der so genannte ›Dichterkatalog‹ des Papyrus ChesterBeatty IV vso. 2,5-3,11 aus der 19./20. Dynastie zu nennen. Sprach Chacheperreseneb noch über seine eigene Leistung, wird hier über das literarische Wirken anderer reflektiert. Dies geschieht allerdings ohne explizit auf deren Werk Bezug zu nehmen. Die relevante Passage findet sich – eingebettet in einen Weisheitstext – auf der Rückseite des Papyrus, der einst zu einer Privatbibliothek in Deir el-Medine gehörte.89 Der Katalog führt insgesamt und paarweise acht Personen auf, die per Eigensignatur als ›Autoren‹ mittelägyptischer ›Lehren‹, ›Klagen‹ oder ›Reden‹ namentlich bekannt sind.90 Gibt es einen wie Hordjedef? Oder einen zweiten wie Imhotep? Unter unseren Zeitgenossen ist keiner wie Neferti oder Cheti, ihrer aller Primus. Ich nenne dir den Namen des Ptahemdjehuti und des Chaperreseneb. Gibt es etwa einen wie Ptahhotep oder wie Kairsu?91
Abgesehen von der namentlichen Erwähnung dieser bekannten ›Autorpersönlichkeiten‹ interessiert der Text vor allem deshalb, weil er im weiteren Verlauf 1.) Hordjedef, Cheti, Ptahhotep u.a. näher charakterisiert und 2.) _____________ 88 89 90
91
Chachperreseneb (BM 5645) rto. 1-7. Zitiert nach Moers: Welten, S. 147. Pestman: Owner. Die Auflistung der acht Personen folgt laut Fischer-Elfert: Literature, S. 126f., einer chronologischen Ordnung. Bei dem ersten und letzten ›Autorpaar‹ handele es sich um historisch belegte Personen aus dem Alten Reich, während die anderen vier aus dem Mittleren Reich stammten. Die zeitliche Einordnung von Neferti, Chety, Ptahemdjehuti und Chacheperreseneb verdankt sich allerdings nur der Datierung der ihnen zugeschriebenen Werke ins Mittlere Reich. Eindeutig historisch fassen lassen sie diese ›Autorpersönlichkeiten‹ nicht. Zur Datierung der ihnen zugeschriebenen Werke vgl. Anm. 39. pChesterBeatty IV vso. 3,5-7. Übersetzt nach Assmann: Schrift, S. 69.
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an ihrem Beispiel umschreibt, was das literarische Schaffen für textproduzierende Individuen zu leisten vermag. So heißt es im Anschluss: Diese Weisen (rX.w jX.t), die die Zukunft vorhersagten, was sie sagten, ist eingetroffen. Man findet es in Versform (Tz.w) aufgeschrieben in ihren Schriftrollen (Sfd.w) [...] Sie sind gegangen, Ihre Namen (wären längst) vergessen, aber ihre Schriften (zx#.w) halten ihr Andenken wach.92
Durch ihre Ansprache als rX.w jX.t (›Dingkundige‹) werden sie als umfassend gebildete Mitglieder der geistigen Elite Ägyptens ausgewiesen.93 Sie verkörpern hier das Ideal des allwissenden Literaten, der durch sein kulturell bedeutsames Werk und dessen Rezeption Unsterblichkeit erlangt. Laut Aussage des Textes diente also das Abfassen von ›Schriften‹ (zx#.w) der Fortdauer des eigenen Namens. In diesem Sinne folgerichtig ergeht an den Schreiber und die, die es werden sollten, die Aufforderung, es den ›klassischen Autoren‹ gleichzutun und ihren Namen durch die ›Buchproduktion‹ ins kulturelle Gedächtnis Ägyptens einzuschreiben.94 Diese Interpretation lässt sich mit jenen im vorhergehenden Abschnitt aufgeführten Quellen in Übereinstimmung bringen, die auf ein geändertes Selbstverständnis textschaffender Individuen in der 19. und 20. Dynastie hindeuten. Der oben zitierte Appell scheint durch die namentliche Erwähnung historisch nachweisbarer Personen in Weisheitstexten, Kolophonen oder in den durch die Wendung ›… verfasst von NN‹ (jrj n NN) eingeleiteten Schreibervermerken seine praktische Umsetzung erfahren zu haben. Abgesehen von diesen vereinzelten Individualisierungstendenzen bleibt aber festzuhalten, dass die Abfassung bzw. die wie auch immer geartete Be- und Überarbeitung von Texten kaum etwas mit persönlicher Kreativität zu tun hatte. Der ägyptische Schreiber verstand sich nicht als Künstler, der Texte aus einer persönlichen Motivation heraus verfasste, sondern als jemand, der sich in den Dienst einer höheren Sache stellte und durch sein Tun, den Fortbestand des kulturellen Traditionsstroms sicherte. Die Setzung des Namens diente dazu, sich als kundig im Umgang mit den Texten zu profilieren und an den tradierten Inhalten zu partizipieren. Man reihte sich und seine Werke damit in die Linie der ›Weisen‹ der Vergangenheit ein, denen es nachzueifern galt. Im Allgemeinen handelte es sich bei dem ›Autor‹ in Ägypten somit um eine literarische Fiktion, die, stilisiert zu ei_____________ 92 93 94
pChesterBeatty IV vso. 3,7-11. Die Übersetzung orientiert sich an Assmann: Schrift, S. 69. Zum ›Gelehrten‹ als Idealtyp der ägyptischen Elite ausführlich Morenz: Schriftlichkeitskultur, S. 110ff., 121f., bes. S. 142f. pChesterBeatty IV vso. 2,13-3,1.
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nem verehrungswürdigen Vorbild, als Projektionsfläche für bestehende Werte und Normen fungierte. Demgemäß dürfte die Vorstellung vom Textproduzenten als Literaten, als Künstler, welcher ästhetisch ansprechende Werke um ihrer selbst willen verfasst, dem eigentlichen Selbstverständnis ägyptischer Schreiber nicht oder nur selten entsprochen haben.95 Ihre historisch-biographische Identität, ihre persönliche Intention oder ihr schriftstellerisches Genie besitzen weder für die Konzeption noch bei der Abschrift eines konkreten Werks eine gesteigerte Bedeutung.96 6. Historische Rezeption Das letzte Kriterium, das hier zum Nachweis von Literarizität im Alten Ägypten angeführt werden soll, ist die Rezeption. In diesem Zusammenhang kann allerdings nur von den historischen Rezeptionsprozessen die Rede sein, während die Frage nach der (ästhetischen) Wirkung eines Textes auf den impliziten Leser ausgespart bleiben muss. In Ägypten liegen keine eindeutigen Quellen zu den Rezeptionsbedingungen und Rezeptionssituationen von ›Literatur‹ vor. Wie und zu welchen Anlässen bzw. in welchem Rahmen man literarische Texte rezipierte, ist schwer zu ermitteln, will man sich auf einer methodisch fundierten Grundlage bewegen.97 Dass sie generell gelesen und/oder gehört wurden, steht jedoch anhand der großen Zahl vollständiger Abschriften von Texten und ausgesuchten Textsequenzen wie den verschiedenen Formen von Intertextualität außer Zweifel. Bis heute gilt die Schule als der Ort, an dem vor allem die didaktischen Texte des Mittleren und Neuen Reiches der Elite des Landes zugänglich gemacht wurden. Sieht man einmal von der so genannten ›Unterhaltungsliteratur‹ ab, wird ihre Verbreitung jenseits dieses Verwendungskontexts weitgehend ausgeschlossen.98 Bei näherer Auseinandersetzung mit den Formen historischer Rezeption deutet allerdings einiges daraufhin, dass ›Unterhaltungsliteratur‹ sowie ›Schultexte‹ einem größeren Personenkreis _____________ 95 96 97
98
Zur These von einem persönlich motivierten Gestaltungswillen ägyptischer Schreiber Broze: Aventures, S. 127, 131. Diese Auffassung entspricht im Wesentlichen der Bewertung des ägyptischen ›Künstlers‹, vgl. dazu Verbovsek: Pygmalion. Die wenigen Textstellen, die eine Vorstellung von den Rezeptionsformen literarischer Texte vermitteln, können nicht ohne weiteres als direkte Hinweise auf die textexternen Vollzüge von ›Literatur‹ gewertet werden. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass die dargestellten Situationen in erheblichem Maße stilisiert und idealisiert worden sind. Zu den Rezeptionsformen ägyptischer Texte vgl. Morenz: Schriftlichkeitskultur, S. 55ff. Assmann: Texte, S. 71f.
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bekannt gewesen sein dürften. So spricht etwa die Existenz von Privatbibliotheken für eine gewisse Prominenz literarischer Texte noch vor Beginn des Neuen Reiches.99 Weil sich eine dieser Bibliotheken im Besitz eines ›Vorlesepriesters‹ (xrj Hb) befunden hat, liegt obendrein der Schluss nahe, dass auch illiterate Bevölkerungsschichten durch den Vortrag solcher ›professionellen Erzähler‹ an ›Literatur‹ partizipierten.100 Die These von der freieren Zugänglichkeit literarischer Texte und deren Vermittlung außerhalb des Schulbetriebs gewinnt aber vor allem dann an Gewicht, wenn man den Blick auf deren Produktion bzw. Reproduktion in der Arbeitersiedlung von Deir el-Medine richtet. Nach statistischen Erhebungen dürften dort in einem Zeitraum von ca. 200 Jahren mehr als 30.000 Tonscherben mit ›Literarischem‹ beschriftet worden sein.101 Ausgehend von dieser enormen Anzahl scheint es fraglich, ob es sich bei den Ostraka tatsächlich um Schülerhandschriften handelt – zumal die überwiegende Mehrheit des erhaltenen Materials von durchgehend guter Schreibqualität ist. Somit ist es wahrscheinlicher, dass die Kopien Arbeiten ausgebildeter Schreiber darstellen, die diese entweder für eigene Zwecke oder im Auftrag anderer als ›Lesestücke‹ anfertigten. Unabhängig davon, wie man die schriftlichen Hinterlassenschaften Ägyptens bewerten möchte, zeugt der Umfang der Belege und die handwerkliche Sorgfalt beim Prozess des Kopierens ganz grundsätzlich von deren besonderem Stellenwert. Allein anhand dieser Indizien auf ein bestimmtes Konzept von Rezeption schließen zu wollen, würde sicher zu weit gehen. Allerdings ließen sich auch hier Texte anführen, die eine ungefähre Vorstellung von den Bedingungen der Textrezeption vermitteln könnten. Dafür, dass die Rezeption ›klassischer Werke‹ an eine korrekte Wiedergabe ihres Inhalts gekoppelt war und damit das richtige Textverständnis voraussetzte, spricht beispielsweise eine weitere Passage aus der Satirischen Streitschrift. In ihr wird der Adressat wegen seiner Arroganz und seiner mangelnden literarischen Bildung mit den Worten gemaßregelt: Du bist dahergekommen, beladen mit großen Geheimnissen, und hast mir einen Vers (Tz) des Hordjedef zitiert. Du weißt aber gar nicht, ob er positiv oder negativ (gemeint) ist, welches Kapitel (Hw.t) geht ihm voran, welches folgt ihm nach?102
Letztendlich wird man aus dem Rekonstruktionsversuch historischer Rezeptionsvorgänge von Literatur zumindest ansatzweise schließen dürfen, _____________ 99 100 101 102
Morenz: Schriftlichkeitskultur, S. 154ff. So z.B. Eyre: Literature, S. 118f. Dagegen Quack: Ramesseumspapyrus, S. 77. Janssen: Literacy, S. 84f. pAnastasi I 10,9-11,2. Zitiert nach Fischer-Elfert: Streitschrift, S. 94.
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dass die entsprechenden Texte einem größeren Publikum zur Verfügung standen. Demnach wurden sie nicht nur in der Schule von angehenden Beamten auswendig gelernt, sondern in einem generellen Bewusstsein ihres originalen Sinns zum individuellen Zeitvertreib oder privatem Studium rezipiert. 7. Zusammenschau Im Alten Ägypten existierte kein eingegrenztes Textkorpus, das per se als ›die ägyptische Literatur‹ veranschlagt werden kann. Trotz des zusätzlichen Fehlens einer zeitgenössischen Literaturtheorie und einer ausdifferenzierten literarischen Terminologie lassen sich anhand des erhaltenen Materials, seiner Überlieferungssituation wie der daraus abgeleiteten funktionalen Bestimmung oder dem Selbstverständnis textschaffender Individuen zumindest Hinweise auf ein ägyptisches Verständnis von ›Literatur‹ herausarbeiten. So können Weisheitstexte von Erzählungen, Erzählungen von Liebesliedern oder kanonische Texte von modernen Werken sowohl aufgrund ihrer Form oder stofflichen Ausgestaltung als auch hinsichtlich ihrer Stellung in der kulturellen Tradition Ägyptens von einander unterschieden werden. Während die Gruppe der Weisheitstexte, denen mit mdw.wt nfr.wt ein genuin ägyptischer Literaturbegriff zumindest implizit ist, die ›Grundausrüstung‹ der Schreiberausbildung darstellte, diente die Mehrzahl der anderen, als literarisch klassifizierten Texte und Textgruppen wohl primär dem vergnüglicheren Zeitvertreib (sXmX-jb) und damit eher dem, was man als primären Verwendungszweck literarischer Texte verstehen würde. Besonders deutlich wird die Zweiteilung durch den in der Ramessidenzeit vollzogenen Bruch in der Kontinuität der literarischen Tradition, der sich durch die diglossische Dichotomie zwischen den kanonischen Klassikern des Mittleren Reiches und der neuägyptischen Literatur manifestiert. Ab dieser Zeit lässt sich dann auch ein starker Anstieg an Abschriften didaktischer Texte des Mittleren und Neuen Reiches vornehmlich auf Ostraka verzeichnen, der als ein Hinweis für den privaten Gebrauch bzw. den individuellen Nutzen der Texte außerhalb des Schulbetriebs gewertet werden kann. Gestützt wird diese Annahme, die sich aus der Rekonstruktion historischer Rezeptionsprozesse ergibt und sich eventuell sogar zur These von der Existenz eines Buchmarkts ausweiten ließe, durch das wachsende Bedürfnis der Schreiber, ihre Werke zu signieren. In diesem Zusammenhang darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass die meisten Belege aus der Arbeitersiedlung von Deir el-Medine stammen, die hinsichtlich ihrer Ge-
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schlossenheit und der Zusammensetzung der in ihr lebenden Personen einen einzigartigen Befund innerhalb der ägyptischen Geschichte darstellt. Unter Berücksichtigung dieses Sachverhalts kann abschließend von zwei verschiedenen Strömungen innerhalb der literarischen Tradition Ägyptens gesprochen werden: 1.) einer kanonischen bzw. der gehobeneren Literaturtradition, die bereits mit Beginn der Mittleren Reiches nahezu komplett ausgebildet ist und im Neuen Reich unter geringen Veränderungen ihre Fortsetzung findet, und 2.) einer jenseits der Formativität der kanonischen Werke verlaufenden Entwicklung, die im Neuen Reich als regional eingrenzbares Phänomen aufkommt und in der Ramessidenzeit ihre eigentliche Blüte hat. Mit der Unterscheidung zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ Texten verbindet sich, ganz allgemein formuliert, ein jeweils unterschiedliches Verständnis von Literatur und deren ›Funktionen‹. Während es die primäre Bestimmung traditioneller Werke ist, kulturelle Richtlinien zu formulieren und den Erwerb sozialer Kompetenz zu fördern, verbindet sich mit den modernen Werken ein anderer gesellschaftlicher Wert: der der Unterhaltung.103 Bibliographie Altenmüller, Hartwig: Zum Beschriftungssystem bei religiösen Texten. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Suppl. 1.1 (1969), S. 58-67. Assmann, Jan: Der literarische Text im Alten Ägypten. Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Orientalistische Literaturzeitung 69 (1974), S. 117-126. Assmann, Jan: Fest des Augenblicks – Verheißung der Dauer: Die Kontroverse der ägyptischen Harfnerlieder. In: J.A. / Erika Feucht / Reinhard Grieshammer (Hg.): Fragen an die altägyptische Literatur. Studien zum Gedenken an Eberhard Otto. Wiesbaden 1977, S. 55-84. Assmann, Jan: Harfnerlieder. In: Wolfgang Helck / Wolfhart Westendorf (Hg.): Lexikon der Ägyptologie. Bd. 2. Wiesbaden 1977, Sp. 972-982. Assmann, Jan: Schrift, Tod und Identität. Das Grab als Vorschule der Literatur im alten Ägypten. In: Aleida Assmann / J.A. / Christof Hardmeier (Hg.): Schrift und Gedächtnis. München 1983 (Archäologie der literarischen Kommunikation 1), S. 64-93. Assmann, Jan: Ägypten – Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur. Mainz 1984. Assmann, Jan: Ägyptische Hymnen und Gebete. In: Texte aus der Umwelt des alten Testaments. Begr. von Otto Kaiser. Hg. von Bernd Janowski und Gernot Wilhelm. Bd. 2: Orakel, Rituale, Bau- und Votivschriften, Lieder und Gebete. Gütersloh 1986ff., S. 827-928. Assmann, Jan: Gibt es eine Klassik in der ägyptischen Literaturgeschichte? Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Ramessidenzeit. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Suppl. 6 (1986), S. 35-52. Assmann, Jan: Ma‛at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten. München 1990.
_____________ 103 Assmann: Texte, S. 71f., 78.
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Römische Literaturen und die Grenzen der Philologie
Gemäß ihrer akademischen Bestimmung ist die Disziplin der Klassischen Philologie zuständig für die griechischen und lateinischen Sprachen und Literaturen von den Anfängen bis zum Ausgang der Spätantike. Die Lateinische Philologie untersucht demnach Texte, die über einen Zeitraum von ca. 1000 Jahren hin entstanden sind, und berücksichtigt in wissenschaftsund rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht auch ihre Verarbeitungen in späteren Epochen. Literaturen im Sinne von sprachlich, kulturell, zeitlich oder räumlich bestimmten Zusammenhängen von Texten gibt es in diesem Fach also mehrere, und es scheint wenig erfolgversprechend, einen Universalbegriff von ›literarisch‹ zuerst aufzustellen, um ihn dann jeweils modifizieren zu müssen. Dennoch ist es eine erstaunliche Tatsache, dass eine Disziplin, die das Wort ›Literatur‹ in ihrer Bestimmung trägt, keinen Begriff davon zu entwickeln versucht hat. Zu den Gründen für diese Zurückhaltung gehören einerseits die Genese des Faches, andererseits die späte Entstehung des Problems. Die gegenwärtige Konzeption des Faches ist teils Resultat der Ausdifferenzierung universitärer Disziplinen seit ca. 1800, teils geht sie auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, als die Eigenständigkeit der römischen Texte gegenüber den griechischen Vorgängern in den Blick kam. Ein Teilbereich latinistischer Interessen ist auf die Extrapolation historisch verwertbarer Daten in altertumskundlicher Hinsicht ausgerichtet, er lässt sich jedoch nicht von dem Zentralbereich fachlicher Fragestellungen trennen, die die sprachlich-literarische Erforschung der Texte unter Einbeziehung philosophischer, ästhetischer und kulturwissenschaftlicher Perspektiven zum Ziel haben. Die Koexistenz und Komplementarität beider Bereiche ist im 20. Jahrhundert dort zu einer problematischen Konkurrenz geworden, wo Interessen und Begriffe des ersten Bereiches, vor allem der in der zuständigen Geschichtswissenschaft längst verabschiedeten Konzepte von ›Realien‹, absolut gesetzt und in den zweiten übertragen wurden, so dass sie dessen Entwicklung behinderten. Die Folgen solcher Übertragungen haben vor
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allem englischsprachige Philologen seit den 1950er, verstärkt seit den 1990er Jahren als Problem erkannt und die literarisch-ästhetischen Fragen wieder aufgegriffen, die vor der von positivistischen Motiven getragenen Verengung des Fachhorizontes bereits selbstverständlich waren und nunmehr im Hinblick auf die epistemologischen Herausforderungen der Textwissenschaften neu formuliert werden konnten.1 Der zweite Grund, die späte Entstehung des Problems, lässt sich daran festmachen, dass der Terminus ›Literatur‹ nicht immer emphatisch oder (besser:) prägnant verwendet wurde, nämlich zur Bezeichnung von Texten, die von anderen sprachlichen Äußerungen unterschieden sein sollen, etwa durch kunstvolle Sprache, Gedankentiefe, fiktionale Gegenstände, spezifische Rezeptionssituationen oder als Teil eines Literaturbetriebes. In der lateinischen Sprache gibt es kein Äquivalent zu einem solchermaßen prägnant gebrauchten Terminus. Das lateinische ›litterae‹ kann Geschriebenes in allen möglichen Formen bezeichnen, ebenso Gegenstände gelehrter Tätigkeit oder diese Tätigkeit selbst. Gleichermaßen unspezifisch kann von ›scripta‹ die Rede sein oder von ›dem, was der Schrift / der Erinnerung anvertraut wurde‹ (ea, quae litteris / memoriae mandata sunt), oder auch, vor allem in Zitaten, von dem, was jemand gesagt habe (Vergilius dixit; ut ait poeta). Entsprechend ist in früheren Handbüchern von den ›Litterarischen Denkmälern der Römer‹ oder eben der ›Litteratur‹ die Rede, worunter sämtliche Textsorten wie Geschichtsschreibung, Fachschriften, alle Dichtungsformen, Romane, Briefe, Gesetzestexte oder Kommentare fielen. In der Latinistik wird nun aber in Konkurrenz zu dieser vornehmlich auf Schriftlichkeit und das Überlieferungsmedium zielenden Bezeichnung von antiken Texten beliebiger Gestalt und Funktion ›literarisch‹ auch in der neueren, emphatischen Weise gebraucht. Die Selbstverständlichkeit, mit der Texte oder Elemente als ›literarisch‹ bezeichnet werden, verdeckt aber, dass wir nicht wissen, wodurch und wovon sich das so Bezeichnete unterscheiden soll. Was ist denn das ›nicht-literarische‹ Pendant? Manchmal scheint damit gemeint zu sein, dass etwas einer unerklärten Idee vom sprachlich Schönen nicht entspricht, Funktionen innerhalb anderer Kontexte wahrnimmt oder keine Aspekte des Uneigentlichen oder Spielerischen besitzt. Die literarische Qualität des Poetischen etwa scheint dann keiner gesonderten Begründung zu bedürfen, Fachprosa, Lehrbuchtexte und sogar die Geschichtsschreibung als eine der Hauptformen im emphatischen Sinn ›literarischer‹ Prosa in Rom müssen dagegen nachträglich und ausdrücklich _____________ 1
Die US-amerikanische Latinistik hat sich in dieser Hinsicht erfolgreich zu einer methodologisch innovativen Disziplin entwickelt, messbar nicht zuletzt am Wachstum der Institute, das parallel zur Verkleinerung deutscher Institute stattfand.
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in ein Verhältnis zum Literarischen gesetzt werden.2 Ein Blick in beliebige Fachpublikationen wird zeigen, wie häufig der Terminus auftaucht, und seine Unschärfe ist keineswegs ein Randproblem terminologischer Interessen: Das Attribut verdeckt unerklärte Voraussetzungen und markiert nicht selten eine Leerstelle, an der die historische Bedingtheit der eigenen kritischen Kategorien ausgeblendet wird. Im Folgenden werde ich vorschlagen, aus den römischen Texten Begriffe einer literarischen Praxis zu entwickeln, in der die genannten Probleme teils gar nicht auftreten können, teils aber bereits vorweggenommen sind. In dem Maß, in dem Leser eine kategoriale Differenz zwischen Beobachter und Gegenstand angenommen haben, sind auch die aporetischen Unternehmungen verfolgt worden, römische Literaturbegriffe unter Absehung von der Bedingtheit des eigenen Standpunktes rekonstruieren zu wollen und das notwendige Scheitern dieses Versuches im Rückzug auf die eingangs genannten positivistischen Haltungen zu überdecken. Die besonderen Möglichkeiten der Disziplin scheinen dadurch in den Hintergrund zu geraten: Eine fremde Kultur wie die römische stellt von heutigen Implikationen divergierende Begriffssysteme bereit, die es ermöglichen, die Grenzen zwischen Diskurs- und Wahrheitsformationen und verschiedenen Ansätzen der Rationalisierung von Lebenswelten anders als in gegenwärtig scheinbar selbstverständlichen Modellen zu ziehen. Im Folgenden werden in dieser Hinsicht einige Schwierigkeiten erläutert, die sich aus dem Mangel an Interesse für den Literaturbegriff ergeben, und Hinweise darauf genannt, dass im Gegensatz dazu die römischen Texte dieses Interesse in sehr hohem Maß erkennen lassen. Der Teilbereich der Imitation ist wegen der traditionell hohen Aufmerksamkeit, die ihm Produzenten und Rezipienten gewidmet haben, als verbindendes Element ausgewählt worden, die Vielfalt der Textbeispiele soll daran erinnern, der Pluralität der Zugänge zum Literarischen nicht dadurch auszuweichen, dass (wissenschaftlich unhaltbare) Aussagen über ›das‹ Literaturverständnis ›der Römer‹ (oder ›des Autors x‹) getroffen und zu einem Element von (post-hegelianischen) Konstruktionen gemacht werden. Römische Literaturen eignen sich nicht dafür, eine Stufe innerhalb einer Genese abendländischen Bewusstseins zu markieren, die später überwunden wurde. _____________ 2
Zu grundsätzlichen Problemen, die sich aus der leichthin verwendeten Unterscheidung von Prosa und Dichtung ergeben, siehe z.B. Asper: Medienwechsel, S. 67, mit Hinweis auf Norden: Kunstprosa, S. 30, der bereits vorschlug, den Unterschied als sekundär zu betrachten. Zur Illustration der Bedeutung des Überganges von der griechischen (lehrhaften) Dichtung zur (wissenschaftlichen) Prosa als eines »Medienwechsels« zitiert Asper: Medienwechsel, S. 67, die kluge Beobachtung von Kittay / Godzich: Prose, S. 19: »Prose is not a style [...] Prose is a different signifying practice.«
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Objekte und Subjekte der Literaturkritik Ein Teil der philologischen Tätigkeit von Latinisten lässt sich auf zwei komplementäre, wenn auch unterschiedlich rezipierte Traditionen des kritischen Zugriffs auf römische Texte zurückführen: eine, die sich auf die Grammatiker berufen kann, und eine ästhetisch-literarische, die auf die impliziten Theorieaussagen der Texte und die Rhetorik zurückgeht. Die erste konzentriert sich auf die kommentierende Sach- und Worterklärung, die historische Einordnung von Autoren und Werken und die Überlieferungsgeschichte der Texte. Diese Tätigkeiten wurden vor allem von den (teils) alexandrinischen Philologen des dritten vorchristlichen Jahrhunderts etabliert. Sie erkannten es auch als zentrale Aufgabe des Faches, die beständige Veränderung der Textfassungen durch Abschreibefehler, Verluste oder Ergänzungen zu erfassen und zu beschreiben. Dies betraf vor allem die Homerischen Epen und die attischen Tragödien.3 Interessanterweise führte dies im späteren Verlauf schon die professionellen ›guardians of language‹ dazu, griechische und lateinische Texte selbst fortzuschreiben und gemäß ihrem Kenntnisstand zu überarbeiten.4 Die geläufige Vorstellung vom lector in fabula lässt sich also ganz konkret auf den Umgang aller Folgegenerationen gelehrter Leser anwenden, die sich in der sicheren Erwartung, die Texte müssten ihren Kriterien hinsichtlich gelungener Gedankenführung, sprachlicher Angemessenheit oder stilistischer Kohärenz folgen, direkt an den Texten emendierend betätigten. Mit der Entwicklung moderner Editionsphilologie, die ihre Entscheidungen dokumentiert, erhielten die Techniken der Restitution auch eine stärker selbstreflexive Komponente. Auf die hellenistische Zeit geht auch die zweite literaturkritische Tradition zurück. Neben den oft im Umfeld philosophischer Interessen entwickelten Interpretationsverfahren wie der Allegorese ist besonders die Institutionalisierung eines Literaturbetriebes relevant, der als eine Verbindung gelehrter Studien und schriftstellerischer Praxis konzipiert wurde. Dieser Betrieb wurde zu einer Voraussetzung, die die späteren Schriftsteller vor Augen hatten.5 Römische Dichtung und Prosa entstanden im Wissen der Verfas_____________ 3
4
5
Shapiro: Hipparchos, S. 104, kommt zu dem Schluss, dass die fließenden Texte der Rhapsoden, in denen Repertoire, Szenenauswahl und -reihenfolge wechselten, sowohl durch die beruflichen Interessen der Rhapsoden selbst, die Homerischen Epen als klassische Texte gegen die neue Lyrik zu behaupten, als auch durch politische Eingriffe fixiert wurden. Eine umfassende Erörterung der ›Obhut der Grammatiker‹ bietet Zwierlein: Revision; der englische Ausdruck ist Titel des maßgeblichen Buches von Robert Kaster über die professionelle Zunft der Sprach- und Literaturverwalter. Einen guten Überblick über Interessen und Texte der lateinischen grammatica bietet Irvine: Textual Culture, bes. S. 49-87. Grundlegend sind immer noch Kroll: Studien, und Pfeiffer: Geschichte.
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ser um die Lektüretechniken und Interessen der professionellen Leser. Vorliegende Texte waren nicht geschichtslos zugängliche Dialogpartner, sondern eingebunden in spezifische Interpretationstraditionen, die sich teils in Kommentaren, teils im Umgang späterer Schriftsteller mit den Texten ihrer Vorgänger niedergeschlagen hatten. Als »incorporating the Alexandrian Footnote« hat Stephen Hinds entsprechend ein Verfahren römischer Dichter bezeichnet, bei dem die Unterscheidung zwischen Produzent, Interpret und dargestellten Figuren verwischt wird: In ihrem memini (›ich erinnere mich‹) lässt Ovid seine Ariadne nicht eine Vergangenheit innerhalb der Erzählebene, sondern ihre eigene textuelle Vergangenheit bei Catull und dessen Vorbildern zitieren.6 Ariadne im Text erinnert sich an Ariadne in einem anderen Text und definiert ihre Existenz über die literarische Tradition. Als poetische Figur ist sie kein naives Objekt gelehrter Erklärung, sondern kommt ihren philologischen Lesern zuvor, indem sie die Belege aus ihrer textuellen Vergangenheit sammelt und sich selbst als Konstruktion bezeichnet, die aus der Lektüre ihres Autors erstellt ist. Mit gleicher Aufmerksamkeit für die literaturkritische Tradition verarbeitet Vergil Homerscholien, deren Interpretationen er zusammen mit den darin gedeuteten Epen als Subtexte seiner Aeneis einsetzt.7 Aus der hellenistisch-römischen Verbindung von Studium und schriftstellerischer Praxis, von Produktion und Reflexion, von Poetologie und Poesie bzw. Prosatheorie und Prosa können wir ein erstes Charakteristikum der römischen Texte gewinnen, die wir als ›literarisch‹ bezeichnen könnten.8 Römische literarische Texte lassen eine fixe Grenzziehung zwischen Objekten und Subjekten der Literaturkritik nicht zu, sondern exponieren auf der Ebene der Darstellung auch die Eigenschaft ihrer Gegenstände, aus bereits kommentierten, interpretierten und tradierten Texten zu stammen. Ovids Ariadne ist eine kommentierte Ariadne, deren Kommentierung auf der Erzählebene die Dimension der Betrachtung und Reflexion auf den Text und seine Genese offenlegt, und Analoges lässt sich im Umgang mit tradierten Elementen zum Beispiel in der Historiographie oder Ciceronischen Prosa zeigen. Selbstreferentialität ist in dieser Hinsicht ein Kriterium, das weniger die Selbstbezüglichkeit von Aussagen oder Bedeutungsansprüchen meint, als vielmehr die offene Exposition der Entstehungsbedingungen des Textes. Die Parodie ist eine vielleicht besonders illustrative Variante dieser Bezugnahmen: Ovids Ars amatoria ist als Wider_____________ 6 7 8
Hinds: Allusion, S. 2-4. Einen Überblick bietet Richardson: Exegetical Scholia, S. 176-210; vgl. auch die Arbeiten von Neuschäfer zu Origenes, von Schmit-Neuerburg zur Aeneis und die dort versammelten Literaturangaben. Grundlegend zur Konstitution der hellenistischen Literaturkritik und -produktion ist Pfeiffer: Geschichte.
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legung des in ihr formulierten Anspruchs konzipiert, die Lehrdichtung für das gewählte Thema verwenden zu können, und kann nur dann entsprechend rezipiert werden, wenn die Leser ihre eigenen Erwartungen als im Text aufgenommen und enttäuscht erkennen. Wer die angeführten Beispiele nicht mit der Praxis gelungener Beweisführung vergleichen und ihr offensichtliches Misslingen als Absicht des Textes verstehen kann, wird alle möglichen Techniken ausprobieren müssen, um plausibel zu machen, dass der werbende Liebhaber seine Angebeteten gerade mit dem Hinweis auf Jupiter zu überzeugen versucht, der bekanntlich sämtliche Damen schnöde verlassen hat.9 Der vielgenannte gelehrte Leser muss ein Kritiker sein, der sowohl die philologischen Techniken als auch die literarische Praxis, die jene reflektiert, als Thema des Textes und diesen als mit Rezeptionsphänomenen beschäftigten versteht.10 Die skizzierten Traditionen unterscheiden sich nun aber auch in ihrem kritischen Selbstverständnis, das unmittelbar auf ihr Literaturverständnis einwirkt. Die erste versteht sich als Zugriff auf passive Objekte, die der erklärenden Hilfe bedürfen, so dass dem Kritiker in erster Linie die Position des unbeteiligten, gar uninteressierten Beobachters zukommt. Dieser konstatiert, dass notwendiges Wissen zum Textverständnis zu ergänzen ist, und überträgt die Vorstellung von der Existenz eines Problems auf das Textganze: »The text is typically seen as raising a ›problem‹ (quaestio), to which a ›solution‹ is offered: the methodology goes back to the beginnings of Homeric commentary.«11 Die Definition des Problems, die notwendigen Schritte zu seiner Lösung und deren Formulierung fallen sämtlich in den Zuständigkeitsbereich des Beobachters. Diesem erscheint der Text insgesamt als defizitäres Gebilde, dessen Gestalt auf unfeine Weise den Blick auf die ›eigentlich‹ gemeinte Aussage oder die ›versteckte‹ Wahrheit verstellt.12 Aus der Perspektive der impliziten Reflexion auf diese kritische Position erscheinen römische Texte dagegen als Subjekte, die einen solchen Zugang nicht nur voraussehen, sondern auf seine Bedingungen und Interessen bereits innerhalb ihrer Darstellung reagieren. Entsprechend achtet ein literarisch-ästhetischer Zugang nicht nur auf andere Textelemente als die Grammatikertradition, sondern auch auf die Folgen, die sich aus dem Zugriff der letzteren auf die Texte ergeben. Die implizite Reflexion litera_____________ 9 10 11 12
Heldmann: Dichtkunst, S. 356, 358, 408; zum Beispiel der Damen ebd., S. 363f. Ebd., S. 364: »Wenn man ignoriert, dass der amator dieses Gedichtes nur eine Maske des poetischen Ich und die Liebeswerbung um die puella ein bloßes Rollenspiel ist [...], dann sind die exempla passend, weil sie die Liebeswerbung zu unterstützen scheinen.« Fowler: Constructions, S. 414. Kennedy: Arts, S. 2 »The verbal texture of the poetry is thus represented as a barrier; Griffin’s text holds out the hope of passing through that barrier to achieve a direct experience of reality.«
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rischer Texte auf ihre Beobachter macht sie zu einer Instanz, für deren Untersuchung die Vorstellung von der Passivität des Objekts keinen heuristischen Wert besitzt. Im Gegenteil wird in Texten wie dem zitierten Ovids der Kritiker zum Objekt, dessen Erwartungen dem poetischen Text ein willkommenes Material bieten. Als Subjekte erscheinen die Texte schließlich auch in einer letzten Hinsicht, die wir mit der doppelten Tradition kritischer Zugänge verbinden können. Eine implizite Reflexion auf das erwartbare Deutungshandeln der Leser setzt voraus, dass es solche Erwartungen gibt und dass sie erkennbar zitiert werden können. Die Texte machen also einen Leser auf die Prinzipien seiner Lektüre aufmerksam und können versuchen, sich damit einen besseren Leser zu erzeugen, der nicht auf der Ebene der grammatischen Beschreibung verharrt. Der Literaturbetrieb ist daher Voraussetzung der Texte und zugleich ihr Gegenstand, den sie verändern und auf den sie einwirken. Wiederum sind es die Texte selbst, die die Handlungen in Gang setzen und daran teilnehmen, Lektüretechniken, Bezeichnungspraktiken und ästhetische Erwartungen zu entwickeln.13 Als ›literarisch‹ im emphatischen Sinn, so meine These, werden daher römische Texte dann behandelt, wenn sie ein Interesse an ihren eigenen Produktions- und Rezeptionsbedingungen zum Objekt ihrer Darlegung machen (was unabhängig davon gilt, ob wir eine intentio auctoris, eine intentio textus oder Funktionen eines Diskurses zugrunde legen wollen). Imitation und Selbstreferenz Die Kommentierung seiner selbst nimmt ein römischer Text vor allem mit Hilfe anderer Texte vor. In den römischen Literaturen gibt es entsprechend auch jenseits überlieferungsgeschichtlicher Aspekte keine abgeschlossenen Texte – begrenzt ist lediglich die materielle Gestalt. Die Imitationspraxis, ein fundamentales Prinzip, stellt in Zitaten, Anspielungen, Übereinstimmungen in Szenen, Motiven oder Sprechweisen, in Verweisen und Transkriptionen ein so enges Bezugsnetz her, dass Bedeutungen eines Text(teil)es sogar vornehmlich in einem anderen gründen können. Wie im Falle der oben unterschiedenen grammatischen und literarisch-ästhetischen Zugänge verläuft die Suche nach solchen bedeutungskonstitutiven Beziehungen in scheinbar getrennten Bahnen. In den Texten findet aber eine implizite Kommentierung der eigenen Praxis und derjenigen der Vorgänger statt, die wiederum verschiedene Lesergenerationen provoziert hat, ein eigenes _____________ 13
Beispielhaft seien die Arbeiten von Fowler, Conte, Barchiesi, Hinds und Hardie genannt.
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kritisches Vokabular und Instrumentarium zu entwickeln, um punktuelle Verbindungen, etwa die Kontaminationen Homerischer Anfangsverse im Proöm der Aeneis (arma virumque cano [...]), genauso wie umfangreiche Überschreibungen der Vorgänger, Fortsetzungen und Korrekturen zu benennen.14 Derzeit darf vor allem das Vokabular, mit dem auf Imitationsphänomene zugegriffen wird, als Indikator des Wissenschafts- und Literaturverständnisses eines Interpreten gelten. Dabei gibt es einerseits eher bedauerliche Erscheinungen wie die Mimikry zu beobachten, wenn zum Beispiel von »intertextuellen Verweisen« die Rede ist, ohne die logische Inkonsistenz des Ausdruckes zur Kenntnis zu nehmen, und mit der kosmetischen Verwendung übernommener Termini nur die Weigerung verdeckt wird, sich den Herausforderungen an die Textwissenschaften zu stellen. Auf der anderen Seite stehen entschlossene Zugriffe auf die Möglichkeiten einer erkenntnistheoretisch wachen Imitationsforschung, wofür die Arbeiten von Don Fowler, Philip Hardie und die maßgebliche Abhandlung Allusion and Intertext. Dynamics of appropriation in Roman poetry (1998) von Stephen Hinds stehen. Neben dem Ersatz statisch-linearer Modelle von Einflüssen und kontrollierten Verweisen durch wechselseitige Bezugsnetze, in denen die Chronologie der Lektüre relevanter ist als die der Produktion, ist für unsere Fragen wiederum das Prinzip wichtig, dass die Texte die Leserhandlungen in ihre Konzeption bereits integrieren und darin die Frage ihrer eigenen Literarizität behandeln.15 Nehmen wir ein beliebiges Beispiel nachahmender Praxis: dextrum Scylla latus, laevum implacata Charybdis / obsidet (Vergil: Aeneis 3,420f.) Scylla latus dextrum, laevum irrequieta Charybdis / infestat. (Ovid: Metamorphoses 13,730f.)
Die Offensichtlichkeit der angewendeten Verfahren soll die Leser zu einer schulmäßigen Beschreibung veranlassen: Das anschauliche Bild der beiden Meeresungeheuer, zwischen denen die Schiffe ihren Weg finden müssen, wird von Ovid mit einer einfachen Wortumstellung in Versmitte und –enden abbildend geordnet und gleichzeitig im Ausdruck dynamisiert: Aus statischen Ortsangaben macht er ohne Änderung der Wortformen Ziel_____________ 14
15
Vgl. Hardie: Aeneid, z.B. S. 158-167, über Lucrez in Vergils Georgica, S. 167: »Within the structure of the works of both poets an internal abstract system of correspondences and contrasts is set up, so that individual passages only emerge in full relief when related to other passages, often separated by a considerable gap. Radical inversion [...] directs our attention to the relationship between earlier and the later works even more forcible than do simpler forms of imitation. The extent of the imitation and reworking extends down to the minutest verbal level, where it frequently operates in an associative and combinatory manner that ignores the syntactic and semantic coherence of the original.« Grundlegend Martindale: Reception; zur Diskussion vgl. die beiden Beiträge von Heath und Martindale.
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punkte einer ebenfalls nicht mehr statischen (obsidet), sondern bedrohlich drängenden Verbalhandlung (infestat). Vergils Charybdis thront wie eine richtende Gottheit unversöhnlich und klanglich träge (implacata), die Ovids tänzelt ruhelos auf ihren daktylischen Versfüßen (irrequieta). Scylla und Charybdis sind darüber hinaus nicht nur ein mythologisches Standardmotiv, das den Leser zwangsläufig auf eine Fülle anderer Bearbeitungen verweist, sondern lassen sich auch geradezu mechanisch politisch oder ethisch codieren. Wenn wir nun die Tatsache beachten, dass alle diese Erklärungen vom Verfasser vorausgesehen werden konnten und er sich damit recht leichtfertig in Gefahr bringt, der technischen Spielerei bloß handwerklicher oder, etwas vornehmer, kunstvoller Variation (und nicht mehr) bezichtigt zu werden, verschiebt sich das vermutbare Textinteresse von der Anwendung auf die Zurschaustellung der Verfahren. Die Aufforderung zur Anwendung analytischer Verfahren wird somit ergänzt durch die Frage, was nach ihrem Vollzug für die Bedeutungszuweisung geleistet worden ist. Die Kommentierung ist damit eine vom Text vorgesehene Übergangsstufe, der die Frage nach dem literarischen Gewinn angeschlossen werden soll. Wo aber die Komplexität der Bezugsnetze geradezu entmutigend wird, steigert sich die selbstreferentielle Thematisierung der Imitationstechniken zu der Frage, ob eine solche Komplexität von Produzenten oder Rezipienten überhaupt noch kontrolliert werden kann. Als (wiederum willkürlich herausgegriffenes) Beispiel kann die Rede des Vergilischen Anchises beim Besuch des Aeneas in der Unterwelt dienen. Im mythischen Kontext, in dem aus der Vergangenheit auf eine Zukunftsdeutung geschlossen wird, gelten die Interessen des Verfassers den kosmologischen Modellen, die in Ciceros Dialog De re publica diskutiert werden, deren Platonischen Bezugstexten und den Traumerzählungen, die Ennius in den Annales bot, worin der Dichter Homer dem Sprecher Ennius unter Verwendung Empedocleischer Lehrtexte die Dichterexistenz vor Augen führt.16 Imitationsverfahren, die ein derartiges Dickicht von Verweisen und Deutungsmöglichkeiten herstellen, erzeugen zugleich paranoide Leser, die nach immer neuen, bisher unentdeckten Polyvalenzen suchen. Ich fasse diese Aporien nicht als Defizite der Methoden, denen durch Kontrollaktivität der Philologen begegnet werden soll, sondern als offene Thematisierung der Frage, wie in literarischen Texten Bedeutungen fixiert und kritische Tätigkeiten strukturiert werden können – die Aporie der Deutungen ist ein Thema, dem sich der Vergilische Text bereits widmet.17 Imitationsverfahren sind dort ein Kennzeichen literarischer Texte, wo ihnen die Aufgabe zukommt, die Nachahmung zum Gegenstand theoreti_____________ 16 17
Hardie: Aeneid, S. 69-83. Zur Kontrolle vgl. besonders Hinds: Allusion, S. 17-51.
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scher Reflexion zu machen und ihren Status als prinzipielles Problem von (sozial vermittelter) Sprache und Erkenntnis offenzulegen. Ihre Anwendung ist die Voraussetzung der literarischen Aussage, ihre Feststellung durch den Kritiker also nur der Beginn seiner Aufgaben. Imitation erlaubt es, nach der Abschließbarkeit literarischer Texte zu fragen, nach der Kontrollierbarkeit des Sinns oder der Möglichkeit, in Kategorien des Fortschritts über Textbeziehungen zu sprechen. Nun haben aber immer wieder literaturkritische Texte römischer Zeit dazu geführt, eine Öffnung der Interpretation für diese prinzipiell theoretische Dimension literarischer Aussagen zu verhindern, insofern das, was dort explizit zu finden war, mit dem Ziel des gesamten Imitationsverfahrens gleichgesetzt wurde – als einer Technik, die sich selbst als kunstvoll und ihre Produkte als Verbesserung des Früheren erweisen will (als simpler Wettbewerb der aemulatio). Bevor wir daher die skizzierten Ideen weiter entwickeln, muss ein Blick auf die Literaturkritik zeigen, dass diese mit der Deutung der Imitation als einer Referenz auf das Problem des Literarischen vereinbar sind. Imitierte Kritik Ein Durchgang durch fünf kritische Textpassagen wird die relevanten Fragen illustrieren können.18 Die erste findet sich bei Terenz, der den Sprecher seines Prologes zur Komödie Andria die Diskussion über den griechischen Dichter Menander referieren lässt, der ebenfalls eine Andria geschrieben und diese so mit einer weiteren Komödie verknüpft habe, dass zwar die Handlungsstränge ähnlich und die Ausführung sehr verschieden sei, dennoch aber jeder, der eine kenne, auch die andere kenne.19 Die Kritiker dieses Verfahrens tadeln mit moralischem Vokabular (decere) die Kontamination (contaminari) als eine Überschreitung der Grenzen zwischen selbstständigen Bühnenstücken und werden brüsk zurechtgewiesen: Wer den Menander anklage, klage dann wohl auch Ennius, Naevius und Plautus an, denen sich der Verfasser der folgenden Komödie als auctores verpflichtet fühle, und lieber wolle er noch in produktiven Wettstreit (aemulari) mit deren Nachlässigkeiten treten, als sich der obskuren Pedanterie der Kritiker zu unterwerfen.20 Verfahren der Textproduktion vor dem Hintergrund der Existenz _____________ 18 19
20
Laird: Literary Criticism, S. 457-478, bietet ein umfassendes Literaturverzeichnis zur Forschung über antike Literaturkritik. Terenz: Andria, prologus 9-16: Menander fecit Andriam et Perinthiam. / qui utramvis recte norit ambas noverit: / non ita dissimili sunt argumento, [s]et tamen / dissimili oratione sunt factae ac stilo. / quae convenere in Andriam ex Perinthia / fatetur transtulisse atque usum pro suis. / id isti vituperant factum atque in eo disputant / contaminari non decere fabulas. Vgl. ebd. 18-21.
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von Vorbildern und ihre Beurteilung, in diesem Falle als unzulässig oder akzeptabel für einen guten Komödienschreiber, werden im Text offen diskutiert und mit dem Motiv einer Kritikerfraktion illustriert, die selbst komische Züge trägt. Knapp 200 Jahre später porträtiert Seneca der Ältere den jungen Dichter Ovid, der im Deklamationssaal mit seinen Studienkollegen Texte verfasst und diskutiert.21 Lästig sei diesem jegliche Beweisführung gewesen, er habe aber in seiner Lieblingsdisziplin, den auf den Charakter ausgerichteten Beratungsreden, geglänzt und darin konsequent auf künstliche Wortbildungen und ungewöhnliche Ausdrücke verzichtet (verbis minime licenter usus est). Diese löbliche Zurückhaltung sei ihm aber in seinen Gedichten kein Anliegen gewesen, im Gegenteil: Er habe sogar seinen respektlosen Umgang mit der Sprache (licentia) noch mit dem Hinweis verteidigt, ein Gesicht mit kleinen Makeln sei ja auch schöner als ein vollkommenes. Daraus schließt der Sprecher, dass es dem hochbegabten Mann wohl nicht an Urteilsfähigkeit gefehlt habe, sondern schier an Entschlossenheit, sein sprachliches Ungestüm zu bezähmen (non iudicium defuisse ad compescendam licentiam carminum suorum sed animum). Bei Seneca wie bei Terenz finden wir den Literaturbetrieb so beschrieben, dass Verfasser und Leser gleichermaßen an der Produktion des Textes beteiligt erscheinen. Beide arbeiten dabei mit dem Motiv der sympathischen Opposition der Dichter gegenüber den Kritikern, die sich mit Quisquilien und Moralismen hervortun, ästhetisches Urteilsvermögen aber vermissen lassen. Die Kritiker als literarische Figuren – bei Catull, Horaz oder Martial genauso wie bei Cicero, Plinius oder Seneca – lassen sich als ambivalentes Motiv verstehen, das einerseits durch Imitation einen eigenen Traditionsstrang literaturkritischer Texte etabliert und sie damit weiter den literarischen annähert, andererseits in der Außenreferenz Informationen zu liefern vorgibt, die den Werken im HistorischAnekdotischen eine spezifische Eigenheit und damit Erkennbarkeit innerhalb des Tradierten verleihen sollen. Wir sehen Hinweise darauf, dass das Reden über Nachahmung angesichts der Bedeutung des Prinzips selbst zu nachgeahmtem Reden wird. Die daraus resultierende Doppelung der Aussageebenen findet sich radikalisiert in der vielzitierten Ars poetica des Horaz, der nach Jahrhunderten nachahmungsorientierter Theorie und Praxis mit erstaunlichen Einsichten auftritt: publica materies privati iuris erit, si non circa vilem patulumque moraberis orbem, non verbo verbum curabis reddere fidus
_____________ 21
Seneca maior: Controversiarum liber 2,2,12.
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interpres, nec desilies imitator in artum, unde pedem proferre pudor vetet aut operis lex.22
Der Sprecher ist ein Literaturkritiker, der Sprechmodus also figurierte Rede, die selbstsicher gleich auch in der Tradition didaktischer Poesie gefasst ist, die selbst zu den zu besprechenden literarischen Werken zählt. Wer hier über wen spricht und vor allem über was, welche Leser in welcher Weise auf exklusive Wortwahl, Bildlichkeit oder Ironie reagieren sollen oder können, gehört zu den offenen Fragen zur Ars, der weitgehend das Schicksal zuteil wurde, als historische Quelle zum Literaturverständnis der Römer gelesen zu werden (was Horaz zweifellos amüsiert hätte).23 Der Sprecher wäre sicher über das Kritikerlob für die kluge und hübsche Darstellung eines trockenen Gegenstandes erfreut gewesen, es mag aber sein, dass mancher Leser das Referat von Allgemeinplätzen als selbstreferentiellen Bezug des Textes auf die Frage verstand, wie sich überhaupt originell über Nachahmung in einer nachahmenden Form reden lässt und wie vielversprechend der Versuch ihrer normativen Regelung sein kann. Dieselben Fragen stellen sich auch in einer wieder auf den ersten Blick gänzlich anders formierten Redeweise, nämlich der des rhetorischen Traktats. Quintilian warnt mit gleichem Nachdruck vor geistloser Nachahmung und hat der europäischen Literaturgeschichtsschreibung darin zudem eine autoritative Fassung des Motivs beschert, dass sich die Modernen immer durch ihren Abschied von der Konvention und die Hinwendung zur Originalität auszeichnen. Er unterscheidet die von ästhetischem Urteilsvermögen (iudicium) getragene Auseinandersetzung mit Tradiertem, aus der immer Neues entsteht, vom epigonalen Tun, das die Bezeichnung ›imitatio‹ nicht verdient.24 Eingebettet in den didaktischen Vortrag führt er einen Be_____________ 22
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Horaz: Epistula ad Pisones (= Ars poetica) 131-135; in vorläufiger Arbeitsübersetzung: »Der allen verfügbare Stoff wird zu einem eigenen Rechts, wenn du dich nicht um den billigen und offen zu Tage liegenden Kreis herum aufhältst, wenn du dich nicht darum bemühst, als getreulicher Vermittler Wort für Wort wiederzugeben, und nicht als Nachahmer in die Enge hinabspringst, woraus den Fuß herauszuheben die Scham verbietet oder das Gesetz des Werkes.« Hilfreiche Beobachtungen bietet Russell: Ars. Brink: Horace. Bd. 1, S. 244-271, beschreibt die ›poetischen‹ Elemente der Ars poetica und bemüht sich nach Kräften, sie als Abweichungen vom Zweck, nämlich der Belehrung und der Mitteilung eigener Ansichten, lediglich als Zugeständnisse des Verfassers an sein eigenes Können einzuordnen (sicher habe Horaz nicht einfach einen Traktat versifiziert, aber sein kompositorischer und umarbeitender Zugriff werde doch leicht überschätzt, ebd., S. 245). Goodman: Sprachen, S. 41: »Repräsentation und Beschreibung ist in dem Maße treffend, wirkungsvoll, erhellend, subtil, fesselnd, in dem der Künstler oder Schriftsteller unverbrauchte und bedeutsame Beziehungen erfaßt und Mittel ersinnt, diese zu offenbaren.«
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weisgang vor, der die literarischen Kriterien anthropologisch begründet.25 Nachahmung als Selbstzweck genüge nicht (imitatio per se ipsa non sufficit), denn es sei nur einem trägen Geist gemäß (pigri ingenii), sich mit dem Bekannten zu begnügen. Wäre es nicht so, hätte bloße Wiederholung zu zivilisatorischem Stillstand geführt:26 Bei den Dichtern hätten wir niemanden außer Livius Andronicus, in der Geschichtsschreibung nichts außer den priesterlichen Annalen, statt Schiffen gäbe es noch Flöße, und die Malerei wäre nicht mehr als dünne Umrisszeichnung der Schatten, die Körper in der Sonne werfen.27 Während sich so der didaktische Vortrag kunstgerecht entfaltet, konnte sich der Leser, der keine altertumskundlichen Interessen verfolgte, an der Nachahmung nachgeahmter Strategien der Rhetorik in einem Werk über dieselbe genauso erfreuen wie an der Frage, wie viel geistvolle Variation der Warnung vor geistloser Nachahmung wohl genug sein mochte. Ein letzter Blick gilt dem Dialogwerk Saturnalia des Macrobius, der Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. seine Sprecher das Verhältnis Vergils zu Homer diskutieren lässt: acriter enim in Homerum oculos intendit ut aemularetur eius non modo magnitudinem sed et simplicitatem et praesentiam orationis et tacitam maiestatem. hinc diversarum inter heroas suos personarum varia magnificatio, hinc deorum interpositio, hinc auctoritas fabulosorum, hinc adfectuum naturalis expressio, hinc monumentorum persecutio, hinc parabolarum exaggeratio, hinc torrentis orationis sonitus, hinc rerum singularum cum splendore fastigium.28
Differenzierte Terminologie und ein feines analytisches Instrumentarium, die in der modernen Forschung noch unaufgearbeitet sind, dienen den von Macrobius konzipierten Dialogteilnehmern dazu, sich als Gelehrtengemeinschaft zu konstituieren, in der die ideelle und emotionale Nähe zu den verehrten Dichtern derjenigen gleichkommt, die diese untereinander verbunden _____________ 25 26
27 28
Quintilian: Institutiones oratoriae 10,2,2. Zu entsprechenden Aristotelischen Ansätzen bei der Nachahmung als einem anthropologischen Grundverhalten, das zudem für die Erklärung der Freude am Hässlichen genutzt wird, siehe Kullmann: Philosophie, S. 13. Quintilian: Institutiones oratoriae 10,2,4: Ante omnia igitur imitatio per se ipsa non sufficit, vel quia pigri est ingenii contentum esse iis quae sint ab aliis inventa. Quid enim futurum erat temporibus illis quae sine exemplo fuerunt si homines nihil nisi quod iam cognovissent faciendum sibi aut cogitandum putassent? Nempe nihil fuisset inventum. Ebd. 10,2,7: Nihil in poetis supra Livium Andronicum, nihil in historiis supra pontificum annales haberemus; ratibus adhuc navigaremus, non esset pictura nisi quae lineas modo extremas umbrae quam corpora in sole fecissent circumscriberet. Macrobius: Saturnalia 5,13,40-41: »Fest heftet Vergil nämlich seinen Blick auf Homer, um nicht nur dessen Größe nachzuahmen, sondern auch die Einfachheit, die Gegenwärtigkeit seiner Rede, die schweigende Majestät. Von ihm übernimmt er die vielfarbige Erhöhung der verschiedenen Personen unter seinen Heldenfiguren, die Einbeziehung von Göttern, die Beglaubigung der wunderbaren Begebenheiten, den natürlichen Ausdruck der Gefühle, die Ausführung der erinnerungswürdigen Ereignisse, die Ansammlung von Vergleichen, den Klang der tönenden Sprache, die glanzvolle Höhe jedes einzelnen Teiles.«
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haben soll. Die Produktion des literarischen Textes ist im Verständnis der Sprecher von einer wohltuenden Empfindung begleitet, die Vergil auch zur Übernahme der Fehler Homers veranlasst habe (ebd. dulcis imitatio Homeri). Hier ist Imitation eine Seinswahrnehmung, die unabhängig von zeitlichem Abstand (von Homer trennen Macrobius ca. 1000 Jahre, von Vergil 400) den Teilnehmern dazu dient, ihr Selbstverständnis über die literarische Vergangenheit zu definieren, eine Vergangenheit, die sie gleichzeitig verehren und in der Nachahmung für ihre Zeit erst herstellen müssen. Als Zeugnis für ›das römische‹ Literaturverständnis taugt keiner der Texte, auch nicht der genannte Horaz oder gar die oft bemühte Poetik des Aristoteles oder eine Grammatikertradition.29 Das als charakteristisch bezeichnete Fließen der Grenzen zwischen Theorie und Praxis bestätigt sich im Hinblick auf die Imitationsverfahren, die in beiden Textgruppen gleichermaßen verwendet und in ihrer Verwendung ausgestellt werden. Für literarische wie literaturkritische Texte gilt, dass sie sich einen Traditionszusammenhang herstellen, indem sie Motive aufnehmen und den Vorgang der Aufnahme als solchen kenntlich machen. Letzteres ist bei literaturkritischen Texten noch kaum betrachtet worden, obwohl es vielversprechend erscheint: Offensichtlich diskutiert die Literaturkritik als Textsorte – und wohl als literarische Sprechweise – die Phänomene der Nachahmung selbst in einem nachahmenden Modus, der die Tradiertheit der eigenen Positionen kennzeichnet. Sicherlich können diese Texte aber nicht dafür verwendet werden, den römischen Texten die oben beschriebene selbstreferentielle Dimension abzusprechen. Grenzen der Literaturgeschichte Explizit in der Kritik und implizit in den von ihr beobachteten Texten ist uns schon mehrfach das Motiv einer Konkurrenz zwischen römischen literarischen Texten und ihren Beobachtern begegnet. Einerseits stellen sich römische Texte über ihren Bezug auf die Literaturkritik selbst in die Tradition, die sie durch ihren Beitrag formieren wollen, andererseits treten sie in Zitat und Überwindung kritischer Ansichten in Opposition zu (manchen) Lesern. Die Imitationstechniken lassen sich auch als ein Mittel verstehen, das Denken über die eigene Geschichte nicht den Kritikern zu überlassen, sondern sich der Wiederholtheit als einer prinzipiellen Herausforderung _____________ 29
Auch wenn hier sicher Elemente einer nicht isolierten Lektürepraxis zu entnehmen sind; zu Aristoteles siehe Nagy: Epic, S. 28: »And yet, as valid as Aristotle’s criteria may be from a classical and postclassical Greek point of view, they cannot be universalized or absolutized.« Vgl. zum Anachronismus auch Feeney: Criticism, S. 443.
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literarischer Rede zu widmen. Da die Imitation wesentlich mit der Literaturgeschichtsschreibung verbunden und beide wiederum in den kritischen Zugriffen der Leser teils eigenwillig konstruiert werden, soll im Folgenden zunächst eine fiktive Gruppe von Kritikern skizziert werden, die römischen Schriftstellern als besonders gewinnbringendes Motiv erschienen wäre. Danach werden wir anhand zweier Beispiele aus literarhistorischen Positionen des 19. und 20. Jahrhunderts versuchen, den wiederum konstitutiven Beitrag literarischer Texte an ihrem eigenen Missverständnis zu beschreiben und auf mögliche Auswege verweisen. Man könnte eine Gruppe von Rekonstruktionisten fingieren, die sich als echte Philologen begreifen. Rekonstruktionisten haben Zugang zu einem literaturkritischen Konsens, dem epistemologische Probleme äußerlich sind. Um römische Literatur ›aus sich selbst heraus‹ zu begreifen, erschaffen sie sich ihr Objekt durch den selektiven Zugriff auf ein kleines Korpus nur scheinbar heterogener Schriften und legitimieren sich durch Autoritätsargumente.30 Ihre Fragen und Begriffe entstammen ausschließlich der Welt der Objekte und sind unbeeinflusst von ihrer eigenen (akademischen) Biographie.31 Ihre Polemik gegen ›modernistische‹ Ansätze ist ein sicherer Beweis ihrer Überlegenheit.32 Die Evidenz ihrer Argumente macht eine Reflexion auf die eigenen Voraussetzungen überflüssig, so dass Methodenund Theoriediskussionen sie nicht von der echten Arbeit ablenken.33 Nüch_____________ 30
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Feeney: Criticism, S. 444 mit Anm. 20f.: »But the corpus [i.e. of antique literary criticism, A.A.] is itself, if you like, ›literary‹, not an inert tool. This is immediately obvious in the case of an Aristotle or a Horace, but it is also true of Servius and the largely anonymous company of the scholia. We are not dealing with a problematic body of material (›literature‹) which can be explained with the aid of a less problematic body of material (›criticism‹): we are dealing with numerous, often contesting, strands of problematic material which interact with each other in innumerable categories of time and space.« Vgl. ebd., S. 440 (zu Malcolm Heath), 442; Fowler: Constructions, S. 416, über den Gebrauch des Serviuskommentars: »[The writings of Servius] tend to be used opportunistically: quoted if they support an interpretation, ignored if they do not. There is nothing wrong with this approach, so long as it is clear that Servius’ authority in itself does not in any way validate a reading.« Zum Mangel an Beweiskraft vgl. Feeney: Criticism, S. 450 mit Anm. 45. Manches spricht für Feeney: Criticism, S. 446: »I suspect, however, that the main reason why so many classicists attribute such authority to ancient literary criticism is that it relieves them of the distasteful task of attributing any authority to modern literary criticism.« Kennedy: Arts, S. 11 u.ö. Aussagekräftig für die eingetretene Unsicherheit in Teilen der Klassischen Philologie mag sein, dass sich in der von Alfred Gercke und Eduard Norden herausgegebenen Einleitung in die Altertumswissenschaft von 1910 ein ausführliches Methodenkapitel mit hermeneutischen Erörterungen und Referaten erkenntnistheoretischer Positionen findet, während die neueren Einleitungen, herausgegeben von Fritz Graf für die lateinische und Heinz-Günther Nesselrath für die griechische Phi-
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tern reinigen sie den Text von Leserspuren und stoßen vom archimedischen Punkt aus zum fixierten Sinn vor.34 Unsere fingierten Telchinen fänden sich etwa in Duncan Kennedys Skizze wieder: A historizising hermeneutical approach works to open up a distinction between text and context, projecting the second as ancillary to the first. The tendency of this is to locate the meaning of a text in the original moment of inscription and to represent all previous contextualizations as detachable, closed ›episodes‹ in the text’s Nachleben, thus projecting the present contextualization as the ›truth‹, the ›real meaning‹.35
Natürliche Wahrnehmungen und persönliche Lebenserfahrung erlauben den Telchinen, von der Überlieferung verweigerte Argumente zu ersetzen.36 Erwehren müssen sie sich allein der uneinsichtigen Gegner, die den Wert des rekonstruktionistischen Erkenntnisziels nicht anerkennen wollen: At its most occlusive, historicism creates ›objective‹ representations of the past that in their ›immediacy‹, ›relevance‹ or ›presence‹ serve to throw back consoling or affirming self-images; but as textualism encroaches, the distinction between past and present becomes less clearly demarcated, and depictions of the past become more overtly representative of the present. If historicism achieved its aim of understanding a culture of the past ›on its own terms‹, the result would be totally unintelligible except to but that culture and moment. [...] Far from past being made ›present‹, it would be rendered totally foreign and impenetrably alien.37
Unsere Rekonstruktionisten, wenn es sie gäbe, wüssten beneidenswert viel, vor allem über das, was wirklich war, darüber wie Horaz oder die Römer die Dinge sahen, wie man aus einem poetischen Vers auf die Historie der Welt, das allgemein Menschliche und die Psyche eines Autors schließen kann. Das bescheidene Kennzeichen ihres wissenschaftlichen Anspruches _____________
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lologie, nicht einmal mehr den Versuch einer Methodenreflexion enthalten und sich auf eine Sammlung von ›Sachwissen‹ beschränken, in dem wiederum nur ansatzweise auf dessen Herstellung eingegangen wird. Zu gegenläufigen Bemühungen vgl. z.B. Schwindt: Klassische Philologie. Was Hinds: Ovid, S. 218, über Ovidlektüren sagt, darf allgemeine Geltung beanspruchen: »[...] attempts by modern revisionists [...] to erect firewalls between their own ›good‹ readings of the exile poetry’s possible subtexts on the one hand, and on the other the fevered conspiracy theories of the religious, the prurient, and the biographically obsessed [...] are ultimately doomed to failure« Kennedy: Arts, S. 11; zum entsprechenden Gegenmodell ebd.: »A discourse of appropriation works to blur any distinction between text and context in its emphasis on the contextual construction of textual meaning – that every context is precisely another text, a construction open to interpretation – and stresses the multiplicity of contexts.« Vgl. Kennedy: Arts, S. 3, über die sozialen und geschlechtsspezifischen (ebd., S. 4f.) Leitvorstellungen: »The works of Petronius and Juvenal, which are often held to depict a world peopled by lower social groups and viewed from their perspective, are constantly praised for their ›realism‹. Critics who use the term project themselves as interlopers, however much they enjoy the temporary frisson of seeing how the other half lives from the safe confines, and through the window, of a racy textual vehicle.« Ebd., S. 8.
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wäre das Vergangenheitstempus, das sogar bei mentalen Zuständen Anwendung findet (Autor x ›fand‹, ›meinte‹, ›dachte‹ etc.) und überall dort Fakten konstatiert, wo sich Textualisten mit dem Präsens begnügen und sich auf so unfruchtbare Weise um ihre eigenen Begriffe und Voraussetzungen winden. Unsere Rekonstruktionisten wären zweifellos ein Lieblingsmotiv römischer Invektiven geworden, nicht zuletzt, weil ihr Handeln in Widerspruch zu ihrer Selbstwahrnehmung steht – Wissenschaftlichkeit gründet auf der Distanz zu sich selbst, nicht auf einer behaupteten Distanz zum Gegenstand, die den Beobachter legitimieren könnte. Wie im Folgenden an der Literaturgeschichtsschreibung illustriert werden soll, können wir aber eine noch weiter gehende These an unsere Skizze knüpfen: In römischen Texten ist die Position der Rekonstruktionisten bereits zitiert und überwunden, so dass es auch gegenwärtig nicht um ein Bekenntnis zu textualistischen oder rekonstruktionistischen Positionen gehen kann. Die eher junge Opposition spielt für die Suche nach dem Literarischen römischer Texte keine Rolle.38 Die philologische teilt sich mit der allgemeinen neuzeitlichen Literaturgeschichtsschreibung mindestens vier bemerkenswerte Annahmen: dass aus einzelnen Texten ein Ding abstrahiert werden kann, das eine Geschichte hat, dass Chronologie für literarische Werke eine Rolle spielt, dass sich Epochen einteilen lassen, die nicht nur durch bloße zeitliche Nähe von Entstehungsdaten, sondern durch gemeinsame ästhetische Vorstellungen, Kunst- und Weltsichten beschreibbar sind, und dass die ästhetische Wertung des Beobachters eine Funktion seines (fortgeschrittenen) Wissens ist. Ein Fallbeispiel für die römischen Texte bietet Wilhelm Sigmund Teuffels Geschichte der Römischen Literatur von 1882, also einer besonders wichtigen Zeit für die Formierung der Klassischen Philologie als akademisches Fach.39 _____________ 38
39
Vgl. Kennedy: Arts, S. 12: »Any text, be it a Roman elegy or this one, must present itself at some level as having a ›universal‹ or transhistorical aspect even as it addresses a specific moment, if it is to be interpreted at all.« Ebd., S. 23: »In criticising the ›rhetoric‹ of reality (that is, the way others use the term), one cannot avoid creating a ›reality‹ within which one’s own discourse is ostensibly grounded.« Ebd., S. 22: »A text (of whatever description) cannot seal itself off from, it can only occlude its own involvement in, the terms of analysis it seeks to impose. In ostensibly talking about representation and the terminology it involves, I have not been able to escape using it myself; [...].« Geteilt wird die Zeit von Republik und Augustus vom Beginn im Jahr 240 bis zu Sulla 84 v. Chr. in eine erste Periode, dann in eine zweite von 83 v. Chr. bis 17 n. Chr., die als ›Das goldene Zeitalter‹ bezeichnet ist, getrennt in die Ciceronische Zeit 83-43 v. Chr., deren erste Hälfte bis 63 gehe und an die sich dann die zweite Hälfte bis 43 anschließe. Es folgt die Augustische Zeit 43-14 n. Chr. Den zweiten Hauptteil bildet die römische Kaiserzeit, zuerst das silberne Zeitalter 14-117 n. Chr., gegliedert nach Regierungszeiten von Kaisern und Kaisergeschlechtern, bis zum Ende der Spätantike werden dann nur noch Jahrhunderte als Kapitelüberschriften verwendet.
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Teuffels Modell der römischen Literaturgeschichte konzipiert Literatur abhängig vom »Nationalen«, insofern erstere ein spätes Phänomen sei, als letzteres sich im Niedergang befand.40 Weil die Literatur erst im Verfall entstanden sei, hätten selbst die zwei Generationen, in denen respektive die Prosa (in Ciceronischer) und die Dichtung (in »Augustischer« Zeit) »in Bezug auf Formvollendung, groszenteils auch in sachlicher Gediegenheit« eine goldene Höhe erreichten, nur dürftig den bereits eingetretenen Verlust verhüllen können.41 Den danach unaufhaltsam fortschreitenden Verfall habe die Literatur nur noch abbilden oder sogar befördern können, insofern sie sich in Heuchelei und Nachäfferei erschöpfte.42 Wegen ihrer Wortgewalt sei eine längere Passage zur ›Silbernen Latinität‹ in Stichworten zitiert: Bei der Mehrzahl aber Blasiertheit, Verbissenheit und Verschrobenheit [...] Heuchelei und Affectation [...] Künstelei und Unnatur [...] Eitelkeit [...] genährt durch die öffentlichen Vorträge [...] unruhige Beweglichkeit, krankhafte Gereiztheit und Hast [...] Flitterstaate von Sentenzen [...] Die Poesie wird rhetorisch, die Prosa poetisch [...] der Eine kokettiert (wie Seneca) [...] grelles Colorit [...] äuszere Glätte auf Kosten des Inhaltes (wie Valerius Flaccus und Statius) [...] Die Manier tritt an die Stelle des Stils, gespreiztes Pathos an die Stelle ruhiger Kraft. [...] keine Gedankeneinfachheit [...] Der Sieg des Modernen über das Altertümliche ist in der Literatur vollendet; nur in Kreisen ohne literarische Bedeutung lebt das Antike noch lange fort und äuszert sich gelegentlich ablehnend gegen die neue Künstelei [...] Rhetorik und Declamation beherrscht das ganze Jahrhundert, Prosa wie Poesie, artet selbst aber immer mehr aus in kleinliche Scholastik und Zungendrescherei. [...] Die poetische Form wird auf alle möglichen Gegenstände angewandt, die Gattungen werden durcheinander geworfen, Poetisches der Prosa beigemischt, die Synonymik getrübt, der Wortschatz durch Schöpfungen der Willkür verunstaltet [...] Dadurch erhält die sogenannte silberne Latinität ihre eigentümliche Färbung.43
Diese wunderbare Philippika gegen das Sodom und Gomorrha kaiserzeitlicher Textproduktion ist zweifellos ein gelungener Beitrag zur Belletristik. Die Mischung aus Geschmacksurteilen, stilistischen Beobachtungen und Zeitgeistmotivik ist aber in der wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschrei_____________ 40
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Teuffel: Geschichte, S. 130f.: »Die Jahrhunderte wo Rom keine eigentliche Literatur besasz sind die seiner politischen Grösze. Die Literatur kam erst auf durch das Bedürfniss der Schule und der Schaubühne, als die Unterweisung durch Begleiten des Vaters auf den Markt und in den Rat nicht mehr genügend erschien [...]. Die römische Literatur steht daher von vornherein unter dem Einflusse der griechischen; sie ist durch diese ins Leben gerufen, in ihrer Art fortwährend von ihr abhängig und kann deshalb selbst auch Boden gewinnen nur auf Kosten des echt- und altrömischen Wesens.« Ebd., S. 259. Auch hier bleibt Teuffels Maßstab das National-Politische: Der Sieg des »Despotismus« und die Schwäche der »nationalen Kräfte«, es folgen »krankhafte Spannung«, »völlige Erschöpfung«, die nur noch »Scheinleben und Nachahmungen« hervorbringt (ebd., S. 601). Ebd., S. 603-607.
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bung keineswegs als belletristisch wahrgenommen, sondern weiter gepflegt worden, wie unser zweites Beispiel zeigen kann, die 1978 unter dem programmatischen Titel Change and Decline veröffentliche Studie von Gordon Williams. Williams macht in kaiserzeitlichen Texten ebenfalls den Verlust der Grenzen zwischen Poesie und Prosa aus, beschreibt den Abschied von der harmonischen Komposition zugunsten eines »cult of the episode« und »ready-made poetic ideas« und findet Literatur auf ein komplizenhaftes Spiel von Codierung und Decodierung zwischen Verfasser und Publikum reduziert. Darin stehe der Aufwand an Künstlichkeit in keinem Verhältnis mehr zum mageren Gehalt: »There is a gross disproportion between the energy of utterance and the weight of the ideas it is required to bear.«44 Williams nimmt die gegenwärtigen Strategien der Mimikry vorweg, insofern er einer offenbar als verpflichtend empfundenen Erklärung, ›sinnlose Etiketten‹ wie ›silberne Latinität‹ nicht mehr zu verwenden, den Versuch folgen lässt, deren Begriff zu bestätigen, indem er die Kategorie des Authentischen verwendet.45 Kennzeichen der Unechtheit ist für Williams die Verwandlung des Schriftstellers in einen Schauspieler, der sich der Herstellung eigener Emotionen und deren Kommunikation an das Publikum widme: It was not the writer’s aim to express ideas or concrete situations directly through a distinct linguistic personality; rather ideas and situations were allowed to generate emotions in the writer, and it was these emotions that became the object of his attention. The writer thus became an actor whose function it was to arouse in an audience the emotions that he worked up in himself.46
Mit dem Mangel an Wahrhaftigkeit verbindet sich für Williams die Unfähigkeit der Schriftsteller zu kohärenter Gedankenführung und zu einem angemessenen Verständnis ihrer Vorbilder: Some puzzling features of the literature of the early Empire become clear when literary activity is viewed as a relationship between a performing writer and an expectant audience – for instance, the incoherence and the sheer lack of clues to the connection of thought in Persius’ satires, and the difficulty (indeed, sometimes, impossibility) of deciding who is speaking. Persius would have justified all this by appeal to the informality of Horatian sermo. But that has nothing of incoherence in it: it is poetry of reflection and meditation, not an address to an audience – the reader overhears Horace talking to himself.47
Authentizität ist hier nicht als Funktion des Horazischen Textes gedacht, sondern ein überzeitliches Merkmal der Größe, das zufällig mit dem persön_____________ 44 45 46 47
Vgl. Williams: Change, S. 244 (»linguistic continuum«), 246, 266, 269. Zur Absichtserklärung ebd., S. 1-2 (ebd. zu den Etiketten gegenüber der gegenwärtigen [1978] Weigerung der Kritiker, ihre Verantwortung wahrzunehmen). Ebd., S. 244. Ebd.
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lichen Geschmack des Interpreten zusammenfällt. Die Sehnsucht nach dem Echten begreift Williams denn auch als universales Gütezeichen: What was lost by this was the sort of humility which admits that everything cannot be known, let alone said. That is a creative humility, and it is the basis of the capacity to mean more than actually seems to be said. It was a characteristic of the great Augustans; the instinct to exhaust every possibility was first displayed by Ovid.48
Dass die Autoren nicht in der Lage waren, den Ernst der Lage zu erkennen, führt Williams auf den Mangel an literaturhistorischem Verständnis zurück: Statt sich auf die Entwicklungslinien und die Auf- und Abstiegsszenarien zu konzentrieren, die den modernen Interpreten interessieren, hätten sich nutzlose Rhetorik und die Lust, Listen vorbildlicher Werke aufzustellen, in einem unbestimmten Gefühl der Gleichzeitigkeit und der Einrichtung im Niedergang erschöpft.49 Wie Williams selbst sich unter solchen Prämissen etwa gegenüber Teuffel als Epigone verstehen müsste, darf offen bleiben. Beide Darstellungen mussten scheitern, was weniger an der Tatsache liegt, dass sie mittlerweile durch die Rehabilitierung der gescholtenen Texte als ästhetisch anspruchsvolle Kunstwerke widerlegt worden sind. Fatal ist vielmehr die bereits oben in anderem Zusammenhang problematisierte Auffassung, dass die Literaturgeschichtsschreibung eine Beobachtungsinstanz sei, die die Texte klassifiziert und ihnen als passiven Objekten ihre eigenen Voraussetzungen erklären könne.50 Indem römische Texte aber ihre Relation zu anderen Texten – sei es in Bezug auf Zeitstufen, sei es, wie wir unten sehen werden, in Bezug auf Gattungen – selbst aktiv bestimmen und nicht auf einer Position bewusstlos sind, sondern diese Position diskutieren, sind sie bereits Reaktionen auf die mögliche historische Einordnung, auf denkbare Kriterien und den Anspruch von Kritikern, Fortschritt oder Verfall ausmachen zu können.51 Die Texte, auf die sich Williams als zeitgenössische Zeugnisse des Selbstverständnisses beruft, verwenden die literarischen _____________ 48 49
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Ebd., S. 270. Ebd., S. 271: »Later poets were consequently unable to place themselves critically in relation to the great Augustans; their only way of attempting that was by imitatio and aemulatio. The concept of ›development‹ had never been defined in such a way as to apply to anything except the emergence of an art form from its primitive analogue [...]«; ebd.: »Quintilian’s catalogue of writers in book 10 is a stark example of how inevitably a sense of contemporaneity of all writers filled the vacuum created by the lack of proper literary history.« Zur Rolle der Texte bei der Konstruktion eigener Literaturgeschichte siehe vor allem Hinds: Allusion, S. 52-98, der auch die Monographie von Williams heranzieht. Zur impliziten Literaturgeschichte siehe die Beiträge in Schmidt: Histoire; einen Überblick über die Zeit bis zu den Sermones des Horaz gibt z.B. Schmidt, ebd., S. 97-133. Oft erweist sich zudem die Übernahme von Aussagen als Folge oberflächlicher Lektüre, vgl. z.B. Goldberg: Aper, über die Verfallsterminologie im Dialogus und den damit motivierten Entwurf neuer Kategorien ›literarischer‹ Sprache.
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Motive des Verfalls und des Epigonentums als Gedankenfiguren, durch die Vorstellungen vom Ende der Literatur, von ihrer Entwicklung und von ihrer Geschichtlichkeit diskutiert werden.52 Diese Texte stehen ihrer eigenen Abkömmlichkeit nicht naiv gegenüber, weil sie sie selbst in den Imitationstechniken produziert haben und in der Imitation, die aus den von den Beobachtern isolierten Texten ein umfassendes literarisches Projekt macht, bereits die Frage enthalten ist, wie angesichts von Wiederholung und Wiederholtheit über Literatur in historischen Kategorien gedacht werden kann.53 Die Probleme der römischen Literaturgeschichtsschreibung sind noch vermehrt durch den Mangel an sinnvollen Epochenbezeichnungen, die unbefragte Übernahme ereignisgeschichtlicher Daten, den Mangel an Unterscheidung zwischen thematischen, chronologischen und gattungsbezogenen Kriterien, die ungebrochene Virulenz ästhetischer Werturteile in der Tradition von Teuffel und Williams, nicht zuletzt auch durch obsessiven Biographismus und spekulative Psychologie. Nehmen wir aber die römischen Texte in ihrer kritischen Frage ernst, ob überhaupt ›Chronologie‹ und ›Entwicklung‹ dem Literarischen angemessene Kategorien sind, lässt sich einerseits die Geschichtsschreibung selbst als literarisches Unternehmen auffassen, andererseits wird die Chronologie zum Beispiel durch topographische Modelle herausgefordert. Quintilian etwa schreibt im Sprechmodus der ästhetischen Kritik keine Geschichte, folgt in seiner auf Ausbildung zielenden Übersicht also nicht dem Modell Ciceros, der im Brutus ein Aszendenzmodell präsentierte, sondern ordnet jedem Werk eigenständige Leistungen zu: Ennius wie ein durch sein Alter geheiligter Hain mit ehrfurchtgebietenden Bäumen; Lucilius von wunderbarer Gelehrtheit, Unabhängigkeit, Urteilsschärfe, Präzision und Witz; Livius ein meisterhafter Erzähler, leichtfüßig und klar, die erfundenen Reden plausibel, die Handlungen glaubwürdig, unübertroffen im Einsatz sanfter Affekte; Lucan feurig, erregt, brillant in seinen Sentenzen.54 Auch wo er textsortenspezifische Ordnun_____________ 52 53
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Alle Beiträge in Schmidt: Histoire, sind hier relevant, im Detail vgl. Schwindts pointierte Frage (ebd., S. 18): »Hat man schon bemerkt, dass die Erfinder-Kataloge als Geschichten absurd sind?« Vgl. Hinds: Allusion, S. 91-98, vor allem die Beobachtungen zu Statius, der sich in seinem Epos Thebais als einen Dichter bezeichnet, dem nur noch ein Nachzeichnen der fernen Größe Vergils bleibe (vestigia longe sequi). Vgl. über Messallas Würdigung zeitgenössischer Redner Heldmann: Dekadenz. Quintilian: Institutiones oratoriae 10,1,88: Ennium sicut sacros vetustate lucos adoremus, in quibus grandia et antiqua robora iam non tantam habent speciem quantam religionem; ebd. 10,1,90: Lucanus ardens et concitatus et sententiis clarissimus; ebd. 10,1,94: Ego quantum ab illis, tantum ab Horatio dissentio, qui Lucilium ›fluere lutulentum‹ et esse aliquid quod tollere possis putat. Nam et eruditio in eo mira et libertas atque inde acerbitas et abunde salis; ebd. 10,1,101: [...] Titum Livium, cum in narrando mirae iucunditatis clarissimique candoris, tum in contionibus supra
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gen vornimmt, ist Quintilian weniger an Entwicklungslinien als an der vergleichenden Betrachtung der spezifischen Leistungen interessiert, die sich auf verschiedenen Gebieten ausmachen und jeden Text individuell beschreiben lassen, ohne ihm entwicklungs- oder bewusstseinshistorisch sein Scherflein zumessen zu wollen. Ordneten wir dem topographischen noch einen thematischen Zugang zu, könnten wir wohl die chronologischen Aporien einer Geschichte des Literarischen vermeiden. Kein geringer Gewinn wäre schließlich, die von Williams und anderen banalisierten Warnungen vor geistloser Nachahmung bei Horaz oder Quintilian wiederum selbstreferentiell zu lesen: Wenn die Warnung vor geistloser Nachahmung selbst schon eine Tradition der Warnungen aufnimmt, stellt sich die Frage, wie denn überhaupt noch geistvoll vor geistloser Nachahmung gewarnt werden könne (s.o.). Wie im Falle der ironisch gebrochenen Behauptungen verschiedener römischer Schriftsteller, ein primus inventor zu sein, in denen eine offene Imitation von Vorgängerstellen stattfindet, die dasselbe für sich in Anspruch nahmen, sind die Warnungen vor geistloser Imitation und Feststellungen der eigenen Inferiorität tatsächlich »ready-made ideas« (Williams), aber solche, die selbstbewusst die Frage nach der Möglichkeit von Originalität im Literarischen stellen. Das könnte durchaus eine Herausforderung an die gegenwärtige Industrie von literaturwissenschaftlichen Arbeiten darstellen, die sich davon nährt, für möglichst viele Autoren und Werke nachzuweisen, dass im jeweiligen Autor oder Werk irgendetwas zum ersten Mal zu finden sei, sich Widerstand gegen die Tradition und das historisch nie gesehene Neue äußere. Der römische Spott über ihre Kurzsichtigkeit und kruden Fortschrittsideen dürfte solchen Kritikern sicher gewesen sein. Based on a True Story – Das ornamentale Missverständnis Wir sind im letzten Kapitel beinahe nebenbei einem Phänomen begegnet, das ein entscheidendes Kennzeichen philologischer Auffassungen vom Literarischen ist: die Suche nach dem Authentischen. Diese führt zu einem Argwohn gegenüber dem konkreten literarischen Text und einem Ansatz, den ich das ornamentale (Miss-)Verständnis der Literatur nennen möchte. Ornamental sind demnach zunächst alle möglichen kulturellen Tätigkeiten, die als schönes, bereicherndes und schmückendes Komplement zum tatsächlich Notwendigen angesehen werden. Ornamental werden aber auch _____________ quam enarrari potest eloquentem, ita quae dicuntur omnia cum rebus tum personis accommodata sunt: adfectus quidem, praecipueque eos qui sunt dulciores, ut parcissime dicam, nemo historicorum commendavit magis.
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alle die Teile eines Textes gefasst, die nicht zur wahren Botschaft gehören, der die Aufmerksamkeit der Leser zu gelten habe. Diese Botschaft ist selten mehr als eine historische Information, philosophische Wahrheit, lebenspraktische Einsicht oder politische Stellungnahme, und allen dafür unbrauchbaren Textelementen bleibt nur der Status eines Hilfsmittels und Schmucks. Literarisch scheint ein Text dann zu sein, wenn er mit recht unverhältnismäßigem Aufwand eine simple Mitteilung hervorbringt.55 Dies gilt auch für die humanistisch inspirierten Versuche, universale ethische Werte unter der erzählenden Oberfläche zu entdecken.56 Der Interessenbereich, in dem sich das ornamentale Verständnis am stärksten festgesetzt hat, ist der der Unterscheidung von ›fiktionalen‹ und ›historischen‹ bzw. ›realen‹ Elementen.57 Behauptete Historizität einer Aussage ist aber weder eine Erklärung innertextueller Funktion noch folgt ihre Bestimmung überzeitlich gültigen Kriterien oder ist selbstverständlich eine Hilfe für die Texterklärung. Schon das vielzitierte Diktum der Musen Hesiods, die in der Theogonie (vv. 27-28) sagen, sie wüssten Falsches als Wahres zu sagen und wahre Dinge, wenn sie möchten, ist keineswegs dafür geeignet, die neuzeitliche Opposition von Text und Welt zu begründen.58 Realitätsbegriffe werden von Texten gebraucht, sie werden hergestellt und diskutiert, aber sie sind ihnen nicht vorgegeben.59 Wie Denis Feeney und andere gezeigt haben, sind die Vorstellungen vom Wirklichen und Wahren, die Leser aus anderen Lebensbereichen mitbringen, nicht alleine (oder immer) eine Bedingung, sondern ein Gegenstand literarischer Diskussion, welche selbst ein Kennzeichen des Literarischen wird: Wenn der Glauben, _____________ 55
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Das gilt auch zum Beispiel für die Servianische Aeneis-Deutung mit ihren Eckpfeilern philosophische Wahrheit und Lob des Augustus und deren neuzeitliche Nachfolger; einführend zur ›entfaltenden Weitererzählung‹ (enarratio) bei Servius Irvine: Textual Culture, S. 126-141. Hardie: Metamorphosis, S. 93, wendet sich scharf gegen Versuche, das »allgemein Menschliche« zum Telos einer Interpretation der Ovidischen Metamorphosen zu erheben (statt des vielgestaltigen Odysseus sei nun der Mensch der Held). Vgl. über die schnelle Gleichsetzung von ›literature‹ und ›fiction‹ z.B. Laird: Literary Criticism, S. 31 mit Anm. 77; Laird: Fiction, S. 308 verweist darauf, dass ›argumentum‹ sowohl Stoff oder Fabel (eines Werkes, eines Bühnenstückes) als auch das in den Schlussverfahren Verwertbare bezeichnet und dadurch eine Bedeutung in zwei nur scheinbar unvereinbaren Diskursen erlangt. Hardie: Metamorphosis, S. 99 mit Literaturhinweisen. Wenn sich Livius in seiner praefatio (und vor allem in den ersten Büchern zur Frühzeit Roms) oder Dionysios von Halikarnassos in der Diskussion über historiographische Zuverlässigkeit positionieren, wird lediglich das Interesse explizit gemacht, das Leser auch bei der Unterscheidung des Belebten vom Unbelebten bewegt (Ovids Metamorphosen oder Ekphraseis des Romans) oder bei der Überlegung, ob der ›historische‹ Caesar wie Lucans gleichnamige Figur Troja besucht hat und ob die Antwort darauf überhaupt eine Relevanz für das Textverständnis hat.
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den eine gestaltete Erzählung oder ein lyrischer Text hervorbringen will, keiner sein kann, der der Überzeugung durch sinnliche Wahrnehmung oder logische Deduktion ähnelt, welcher Art ist er dann?60 Wie Alessandro Barchiesi gezeigt hat, sind die Versuche, eine historisierende Erklärung für das Exil des Publius Ovidius Naso im zweiten Buch der Tristia zu finden, gleichzeitig provoziert und überwunden von der Strategie, die der Exildichter Ovid (als persona des Textes) anwendet, um seinen Abschied von der Liebesdichtung zu begründen. In der (als scheiternd konzipierten) Verteidigungsrede, die als Verbannungsgrund einmal carmen et error angibt, ohne sich zu einer sachlich geforderten Erklärung der Behauptung zu verstehen, findet sich an prominenter Stelle ein Gründungsdokument römischer Liebesdichtung, nämlich die achte Ekloge Vergils. Illa nostra die, qua m e m a l u s a b s t u l i t e r r o r , p a r v a quidem p e r i i t , sed sine labe domus.61 Saepibus in nostris p a r v a m te roscida mala (dux ego vester eram) vidi cum matre legentem [...]. ut vidi, ut p e r i i , ut m e m a l u s a b s t u l i t e r r o r !62
Aus der Vergilischen Liebesmotivik gewinnt Ovid einen poetologischen Kontext, der ihm erlaubt, in der juridischen Rechtfertigung ein literarisch relevantes Argument zu konzipieren: Die Quelle seiner erotischen Inspiration war der (anerkannte) Vergiltext.63 Der Aufwand, den Rekonstruktionisten betreiben müssen, um aus derselben Textverbindung zu schließen, dass der Blick auf das Vergilische Mädchen ein Hinweis auf den Blick des historischen Individuums Ovid auf die engsten weiblichen Verwandten des argwöhnischen Prinzeps sei, dass die Damen zudem wohl auch nackt zu denken seien und das Ganze zum Exil geführt habe, mutet durchaus abenteuerlich an.64 Biographische und historische Interessen mögen legitim sein, sind aber bereits die Folgen eines vorgängigen Verständnisses von den Möglichkeiten der Unterscheidung des Wirklichen vom Fiktiven, von ihrer Notwendigkeit und von ihrer Relevanz für die Beschreibung des Literarischen. Weit _____________ 60 61 62 63
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Feeney: Account; vgl. auch die übrigen Beiträge in Gill: Lies. Ovid: Tristia 2,109-110. Vergil: Eclogen 8,39-41. Barchiesi: Volumes, S. 102: »Attempting to control the meaning of Tristia 2 leads to a collapse of the interpretation already given to erotic works by the interpretative community of Roman readers. Rereading erotic works undermines the judicial structure of Tristia 2. The intertextuality connecting Tristia 2 to erotic poets like Catullus, the bucolic Virgil and Tibullus maps out a genealogy of poets who have eluded political powers and the control of imperial police.« Barchiesi: Volumes, S. 101; wunderbar ist das Referat der gelehrten Ansichten zur Nacktheit der Damen bei Hinds: Ovid.
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entfernt davon, selbstverständliche Fragen zu stellen, arbeiten die historistischen Interpreten bei der Unterscheidung solcher Elemente mit Vorstellungen, die nur aus der neuzeitlichen Entwicklung wissenschaftstheoretischer Prinzipien erklärbar sind, und müssen zudem der Pluralität von Konzepten der Fiktionalität, wie sie zum Beispiel in den hellenistisch-römischen Semiotiken belegt sind, zugunsten einfacher Unterscheidungen ausweichen.65 Davon unbenommen ist aber, dass in römischen Texten nicht nur eine große Zahl historisch oder lebensweltlich als real bestimmbarer Elemente verarbeitet wird – gerade auch in lyrischen und epischen Werken –, sondern auch die Unterscheidung selbst zum Beispiel in der rhetorischen Bestimmung von erzählenden Textsorten eine Rolle spielt. So referiert Cicero in De inventione 1,27, die Erzählung (narratio) sei eine Entfaltung von Dingen (explicatio), die entweder getan wurden oder als getane verstanden werden können (rerum gestarum aut ut gestarum), wobei ihre Funktionen je nach Situation in der Begründung einer Beweisführung, in der Übung für dieselbe oder in der Erweckung von Freude beim Zuhören liegen sollen.66 Wenn nun in Ereigniserzählungen das Erzählte den Rahmen der sinnlich erfahrbaren oder natürlichen Welt übersteige, handele es sich um eine fabula, gehöre es der Vergangenheit an, sei es eine historia, enthalte es in der natürlichen oder sozialen Welt denkbare, aber nicht erfundene Ereignisse, liege ein argumentum vor, woraus sich eine Fülle von Möglichkeiten ergebe, in der Erzählung von unverhofften Wendungen, plötzlichen Glücksfällen, unerwartetem Unheil oder erfreulichem Ausgang der Ereignisse Emotionen zu wecken. Nun hat aber Cicero selbst den Terminus ›fabula‹ nicht nur, wie wir unten sehen werden, gerade für das Ergebnis einer Erzählung verwendet, die aus historischen Ereignissen gewonnen werden sollte. Es handelt sich bei dieser Bestimmung auch um eine rein auf die Konsequenzen für die Textproduktion ausgerichtete Einteilung, die lediglich zulässt, von der Existenz der Unterscheidung zu sprechen, nicht aber ihre Kriterien mit gegenwärtigen gleichzusetzen.67 Wenn nun als historisch Klassifiziertes kein Ausschlusskriterium dafür sein kann, dass ein Text literarisch ist, muss dies auch umgekehrt gelten, dass nämlich die Bearbeitung von Mythen keineswegs ein literaturkonstitutives Merkmal sein kann. Literarische Mythen sind kontextualisierte Mythologie und daher die offene, selbstreflexive Exposition eines spezifischen Zugriffes auf variable Materialien, deren Eigenschaften nicht durch ihren Unterschied zu anderen Materialien auch ein _____________ 65 66 67
Vgl. Pollmann: Fiktionalität. Vgl. die ähnliche Einteilung in der zeitgleich entstandenen Rhetorik an Herennius 1,12-14; in anderer Weise auch Quintilian: Institutiones oratoriae 2,4,2. Wiederum zentral für einen methodisch zuverlässigen Ansatz sind die Beiträge in Gill: Lies.
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Unterscheidungsmerkmal des Literarischen liefern können.68 Zudem sind diese Erzählungen und ihre Komponenten nicht in der neuzeitlichen Opposition dem Fiktiven zuzurechnen, weil ihnen in kultischen, politischen und sozialen Kontexten gleichermaßen Bedeutungen zugeschrieben werden, die ebenfalls weder real noch fiktiv zu nennen sind. Schließlich wird ja auch im Falle der mythographischen Handbücher deutlich, dass das Material offenbar kein Kriterium bieten kann. Die Einteilungen von Schmuck- und Botschaftselementen bzw. fiktiven und realen Referenzen liegen ebenfalls der Bestimmung von literarischen und nicht-literarischen Gattungen innerhalb der römischen »Litteratur« zugrunde.69 Was also erst erwiesen werden soll, nämlich die Konstitutiva eines literarischen Textes, wird im ornamentalen Verständnis schon vorausgesetzt. Was als Schmuck zu gelten habe, lässt sich nur über eine willkürliche Setzung bestimmen, so dass nicht selten (zum Beispiel in den diskursiven Prosatexten) elementare Beweisformen wie Bilder oder die Wortwahl wie Zusätze behandelt werden. Ungeeignet ist der Ansatz zudem, weil er dem Sorites-Einwand ausgeliefert ist (Wie viele Schmuckelemente genau machen einen Text literarisch?) und letztlich immer wieder auf die oben skizzierte Bestimmung durch Inhaltselemente zurückgreift.70 Heldentaten, eine Naturbetrachtung oder ein bedauerlicher Todesfall sind aber keineswegs literarischer als die geometrische Lehre von den Ecken oder die medizinische Ökonomie der Körpersäfte. Lehrdichtung, Historiographie, Wissensprosa und die zahlreichen Passagen in poetischen Werken, die deskriptiv oder präskriptiv angelegt sind, sind nicht über Materialien, sondern über den Zugriff darauf, über ihre Funktionalisierung und deren metatextuelles Potential literarisch beschreibbar.71 Altertumskundliche Ver_____________ 68
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Erfreulich klar z.B. Horsfall: Invention, S. 141: »If the mythography of a Virgil or of an Ovid crumbles in our hands and reveals no age-old myth lovingly preserved by wandering bards and banqueting nobles but first-rate Hellenistic scholarly and literary techniques we do not have the right to complain and we would be ill-advised to try to restore romantic primitivism to the mythology of the Aeneid.« Dass Gattungsbestimmungen für spezifische Kontexte und nur in Hinsicht auf die jeweils konkret diskutierten Texte entworfen werden, vermerkt z.B. Nagy: Epic, S. 27 zu Aristoteles: Poetik 1447a 14-15. Ebenfalls nur mit den jeweiligen Gegenbegriffen verständlich sind z.B. ›epos‹ und ›mythos‹, siehe Nagy: Epic, S. 26. Zu Bemerkungen über Wissenstexte, die als Gebrauchsmedien ›eigentlich‹ gar keine Literatur seien, siehe Asper: Wissenschaftstexte, S. 45 mit Anm. 253. Kulturwissenschaftliche Ansätze benötigen solche Unterscheidungen nicht, vgl. z.B. zum archaischen Griechenland Dougherty / Kurke: Cultural Poetics, S. 6: »[...] archaic texts are often scripts for ritual performance (e.g. epinikia, paians, parthenia), records of such performances (e.g. the figures on the Dipylon vase, Herodotus’ story of Peisistratos and Phye), or the means of reenacting ritual (e.g. dedications and inscriptions)«. Vgl. z.B. Slings: Protreptic, S. 191, über die Unterscheidung protreptischer Texte nach diskursiven und epideiktischen Formen. Fehlender Wettbewerb zwischen Schulen konn-
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waltung, vor allem wenn sie mit lobenden Urteilen über das kunsthandwerkliche Geschick des Verfassers verbunden ist und darauf verweist, dass es sich bei dem studierten Text um ein besonders hübsches Exemplar seiner Art handele, entspricht wohl nicht den Reaktionen, die die Texte zu generieren fähig sind.72 Im Rahmen unserer Fragestellung müssen wir von den zahlreichen weiteren Problemen absehen, die das Hantieren mit spät erfundenen Gattungsbegriffen für die Lateinische Philologie bedeutet, und können nur noch darauf verweisen, dass sich, wie für die Literaturgeschichte und -kritik allgemein gezeigt, auch auf diesem Gebiet die Texte als Subjekte ihrer Bestimmung verstehen lassen. In elegischen oder lyrischen Texten etwa werden die Grenzen zu epischen definiert und eigene Ansprüche durch die Integration als außerliterarisch klassifizierter Textsorten belegt oder unterlaufen (Graffiti, spontane Ausrufe, Spottverse oder Inschriften).73 Wiederum ist es die Nachahmung von Sprachgebrauch, Versmaß, Bauformen, Szenen etc., über die die Diskussion der eigenen Familienähnlichkeiten zum Thema der Texte gemacht wird, ihnen aber nicht einfach eine Bedingung vorgibt. Literarische Interessen gelten der Frage, wie sich die Konstruktion solcher Ähnlichkeiten in Hinsicht auf vergleichbare Handlungen voll_____________
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te dazu führen, dass Schriften nicht explizit theoretisch erfasst wurden, vgl. Asper: Wissenschaftstexte, S. 50: »Wissenschaftstexte sind nämlich grundsätzlich weder Teil agonaler Institutionen noch Gegenstand institutionalisierter Textpflege gewesen.« Zu impliziten Hinweisen auf theoretische Erfassung Asper: Wissenschaftstexte, S. 50-54, und Rossi: Generi. Asper: Wissenschaftstexte, S. 23, bestimmt eine Gattung über die Kombination formaler Merkmale, die intentional aufeinander bezogen, gemeinsam einer Funktion zugeordnet werden und in deren Konventionalisierung Stabilität erlangen können; zu verschiedenen Bestimmungen der Fachprosa als Gattung ebd., S. 45-54, Asper selbst (ebd., S. 57-61, 213) unterscheidet ›diskrete‹ Texte (Satzsammlungen, Listen) von ›kontinuierlichen‹ Texten (Vorlesungen, Abhandlungen, Einführungen); vgl. ebenso Asper: Medienwechsel, S. 69, wo der zweiten Gruppe auch Romane oder Arbeiten von Heidegger zugerechnet werden, um die Weite der formalen Bestimmung zu illustrieren. Für viele Standardmotive, wie das des Honigs auf dem Becher mit bitterer Medizin, die wie ein kritisches Datum in neuere Beschreibungssprachen integriert wurden, fehlen wissenschaftliche Bestimmungen ihrer selbstreferentiellen Nutzung durch die jeweiligen Werke. Sicher ist, dass sie genauso wenig wie die literaturhistorischen Positionierungen etwas über die Eigenwahrnehmung der Texte aussagen und daher die Paraphrase von Textaussagen oft besonders weit von einer zuverlässigen Interpretation entfernt ist. Vgl. Ruffell: Satire, die allerdings gerade das Gegenteil erreicht und meint, Horaz versuche (bes. in 2,7), eine Grenze zu ziehen, um die eigene literarische Produktion von den Spottversen und ›minderen Formen‹ abzusetzen (mir scheint eher, dass er sich um die Frage bemüht, worin genau die Unterschiede liegen und durch die Berücksichtigung sich selbst in Frage stellt).
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ziehen und beschreiben lässt, und Gattungsfragen sind wesentlich verbunden mit der Suche nach dem geeigneten Beschreibungsvokabular: Instead of genre criticism, the ancients practiced model criticism. Their allegiances and affiliations connect, not with a mode or a kind, but with a father, a personal guide. If they ally themselves with a work, it is identified as the work of a revered author, the precipitation of a literary act, not a fatherless text or textual segment or a generic idea.74
Thomas Rosenmeyers Verwendung der Familienmetapher schließt hier vielleicht zu apodiktisch diskursorientierte Ansätze aus, ist aber ein wichtiges Korrektiv zu den abstrahierten Gattungsbegriffen, die der Textarbeit nur erlauben, nach kunstvollen Variationen zu suchen. Zudem ist sie notwendig, um die bereits oben gesehenen offenen oder verdeckten Biologismen und organismischen Entwicklungsmetaphern der Literaturgeschichte zu überwinden: The prestige of the father and the rivalries within the family account more satisfactorily for what stability there is in the formal and aesthetic continuities over the years, while also explaining the great variety of creative departures. There is no need for an appeal to a biological model of growth and decline as long as the model of the family quarrel, or rather playful engagement with the parent, is available.75
Keine der römischen Textsorten ist von solch einer Bestimmung ausgeschlossen, und vielleicht finden wir im Gegenteil allein darin, dass ein Text sich auf Vorgänger beruft, bereits ein Kriterium dafür, dass er als ›literarisch‹ behandelt werden soll. Dass das ornamentale Verständnis und die Unterscheidung des Realen vom Fiktiven als dessen Unterabteilung keine Literarizität von Texten und Textgruppen begründen können, ist tatsächlich keine Überraschung. Weil ein Text aus sprachlichen Zeichen besteht, denen die Leser Vorstellungen zuordnen, ist der mögliche unterschiedliche Wirklichkeitsbezug außerhalb des Textes irrelevant. Im Gegenteil sind die Unterschiede innerhalb des Textes aufgehoben, weil die sprachlichen Zeichen in derselben Weise präsent und wirksam sind, unabhängig davon, ob ihnen Referenzen auf fiktive oder reale Gegenstände zugeschrieben werden. Erörtert werden kann nur die textuelle Konfiguration, und diese Erörterung kann in Übereinstimmung mit der in römischen Texten nachweisbaren Position nicht von einem naiven Abbildungs- und Repräsentationsmodell ausgehen.76 Literarisch wird _____________ 74 75 76
Rosenmeyer: Literary Genres, S. 435f. Bestandsaufnahmen zum primus inventor bieten z.B. Kleingünther: Protos Euretes, und Thraede: Erfinder II. Rosenmeyer: Literary Genres, S. 437. Dagegen schon Goodman: Sprachen, S. 40f.: »Wenn Repräsentation eher eine Frage des Klassifizierens als des Nachahmens von Gegenständen, eher eine Frage des Charakterisierens als des Kopierens ist, dann ist es keine Angelegenheit passiven Berichtens. Der Gegenstand sitzt nicht da wie ein sanftmütiges Modell, das seine Attribute säuberlich sortiert darbietet, damit wir sie bewundern und porträtieren können. Er ist
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ein Text nicht durch die Präsenz einer bestimmten Menge schmückender gegenüber inhaltlichen Elementen, oder aufgrund des behaupteten ontischen Status seiner Materialien. Verbinden wir nun die Ablehnung des ornamentalen Verständnisses von Literatur mit der daran geknüpften, oben kurz genannten Suche derselben Leser nach dem Authentischen, das sie zu den Unterscheidungen geführt hat, bietet sich ein formaler Ansatz an, der den Begriff des Authentischen offensiv umdeutet: Authentisch ist das Literarische nicht aufgrund der Übereinstimmung mit einem Erleben oder einem Geschehen, sondern aufgrund der Übereinstimmung mit sich selbst. Die Übereinstimmung mit sich selbst als Teil des Bemühens literarischer Texte um ästhetische Erkenntnis zu erweisen, dürfte ein lohnendes Ziel der Betrachtung von (römischer) Literatur sein. Der literarische Akt Die bisherigen Überlegungen deuten darauf hin, dass Begriffe vom Literarischen die Arbeit an römischen Texten immer bedingen, selbst wenn sie den Beteiligten überflüssig erscheinen. Die von der Grammatikertradition inspirierten Lektüren scheitern dort, wo sie das ihnen Notwendige, eine Vorstellung vom Literarischen, als ihnen äußerlich behandeln. Sie münden entsprechend in eine Mechanisierung des Betriebs und in eine Form der Mimikry ihrer selbst, in der die immer selben Ergebnisse von den schematisierten Prinzipien diktiert werden.77 Es ergibt sich ebenfalls aus dem bisher Gesagten, dass Aspekte des Literarischen nur dann hilfreich sind, wenn sie heuristische Funktionen in der Textarbeit erfüllen können. Als nicht hilfreich für die Arbeit mit römischen Texten hat es sich erwiesen, Materialien, Wirklichkeitsbezug, sprachlich-stilistischen Schmuck oder Gattungsmerkmale als literaturkonstitutiv aufzufassen. Mögliche Kandidaten sind dagegen unter anderen eine theoretische Dimension, Objektivierung, Selbstreferentialität, Exposition der eigenen Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen, Bedeutungsoffenheit und eine pragmatische Textbestimmung. Im _____________
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einer von unzähligen Gegenständen und lässt sich mit einer beliebigen Auswahl aus ihnen zusammenstellen; und für jede dieser Zusammenstellungen gibt es ein Attribut für den Gegenstand.« Davon betroffen sind auch die Ansätze, die die römischen Texte jeweils als besonders kunstvolle und originelle Variation des Vorgängigen erweisen wollen, was dem Anliegen der sich emanzipierenden Latinistik zu Beginn des 20. Jahrhunderts entspricht (s.o.), aber weniger den Texten oder den Interessen des Faches an der Literatur als Phänomen. Wo etwa die Feststellung eines literarischen Spiels am Ende einer Untersuchung steht, scheint sich wieder die These zu bestätigen, dass die römischen Texte die Techniken ihrer Beobachter bereits überwunden haben.
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Folgenden sollen einige Aspekte thesenartig hinzugefügt oder kurz aufgegriffen werden. Sie sind verstanden als Perspektiven auf römische Texte, die sich aus der bisherigen für die zukünftige Forschung ergeben: Ein römischer literarischer Text ist unverbesserlich, wiederholt, in einem literarischen Akt erzeugt, unabschließbar, angemessen, lustorientiert, erkenntnisorientiert und effizient. Die ersten drei Elemente bedingen einander. Ein literarischer Text ist grundsätzlich unersetzbar, er unterliegt nicht den Prinzipien eines (z.B. technischen) Fortschrittes oder einer Entwicklung. Er ist daher unverbesserlich. Zugleich ist er unter den Bedingungen des Imitationsprinzips auf selbstbewusste Art wiederholt, weil er in der Imitation auf die eigene Wiederholtheit verweist und die Suche nach Originalität nicht nur kennt, sondern sie als eminent literarisches Problem im Text darstellt. Die Situation, die sich daraus für alle römischen Texte ergibt, lässt sich an einem Odenbeginn des Horaz illustrieren: Bacchum in remotis carmina rupibus vidi docentem, credite posteri, Nymphasque discentis et auris capripedum Satyrorum acutas.78
Der ornamentale Zugang kann sich nur die Frage stellen, ob angesichts der Konventionalität der Motive nur handwerkliche Virtuosität zu konstatieren sei oder doch ein echtes Epiphanieerlebnis und Außenweltbezüge eine Rolle spielen.79 Die Opposition zwischen Authentischem und Kunst ist aber nicht nur selbst einem spezifischen Konstrukt der ›Romantik‹ verdankt,80 sondern wird im Text schon als unfruchtbar überwunden: ›Ich habe gesehen‹ ist der fundamentale literarische Akt, durch den alle Aussagen auf die Ebene einer Reflexion gebracht werden (einschließlich der ironischen Beglaubigungsgeste ›glaubt es mir‹) und der in seiner ungeklärten Referenz (wer hat wie gesehen?) die Wissens- und Wahrnehmungsbedingungen einer Vision im literarischen Modus der Wiederholung überhaupt _____________ 78 79
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Horaz: Carmen 2,19,1-4: »Den Bacchus habe ich gesehen, wie er auf abgelegenen Felsen Dichtung lehrte, glaubt es mir, ihr Spätergeborenen, und wie die Nymphen lernten und die Ohren der bocksfüßigen Satyrn gespitzt waren.« Vgl. Nisbet / Hubbard: Commentary, die zunächst lakonisch feststellen (S. 314): »Horace had no lack of models for an ode to Bacchus«. Aus einem abgegriffenen Gegenstand habe Horaz aber ein originelles und beeindruckendes Gedicht gemacht (S. 315). Die Vision mit Epiphanie sei ein vielfach belegter »literary topos« (S. 315), und – die Frage spielt also wohl 1978 noch eine Rolle – es sei unwahrscheinlich, dass Horaz paranormale Erlebnisse gehabt habe (S. 316). Was Nisbet / Hubbard: Commentary, S. 316 gerade umgekehrt sehen: »Since the Romantic movement it has become difficult to understand the literary preconceptions of the ancient world, when form might matter more than self-expression and a poet could assume a mantle without having a message to preach.«
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zum Thema macht. Ein solcher Gründungsakt durch die ersten Worte entspricht einem Pakt zwischen den Lesern und Texten, gemäß dem die Distanzierung vom Ausgesagten als bedeutungskonstitutiv anerkannt wird. Ciceros Cogitanti mihi saepe numero et memoria vetera repetenti ist nicht vom Horazischen vidi unterschieden, weil beide dem Leser die Möglichkeit eröffnen, sich auf die Ebene der Reflexion zu bewegen.81 Leser können sich zwar der Bewegung entziehen, gewinnen damit aber gerade nicht einen unbeteiligten Zugang zu einem Objekt, das sie dekodieren könnten, sondern verzichten bereits auf den Vorgang der Kodierung – der Begriff der Dekodierung durch Erklärung enthält zahlreiche Aspekte, die den ornamentalen Zugang ausmachen. Daher liegt es nahe, als zentralen Bestandteil des literarischen Aktes die Übernahme einer Perspektive zu denken, die Text und Rezipienten gleichermaßen vollziehen. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, wie der jüngere Plinius seine (verlorenen) Epigramme beschreibt: His iocamur ludimus amamus dolemus querimur irascimur, describimus aliquid modo pressius modo elatius, atque ipsa varietate temptamus efficere, ut alia aliis quaedam fortasse omnibus placeant.
Plinius liebt, klagt, leidet oder zürnt gemäß der jeweils eingenommenen Perspektive, die sich wiederum aus den Perspektiven ergibt, deren Wahlverwandtschaft er sucht (Liebes-, Trauer- oder Spottepigramme, Elegien etc.). Dass die Aussage über die vorgebliche Verfasserintention in einem gleichgeordneten Prädikat angefügt wird (temptamus), zeigt, dass der Sprecher des Briefes die persona des Autors in derselben Weise übernehmen kann, wie er es bei der Wahl seiner poetischen Sprechweisen tut, und entsprechend das Vergnügen zum Leitmotiv erhebt (placeant). Imitation ist konstitutiv für das Literarische, weil sie den Text als unabgeschlossen und unabschließbar definiert.82 Die Unabschließbarkeit betrifft die Bedeutungsvielfalt und die Werkbegrenzung. Römische Literatur ist am besten als ein Gebilde, ein Großer Text, verständlich zu machen, in dem nicht sekundär im Sinne der Einfluss- und Rezeptionsmodelle fertige Dinge in Bezug gesetzt werden, sondern diese Sinn aus der Tatsache des Un_____________ 81 82
Vgl. Cicero: De oratore 1,1: »Mir, der ich oftmals darüber nachdachte und mir in meiner Erinnerung die früheren Ereignisse wachrief, [...]«. Plinius: Epistulae 4,14,1-2: »In diesen Versen spielen wir, lieben, leiden, klagen und zürnen wir, beschreiben wir etwas bald dichter, bald ausführlicher, und versuchen, durch die Verschiedenheit selbst schon zu erreichen, dass das eine den einen, das andere den anderen, einiges vielleicht sogar allen Lesern gefallen möge.« Mit den Motiven, die die ›Gelegenheit‹ beschreiben, wird die Gattungsperspektive begründet, sie dienen nicht dem Bericht von den Umständen der Textproduktion (Leichtigkeit von Ton oder Inhalt; Begründung der Schreibtätigkeit mit dem Mangel an sonstigen Beschäftigungen, siehe ebd. hendecasyllabos nostros, quibus nos in vehiculo in balineo inter cenam oblectamus otium temporis.)
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abgeschlossenen gewinnen. Wichtig ist es, diesen Aspekt nicht als methodisches oder erkenntnistheoretisches Problem allein zu verstehen, sondern darin ein Interesse der römischen Texte an den Aussagebedingungen literarischer Kommunikation zu sehen. Texte setzen Kommunikation über sich selbst in Gang, indem sie sich außerhalb der eigenen Grenzen bewegen und die theoretischen Bedingungen ihrer Möglichkeit als Gegenstand literarischer Praxis behandeln. Ein literarischer Text stimmt nur mit sich selbst überein, das Kriterium83 seiner Beschreibung ist daher das Angemessene (aptum, prepon). Damit ist ein formaler Begriff bezeichnet, der Relationen zwischen Textelementen und Leserhandlungen auf ihre Stimmigkeit hin beschreibt und Widersprüche, Transformation und Deutbarkeit ermöglicht.84 Literarische Angemessenheit ist daher nicht die Übereinstimmung mit Fakten, Traditionen, Erwartungen oder Sprechweisen, die außerhalb des Textes stehen, sondern die Übereinstimmung, die die Reflexion auf die eigene Praxis hervorbringt und die von Lesern gleichermaßen etwa für Catos Lehrbuch der Landwirtschaft und Vergils Georgica hergestellt werden kann. Interne Relationen dieser Art werden zum Beispiel über die Kategorien der Urteilsfähigkeit (iudicium), die Übereinstimmung von Wortwahl und Gegenstand oder die dynamische Entfaltung der visuellen Qualitäten beschrieben (evidentia). Die Selbstreferentialität des literarischen Textes äußert sich darin, dass er gelesen werden will und darin lustorientiert ist, was selbstverständlich, aber der Erinnerung wert erscheint. Hierfür können wir das angekündigte erzähltheoretische Traktat in Briefform anführen, in dem Cicero dem Adressaten Lucceius vorschlägt, die Ereignisse von der Verschwörung Catilinas bis zu Ciceros Rückkehr aus dem Exil außerhalb eines fortlaufenden Geschichtswerkes (perpetuam historiam) separat zu einer fabula auszugestalten (secernas hanc quasi fabulam); sie wiesen nämlich bereits alle Merkmale einer (verschriftlichten) f a b u l a rerum eventorumque nostrorum auf.85 Die zahlrei_____________ 83 84
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Grundlegend zur Textbegrenzung sind die Beiträge in Fowler: Constructions, und Dunn: Beginnings. Zueinander im Verhältnis der Angemessenheit stehen sprachlicher Ausdruck und geistige Vorstellung, Syntax und Gedanke, erzählte Handlung und Kontext, Figuren und ihre Tradition, Textlänge zum Stoff, Nachfolger zu Vorbild, Exemplar zur Gattung, Text zur Performanz, Begründungsmuster zum intendierten Publikum, Sprache zum Anlass usw. Cicero: Epistulae ad familiares 5,12,3-7 (die erzähltheoretische Perspektive des Textes ist der Mehrzahl der Leser aufgrund ihres Interesses an der Psyche des historischen Autors entgangen). Cicero konzipiert sogar die Struktur der Ereignisse gemäß erzählerischen Belangen: Es sei ein mit Anfang und Ende versehener Zusammenhang, der alle Merkmale eines geeigneten Stoffes (materies) für einen angemessenen Textumfang trage (modicum corpus) und noch Möglichkeiten biete, allgemeines Wissen, Ursachener-
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chen Wendungen vermöchten Emotionen und Lust bei der Lektüre zu erwecken (voluptas), für die Beteiligten an den tatsächlichen Vorgängen wegen der sicheren Entfernung von den unerfreulichen Erfahrungen, für Unbeteiligte wegen der lustvollen Anteilnahme.86 So sei sicher, dass Spannung und Freude die Leser an die Lektüre fesseln würden (tuo scripto retinere, studium in legendo erectum retinetur).87 Der Erzähler betrachtet Ereignisse auf ihre Eignung für die literarische Bearbeitung hin und misst diese hier nicht nach dem Informationswert, sondern dem Potential, das sie für ein emotionales Lektüreerlebnis besitzen. Die historische Monographie will Erinnerungen an die Lektüre schaffen und benutzt dazu den ausgewählten und aufbereiteten Stoff.88 Die Lust wird aber nicht der Leser empfinden, der den Strategien ihrer Herstellung willen- und kenntnislos ausgeliefert ist: Lust entstammt nicht der unerkannten Verführung zur Emotion, sondern der Beobachtung der eigenen Verführung. Zugleich ist dieser lustorientierte Text (ebenso selbstverständlich) eine Anschauungsform, mehr aber noch eine Form der Erkenntnis. Als solche ist er in einen eigengesetzlichen Diskurs eingebunden, dessen Regeln weitgehend unerforscht sind. Es sind nicht lediglich Analogien oder Erinnerungen, die den Vergilischen Aeneas mit dem Homerischen Achill in der Erzählung von der Schildübernahme verbinden. Die Entzifferung der kosmologischen Szenen auf dem Schild führt gleichermaßen zur physischen und historischen Welt und zur etymologischen Homerexegese, in der die Figur des Atlas, der die Welt auf den Schultern trägt, auf das konkurrierende Beschreibungsmodell der Naturphilosophie bezogen wird, die der Welt-
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klärung und (die von Lucceius geliebten) Exkurse und Erweiterungen des Haupterzählstranges einzufügen. Vgl. ebd.: quae etsi nobis optabiles in experiendo non fuerunt, in legendo tamen erunt iucundae, habet enim praeteriti doloris secura recordatio delectationem. Eine weitere Unterscheidung wird zwischen dem Erleben des Lesevorganges bei einer fortlaufenden Geschichtserzählung (mit wechselnden Protagonisten und Handlungsfolgen) und einer geschlossenen Monographie getroffen, insofern das Schicksal eines einzelnen Mannes Bewunderung, Hoffnung, Freude, Bedrückung und Furcht zu erwecken geeignet sei und besonders, wenn das Ganze mit einem bemerkenswerten Ende beschlossen werde, eine höchst angenehme Leselust erwecke (iucundissima lectionis voluptate). Zum Vergleich siehe den Abschlusspassus in Ciceros Brief und die oben zitierte Stelle aus Cicero: De inventione 1,27: hoc in genere narrationis multa debet inesse festivitas, confecta ex rerum varietate, animorum dissimilitudine, gravitate, lenitate, spe, metu, suspicione, desiderio, dissimulatione, errore, misericordia, fortunae commutatione, insperato incommodo, subita laetitia, iucundo exitu rerum; und Cicero: Epistulae ad familiares 5,12,6: at viri saepe excellentis ancipites variique casus habent admirationem exspectationem, laetitiam molestiam, spem timorem; si vero exitu notabili concluduntur, expletur animus iucundissima lectionis voluptate.
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achse dieselben Aufgaben zuweist.89 Insofern zwischen Text und Elementen anderer Wissensordnungen kein Repräsentations- und Abbildungsverhältnis besteht, ist die Wirklichkeit des Textes die Gesamtheit der von ihm initiierten Handlungen. Als literarisches Zeichen besitzt der Text auf seiner Inhaltsseite immer den Zusammenhang seiner Elemente, so dass am Ende seiner Beschreibung nur die Wiederholung des unveränderten Textes stehen kann. Das literarische Zeichen verweist in seinem Zusammenhang auf diesen Zusammenhang, nicht einzelne Teile auf einzelne andere und entsprechend nicht zum Beispiel lexikalische, metrische oder kompositorische Elemente auf eine Botschaft. Die vollständige Erklärung des literarischen Zeichens ist dieses selbst, und darin wird es erst als eigenständige Erkenntnisweise sichtbar, die sich von denen anderer Diskurse prinzipiell unterscheidet (moralischen, religiösen, rechtlichen, naturwissenschaftlichen, historischen oder politischen). Davon ist auch die oft genannte moralischpädagogische Intention betroffen. In einem dynamischen wechselseitigen Austausch zwischen philosophischen und literarischen Instanzen entstanden in der Kommentartradition ethische Perspektiven auf poetische Texte, Übereinstimmungen von literaturkritischem und moralischem Vokabular und Funktionsbestimmungen wie das bekannte delectare et prodesse.90 Zum einen beschränkten sich philosophische Schulen aber keineswegs auf moralische Deutungen, zum anderen werden diese auf der Ebene der Exposition von literarischen Texten zum Gegenstand der Diskussion gemacht und gelten wie die Kritik allgemein als eine ihrer Herausforderungen, nicht als gegebene Intention.91 Letztere liegt allein in der ästhetischen Erkenntnis. Weil der literarische Akt eine Reflexionsinstanz begründet, hat ein literarischer Text niemals Berichtsfunktion, sondern dient der Exposition, die _____________ 89
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Die Bezüge erläutert Hardie: Aeneid, S. 369-375. Vergils Thema in der Komposition derartiger Bezugsnetze scheint nicht zuletzt die Frage zu sein, inwieweit ein Leser über die Technik der Imitationsforschung noch zur Kontrolle der Textbedeutungen in der Lage sein kann. Zum Verzicht der Dichter auf die Nennung von Autoritäten, der im Gegensatz zu Gepflogenheiten in der philosophischen Allegorese steht, siehe Hardie: Metamorphosis, S. 92. Horaz: Ars poetica 333f.: Aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae. Griechische Äquivalente und einige allgemeine Hinweise zum ›Hintergrund‹ bei Brink: Horace. Bd. 2, S. 352f.; zitiert wird ebd. zur Häufung der Konjunktionen Rostagni, der wie Brink den Stil als »deliberately ex cathedra« versteht – wir würden vermuten wollen, dass Horaz diesen Stil ausstellt und damit zum Thema seiner Erörterung macht. Vgl. Porter: κριτικοί, S. 87f., mit Stellenangaben über Nachrichten zur Auffassung des Krates und seiner Schule der kritikoi: »Poems are valued on the basis of verbal arrangement (synthesis), which in turn is valued both for the pleasant sound it gives rise to and per se – these amount to the same thing –, but without regard for meaning, which is to say all that is encompassed by plots and characters and even places (everything, in other words, that falls under hypothesis).«
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auch den ornatus umfasst, zu dem er in ein Verhältnis tritt: Der Schmuck ist ein Objekt des Textes, ein Gegenstand literarischer Aufmerksamkeit, und deshalb kein Subtrahendum, das uns zur Substanz führen könnte. Dies gilt um so mehr für die sogenannten Tropen und Figuren, die exponiert und sozusagen ausprobiert werden, wie es Philip Hardie für die Personifikation in Vergilischer und Ovidischer Epik beschrieben hat: Personification is a particularly visible example of the deceptive and transformative power of words, the ability of words to construct a reality and impose it on the ›real world‹. The personification thus appears in the disguise of immutability, a mask concealing the processes of metamorphosis that brings it into being. Further, when a personification is put to work in a narrative, her (or his) actions are radically transformative: the personification has the power to change ›real‹ human actors into versions of herself.92
Eine konventionelle Beschreibung der Vergilischen Fama hätte sich damit begnügt, die Personifikation zu konstatieren, und damit nur die Voraussetzung des literarischen Aktes wiederholt, nicht aber diesen selbst erfasst. Philip Hardie zeigt dagegen, wie das Verfahren der Personifikation selbstreflexiv eingesetzt und die wirklichkeitskonstitutive Qualität von Sprache erprobt wird. Schließlich sind literarische Texte in mehrfacher Hinsicht effizient. Indem Leser und Verfasser im Anschluss an den literarischen Akt selbstreferentielle Perspektiven einnehmen, konfigurieren die Texte eine Praxis, in der Wahrnehmungskonzepte zitiert und verfügbar gemacht werden.93 Leser werden aber nicht einfach belehrt oder entlarvt, sie erleiden auch nicht die Wirkungen des Textes und sind nicht Objekte der Manipulation, sondern Komplizen, weil sie die Verfahren beobachten können, die sie selbst zum Vollzug der Lesehandlungen bewegen. Als Verschriftlichtes sind Texte hervorgebracht, ihre Gegenstände effizieren sie aber selbst, indem sie Vorstellungen konstituieren und Handeln als Reaktion auf die Vorstellung hervorbringen. Wie in der Grammatik zwischen affizierten Objekten (›eine Münze werfen‹) und effizierten (›eine Münze prägen‹) unterschieden wird, lässt sich auch im Literarischen das Hantieren mit vorgefundenen vom Hervorbringen neuer Vorstellungen unterscheiden. Grundsätzlich effizient sind Texte hinsichtlich der Lesesituation und der Transformation des _____________ 92
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Hardie: Metamorphosis, S. 96; vgl. ebd., S. 99, über die personifizierte Fama bei Vergil, die auf der Erzählebene die moralisch-allegorisierende Interpretation von Ereignissen (und Texten) handeln lässt und den Winter der Ausschweifungen zwischen Dido und Aeneas als Deutung der ›Wirklichkeit‹ anbietet. Vgl. z.B. Goodman: Sprachen, S. 42: »Wenn sein [sc. des Künstlers, A.A.] Bild so gesehen wird, dass es fast, aber nicht ganz auf die gewöhnliche Ausstattung der alltäglichen Welt Bezug nimmt, oder wenn es die Zuordnung zu einer gebräuchlichen Art von Bild fordert, sich ihr aber auch widersetzt, dann kann es vernachlässigte Ähnlichkeiten oder Unterschiede zutage fördern, ungewöhnliche Verbindungen festigen und in gewissem Ausmaß unsere Welt neu erzeugen.«
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Sprachlichen, die sie beide generieren. Diese Bestimmung sei an den Schluss gestellt, weil sie zeigt, dass Literatur Verfahren und Haltung ist und darin der Wissenschaft von ihr gleich. Sie ist keine Gruppe von passiven Objekten mit gemeinsamen Eigenschaften, sondern eine ars im Sinne der ›artes effectivae‹.94 Der Text ist weniger Endprodukt eines Kunsthandelns als vielmehr für dessen Ingangsetzung zuständig. Bibliographie Lateinische Werke sind, sofern nicht anders vermerkt, nach den Ausgaben der Bibliotheca Teubneriana bzw. der Oxford Classical Texts zitiert. Abbenes, J. G. J. / S. R. Slings / I. Sluiter (Hg.): Greek Literary Theory after Aristotle. A Collection of Papers in Honour of D. M. Schenkeveld. Amsterdam 1995. Althoff, Jochen (Hg.): Philosophie und Dichtung im antiken Griechenland. Akten der 7. Tagung der Karl und Gertrud Abel-Stiftung am 10. und 11. Oktober 2002 in Bernkastel-Kues. Stuttgart 2007. Arweiler, Alexander: Erictho und die Figuren der Entzweiung. Vorüberlegungen zu einer Poetik der Emergenz in Lucans Bellum civile. In: Dictynna 3 (2006), S. 3-71. Arweiler, Alexander: Souveränität und Einschließung. Catull, Cicero und Vergil über Macht, die Expansion der Herrschaft und die Autorität der Literatur. In: A.A. / Bardo M. Gauly (Hg.): Machtfragen. Zur kulturellen Repräsentation und Konstruktion von Macht in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Stuttgart 2008, S. 19-77. Asper, Markus: Griechische Wissenschaftstexte. Formen, Funktionen, Differenzierungsgeschichten. Stuttgart 2007. Asper, Markus: Medienwechsel und kultureller Kontext. Die Entstehung der griechischen Sachprosa. In: Althoff: Philosophie, S. 67-102. Barchiesi, Alessandro: Speaking Volumes. Narrative and Intertext in Ovid and other Latin Poets. London 2001. Barchiesi, Alessandro / Jörg Rüpke / Susan Stephens (Hg.): Rituals in Ink. A Conference on Religion and Literary Production in Ancient Rome Held at Stanford University in February 2002. Wiesbaden, Stuttgart 2004. Beissinger, Margaret / Jane Tylus / Susanne Wofford (Hg.): Epic Traditions in the Contemporary World. The Poetics of Community. Berkeley u.a. 1999. Brink, C. O.: Horace on Poetry. Bd. 1: Prolegomena to the Literary Epistles. Cambridge 1963. Brink, C. O.: Horace on Poetry. Bd. 2: »The Ars Poetica«. Cambridge 1971. Brink, C. O.: Horace on Poetry. Bd. 3: Epistles Book II. The Letters to Augustus and Florus. Cambridge 1982. Conte, Gian Biaggio: The Rhetoric of Imitation. Genre and Poetic Memory in Virgil and other Latin Poets. Ithaca 1986. DeBrohun, Jeri Blair: Ariadne and the Whirlwind of Fate. Figures of Confusion in Catullus 64,149-57. In: Classical Philology 94/4 (1999), S. 419-430.
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KARL-HEINZ POHL
Annäherungen an einen Literaturbegriff in China
Die Wissenschaften besitzen von ihrem Selbstverständnis her einen universalistischen Anspruch. In der Regel versucht man, allgemeingültige Theorien und Definitionen zu finden, die jeweiligen besonderen phänomenalen Unterschieden möglichst wenig Spiel lassen. Doch sind sie auch eine neuzeitliche europäische Erfindung. Und so ist es nicht verwunderlich, dass aufgrund spezifisch europäischer Traditionen und daraus erwachsener Präferenzen allerorten die Neigung besteht, wissenschaftliche Begriffe und Kategorien anhand partikularer kultureller – nämlich europäisch/amerikanischer – Provenienz zu bestimmen. Verstärkt wird diese Tendenz dadurch, dass man sich im Zuge der Modernisierung fast überall in der Welt an europäisch/amerikanische Standards angelehnt bzw. diese ungefragt übernommen hat. Folgende Einschätzung, die von einem Afrikaner stammt, könnte ebenso gut für die Chinesen gelten: Welcher Europäer kann sich rühmen (oder sich beklagen), in das Kennenlernen einer ›traditionellen‹ Gesellschaft soviel Zeit, Studien und Mühen hineingesteckt zu haben, wie die Tausenden von Intellektuellen der Dritten Welt, die in Europa in die Lehre gegangen sind?1
Mit anderen Worten, die ›westliche Moderne‹ ist auch nur die Fortführung einer langen kulturellen Tradition. Die ›Literaturwissenschaft‹ ist Teil dieses eurozentrischen Wissenschaftsbetriebs. So stellt ein modernes und in Europa gängiges Literaturverständnis, das von der eigenen Tradition, nämlich Homers Epen und griechischen Dramen, ausgeht und gleichsam im Roman und Drama der Neuzeit gipfelt, gerne die Fiktionalität als übergreifende Charakterisierung der Literatur in den Vordergrund. Allerdings ist die Literaturwissenschaft als Teil der Geisteswissenschaften auch historisch – und inzwischen auch komparatistisch – orientiert. Dies bedeutet gerade im Hinblick auf einen Literaturbegriff, dass die Diskussion um ein derartiges Thema nur aus der historischen Genese und inzwischen auch _____________ 1
Miské: Lettre, S. 143, zitiert nach Bruckner: Das Schluchzen, S. 136.
Annäherungen an einen Literaturbegriff in China
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im Vergleich zum Literaturverständnis in anderen Kulturräumen (bzw. Nationalliteraturen) geführt werden kann. So würde, wie deutlich werden wird, allein von China her gesehen Fiktionalität als Quintessenz der Literatur nicht genügen. Die ›schöngeistige Literatur‹ (belles lettres – und damit die heutige Belletristik) ist gleichfalls eine europäische Erfindung des 18. Jahrhunderts. Etymologisch gesehen ist Literatur das ›Geschriebene‹ (lat.: letterae – die Buchstaben). Und so tendierte das vormoderne Literaturverständnis weniger in Richtung ›Schöngeistigkeit‹ als vielmehr zu ›Gelehrsamkeit‹, d.h. die umfassende Kenntnis der schriftlichen Tradition war ihr Gegenstand. Von dieser Begriffsgeschichte her würde sich eher eine Parallele zur chinesischen Literatur ergeben: Steht dort zwar – im Gegensatz zur europäischen Entwicklung – nicht das Epos und Drama, sondern das Gedicht im Vordergrund der Literatur (im schöngeistigen Sinne), so hätten wir jedoch mit dem wichtigen chinesischen Terminus ›wen‹ – ›Schriftlichkeit‹ ein Pendant zum vormodernen europäischen Literaturbegriff. Wenn also im Folgenden einem chinesischen Literaturverständnis nachgespürt wird, so soll dies kein Versuch darstellen, der mehr als zweitausendjährigen chinesischen Literaturgeschichte einen umfassenden Literaturbegriff überzustülpen – ein solches Anliegen wäre zu Recht als unhistorisch und generalisierend abzulehnen. Vielmehr sollen in einem historischen Überblick Tendenzen aufgezeigt werden, aus denen eine Annäherung an einen traditionellen chinesischen Literaturbegriff möglich wird. 1. Die chinesische Schrift und Schriftsprache Hinsichtlich des vormodernen Verständnisses von Literatur in China wären zunächst zwei spezifisch chinesische Besonderheiten zu beachten: die Sprache und Schrift sowie die Rolle der Literatenbeamten als Hüter einer auf Schriften basierenden Kulturtradition. Chinesisch ist eine isolierende, nichtflektierende und tonale Sprache, deren kleinste Sinneinheiten (Morpheme) mit einer Silbe ausgesprochen und (im modernen Hochchinesisch) auf vier verschiedene Weisen – den vier Tönen – intoniert werden können. Diese kleinsten Sinneinheiten bilden in der Schrift die Schriftzeichen. Texte in der klassischen chinesischen Schriftsprache – der bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts etablierten literarischen Ausdrucksweise – zeichnen sich durch Sparsamkeit im Ausdruck aus: Ein Schriftzeichen ist in der Regel ein nicht-flektierbares Wort (allerdings häufig mit einer schillernden Bedeutungsvielfalt); Artikel sind nicht vorhanden, auf Pronomen und Konjunktionen kann weitgehend verzichtet werden und zwischen nominellem, adjektivischem und
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verbalem Gebrauch der Wörter gibt es meist keinen Unterschied. Mit diesen Merkmalen sind die alten Schriften bisweilen von einer bemerkenswerten semantischen Offenheit, d.h. sie sind zwar immer recht interpretationsbedürftig, bergen aber auch ein ästhetisch wirksames Assoziationspotential. In die chinesische Schriftsprache (wenyan) fanden zwar auch immer jeweils zeitgenössische umgangssprachliche Wendungen Eingang, jedoch stellt sie ein eigenes, und zwar vor allem schriftlich zu verstehendes Idiom dar.2 Die gesprochene Sprache der Chinesen hat sich wie alle Sprachen der Welt über die Zeiten stark gewandelt, so auch die Aussprache der chinesischen Schriftzeichen. Doch bemerkenswert an der chinesischen Schriftsprache ist der Umstand, dass sich der Wandel in der Aussprache nicht negativ auf das Verständnis der ältesten Schriften auswirkt (anders als beim Altoder Mittelhochdeutschen bzw. beim Altfranzösischen oder -englischen). Man las und liest also die alten Schriften mit der zeitgenössischen Aussprache, wobei bisweilen die Reime nicht mehr ganz stimmen, was aber dem Verständnis keinen Abbruch tut. Diese Adaptionsfähigkeit der alten chinesischen Texte garantierte auch die Dauerhaftigkeit des klassischen Kanons. Da die Grammatik gleichsam in diesen Texten eingebettet ist, war ein Schreiben von Essays nach den Mustern der alten Texte durch alle Zeiten hindurch problemlos möglich. Zwei Besonderheiten verdienen noch Erwähnung: die Beliebtheit von Parallelismus und Anspielungen (Allusionen). Aufgrund der Basis einsilbiger Sinneinheiten in Form der Schriftzeichen kommt es leicht zu ordentlichen Anordnungen mit gleicher Zeilenlänge bzw. Zeichenzahl pro Zeile sowie zu Paarbildungen von jeweils zwei parallel geführten Zeilen. Jedes Schriftzeichen einer Zeile – als einzelne Silbe und Wort – kann somit seine Entsprechung in der anderen finden, wobei die Entsprechungen meist _____________ 2
Die chinesische Sprache ist relativ lautarm. Der ganze Lautstamm beträgt nur ca. 350 unterschiedliche Silben (wie ›dong‹, ›mao‹, ›deng‹, ›shu‹ etc.), die jeweils mit einem Schriftzeichen geschrieben werden. Da diese Silben in den vier verschiedenen Intonationsweisen (Tönen) ausgesprochen werden können, bringt das die Zahl unterschiedlicher Silben auf ca. 1400. Das mildert die Lautarmut jedoch nicht wesentlich. Denn die größten Lexika umfassen etwa 50.000 Schriftzeichen, für die bei der lautlichen Umsetzung höchstens 1400 Möglichkeiten zur Verfügung stehen. In der klassischen Schriftsprache war diese Lautarmut kein großes Handikap, da es genügte, die Schriftzeichen zu lesen und ihre Bedeutung zu erkennen. In der gesprochenen Sprache würde jedoch eine derartig ›einsilbige‹ Ausdrucksweise zu Unverständlichkeit führen. Deshalb versucht das gesprochene Chinesisch das Problem gleichklingender Wörter zu umgehen, indem es Zusammensetzungen aus meist zwei Schriftzeichen mit ähnlicher Bedeutung schafft. Somit bestehen erhebliche Differenzen in der Ausdrucksweise – und auch in der Grammatik – zwischen dem klassischen schriftsprachlichen und dem umgangssprachlichen Chinesisch.
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nach semantischen Feldern erfolgen. Dieser Parallelismus membrorum, insbesondere der antithetische Parallelismus, wurde zu einem der charakteristischsten Merkmale chinesischer Lyrik und Prosa. Natürlich kennen andere Sprach- und Kulturtraditionen, so auch die unsrige, den Parallelismus als Mittel der Rhetorik, doch sind die Möglichkeiten aufgrund linguistischer Strukturen in keiner Weise mit der in China zu vergleichen. Dies geht sogar so weit, dass manche klassischen Texte mit ihrer notorischen semantischen Offenheit und Unbestimmtheit erst unter Berücksichtigung der Parallelkonstruktionen verständlich und übersetzbar werden.3 Die Parallelbildungen halfen schließlich auch beim Auswendiglernen des ganzen Textkorpus. Da die Literaten mit der ganzen literarischen Tradition (Klassikern und schöngeistiger Literatur) vertraut waren, liebten sie es, auf diese Texte durch Zitate (bisweilen etwas verstellt) anzuspielen – und da ihre Literatenkollegen nicht weniger belesen waren, brauchte man nicht zu fürchten, nicht verstanden zu werden. Vielmehr verliehen diese Anspielungen den Texten einen zusätzlichen Reiz. Es gab sogar Schulen der Dichtung, in denen die geschickte Manipulation von Anspielungen zur großen Kunst erhoben wurde.4 Dadurch besaßen die Texte eine bemerkenswerte Eigenschaft, die erst in der Postmoderne in den Blick geraten ist, nämlich einen hohen Grad an Intertextualität. Außerdem besitzt die chinesische Schrift eine wichtige bildliche Dimension. Zwar ist sie streng genommen keine Bilderschrift (das Gros der chinesischen Schriftzeichen ist nicht nach bildlichen, sondern nach lautlichen Prinzipien organisiert), doch hat sie, gerade von ihren Ursprüngen her, eine ausgesprochen bildliche und auch symbolische Komponente, was sich in vielen Schriftzeichen (den Piktogrammen) auch erhalten hat. Insofern finden wir in der chinesischen Schrift eine Bildlichkeit angelegt, die als bildlich-poetischer Ausdruck in der Literatur – insbesondere in der Dichtung – weiter Gestalt gewinnt.5 Schließlich wäre auch noch die chinesische Schriftkunst (Kalligraphie) zu berücksichtigen, die in ihrem linienhaften Schwarz-Weiß dieser Bildlichkeit – und den Texten überhaupt – eine wei_____________ 3 4
5
Siehe Joachim Gentz’ gründliche Studie »Zum Parallelismus in der chinesischen Literatur«. So z.B. die Schule des Huang Tingjian (1045-1105). Siehe dazu ausführlicher Pohl: Ästhetik, S. 257ff. Beliebt waren neben Allusionen auch so genannte Antwortgedichte (heshi), wobei man auf ein Gedicht eines Freundes (oder eines alten Meisters) antwortete, indem die Reimwörter (bzw. Zeichen) im Antwortgedicht vollständig übernommen wurden. Diese Charakteristika haben sogar bis in die Moderne nachgewirkt; so ist es interkulturell interessant, dass Pioniere der westlichen literarischen Moderne, die Imagisten um Ezra Pound, sich wesentlich von der Bildlichkeit der klassischen chinesischen Dichtung haben anregen lassen (wobei die Imagisten dann wiederum die Vertreter einer modernistischen chinesischen Lyrik beeinflussten). Siehe hierzu Motsch: Pound.
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tere ästhetische Komponente verleiht. Diese Besonderheit wurde auch nicht durch den Buchdruck verdrängt, den es in China als Blockdruck bereits vor dem 8. Jahrhundert und als Druck mit beweglichen Zeichen ab dem 11. Jahrhundert – also lange vor Gutenberg – gab. 2. Der chinesische Literat (wenren) Die Fähigkeit zum Gebrauch der Schriftsprache markierte die Mitglieder einer kulturellen und politischen Führungsschicht. Insofern haben wir über die Schriftlichkeit eine enge Beziehung zwischen literarischer Bildung und politischer Macht in China. Die Spezialisten der auf kanonischen Texten basierenden Kulturtradition der Vormoderne waren die konfuzianischen Literaten bzw. Literatenbeamten, so genannt, weil sie sich, um ihren Beamtenstatus zu erlangen, in Prüfungen vor allem als Kenner ihrer schriftlichen Tradition erweisen mussten.6 Gegenstand der Prüfungen, die seit Beginn des 7. Jahrhundert n. Chr. existierten, waren vor allem die klassischen Schriften der konfuzianischen Tradition. Zu diesen Texten mussten Essays geschrieben werden (ab der Ming-Zeit, d.h. etwa ab dem 14./15. Jahrhundert, in der penibel regulierten Form des ›Achtgliedrigen Aufsatzes‹),7 und so beherrschten die Kandidaten diesen ganzen Kanon (mehr als 400.000 Schriftzeichen) auswendig. Da sich unter den Klassikern auch eine Liedersammlung aus dem 1. vorchristlichen Jahrtausend befand – das kanonische Buch der Lieder (Shijing) – war ›Literatur‹ im engeren Sinne bereits ein Prüfungsgegenstand. Diese Tendenz verstärkte sich dahingehend, dass ab dem 8. Jahrhundert n. Chr. (der Tang-Zeit) in den Prüfungen auch das Dichten in bestimmten Versmaßen verlangt wurde. Um auch darin bestehen zu können, waren die Literaten mit dem poetischen Œuvre der großen Dichterpersönlichkeiten vertraut, mit anderen Worten, sie beherrschten auch dieses auswendig. Diese phänomenale Gedächtnisleistung als Notwenigkeit zur Prüfungsvorbereitung erklärt die stupende Belesenheit der vormodernen Literaten.8 _____________ 6 7
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Hier wäre historisch zu differenzieren. Bevor es die Prüfungen gab (und auch in der Tang-Zeit, d.h. im 7.-10. Jahrhundert, als die Prüfungen sich erst etablierten), wurden Beamte aus der gebildeten Oberschicht bzw. aus Aristokraten-Familien rekrutiert. Im ›Achtgliedrigen Aufsatz‹ (baguwen) musste über weite Strecken ebenfalls der antithetische Parallelismus – hier in prosaischer Form – durchgehalten werden. Dazu waren die Formen der einzelnen Teile und die Gliederung streng vorgegeben. Siehe hierzu Tu: Essay. Man begann mit dem Auswendiglernen in der Regel bereits in der Kindheit, d.h. ohne den Sinn der Texte überhaupt zu verstehen. Da das Auswendiglernen in China bis heute eine große Rolle in der Erziehung spielt, erlebt man auch heute noch unter den älteren Gelehrten enorme Gedächtnisleistungen.
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3. Schriftlichkeit und Literatur (wen) als Kulturtradition Die Literatenbeamten waren somit gleichsam die Hüter einer auf Schriftlichkeit basierenden Kulturtradition. Das Schriftzeichen ›wen‹, das für diese Art der Schriftlichkeit steht, wäre demnach zunächst auf ein chinesisches Literaturverständnis hin zu untersuchen, nicht zuletzt deshalb, weil es in den heutigen Kombinationen ›wenxue‹ (wörtlich: ›Lehre vom Schrifttum‹) oder ›wenzhang‹ (›literarisches Werk‹ / ›Artikel‹) für ›Literatur‹ im eigentlichen Sinne steht.9 ›Wen‹ hat die ursprüngliche Bedeutung ›Muster (gekreuzter Linien)‹. In der klassischen Zhou-Periode (11.-3. Jahrhundert v. Chr.) bedeutete dies vor allem ›Gestaltung‹ sowie ›rhetorischer Schmuck‹ etc. – also ›schönes Äußeres‹ im Gegensatz zu ›Substanz‹ oder ›innerem Wesen‹ (zhi). Davon abgeleitet sollte ›wen‹ später auch ganz allgemein im Sinne von ›formal gestalteter Literatur‹ im Gegensatz zu ›Gebrauchsprosa‹ (bi) verwendet werden. Eine weitere wichtige Bedeutung von ›wen‹ ist ›zivil‹, ›zivilisierend‹ bzw. ›kultivierend‹, was auch heute noch in dem gängigen Begriff für ›Kultur‹ (wenhua) mitschwingt.10 Im Schriftzeichen ›wen‹ steckt demnach ein ästhetischer (›schöne Gestalt‹), aber auch ein erzieherischer, kultivierender Aspekt. Das Wort ›wen‹ wurde in der Bedeutung ›Schrifttum‹ (›Literatur‹) allerdings erst ab der späten Han-Zeit (1.-2. Jahrhundert n. Chr.) gebraucht. Dies umfasste zunächst die wichtigen kanonischen Werke, nämlich die konfuzianischen Klassiker, die Schriften aus den Philosophenschulen der späten Zhou-Zeit (6.-3. Jahrhundert v. Chr.) und die in der frühen Han-Zeit (2. Jahrhundert v. Chr.) beginnende Geschichtsschreibung. Was galt als Literatur im schöngeistigen Sinne in der Vor-Han-Zeit? Epen und Tragödien wie im griechischen Altertum hat es in der chinesischen Frühzeit (und auch danach) nicht gegeben; das wichtigste literarische Medium war vielmehr die lyrische Dichtung, wie sie uns in der Form des shi-Gedichts vom 10. bis zum 7.-6. Jahrhundert v. Chr. in dem (in der Han-Zeit) als Klassiker kanonisierten Buch der Lieder (Shijing) überliefert sind. Die frühe chinesische Literaturreflexion (und auch fast ausschließlich die spätere) wäre also in bezug auf die shi-Dichtung zu betrachten. Die früh entstandenen shi-Gedichte dieses Liederkanons besitzen bereits viele Eigenschaften dessen, was wir als ein typisch chinesisches Gedicht _____________ 9
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Beide modern gebräuchliche Komposita gehen auf vormoderne bzw. klassische Prägungen zurück: Der locus classicus für ›wenxue‹ findet sich z.B. in den Gesprächen des Konfuzius (Kungfutse: Gespräche, S. 113, Lunyu 11.2). Der komplexen Geschichte von ›wenzhang‹ wird im Detail nachgegangen in Martin Kerns gut recherchiertem Artikel »Ritual, Text, and the Formation of the Canon«. Hier ist ›wen‹ im Gegensatz bzw. in Ergänzung zu ›wu‹, dem Kriegerischen/Martialischen, zu sehen.
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empfinden. Sie waren somit im höchsten Maße stil- und gattungsbildend. Was ihre Grundzüge an Form, Stil und Inhalt betrifft, so lassen sich die Merkmale (insbesondere der Gedichte aus der ersten und wichtigsten Gruppe der »Volkslieder aus den Staaten« – »guofeng«)11 wie folgt zusammenfassen: - Die Form der Gedichte ist klar und meist mit alternierendem Endreim strukturiert, wobei die Zeilen meist aus vier Zeichen und die Strophen aus vier oder sechs Zeilen bestehen. - Häufig finden sich lautliche Mittel wie Verdopplungen von Adjektiven, Alliteration oder Lautmalerei. - Inhaltlich handeln viele vom Dienst am Fürsten und an den Ahnen, vom Leben und von den Pflichten in der Familie sowie von Festen und Gebräuchen. - Stilistisch zeigen sich bereits Merkmale, die für die ganze Geschichte der chinesischen Lyrik wegweisend sind, nämlich die Kürze und metaphorisch suggestive Ausdrucksweise – es wird etwas über den eigentlichen Text Hinausweisendes gesagt. Zu diesem Liederklassiker gab es seit der Han-Zeit ein kurzes programmatisches Vorwort, das als erste literaturtheoretische Schrift Chinas verstanden werden kann.12 Darin wird deutlich, dass in dieser frühen Phase Dichtung vor allem als Verbalisierung einer moralisch-politischen Gesinnung (zhi) gesehen wurde. Dieses Verständnis wandelte sich ab dem 3.-4. Jahrhundert n. Chr., als die Forderung nach Ausdruck von Gefühl (qing) in den Vordergrund trat.13 Ebenfalls in diesem Vorwort festgelegt findet sich eine bemerkenswerte Äußerung, die der engen Beziehung zwischen Literatur und Politik in China gilt: Die Herrschenden benutzten Lieder, um das Volk politisch-moralisch zu erziehen; umgekehrt dienten die Lieder des Volkes zur Kritik an den Herrschenden. Bemühte man sich bei dieser Kritik um einen indirekten, versteckten Ausdruck, dann sollte den Kritiker kein Tadel treffen. Das shi-Gedicht ist jedoch nur ein relativ kleiner – wenn auch wichtiger – Teil im gesamten Korpus der als wen verstandenen Schriftlichkeit. Gehen wir historisch vor (und sehen wir einmal von prosaischen Werken wie den Klassikern, den Schriften aus den Philosophenschulen, den Geschichtswerken u.ä. ab; siehe hierzu Abschnitt 4), so ergibt sich etwa im 4.-3. Jahrhundert v. Chr. eine wichtige Neuerung in Form einer Gattung, nämlich die so genannten Gesänge von Chu (Chuci). Im Unterschied zu den shi-Ge_____________ 11 12 13
Siehe Kubin: Dichtkunst, S. 3ff. Siehe ausführlicher Pohl: Ästhetik, S. 24ff. S.u. Abschnitt 4 (Lu Jis Rhapsodie über die Literatur).
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dichten, die regional eher im Norden Chinas anzusiedeln sind, wirken diese aus dem Süden stammenden Gesänge weit freier und lockerer; rhythmisch sind sie abwechselungsreich und im Aufbau weniger streng strophisch gegliedert, vielmehr häufig lang; ihr Kernstück, das Lisao (Begegnung mit dem Leid) mit seinen über 370 Zeilen, ist sogar das wohl längste bedeutende Gedicht in der chinesischen Literaturgeschichte. In ihrem Ton sind die Chuci melodisch und häufig elegisch (deshalb auch die gängige Titelübersetzung ›Elegien‹ in westlichen Sprachen). Auch begegnen wir hier einer heute, wenn überhaupt, nur noch schwer zu verstehenden Blumen- und Pflanzensymbolik sowie Mythen, Göttern und Geistern, die wegen ihres lokalen schamanistischen Hintergrundes nicht zum Mainstream der chinesischen Kulturgeschichte zählen. Letztlich haben wir hier nicht den Ausdruck einer ›Gesinnung‹ des Menschen als sozialem Wesen, sondern die komplexe Gefühlswelt des Menschen als Individuum, denn die Gesänge von Chu sind eine Sammlung von Liedern, die zum Teil von einer bestimmten Person, nämlich Qu Yuan (zumindest im Falle des Lisao), verfasst wurden, und zu anderen Teilen um diese Person und deren Schicksal bzw. Thematik kreisen; und zwar ist dies die Problematik des lauteren, doch verkannten Beamten, allerdings verpackt in eine schamanistische Bildersprache, verbunden mit magischen Reisen. Mit Qu Yuan (ca. 340-278 v. Chr.) tritt somit zum ersten Mal eine Person als Dichter auf, dessen Schicksal bekannt war, das sich in seiner Dichtung niedergeschlagen hatte und mit dem sich identifizieren ließ.14 Literarisch brachte die darauf folgende Han-Zeit (206 v. bis 220 n. Chr.) ebenfalls eine Reihe von Neuerungen: Die gattungsgeschichtlich wichtigste darunter ist die ›poetische Beschreibung‹, auch ›Reimprosa‹ oder ›Rhapsodie‹ (fu) genannt. Einerseits stehen die han-zeitlichen Rhapsodien ganz in der Tradition der Gesänge von Chu, andrerseits haben sie ein eigenes sowohl gestalterisches als auch inhaltliches Gepräge. Von Gehalt und Aussage her gesehen besitzen fast alle einen stark moralisierenden, didaktischen Charakter.15 Stilistisch betrachtet sind sie hinsichtlich der Silbenzahl sowie der syntaktischen und gedanklichen Gliederung in Parallelversen aufgebaut; darüber hinaus fallen sie durch ihre Länge und unpersönliche sprachliche Virtuosität auf. Eine weitere Neuerung stellen die yuefu-Volkslieder bzw. -Balladen dar. Diese waren von einem kaiserlichen Musikbüro (yuefu) teils im Volk gesam_____________ 14 15
Siehe hierzu ausführlicher Hawkes: Songs, sowie Kubin: Dichtkunst, S. 16ff., und Pohl: Ästhetik, S. 71ff. Z.B. scheint bisweilen durch exzessive Beschreibung des Palastlebens die Ermahnung auf, sich vor zu viel Luxus zu hüten. Exemplarisch dafür ist Mei Shengs (gest. 141 v. Chr.) Rhapsodie Die sieben Anreize (Qi fa); eine deutsche Übersetzung findet sich in von Zach: Anthologie. Bd. 2, S. 607-617. Siehe auch Watson: Rhyme-Prose.
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melt, teils aber auch geschaffen worden, da man z.B. für Opferrituale neue Lieder benötigte. Im Stil waren sie eher gegensätzlich zu den fu, nämlich lyrisch-gesanglich, oft mit Refrain, kurz, expressiv und – im deutlichen Unterschied zu den shi-Gedichten – unregelmäßig in der Form. Sie sollten später eine auch für Literaten beliebte Gattung werden. Darüber hinaus gab es eine große Anzahl an Prosa, die – ihren Anlässen gemäß – in verschiedene Gattungen aufgeteilt wurde. Kollektiv wurde diese Prosa auch als ›wen‹ bezeichnet.16 4. Gattungsdiskussionen und für ein Literaturverständnis formative Werke Chinesische Literaturhistoriker bezeichnen in der Regel die Epoche zwischen Han- und Tang-Zeit (3.-7. Jahrhundert) als diejenige, in der sich ein literarisches Bewusstsein – so von literarischen Formen, Gattungen, Rhetorik, Ausdruck etc. – zu entwickeln beginnt. Aus dieser Zeit haben wir verschiedene Texte, die – wie ihre Titel bereits angeben – der Reflexion der ›Schriftlichkeit‹ (wen) gelten und die hinsichtlich ihres Literaturverständnisses kurz zu untersuchen wären. Der erste in dieser Reihe sind die Maßgeblichen Erörterungen – Über die Literatur (Dianlun lunwen) von Cao Pi (187-226, dem späteren Kaiser Wen [!] der Wei-Dynastie).17 In dieser kurzen Schrift findet sich die erste Klassifizierung von literarischen Gattungen. So schreibt er: »Literatur (wen) ist von ihren Wurzeln her ein und dasselbe, sie unterscheidet sich aber in ihren Verzweigungen.«18 Danach listet er acht Gattungen auf, von denen er jeweils zwei zu einer Gruppe zusammenfasst und diese mit einem Adjektiv charakterisiert. An vorderster Stelle stehen Throneingaben und Denkschriften, die eine »würdige Eleganz« (ya) besitzen sollen; amtliche Schreiben und Erörterungen sollen »Kohärenz« (li) zeigen; Grabinschriften und Nachrufe sollen Wert auf »Tatsachen« (shi) legen, und Gedichte (shi) und Rhapsodien (fu, ›poetische Beschreibungen‹ oder ›Reimprosa‹) sollen sich durch schöne (li) Gestaltung auszeichnen.19 Die Klassiker, die Schriften aus den Philosophenschulen der Vor-Han-Zeit und die Geschichtsschreibung werden nicht erwähnt – man könnte zumindest für die Klassiker sagen, dass sie gleichsam ›außer _____________ 16 17
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Zur Prosa siehe Eggert / Kubin / Trauzettel / Zimmer: Prosa. Dianlun (Maßgebliche Erörterungen) ist der Titel des verlorengegangenen Gesamtwerkes (das sich mit Fragen der Politik, Philosophie, Militär etc. befasst), von welchem nur noch der Teil der Erörterung »Über die Literatur« (Lunwen) erhalten geblieben ist. Siehe Wong: Literary Criticism, S. 19ff.; Pohl: Ästhetik, S. 87ff. Pohl: Ästhetik, S. 90. Ebd., S. 90f.
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Konkurrenz‹ standen (wie man früher die Bibel selbst nicht als Literatur verstanden hätte). Gegen Ende der Han-Zeit (ca. 2.-3. Jahrhundert n. Chr.) versteht Cao Pi folglich unter ›wen‹ in erster Linie Prosaschriften, wie sie von den Literaten zu allen möglichen Anlässen verfasst wurden. Schöngeistiges – Gedichte und Rhapsodien – rangiert noch an letzter Stelle. Diese Reihenfolge sollte sich bald ändern bzw. umkehren. Als eine der wichtigsten Schriften zum Literaturverständnis in China gilt die Rhapsodie über die Literatur (Wen fu) von Lu Ji (251-303). Anders als Cao Pis Erörterung (lun) ist dieses Werk selbst poetisch durchgestaltet, nämlich in zwar beschreibender (fu), doch rhythmisch und mit Reimen gestalteter Prosa. Dieses Prosagedicht behandelt fast alle relevanten Aspekte literarischen Schaffens, so den kreativen Prozess, das bewusste Nacharbeiten und Gestalten, handwerkliche Fehler und verschiedene Gattungen. An diesen listet der Autor insgesamt zehn auf (von denen sechs bereits von Cao Pi erwähnt wurden); wichtig ist jedoch, dass seine Liste mit der Dichtung beginnt: Dichtung [shi] gründet sich auf Gefühl [qing] und wirkt ein faszinierendes Muster [...]; Rhapsodien [fu] verkörpern die Dinge und sind klar und hell [...].20
Während Cao Pi der Dichtung lediglich schöne Gestaltung (li) als Merkmal attribuiert, das Lu Ji ebenfalls mit seinem »faszinierende[n] Muster« mit einschließt, geht er doch darüber hinaus, indem er Dichtung nun auch in erster Linie in gleichsam expressionistischem Sinne als Gefühlsausdruck versteht. Wie dem auch sei, was bei Cao Pi noch an letzter Stelle rangiert – die Dichtung –, hat sich nun (ca. hundert Jahre später) ganz nach vorne gearbeitet. In diesem Schema tauchen Klassiker, Philosophie und Historiographie ebenfalls nicht auf, jedoch macht Lu Ji an anderer Stelle deutlich, dass ein Literat mit all diesen klassischen Werken vertraut sein muss, um überhaupt schreiben zu können. Gekrönt wird diese Entwicklung durch ein Werk, das in der chinesischen Literaturgeschichte als umfassendste Reflexion über verschiedenste Aspekte der Literatur einzigartig dasteht: Der literarische Geist und das Schnitzen von Drachen (Wenxin diaolong) von Liu Xie (ca. 465 bis ca. 522-539). Die Sprache und der Aufbau des Werkes sind allein bereits äußert kunst- und bedeutungsvoll.21 Die 50 Kapitel teilen sich symmetrisch in zwei Hälften, wobei der erste Teil (Kapitel 1-25) dem Ursprung und den Besonderhei_____________ 20 21
Ebd., S. 98. Es ist in der so genannten Parallelprosa (pianwen) verfasst, nämlich mit antithetisch gebauten Sätzen zu meist vier und sechs Zeichen pro Satz. Es besitzt 50 Kapitel, die alle mit einem Vers von acht Zeilen (mit jeweils vier Zeichen pro Zeile) enden, welcher das Gesagte noch einmal evokativ erhellen soll. Siehe ausführlicher Pohl: Ästhetik, S. 109ff., sowie Shih: Literary Mind.
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ten der literarischen Gattungen und Formen, der zweite – weitaus interessantere – Teil (Kapitel 26-49) allgemeinen Phänomenen der Literatur (Kreativität, Imagination, Stil, Charaktereigenschaften des Dichters, Rhetorik, Verhältnis zwischen Tradition und Erneuerung etc.) gewidmet ist. Das 50. Kapitel schließlich ist ein programmatisches Nachwort.22 An den beiden Hauptteilen fallen gewisse strukturelle Besonderheiten auf. Der erste Teil ist in drei Abschnitte untergliedert. Der erste von diesen (die Kapitel 1-5) behandelt den Ursprung der Literatur und ihren ideologischen Rahmen, so auch die autoritative Bedeutung der Klassiker für die gesamte Entwicklung der Literatur, nämlich als Ausgangspunkt aller Gattungen. Die restlichen 20 Kapitel lassen sich wiederum nach Form und Funktion in zwei Abschnitte zu je zehn Kapiteln gliedern, wovon der erste diejenigen Gattungen behandelt, die in dichterisch geformter Sprache gehalten sind – also wen im eigentlich ästhetischen Sinne darstellen; der zweite Abschnitt betrifft demgegenüber die Gebrauchsprosa (Throneingaben, Erörterungen, Erlasse, historische und philosophische Schriften etc.), was auf Chinesisch als ›bi‹ (wörtlich: ›Pinsel‹, also eher beiläufig ›Gepinseltes‹) bezeichnet wird.23 Insgesamt werden mehr als zwanzig Gattungen erörtert (da etliche Kapitel zwei behandeln). Für seine Rangfolge ist bedeutend, dass die erste von ihm besprochene Gattung (Kapitel 6) das shi-Gedicht darstellt; danach kommt die yuefu-Ballade (Kapitel 7), dann die Rhapsodie (fu) und daran anschließend erst gewisse Prosa-Formen. Dies zeigt, dass seit Cao Pi, der Gedichte und Rhapsodien noch an die letzte Stelle setzte, der Rang der Dichtung enorm gestiegen ist. Eine zentrale Bedeutung besitzen die ersten fünf Kapitel, die in folgender Reihenfolge dem konfuzianischen ›Weg‹ (dao)24 (Kapitel 1), den (von den Konfuzianern verehrten) Weisen des Altertums (Kapitel 2), den (konfuzianischen) Klassikern (Kapitel 3), den Apokryphen (Kapitel 4) und Qu Yuans Elegie Begegnung mit dem Leid (Lisao) (Kapitel 5) gelten. Im Nachwort nennt Liu diese fünf Kapitel »Schlüssel-« oder »Angelkapitel«.25 _____________ 22
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Darin wird auch der Titel des Buchs erläutert. Dort heißt es: »Der Literarische Geist ist der Geist, der sich um Literatur [wen, d.h. um Form und Gestaltung] bemüht.« ›Schnitzen von Drachen‹ bedeute hingegen formales Gestalten. Insofern lässt sich der Titel als Abhandlung über das Wesen der Literatur und deren formale Gestaltung verstehen (Shih: Literary Mind, S. 2f., Übersetzung K.-H.P.). Zu der Unterscheidung zwischen wen und bi siehe Yu: Distinctions. Unter ›dao‹ – wörtlich ›Weg‹ – wird in China sowohl (im daoistischen Sinne) der unergründliche Seinsgrund der spontan (von selbst) wirkenden Natur als auch (im konfuzianischen Sinne) der von einem nach ethisch-moralischen Gesichtspunkten wirkenden Himmel ausgehende und von den Weisen dem Menschen vermittelte ethischmoralische ›Weg‹ des Menschen verstanden. Shih: Literary Mind, S. 7 (Übersetzung K.-H.P.).
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Im ersten Kapitel »Vom Ursprung, dem Dao« (Yuan dao) behandelt Liu Xie den Ausgangspunkt der Literatur in kosmologischem Sinne. Hier spielt er mit den verschiedenen Bedeutungen des Zeichens ›wen‹ (als ›Muster/Gestalt‹, ›Kultur/Zivilisation‹ und ›Literatur‹) und trifft folgende Analogie: Einerseits ist wen (verstanden als Muster) die Gestalt der Natur; so betrachtet er nämlich die Bilder des Himmels, das sind Sonne, Mond und Sterne sowie die Formen der Erde, nämlich Berge und Gewässer, als »Gestalt des Dao« (dao zhi wen). Andrerseits ist wen (als Literatur) der zu Gestalt/Form gewordene menschliche Geist (xin). Die Natur bietet sich ganz »von selbst« (ziran) in vollkommenen Formen dar, z.B. in den Wolken am Himmel oder den Blumen auf der Erde. Diese sichtbaren Formen nennt er »Zeichen« (zhang); daneben gibt es auch hörbare Muster, wie wenn ein Bach über Felsen fließt, welche er wiederum mit ›wen‹ bezeichnet. (Diesem Wortspiel liegt auch ein Literaturbegriff zugrunde: Das Kompositum ›wenzhang‹ – als Zusammenfügung der beiden sichtbaren und hörbaren Muster – war und ist eine gängige chinesische Bezeichnung für literarische Werke.) Wenn nun, so fragt er, die natürlichen Dinge, die kein Bewusstsein haben, sich in solch vollkommener Gestalt darstellen, wie könnte dann diejenige Kreatur, die mit Geist (xin) versehen ist – der Mensch –, nicht auch eine eigene Ausdrucksform haben. So stellt Liu in diesem ersten Kapitel die These auf, dass Literatur (wen) das geordnete Muster (wen) des menschlichen Geistes – vermittelt durch die Sprache – sei: »Wenn es Geist gibt, so gibt es Sprache; wenn es Sprache gibt, so gibt es Literatur.«26 Letztlich versteht er aber ›wen‹ in einem noch weiteren Sinne, nämlich in seiner dritten Bedeutung als die auf die menschliche Gesellschaft wirkende ›kultivierende‹ ›Lehre der Weisen des Altertums‹, insbesondere die des Konfuzius. So sagt er: Das Dao kommt zu uns durch die Weisen als wen [Kultur und Literatur], und die Weisen benutzen wen [als Literatur, nämlich als Schriften der Klassiker], um das Dao zu erhellen.27
Somit haben wir hier eine großartige, das Universum, den Menschen und die Weisen umfassende Analogie, dabei aber auch eine Sublimierung von wen als höchstes gestaltendes Prinzip des Kosmos und des Menschen. Literatur, oder besser wen in all seinen Manifestationen und Bedeutungen, ist für Liu Xie nichts weniger als die Gestaltwerdung eines im Universum angelegten kosmischen Ordnungsprinzips, das sich in den konfuzianischen Klassikern offenbart. Deshalb heißt es am Anfang des Kapitels: »Wahr-
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Ebd., S. 13 (Übersetzung K.-H.P.). Ebd., S. 19 (Übersetzung K.-H.P.).
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haft groß ist wen [Literatur/Muster/Kultur] als Wirkkraft [de]; es [wen] ist mit Himmel und Erde zusammen geboren.«28 In der weiteren Abfolge der fünf kanonischen »Schlüsselkapitel« ist es bemerkenswert, dass nach den Kapiteln über die Weisen (Kapitel 2), die Klassiker (Kapitel 3) und die Apokryphen (Kapitel 4), wenn auch an fünfter und letzter Stelle, das Lisao des Qu Yuan auftaucht, und zwar mit dem Hinweis, dass die Literatur durch dieses Werk eine entscheidende Veränderung (bian) erfahren habe. Das Besondere am Lisao ist für Liu eine Qualität, die er »originell« oder »ungewöhnlich« (qi) nennt und die durchaus einen wichtigen Stellenwert in seiner Rangordnung hat.29 An dieser eminenten Stellung des Lisao, nämlich als Gegenstand des fünften Schlüsselkapitels (womit es in der gleichen Gruppe wie die Klassiker steht, und noch vor dem shi-Gedicht als erster der darauf folgenden Gattungen rangiert), mag man die Faszination erkennen, die seinerzeit von dieser Neuerung in der chinesischen Literatur ausgegangen ist. Mit anderen Worten, wie sehr auch Liu Xie die Literatur (wen) in seinen Anfangskapiteln konfuzianisch verortet und dabei von einer unveränderbaren und mit den Klassikern beginnenden ideologischen Tradition ausgeht, aus seinen weiteren Erörterungen geht hervor, dass er dem eigentlich Literarischen – der Dichtung und ihren stilistischen und formalen Veränderungen – ebenfalls einen hohen Stellenwert beimisst. Als letztes – und autoritativstes – der Werke aus dieser formativen Phase der chinesischen Literaturgeschichte ist auf die so genannte Literarische Anthologie (Wenxuan) einzugehen, die von Xiao Tong (501-531) etwa zeitgleich mit dem letztgenannten Werk zusammengestellt wurde.30 Diese Anthologie ist rezeptionsgeschichtlich weit bedeutender als Liu Xies Der literarische Geist, da es gleichsam bis zum Beginn der Moderne die Muster lieferte, an denen sich der ›literarische Geist‹ der chinesischen Literatenbeamten schulte. Die darin enthaltenen Werke der Dichtung und Prosa hatten nämlich die späteren Literaten in der Regel für ihre Prüfungen vollständig auswendig gelernt. Bemerkenswert ist zunächst, dass in Xiao Tongs Anthologie weder die konfuzianischen Klassiker noch die Schriften der Philosophen aufgenommen sind, und zwar mit der Begründung, dass diese zwar ungeheuer wichtig seien, um bleibende und orthodoxe Ideen zu vermitteln, dass sie jedoch nicht auf der Basis »literarisch gestaltender Fähigkeiten« entstanden seien (bu yi neng wen wei ben).31 Ebenso schließt er _____________ 28 29 30 31
Ebd., S. 13 (Übersetzung K.-H.P.). Ebd., S. 53 (Übersetzung K.-H.P.). Zur Übersetzung der darin enthaltenen Werke siehe von Zach: Anthologie; zum Vorwort siehe (mit chinesischem Original) Wong: Literary Criticism, S. 149ff., und Hightower: Wen Hsüan. Wong: Literary Criticism, S. 153 (Übersetzung K.-H.P.).
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Geschichtswerke aus, da diese sich lediglich mit »Lob und Tadel von richtig und falsch« (baobian shifei) und mit dem Berichten von Ereignissen beschäftigten. Stattdessen finden sich in seiner Anthologie, angefangen mit den Rhapsodien (fu), shi-Gedichten, yuefu-Balladen und sao-Elegien (aus den Gesängen von Chu, so Qu Yuans Elegie Begegnung mit dem Leid – Lisao), ca. 30 unterschiedliche Gattungen an Prosa, also auch verschiedene Arten von ›Gebrauchsprosa‹ (bi). Wie man sieht, entspricht die Reihenfolge in etwa der Gewichtung der zuletzt vorgestellten Werke (lediglich mit der Umstellung, dass bei Xiao Tong die Rhapsodie vor dem shi-Gedicht rangiert). Xiao Tongs Aufnahmekriterien für die Sammlung sind für ein Literaturverständnis wichtig: Es soll sich vor allem um »abgeschlossene Werke« (pian zhang oder pian han) in »erlesener Sprache« (ci cai) bzw. mit »Form und Schmuck« (wen hua) handeln.32 Mit diesen Kriterien – und mit der einhergehenden autoritativen Auswahl an Werken – wurde das chinesische Verständnis von Literatur (wen) bis zum Beginn des 20. Jahrhundert geprägt. Die darin enthaltenen Gattungen und Formen blieben bis zum Ende der Kaiserzeit formativ. 5. Die Stellung der Dichtung In der Tang-Zeit (7.-10. Jahrhundert) sollte die Dichtung noch mehr an Gewicht gewinnen. Vor allem wurde das Regelgedicht (lüshi) populär, das sich durch ein hohes Maß an Vorschriften für die formale Gestaltung auszeichnet. Darin ist die Anzahl der Zeilen festgelegt auf acht, die der Zeichen pro Zeile auf jeweils fünf oder sieben (mit einer Zäsur hinter dem zweiten bzw. vierten Zeichen). Kein Zeichen darf zweimal erscheinen; grammatische Hilfswörter, so genannte leere Zeichen, sind zu vermeiden. Reim ist obligatorisch. Antithetische Parallelführung der Glieder ist vorgeschrieben für die dritte und vierte sowie für die fünfte und sechste Zeile. Schließlich muss jedes Zeichen einem Tonschema von alternierenden ebenen und unebenen Tönen folgen, wobei durch ein ausgeklügeltes Kompensationssystem Verstöße an der einen Stelle durch entsprechende Veränderungen an einer anderen wieder ausgeglichen werden können. Auf diese Weise kommt es zu einer regelhaften, doch musikalisch abwechslungsreichen Abfolge der Worte.33 Das Regelgedicht, in welchem diese Merkmale anzutreffen sind, war seinerzeit das allermodernste – man nannte es ›Gedicht im neuen Stil‹ (jin ti shi); es hat sich bis in unsere Moderne als beliebte Form erhalten. _____________ 32 33
Ebd. (Übersetzung K.-H.P.). Siehe ausführlicher Kubin: Dichtkunst, sowie Pohl: Ästhetik, S. 151ff.
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Allerdings bewegten sich die großen Dichter der Tang-Zeit trotz der vielen Vorschriften und Verbote in der neuen Form so natürlich und frei, als hätte es für sie keinerlei Einschränkungen gegeben. Insbesondere Du Fu (712-770) wurde zum Meister des Regelgedichts. Li Bai (699-762, auch hierzulande als Li T’ai-po bekannt) zog weniger strenge Formen vor, so etwa das ebenfalls populäre ›Gedicht im alten Stil‹ (gu ti shi). Die beiden Dichter stehen zudem stellvertretend für zwei unterschiedliche Ausgangspositionen: Du Fu ist der konfuzianisch orientierte, sich um Volk und Land sorgende Poet, aus dessen regelhaften Gedichten sich für die Nachwelt Regeln ableiten und erlernen lassen. Li Bai hingegen, der Typus des daoistischen, ungebundenen Künstlergenies, lässt sich nur bewundern – die Natürlichkeit seiner Werke ist unnachahmlich. Nicht nur aufgrund dieser herausragenden Poeten wurde quer durch die ganze chinesische Literaturgeschichte hindurch Dichtung meist als Spiegel der Persönlichkeit bzw. eines im konfuzianischen Sinne kultivierten Charakters gelesen und geschätzt; so heißt ein zeitlos gültiges Diktum: ›Dichtung ist wie der Mensch‹ (shi ru qi ren). Durch die Werke dieser und anderer Dichtergrößen in der Tang-Zeit stieg die Dichtung nun zu einem neuen ästhetischen Paradigma auf. Mehr noch als die konfuzianischen Klassiker oder die kanonischen Geschichtswerke wurde sie schulbildend und zum Kulturträger. Dichtung wurde zum Inbegriff von Literatur. Ab der Tang-Zeit gesellten sich im lyrischen Bereich noch neue Formen hinzu wie das ci-Lied, welches aus Innerasien kommend in den Singmädchenmilieus der Hauptstadt gepflegt und heimisch wurde. Von diesem Ursprung her hatte das ci-Lied inhaltlich eher den Ruf des ›Unseriösen‹. Formal steht es den yuefu-Balladen nahe, denn anders als bei den in der Zeilenlänge streng geregelten shi-Gedichten finden wir im ci-Lied Strophen und Zeilen mit unterschiedlicher Länge.34 Da die ursprünglichen Melodien in der Song-Zeit (10.-13. Jahrhundert) bereits verloren gegangen waren, wurde im späteren Verlauf lediglich das formale Gerüst, d.h. die Zeilen- und Strophenlängen sowie die Tonmuster, überliefert, welches als ›Melodie‹ (cipai) bezeichnet und in Veröffentlichungen zusammen mit dem Titel des Liedes genannt wurde. An derartigen ›Melodien‹, deren formale Besonderheiten man in Handbüchern festhielt und tradierte, gab es einige hundert. Das ci-Lied sollte dann in der auf die Tang- folgenden Song-Zeit zur Blüte gelangen, wurde aber ebenfalls bis in die Moderne weiter gepflegt.
_____________ 34
Allerdings besitzen die ci-Lieder ein geregeltes Tonmuster, was sie wiederum dem Regelgedicht der Tang-Zeit vergleichbar macht.
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6. Fiktionale Literatur und Theater (Singspiel) Nun findet sich auch in China eine Fülle an Literatur, die über diesen engen Rahmen von Dichtung und staatstragender Prosa hinausgeht, wie z.B. erzählende Prosa (in Schrift- und in Umgangssprache) sowie Singspiel, buddhistische und daoistische Literatur und anderes mehr. Von diesen sei noch kurz auf die fiktionale Prosa und das Singspiel eingegangen. Erzählungen35 gab es im Stile von ›Aufzeichnungen von Ungewöhnlichem‹ (zhiguai) in der Zeit zwischen Han- und Tang-Dynastie (3.-7. Jahrhundert). Diese frühe schriftsprachliche (und meist sehr kurze) Erzählliteratur war deutlich angelehnt an die etablierte Geschichtsschreibung. So sind derartige Werke meist als eine Art ›inoffizieller Geschichte‹ (waishi) entstanden, besitzen daher von ihrem Aufbau her viele Züge von geschichtlichen Aufzeichnungen. Und so lässt sich überhaupt in China eine enge Beziehung zwischen fiktionaler Prosa und Historiographie feststellen. Diese fiktionalen schriftsprachlichen Erzählungen erlebten einen Aufschwung in der Tang-Zeit als so genannte ›Überlieferung von Merkwürdigkeiten‹ (chuanqi). Ab der Song-Zeit und vor allem in der Ming-Zeit (14.-17. Jahrhundert) blühte die städtische Kultur auf; damit gingen Neuerungen auf dem Gebiet der Literatur einher, indem nämlich eine Erzählliteratur – umgangssprachliche Romane und Sammlungen von Novellen (huaben und pinghua) – aufkamen, wobei letztere vor allem auf das Wirken von Feng Menglong (1574-1645) als Sammler und Autor zurückgehen. Die Ming-Zeit brachte vier große Romane (xiaoshuo) hervor,36 deren Autorschaft allerdings zweifelhaft ist und deren literarischer Wert seinerzeit nur am Rande Gegenstand ästhetischer Erwägungen und Erörterungen war.37 Man muss auch beachten, dass trotz des weitgehend umgangsprachlichen Idioms in diesen heute als ›Kapitelromane‹ (zhanghui xiaoshuo) bezeichneten Werken die Diktion immer noch ein Gemisch aus Schrift- und Umgangssprache darstellt (allein auch aufgrund der häufigen Einsprengsel von Gedichten), d.h. ohne Grundkenntnisse im klassischen Chinesisch sind auch diese ›umgangssprachlichen‹ Werke nicht zu verstehen. Damals wurden sie aufgrund ihrer ›niederen‹ sprachlichen Qualität kaum beachtet (sie lassen formal noch ganz die Tradition der Geschichtenerzähler erkennen, indem am _____________ 35 36
37
Siehe Motsch: Erzählung, sowie Hegel: Fiction. Wu Cheng’en (zugeschrieben; ca. 1506 bis ca. 1582): Xiyou ji (Die Reise nach dem Westen); Luo Guanzhong (zugeschrieben; ca. 1330-1400), Sanguo yanyi (Geschichte der Drei Reiche); Jinpingmei (Pflaumenblüte in goldener Vase); Shuihu zhuan (Überlieferung aus den Sumpfgebieten bzw. bekannt in deutscher Übersetzung als Die Räuber vom Liangshan Moor). Siehe Hsia: Roman; Zimmer: Roman. Siehe Rolston: Novel.
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Ende eines Kapitels häufig die stereotype Wendung erscheint: ›Will man wissen, wie es weiter geht, so lese man das nächste Kapitel‹); heute werden diese Romane jedoch als Meilensteine einer autochthonen Erzähltradition gefeiert. In der darauf folgenden Qing-Zeit (17.-20. Jahrhundert) kamen noch zwei wichtige Romane dazu: Die inoffizielle Geschichte aus dem Gelehrtenwald (Rulin waishi) von Wu Jingzi (1701-1754) und der am höchsten geschätzte Roman des vormodernen China, Der Traum der roten Kammer (Hongloumeng), von Cao Xueqin (1715-1763).38 Letzteres Werk ist höchst bedeutend geworden, und zwar nicht nur wegen der gekonnten psychologischen Charakterisierung der zahllosen Figuren, sondern auch und gerade, weil in diesem Werk die ganze ästhetische Sensibilität der gebildeten Schicht zum Tragen kommt. Darüber hinaus enthält das Buch zahlreiche Gedichte sowie eine Fülle von versteckten Wortspielen, die sich z.B. häufig in den Namen verbergen und die sich meist erst beim nochmaligen Lesen offenbaren. Ideologisch vereint das Buch Konfuzianisches mit Daoistischem und Buddhistischem, wobei der Akzent durchaus auf letzterem liegt, nämlich in dem Kunstgriff, durch die Beschreibung der Fülle des Lebens (und seiner Lüste) deren illusionäre – leere – Natur zu offenbaren. Da das Buch auch voller Magie ist, steht es ganz in der Tradition der ›Überlieferungen von Merkwürdigkeiten‹. Ein Charakteristikum chinesischer Erzählliteratur (im deutlichen Unterschied zu der zum Realismus tendierenden europäischen Tradition), ist ohnehin, dass das Übernatürliche (und der unglaubliche Zufall) eine meist wesentliche Rolle spielt. Gleiches gilt für das Singspiel (zaju), das sich erst in der Mongolenzeit (Yuan-Dynastie, 13.-14. Jahrhundert) herausbildete.39 Hier finden sich auch Stoffe (z.B. Heldengeschichten), die in den Geschichtswerken überliefert sind. Wichtig zum Verständnis des chinesischen Singspiels ist jedoch der ausgeklügelte Formen- und Regelreichtum. In seiner Blütezeit (der Yuan-Dynastie) gab es – ähnlich zum Regelgedicht – eine Fülle an Vorschriften, die zu beachten waren, so dass der Theatergenuss seinerzeit nicht als jedermanns Sache bezeichnet werden kann. Man geht davon aus, dass diese Fülle an Regeln dazu beitrug, dass das yuan-zeitliche Singspiel in seiner ursprünglichen Form nicht überlebte. In der darauf folgenden _____________ 38
39
Auf Deutsch lag bis vor Kurzem nur eine stark gekürzte Fassung von Franz Kuhn vor: Cao: Traum. Inzwischen sind zwei von insgesamt drei Bänden einer von Rainer Schwarz erstellten vollständigen deutschen Übersetzung erschienen (wobei der Name des Autors in einer inzwischen obsoleten Umschrift als Tsau Hsüä-tjin angegeben wird): Cao: Traum. Siehe auch die vollständige englische Übersetzung mit dem alternativen Titel Geschichte eines Steins (Shitouji) von David Hawks und John Minford (Cao: Stone). Siehe den Überblicksartikel »Drama« von Stephen H. West.
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Ming-Zeit kam es vor allem im Süden Chinas zu einfacheren Formen. Die Peking-Oper (jingju) von heute hat allerdings noch viele Elemente aus dem ursprünglichen Singspiel bewahrt.40 Auch verselbständigte sich die Form der Arien aus den Singspielen, ähnlich wie dies bereits bei den ci-Liedern geschehen war. So gesellte sich der Lyrik ab der Yuan-Zeit noch die quArie als letzte Gattung hinzu. Erzählungen, Romane und Singspiel galten jedoch bis in die Moderne hinein nicht als hohe Literatur; es gab nur vereinzelt Versuche, diese ›niedere‹ Tradition aufzuwerten, so z.B. von dem unorthodoxen Literaten Li Zhi (1527-1602) am Ende der Ming-Zeit sowie von Jin Shengtan (1610 bis 1661) am Anfang der Qing-Zeit.41 Jedoch wird gerade im Scheitern derartiger Versuche deutlich, wie fest gegründet die Tradition (mit ihren Vorlieben zum shi-Gedicht und der klassischen Prosa) war. Erst die Moderne sollte hier eine Änderung bewirken, wobei diese auch mit einer Aufwertung unorthodoxer Figuren wie der des Li Zhi einherging. 7. Die vier Abteilungen der chinesischen Bibliothek Um einem chinesischen Literaturbegriff näher zu kommen, wäre schließlich ein Blick auf das traditionelle Klassifizierungsschema der chinesischen Bibliothek zu richten. Seit der Han-Zeit (konkret etwa ab der Zeitenwende) gab es ein Klassifizierungsschema nach sieben Kategorien, das sich in der Folge bis zur Tang-Zeit (7.-10. Jahrhundert) auf vier reduzierte und bis in die Moderne verwandt wurde. Diese ›Vier Abteilungen‹ (sibu) bilden auch die Grundlage für das größte Kompilierungsprojekt in der chinesischen Literaturgeschichte: die Sammlung der Vollständigen Bücher der vier Schatzkammern (Siku quanshu), die von 1773-1782 unter dem qing-zeitlichen Qianlong-Kaiser (Regierungszeit 1736-1796) stattfand. Diese Vier Schatzkammern beinhalten in ihrer hierarchischen Reihenfolge: 1. 2. 3. 4.
Konfuzianische Klassiker (jing); Geschichtswerke (shi); Schriften der verschiedenen Philosophenschulen (zi); (schöngeistig-literarische) Sammlungen (ji).
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Bertolt Brecht hatte Aufführungen davon mit dem berühmten Schauspieler Mei Lanfang zu sehen bekommen, und man darf davon ausgehen, dass gewisse von ihm eingeführte Stilelemente (z.B. der Verfremdungseffekt – das Durchbrechen der Illusion des Theaters) auch von der chinesischen Theatertradition inspiriert waren. Zu Li Zhi gibt es eine Fülle an Literatur; siehe einführend dazu Pohl: Ästhetik, S. 321ff. Zu Jin Shengtan siehe Rolston: Novel.
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Aus diesem Klassifizierungsschema ergibt sich bereits ein deutliches Prioritätsgefälle: Von größter Wichtigkeit war eine Beschäftigung mit den konfuzianischen Klassikern und den Geschichtswerken; letztere wurden (ab der Han-Zeit) nach einem relativ gleichbleibenden Muster für jede Dynastie angefertigt. Als die so genannten Fünfundzwanzig Dynastiegeschichten gelten sie weltweit als wohl umfassendste Geschichtsschreibung eines Landes über den Zeitraum von zwei Jahrtausenden. Ein Blick in die vierte Abteilung würde somit am ehesten eine Antwort auf die Frage ergeben, was institutionell als Literatur im eigentlichen Sinne – nämlich im Unterschied zu Kommentaren zu Klassikern, Geschichtswerken und philosophischen Erörterungen in den Schulen des Konfuzianismus oder Daoismus – verstanden wurde. Die vierte Abteilung besitzt fünf Untergruppen, und zwar wie folgt: 1. Die Gesänge von Chu (Chuci) (die Elegie Begegnung mit dem Leid – Lisao des Qu Yuan u.a.); 2. Sammlungen individueller Dichter (bie ji); 3. Anthologien (zong ji); 4. Kritik an Dichtung und Prosa (shi wen ping); 5. ci-Lieder und qu-Arien (ci qu). Das, was man heute als ›fiktionale‹ oder ›Erzählliteratur‹ (xiaoshuo) bezeichnet, ist in dieser vierten Abteilung nicht enthalten. Allerdings findet sich eine Untergruppe mit der Bezeichnung ›xiaoshuo‹ (wörtlich: ›kleines Gerede‹) als Nr. 12 der dritten Abteilung (»Schriften der verschiedenen Philosophenschulen«), und sie enthält Essays, Lexika sowie kürzere erzählerische Texte wie die ›Überlieferungen von Merkwürdigkeiten‹ (chuanqi). In der Moderne sollte ›xiaoshuo‹ die Bedeutung ›Roman‹ annehmen und zur wichtigsten literarischen Gattung werden. Für die Vormoderne deuten die Inhalte der vierten Abteilung jedoch auf eine vorrangige Stellung der Dichtung hin. So lässt sich bis hierher zusammenfassend Folgendes sagen: Einerseits finden wir im traditionellen China ein Literaturverständnis, das hauptsächlich vom lyrischen Gedicht (shi und ci) und dessen Anliegen eines persönlichen (Gefühls-)Ausdrucks geprägt ist. Gewisse Formen der Prosa (wen im engeren Sinne) spielen ebenfalls eine wichtige Rolle, jedoch nicht erzählende, fiktionale Prosa (xiaoshuo), sondern ›Reimprosa‹ (Rhapsodien – fu) und verschiedene im Literatenleben gebräuchliche Prosa:42 von Throneingaben bis zu Reiseberichten oder Briefen. Andererseits und in einem umfassenderen Verständnis hat ›wen‹ eine ähnliche Bedeutung wie der vormoderne europäische Literaturbegriff, ›wen‹ dient nämlich der Bezeich_____________ 42
Siehe Eggert / Kubin / Trauzettel / Zimmer: Prosa.
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nung von ›Schriftlichkeit‹ und der sich damit beschäftigenden Gelehrsamkeit. Dazu kommt noch die besondere Note, dass ›wen‹ mit seiner Bedeutungsnuance des ›Kulturellen‹ bzw. der ›kultivierenden‹ Wirkung auf eine Kulturtradition verweist, die auf Schriftlichkeit basiert und an deren Anfang die konfuzianischen Klassiker stehen. In diesem Zusammenhang besteht auch eine enge Beziehung zwischen Literatur und konfuzianischer Moral. So heißt es bereits in einer Passage aus den Gesprächen des Konfuzius: Ein junger Mensch soll in der Familie ehrfürchtig und gehorsam gegenüber den Eltern sein. Außerhaus begegne er den Menschen so, wie sich ein jüngerer Bruder gegenüber seinem älteren verhält, mit Achtung und Aufrichtigkeit; er sei durchdrungen von Liebe zu allen und eng mit dem Guten verbunden. Wenn ihm bei all dem noch Kraft bleibt, dann soll er die Schriften lernen (xue wen).43
Anders gesagt: Zuerst kommt die Moral, dann die Literatur. Allerdings schließt dies auch den Gedanken mit ein, dass Literatur (in umfassendem Sinne) als Ergänzung zur moralischen Kultivierung oder als Abrundung des gebildeten Menschen gesehen wurde. Interessant ist in dem KonfuziusZitat, dass das Wort ›die Schriften lernen‹ (bzw. ›sich den Schriften widmen‹: ›xue wen‹) in seiner umgekehrten Reihenfolge ›wenxue‹ (wörtlich: ›Lehre von den Schriften‹) im modernen Chinesisch zur Bezeichnung für Literatur – zum ›Literaturbegriff‹ – geworden ist. Ergänzt wurde diese Präferenz der Moral über die Literatur durch ein berühmt gewordenes Diktum des songzeitlichen Neokonfuzianers Zhou Dunyi (1017-1073), der autoritativ verlangte, »Literatur soll Trägerin des (konfuzianischen) ›Weges‹ sein« (wen yi zai dao).44 Da der Neokonfuzianismus für das letzte Jahrtausend die ideologische Orthodoxie bildete, hatte diese Forderung durchaus Gewicht. So lässt sich sagen, dass das traditionelle chinesische Literaturverständnis zwischen diesen beiden Polen – dichtendem Selbstausdruck und Bekundung staatstragender Moral – oszillierte bzw. beide Anliegen vereinte. 8. Das Literaturverständnis der chinesischen Moderne Einen Epochenbruch brachte in China weniger die Revolution von 1911 (mit der Abschaffung des Kaiserreichs und der Errichtung der Republik China) als vielmehr die so genannte 4.-Mai-Bewegung von 1919 (eigentlich eine Bewegung für eine neue Kultur, die von ca. 1915-1923 währte). Alarmiert durch die andauernden Tiefschläge seitens der imperialistisch und kolonialistisch vorgehenden europäischen Mächte in China wurde die _____________ 43 44
Kungfutse: Gespräche, S. 38 (Lunyu, 1.6). Chan: Source Book, S. 476.
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traditionelle konfuzianische Gesellschaftsordnung – inklusive ihrer literarischen Präferenzen – als Hauptschuldiger erkannt und auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Stattdessen machten sich europäische Lehren aller Couleur breit, nach der Oktoberrevolution in Russland vor allem der Marxismus. Im Verlauf der 4.-Mai-Bewegung wurde zunächst die klassische Schriftsprache als literarisches Idiom zugunsten der Umgangssprache abgeschafft und die traditionelle Literatur einer Neubewertung unterzogen; dabei stellte man die überlieferte Ordnung kurzerhand auf den Kopf, indem alles Umgangssprachliche und Fiktionale nach vorne gerückt wurde. Allerdings hielt der relativ schematische ›Kapitelroman‹ der chinesischen Vormoderne (mit Ausnahme des Traums der roten Kammer) einem Vergleich mit dem nun durch Übersetzungen entdeckten europäischen realistischen Roman nicht stand. Das westliche Importmodell verstand man als Motor gesellschaftlicher Veränderungen und führte es gleichsam als neuen literarischen Maßstab ein. Eine ähnliche Neuerung stellte das Sprechtheater dar, das es in dieser Form in China vorher nicht gegeben hatte. Man könnte den Epochenbruch zu Beginn des 20. Jahrhundert in etwa so charakterisieren, dass eine literarische Sensibilität, die an poetischen Kriterien geschult war, sich nun an literarischen Fremdkörpern – dem Roman bzw. der Erzählung sowie dem Drama – orientieren sollte. Weiter kennzeichnend für das moderne chinesische Literaturverständnis ist ein Merkmal, das bereits in der Verbindung von Literatur und konfuzianischer Lehre präfiguriert ist, nämlich eine enge Beziehung von Literatur und Politik. Mit der 4.-Mai-Bewegung sollte Literatur vor allem dazu dienen, politische und gesellschaftliche Zustände zu kritisieren und dementsprechend Veränderungen voranzutreiben. Durch das Vorgehen der Kolonialmächte in China, vor allem Japans (in Nachahmung des europäischen Imperialismus), sowie durch die Repressionen der damaligen Guomindang-Regierung unter Chiang Kai-shek gegen Kommunisten wurde diese Entwicklung nur weiter gefördert. So bildetet sich in den 1930er Jahren eine »Liga linker Schriftsteller« heraus (unter Führung von Lu Xun, dem wichtigsten Schriftsteller der chinesischen Moderne), die – trotz ihrer Verfolgung durch die Regierung – die Literaturszene beherrschte. In den von den Kommunisten beherrschten Gebieten (Yan’an) wurde auf dem denkwürdigen von Mao Tse-tung einberufenen »Forum über Literatur und Kunst« von 1942 der Literatur allerdings engere Zügel angelegt, als dies die Guomindang-Regierung je versuchte: Mao zufolge sollte die Literatur fortan – im Sinne von Lenin – als Rädchen und Schräubchen im revolutionären Räderwerk dienen. Da diese Ansichten mit der Gründung der Volksrepublik im Jahre 1949 zur neuen Orthodoxie wurden, wurde die Literatur fortan zu einer Magd der Politik.
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Bezeichnend für die Rolle der Literatur in der knapp 60-jährigen Geschichte der Volksrepublik China ist, dass die Kritik an einer in traditioneller Form gehaltenen Peking-Oper um eine historische Figur aus der Ming-Zeit, Hai Rui wird entlassen von Wu Han, im Jahre 1965 den Auftakt zur größten Katastrophe des modernen China bildete: der Kulturrevolution.45 Erst nach deren Ende und dem Tode Maos im Jahre 1976 beginnt sich wieder eine Literatur im eigentlichen Sinne zu formieren, wobei einerseits die Bewältigung der Wunden, die die Kulturrevolution geschlagen hatte, im Vordergrund steht, und man andererseits wieder versucht, wie in der 4.-Mai-Bewegung zuvor, an westliches Wissen und westliche literarische Entwicklungen anzuknüpfen. Inzwischen ist vom Modernismus über den magischen Realismus (eines Márquez) bis zur Postmoderne (inklusive Poststrukturalismus und Postkolonialismus und vieles mehr) fast alles Westliche rezipiert worden, allerdings ohne dass sich daraus ein neues und eigenes chinesisches Literaturverständnis gebildet hätte. Neueste Tendenzen ergeben ein ambivalentes Bild: Einerseits gewinnt man den Eindruck, dass man sich auch auf unterem Niveau dem Westen angleichen möchte. So fordern Schriftstellerinnen wie die auch bereits hier einschlägig bekannten Wei Hui und Mian Mian in Romanen gleichsam sex, drugs and rock ’n’ roll als universale Errungenschaften auch für China, oder, anders gesagt, hier wird Literatur in erster Linie als Tabubruch und damit vor allem als Verkaufsschlager gesehen – was gleichzeitig von ihren westlichen Verlegern als ›Stimme des jungen China‹ angepriesen wird.46 Andererseits versuchen Schriftsteller wie der inzwischen in Frankreich lebende (und in seiner Heimat politisch verfemte) Nobelpreisträger Gao Xingjian in seinem Buch Der Berg der Seele in einer faszinierenden Mischform von traditionellem Reisebericht, westlichem Bewusstseinsstrom und einer aus dem ZenBuddhismus stammenden Einstellung – dazu ganz unpolitisch – die im Verschwinden begriffene traditionelle chinesische Kultur zu erkunden. Die Dichtung als die in der Vormoderne zentrale Form hat durch Dichter _____________ 45
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In dem Stück werden in bewährter traditioneller Manier aktuelle Missstände (die Entlassung des Mao-kritischen Verteidigungsministers Peng Dehuai) durch das Herstellen einer Analogie zwischen gegenwärtiger und historischer Situation kritisiert. Die offene Kritik an dieser versteckten Kritik an Mao seitens Yao Wenyuan (eines Vertrauten von Maos Ehefrau Jiang Qing und Mitglied der so genannten ›Viererbande‹) im November 1965 leitete die Kulturrevolution ein. Der Sinologe und Dichter Wolfgang Kubin, Professor an der Universität Bonn, hat kürzlich die Meinung geäußert, die oben genannten zeitgenössischen chinesischen Autorinnen (Mian Mian, Wei Hui, Hong Ying u.a. ) hätten »Müll« geschrieben. Die Rückmeldung dieser Einlassung nach China (und deren nicht intendierte Interpretation als kritische Stellungnahme zur gesamten Gegenwartsliteratur Chinas) hat dort für Furore, zum größten Teil für lebhafte Zustimmung, gesorgt. Siehe Tatlow: Ties; siehe auch Kubin: Literatur.
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wie Bei Dao, Yang Lian u.a. auch wieder an Format gewonnen (die beiden Genannten leben inzwischen ebenfalls im Ausland), wobei jedoch Unterschiede zur modernen westlichen Lyrik allenfalls in der Bezugnahme auf gewisse traditionelle Elemente bestehen,47 ansonsten aber kaum mehr wahrnehmbar sind. Allerdings haben nicht wenige der heutigen Intellektuellen die Praxis des Gedichtschreibens in der klassischen Form des shiGedichts beibehalten. Es ist ein Dichten der besonderen Art, die – ähnlich wie das japanische Haiku – durch die Form eine Strenge und Disziplin vorgibt und die gerne noch als Herausforderung angenommen wird. Selbst der maßgebliche Schöpfer des modernen Prosagedichts (und symbolistischer Kurzgeschichten), der bereits erwähnte Lu Xun, hat für seine privatesten Gedanken und Äußerungen die Form des shi-Gedichts gewählt;48 und kein geringerer als Mao Tse-tung selbst dichtete gerne in der seinerzeit als ›feudal‹ verurteilten shi-Form, vor allem aber im Stil der ci-Lieder (seinem Volk hatte er gleichwohl das Dichten in der Umgangssprache verordnet).49 Ob diese Präferenz auf ein die Zeiten und deren Umbrüche überdauerndes Literaturverständnis hindeutet, ist jedoch eine andere Frage, deren Beantwortung hier auch nicht versucht werden soll. Bibliographie Bruckner, Pascal: Das Schluchzen des weißen Mannes. Berlin 1984. Cao, Xueqin: Der Traum der roten Kammer. Aus dem Chinesischen übertr. von Franz Kuhn. Leipzig 1941. Cao, Xueqin: The Story of the Stone. A Chinese Novel. 5 Bde. Übers. von David Hawkes und John Minford. Harmondsworth 1973-1987. Cao, Xueqin (Tsau Hsüä-tjin): Der Traum der roten Kammer oder die Geschichte vom Stein. 2 Bde. Aus dem Chinesischen übers. von Rainer Schwarz und Martin Woesler. Berlin 2006. Chan, Wing-tsit: A Source Book in Chinese Philosophy. Princeton 1963. Eggert, Marion / Wolfgang Kubin / Rolf Trauzettel / Thomas Zimmer: Die klassische chinesische Prosa. München 2004 (= Geschichte der chinesischen Literatur. Hg. von Wolfgang Kubin. Bd. 4). Gentz, Joachim: Zum Parallelismus in der chinesischen Literatur. In: Andreas Wagner (Hg.): Parallelismus Membrorum. Fribourg, Göttingen 2007, S. 241-269. Hegel, Robert E.: Traditional Chinese Fiction – The State of the Field. In: The Journal of Asian Studies 53/2 (1994), S. 394-426. Hightower, James R.: The Wen Hsüan and Genre Theory. In: Harvard Journal of Asiatic Studies 20 (1957), S. 512-533.
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Vor allem bei Yang Lian; siehe Yang: Pilgerfahrt. Lu: Gedichte. Pohl: Lyrik.
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Hsia, C. T.: Der klassische chinesische Roman. Aus dem Englischen übers. von Eike Schönfeld. Mit einem Nachwort vers. von Helmut Martin. Frankfurt/M. 1989. Kern, Martin: Ritual, Text, and the Formation of the Canon. Historical Transitions of Wen in Early China. In: T’oung Pao 87 (2001), S. 43-91. Kubin, Wolfgang: Die chinesische Dichtkunst. Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit. München 2002 (= Geschichte der chinesischen Literatur. Hg. von Wolfgang Kubin. Bd. 1). Kubin, Wolfgang: Die chinesische Literatur im 20. Jahrhundert. München 2005 (= Geschichte der chinesischen Literatur. Hg. von Wolfgang Kubin. Bd. 7). Kungfutse: Gespräche. Lun Yü. Aus dem Chinesischen übertr. und erläutert von Richard Wilhelm. Düsseldorf 1972. Lu, Xun: Kein Ort zum Schreiben – Gesammelte Gedichte. Aus dem Chinesischen von Egbert Baqué und Jürgen Theobaldy. Reinbek 1983. Miské, Ahmed Baba: Lettre ouverte aux elites du Tiers-Monde. Paris 1981. Motsch, Monika: Ezra Pound und China. Heidelberg 1976. Motsch, Monika: Die chinesische Erzählung. München 2003 (= Geschichte der chinesischen Literatur. Hg. von Wolfgang Kubin. Bd. 3). Pohl, Karl-Heinz: Mao Zedongs Lyrik: Form als Aussage. In: Thomas Heberer (Hg.): Mao Zedong – der unsterbliche Revolutionär? Hamburg 1995, S. 204-221. Pohl, Karl-Heinz: Ästhetik und Literaturtheorie in China. Von den Anfängen bis zur Moderne. München 2007 (= Geschichte der chinesischen Literatur. Hg. von Wolfgang Kubin. Bd. 5). Rolston, David L. (Hg.): How to Read the Chinese Novel. Princeton 1990. Shih, Vincent: The Literary Mind and the Carving of Dragons [zweisprachige Ausg.]. Hongkong 1983. Tatlow, Didi Kirsten: Ties That Blind. In: South China Morning Post, 21.01.2007, S. 5. The Songs of the South: An Ancient Chinese Anthology of Poems by Qu Yuan and Other Poets. Übers., ann. und eingel. von David Hawkes. Harmondsworth 1985. Tu, Ching-i: The Chinese Examination Essay. Some Literary Considerations. In: Monumenta Serica 31 (1974-1975), S. 400-415. Watson, Burton: Chinese Rhyme-Prose. New York 1971. West, Stephen H.: »Drama«. In: Nienhauser, William H.: The Indiana Companion to Traditional Chinese Literature. Vol. 1. Bloomington, 1986, S. 13-30. Wong, Siu-kit: Early Chinese Literary Criticism. Hg. und übers. von Siu-kit Wong. Mit einem Vorwort von David Hawkes. Hongkong 1983. Yang, Lian: Pilgerfahrt. Gedichte. Mit Illustrationen von Gan Shaocheng. Hg. von KarlHeinz Pohl. Innsbruck 1987. Yu, Pauline: Formal Distinctions in Chinese Literary Theory. In: Susan Bush / Christian Murck (Hg.): Theories of the Arts in China. Princeton 1985, S. 27-56. Zach, Erwin von: Die chinesische Anthologie. 2 Bde. Cambridge/Mass. 1958. Zimmer, Thomas: Der chinesische Roman der ausgehenden Kaiserzeit. 2 Teilbde. München 2002 (= Geschichte der chinesischen Literatur. Hg. von Wolfgang Kubin. Bd. 2).
NITEEN GUPTE
Zur Neubestimmung des Literarischen im Marathi-Schrifttum des 19. Jahrhunderts
Die in Marathi geschriebene Literatur Indiens sah sich im Laufe des 19. Jahrhunderts gezwungen, ihr Selbstverständnis als Literatur neu zu fassen. Die Errichtung der Kolonialherrschaft und die programmatische Einflussnahme der Kolonialregierung auf das literarische Leben wie auf das Kulturleben insgesamt, schließlich der erzwungene Umbau des Bildungswesens nach europäischem Vorbild drängten insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das literarische Schaffen in Marathi zu einer ›neuzeitlichen‹ (arvācin) Wende. In diesen Jahrzehnten entstand eine überaus rege Diskussion darüber, was Literatur denn sei, wie sie sich zur Tradition verhalte und wie neu Literatur überhaupt sein dürfe. Die Rekonstruktion dieser epochalen Neubestimmung des Literaturbegriffs in der Marathi-Literatur ist Gegenstand meiner Untersuchung. Sie zeigt insbesondere die Ablösung des religiösen Paradigmas durch die Forderung nach idealistischem und idealisierendem Verständnis von Literatur. Die Anfänge des kolonialen Zeitalters liegen zwar in einer weit früheren Zeit als dem 19. Jahrhundert, wenn man die Ankunft des Vasco da Gama an der südindischen Küste im Jahre 1498 als Zeichen eines neu anbrechenden Zeitabschnittes in der indischen Geschichte ansieht. Doch verbreitete sich das kolonial geprägte Gedankengut im Westen Indiens erst nach der politischen Niederlage der Peśvā flächendeckend. Gerade im 17. Jahrhundert hatte der Marathi-Sprachraum noch mit dem heldenhaften Auftreten des Śivājī Bhosle (1627-1680) sein Machtstreben behauptet, um dann im 18. Jahrhundert unter der Peśvā-Herrschaft (1749-1818) ein wichtiger Spieler auf der gesamtindischen Bühne der Politik zu werden. Mit der Auflösung des Peśvā-Hofes in Pune durch die East India Company 1818 beginnt die ›moderne‹, neuzeitliche Geschichte Indiens, als politische wie als litera-
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rische.1 Zieht man das europäische Begriffsinstrumentarium heran, so wird unter der Moderne vor allem die Säkularisierung der Politik und Gesellschaftsordnung Indiens verstanden. Insbesondere die Reformierung der Hindu-Religion unter dem Einfluss des monotheistischen Christentums wie auch der säkularen Gedankenwelt (die Hindu-Reformation), die Herausbildung bürgerlicher Werte im Sinne des Merkantilismus sowie im Sinne der Freiheitsideale der Französischen Revolution (die indische Aufklärung), die Wiederentdeckung der altindischen (Sanskrit-)Schriften und Ästhetik (die indische Renaissance) und die gleichzeitige Rezeption der damals aktuellen ästhetischen und politischen Tendenzen im westlichen Europa, vor allem in England, haben Indien nachhaltig verändert. Das hatte auch Folgen für die Literatur. Unter dem Vorzeichen der Verbürgerlichung der marathisprachigen Gesellschaft wandelte sich der Begriff des Literarischen und des Künstlerischen. I. Die Marathi-Literatur hatte vor ihrer erzwungenen Modernisierung eine mehr als 500-jährige Geschichte. Als erster Höhepunkt der Marathi-Literatur gilt das Zeitalter der Yādav-Dynastie (auch Yadava) zwischen 1189 und 1310. Die so genannten Mahānubhāv-Dichter dieser Epoche dichteten vorwiegend nach dem Vorbild der älteren Sanskrit-Epen (Mahākāvya) und orientierten sich an deren impliziter Poetik. Zentraler Begriff der älteren, impliziten Bestimmung vor dem Aufkommen der neueren Marathi-Literatur ist der Begriff ›rasa‹. Das meint vor allem die Auffassung, die Komposition der Einzelelemente sei auf das Hervorrufen einer bestimmten Empfindung beim Publikum ausgerichtet. In seinem Rukminī-swayamvar (Ovī 21-27) nennt der Autor Narendra (ca. 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts) den für ihn vorbildlichen Dichter einen ›Rasa-Dichter‹. Damit meint er, ›Dichtung sei mit rasa beseelte Sätze‹ (vākyam rasātmakam kāvyam), d.h. zum Genuss der Gelehrte bestimmt, die in der Rasa-Theorie bewandert sind (rasadolas). Jedoch kritisierte bereits sein Zeitgenosse Bhāve Devavyās (auch Bāīdevbās, spätes 13. bis frühes 14. Jahrhundert) Narendas Dichtung. Sie ziele auf sinnlich-erotische Empfindungen bei ihren Lesern ab und sei mit einer damals konventionellen Ornamentik aus der Tradition der Sanskrit-Poetiken abgefasst. Li-
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Va. Di. Kulkarnī teilt die Geschichte der Marathi-Literatur ein in prācīn (alt, 1200-1820), arvācīn (modern, 1820-1945), ādhunik oder nava (neu, ab 1945), vgl. Kulkarnī, Marāthī Sāhitya, S. 15.
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teratur müsse aber eher auf das Jenseits (nivruttīpar) statt auf das Diesseits bezogen (lhādaikamaya) sein.2 Religion als neue Funktionsbestimmung von Literatur ist für die Ablösung der Marathi-Literatur von den Sanskrit-Vorbildern charakteristisch. Die unter dem religiösen Vorzeichen entstandenen Marathi-Werke aus der YādavPeriode des 12. Jahrhunderts gehören insofern zu Pionierarbeiten der auf dem indischen Subkontinent überregional verbreiteten Bhaktī-Bewegung. Diese verstand Philosophie, den (hinduistisch) religiösen Glauben und die Dichtkunst als eine Einheit. So ist für Jñānadeva (auch Jñāneśvar, 1275-1296), der mit seinem Kommentar zur »Bhagavatgītā«, Jñāneśvarī (auch Jñānadevī, Göttin des Wissens, 1290) das wohl bekannteste Werk auf Altmarathi geschrieben hat, das sprachgeschichtlich der Bedeutung der Lutherschen Bibel entspricht, die Dichtung ›arūpāce rūpa‹, das heißt Gestalt des Gestaltlosen. Die Dichtung gebe dem Formlosen eine Form, sie bringe den Sinnen das Übersinnliche bei. Diese damals neue Literatur, auch Santa-Literatur, Dichtung der Dichterheiligen genannt, suchte einen unmittelbaren, mystischen Zugang zum Gott und auch einen unmittelbaren Ausdruck des Inneren. Sie spricht das gemeine Volk in seiner eigenen Sprache an und entledigte die Literatur dem Stilideal einer Verfeinerung im Sinne einer Verkünstelung der Diktion. Die historische Bedeutung dieser Bhaktī-Literatur besteht darin, dass sie sich bis heute einer großen Beliebtheit als volkstümliche Literatur erfreut und zugleich als eine Norm der gelehrten Literatur gilt. Neben diesem sehr früh schon kanonisierten Teil der Marathi-Literatur gehören zu ihrer Tradition bis weit ins 19. Jahrhundert hinein auch andere Formen: die Gelehrtendichtung (Panta-Literatur), die sich enger am Vorbild der Sanskrit-Poetik als die übrige Marathi-Literatur hält, sowie die weltlichen und volkstümlichen Gattungen wie Bakhar (historische und biographische Prosa), Povādā (Heldenlied), Tamāśā (Volkstheater) und im Ovī-Metrum verfasste Lyrik und andere Kleinformen.3 II. Vor diesem literaturhistorischen Hintergrund und den Kanonisierungsprozessen der Marathi-Literatur setzt im 19. Jahrhundert als eine unmittelbare Auswirkung der kolonialen Kulturpolitik die Moderne auch in der Literatur ein. Neben der kulturpolitischen Einflussnahme seitens der neuen Machthaber und der religiösen, philosophischen und ideologischen Herausforde_____________ 2 3
Ebd., S. 16. Eine systematische und detaillierte Klassifikation der Gattungen der AltmarathiLiteratur nimmt Kulkarnī vor, ebd., S. 193.
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rung der christlichen Missionare spielte hier auch die Einführung und Verbreitung der Technik des Buchdrucks mit beweglichen Schriftzeichen eine wesentliche Rolle im Prozess der Modernisierung; auch die drucktechnische Errungenschaft ist teilweise auf christliche Missionare und die programmatische Förderung des Buchwesens durch die Kolonialpolitik zurückzuführen, aber auch auf den freien Unternehmergeist und zunehmend gegen Ende des 19. Jahrhunderts dann auch auf die nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen, welche die Macht des neuen Mediums für eigene Zwecke in Anspruch nahmen. Die fast tausendjährige literarische und ästhetische Tradition in Marathi kam damit selbstredend nicht zum Erliegen, obgleich die politische Übernahme der städtischen Machtzentren im westlichen Maharashtra, gerade auch in Städten wie Pune, radikal spürbar war. Vielmehr begann die Erneuerung der Literatur und ihrer ästhetischen Begründung, indem sich das Neue zunächst bewusst und betont auf das Fortleben des unmittelbar Vergangenen gestützt hat. Die neue Literatur war leicht zu erkennen. Sie war zunächst auf die Drucktechnik beschränkt, und dies war in einer Gesellschaft umso auffälliger, welche eine mündlich überlieferte Literaturtradition bis ins 19. Jahrhundert gepflegt hatte. Die Alphabetisierung war bis dahin ein Privileg, geschützt durch religiöse Sanktionen. Die Akzeptanz und Verbreitung des neuen Kommunikationsmittels selbst nahm über ein halbes Jahrhundert in Anspruch; jedoch war bereits die frühe Kolonialisierung Bengalens in den 1780er Jahren und deren Auswirkungen auf andere Teile des indischen Subkontinents ein Präzedenzfall und dann das unmittelbare Vorbild für die bevorstehende Entwicklung auch in der Marathi-Literatur, die sich ab den 1880er Jahren rapide beschleunigen sollte. Die Umstellungen im Begriff und in der Ästhetik auch der Marathi-Literatur waren bald nicht mehr zu übersehen. Die Notwendigkeit einer Revision der Marathi-Ästhetik und der poetischen sowie poetologischen Begrifflichkeit entstand in der unmittelbaren Konfrontation mit der europäischen Ästhetik und der kolonialen Bildungspolitik. Ihr gegenüber galt es zunächst, die eigene Identität zu behaupten; was die Sprache und Literatur im Besonderen betraf, entstand die Notwendigkeit, Marathi als traditionsreiche und auch entwicklungs- und lebensfähige Kultursprache darzustellen und somit auch als zuverlässige und zulässige Unterrichtssprache in den neu gegründeten Schulen und Colleges zu erweisen, die europäisches Wissen vermitteln sollten. Dieses politische Ziel führte zum einen zur Wiederentdeckung der eigenen Tradition, zur so genannten Marathi-Renaissance. Dabei wurden die klassischen literarischen und poetologischen Texte aus dem Sanskrit aufgegriffen, und als direkte Vorbilder für die Poetik der Marathi-Literatur behauptet. Zum anderen entstanden Übersetzungen aus dem Englischen in Marathi von akademischen, wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Werken, dann
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auch Lehr- und Schulbüchern, die die europäische Wissens- und Wissenschaftstradition in die Volkssprache einführten. Dazu kamen literarische Texte mit ausdrücklich ›aufklärerischer‹ Zielsetzung, welche die gleiche ›NeuMarathi‹-Sprache und ihren Stil verwendeten, wie die akademischen oder populärwissenschaftlichen Lehrbücher. Der prozentual hohe Anteil der Übersetzungen aus dem Englischen beziehungsweise die Publikationen in einem anglisierten Marathi-Stil4 gab diesem Zeitalter schließlich die Epochenbezeichnung ›die Erste Englische‹ (Avval Ingrajī, 1800-1885). Sie wird in der englischsprachigen Literaturgeschichtsschreibung auch als die Vormoderne (pre-modern) bezeichnet. Diese Literatur legte zugleich den Grundstein für eine Theorie der Marathi-Literatur, die bis in die Gegenwart Gültigkeit hat. Der Zusammenhang mit diesen vielfach hybriden Vorläufern und ihren vor allem bildungspolitischen Funktionalisierungen wird jedoch in den literaturtheoretischen und -historischen Schriften bis heute meistens unterschätzt, weil diese ›vormoderne‹ Marathi-Literatur wegen ihrer starken Abhängigkeit von einer fremden Sprach-, Literatur- und Kulturtradition als ›unecht‹ und als ein ›Fremdkörper‹ abgetan wird. Mit diesen Entwicklungen wurde die Bestimmung der Literatur wesentlich ausgedehnt und bislang unbekannte Gattungen aufgenommen. III. Die literaturtheoretischen und -kritischen Schriften aus der Periode vor etwa 1880 unterteilen die Marathi-Literatur meist in ›traditionelle‹ und ›moderne‹. Die Bestimmung von Literatur verläuft hier entlang eines historischen Indexes. Die klassische altindische Literatur in Sanskrit und die seit dem 12. Jahrhundert entstandene Marathi-Literatur, die so genannte Santa- und Panta-Literatur, gelten danach als ›pārampārik‹ (traditionell). Entsprechend klassifizieren die Schul- und Lehrbücher, wie sie für den Literaturunterricht in der Schule und im universitären Bildungswesen damals vorgeschrieben waren, die ältere Literatur. Diese Literatur wird auch zur Auslegung der Werke der Dichterheiligen verbreitet, was einen wesentlichen Teil des populären hinduistisch-religiösen Diskurses (wie etwa des religiösen Gesangs Kirtan) ausmacht. Diese religiöse Funktion von Literatur unterscheidet sie von der zweiten Gruppe der literarischen Texte, die nach 1880 dezidiert als ›modern‹ aufgefasst werden. Dass sie meist nicht religiös und in ihrer Funktionalität typisch modern sind, ist charakteristisch für sie. Als ›modern‹ gelten _____________ 4
So heißt die erste umfangreiche Abhandlung über die Marathi-Literatur aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Datto Vāman Potdār bezeichnenderweise »Die englische Verkörperung der Marati-Prosa«: Potdār: Ingrajī avatār.
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etwa Kritiken und Rezensionen in Zeitschriften, aber auch literaturgeschichtliche Darstellungen der gedruckten (und nicht der mündlich tradierten) literarischen Werke, außerdem Theateraufführungen aus der neuen, ›modernen‹ (arvācin) Marathi-Literaturschule, Einführungen in die europäische, vor allem englischsprachige Literatur sowie Kommentare zu diesen Texten. Funktion und Kanonbezug sind hier die Unterscheidungskriterien. Die als traditionell geltenden literaturwissenschaftlichen Schriften und Kritiken dieser Jahrzehnte begründen die Normen der Sanskrit-Stilistik durch Rückbezug auf den Kanon, etwa durch Beispiele aus der Marathi-Dichtung oder, wenn anders nicht möglich, anhand von Beispielen aus der noch älteren Sanskrit-Literatur.5 ›Dichtung‹ umschreibt hier einen bereits bekannten Kanon von Werken und Autoren, die Santa- und Panta-Literatur aus der Marathi-Literatur und die klassischen Sanskrit-Schriften. Oft mit einer deutlich didaktischen Zielsetzung, als Handbücher für die Studenten,6 katalogisieren sie literarische und stilistische Merkmale und Kunstgriffe, wie sie bereits in älteren Sanskrit-Poetiken vorkommen. Der traditionelle Begriff der Literatur stützt sich in der Regel auf der Produktionsebene auf die jahrtausendealte Rasa-Theorie. Danach wird Literatur über ihre Wirkung definiert, genauer noch über die Stärke der affektiven Wirkung. Auf der Ebene der Rezeption soll die literarische Gestaltung ānanda (Freude, Zufriedenheit) erzeugen. Textinterne Merkmale dagegen fallen in der Diskussion um die Bestimmung der Literatur in diesen Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende weitgehend aus. Anders die literaturästhetischen Debatten um die neue Marathi-Literatur. Die Darstellungen der ›neuen‹ (arvācin) Druckwerke und die Besprechungen der neuen, sprich: fremdländischen literaturwissenschaftlichen Begriffe mussten sich intensiv um eine Neubestimmung des Literatur- und Kunstbegriffes bemühen. Die Diskussion wurde zu dieser Zeit nicht zufällig vorwiegend in Zeitschriften geführt.7 Anfangs arbeitete man mit einem umfassenden Literaturbegriff: Alle Druckwerke gehörten zur Literatur. So macht Govind Mahādev Rānade (1848-1901) keinen Unterschied zwischen Texten der schöngeistigen Literatur und Sachprosa in seinen systematischen Darstellungen der Marathi-Literatur seit dem Anfang des Marathi-Buch_____________ 5
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Die folgenden gelten als die wichtigsten Publikationen aus dieser Tradition: Pradhān, Dājī Śivājī: Rasamādhav, 1868; Lele, Ganeśśāstrī: Sāhityaśāstra, 1872; Mākode, Balvanta Kamalākar: Rasaprabodh, 1892; Bhāgvat, Rā. Rā: Alankārmīmānsā, 1893; Talekar, Rā. Bā.: Alankārdarpan, 1895; Gore, Ga. Mo.: Alankārcandrikā, 1905; Dādobā Pānduranga: Yaśodā-pāndurangī, 1865; Godbole, Parśurām Ballāl: Kekādarśa, 1867; Parāñjape, Śrī. Vi.: Kekāvalī-tīkā, 1897 u.a. U.a. Talekar: Alankārdarpan, Titelseite. Für die Liste der bedeutenden Zeitschriften vgl. Dadkar / Ganorkar / Dahāke / Bhatkal: Vānmaykoś, S. 108 (einführender Teil).
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druckes. Seine zwei Studien, 1864 und 1896 erschienen,8 sind literaturhistorische Pionierarbeiten zur modernen Marathi-Literatur und waren eine erste Bestandsaufnahme der in Marathi erschienen Bücher bis dato. Sie stellen die Bemühungen eines ›Vernaculars‹, eines Befürworters der indischen Regionalsprachen dar. Marathi war als literarische und Bildungssprache zu rechtfertigen. Das war damals eine Gegenposition zum Erlass Lord Macaulays, der in den 1830er Jahren Englisch zur Unterrichtssprache in den Schulen der Bombay Presidency verordnet hatte, aber auch zu den Indologen, die nur Sanskrit als einzige Kultursprache Indiens und als indisches Bildungsgut gelten lassen wollten. Der weite Literaturbegriff Rānades erhielt daher seine Kontur in den bildungspolitischen Auseinandersetzungen jener Zeit. Differenzierungen wurden aber bald in die Bestimmung der Literatur einbezogen. Literatur bezeichnete man mit dem umfassenden Begriff ›Sāhitya‹, so etwa in den literaturästhetischen Arbeiten von Viśvanāth Kāśīnāth Rājvāde (1863-1926), oder auch mit dem Begriff ›Vānmay‹, beispielsweise bei Śripād Krishna Kolhatkar (1871-1934). Beide Begriffe werden bis heute verwendet, wobei heute ›Sāhitya‹ eher das gesamte Schrifttum bezeichnet und ›Vānmay‹ die Belletristik. Damit wurden bislang nicht geläufige Unterscheidungen auf den Begriff gebracht. Beide Literaturtheoretiker, Rājvāde wie Kolhatkar, verwenden auch den Begriff ›Sārasvat‹ für die Belletristik, grenzen damit sehr genau die fiktionale Literatur von der übrigen ab. Viśnu Krishna Ciplunkar (1850-1882) wie auch Kolhatkar nannten die Belletristik auch ›Lalit‹ und alles andere ›Lalitetar‹. Auch das sind Begriffe, die bis heute gültig sind. Diese sehr europäische Unterscheidung gerade der schönen Literatur von der übrigen ist der traditionellen Klassifikation von Literatur dagegen fremd. Nur ist diese Unterscheidung nicht so wesentlich für die Bestimmung dessen, was Literatur ist, wie es vielleicht einem westlichen Blick erscheinen mag. Wichtiger ist die literatursoziologische Bestimmung von Literatur. Wofür und für wen ist eigentlich die Literatur geschrieben? Mahādev Moreśvar Kunte (1839-1888) hat mit seiner »Einleitung« zu seinem unvollständig gebliebenen epischen Gedicht Rājā Śivājī (1869-1871) zusammen mit Kāśīnāth Bālkrishna Marāthe (1844-1918) mit seinem Vortrag Nāval va nātak (Roman und Drama), den er 1872 vor Jñānaprasār Sabhā in Mumbai hielt,9 den Weg für eine moderne, an der englischen Poetik angelehnte Marathi-Literaturtheorie geebnet.10 Ihre Arbeiten haben selbst einen kanonischen Status erlangt und sind zugleich die ersten literaturtheoretischen Auseinandersetzungen mit der modernen, neuen Literatur von einem sich als _____________ 8 9 10
Ranade: Remarks; Ranade: Note. Marāthe: Nāval. U.a. Kulkarnī: Marāthī sāhitya, S. 23.
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modern verstehenden Standpunkt aus. Auffällig an ihnen ist die starke soziologische Bestimmung des Begriffs Literatur. Kunte fragt nach den Lesergruppen der Literatur und bestimmt über diese den Begriff der Literatur. Um diese Bestimmung der Literatur besser verstehen zu können, muss man wissen, dass Kunte selbst ein episches heroisches Gedicht über den Marāthen-Held Śivājī nach dem Vorbild von Miltons Paradise Lost in Marathi geschrieben hat, um es dem Volk zugänglich zu machen. Die Einleitung zu diesem Gedicht wurde jedoch auf Englisch verfasst. In dieser Einleitung versucht er, seine auf englische Muster gestützten Sprachexperimente (wie Verwendung des Blankverses) zu erklären und zu propagieren. In der Einleitung unterscheidet Kunte innerhalb des Marathi-Publikums der Zeit drei sich durch ihren jeweiligen Geschmack voneinander abgrenzende Gruppen: 1. traditionelle Gelehrte (śāstrī) und ihre Anhänger, 2. EnglischKenner und 3. andere, zu denen er vor allem die »Bildungslosen« zählt, die jedoch ihren eigentümlichen Geschmack pflegen.11 Die erste Gruppe lehnt er entschieden ab, denn ihr Geschmack, geschult an den poetischen Vorstellungen der Sanskrit-Literatur, sei künstlich und verkünstelt und messe den Äußerlichkeiten und Nebensächlichkeiten zuviel Bedeutung zu. Gemeint sind damit vor allem die traditionellen poetischen und rhetorischen Kunstgriffe (alankār). Die zweite Gruppe sei zwar klein, aber ihres sozialen Engagements wegen die wichtigste, und diese spricht Kunte auch mit seiner »Einleitung« auf Englisch an. Diese ›neuen‹ indischen Bildungsbürger werden im kommenden Jahrhundert die traditionellen Gelehrten ersetzen, eine Vorhersage, die dann auch eintreffen sollte, denn diese Gruppe wurde sehr bald zu den tonangebenden Trägern der Kultur und sollte den literarischen Geschmack im beginnenden 20. Jahrhundert nachhaltig beeinflussen. Die dritte Gruppe, die Anhänger der vorwiegend mündlich tradierten Volkskünste, weiß Kunte für ihr Traditionsbewusstsein sowie für ihr soziales und nationales Engagement zu schätzen. Diese Tradition scheint jedoch im herrschenden Literaturleben und -betrieb zunehmend ignoriert worden zu sein. In seiner umfangreichen Würdigung der Avval Ingrajī-Periode (18101874) klassifiziert Datto Vāman Potdar 1922 die literarischen »Sprachstile« (valan) beziehungsweise »Schulen« (sāmpradāya) der Zeit um 1880 wie folgt: »1. der alte d.h. der bürgerliche Stil aus der Peśvā-Zeit, 2. der gelehrte oder an Sanskrit angelehnte Stil, 3. der englische oder der neue oder jener der Übersetzer, [und] 4. der gemischte Stil«.12 Schriftsteller, die mit dem Volk in seiner Sprache reden, gehören dem literarischen Kanon demnach nicht an. Erst nach der Unabhängigkeit Indiens, insbesondere seit den 1970er Jah_____________ 11 12
Dadkar / Ganorkar / Dahāke / Bhatkal: Vānmaykoś, S. 1 (Einleitung). Potdār: Ingrajī avatār, S. 14 (Upodghāt – Einleitung).
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ren, hört man die Stimme der volkssprachlichen Literaten wieder, die die literarische Moderne in Marathi als Stil der urbanisierten Bürger aus der Mittelschicht abtun. Sie selbst verstehen sich dagegen als Schriftsteller aus den Bewegungen der Volk-, Grāmin- beziehungsweise Dalit-Literatur – daher ihre andere Bewertung der gerade erst im 19. Jahrhundert gängig gewordenen literatursoziologischen Klassifizierungen. Wie unterschiedlich die sich als modern verstehenden Bestimmungen der Literatur vor 1900 waren, geht auch aus einer anderen literaturästhetischen Schrift dieser Jahre hervor. 1872 hielt Kāśīnāth Bālkrishna Marāthe eine Rede mit einer programmatisch didaktischen Intention. Er unternimmt den Versuch, »Grundlagen und Regeln, welche die Feder der europäischen Romanschriftsteller und Dramatiker leiten in ihrer Darstellung des wirklichen Lebens« aufzuzählen, und zwar mit der »Hoffnung, dass Indien, indem es mehr Licht aus dem Westen auffängt, viele Scotts und Shakespeares produzieren wird«.13 Die Gattungsbezeichnung ›novel‹ interpretiert er im Sinne von ›novelty‹, neu, Erstaunen und Verwunderung erregend, unerhört (naval, āścaryakārak, adbhut, camatkārīk). Erst durch diese Eigenschaft werden Roman oder Drama unterhaltsam und fesselnd.14 Das entspricht auf den ersten Blick noch der traditionellen wirkungsästhetischen Bestimmung der Rasa-Theorie. Jedoch, so fügt Marāthe hinzu, sollen die Handlung und ihre Darbietung ›wahrscheinlich‹ (sambhavya), ›möglich‹ (śakya) und ›natürlich‹ (svābhāvik) sein, auch im Sinne von ›logisch nachvollziehbar‹ und ›glaubwürdig‹.15 Denn dadurch wie auch durch einfache Sprache, unkomplizierte Handlung und durch realistische Darstellung der Natur erhöhe sich ihre Wirkung. Welche Wirkung ein Schriftsteller zu erzielen hat, spezifiziert er im zweiten Teil der Schrift über das Drama. »Das Thema des Dramas soll erhaben sein: Verhalten einer großen Persönlichkeit, Entschlossenheit einer treuen Ehefrau, Heldentaten tapferer Männer« u.a., solche Themen nämlich, die zur Reformierung und Verbesserung des Publikums beitrügen.16 Auch er propagiert dabei die Kompositionsregeln der klassischen europäischen Dramatik wie die drei Einheiten. Die hier benannten zwei kleinen Schriften mit ihrem aufklärerischdidaktischen Ansatz deuten auf die neue Tendenz der Zeit vor 1900 hin: Offenheit der europäischen Ästhetik gegenüber und ihre Aneignung einerseits; andererseits weg von der Literatur der Bhaktī, die sich dem Jenseits widmete und eine mystische Verschmelzung mit der Gottheit suchte, hin zu einer Literatur, die einem bestimmten Leserkreis konkrete, bürgerliche _____________ 13 14 15 16
Marāthe: Nāval, Preface S. (4) (Übersetzung N.G., kursiv im Original). Ebd., S. 1-3. Ebd., S. 6-7, 11. Ebd., S. 30-31.
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Ideale vermitteln wollte (dhyeyavādī), und zwar Ideale, die im Diesseits verankert waren. Der mystisch-religiöse Anspruch wird durch den realistischidealistischen abgelöst. Der Literaturbegriff wird säkular. Genau das steht im Gegensatz zur traditionellen Marathi-Literatur vor dem Kolonialzeitalter. Die Hinwendung zum Diesseits ist in der Sachprosa (lalitetar sāhitya) radikaler als in der fiktionalen Literatur zu spüren. Zahlreiche Übersetzungen aus den englischsprachigen naturwissenschaftlichen Werken erschienen in diesen Jahrzehnten vor 1900, so dass die Periode auch als ›Übersetzungsepoche‹ (Bhāśāntaryug) bezeichnet wird. Die ersten Schulbücher und populärwissenschaftlichen Abhandlungen wurden durch die koloniale Verwaltung zur Verbreitung des europäischen Wissens gezielt gefördert. In der Belletristik wurde das Realistische dem Idealistischen deutlich übergeordnet: Durch die realistische Behandlung des Themas erhöhe sich die Glaubwürdigkeit der Handlung und dadurch steigere sich die Wirkung des Werkes. Während also thematisch neue, säkulare Stoffe und Darstellungsweisen bestimmend wurden, blieb die tradierte wirkungsästhetische Bestimmung von Literatur im Gefolge der Rasa-Theorie weiterhin gültig. Genau diese Doppelgesichtigkeit hat dazu beigetragen, dem neuen Literaturverständnis Geltung zu verschaffen, eben weil es nur zum Teil neu war. Dem Realistischen verpflichtet wählte man historische Stoffe beziehungsweise solche aus der unmittelbaren Gegenwart aus. Das auch deshalb, weil die historischen Romane und Dramen zugleich auch der Erweckung eines nationalen und nationalistischen Selbstbewusstseins dienen sollten. Das Neue war insofern auch immer zugleich das alte. Wie sehr diese Modernisierung der Literatur das Neue in den Kanon des Alten zu integrieren versucht und ihm gerade damit Geltung verschafft hat, mag auch aus dem Umstand hervorgehen, dass Shakespeare ab den 1880er Jahren einen Ehrenplatz neben Sanskrit-Klassikern erhalten hat. Die Shakespeare-Rezeption in Marathi setzt mit der gelungenen, aber unvollständig gebliebenen Übersetzung des Othello durch Mahādevśāstrī Govindśāstrī Kolhatkar (1822-1865) in den frühen 1860er Jahren (vervollständigt von Ja. Śa. Gādgīl und publiziert 1867) ein. Gopāl Ganeś Āgarkar (1856-1895) mit seinem wirkungsästhetischen Ansatz – die Literatur spreche die menschliche Fähigkeit, Mitleid (samvedanā) zu empfinden, an – räumte Shakespeare sogar eine höhere Stellung ein als den Sanskrit-Dramatiker wie Kālidās und Bhavbhūtī.17 Zum Beweis seiner These legte er eine eigene Übertragung des Hamlet vor.18 Shakespeare avancierte zum neuen Vorbild aufgrund seiner Fähigkeit und Fertigkeit, die Vielfältigkeit der Natur und der menschlichen Charaktere adäquat darzustellen, wie Āgarkar betont. _____________ 17 18
Vgl. Āgarkar: Śekspiar; Āgarkar: Prastāvanā zu Vikārvilasit; Āgarkar: Kavī. Āgarkar: Vikārvilasit.
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Der moderne Selbstanspruch der Literatur stellte die humoristische, karikaturistische, groteske und satirische Literatur eher in den Schatten19 und verbannte die Abenteuerliteratur immer weiter aus dem literarischen Kanon. Auch das ist eine Folge der sozialdidaktischen Funktionalisierung von Literatur. Dabei gehört Simhāsanbattiśī, 1814 verfasst von Vaijanāthśarmā (d.i. Vaijanth Śivarām Kānphāde) und William Carey (1761-1834), zu einem der ersten Werke des Marathi-Wiegendruckzeitalters. Die in diesem Buch geschilderten Heldentaten des Königs Vikram gehen auf Fassungen des Mahālingadās (auch Lingadās) seit den 1560er Jahren zurück20 und wurden in mehreren Fassungen in der frühesten Phase der Marathi-Druckgeschichte wieder aufgelegt.21 In den Literaturgeschichten und literaturästhetischen Beurteilungen aber wurden sie ausgegrenzt. Auch die äußerst populären Abenteuerromane wie Muktāmālā (1861) von Lakśman Moreśvar Halve (1831-1904), Mañjughośā (1868) von Nāro Sadāśiv Risbūd (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts) beziehungsweise der aus dem Persischen (über eine Gujarātī-Fassung) übertragene Gulbakāvlī von Vi. Sa. Navalkar (1873) oder die Erzählungen aus den Arabischen Nächten, den Ārabī bhāśetīl suras va camatkrik goshtī (1861-65) nacherzählt von Krishnaśāstrī Harī Ciplunkar (1824-187), zählten nicht mehr zur kanonischen Literatur. Gegenstimmen zu der einseitigen Bestimmung der Literatur waren damals freilich auch zu hören. Autoren wie Vi. Kr. Ciplūnkar betonten den natürlichen Ausdruck des dichterischen Ich und hielten eine philosophisch-theoretische Untermauerung für zweitrangig.22 Eine Diskussion um den Begriff der Autonomie von Literatur sowie die Forderung einer realistischen (vāstav) Darstellung auf Kosten des Idealistischen (dhyeya) und Moralisch-Didaktischen (nīti) setzt erst um 1900 ein. Dabei bleiben autonomieästhetische Vorstellungen eher im Hintergrund. Die sozialen Thematiken bestimmen die Marathi-Literatur und ihre Ästhetik wesentlich. Als der erste kompromisslose Verfechter der dichterischen und literarischen Autonomie (kalāvād) gilt Śrī. Kr. Kolhatkar, der auch als der eigentliche Wegbereiter der modernen Marathi-Literaturtheorie und -kritik angesehen wird.23 Seine literaturtheoretischen Beiträge erschienen ab 1893 in Zeitschriften24 und lagen 1932 als Sāhityavimarśa gesammelt vor.
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Vaidya: Sankraman, S. 123. Die älteste erhaltene Fassung geht zurück auf Mahālingadās (auch Lingadās), ca. 15641565, vgl. Dadkar / Ganorkar / Dahāke / Bhatkal: Vānmaykoś, S. 443, 600. Sechs Fassungen, 1814-1861, ebd., S. 600. Kulkarnī: Marāthī sāhitya, S. 24; Deśpānde: Vānmayāca itihās, S. 31-32. U.a. Pāthak: Tīkā, S. 230; Kulkarnī: Marāthī sāhitya, S. 23. Wie Vividhajñānavistār, Māsik Manorañjan, Mahārāśtra-sāhitya-patrikā.
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IV. Im Rückblick erscheint die Neupositionierung der Marathi-Literatur im Indien des 19. Jahrhunderts nur ansatzweise von genuin literaturästhetischen Vorstellung bestimmt zu sein. Was Literatur ist, wird vor allem darüber entschieden, welche Aufgabe die Literatur hat. Daher überwiegen inhaltliche Bestimmungen der Literatur, gerade auch solche, die danach fragen, wie Literatur zur Verbesserung des gesellschaftlichen Lebens beitragen kann. Sozial- und religionsreformatorische Aufgabenstellungen bestimmen den Begriff von Literatur vielfach. Die Kritik des volkstümlichen und hinduistischen ›Aberglaubens‹ und der brahmanischen Rituale etwa bei Lokahitavādī (d.i. Gopāl Harī Deśmukh, 1823-1892) gehört dazu, aber auch die Kritik des Hinduismus aus einer christlich-missionarischen Sicht beispielsweise in den Texten Bābā Padmanjī (Mule) (1831-1906). Die sozialen Themen der Rechtsgleichheit, der Rechte der Frauen, der Bauern und der Kastenlosen sind Thema bei Jotīrāv Govindrāv Phule (1827-1890). Nationalistische Funktionalisierungen der Literatur kommen hinzu. Das Erscheinen der Zeitschrift Nibandhamālā (1874-1883, 84 Hefte) von Vishnuśāstrī Krishnaśāstrī Ciplūnkar (1850-1882) kann man als Aufkommen einer ersten Literatur mit nationalistischen Idealen sehen,25 welche dann mit Kāl (18981908) von Śivarām Mahādev Parāñjape (1864-1929) einen noch radikaleren Ausdruck fand. Die realistisch gefärbte sozialkritische Erzählprosa fand ihren ersten vollendeten Ausdruck in den Romanen des Harī Nārāyan Āpte (1864-1919). Was die Lyrik betrifft, so sieht man im Werk von Keśavsut (d.i Krishnājī Keśav Dāmle, 1866-1905) den Ausdruck des Idealistischen in einer zeitgemäßen Sprache und Diktion, die sich als zukunftsweisend erwiesen und mehrere draufkommende Generationen in ihrem Bann gehalten haben. Erst gegen Ende der 1880er Jahre, mit Keśavsut als Lyriker, Ha. Nā. Āpte als Romancier und Go. Ga. Āgarkar und Bāl Gangādhar Tilak als Essayisten tritt diese inhaltliche Bestimmung von Literatur zurück. Formale Kriterien werden nun stärker akzentuiert. Die MarathiLiteratur beginnt eigene Wege zu gehen. Dass sie diesen Übergang von der tradierten, auf religiöse Wirkung abzielenden Literatur hin zu einer als ›modern‹ verstandenen Literatur gehen konnte, hing literaturhistorisch gesehen vor allem daran, neue Funktionsbestimmungen der Literatur mit tradierten Wirkungsbestimmungen der Literatur zu vereinen. Dabei spielen formalästhetische Bestimmungen der Literatur nur eine untergeordnete Rolle. Worauf es ankam, war die soziale Funktion der Literatur. _____________ 25
Vgl. u.a. Pāthak: Tīkā, S. 219.
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ROBERTO SIMANOWSKI
Literatur, Bildende Kunst, Event? Grenzphänomene in den neuen Medien
1. Literatur und digitale Medien Seit einigen Jahren kann man den Begriff ›Literatur‹ in Verbindung mit Adjektiven finden, die, anders als Adjektive wie ›romantisch‹ oder ›realistisch‹, nicht eine bestimmte inhaltliche und stilistische Ausrichtung der Literatur anzeigen, sondern eine spezifische Umgangsweise mit dem Material in seiner äußeren Erscheinung. Diese Adjektive sind ›multilinear‹, ›interaktiv‹, ›digital‹. Während ›multilinear‹ ein bestimmtes Anordnungsverfahren des Textes bezeichnet und ›interaktiv‹ die veränderte Rolle des Lesers, verweist ›digital‹ auf die Technologie, mit der diese neue Form der Literatur verwirklicht wird. Digitale Literatur kann allgemein definiert werden als eine künstlerische Ausdrucksform, die der digitalen Medien als Existenzgrundlage bedarf, weil sie sich durch mindestens eines ihrer spezifischen Merkmale auszeichnet: Interaktivität, Intermedialität, Inszenierung.1 Digitale Literatur ist damit von digitalisierter Literatur zu unterscheiden, welche sich der digitale Medien nicht in ästhetischer Absicht bedient, sondern diese, und zwar vor allem das Internet, als Präsentations- und Distributionsmedium benutzt, ansonsten aber ebenso in Printform existieren könnte (und implizit die Existenz in Buchform auch immer intendiert).2 Die genannten Merkmale lassen sich wie folgt beschreiben: ›Interaktivität‹ markiert die Teilhabe des Rezipienten an der Konstruktion des Werkes entweder in Reaktion auf Eigenschaften des Werkes (pro_____________ 1
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Ein alternativer Begriff ist ›elektronisch‹, mit dem auf die Entstehung der Literatur in den elektronischen Medien verwiesen wird (vgl. Looy / Beatens: Close Reading). Der Nachteil dieses Begriffs ist die mangelnde Abgrenzung zu elektronischen Medien wie Radio und Fernsehen. Die Tatsache der digitalen Codierung allein ist noch kein ausreichender Tatbestand, denn im Computer als dem neuen Leitmedium ist zwangsläufig jedes Phänomen codiert.
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grammierte Interaktivität zwischen Mensch und Software) oder in Reaktion auf Handlungen anderer Rezipienten innerhalb eines Netzwerkes (spontane Interaktivität zwischen Mensch und Mensch mittels Software). Zur netzgebundenen Interaktivität zählen die Mitschreibprojekte, die die Leser auffordern, den Text selbst zu schreiben; zur programmierten Interaktivität zählt die Multilinearität im Hypertext, die die Leser auffordert, den Text durch Navigationsentscheidungen selbst zusammenzustellen. ›Intermedialität‹ markiert die durch die digitalen Medien erleichterte Kopplung der traditionellen Ausdrucksmedien ›Sprache‹, ›Bild‹ und ›Ton‹ zu einem »Gesamtdatenwerk« (Ascott). Ein Beispiel für die Fusion verschiedener medialer Aspekte im Bereich der Literatur zu einem Dritten ist die Konkrete Poesie, bei der Text und (Text)Bild nicht voneinander getrennt werden können, sondern nur in ihrer Rezeption als Einheit zur eigentlichen Aussage führen. Diese Fusion wird im digitalen Medium aufgegriffen und durch die Faktoren Zeit und Interaktion erweitert. ›Inszenierung‹ markiert die Programmierung einer werkimmanenten oder rezeptionsabhängigen Performance. Dem digitalen Werk sind auf den Textebenen unterhalb der Bildschirmoberfläche (HTML-Quellcode; JavaScripts, Befehle innerhalb einer Bild- oder Tondatei) Aspekte der Aufführung eingeschrieben, deren Stichworte vom Programm (zeitabhängig) oder vom Rezipienten (aktionsabhängig) ausgehen. Die Eigenheit digitaler Literatur lässt sich paradox in der Weise formulieren, dass digitale Literatur im Sinne eines technischen Medienbegriffs per Definition nicht digital ist im Sinne eines zeichentheoretischen Medienbegriffs. Ihr Wesen besteht gerade darin, über die Diskretheit sprachlicher Zeichen, also über die semiotische Digitalität hinauszugehen, indem sie zum Beispiel den Hyperlink, visuelle Zeichen und performative Elemente einsetzt, die jeweils als nicht-diskrete Zeichen zu beschreiben sind.3 Inszenierungseffekte teilen die Kodierungsmerkmale bildlich-visueller Elemente, die aus nicht-diskreten Zeichen bestehen und erst auf der Grundlage projizierter Hypothesen ›lesbar‹ werden. Das betrifft zum Beispiel die Anzahl und Dauer der Loops in einer Bildanimation, die Anordnung von Mouseover-Events auf dem Bildschirm, die Setzung einer Zeitspanne bis zur Aktivierung eines bestimmten Ereignisses. Ebenso nimmt der Link zwischen zwei Texten zunächst die syntaktische Funktion der Konjunktion _____________ 3
Diese Eigenschaft der Sprache im Gegensatz zu anderen Ausdrucksformen begründet den Einspruch gegen die übliche Ausdehnung des Begriffs ›Sprache‹ auf nicht-linguistische Zeichen durch die Semiotik (Roland Barthes verweist auf dieses Problem am Anfang seines Essays zur »Rhetorik des Bildes«). Vgl. in diesem Zusammenhang Hans H. Hiebels Unterscheidung zwischen primärer Digitalität (diskret-abgegrenzte Zeichen) und sekundärer Digitalität (computerbedingte Digitalisierung der Zeichen) (vgl. Hiebel: Medienchronik, S. 8).
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›und‹ ein, bevor er aus dem Bedeutungszusammenhang heraus als Konjunktion ›aber‹, ›deswegen‹, ›trotzdem‹ usw. verstanden werden kann. Die Interpretation solcher Elemente zielt notwendig auf die Unterscheidung von Zeichen und Design und erfordert in der Analyse eines Beispiels digitaler Literatur die Verschiebung von der linguistischen Hermeneutik zu einer Hermeneutik des intermedialen, interaktiven, performativen Zeichens. Es geht nicht mehr allein um die Bedeutung eines Wortes, sondern um die Bedeutung des Verhaltens dieses Wortes auf dem Bildschirm etwa in Verbindung mit visuellen und auditiven Zeichen und in Reaktion auf Handlungen des Lesers. Diese Hermeneutik kann nicht, wie im Falle linguistischer Zeichen, auf ein System festgelegter Bedeutungen zurückgreifen. Um eine Formulierung Umberto Ecos im Hinblick auf das Kino aufzugreifen: Die Semiologie digitaler Literatur ist Semiologie einer parole, die keine langage hinter sich hat.4 Es stellt sich freilich die Frage, inwiefern die auf Interaktion ausgerichteten, intermedial konzipierten, mit Inszenierungseffekten arbeitenden Phänomene noch ›Literatur‹ genannt werden können. Während in den Anfangsjahren der rein textbasierten Hyperfiction von einem neuen literarischen Genre gesprochen werden konnte,5 verschwimmen die Grenzen zur Bildenden Kunst heute zunehmend. Die Natur des Gegenstandes, über die Arbeit allein mit dem Wort hinauszugehen, verlangt eine Ausweitung des Literaturbegriffs, die möglicherweise auch zu dessen Aufgabe führen kann. Will man an einer Gattungsunterscheidung festhalten, wird man sich darauf konzentrieren müssen, ob der Text in einem gegebenen Phänomen weiterhin als linguistisches Phänomen bedeutsam und wahrnehmbar ist. Dieser Fall rechtfertigt, von ›digitaler Literatur‹ zu sprechen. Ist der Text lediglich visuelles Objekt innerhalb einer Installation oder Interaktion, ist hingegen von ›digitaler Kunst‹ zu sprechen.6 Ich werde im Folgenden an einigen Beispielen zeigen, dass der Text gelegentlich neben seiner Rolle als visuelles Objekt auch eine als linguistisches spielt, die in der Rezeption des Werkes in Rechnung gestellt oder ignoriert werden kann. Zuvor aber seien in einem kurzen Rückblick auf die Geschichte der Literatur einige Beispiele der Formexperimente im Grenzbereich der Literatur aufgezeigt und in einem Blick auf die Gegenwart Aufgriff und Weiterführung jener Experimente innerhalb der digitalen Medien erörtert.
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Eco: Film, S. 306. Ziegfeld: Fiction. Zur Gattungsdefinition vgl. ausführlicher Simanowski: Close Reading.
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2. Historischer Rückblick: Konkrete Poesie, kombinatorische Lyrik und kollaboratives Schreiben Die Experimente der Literatur, die Ausdrucksformen des eigenen Mediums auszudehnen, lassen sich bis in ihre Anfänge zurückverfolgen. Bekannte Beispiele sind die Labyrinth- und Figurengedichte, bei denen sich die Textzeile wie ein Labyrinthgang über das Papier zieht bzw. eine Form bildet, auf die der Text selbst referiert: oft ein Kreuz für religiöse Gedichte, im Barock dann auch weltliche Motive wie etwa ein Pokal in einem Hochzeitsgedicht. Auf diese Weise besitzen die Texte einen semantischen Mehrwert, der ihre linguistische Bedeutung illustriert, ergänzt oder konterkariert. Rezeptionsspezifisch liegt ein Wechsel vom Lesen zum Schauen vor. Dieses Zugleich von visueller und linguistischer Bedeutungsebene gelangt zu neuer Popularität mit den typographischen Experimenten der Futuristen und Dadaisten Anfang des 20. Jahrhunderts sowie mit der Bewegung der Konkreten Poesie seit den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Im Idealfall eröffnet die optische Gestik der Wörter einen tieferen Zugang zu ihrer Semantik, wie etwa bei Eugen Gomringers Schweigen von 1954, das durch die konstruierte Leerstelle im Textgebilde – das Wort ›schweigen‹ steht in fünf Zeilen dreimal nebeneinander und fehlt in der Mitte der dritten Zeile – unterstreicht, dass sich Schweigen nicht in seiner Benennung ausdrückt, sondern erst in der Abwesenheit von Sprache. Eine weitere Variante des literarischen Formexperiments ist die kombinatorische Lyrik des Barock, wie Georg Philipp Harsdörffers Wechselsatz aus dem Poetischen Trichter (1648-1653) oder Quirinus Kuhlmanns XLI. LibesKuß (1671). In Kuhlmanns Gedicht kann der Leser das Endwort eines Verses aus einer angebotenen Anzahl von Wörtern auswählen und somit, wie Kuhlmann vermerkt, eine 77-stellige Anzahl von Varianten des Gedichtes herstellen. Die philosophische Bedeutung hinter dem Spiel kombinatorischer Dichtkunst liegt im von den Zeitgenossen erfahrenen Verlust an Gewissheit, wie Kuhlmann im Appendix zu seinem Gedicht Wechsel menschlicher Sachen darlegt: »Alles wechselt; alles libet; alles scheinet was zu hassen: Wer nur disem nach wird-denken/ muß di Menschen Weißheit fassen«.7 Die Geschichte der permutativen Dichtung eröffnet ein neues Kapitel mit den narrativen Experimenten der Gruppe Oulipo (Ouvroir de Littérature Potentielle) um François Le Lionnais und Raymond Queneau. Queneaus Werk Cent mille milliards de poèmes von 1961 besteht aus zehn Sonetten auf gestärktem Papier, die erlauben, die Verse ihrer Sonette einzeln umzublättern und so mit jedem Vers der anderen neun Sonette zu kombi_____________ 7
Dencker: Sprachspiele, S. 76f.
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nieren. Weitere Beispiele sind Julio Cortázars Roman Rayüla von 1974, der durch Hinweise auf alternative Seiten-Anschlüsse unterschiedliche Lektüregänge durch das Textkorpus zulässt, oder Das Chasarische Wörterbuch von Milorad Pavić (1984), in dem die Abschnitte wie in einem Lexikon auf verschiedene Anschlussstellen im Buch verweisen. Einen Schritt weiter gehen Marc Saportas Kartenspiel-Roman Composition No. 1 (1962) – 150 ungebundene, unpaginierte Blätter, die lose in einem Schuber lagern und in willkürlicher Reihenfolge gelesen werden können – und Konrad Balder Schäuffelens Lotterieroman deus ex skatola (1964), der auf Papierröllchen in sich abgeschlossene Aphorismen und Sentenzen anbietet. Sowohl in den barocken Kombinationsspielen wie in den genannten Beispielen der 60er bis 80er Jahre des 20. Jahrhunderts wird die stringente narrative Strukturierung der Textsegmente aufgelöst und, innerhalb der vom Autor vorgegebenen Möglichkeiten, die Navigation durch den Text dem Willen des Lesers überlassen. Eine Radikalisierung dieser Auflösung erfolgt im Verzicht selbst auf eine gezielte Wortwahl, wie es in der Zufallsdichtung der Fall ist. Tristan Tzara gab das dadaistische Fanal mit seinem Text Um ein dadaistisches Gedicht zu machen (1920), der empfahl, Wörter wahllos aus einer Zeitung auszuschneiden, um sie anschließend ebenso wahllos zu einem Gedicht zusammenzusetzen. William Burroughs hat diese Cut-upPoetik bekanntlich fortgeführt, angeregt durch die Experimente des Malers Brion Gysin und durch zeitgenössische Experimente mit dem Zufall in der Musik.8 Eine Form der Zufallsdichtung, die zugleich kollaborativ erfolgt, ist das surrealistische Verfahren der écriture automatique wie etwa bei den Cadavre exquis, wo mehrere Autoren Text aneinander reihen, ohne den vorangegangenen der Vorgänger zu kennen. Hier wird faktisch im Interesse der Nichtintentionalität des Textes die Intentionalität vervielfältigt und somit neutralisiert.
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Für die Verwendung von Zufallsoperationen auf der Kompositionsebene (John Cages Music of Changes) und auf der Interpretationsebene (Pierre Boulez’ III. Klaviersonate) im Bereich der Musik vgl. Schulze: Spiel, S. 27f., der ersteres unter dem Begriff der Mikro-Aleatorik, letzteres unter dem der Makro-Aleatorik diskutiert. Die Mikro-Aleatorik entspricht im Grunde der automatischen Textproduktion, die Makro-Aleatorik erinnert eher an das Prinzip ›Hypertext‹, das den Interpreten zum Komponisten macht, der die Endgestalt des Werkes innerhalb des vom Autor vorgegebenen Bauplans mitbestimmt. Bemerkenswert ist die Kontroverse zwischen beiden Aleatorik-Varianten, die sich in Boulez’ Vorwurf an Cage äußert, dessen Zufallsoperationen entließen den Komponisten aus der Verantwortung für sein Werk und maskierten nur Schwächen in der Kompositionstechnik (ebd., S. 29); ein Vorwurf, der sich wiederum in Äußerungen gegenüber den Autoren von Hyperfictions wiederholt.
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3. Grenzphänomene der Gegenwart: Bewegte Wörter und Textmaschinen Mit der Ankunft des Computers erhalten alle genannten Formen der literarischen Experimente neue Impulse. Die Konkrete Poesie gewinnt die Kategorien ›Zeit‹ und ›Interaktion‹ hinzu, die Kombinationsspiele des Barock kehren wieder als Textmaschinen, die alternative Navigation ist Prinzip des Hypertextes und der kollaborative Produktionsprozess ist die nahe liegende Konsequenz der Vernetzung online. Es sei im Folgenden auf diese vier Gruppen gesondert eingegangen. Die automatische Textproduktion ist historisch gesehen die erste Form computerbasierter Texte. Schon 1952 produziert Christopher Strachey seinen Love Letter Generator, der auf der Basis eines bestimmten Vokabulars und syntaktischer Regeln automatisch Liebesbriefe schreibt, wie etwa diesen: Honey Dear My sympathetic affection beautifully attracts your affectionate enthusiasm. You are my loving adoration: my breathless adoration. My fellow feeling breathlessly hopes for your dear eagerness. My lovesick adoration cherishes your avid ardour. Yours wistfully M. U. C.9
Wie zu erwarten war, klingt der Text hölzern und scheint äußerst ungeeignet, sein Ziel zu erreichen. Dies wiederum war wahrscheinlich genau Stracheys Intention, der als von der Gesellschaft missachteter Homosexueller Gründe hatte, die gängigen sanktionierten Vorstellungen der Gesellschaft von Liebe zu ironisieren. Ernsthafter kommen spätere Textautomaten daher, die durchaus lesbare Geschichten produzieren wollen. Als Beispiel sei nur auf Scott Turners Programm MINSTREL (1992) verwiesen, das Geschichten im so genannten Top-down-Verfahren generiert.10 _____________ 9 10
Zitiert nach Strachey: Machine, S. 26. Im Top-down-Verfahren wird das narrative Problem in Anlehnung an eine erinnerte ähnliche Situation gelöst, indem die vorgefundene Lösung jener Situation mit entsprechenden Modifikationen an den aktuellen Fall angepasst wird. Vgl. Turner: Creative Process, sowie Kapitel 3 »Creativity and Artificial Intelligence« in Gary E. McGraws Dissertation Letter Spirit (Part One). Emergent High-Level Perception of Letters Using Fluid Concepts: »MINSTREL solves problems by recalling similar past problem situations and applying the solutions of the recalled situations to the current problem. MINSTREL discovers new, ›creative‹ solutions to a problem by finding a related problem that it can solve, solving the slightly-different related problem, and adapting that solution to the original problem. This process is implemented as a three-part Transform-RecallAdapt Method (TRAM) […]. A weak type of creative recall, deemed ›imaginary recall‹ by Turner, can be implemented with TRAMs by a process of mutating recall features until at least one case is recalled, and then using the information about the mutation(s)
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The Vengeful Princess Once upon a time there was a Lady of the Court named Jennifer. Jennifer loved a knight named Grunfeld. Grunfeld loved Jennifer. Jennifer wanted revenge on a lady of the court named Darlene because she had the berries which she picked in the woods and Jennifer wanted to have the berries. Jennifer wanted to scare Darlene. Jennifer wanted a dragon to move towards Darlene so that Darlene believed it would eat her. Jennifer wanted to appear to be a dragon so that a dragon would move towards Darlene. Jennifer drank a magic potion. Jennifer transformed into a dragon. A dragon moved towards Darlene. A dragon was near Darlene. Grunfeld wanted to impress the king. Grunfeld wanted to move towards the woods so that he could fight a dragon. Grunfeld moved towards the woods. Grunfeld was near the woods. Grunfeld fought a dragon. The dragon died. The dragon was Jennifer. Jennifer wanted to live. Jennifer tried to drink a magic potion but failed. Grunfeld was filled with grief. Jennifer was buried in the woods. Grunfeld became a hermit.11
Ironischer und auf die Interaktion mit den Lesern ausgerichtet ist demgegenüber ein Projekt wie Darwinian Poetry, das die Leser zwischen jeweils zwei computergenerierten Gedichten das bessere auswählen lässt und schließlich aus dem Pool der Ausgewählten ›Kreuzungen‹ vornimmt, die, so die Selbstbeschreibung, zu besseren Texten führen sollte: [S]tarting with a whole bunch (specifically 1,200) randomly generated groups of words (our ›poems‹), we are going to subject them to a form of natural selection, killing off the ›bad‹ ones and breeding the ›good‹ ones with each other. If enough generations go by, and if the gene pool is rich enough, we should eventually start to see interesting poems emerge.12
Fast zeitgleich zu den Textmaschinen wird die Idee des Hypertextes entwickelt. Vannevar Bush beschreibt bereits 1945 in seinem Aufsatz »As We May Think« das Projekt einer vom Leser erstellten, speicherbaren Navigation durch eine Ansammlung verschiedener Dokumente.13 Theodor Holm Nelson brachte das Phänomen in den 1960er Jahren auf den Begriff, als er in seinem Buch Literary Machines Hypertext als »non-sequential writing« bezeichnet, als »text that branches and allows choices to the reader […] a _____________
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to adapt the recalled case. For example, at one point MINSTREL is asked to tell a story about a knight who commits suicide. Being unable to recall any such stories from its memory, MINSTREL applies the TRAMs, Intention-Switch and Similar-OutcomesPartial-Change, to its recall parameters: ›knight who purposefully kills self‹. Other models of creativity […] allow ›kills‹ to become ›injures‹, and ›purposely‹ to become ›accidentally‹. These tweaks allow MINSTREL to recall a story about a knight who accidentally injures himself while killing a troll. Once this story has been recalled, it is subjected to ›backwards‹ adjustments that undo the changes made to the recall parameters. This results in a scenario in which a knight purposefully kills himself by losing a fight with a troll – a newly-invented story-fragment.« (McGraw: Letter Spirit, S. 98f.) Shaw: Storytelling Systems, S. 72f. (15.01.2007). Bush: Think.
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series of text chunks connected by links which offer the reader different pathways.«14 Für die Literatur wird die Vernetzung im Computer dann genutzt in den von Eastgate Systems seit Ende der 1980er Jahre publizierten Hyperfictions. Die klassischen Vertreter sind Afternoon. A Story (1987) von Michael Joyce und Victory Garden (1991) von Stuart Moulthrop, beide mit dem eigens dafür entwickelten Programm Storyspace geschrieben, das die Links im Text nicht explizit anzeigt, sondern dem Leser die Erkundung möglicher Absprünge zu anderen Textsegmenten (bzw. Nodes) überlässt, und die Besonderheit der Guard Links aufweist, die bestimmte Nodes nur nach vorangegangener Lektüre anderer Nodes zugänglich machen. Die Rhetorik des Absprungs und der Ankunft ist wesentliches Merkmal der Hyperfiction,15 begleitet durch eine Rhetorik des Aufschubs, wenn im Modell einer ignorierenden Lektüre die angebotenen Links zunächst übergangen und erst nach der Kenntnisnahme des gesamten vorliegenden Textes genutzt werden,16 sowie einer Rhetorik des Zweifels, ob man den richtigen Link gewählt hat.17 Die theoretische Diskussion des Hypertextes in den 1990er Jahren sah in der Navigationsfreiheit des Lesers eine Schwächung der Autorposition und deklarierte dies als technologische Umsetzung postmoderner und poststrukturalistischer Theorien.18 Der Verweis auf Foucaults und Barthes’ Rede vom Verschwinden bzw. Tod des Autors beruhte dabei auf dem Missverständnis, den Hoheitsverlust des Autors über den eigenen Text als Verschiebung der Machtverhältnisse zum Leser zu sehen, statt wie im entpersonalisierten Modell Foucaults und Barthes’ als Ergebnis seiner Diskursbestimmtheit.19 Davon abgesehen kann man sogar von einer Stärkung der Autorposition sprechen, da die Autorin nicht nur die Links vorgibt – Peter Matussek bemerkt folgerichtig: »Die Annotationen des Autors [überschreiben] die Konnotationen des Lesers« –,20 sondern ihren Text unabhängig von Evaluationsinstanzen online veröffentlichen und ihn auch danach weiterhin (unbemerkt) verändern kann. Seit der Ankunft des WWW werden Hyperfictions in HTML geschrieben und enthalten zumeist Bilder oder gar Animationen und Tonelemente. These Waves of Girls von Caitlin Fisher ist ein Beispiel dafür, an dem sich _____________ 14 15 16 17 18 19
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Nelson: Literary Machines, 0/2. Landow: Hypertext 2.0, S. 12. Krajewski: Spür-Sinn, S. 67. Marie-Laure Ryan schreibt: »Once the choice is made, the reader may regret her decision and be haunted with the ›could have been‹« (Ryan: Immersion). Landow: Hypertext 2.0, S. 91; Bolter: Writing Space, S. 156. Während Landow von der »reallocation of power from author to reader« spricht (Landow: Hypertext as Collage, S. 156), betont Barthes: »… it is language which speaks, not the author« (Barthes: Death, S. 143). Zu einer ausführlichen Diskussion der Theorie des Hypertextes vgl. Simanowski: Interfictions, Kap. 3.2. Matussek: Hypomnemata, S. 275.
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zugleich gut die semantische Aufladung des Links zeigen lässt. Wenn in einem Textsegment der Wunschtraum der Figur Tracey, ins Bett der heimlich geliebten Lehrerin zu kriechen, zu einem Textsegment linkt, in dem erinnert wird, wie Tracey sich mit ihrer Großmutter als Kind im Bett Geschichten erzählte, dann liegt darin mehr als nur der lexemische Verweis auf ein anderes Bett. Der Link suggeriert einen Kausalzusammenhang, den auch die Anfangsworte des verlinkten Segments signalisieren: »I am growing up but not out of my grandmother’s bed.«21 Eine andere im Web publizierte Hyperfiction ist Olia Lialinas My Boyfriend Came Back From the War, wo jeder Klick auf einen Link das Bildschirmfenster in immer kleinere Einheiten teilt, deren Texte nach dem Anklicken schließlich ersatzlos verschwinden. Das Schlussbild eines mehrfach unterteilten, leeren Bildschirms unterstreicht so visuell-symbolisch die im Text deutlich gewordene Tatsache, dass das Paar dieser kurzen Geschichte keinen Ausweg aus seinem Konflikt sieht.22 Das kollaborative Schreiben hat mit dem Internet viele neue Impulse gefunden und speziell in der Diskussion in Deutschland, wo es keine Geschichte des Hypertextes vor der Ankunft des WWW gab, zu einer Favorisierung des Begriffs ›Netzliteratur‹ (und seiner Spezifik der Kollaboration) gegenüber dem allgemeineren Begriff ›digitale Literatur‹ geführt. Von ihren medienexternen Vorläufern (Cadavre exquis, Mailart) unterscheiden sich die Mitschreibprojekte des Internet durch den Verzicht auf die Inklusion/Exklusion, die mit einer persönlichen Adressierung der Beteiligten einhergeht. Das Projekt, das zumeist von einem Initiator organisiert und moderiert (bzw. kontrolliert) wird, erlaubt jedem (zufällig) auf diese Website kommenden Leser des Projekts, zu dessen (Ko-)Autor zu werden. Als Formen des kollaborativen Schreibens im Internet lassen sich Individual- und Gemeinschaftsprojekte unterscheiden. Bei Gemeinschaftsprojekten schreiben Autoren sukzessive an einer linearen Geschichte. Beispiel hierfür ist der von Douglas Davis initiierte World’s First Collaborative Sentence (1994 als reiner Text begonnen, inzwischen auch mit visuellen Elementen versehen), dem es freilich weniger um eine kohärente Geschichte geht, als um die zäsurlose Montage verschiedener Autorenbeiträge.23 Stärker auf Handlung und Charaktere orientiert ist die Erzählung Beim Bäcker, die 1996 mit einer erotisch aufgeladenen Szene in einer Bäckerei beginnt und unter der Feder verschiedener Autoren eine zum Teil _____________ 21 22 23
(15.01.2007), verlinktes Segment: . (15.01.2007). (15.01.2007). The World’s First Collaborative Sentence ist das erste Werk digitaler Kunst, das von einem Museum erworben wurde (1995 durch das Whithney Museum of Modern Art).
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turbulente, zum Teil inkohärente, zum Teil widersprüchliche Entwicklung nimmt. Ein Merkmal dieses am stärksten auf Zusammenarbeit und Koordination der Autoren basierenden Genres der Mitschreibprojekte ist das Schreiben nicht in, sondern neben der Geschichte: Statt die von anderen Autoren eingeführten Figuren zu entwickeln, bringt jeder neue Autor seine eigenen Figuren mit, vernachlässigt den bisher etablierten Handlungsstand und ignoriert gemachte Vorausblicke auf die Zukunft. Dieser Mangel an Kollaboration wird schließlich zu einem spürbaren Problem und führt die Geschichte zur Reflexion ihrer selbst. Das Interessanteste an diesem Text ist der Text hinter dem Text, die Geschichte vom Versuch verschiedener, sich völlig fremder Autoren, gemeinsam eine Geschichte zu schreiben. Der Reiz solcher Texte besteht weniger in ihrer literarischen Qualität – die freilich unter dem Wegfall jeglicher Zugangsbarrieren zum Medium leidet – als literatursoziologisch und –psychologisch in der abzulesenden Gruppendynamik, die in diesem Fall zum Teil sogar in einen Kleinkrieg verschiedener Autoren ausartet. Kollaborative Schreibprojekte können insofern auch als interaktive Performance gesehen werden.24 Die Individualprojekte vereinigen mehr oder weniger voneinander unabhängige, abgeschlossene Beiträge unter einem spezifischen Stichwort. Noon Quilt zum Beispiel sammelt Eindrücke, die Menschen rund um den Erdball jeweils um 12 Uhr Ortszeit haben.25 Jan Ulrich Haseckes Generationenprojekt beschreibt das 20. Jahrhundert im Geschichte-von-unten-Modell durch die persönlichen Erlebnisse der Beiträger.26 Das von Guido Grigat konzipierte Projekt 23:40 sammelt Texte zu den 1440 Minuten eines imaginären Tages, die jeweils innerhalb einer Minute lesbar sein sollten, da sie jeweils nur während der ihnen zugeordneten 60 Sekunden angezeigt werden.27 Dieser Einfluss auf die Rezeptionszeit unterstellt die Schrift den Regeln mündlicher Kommunikation und ermöglicht eine Reihe interessanter Effekte, die von den Autoren genutzt werden können.28 Das besondere Konzept von 23:40 – die Ausstattung der Schrift mit dem für die mündliche Sprache charakteristischen Verlautbarungsanlass – gibt diesem zugleich eine zweite Bedeutungsebene und Existenzweise, nämlich als Installation, deren Eigenwert unabhängig von der Qualität der zugelieferten Texte betrachtet werden kann. Insofern liegt eine Verschiebung von der digitalen Literatur zur digitalen Kunst vor im genannten Sinne einer Entwertung der rein linguistischen Komponente. Diese Verschiebung wird _____________ 24 25 26 27 28
Für eine detaillierte Fallanalyse von Beim Bäcker vgl. Simanowski: Interfictions, Kap. 2.1. (16.02.2007). (15.01.2007). (16.02.2007). Für eine detaillierte Fallanalyse von Generationenprojekt und 23:40 vgl. Simanowski: Interfictions, Kap. 2.2. und 2.3.
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sinnfällig mit dem Webprojekt Postsecret, das die eingesandten Geheimnisse von Lesern veröffentlicht und der digitalen Kunst zugerechnet werden kann, nicht so sehr wegen seiner multimedialen Komponente (die Texte stehen auf selbstgefertigten Postkarten, die ebenfalls auf der Website präsentiert werden), sondern wegen seiner Konzeption der »community art«, wie es in der Selbstbeschreibung heißt.29 Die Autoren der einzelnen Texte und Postkarten werden ebenso Bestandteile eines vom Projektautor inszenierten Kunstwerkes wie jene Beteiligten an Christian Jankowskis Installation Schamkasten (1992), die das Publikum einlädt sich in einem gläsernen Schamkasten ansehen und fotografieren zu lassen mit selbstbeschriebenen Tafeln, die die Gründe ihrer Scham kund tun (›Ich schäme mich, zu oft still zu sein‹, ›Ich schäme mich, dass ich mich nicht schämen kann‹ usw.). Auch die vierte Gruppe unserer literarischen Grenzphänomene – die Konkrete Poesie – erfährt neue Möglichkeiten durch die digitalen Medien. Während in der klassischen Konkreten Poesie neben der sprachlichen die graphische Qualität der Wörter zum konstitutiven Element des Textes wird, nimmt in den digitalen Medien außerdem die Zeit sowie die Interaktion eine bedeutungsgenerierende Rolle ein. Der Text kann erscheinen, sich bewegen, verschwinden, und er kann dies aufgrund einer Aktion des Lesers tun. Ein Beispiel dafür ist ER/SIE von Ursula Menzer und Sabine Orth, das Wörter in animierter Form auf den Bildschirm bringt, wie etwa »ERbauung«, bei dem die erste Silbe wie ein hingeworfener Klotz mit dem entsprechenden Begleitgeräusch erscheint, dem die restlichen Buchstaben einzeln in die Höhe aufgesetzt werden – mit der deutbaren Pointe, dass so nicht das Grundlexem, sondern das Präfix das Fundament des Gebildes abgibt.30 Das Werk YATOO der Wiener Netzkünstler Ursula Hentschläger und Zelko Wiener reagiert auf die Aktion des Users, der durch Mouse-Kontakt auf einen fünfeckigen Stern Audiodateien mit den Worten eines Liebesgedichts aktivieren kann.31 Die Navigation über die Teile des Sterns muss in einer bestimmten Ordnung erfolgen, um die Worte zu einem sinnvollen Satz zusammenzusetzen und die Teile des Sterns zu einem neuen harmonischen Gebilde zu formen. In dieser vorgegebenen Rezeptionsweise liegt der ironische, desillusionierende Kommentar zu den allzu romantischen Versen des Liebesgedichts: Ohne die Beachtung bestimmter Regeln ist auch in einer Liebesbeziehung keine erfolgreiche Kommunikation möglich. Dieser Kommentar erfolgt wortlos und resultiert allein aus der spezifischen »Grammatik der Interaktion«,32 in die das Werk den User einbezieht. Der _____________ 29 30 31 32
(15.01.2007). (15.01.2007). (15.01.2007). New Media-Künstler Masaki Fujihata bezeichnet mit ›Grammatik der Interaktion‹ die Regelung der Beziehung, die Werk und User zueinander einnehmen können: »One
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Inszenierungseffekt ist ein Beispiel für die nicht-diskreten Zeichen, von denen eingangs als wesentlicher Bestandteil der digitalen Literatur die Rede war.33 4. Das Doppelleben der Schrift: Visuelle und linguistische Funktion In all den aufgeführten Beispielen spielt der Text eine unentbehrliche Rolle als linguistisches Objekt. Auch im Falle der kinetisch erweiterten Konkreten Poesie wird diese Rolle des Textes zwar durch seine visuelle Funktion bzw. durch Inszenierungseffekte ergänzt, aber nicht aufgehoben. Anders scheint es sich bei den beiden folgenden Beispielen zu verhalten, die Text jeweils in praktisch unlesbarer Form anbieten. Simon Biggs’ Great Wall of China ist eine Textmaschine, die aus den Wörtern von Kafkas unvollendeter Erzählung Beim Bau der Chinesischen Mauer (Biggs verwendet die englische Übersetzung) neue Sätze formt.34 Die Texterstellung erfolgt im Moment des Mouse-Kontakts auf einer Textstelle, welche bei Unterbrechung des Kontakts Sätze wie diesen anbietet: »These communes hopelessly scrutinize these gradually pure realities or must rapidly quote any mightily taken couch.« Der Satz – dafür sorgt das an Modellerkennung und Chomskys Formaler Grammatik geschulte Programm – ist strukturell zwar völlig in Ordnung (Artikel, Subjekt, Adverb, Verb: alles ist in richtiger Anzahl und Reihenfolge vorhanden), ergibt jedoch keinerlei Sinn. Man kann sich an den immer wieder neu erstellten Unsinnssätzen in Great Wall of China erfreuen im Sinne einer »Auflehnung gegen den Denk- und Realitätszwang, gegen logische, praktische und ideelle Normen«, wie es Klaus Peter Dencker für die dem aleatorischen Verfahren wahlverwandte Unsinnspoesie festhält: »Die Freiheit des Denkens soll in der Lust am Unsinn gerettet werden.«35 Was Dieter Baake für die Unsinnspoesie erklärt, »Nonsense ist Schöpfung ohne Mythos und Logos. Kein Tiefsinn kann ihn missbrauchen«,36 scheint gleichermaßen für die Zufallsdichtung zu gelten, die den Schöpfungsprozess vom Autor, als potentiellem Träger von Mythos und Logos, löst. Und dennoch, wer den Spuren nachgeht, die Biggs mit der Wahl seiner Datenbank gelegt hat, stößt auf Mythos, Logos und Tiefsinn. _____________
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could say that interactivity is the field for constructing sentences. This field is regulated by a kind of grammar which is not the same as the grammar for writing sentences, but rather a grammar that tells you how to use it.« (Fujihata: Interactivity, S. 319) Ausführlich zu YATOO und zur Konkreten Poesie in den digitalen Medien vgl. Simanowski: Kinetisierung. (15.01.2007). Dencker: Einleitung, S. 11. Baake: Spiele, S. 376.
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Ein wichtiges Element in Kafkas Erzählfragment ist die Sage vom Boten, der die letzte Botschaft des sterbenden Kaisers übermitteln soll, die offenbar an den Leser selbst gerichtet ist: »Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten«.37 Weil der Weg so lang ist und weil der Hindernisse so viele sind, ist der Bote seit Jahrtausenden unterwegs. Das Unterfangen, so heißt es weiter, ist im Grunde aussichtslos, denn niemand dringt durch die Mitte des Reiches bis an dessen Ende, um dem auserkorenen Empfänger die Botschaft zu übermitteln: »Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.« Obgleich sich der Bote noch auf dem Weg befindet, hat die Nachricht seines Kommens den Empfänger schon erreicht. Dass es einen Text gibt, ist somit gewiss, nicht jedoch, was er beinhaltet. Kafkas Geschichte lässt sich als Gleichnis auf den Lektüreprozess lesen: Ohne die hermeneutische Anstrengung der Interpretation ist jeder vorliegende Text im Grunde noch ›unterwegs‹. Sein Sinn ergibt sich erst mit der Ankunft Hermes’, so der Name des Boten in der griechischen Mythologie. Gleichwohl hat sich in Kafkas Geschichte die Kunde vom Kommen des Boten verbreitet. Wenn man keinen zweiten, schnelleren Boten annehmen will, lässt sich dies nur im Sinne einer anthropologischen Konstante deuten: Die Erwartung des Boten ist die uranfängliche Sehnsucht nach dem Sinn, nach dem Wort des Herrn; sei es der Kaiser oder Gott. Die unendliche Verzögerung der Ankunft dieses Boten/Sinns entspricht dem, was Derrida unter der Doppelbedeutung des lateinischen ›differre‹ diskutiert hat: Aufschub ist Veränderung. Die Bedeutungsgebung ist eingebettet in einen unendlichen Signifikationsprozess, der, so Derrida im Gegensatz zu Saussure, prinzipiell unabschließbar ist. Die Ankunft des Boten ist ebenso ausgeschlossen wie die endgültige Ankunft der Wahrheit des Textes. Mit diese Perspektive auf Kafkas Geschichte eröffnet sich eine tiefere, bedeutungsreiche Dimension in Biggs’ Kafka-Adaption. Die Textmaschine, die auf Mouse-Kontakt hin immer wieder neue Unsinnssätze generiert, ist selbst sinnvolle Illustration des Kafka-Textes. Der Akt der fortwährenden Verschiebung der Ankunft des Sinns nimmt dabei gar nicht erst den Umweg über die sich stetig verschiebende Bedeutungsgebung (wie in Derridas Modell der différance), sondern produziert von vornherein und ausdauernd Aussagen, die dem Leser keinerlei Sinnangebot machen, ihm somit symbolisch auch die metaphysische Zuflucht zu irgendeinem Angebot von Sinn verweigern und vielmehr eine Metareflexion des Aktes der Bedeutungsgebung abverlangen. _____________ 37
Diese Sage war Kafka so wichtig, dass er sie unter dem Titel Eine kaiserliche Botschaft für die Erzählsammlung Ein Landarzt auskoppelte.
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Dies ist der Moment, da Literatur in Konzeptkunst umschlägt. Die einzige Geschichte, die in Biggs’ Great Wall of China erzählt wird, ist die ›Geschichte‹ über das Geschichtenerzählen. Insofern nutzt Biggs’ Textmaschine die linguistische Funktion der Wörter nur, um auf deren Abwesenheit hinzuweisen, und wäre, nach der oben gegebenen Unterscheidung, damit zur digitalen Kunst zu rechnen. Andererseits benötigt die Erkenntnis dieses Umstandes die Kenntnis des zugrundeliegenden Textes. Der Kafka-Text läuft dem Biggs-Werk voraus und schließt sich somit dessen Verständnis ein. Ohne den Einbezug des Kafka-Textes in die Interpretation der BiggsTextmaschine nimmt der Text in dieser eine sinnbefreite, rein präsentative Funktion an. Er bedeutet nichts als das kokette Spiel mit sich selbst und der allgemeinen Erwartung, etwas bedeuten zu müssen. Eine solche Vernachlässigung ließe sich freilich kaum rechtfertigen. Als Paratext gehört Kafkas Erzählung zu Biggs’ Textmaschine und muss in die Interpretation einbezogen werden. Seine Funktion ist konstitutiv: Er stattet die Unsinnssätze mit Sinn aus, womit sich deren Funktion von der Präsentation (ihrer selbst) zur Repräsentation (des Kafka-Textes) verschiebt. Biggs’ Erzählmaschine bringt die verborgene Botschaft der Kafka-Geschichte an die Oberfläche einer sichtbaren Performance, sie produziert keine eigene Geschichte, sondern überführt den Ausgangstext in die Selbstperformativität und ist damit die Adaption von Literatur in einem Projekt der Konzeptkunst. Diese Einsicht in die Doppelkodierung von Biggs’ Great Wall of China ist wiederum nur zugänglich durch den zweiten Rezeptionsschritt im Anschluss an die Begegnung mit Biggs’ Textmaschine. Die Lektüre des zugrunde liegenden Kafka-Textes schließt als Anschlusshandlung die Lektüre des BiggsProjektes ab und macht aus einem Werk digitaler Kunst eines der digitalen Literatur. Ähnliches lässt sich über Camille Utterbacks und Romy Achituvs interaktive Installation Text Rain (1999) sagen.38 _____________ 38
Eine vergleichbare Kopplung von Textmaschine und Text eines klassischen Werkes, in diesem Falle des Films Orphée (1950) von Jean Cocteau, liegt in Ken Feingolds Installation Orpheus (1996) vor, bei der ein Puppenkopf Sätze spricht, die, wie im Falle von Great Wall of China, syntaktisch korrekt, aber semantisch sinnlos sind. Der Unterschied zu Biggs’ Werk liegt darin, dass die Sätze schon in der Vorlage sinnlos waren bzw. in Anlehnung an die surrealistische automatische Poesie gebildet wurden. So geht der Satz »Time goes slower sideways« in Feingolds Orpheus auf den Satz »Silence goes faster backwards« in Cocteaus Orphée zurück. Die Veränderung kommt dadurch zustande, dass Feingold die Matrix der Cocteau-Sätze übernimmt, ihr Vokabular aber um eigene Worte erweitert, aus denen das Computerprogramm dann per Zufall Worte zieht (vgl. Huhtamo: Interaction, S. 54f.). Die Originalsätze stammen im Film aus dem Radio, arrangiert vom Tod, der mit diesen hypnotisierenden Sätzen Orpheus in die Unterwelt locken will. Feingolds Werk spielt zweifellos darauf an (bei ihm wird faktisch das Radio durch die Puppe ersetzt) und spielt, so eine mögliche Lesart, mit der Vorstellung, dass Poesie bzw. Kunst eine solche Wirkung haben könne, die ja in Coc-
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Text Rain besteht aus einem Bildschirm, auf dem über die gesamte Breite verteilt farbige Buchstaben herabfallen.39 Der Betrachter wird von einer Kamera aufgenommen und sieht sich als Schwarz-Weiß-Projektion auf dem Bildschirm. Da das Programm die Buchstaben vor dunklen Objekten stoppen lässt, landen diese auf Kopf, Arm und Schulter der Abbildung des Betrachters. Dies lädt zum Spiel mit den Buchstaben ein. Der Betrachter hebt sie hoch (die Buchstaben lassen sich vertikal, aber nicht horizontal verschieben) und sammelt sie, denn sie formen sich zu einzelnen Wörtern. In Utterbacks Beschreibung heißt es: »If a participant accumulates enough letters along their outstretched arms, or along the silhouette of any dark object, they can sometimes catch an entire word, or even a phrase. The falling letters are not random, but form lines of a poem about bodies and language.«40 Allerdings ist es kaum möglich, die Verse des zugrundeliegenden Gedichtes hintereinander zu lesen und eine Vorstellung von dessen Inhalt zu erhalten. Die Lektüretätigkeit geht nicht über das Erfassen einzelner Wörter hinaus, und wird, wie Beobachtungen zeigen, schnell abgelöst vom bloßen Spiel mit den Buchstaben, deren repräsentative Funktion damit zur reinen sich selbst genügenden Präsenz wird. Die Interaktion mit dem Werk konzentriert sich nicht auf die kognitive Tätigkeit des Textverstehens, sondern auf die körperliche der Buchstabenbewegung, die zu ungewöhnlichen Körperhaltungen sowie zur Kooperation mit anderen Betrachtern führen kann. Das Werk entwickelt seinen Reiz ganz auf der Ebene des Physischen und scheint, durch die Vernachlässigung des linguistischen Aspekts der Buchstaben zugunsten ihrer Funktion als visuelles Objekt, eher zur digitalen Kunst als zur digitalen Literatur zu gehören. Gleichwohl kommt auch hier dem konkreten Text größere Bedeutung zu, als der erste Blick vermuten lässt, denn der Text selbst – eine gekürzte Fassung des Gedichts Talk, You aus Evan Zimroths Lyrikband Dead, Dinner, or Naked (1993) – handelt von der Interaktion zwischen Körper und Wort: I like talking with you, simply that: conversing, a turning-with or -around, as in your turning around to face me suddenly …
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39 40
teaus Orphée bereits ein Spiel mit der mythischen Vorlage, wonach Orpheus’ Gesang bzw. Kunst den Tod überwindet, darstellt. Damit wird Feingolds Orpheus zu einem mehrfach gebrochenen Kommentar zur Rolle der Poesie/Musik/Kunst in der Gesellschaft, was seinen Unsinnssätzen ohne den Bezug auf Cocteaus Orphée und auf den antiken Mythos freilich kaum zu entnehmen wäre. (15.01.2007). Ebd.
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At your turning, each part of my body turns to verb. We are the opposite of tounge-tied, if there were such an antonym; We are synonyms for limbs’ loosening of syntax, and yet turn to nothing: It’s just talk.
Die inhaltliche Aussage des Gedichts steht als Idee hinter dem Konzept der Installation. Die Installation ist eine Illustration des Gedichts, in dem Maße als die Interaktion des Publikums mit dem Text nicht im Zeichen der Lektüre, sondern des Spiels steht. Mit diesem Verzicht auf das Bemühen um eine konkrete Mitteilung realisiert die Installation die im Gedicht apostrophierte ziellose Konversation: »turn to nothing: / It’s just talk«. Diese Erkenntnis ist freilich wiederum erst infolge der Lektüre des Textes möglich. Nur wer die Aussage des Gedichtes kennt, ahnt, dass die Botschaft der Installation darin liegt, nicht nach der Aussage des Gedichts zu fahnden. In beiden hier beschriebenen, recht unterschiedlichen Beispielen suggeriert das Werk eine Anschlusslektüre des benutzten Textes. Diese Lektüre konfrontiert das Publikum mit Schrift im linguistischen Sinne und verlangt ihm eine entsprechende Rezeptionshaltung der Textinterpretation ab. Ähnlich wie im Falle der Konkreten Poesie resultiert aus diesem Zugleich bzw. Wechselspiel von linguistischer und nicht-linguistischer Bedeutungsebene der tiefere Sinn des Werkes. Natürlich kann die Anschlusslektüre ausgeschlagen werden, wovon im Normalfall auszugehen ist und wovon, wie die Erfahrung zeigt, selbst engagierte Betrachter nicht auszunehmen sind.41 Dies geschieht gerade deswegen mit großem Erfolg, weil Werke wie Text Rain und Great Wall of China auch auf der Oberflächenebene eine erfolgreiche Rezeption erlauben und zum Beispiel sinnvoll als Aufforderung zu einer enthemmten Erfahrung der eigenen Körperlichkeit oder als Feier sinnbefreiter Sätze verstehbar sind. Wie gesehen halten beide Werke aber zugleich eine tiefere Bedeutung bereit, die sich dem erschließt, der die Aufgabe der Anschlusslektüre auf sich nimmt. Diese Anschlusslektüre ist der Begegnung mit dem Werk nachgelagert und zugleich Teil der Begegnung mit dem Werk, der diese erst vollendet.42 _____________ 41 42
Ich habe verschiedentlich die Erfahrung machen müssen, dass auch Kollegen, die digitale Ästhetik unterrichten, im Falle von Text Rain nicht das benutzte Gedicht aufgesucht und in ihre Interpretation einbezogen haben. Die Vollendung ist genaugenommen die Rückkehr zum Ausgangswerk (d.i. Great Wall of China oder Text Rain) zur neuerlichen, nun perspektivisch erweiterten Rezeption, die mindestens ideell, im Idealfall aber real stattfindet.
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Der medienspezifische Effekt dieser zweigeteilten Rezeption ist das Changieren zwischen den Medien: Das Printmedium bzw. das sprachliche Zeichensystem ist handlungslogisch in das digitale Medium bzw. in das System extra-linguistischer Interaktion eingebettet, ohne in diesem aufzugehen. Man kann, um zu den eingangs erwähnten Adjektiven zur Literatur ein weiteres hinzuzufügen, von ›transmedialer‹ Literatur sprechen: eine Literatur, die die Grenze zwischen Literatur und Kunst deutlich in Richtung letzterer überschreitet, dort aber unangreifbar als Literatur fortbesteht.43 In dieser Form des literarischen Experiments ist der Text nicht mehr erkennbar, lauert aber in seiner konventionellsten Form im Innersten des neuen (multimedialen, interaktiven) Gebildes. Um es mit einem Bild aus einem der frühesten literarischen Zeugnisse der Menschheit zu sagen: Es ist Literatur im Modell des Trojanischen Pferdes.44 Bibliographie Ascott, Roy: Gesamtdatenwerk. Connectivity, Transformation and Transcendence. In: Timothy Druckrey (Hg.): Ars Electronica. Facing the Future. A Survey of Two Decades. Cambridge/Mass., London 1999, S. 86-89. Baake, Dieter: Spiele jenseits der Grenze. Zur Phänomenologie und Theorie des Nonsense. In: Klaus Peter Dencker (Hg.): Deutsche Unsinnspoesie. Stuttgart 1995, S. 355-377. Barthes, Roland: The Death of the Author [frz. 1968]. In: R.B.: Image – Music –Text. Essays. Ausgew. und übers. von Stephen Heath. New York 1977, S. 142-148. Bolter, Jay David: Writing Space. The Computer, Hypertext, and the History of Writing. Hillsdale/N.J. 1991. Bush, Vannevar: As We May Think. In: The Atlantic Monthly 176/1 (1945), S. 101-108. Dencker, Klaus Peter (Hg.): Poetische Sprachspiele. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart 2002. Dencker, Klaus Peter: Einleitung. In: K.P.D. (Hg.): Deutsche Unsinnspoesie. Stuttgart 1995, S. 5-16. Eco, Umberto: Der Film und das Problem der zeitgenössischen Malerei. In: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 2001, S. 305-320. Fujihata, Masaki: On Interactivity. In: Gerfried Stocker / Christine Schöpf (Hg.): Takeover. Who’s Doing the Art of Tomorrow (Ars Electronica 2001). Wien, New York 2001, S. 316-319. Hiebler, Heinz / Karl Kogler / Herwig Walitsch: Kleine Medienchronik. Von den ersten Schriftzeichen zum Mikrochip. Hg. von Hans H. Hiebel. München 1997. Huhtamo, Erkki: Surreal-Time Interaction or: How to Talk to a Dummy in a Magnetic Mirror? In: ZKM – Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (Hg.): Artintact. CD-ROMagazin interaktiver Kunst 3. Ostfildern 1996, S. 45-55.
_____________ 43 44
Zum Begriff ›transmedial‹ vgl. Meyer / Simanowski / Zeller: Transmedialität. Für weiterer Beispiele im Grenzbereich von Kunst und Literatur, Interaktion und Lektüre vgl. Kap. 5 in Simanowski: Digitale Medien, S. 117-132
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Krajewski, Markus: Spür-Sinn. Was heißt einen Hypertext lesen? In: Lorenz Gräf / M.K. (Hg.): Soziologie des Internet. Handeln im elektronischen Web-Werk. Frankfurt/M., New York 1997, S. 60-78. Landow, George P.: Hypertext 2.0. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology. Baltimore, London 1997. Landow, George P.: Hypertext as Collage Writing. In: Peter Lunenfeld (Hg.): The Digital Dialectic. New Essays on New Media. Cambridge/Mass., London 1999, S. 150-170. Looy, Jan Van / Jan Baetens (Hg.): Close Reading New Media. Analyzing Electronic Literature. Leuven 2003 (Symbolae Facultatis Litterarum Lovaniensis, Series D, 16). Matussek, Peter: Hypomnemata und Hypermedia. Erinnerung im Medienwechsel: Die platonische Dialogtechnik und ihre digitalen Amplifikationen. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72, Sonderheft: Medien des Gedächtnisses (1998), S. 264-278. McGraw, Gary E.: Letter Spirit (Part One). Emergent High-Level Perception of Letters Using Fluid Concepts. Diss. Indiana University. Bloomington/Ind. 1995. (mcgraw.thesis.ps.gz) (15.01.2007). Meyer, Urs / Roberto Simanowski / Christoph Zeller (Hg.): Transmedialität. Studien zu paraliterarischen Verfahren. Göttingen 2006. Nelson, Theodor Holm: Literary Machines. Selbstverlag 1987. Ryan, Marie-Laure: Immersion and Interactivity in Hypertext. In: dichtung-digital 3/2001 (15.01.2007). Schulze, Holger: Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert. München 2000. Shaw, David: Aspects of Interactive Storytelling Systems. 30.10.2004. (15.01.2007). Simanowski, Roberto: Close Reading und der Streit um Begriffe. In: dichtung-digital 1/2005 (15.01.2007). Simanowski, Roberto: Lesen, Sehen, Klicken: Die Kinetisierung Konkreter Poesie. In: Harro Segeberg / Simone Winko (Hg.): Digitalität und Literalität. Zur Zukunft der Literatur im Netzzeitalter. München 2005, S. 161-177. Simanowski, Roberto: Interfictions. Vom Schreiben im Netz. Frankfurt/M. 2002. Simanowski, Roberto: Digitale Medien in der Erlebnisgesellschaft. Kultur – Kunst – Utopien. Reinbek 2008. Strachey, Christopher: The ›Thinking‹ Machine. In: Encounter 3/4 (1954), S. 25-31. Turner, Scott T.: The Creative Process: A Computer Model of Storytelling and Creativity. Hillsdale/N.J. 1994. Ziegfeld, Richard: Interactive Fiction: A New Literary Genre? In: New Literary History 20/2 (1989), S. 341-372.
Register Achebe, Chinua 512 Achituv, Romy 634 Adams, Timothy Dow 311 Adorno, Theodor W. 4, 7f., 24, 189, 197 Āgarkar, Gopāl Ganeś 617, 619 Althusser, Louis 156 Amenemope 532 Anderegg, Johannes 309 Andringa, Els 402 Ani 532 Angenot, Marc 411 Antos, Gerd 106 Apel, Karl-Otto 276 Appel, Markus 326f., 330-332 Āpte, Harī Nārāyan 619 Apuleius 511 Arragon, Louis 303, 310 Aristoteles 14, 23, 46, 203, 214, 269, 558 Arweiler, Alexander 14, 492 Asch, Schalom 477 Ascott, Roy 622 Assmann, Aleida 19, 338 Assmann, Jan 516, 518, 522f. Attridge, Derek 410, 415 Auerbach, Erich 498 Augustinus 188 Auster, Paul 497 Austin, John L. 170 Baake, Dieter 632 Bachmann, Ingeborg 440 Bachtin, Michail 411 Bai, Li 598 Bailis, Daniel S. 323 Ball, Hugo 66-68 Barchiesi, Alessandro 568
Barthes, Roland 4, 24, 303, 308, 628 Baskirtsjeff, Marie 470 Bataille, Georges 416 Baum, Vicki 475, 475 Baumgarten, Alexander Gottlieb 63, 344 Beecher-Stowe, Harriet 316 Begley, Louis 399 Benoit-Dussausoy, Annick 508 Bernhard von Clairvaux 502 Bhavbhūtī 617 Bhosle, Śivājī 608 Bieri, Peter 193 (siehe auch Mercier, Pascal) Bigg, Simon 632-634 Bismarck, Otto von 205 Blanchot, Maurice 416 Blok, Aleksandr 511 Bloom, Harold 429 Blumenberg, Hans 194 Bodmer, Johann Jakob 54, 60 Bolz, Norbert 272 Bordewijk, Ferdinand 466f. Borges, Jorge Louis 302f., 512 Born, Bertran de 502 Boudier-Bakker, Ina 470, 472 Boulez, Pierre 625 Bourdieu, Pierre 8, 27, 183, 410, 414, 418, 439, 442, 457-459, 461 Boven, Erica van 472 Braak, Menno ter 470-477, 481f., Braider, Christopher 510 Brandes, Georg 498, 508 Brandt, Willy 230 Braudel, Fernand 203 Brecht, Bertolt 208, 474, 497, 601
640 Breitinger, Johann Jakob 54, 60, 345-347 Brentano, Clemens 74 Brock, Timothy C. 329-331 Brod, Max 474, 477 Brontë, Charlotte 476 Bruggen, Carry van 466f., 470 Bühler, Karl 276f. Burroughs, William S. 625 Busch, Wilhelm 69 Bush, Vannevar 627 Buurmann, Paul 475 Byron, George Gordon 511 Caesar, Gaius Iulius 567 Cage, John 625 Carey, John 411 Carey, William 618 Carnap, Rudolf 59, 189-190 Carrière, Moritz 16 Carroll, Joseph 32, 139f. Cao, Pi 592-594 Cao, Xueqin 600 Carey, Peter 425 Casanova, Pascale 485, 496, 506f. Castilla, Gabriel de 352, 355, 359 Cato der Ältere 576 Catull 549, 555 Caws, Mary Ann 503 Celan, Paul 410 Cercas, Javier 425 Cervantes, Miguel de 503 Chacheperreseneb 534f. Cheti 535 Chety 535 Chomsky, Noam 106 Chow, Rey 500, 512 Cicero 14, 501, 549, 553, 555, 565, 569, 575f. Ciplunkar, Krishnaśāstrī Harī 618 Ciplūnkar, Vishnuśāstrī Krishnaśāstrī 614, 618, 619 Cocteau, Jean 634f. Cohn, Dorrit 286, 408f.
Register Coleridge, Samuel Taylor 292, 323 Colonna, Vincent 302 Corneille, Pierre 408 Cortázar, Julio 512, 625 Cosmides, Leda 276f., 281f. Croce, Benedetto 67 Culler, Jonathan 80, 381 Currie, Gregory 251-253, 292 Curtius, Ernst Robert 498 Dāmle, Krishnāji Keśav 619 Damrosch, David 494 Danella, Utta 444 Dante Alighieri 52, 192, 302, 502, 505 Darío, Rubén 500 Darrieussecq, Marie 300, 304-306 Dao 606 Darwin, Charles 81, 142, 144-146, 156, 158, 271, 273 Davis, Douglas 629 De Man, Paul 305, 385 Dencker, Klaus Peter 632 Derrida, Jacques 4, 155, 170, 198f., 268, 272, 403, 409f., 413, 415f., 418, 633 Deśmukh, Gopāl Harī 619 Devavyās, Bhāve 609 Dewey, John 271 Dionysios von Halikarnassos 567 Döblin, Alfred 474f., 477, 484 Doležel, Lubomír 234, 237 Dos Passos, John 484 Dostojewski, Fjodor 193, 511, 513 Droysen, Johann Gustav 205 Doubrovsky, Serge 285, 298-301, 308 Dunyi, Zhou 603 Duras, Marguerite 304, 307, 310 Eagleton, Terry 46, 64, 79f. Eckermann, Johann Peter 505f. Eco, Umberto 49, 315, 318, 321, 623 Ehrenburg, Ilja 484 Eibl, Karl 18, 25, 32, 224f. Eimermacher, Karl 50 Ėjchenbaum, Boris 6, 377
Register Ekelund, Vilhelm 508 Ekman, Paul 149 Eliot, T.S. 182 Elsschot, Willem 466f. Engels, Friedrich 26 Ennius, Quintus 554, 565 Estés, Clarissa Pinkola 444 Even-Zohar, Itamar 460-463, 485 Exley, Frederick 286 Faulkner, William 463 Fechner, Gustav Theodor 16 Federman, Raymond 310 Feeney, Dennis 567 Feingold, Ken 634f. Feuchtwanger, Lion 475, 477, 484 Figner, Vera 470 Fish, Stanley 388 Fisher, Caitlin 628 Fix, Ulla 30, 43 Flaccus, Valerius 562 Flaubert, Gustave 12, 208 Fluck, Winfried 23 Follett, Ken 212 Fontaine, Goy 508 Fontenelle, Bernard le Bovier de 191 Foster, Hal 404 Foucault, Michel 10, 156, 183, 383, 403, 415, 628 Fowler, Don 552 Frank, Manfred 100, 196 Freud, Sigmund 144, 153-157 Freytag, Gustav 202 Fricke, Harald 21f., 382 Friederich, Werner 499 Friedrich, Hans-Edwin 19, 226 Frisch, Max 304, 310 Frye, Northrop 154 Fu, Du 598 Fuchs, Elfriede 352 Fuhrmann, Manfred: 14 Fulda, Daniel 140 Fuzuli 504
641 Gaarder, Jostein 191 Gabriel, Gottfried 18, 73, 190, 196, 290 Gadamer, Hans-Georg 6 Gādgīl, Ja. Sa. 617 Galli, Walter B. 60 Gama, Vasco da 608 Genette, Gérard 20, 286, 294f., 300, 302, 389f., 408f., 413, 416 George, Stefan 508 Gercke, Alfred 559 Gerrig, Richard 323, 328, 330 Gertken, Jan 18, 224, 260 Gahlib, Mirza 512 Gide, André 474 Goethe, Johann Wolfgang von 33, 82, 198, 316, 451, 466, 474, 491, 496, 501-503, 505, 506 Goffman, Erving 183 Gogol, Nikolai 513 Gomringer, Eugen 624 Goodman, Nelson 272f., 297 Gordimer, Nadine 512 Gottsched, Johann Christoph 339 Graf, Fritz 559 Grass, Günter 207 Green, Melanie C. 329-331 Grigat, Guido 629 Grice, Paul 288 Grimm, Thomas 94f. Groeben, Norbert 330 Grönloh, Jan Hendrik Frederik 466f. Groos, Karl 282 Grossberg, Lawrence 419 Guérard, Albert 509 Guibert, Hervé 285, 309 Guillén, Claudio 496 Gumbrecht, Hans Ulrich 163, 171, 382, 384, 516 Gunzenhäuser, Rul 104 Gupte, Niteen 493 Gutenberg, Johannes 588 Guyard, Marius-François 499, 508f.
642 Haan, Jakob Israël de 466f. Habermas, Jürgen 268, 270, 275-277, 432 Hadjopoulos, Konstantinos 508 Hall, Stuart 4 Halve, Lakśman Moreśvar 618 Hamburger, Käte 238-240, 291, 338, 377, 408 Han, Wu 605 Hanauer, David 388 Handke, Peter 30, 443 Hardenberg, Friedrich von siehe Novalis Hardie, Philip 552, 579 Harris, Robert 204 Harsdörffer, Georg Philipp 344, 624 Hart Nibbrig, Christiaan 167 Hasecke, Jan Ulrich 629 Harth, Dietrich 202 Hazlitt, William 511 Hebbel, Friedrich 451 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 197, 269 Heidegger, Gotthard 343f., 347 Heidegger, Martin 190, 410, 416 Heinich, Nathalie 417f. Hemingway, Ernest 463 Hentschläger, Ursula 631 Hesiod 567 Heydebrand, Renate von 427 Hermann, Georg 477 Herrmann, Hans Peter 344 Herodot 349, 351 Heusden, Barend von 411 Hinds, Stephen 549, 552 Hirakawa, Sukehiro 498 Hirsch, Eric D. 42, 71 Hlavác, Karel 508 Hoffmann, E. T. A. 232, 264 Hofmannsthal, Hugo von 442, 451 Hoffstaedter, Petra 387 Holenstein, Elmar 46, 49-51, 384 Hölscher, Lucian 212 Hörisch, Jochen 161, 162, 163
Register Homer 13, 52, 74, 188, 346, 350, 352, 466, 491, 499, 548-550, 552f., 557f., 577, 584 Horaz 24, 63, 499, 501, 555f., 558, 560, 563f., 566, 571, 574f. Hordjedef 535 Hori 531f. Houllebecq, Michel 195 Hui, Wei 605 Humboldt, Alexander von 451 Humboldt, Wilhelm von 206 Huet, Pierre Daniel 343f. Hume, David 355, 409 Husserl, Edmund 47, 51, 442 Huxley, Aldous 474 Hyde, Edward 80 Ibsch, Elrud 426, 432 Ingarden, Roman 42, 45-49, 51-59, 61f., 65f., 68, 70-75, 84-86 Ionesco, Eugène 500 Iser, Wolfgang 18, 20, 86, 161f. , 228 Jahraus, Oliver 140, 163, 165f., 168, 177 Jakobson, Roman 7, 20, 27, 42, 45-47, 49-58, 61-63, 65f., 68-70, 72, 74, 87, 110, 226, 294f., 376-383, 389, 390, 392, 407, 456, 460 James, William 271 Jameson, Fredric 155-157 Jandl, Ernst 68f. Jankowski, Christian 631 Ji, Lu 593 Jingzi, Wu 600 Jñānadeva 610 Jonson, Ben 497 Joyce, James 295, 463, 467, 469, 497, 498, 510 Joyce, Michael 628 Jung, Carl Gustav 144, 154-156 Jurt, Joseph 458 Kafka, Franz 25, 410, 426, 466f., 469, 474f., 481, 511, 633f.
Register Kālidās 617 Kamlah, Wilhelm 58, 61 Kānphāde, Vaijanth Śivarām 618 Kant, Immanuel 414 Kantorowicz, Ernst 206 Kawabata, Yasunari 513 Kayser, Wolfgang 46, 58, 65, 67, 74f., 116 Kennedy, Duncan 560 Kermode, Frank 501 Kern, Martin 589 Kesten, Hermann 477 Kettmann, George Jr. 484 Keun, Irmgard 477 Kierkegaard, Søren 189 Kindt, Tom 43 Klein, Julie Thompson 405 Kleist, Heinrich von 264, 511 Koch, Erik 330 Koch, Walter A. 382f., 387 Kolb, Annette 470 Köppe, Tilmann 18, 79, 97, 224, 260 Krämer, Sybille 169f. Kreuzer, Helmut 104 Kristeller, Paul Oskar 56 Krug, Oliver David 43 Kühn, Dieter 202, 207 Korthals Altes, Liesbeth 400f. Kubin, Wolfgang 605 Kuhlmann, Quirinus 624 Kolhatkar, Mahādevśāstrī Govindśāstrī 617 Kolhatkar, Śrīpād Krishnar 614, 618 Komjáthy, Jenö 508 Konfuzius 603 Kuhn, Franz 600 Kuiken, Don 388, 391 Kunte, Mahādev Moreśvar 614f. Labov, William 280 Lacan, Jacques 25, 154 Lämmert, Eberhard 113 Lamarque, Peter 249-255, 289, 296f., 300 Lambert, Aymler Bourke 80
643 Last, Jef 484 Latini, Brunetto 502 Lawrence, D.H. 463 Le Lionnais, François 624 Lecarme, Jacques 286, 298 Leibniz, Gottfried Wilhelm 197, 347 Lejeune, Philippe 286-289, 308 Lerchner, Gotthard 117 Lessing, Gotthold Ephraim 26, 54, 193f., 273 Lévi-Strauss, Claude 382 Lialina, Olia 629 Lian, Yang 606 Linné, Carl von 58 Liepmann, Heinz 476 Livius Andronicus, Lucius 501f., 557, 565, 567 Livius 502, 557 Lorenzen, Paul 58, 61 Lotman, Jurij M. 104, 118 Lucan 565, 567 Lucilius, Gaius 565 Lucke, Doris 422 Luhmann, Niklas 140, 183, 366, 458 Lukian von Samosata 339, 348-354, 359 Lyotard, Jean-François 432 Mach, Ernst 271 Mahālingadās 618 Macrobius, Ambrosius Theodosius 557f. Mallarmé, Stéphane 410 Mann, Golo 200, 204, 213 Mann, Heinrich 231, 233, 474 Mann, Klaus 69, 475-477 Mann, Thomas 27, 52, 442f., 449, 451, 475, 477 Mansbrügge, Antje 303 Mansfield, Katherine 463, 467, 470 Mao Tse-tung 604, 606 Maria von Agreda 357 Marāthe, Kāśīnāth Bālkrishna 614, 616 Marlowe, Christopher 497 Martial 555
644 Marx, Karl 26, 156f., 195, 415, 491 Matuschek, Stefan 140 Matussek, Peter 628 Mauthner, Fritz 271f. May, Karl 449 Mehring, Franz 27 Meier, Christian 213 Meltzl, Hugo 498 Menander 554 Menglong, Feng 599 Menzer, Ursula 631 Mercier, Pascal 193, 425 (siehe auch Bieri, Peter) Meutsch, Dietrich 386 Miall, David S. 388, 391 Mian, Mian 605 Miller, Geoffrey 142 Molière 67, 504 Mommsen, Theodor 80, 208, 213 Montaigne, Michel de 188, 195f. Morreti, Franco 496, 506f. Morrison, Toni 511 Moulthrop, Stewart 528 Müller, Günther 83-88 Müller, Hans-Harald 43 Müller-Kampel, Beatrix 5 Mukařovský, Jan 7, 85, 104, 118, 376, 456-459, 463, 486 Murakami, Haruki 513 Murasaki, Shikibu 503 Musil, Robert 467 Mussert, Anton 476 Naevius, Gnaeus 554 Nancy, Jean-Luc 416 Narayan, R.K. 512 Narendra 609 Navalkar, Vi. Sa. 618 Nedim, Ahmed 504 Neferti 528f. Nelson, Theodor Holm 627 Nescio siehe Grönloh, Jan Hendrik Frederik
Register Nesselrath, Heinz-Günther 559 Neumann, Alfred 477 Nietzsche, Friedrich 189, 215, 271-273, 482 Nipperdey, Thomas 205 Norden, Eduard 559 North, Michael 182 Novalis 197, 226, 339, 361-363 Nünning, Ansgar 211, 419 Nyholm, Kurt 381 Oexle, Otto G. 419 Olsen, Stein Haugom 249-255, 289, 296f., 300 Orth, Sabine 631 Ovid 511, 549, 551-553, 555, 560, 567f., 579 Padmanjī, Bābā 619 Pamuk, Orhan 497, 504 Parāñjape, Śivarām Mahādev 619 Pascal, Blaise 188 Paton, Alan 512 Pavel, Thomas 234 Pavić, Milorad 625 Peirce, Charles Sanders 271 Perron, Eddy Du 473, 475f., 478f., 481-485 Petronius 511 Phule, Jotīrāv Govindrāv 619 Pinker, Stephen 142 Pitcher, George 71 Pizer, John 505 Platon 47, 94, 179, 188, 195, 233, 236, 267, 349, 351, 553 Plautus, Titus Maccius 554 Plinius der Ältere 555, 575 Plumpe, Gerhard 177, 179f. Pohl, Karl-Heinz 24, 492 Pollock, Thomas Clark 82f. Pope, Alexander 60, 508 Popper, Karl 55f., 275-277 Posner, Roland 380, 382 Potdar, Datto Vāman 615
Register Pound, Ezra 182, 587 Prangel, Matthias 174 Pratt, Marie Luise 412 Premchand 512 Prendergast, Christopher 507 Prentice, Deborah 323, 325f., 328, 330 Price, Richard 212 Propp, Vladimir 28 Ptahhotet 529f., 534f. Ptahemdjehuti 535 Queneau, Raymond 624 Quintilian 201, 556, 565f. Racine, Jean 408 Rānade, Govind Mahādev 613f. Ranke, Leopold von 212 Ramsey, Frank Plumpton 275 Rājvāde, Viśvanāth Kāśīnāth 614 Reckwitz, Andreas 166 Reinfandt, Christoph 140 Richter, Sandra 15 Richter, Tobias 326f., 332 Rickert, Heinrich 53, 442 Ricœur, Paul 207 Rimbaud, Arthur 508 Risbūd, Nāro Sadāśiv 618 Robbe-Grillet, Alain 307f., 310 Robin, Régine 309 Rosenberg, Rainer 5, 41 Rosengren, Karl Erik 465 Rosenmeyer, Thomas 572 Rorty, Richard 198 Roth, Joseph 474f., 477 Rousseau, Jean-Jaques 410 Rüdiger, Horst 499, 508 Rühling, Lutz 21 Rütten, Ulrich 349 Rushdie, Salman 162, 491, 512 Russell, Bertrand 270 Ryan, Marie-Laure 290 Sandig, Barbara 117 Sapiro, Gisèle 458 Sabhā, Jñānaprasār 614
645 Saporta, Marc 625 Sappho 500 Sartre, Jean-Paul 26, 193 Saße, Günter 294 Sassoon, Donald 163 Savigny, Eike von 53 Schaeffer, Jean-Marie 286, 409f., 413, 417-419 Schäuffelen, Konrad Balder 625 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 192 Schickele, René 477 Schiller, Friedrich 52f., 214, 440, 443, 451, 508 Schlaffer, Heinz 30 Schlegel, Friedrich 197 Schlegel, Johann Adolf 67, 345-347 Schmidt, Siegfried J. 19, 318, 383f., 410, 458f., 461f. Schmücker, Reinold 22 Schnabel, Johann Gottfried 226, 339, 342, 347f., 352 Schneider, Jost 30, 73, 401 Schreier, Margrit 19, 330f. Schulz, Gerhard 447f. Schwarz, Rainer 600 Searle, John R. 18, 241-244, 288f. Sebald, W. G. 207 Seneca der Ältere 555, 562 Sengle, Friedrich 354 Servian 567 Shakespeare, William 172, 181, 230, 263, 466, 491, 497, 511, 617 Shengtan, Jin 601 Sidney, Philip 173 Sijde, Nico van der 416 Simanowski, Roberto 494 Simon, Henrike 24, 492 Šklovskij, Victor 6, 57, 377 Sokal, Alain 424 Sokrates 94, 96f., 195f. Sommer, Roy 419 Sophokles 501
646 Southey, Robert 511 Spillner, Bernd 117 Spitzer, Leo 116 Spivak, Gayatri 506 Statius 562 Stehr, Nico 404 Stein, Gertrude 285, 304 Stevenson, Charles L. 60 Strachey, Christopher 626 Strindberg, August 465 Strohschneider, Peter 126 Strube, Werner 5, 42 Stuck, Elisabeth 401 Sukenick, Ronald 286, 311 Szymborska, Wisława 500 Tanizaki, Jun’ichirō 513 T’ai-po, Li siehe Bai, Li Tasso, Torquato 346 Terenz 554, 555 Teuffel, Wilhelm Sigmund 561f., 564f. Thelen, Albert Vigoleis 476f., 479, 482f. Thomas von Aquin 269, 502 Thukydides 202 Tieck, Ludwig 361 Tilak, Bāl Gangādhar 619 Tinbergen, Nico 154 Toer, Pramoedya Ananta 512 Tolstoi, Leo 511, 513 Tomasevskij, Boris 377 Tooby, John 276f., 281f. Tong, Xiao 596 Toulmin, Stephen 72 Tuqan, Fadwa 512 Turner, Scott 626 Turner, Stephen 405 Tynjanow, Juri 456f., 460 Tzara, Tristan 625 Ulrich, Anton 344 Utterback, Camille 634f. Vaihinger, Hans 271 Vazov, Ivan 508 Veyne, Paul 200
Register Viehoff, Heinrich 16 Vierhaus, Rudolf 200 Vergil 346, 497, 501, 511, 549, 552f., 557f., 565, 568, 576f., 579 Verlaine, Paul 508 Vermeylen, August 508 Vodička, Felix 456 Vollhardt, Friedrich 126 Voltaire 188 Wackwitz, Stephan 215 Walcott, Derek 512 Waletzky, Josuah 280 Wallenstein 204 Wallerstein, Immanuel 506 Walther, Gerrit 205 Walton, Kendall L. 245-247, 249, 292 Warning, Rainer 18-20 Wassermann, Jakob 477 Weber, Max 92, 101, 399 Wehler, Hans-Ulrich 203 Weiß, Ernst 477 Weimar, Klaus 28, 30, 42, 65, 94-96 Weingart, Peter 404 Weitzmann, Marc 300f., 309 Wellek, René 407f., 414f., 498, 508f. Wells, H. G. 248 Werth, Paul 380f. Wheeler, S. Christian 330 White, Hayden 140, 204f., 209f., 213 Wieland, Christoph Martin 198, 226, 339, 353f., 357, 359 Wiener, Zelko 631 Wilkomirski, Binjamin 400 Willem, Gottfried 99 Willems, Herbert 183 Willems, Marianne 183 Williams, Gordon 563-566 Wilson, Edward O. 156 Wilson, Epiphanius 504 Winko, Simone 20, 226, 427 Wittgenstein, Ludwig 42, 59, 71f., 106, 195f., 272f., 521
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Register Wolf, Silver Raven 444 Wolff, Christian 347 Woolf, Virginia 463f., 466f., 470 Wordsworth, William 170, 511 Xie, Liu 593, 595f. Xingjian, Gao 605 Xun, Lu 604, 606 Ying, Hong 605
Yuan, Qu 591, 596, 602 Zesen, Philipp von 344 Zhi, Li 601 Zimroth, Evan 635 Zipfel, Frank 20, 225, 231 Zola, Émile 413 Zweig, Arnold 477 Zweig, Stefan 475, 477
Anschriften der Beiträger Prof. Dr. Els ANDRINGA – Universiteit Utrecht, Opleiding Literatuurwetenschap, Trans 10, NL-3512 JK Utrecht, [email protected] Prof. Dr. Alexander H. ARWEILER – Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Klassische Philologie, Domplatz 20-22, D-48143 Münster, [email protected] Prof. Dr. Joseph CARROLL – University of Missouri, St. Louis, Department of Englisch, 456 Lucas Hall, One University Boulevard, St. Louis, MO 63121-4400, USA, jcarroll@ umsl.edu Prof. David DAMROSCH – Departement of English & Comparative Literature, 613a Philosophy Hall, 1150 Amsterdam Avenue, New York, NY 10027-4927, USA, [email protected] Prof. Dr. Karl EIBL –Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, D-80799 München, [email protected] Prof. Dr. Ulla FIX – Universität Leipzig, Institut für Germanistik, Beethovenstraße 5, D-04107 Leipzig, [email protected] Prof. Dr. Hans-Edwin FRIEDRICH – Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Institut für Neuere deutsche Literatur, Leibnizstrasse 8, D-24118 Kiel, [email protected] Prof. Dr. Daniel FULDA – Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Germanistisches Institut, Herweghstrasse 96, D-06099 Halle/Saale, [email protected] Jan GERTKEN – Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Philosophie, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin, [email protected] Prof. Dr. Niteen GUPTE – University of Pune, Ranade Institute Building, Department of Foreign Languages, Fergusson College Road, Pune 411 004, India, [email protected] Prof. Dr. Fotis JANNIDIS – Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Am Hubland, D-97074 Würzburg, [email protected] Dr. Tom KINDT – Georg-August-Universität Göttingen, Seminar für Deutsche Philologie, Käte-Hamburger-Weg 3, D-37073 Göttingen, [email protected] Prof. Dr. Liesbeth KORTHALS ALTES – Universität Groningen, Faculty of Arts, General Literature, Oude Kijk in ’t Jatstraat 26, NL-9712 EK Groningen, [email protected] Dr. Tilmann KÖPPE – Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut for Advanced Studies (FRIAS), Albertstrasse 9, D-79104 Freiburg, [email protected] Oliver David KRUG – Tate Press Office, 20 John Islip Street Millbank, London SW1P 4RG, [email protected] Prof. Dr. Gerhard LAUER – Georg-August-Universität Göttingen, Seminar für Deutsche Philologie, Käte-Hamburger-Weg 3, D-37073 Göttingen, [email protected] Prof. Dr. Stefan MATUSCHEK – Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Germanistische Literaturwissenschaft, Frommansches Anwesen, Fürstengraben 18, D-077377 Jena, [email protected]
Anschriften der Beiträger
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Prof. Dr. Hans-Harald MÜLLER – Universität Hamburg, Institut für Germanistik II, VonMelle-Park 6, D-20146 Hamburg, [email protected] Prof. Dr. Karl-Heinz POHL – Universiät Trier, FB II Sinologie, D-54286 Trier, [email protected]. Prof. Dr. Christoph REINFANDT – Eberhard Karls Universität Tübingen, Englisches Seminar, Wilhelmstrasse 50, D-72074 Tübingen, [email protected] Prof. Dr. Jost SCHNEIDER – Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Philologie, Germanistisches Institut, Universitätsstr. 150, D-44780 Bochum, [email protected] Prof. Dr. Margrit SCHREIER – Jacobs University Bremen, Campus Ring 1, D-28759 Bremen, P.O. Box 750 561, 28725 Bremen, [email protected] Assistant Professor Dr. Roberto SIMANOWSKI – Brown University, Department of German Studies, Box 1979, 190 Hope Street, Providence, RI 02912, USA [email protected]. Henrike SIMON – Freie Universität Berlin, Ägyptologisches Seminar, Altensteinstraße 33, D-14195 Berlin, [email protected] Prof. Dr. Werner STRUBE – Universität Bochum, Institut für Philosophie, Postfach 10 21 48, D-44780 Bochum, [email protected] PD Dr. Elisabeth STUCK – PH Bern, Institut Sekundarstufe II, Muesmattstrasse 27a, CH-3012 Bern, [email protected] Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus WEIMAR – Universität Zürich, Deutsches Seminar, Schönberggasse 9, CH-8001 Zürich, [email protected] Prof. Dr. Simone WINKO – Universität Göttingen, Seminar für Deutsche Philologie, KäteHamburger-Weg 3, D-37073 Göttingen, [email protected] Dr. Frank ZIPFEL – Universität Mainz, Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Jakob-Welder-Weg 18, D-55128 Mainz, [email protected]