K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
W I S S E N S
LUX-LESEBOGEN N A T U B - U N D K U LT U B K U N D L I C H E H E ...
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K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
W I S S E N S
LUX-LESEBOGEN N A T U B - U N D K U LT U B K U N D L I C H E H E F T E
HANS
HARTMANN
WELTREISENDER UND WELTGELEHRTER
2006 digitalisiert von Manni Hesse
VERLAG MURNAU .
SEBASTIAN
MÜNCHEN
.
LUX
INNSBRUCK
BASEL
Der Mann mit der Keule _|.n den Abendstunden des 27. Oktober 1799 promenieren in der spanischen Kolonie Neu-Andalusien. die heute Venezuela heißt, zwei Männer den Strand des Atlantischen Ozeans entlang. Das Gespräch kreist um die Sonnenfinsternis, die für den nächsten Tag erwartet wird und die sie außerhalb des Urwaldes an der offenen Küste beobachten wollen. Plaudernd genießen sie die Kühle des Abends und verfolgen das Eintreten der Flut, die an dieser Stelle merkwürdig niedrig emporsteigt. Die beiden Männer befinden sich seit drei Monaten auf einer Expedition durch Südamerika. Plangemäß haben sie mit der Erforschung der Landschaft, der Gebirge und Flüsse, der Pflanzen, Tiere und Menschen und mit der Beobachtung des Himmels und der Sterne begonnen. Der Größere der beiden ist Alexander von Humboldt, ein deutscher Gelehrter, der in vielen Wissenschaften bewandert ist, der Kleinere, Stämmige ist Aime Bonpland, ein französischer Arzt, der sich ganz der Botanik verschrieben hat. Humboldt hat Bonpland als Begleiter mitgenommen, in der richtigen Voraussicht, daß er die zu erwartende Ausbeute an interessanten Pflanzen allein nicht werde verarbeiten können; tatsächlich haben die beiden im Verlauf ihres Aufenthaltes im nördlichen Südamerika, auf Kuba und in Mexiko gemeinsam 6000 Pflanzenarten gesammelt, von denen sie 3500 zum ersten Male beschreiben konnten. Die Dämmerung ist urplötzlich hereingebrochen. Der Seewind hat sich noch nicht aufgemacht, und die Hitze des Tages glüht noch immer über Meer und Strand. Sie schauen nach den Sternen aus, die einer nach dem anderen aus dem Gewölk hervortreten. Plötzlich hört Humboldt hinter sich verdächtig bastige Schritte. Als er sich umblickt, sieht er einen Eingeborenen auf sich zustürzen. Der Mann holt aus, um auf Humboldts Kopf eine Keule niedersausen zu lassen. Die beiden Europäer sind unbewaffnet. Humboldt kann im letzten Augenblick zur Seite springen, Bonpland aber hat den Indianer zu spät bemerkt. Die Keule streift ihn an der Schläfe, er stürzt zu Boden. 2
Aber der Indianer kümmert sich nicht mehr um sie, rafft Bonplands Hut auf, der die Gewalt des Schlages gemildert hat, und macht sich davon. Humboldt beugt sich über den Reisegefährten; Bonpland ist zum Glück kaum verletzt und kommt wieder auf die Beine. Sie eilen dem Attentäter nach, der aus einem Gebüsch heraus mit einem langen Messer erneut gegen sie vorgeht. Ihre Lage ist nicht gerade rosig; auf ihr Rufen eilen spanische Kaufleute zu Hilfe, die sich in der Nähe aufgehalten haben. Da gibt der Mann die Gegenwehr auf, nach kurzer Verfolgung kann man ihn fassen. Er läßt sich ruhig abführen. Die Hintergründe des Überfalls sind nie aufgeklärt worden. Das Abenteuer ist bald vergessen. Es ist nur eine der mancherlei Bedrohungen, denen Humboldt und sein Begleiter auf amerikanischem Boden ausgesetzt gewesen sind und noch ausgesetzt sein werden. Als ob nichts geschehen wäre, genießen die beiden Männer geruhsam die wundervolle Tropenwelt, die vor allem an den Abenden und in den Nächten von-kaum zu beschreibendem Zauber ist. „Seit unserem Eintritt in die heiße Zone", so erzählt Humboldt später, „wurden wir nicht müde, in jeder Nacht die Schönheit des südlichen Himmels zu bewundern, an dem, je weiter wir nach Süden vorrückten, immer neue Sternbilder vor unseren Blicken aufstiegen. Ein sonderbares, bis jetzt ganz unbekanntes Gefühl wird in einem rege, wenn man dem Äquator zu, und namentlich beim Übergang aus der einen Halbkugel in die andere, die Sterne, die man von Kindheit auf kennt, immer tiefer hinabrücken und endlich verschwinden sieht. Nichts mahnt den Reisenden so auffallend an die ungeheure Entferung seiner Heimat als der Anblick eines neuen Himmels. Wenn es einem Reisenden gestattet ist, von seinen persönlichen Empfindungen zu sprechen, so darf ich sagen, daß ich in dieser Nacht einen der Träume meiner frühesten Jugend in Erfüllung gehen sah."
* Diese Träume waren in Alexander von Humboldt, der mit seinem Bruder Wilhelm von Humboldt im Hause Jägerstraße 22 in Berlin und in Schloß Tegel eine ziemlich freudlose Jugend verlebt hatte, durch Reiseschilderungen geweckt worden, die seine früheste und beliebteste Lektüre gewesen waren. Im Gegensatz zu seinem zwei Jahre älteren, im Geistigen verwurzelten Bruder war Alexander der weiten Welt und der Natur zugewandt und hatte schon als Elfjähriger Steine und Pflanzen gesammelt, um sie zu studieren und sich an ihnen zu erfreuen. Als ihn einmal eine adelsstolze Tante, die Frau eines Königlich-Preußischen Kammerherrn, angesichts sei3
ner Sammlungen verächtlich fragte, ob er vielleicht Apotheker werden wolle, hatte er mit der Offenheit, die ihn durchs ganze, fast neunzigjährige Leben begleitete, geantwortet: „Lieber Apotheker als Kammerherr!" Ein seltsamer Zufall wollte es, daß er zwar nicht Apotheker, sondern ein weltberühmter Forscher und auch — Königlicher Kammerherr geworden ist. Doch davon wird später die Rede sein. Von der Eindrucksfähigkeit der beiden Forscher am Strande von Venezuela gibt uns ein Wort Humboldts Auskunft, der sein ganzes Leben lang schreibfreudig war und unzählige Menschen mit seinen gehaltvollen Briefen beglückte. „Wie die Narren laufen wir umher, und Bonpland versichert, daß er noch von Sinnen käme, wenn die Wunder nicht bald aufhören."
Auf dem Sechstausender Obwohl Humboldt von Natur keineswegs kräftig war und die Ärzte manchmal große Sorge um ihn hatten, gaben ihm doch die Tropen und das immer wieder neu angefachte Gefühl für ihre Schönheiten, aber auch ihre Schrecknisse, neuen Auftrieb. Als die Hälfte seiner abenteuerlichen Reise überstanden war, schrieb er von Havanna am 21. Februar 1801: „Meine Gesundheit und Fröhlichkeit hat trotz des ewigen Wechsels von Nässe, Hitze und Gebirgskälte sichtbar zugenommen. Die Tropenwelt ist mein Element, und ich bin nie so ununterbrochen gesund gewesen als in den letzten zwei Jahren. Ich arbeite sehr viel, schlafe wenig, bin oft bei astronomischen Beobachtungen vier bis fünf Stunden lang ohne Hut der Sonne ausgesetzt. Ich habe mich in Städten aufgehalten, wo das gräßliche gelbe Fieber wütete, und nie, nie hatte ich auch nur Kopfweh." Einschränkend gesteht er, daß er doch zweimal von Fieberanfällen betroffen wurde: das eine Mal, als er nach langem Hungern hastig und unmäßig Brot genoß, und das andere Mal, als er „von einem hier stets fiebererregenden Staubregen bei Sonnenschein naß wurde". Aber selbst in den Gegenden, wo die Wilden — so nannte er die Indianer — stets am Faulfieber leiden, widerstand seine Gesundheit unbegreiflich gut. Humboldt hat in den Anden in Südamerika mehrere hohe Berge erstiegen und einige Male die Schneegrenze überschritten. In seinen Nötigen, die er unermüdlich und höchst genau zu Papier brachte, findet sich die Bemerkung, daß er am 23. Juni 1802 den bekanntesten Anden-Gipfel bestiegen und fast die Spitze erreicht hat. Dieser 4
,
Hängebrücke im Orinoko-Gebiet (Nach einer Zeichnung Humboldts) Berg, der Chimborazo, ist bei vielen Völkern zum Symbol eines besonders hohen Berges geworden und 6eine Besteigung zur beispielhaften Höchstleistung. Humboldt hat den Sechstausender nach seinen eigenen Messungen bis auf die Höhe von 5882 Metern erklommen, so daß nicht viel bis zum Gipfel gefehlt hat. Nur wenige Alpinisten haben nach Humboldt versucht, den Berg zu ersteigen, erst der Engländer Whymper erreichte im Jahre 1880 den höchsten Gipfelpunkt. Die Besteigung des Chimborazo, der zu Humboldts Zeiten als der höchste Berg der Welt galt, war ebenso anstrengend wie gefährlich. Schon von weitem hatten Humboldt und seine Begleiter durch ein großes Fernrohr die Moränenzüge, Lavaströme, Gletscher und den Schneemantel des Berges durchforscht und mehrere ganz vegetationsfreie Felsgrate entdeckt. Der Anstieg erfolgte stufenweise, weil immer wieder ebene Flächen den Abhang unterbrachen. Allmählich blieben die Eingeborenen zurück, da ihnen die Strapazen 5
zu anstrengend wurden. Bonpland, ein Spanier und ein Mestize waren schließlich die einzigen, die mit ihm ausharrten. Oft verschwand die Gruppe in Wolkenschwaden; das war um so gefährlicher, als der Felskamm, der im Spanischen den vielsagenden Namen „Messerrücken" trägt, an manchen Stellen nur zwanzig bis dreißig Zentimeter breit ist. Zur Linken war der Absturz mit Schnee bedeckt, dessen Oberfläche durch Frost wie verglast erschien. Rechts blickte man mehr als 500 Meter tief in einen Abgrund, aus dem schneelose Felsmassen senkrecht hervorragten. Ohne alpinistische Ausrüstung im heutigen Sinne war die kleine Gruppe darauf angewiesen, alle Augenblicke neue Entscheidungen zu treffen und sich den ständig ändernden Bergverhältnissen anzupassen. Ansehaulich schildert Humboldt, wie sie trotz allem nicht kapitulierten: „Wir hielten den Körper immer mehr nach dieser Seite hingeneigt; denn der Absturz zur Linken schien noch gefahrdrohender, weil sich dort keine Gelegenheit darbot, sich mit den Händen an zackig vorstehenden Gesteinen festzuhalten und weil dazu die dünne Eisrinde nicht vor dem Untersinken im lockeren Schnee sicherte .. . Die geneigte Schneedecke war so ausgedehnt, daß wir die Steine (die wir hinunterrollen ließen) früher aus dem Gesicht verloren, als sie zur Ruhe kamen." Das Gestein wurde bröckliger, und scharfe Kanten verletzten die Hände. Aber sie beachteten die Mühsal und Schmerzen nicht. Ganz nebenbei notiert Humboldt, der seine persönlichen Leiden nie besonders hervorhob: „Ich hatte dazu ( wenn es anders einem Reisenden erlaubt ist, so unwichtige Einzelheiten zu erwähnen) seit mehreren Wochen eine Wunde am Fuße, welche durch die Anhäufung der Niguas (der Sandflöhe) veranlaßt und durch feinen Staub vom Bimsstein, bei Messungen im Llano de Tapia, sehr vermehrt worden war." Die Absturzgefahr wurde von Schritt zu Schritt größer. Viele Stellen erschienen unsicher, man mußte sie vorher prüfen. Humboldt pries sich glücklich, daß der Ghimborazo der letzte der Bergriesen war, die er in Südamerika bestieg, und daß sie am Chimborazo die früher gesammelten Erfahrungen ausnutzen konnten und wußten, wieviel sie sich zutrauen durften. „Es ist ein eigener Charakter aller Exkursionen in der Andenkette, daß oberhalb der ewigen Schneegrenze weiße Menschen sich dort in den bedenklichsten Lagen stets ohne Führer, ja ohne alle Kenntnisse der örtlichkeit befinden. Ma« ist hier überall zuerst." Die vier Menschen arbeiteten sich weiter empor. Mit zunehmender 6
Höhe machten ihnen Schwindel und Atemnot mehr und mehr zu schaffen. Die Lippen sprangen auf und bluteten Fast immer war der Gipfel vor ihnen in Nebel gehüllt. Aber die Hoffnung, den ersehnten Gipfel zu erreichen, belebte die Kräfte. Plötzlich aber standen sie vor einem tiefen Abgrund, der dem Unternehmen ^ine unübersteigliche Grenze setzte. Die Kluft war nicht zu umgehen. So mußten sie sich voller Enttäuschung zur Umkehr entschließen und stiegen unter Lebensgefahr und bei trübem Wetter wieder zu Tal. Aber wie beim Aufstieg so dachten Humboldt und Bonpland auch beim Abstieg an ihre eigentliche Aufgabe und sammelten seltsame Pflanzen und vor allem Gesteinsproben. Scherzhaft bemerkt Humboldt dazu, er habe vorausgesehen, daß die Freunde in Europa ihn sicher um „ein kleines Stück vom Chimborazo" ansprechen würden. Er macht zugleich darauf aufmerksam, daß Hochgebirgsbesteigungen für die Wissenschaft wenig ergiebige Ausbeute liefern und daß Gipfelbezwingungen, wie sie in seiner Zeit zum ersten Male gewagt wurden, eigentlich nur Ruhmestaten seien: „Das organische Leben ist in diesen hoben Einöden der Erdfläche erstorben. Kaum verirren sich in die dünnen Schichten des Luftkreises der Berggeier (der Kondor) und geflügelte Insekten, letzte unwillkürlich von Luftströmungen gehoben. Wenn jetzt ein ernstes, wissenschaftliches Interesse kaum noch der Bemühung reisender Physiker, welche die höheren Gipfel der Erde zu ersteigen streben, geschenkt wird, so hat sich dagegen im allgemeinen Volkssinne ein reger Anteil an einer solchen Bemühung erhalten. Das, was unerreichbar scheint, hat eine geheimnisvolle Zugkraft; man will, daß alles erspäht, daß wenigstens versucht werde, was nicht errungen werden kann. Der Chimborazo ist der ermüdende Gegenstand aller Fragen gewesen, welche seit meiner ersten Rückkunft nach Europa an mich gerichtet wurden. Die Ergründung der wichtigsten Naturgesetzte, die lebhafteste Schilderung der Pflanzenzonen und der die Objekte des Ackerbaues bestimmenden Verschiedenheit der Klimate, welche schicbtenweise übereinander liegen, waren selten fähig, die Aufmerksamkeit von dem schneebedeckten Gipfel abzulenken." Aus diesen Worten geht hervor, daß Humboldt nicht um sensationeller Spitzenleistungen willen reiste, sondern um sich in die Zusammenhänge in Natur und Kultur fremder Gegenden einzuarbeiten. Das Leben fremder Volksstämme, ihre Sprache und Sitte, ihr Sozialwesen und ihre Religion haben ihn lebhaft interessiert. Sehr deutlich, ja heftig sprach er sieh gegen die Unterjochung der Eingeborenen durch die Weißen aus, die der völligen Sklaverei gleichkomme. Für das Naturverständnis aber, um das er sein ganzes Leben 7
lang gerungen hat, war ihm in den tropischen Ländern die Tatsache besonders aufschlußreich, daß sich auf halber Höhe der tropischen Gebirge die gleiche Natur- und Kulturlandschaft wie in Europa vorfinde, oben in der Schneeregion die arktische Flora und Fauna, und daß die Natur so auf einem einzigen Fleck ein Gesamtbild von all ihren Möglichkeiten auf der Erde gebe . . .
' Doch wir haben im Lebenslauf des großen Forschers um Jahre vorgegriffen. Wie Alexander von Humboldt dazu gekommen ist, in die wissenschaftlich kaum erschlossene Welt des südamerikanischen Kontinents einzudringen und ihn wie ein „zweiter Kolumbus" neu zu entdecken, davon soll im folgenden Kapitel berichtet werden. Der Bergwerksdirektor Zwei Brüder, die in die Kulturgeschichte der Menschheit durch einzigartige Leistungen eingeben — diesen Glücksfall gibt es nur selten in der Geschichte. In den Brüdern Wilhelm und Alexander von Humboldt, die aus einem märkischen Geschlechte stammen, ist er verwirklicht. Fast ein Jahrhundert lang spiegelt sich in ihrem Leben das Schicksal Berlins und Deutschlands. Sie wurden Sinnbilder für die damals so lebhaft erwachenden Wissenschaften, Wilhelm, 1767 geboren, vornehmlich für die Geisteswissenschaften, Alexander, am 14. September 1769 geboren, vor allem für die Naturwissenschaft, von der aus er ständig Brücken baute zu den Geistesund Kulturwissenschaften. Alexander hatte als Student in Frankfurt an der Oder, in Berlin, Göttingen und Hamburg das naturwissenschaftliche, geographische und völkerkundliche Wissen seiner Zeit in sich aufgenommen und schon als Jüngling über die Einzelwissenschaften hinweg das große Ganze der Natur ins Auge gefaßt. Als Zwanzigjähriger ließ er bereits eine Schrift über die Gebirge am Rhein erscheinen, und damit erweckte er die Aufmerksamkeit der preußischen Bergwerksverwaltung: „Der unverdiente Erfolg, den mein erstes Werk über die rheinischen Basaltgebirge hatte, ließ in unserem obersten Leiter des Bergbaus, (Staatsminister) W. von Heinitz, den Wunsch reifen, daß ich mich dem Bergbau widme." Humboldt folgte der Aufforderung von Heinitz sehr gerne, ging aber noch nicht sofort auf eine Bergakademie, sondern hatte das richtige Gefühl, erst noch Eindrücke auch aus anderen Ländern sam8
In diesem Hause arbeitete Humboldt während seines Aulenthaltes in Mexiko mein zu müssen. Denn ein Bergmann kann gar nicht genug mineralogische und geologische Kenntnisse haben. Glücksumstande brachten ihn in Verbindung mit einem damals und auch später sehr bekannten Naturforscher, Georg Forster, der ihn aufforderte, ihn auf einer Reise zum Niederrhein, nach Belgien, Holland, England und Frankreich zu begleiten. Humboldt verfügte über einiges Vermögen und schloß sich Forster an, der mit James Cook die Reise um die Welt gemacht hatte. Humboldts Sehnsucht in die weite Welt nahm schon damals fast leidenschaftliche Formen an. Daß er sie noch fast ein Jahrzehnt bezähmen konnte, versteht man aus einem besonders liebevollen Zug im Verhältnis zu seiner Mutter. Da sein Vater schon sehr früh gestorben war und die Mutter einer Überseereise ihres Sohnes nur mit schweren Bedenken und Ängsten gegenüberstand, glaubte er, sie schonen zu müssen. Gegen die Reise durch Westeuropa hatte die Mutter jedoch nichts einzuwenden. Mit Forster zusammen betrieb er unterwegs kunstgeschichtliche, naturkundliche und vor allem mineralogische und bergbauliche Studien, die Alexanders Entscheidung für den Bergbau 9
endgültig bestimmten. Diese Entscheidung war um so mutiger, als Humboldt ja von schwächlicher Gesundheit war, so daß Forster nach der Rückkehr von der gemeinschaftlichen Fahrt an seinen Schwiegervater schrieb: „Herr von Humboldt ist bei mir; er hat sich die Reise hindurch ziemlich, jedoch nicht so gut, wie ich wünschte, gehalten. Er sagt zwar, daß er seit fünf Jahren immer krank sei und nur unmittelbar nach einer großen Krankheit sich etwas besser befinde, dann aber immer schlediter würde, bis der Ausbruch einer neuen Krankheit ihn von neuem von dem Übermaße verdorbener Säfte auf einige Zeit befreie; ich bin aber fest überzeugt, daß bei ihm der Korper leidet, weil der Geist zu tätig ist." Humboldt war jedoch schon in dieser Zeit ein höchst lebendiger Beweis für das Wort Schillers: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut". So wagte er es denn und bereitete sein Studium an der Bergakademie in Freiberg in Sachsen vor. Er wollte indes nur ein halbes Jahr in Freiberg bleiben. Seine innere Stimme sagte ihm, er müsse möglichst viele und vielseitige Eindrücke und Kenntnisse sammeln, um seinen wahren Lebensberuf ausführen zu können. So meldete er sich bei Professor Werner in Freiberg an, der zu den größten Gesteinskennern zählte. In dieser Anmeldung schrieb er: „Ich sehe —• leider! nur zu gut ein, wie wenig sechs Monate hinreichend sind, um alle die Ideen einzusammeln, die einem Bergmann notwendig sind. Aber ich will mich doch lieber mit wenigem begnügen, als das Glück ganz einzubüßen, des vortrefflichen Unterrichts von Euer Wohlgeboren zu genießen. Ich hoffe, da es mir an gutem Willen nicht fehlt, mit männlichem Eifer zu arbeiten und auch in sechs Monaten viel, recht vieles zu lernen." Am 15. Mai 1791 langte er in Freiberg an und stürzte sich mit Feuereifer in die Arbeit. Er war damals 2] Jahre alt. Bereits am nächsten Tage unternahm er eine Fahrt in die Grube. Die ganze Zeit seines Freibeiger Aufenthaltes arbeitete er am Vormittag fleißig unter Tage, wo er Gesteine untersuchte und botanisierte und sich gleichzeitig mit allen bergmännischen Tätigkeiten vertraut machte. Sein Gefühl, das Ganze der Natur zu erforschen und sich nicht nur auf Gesteinskunde besdiränken zu sollen, war schon ganz lebendig. Die Flora im Dunkel der Erde war damals noch kaum bekannt. Humboldt interessierte vor allem die Frage, wie die Pflanzen es fertig bringen, mitten in den Gasarten, in denen atmende Geschöpfe ersticken würden, dennoch von grüner Farbe zu bleiben. Ale Frucht dieser Studien reifte eine wissenschaftliche Arbeit über die unterirdische Pflanzenwelt des Freiberger Reviers, die er später veröffentlichte. 10
Über seine Studienreisen von Freiberg aus schreibt er an einen Hamburger Freund: „Denken Sie nur, daß ich in den sechs Monaten, die ich hier war, gut 150 Meilen zu Fuß und Wagen durch Böhmen und Thüringen, Mansfeld und so weiter gereist, daß ich regelmäßig alle Tage von 6 bi6 12 Uhr anfahre (wobei das Auf-die-Grube-gehen oft 1—2 Stunden dauert und im Schnee sehr beschwerlich ist), daß ich 5—6 Kollegia (Vorlesungen) auf den Nachmittag zusammengedrängt habe — und sprechen Sie mir dann selbst mein Urteil. Es war noch keine Zeit meines Lebens, in der ich so beschäftigt war als hier. Meine Gesundheit hat sehr gelitten, obgleich ich nicht einmal krank war. Dennoch bin ich im ganzen sehr froh. Ich habe an Kenntnissen unendlich gewonnen." Professor Werner gab Humboldt als Betreuer in der Grube einen älteren Studenten namens Freiesleben mit, der vom gleichen wissenschaftlichen Eifer beseelt war wie er und ihm ein guter Führer und Berater wurde. Humboldt freundete sich mit ihm fürs Leben an und fand in ihm einen Menschen, der sich darum bemühte, in die Seele der ihm Nahestehenden einzudringen und sich ein klares Bild von seinem Wesen zu machen. Freiesleben, mit dem er auch nach Böhmen gereist war, hat schon nach den wenigen Monaten des Zusammenseins ein so zutreffendes Bild von Humboldts Wesen gewonnen, daß wir seine Worte aus späterer Zeit gern hören werden: „Die hervorstechenden Züge seines liebenswürdigen Charakters sind: eine ganz unendliche Gutmütigkeit; wohlwollende und wohltätige, zuvorkommende, uneigennützige Gefälligkeit; warmes Gefühl der Freundschaft und Natur; Anspruchslosigkeit. Einfachheit und Offenheit in seinem ganzen Wesen; immer lebendige und unterhaltende Mitteilungsgabe; heitere, humoristische, mitunter wohl auch sdialkhafte Laune. Diese Züge, die ihm in späteren Jahren dazu halfen, wilde und rohe Menschen, unter denen er sich jahrelang aufhielt, zahm und sich geneigt zu machen, in der gesitteten Welt aber allenthalben, wo er auftrat, Bewunderung und Anteil zu erregen — diese Züge erwarben ihm schon in Freiberg allgemeine Liebe und Ergebenheit. Er wollte jedem wohl und wußte jeden Umgang unterhaltend und nützlich IM machen; nur gegen inhumane Roheit, jede Art von Insolenz (Anmaßung), Ungerechtigkeit oder Härte konnte er erzürnt und heftig sowie gegen Sentimentalität oder, wie er es nannte, ,Breiigkeit des Gemüts' und Pendanterie (Kleinigkeitskrämerei) konnte er ungeduldig werden." Humboldt bewarb sich nach diesem kurzen, aber intensiven Studium bei Minister Heinitz um eine Stelle im Bergbau, bemerkte dabei aber, daß er bestrebt sei, durch Verbesserung des Bergbaus 11
neue Quellen des Nationalreichtums zu erschließen und damit die daniederliegende Staatswirtschaft mit aufzubauen. Heinitz stand offenbar unter dem Eindruck dieser Worte und stellte ihn als Assessor beim Bergwerks- und Hüttendepartement zu Berlin an. In seiner Bescheidenheit wehrte sich Humboldt dagegen, weil er befürchtete, er werde ungerechterweise anderen Anwärtern vorgezogen. Aber es stellte sich heraus, daß das nicht der Fall war. Humboldt wurde zunächst auf Reisen geschickt, unter anderem nach Polen, nach Hallein im Salzburgischen, nach Berchtesgaden. Er sammelte Erfahrungen über Brennstoffersparnis bei der Salzgewinnung und stellte überall Pläne zur Verbesserung der Bergwerke auf. Diese Pläne wurden als so gut befunden, daß man sie auch im norddeutschen Salzbergbau anwandte. Dann vertraute man ihm die Leitung des Bergbaus in den fränkischen Fürstentümern an, in den Gegenden von Bayreuth und Ansbach. Er nahm seinen Sitz in Bad Stehen bei Hof. In dieser Zeit schrieb er: „Alle meine Wünsche sind nun erfüllt, ich werde nun ganz dem praktischen Bergbau und der Mineralogie leben". Als Oberbergmeister in den Fürstentümern war Humboldt zugleich Generaldirektor ihrer Bergwerke; eine ähnliche Stellung hatte übrigens auch Goethe bei den Ilmenauer Bergwerken inne. Wie überlegt und praktisch Humboldt vorging, zeigt die Tatsache, daß er schon im Jahre 1793 mit kaum 350 Arbeitern aus dem vorher ärmlichen Bayreuther Bergbetrieb au Eisen, Kupfer, Gold und Vitriol eine Ausbeute von 300 000 Gulden erzielte. In seinem unermüdlichen Kampf gegen die Gefahren im Bergbau, vor allem gegen die schlagenden Wetter und die gefährlichen Grubengase, gelang es ihm, eine Sicherheitslampe und einen Atmungsapparat zu konstruieren. Beide Apparate waren so sinnreich erdacht, daß man sie auch für die Minenleger des Militärs gebrauchen konnte. Um die Ausbildung der Bergleute zu fördern, gründete er zwei Bergschulen, in Stehen und Wunsiedel, deren Entwicklung er mit Eifer zu fördern suchte.
In der Höhle der Geistervögel Vielfach hat Humboldt im Laufe seines Lebens seine bergmännischen, noch mehr freilich seine mineralogischen Kenntnisse anwenden können, in Südamerika, in Mexiko, in Sibirien und Südrußland. Ein späteres Erlebnis „im Dunkel der Erde", bei dem ihm die Erfahrungen unter Tage zustatten kamen, ist wert des Berichtens. 12
In Charlottenhof schlief Humboldt in einem als Zelt eingerichteten Zimmer Humboldt hatte schon bald nach seiner Landung in Venezuela von einer seltsamen Höhle in der Nähe des Ortes Caripe erzählen hören, in der nach der Behauptung der Eingeborenen Tausende und Abertausende von Vögeln leben sollten, die nur des Nachts die Höhle verließen, um sich Nahrung zu suchen. Das war gerade das Richtige für einen Mann wie Humboldt; denn in der Fülle der Naturerscheinungen interessierte ihn das Außergewöhnliche immer besonders. So machte er sich in der Begleitung von Kennern der Gegend auf den Weg, der einem Flusse durch den Urwald folgte. Zuletzt ging es durch eine enge Schlucht, und man sah den Himmel nicht mehr. Auf einmal eine Biegung — und Humboldt stand vor einem ungeheuren schwarzen Loch; es war die Mündung der Höhle. Vor ihm ragte eine senkrechte Felswand auf. Der überwältigende Eindruck wurde erhöht durch riesenhafte Bäume, die auf dem Felsen über der Grotte standen. Das hatte er noch nirgendwo gesehen. Wie 13
immer zog Humboldt seine Meßschnur heraus und stellte die Maße der Höhle fest. Als er eintrat, bemerkte er, daß sich wie auch sonst in den tiefen Felsspalten der Anden, in denen nur Dämmerlicht herrschte, die Pflanzenwelt 30 bis 40 Schritte vom Eingang in die Höhle hineinzog. Mit Hilfe seines Strickes setzte er seine Messungen fort. Ohne die Fackeln zu entzünden, drangen sie weiter vor. Er war gespannt, wann sich die seltsamen Vögel bemerkbar machen würden, von denen die Eingeborenen erzählt hatten und die sie Guacharos nannten. Richtig — da wo das Licht zu verschwinden begann, hörte er das heisere Geschrei der Nachtvögel. Humboldt berichtete später, daß man sich nur schwer einen Begriff von dem furchtbaren Lärm machen könne, den die Tausende dieser Vögel im dunklen Innern der Höhle verursachten. Das gellende, durchdringende Geschrei hallte wider vom Felsgewölbe, und aus der Tiefe kam es als Echo zurück. Seltsam — so mußte Humboldt denken: Da waren nun Tausende und Abertausende von Lebewesen, die in ihrem ganzen Leben die Sonne nie gesehen; war doch sonst das ganze Leben der Pflanzen, Tiere und Menschen auf Licht und Sonne angewiesen. Aber schon folgten neue Eindrücke. Die Indianer banden Fackeln an lange Stangen und zeigten Humboldt an der Decke der Höhle die Nester. 20 bis 23 Meter hoch erkannte er die Geniste in trichterförmigen Löchern, eins neben dem anderen. Humboldt mit seinen stets wachen Sinnen erkannte, daß der Lärm der Vögel bald stärker, bald schwächer wurde. Das beruhte darauf, daß nicht alle Teile der Höhle gleich stark von den Vögeln besetzt waren; offenbar verzweigte sich die Höhle. Nach kurzem Weitergehen begann aus einem entfernten Teil der Lärm, den Humboldt als „Klagegeschrei" bezeichnete, von neuem. Wieder stand er unter dem Eindruck einer ganz seltsamen Naturerscheinung, und es mochte sein, daß ihm Vorstellungen der deutschen Romantiker über die Nacht und ihre Unheimlichkeit in den Sinn kamen, die solches Klagen der Geschöpfe veranlaßt. Die Eingeborenen sagten ihm, daß sie sich nicht weit in die Höhle hineinwagten und darum auch keine Kenntnis von diesen Verzweigungen hätten. Aus ihren Berichten erfuhr Humboldt auch, daß der Guacharo bei Einbruch der Nacht die Höhle verlasse, und zwar meist bei Mondschein; offenbar gebrauche er also doch seine Augen, um den Weg zur Nahrungsaufnahme zu finden. Er fresse harte Samen, aber weder Käfer noch Nachtschmetterlinge. Jedes Jahr um die Zeit des Johannistages zögen die Indianer in die Höhle hinein, soweit sie es wagten, und zerstörten mit langen Stangen die meisten Nester. In 14
jedem Jahre würden mehrere tausend Vögel totgeschlagen; um ihre Brut zu verteidigen, flögen die Altvögel mit furchtbarem Geschrei den Nesträubern um die Köpfe. Die Jungen, die zu Boden fielen, würden getötet und auf der Stelle ausgeweidet. Ihr Bauchfell sei stark mit Fett durchwachsen, und auch an anderen Stellen des Körpers gebe es Fettschichten mit knopfartigen Verdickungen. Aus dem Bericht über die „Fetternte", wie die Eingeborenen den jährlich wiederkehrenden Tag bezeichneten, ergaben sich für Humboldt auch nach der völkerkundlichen Seite interessante und merkwürdige Tatsachen. Die Indianer bauen sich bei dieser Gelegenheit aus Palmblättern Hütten am Eingang oder im Vordergrund der Höhle, soweit er noch hell ist. Humboldt sah noch deren Überbleibsel vom letzten Male. Hier lassen die Eingeborenen das Fett der jungen, frisch getöteten Vögel am Feuer aus und gießen es in Tongefäße. Es ist halb flüssig, hell und geruchlos und so rein, daß man es länger als ein Jahr aufbewahren kann, ohne daß es ranzig wird. Einen Grund dafür, daß die Vögel nicht längst ausgestorben sind, erfuhr Humboldt ebenfalls von den Eingeborenen. Aus Furcht vor den Göttern, die tief in der Höhle ihren Wohnsitz haben sollen, wagen sich die Indianer nicht weit hinein; zu den Guacharos gehen, heiße die Geister herausfordern. Der ganze Vorgang hat also auch für die Indianer etwas Unheimliches. Darum werden am Johannistag am Eingang durch Zauberer und Giftmischer Beschwörungen vorgenommen und Zaubertränke gegeben. Das soll die Macht der bösen Geister brechen. Humboldt verglich, da er gewohnt war, neue Tatsachen in größeren wissenschaftlichen Zusammenhängen zu sehen, diesen Beschwörungsritus der indianischen Zauberer mit den Vorstellungen und Gewohnheiten anderer Völker und stellte fest, daß sich „unter allen Himmelsstrichen die Mythen der Völker gleichen, vor allem solche, welche sich auf zwei die Welt regierende Kräfte, auf den Aufenthalt der Seelen nach dem Tode, auf den Lohn der Gerechten und die Bestrafung der Bösen beziehen. Die Höhle von Caripe ist der Tartarus der Griechen, und die Guacharos, welche unter kläglichem Geschrei über dem Wasser flattern, gemahnen an die stygischen Vögel. Styx ist bekanntlich der Fluß der Unterwelt bei den alten Griechen, die stygischen Vögel bewachen die Seelen der Toten im Hades, so wie in der Guacbarohöhle die Guacharos die Seelen der toten Eingeborenen bewachen; denn die Indianer glauben, daß dort die Seelen ihrer Vorfahren wohnen. Der Guacharo hat später den Namen Fettschwalk erhalten und gehört zur Ordnung der Rakenvögel. Humboldt nahm wie immer 15
die günstige Gelegenheit wahr, diesen bisher der Wissenschaft noch völlig unbekannten Vogel zu beschreiben und damit der Zoologie einen Dienst zu erweisen. Selbstverständlich interessierten den „Bergmann" Humboldt auch die geologischen und mineralogischen Besonderheiten der Vogelhöhle. Reise zu d e n Indianern In Franken oblag Humboldt neben seiner Arbeit für die Verbesserung der Zustände in den Bergwerken und für die Fortbildung der Bergarbeiter den mannigfaltigsten Studien. Er lieferte Beiträge zu Schillers Zeitschrift „Die Hören", vertiefte sich in alte Urkunden, philosophierte und hielt Verbindung mit vielen geistigen Freunden. Humboldt hatte nie chemische Vorlesungen gehört; Chemie lernte er aus Büchern, er war so praktisch veranlagt, daß er schon bald erfolgreich experimentieren konnte. Als einer der ersten erkundete er die Vorgänge beim Durchgang des elektrischen Stromes durch Flüssigkeiten. Er sammelte auch Material zu einem zweibändigen Werk aus dem Gebiet der Physiologie und Medizin. Es erschien unter dem Titel: „Über die gereizten Muskel- und Nervenfasern, nebst Vermutungen über den chemischen Prozeß des Lebens in der Tier- und Pflanzenwelt". Schon der Titel des Buches zeigt, wie er mit wachem Sinn aus der Einzelwissenschaft herausstrebte und hier zugleich Grundfragen der Biologie anpackte. Da er wußte, daß er nur auf Reisen in andere Länder und Erdteile seine Lebensaufgabe erfüllen könne, löste er sich aus seinem Amt und schlug auch die Stelle eines Oberbergmeisters von Schlesien und ebenso das Amt eines Direktors der westfälischen Berg-, Salzund Fabrikanstalten aus, die man ihm angetragen hatte. Kurze Zeit weilte er in der Schweiz und in Italien, wo ihn besonders die Lagerungsverhältnisse der Gebirge und die Pflanzenwelt beschäftigten. Aber erst als seine Mutter gestorben war und er zugleich über sein Vermögen verfügen konnte, beschloß er, zu größeren Reisen in die Welt aufzubrechen. Die ersten Pläne scheiterten, so eine Weltreise, eine Expedition zum Südpol, nach Nordafrika, und auch der Plan zu einer Reise nach Ägypten als Begleiter eines englischen Lords. Als der Brite von den Franzosen gefangengesetzt wurde, faßte Humboldt jenen kühnen Gedanken zur Reise nach Südamerika. In Paris hatte er Bonpland, der auf der Flotte gedient hatte, für sich gewonnen. In Amerika wollten sie, ausgerüstet mit den nötigen technischen Appa16
So sah Humboldt den Kreml In Moskau
raten, zum erstenmal wissenschaftliche Methoden anwenden. Die dort herrschenden Spanier hatten nichts weiter getan als Gold und andere Schätze herauszuholen; aber weder Astronomie noch Physik, weder Geologie noch Botanik und Zoologie, noch die Völkerkunde hatten sie in den Dienst systematischer Forschung gestellt. Humboldt, der monatelang in Madrid auf die Ausstellung seines Passes und des Passes für seinen Begleiter Bonpland warten mußte, begann dort bereits mit den wissenschaftlichen Vorbereitungen. Er erhielt eine Audienz beim König und schließlich das wertvolle Dokument, das ihm überall in den spanischen Kolonien Tür und Tor öffnete. Die spanischen höheren und unteren Beamten, die kirchlichen Würdenträger und die Missionare erleichterten ihm nach Kräften die Durchführung seiner umfangreichen Reise- und Forschungspläne. Da aber sein Leben immer wieder auf Hemmnisse und Gefahren stieß, an denen er nur neuen Mut und neue Widerstandskraft gewann, wäre sein Plan an der spanisch-portugiesischen Grenze in Südamerika beinahe gescheitert. Diese Grenze war damals noch nicht genau festgelegt, und so wollten ihn portugiesische Offiziere auf ihrem Gebiet verhaften. Nur dem Eingreifen eines Diplomaten verdankte er seine Freiheit. Die Fahrt von Spanien nach Venezuela dauerte vom 5. Juni bis zum 16. Juli 1799. Noch vor der Abfahrt nahm er in einem Brief Stellung zu einer Grundfrage seines Lebenswerkes, die ihn innerlich nie zur Ruhe kommen ließ. Es war die Frage, ob das Sammeln von Steinen, Pflanzen und Tieren schließlich nicht weiter führen würde als zu einem großen Museum. Dann wäre die Wissenschaft etwas Unlebendiges, im Grunde sogar Geistloses. So ist jenes Briefzeugnis, das uns in diese seine inneren Kämpfe um den wahren Sinn der Naturwissenschaft und des Naturerlebens hineinführt, von großem Wert: „Ich werde Pflanzen und Fossilien sammeln, mit vortrefflichen Instrumenten astronomische Beobachtungen machen können. Ich werde die Luft chemisch zerlegen. Das alles ist aber nicht Hauptzweck meiner Reise. Auf das Zusammenwirken der Kräfte, den Einfluß der unbelebten Schöpfung auf die belebte Tier- und Pflanzenwelt, auf die Harmonie sollen stets meine Augen gerichtet sein." Humboldt blieb bis zum 9. Juli 1804, also fast fünf Jahre in Amerika. Es gab nicht viele Tage, an denen er nicht irgend etwas geleistet, neu entdeckt, notiert, geistig verarbeitet hätte. Zunächst erforschte er unbekanntere Teile von Venezuela und dann das Gebiet des Orinoko-Strome9. Hier gab es seit langem eine noch un18
gelöste Frage. Gerüchtweise verlautete, daß der Orinoko irgendwo eine unmittelbare Verbindung zum Amazonasstrom habe. Der Amazonas war bis weit hinauf in die Urwälder erforscht worden, wenigstens soweit er schiffbar war. Humboldt gelang es, tatsächlich die Verbindung zwischen den beiden großen Strömen zu bestätigen. Er untersuchte die Temperatur der Meere, ihre Strömungen und Windverhältnisse, das Klima und seine Bedeutung für das Leben, die erdmagnetischen und vulkanischen Kräfte, beobachtete Sternschnuppenfälle, vermaß in Vorbereitung einer Karte Südamerikas Höhen, Ströme und Länder, stieg in Gold- und Silbergruben, befaßte sich mit den indianischen Pfeilgiften, mit Tieren, Pflanzen und Gesteinen, befuhr in kleinen Booten die Flußläufe und Seen, verbrachte Nächte auf dem nackten Boden des Urwalds, marschierte wochenlang mit zerrissenen Füßen und weilte unter Eingeborenen, um ihre Vorstellungswelt und ihr Dasein kennenzulernen. Im Jahre 1800 machte Humboldt mit Bonpland einen Abstecher nach der Insel Kuba und ging dann zur Hochebene von Bogota und nach Quito — zwei Städten, die uns als die Hauptstädte von Kolumbien und von Ekuador bekannt sind. Die beiden Städte liegen etwa gleich hoch, vergleichbar mit europäischen Hauptstädten ungemein hoch. Bogota hat eine Höhe von 2645, Quito von 2850 Metern über dem Meere, es liegt fast so hoch wie die Zugspitze. Von hier aus bestieg er den Chimborazo und erreichte eine Höhe, wie kein Mensch je vor ihm. Humboldt unternahm an der Westküste Südamerikas sehr beschwerliche Seefahrten. Im März 1803 erreichte er Mexiko und widmete sich dort fast ein Jahr lang seinen Forschungen, besonders dem Studium der Aztekenkultur. Schließlich berührte er noch einmal Havanna und gelangte auch nach Philadelphia in Nordamerika. In Europa verbreitete sich das Gerücht, Humboldt und Bonpland seien von den Wilden umgebracht worden, ein Hamburger Korrespondent wollte wissen, Humboldt sei in Acapulco dem gelben Fieber erlegen. Aber am 1. August 1804 konnten die beiden Amerikafahrer in Bordeaux unversehrt wieder europäischen Boden betreten.
Füllhorn des Überflusses Humboldt hat von dieser fünfjährigen Amerikareise nicht nur ein fast unübersehbares Material an Steinen, Pflanzen und Tieren mitgebracht, sondern er hat in fernen Ländern auch unablässig über sein Verhältnis zur Natur nachgedacht und war darin weiter gereift. 19
Das Ziel seines ganzen Strebens war, die Naturforschung in den Dienst des Naturerlebens zu stellen und durch sie ein Gesamtbild von der Natur zu gewinnen. In diesem Streben begegnete er sich mit Goethe, der damals als ein anderer Fürst des Geistes die deutsche Öffentlichkeit beherrschte. Auch Goethe war in seinem langen Leben mehr und mehr bestrebt, in die Geheimnisse der Natur einzudringen und uns in ein richtiges, zugleich schönes und inniges Verhältnis zu ihr zu setzen. Nicht wenige haben Humboldt und Goethe, die sich auch persönlich kannten, miteinander verglichen. Humboldt und Goethe sind sich aber, man darf wohl sagen, leider, nicht so nahe gekommen, wie sie selbst und sicher viele andere große Männer der damaligen Zeit erwarteten. In einigen Worten Goethes sei darum das Gleichartige, aber auch das Trennende zwischen den beiden festgehalten, die beide auf die breiteste Öffentlichkeit in Deutschland so ungeheuren Einfluß ausübten, während die Wirkung Humboldts im Ausland aufs ganze gesehen bei weitem größer war als die Wirkung Goethes. Eine der ersten Begegnungen schildert Goethe: „Der Bergrat Humboldt ist hier. Ein wahres cornu copiae (Füllhorn des Überflusses) der Naturwissenschaft. Sein Umgang ist äußerst interessant und lehrreich. Man könnte in 8 Tagen nicht aus Büchern herauslesen, was er einem in einer Stunde vorträgt." Und wenig später: „Ich darf ihn wohl in seiner Art einzig nennen, denn ich habe niemand gekannt, der mit einer so bestimmt gerichteten Tätigkeit eine solche Vielseitigkeit des Geistes verbände. Es ist inkalkulabel (unberechenbar), was er noch für die Wissenschaft tun kann. —" Und ähnlich nochmals aus dem Jahre 1799, bevor Humboldt nach Amerika aufbrach: „Bei seinem Genie, seinem Talent, 6einer Tätigkeit ist der Vorteil seiner Reise für die Wissenschaften ganz unkalkulabel, ja man kann behaupten, daß er über die Schätze, deren Gewinst ihm bevorsteht, künftig dereinst selbst erstaunen wird." Es existiert ein Entwurf Goethes zu einem seiner üblichen gelehrten Mittwochvormittagsvorträge vom Jahre 1807, der auf eine Widmung anspielt, mit der ihm Humboldt eines seiner Werke gesandt hatte; Goethe rühmt da im Stil der damaligen Zeit Humboldts „Artigkeit", womit er Aufmerksamkeit oder Höflichkeit meint: „Humboldts Artigkeit gegen mich verpflichtet dagegen, durch bequeme Darstellung den Genuß an seinen Bemühungen zu verbreiten." Goethe ist also bereit, Humboldts wissenschaftliche Ergebnisse und seine Gedanken weiteren Kreisen bekanntzumachen. 20
Alexander von Humboldt In seinem Arbeitszimmer in Berlin
Am weitesten geht Goethe in seinem Enthusiasmus für Humboldt mit folgenden Worten: „Was ist das für ein Mann! Ich kenne ihn so lange und doch bin ich von neuem über ihn in Erstaunen. Man kann sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgelichen. Und eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist! Wohin man blickt, er ist überall zu Hause und überschüttet einen mit Schätzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man immer nur Gefäße unterzuhalten braucht und es einem immer unerschöpflich entgegenströmt. Er wird einige Tage hier bleiben, und ich fühle schon, es wird mir sein, als hätte ich Jahre mit ihm verlebt." Das ist also die eine Seite in Humboldt, die Goethe erkannt hat und von der er tief beeindruckt war: unermeßliches Wissen, interessante Darstellungsgabe, Vielseitigkeit des Geistes. Aber er hat auch gewisse Bedenken vorgebracht, da er glaubte, die allzu eingehende, verstandesmäßige, „vermessende" Durchforschung der Natur entkleide sie ihres „göttlichen", unfaßlichen Zaubers. Bis zur Grenze der Mongolei Fünfunddreißigjährig war Alexander von Humboldt aus Amerika zurückgekehrt. Aus seinem weiteren wechselvollen und schaffensreichen Leben, dem im einzelnen zu folgen unmöglich ist, heben sich zwei Perioden ab. Bis 1827 verbrachte er die meiste Zeit in Paris und erlebte dort die Kriege Napoleons mit seinem Heimatlande Preußen. Niemand dachte daran, damals seine Freiheit im „feindlichen" Lande anzutasten. Humboldt glaubte, trotz der unruhigen Zeitverhältnisse, in Paris ausharren zu müssen; denn in keiner anderen Stadt der Welt, auch nicht in Deutsdiland, wäre die großartige, vielbändige Herausgabe seiner Werke mit all den Bildtafeln technisch möglich gewesen. In Paris, der geistigen Hauptstadt Europas, gab es die geeigneten Drucker und Graphiker und den Stab von Gelehrten, die er als Mitarbeiter brauchte. Hier wurde alles Wichtige aus den südamerikanischen Erfahrungen und Sammlungen in den 33 Bild- und Textbänden seines Reisewerkes „Reise in die Äquinoktialgegenden der Neuen Welt" verarbeitet und der Wissenschaft aller Länder in der französischen Weltsprache zugänglich gemadvt. Alexander sprach und sdirieb französisch ebenso leicht wie deutsch, spanisch und englisch. Im Jahre 1827 kehrte Alexander von Humboldt nadi Berlin zurück, wohin ihn König Friedrich Wilhelm III. als Kammerherrn 22
ohne Dienstleistung berufen hatte. Humboldts Ansehen war bis zum Weltruf gestiegen. In allen Ländern kannte man ihn. Man nannte ihn nicht nur den neuen Kolumbus, sondern auch den neuen Aristoteles, weil er wie dieser nicht nur das gesamte naturwissenschaftliche Wissen seiner Zeit beherrschte, sondern auch philosophisch über die Natur, ihre wunderbare Gesetzlichkeit und die unendlichen Möglichkeiten, sie zu erleben, nachdachte. Goethe verglich sein Wirken mit einer Akademie; Akademien sollen das gesamte Wissen ihrer Zeit sammeln, ordnen und weiterführen. Das hatte Humboldt in einer Weise getan, die jedes übliche menschliche Maß übersteigt. Auch der russische Kaiser wollte sich seiner Erfahrungen bedienen. Im Jahre 1829 brach Alexander von Humboldt, vom Zaren mit Geldmitteln reich bedacht, auf, um das europäische und asiatische Rußland der Forschung zu erschließen. Auf zwei Wagen wurden astronomische und physikalische Instrumente, Bücher und Vorrichtungen zu chemischen Experimenten und Behälter für naturwissenschaftliche Funde verladen. Da in Berlin schon seit März milde Frühlingswitterung geherrscht hatte, hofften die Reisenden, rasch voranzukommen. Das Gegenteil war der Fall. Fast alle Flüsse, die sie zu passieren hatten, zeigten schweren Eisgang. Die Straßen waren durch die Schneeschmelze völlig verschlammt oder überschwemmt, so daß man von ihnen und der umliegenden Landschaft nicht mehr viel sah. So wurde die Reise gleich zu Anfang sehr verzögert. Aber sie verlief dann doch erfolgreich. Zehn Tage nach ihrer Abreise erreichte die Expedition Petersburg und wenige Tage später Moskau, wo man Humboldt mit Ehren überhäufte. Über die Wolga ging es nach Kasan. Hier sah er die ersten Moscheen. Im Ural fand Humboldt, was der Zar erhofft hatte: wertvolle Minerale. Dann überquerten sie die asiatische Grenze. Die Spiele, die die Kirgisen ihm zeigten und die in einem aufregenden Wettrennen zu Pferde endeten, schilderte er mit großer Lebhaftigkeit, aber auch das Leben der Rußlanddeutschen. Er sprach mit ihnen und erfuhr von ihren Freuden und Leiden. In allen Städten „ein ewiges Begrüßen, Vorreiten und Vorfahren von Polizeileuten, Administratoren, Kosakenwachen". Die Aufenthalte unterwegs waren angefüllt mit botanischen, zoologischen, geologischen, barometrischen und astronomischen Beobachtungen. Wo es die Zeit und die Wege erlaubten, führten Exkursionen tief ins Landesinnere. Polizeimeister übernahmen die Kisten mit den Sammelstücken und besorgten ihren Transport in die Heimat. In Tobolsk faßte Humboldt den Entschluß, auch das Altaigebirge aufzu23
suchen: „Man reist oder flieht durch diese einförmigen sibirischen Grasfluren wie durch eine Meeresfläche — eine wahre Schiffahrt zu Lande . . . wir haben sehr vor Hitze, Staub und gelben Mücken gelitten. Kaum ist die Plage am Orinoko größer." Obwohl eine von Brandblattern verseuchte Gegend vor ihnen lag, wagten sie die Weiterreise in das äußerste Asien bis zur mongolischen Grenze, wo sie „das himmlische Reich berührten": „Man erinnert sich an ein solches Ereignis für den ganzen Rest seines Lebens." Auf der Rückreise, noch auf der asiatischen Seite des Ural, erlebte Humboldt seinen sechzigsten Geburtstag: „. .. ein wichtiger Abschnitt des Lehens, ein Wendepunkt, auf dem es einen gereut, so Vieles nicht ausgeführt zu haben, ehe das hohe Alter die Kräfte dahinnimmt. Vor dreißig Jahren war ich in den Wäldern des Orinokos und auf den Kordilleren." Humboldt überstand alle Strapazen mit ungewöhnlicher Standfestigkeit und der „Artigkeit", die Goethe an ihm gerühmt hatte. „Wir haben ihn selbst auf der Reise — im Wagen", so berichtete einer seiner Begleiter, „nie anders als in dunkelbraunem oder schwarzem Frack, mit weißer Halsbinde und rundem Hut gesehen. Über den Frack zog er einen langen, ebenfalls dunkelfarbigen Überrock . . . Wo man im Fuhrwerk nicht weiter konnte, stieg er aus und ging zu Fuß weiter, ohne sichtbare Ermüdung hohe Berge ersteigend oder über Steinmeere kletternd." Am Abend des 28. Dezember 1829 „bei grimmiger Kälte" konnte Humboldt dem russischen Wirtschaftsminister Georg von Cancrin, seinem Gönner, seine „glückliche Rückkunft" nach Berlin melden.
„Der Alte vom Berge" Berlin blieb nun —• mit Unterbrechungen — seine Lebensstation. Obwohl er freiheitliche Gesinnungen hegte und daraus auch kein Hehl machte, wurde er der persönliche Ratgeber auch König Friedrich Wilhelms IV., den er auf kurzen Reisen 1841 nach England und 1845 nach Dänemark begleitete. Er gehörte zu seinem Gefolge, nahm fast regelmäßig an der Mittags- und Abendtafel des Königs teil, war aber völlig frei von jeder Fürstendienerei. Alle, die ihn kannten, berichteten, daß er seinen Freunden und Bekannten stets in besonders wohlwollender und nach Möglichkeit zustimmender Haltung entgegenkam. Diese Eigenschaft erleichterte ihm auch das Leben am Hofe. Trotzdem wurde er mehr als einmal von höfischen Widersachern verdächtigt. So lagen zeitweise Schatten über Humboldts Gemüt. Er fühlte 24
Humboldt im Alter von 72 Jahren
den Widerstand dieser Kreise. An den weltberühmten Mathematiker Karl Friedrich Gauß, mit dem er seit Jahrzehnten befreundet war und in wissenschaftlichem Austausch stand, schrieb er am 7. April 1846, zwei Jahre vor der Berliner Revolution: „Mein Leben ist ein mühselig zerrissenes, arbeitsames Leben, in dem mir fast nur nächtliche Stunden zu literarischen Arbeiten übrig bleiben. Sie werden fragen, warum ich aber — 76 Jahre alt — mir nicht eine andere Lage verschaffe? Das Problem des menschlichen Lebens ist ein verwickeltes Problem. Man wird durch Gemütlichkeit (Gemütsbewegungen), ältere Pflichten, törichte Hoffnungen gehindert." Mit den törichten Hoffnungen spielt er auf die ihn so stark bedrückenden innerpolitischen Verhältnisse an. Für die Zeitgenossen wurde er „Der Alte vom Berge" oder „Der Urgreis", eine fast schon mythische Persönlichkeit. Aber man vergaß ihn nicht. Man rühmte ihn in allen Ländern und nicht zuletzt in Deutschland weiterhin als den größten Naturforscher seiner Zeit und sogar des Jahrhunderts. Unzählige Menschen wollten ihn besuchen. Seine Wohnung in Berlin war ein Reiseziel für Angehörige aller Kulturvölker. Wenn er sich ungestört seiner Arbeit und seinen Gedanken hingeben wollte, dann fuhr er nach Potsdam, wo ihm der König in dem kleinen Schlößchen Charlottenhof ein Zimmer in der Form eines Tropenzeltes eingerichtet hatte. Dort konnte er die Zeit der großen Gefahren, der sich überstürzenden Eindrücke nacherleben, die nun Jahrzehnte hinter ihm lag. Er war ein Weiser geworden, blieb aber von einer geradezu übermenschlichen Lebendigkeit und schöpferischen Aktivität.
„Ich arbeite bis 3 Uhr morgens" Am 30. Juli 1856 geht ein guter Bekannter, der Schriftsteller Friedlich Althaus, den Weg zu Humboldts Wohnung in der Oranienburgerstraße, nicht weit vom Bahnhof Friedrichstraße. Er klingelt an dem ihm wohlbekannten Hause und steigt die schmale Wendeltreppe hinauf. Wie so manches Mal in früheren Jahren kommt ihm Humboldt aus seinem riesigen Studierzimmer entgegen, begrüßt ihn aufs liebenswürdigste, und die beiden Freunde sitzen lange im vertrauten Gespräch zusammen. „Rücken Sie näher", sagt Humboldt, „denn mein Gehör nimmt ab, und ich möchte gerne alles verstehen, was Sie mir sagen." Humboldt, gesprächig wie je, entrollt vor dem Freunde ein Gesamtbild seiner gewiß einzigartigen Tätigkeit im hohen Alter. 26
„Ich arbeite meist noch ununterbrochen bis 3 TT!.,- m r» « U j f c I * etwa 4 Stunden I * ^ S ^ S S S ^ i S ^ zwölf Stunden - habe es auch versudrt aber es aufgegeben, weil ich kerne größere Erquickung danach empfinde. Im ganzen, wenn ich mein Alter von 86 Jahren in Anschlag bringe, kann ich mit meiner Gesundheit nur zufrieden sein. Kleinere Verstimmungen »ehen geB wöhnlich rasch vorüber. ° In unserem schreibenden, lesenden Deutschland hat ein Mensch wie ich das Unglück, als eine Art Wunder und Kuriosität betrachtet zu werden. Alle drängen sich an ihn heran, als ob er der einzige Vertreter der Wissenschaft wäre. Hinzu kommt dann noch mei le Stellung am Hofe, so daß ich nicht bloß Briefe von wissenschaftlichen Menschen erhalte, sondern von Leuten aller Art: angehenden Poeten, Putzmacherinnen, Vorsteherinen wohltätiger Anstalten die mir Arbeiten zum Verkauf bei der königlichen Familie antragen oder um Geldgeschenke und Unterstützung bitten — und unzählige Dinge dieser Art. Audi meine wissenschaftliche Korrespondenz ist immer noch im Zunehmen begriffen. Deutsdiland, Italien, Frankreich, England, Amerika stürzen sich auf mich mit einem wahren Bombardement von Briefen. Ich empfange gegenwärtig jedes Jahr durchschnittlich dreitausend Briefe und beantworte etwa zweitausend. Meine Ausgaben an Postgeld belaufen sich auf fünfhundert bis sechshundert Taler. Nun habe ich mich trotzdem bis auf den heutigen Tag nie entsdiließen können, einen Sekretär zu nehmen. Es kommt dadurch etwas Steifes, Geschäftsmäßiges in die Korrespondenz, während man durch ein paar einfädle selbstgesdiriebene Worte so oft erfreuen kann und zugleidi den Gegenstand nidit selten rascher erledigt." Friedrich Althaus erhebt sich und dankt Humboldt für die in so vielen Jahren bewiesene Freundschaft. Humboldt sieht seinen Besucher mit dem vollen Blick seiner geistvollen blauen Augen an und sagt zuversichtlich: „Ich werde noch leben; ich fühle nodi große geistige Frisdie in mir. Lassen Sie mich auch ferner von Ihren Schicksalen hören und behalten Sie mich lieb!" Dieser Eindruck des unermüdlich Schaffenden steigert sidi für unser Empfinden noch, wenn wir die Anzeige lesen, die Humboldt am 20. März 1859, etwa 6 Wochen vor seinem Tode, als 89-jähriger in der weltbekannten „Vossischen Zeitung" erscheinen ließ und die dann durch zahlreiche Blätter deutscher und fremdsprachiger Zunge ging: „A. v. Humboldt beehrt uns mit dem Gesuch, nachstehendes Schreiben zu veröffentlichen: 27
Leidend unter dem Drucke einer immer noch zunehmenden Correspondenz, fast im Jahresmittel zwischen 1600 und 2000 Nummern (Briefe, Druckschriften über mir ganz fremde Gegenstände, Manuscripte, deren Beurteilung gefordert wird, Auswanderungs- und Colonialprojekte, Einsendung von Modellen, Maschinen und Naturalien, Anfragen über Luftschiffahrt, Vermehrung von AutogrammSammlungen, Anerbietungen, mich häuslich zu pflegen, zu zerstreuen und zu erheitern usw.), versuche ich einmal wieder die Personen, welche mir ihr Wohlwollen schenken, öffentlich aufzufordern, dahin zu wirken, daß man sich weniger mit meiner Person in beiden Continenten beschäftige und mein Haus nicht als ein Adreß-Comptoir benutze, damit bei ohnedies abnehmenden physischen und geistigen Kräften mir einige Ruhe und Muße zu eigener Arbeit verbleibe. Möge dieser Ruf um Hilfe, zu dem ich mich ungern und spät entschlossen habe, nicht lieblos gemißdeutet werden! Berlin, 15. März 1859. Alexander von Humboldt." Der fast Neunzigjährige stand noch mit wachem Sinn in der Unruhe jener Zeit, einer Zeit, in der unsere Urgroßeltern durchaus nicht nur gemütliche Tage erlebten, sondern auch beunruhigt wurden durch die politischen und sozialen Spannungen des beginnenden Industriezeitalters, durch die zunehmende gewaltsame Kolonisierung in fremden Erdteilen und die dadurch aufgeworfenen Probleme. Gewaltige Erfindungen und Entdeckungen auf allen Forschungsgebieten erregten die Phantasie und ließen ungeheure Umwälzungen ahnen; die Chronik des Fortschritts verzeichnet in dieser Zeit an Neuem: ozeanüberquerende Dampfer, Eisenbahnen, Schiffsschraube, Turbine, Telegraphie, Telephonie, Unterwasserkabel, Photographie, Gasbeleuchtung, Petroleumlampe, elektrisches Bogenlicht, lenkbares Luftschiff, Drahtseilbrücken, Warmwasserheizung, Dampfautomobile, Pferdebahnen, Schreibmaschinen, Blindenschrift, Setzmaschine, Nähmaschine, Stenographie, Kugellager, Streichhölzer, Holzstoffpapier, Kautschukvulkanisierung, Schießbaumwolle und Nitroglyzerin, Augen- und Kehlkopfspiegel, ChloroformnarJcose, neue Stahlbereitungsverfahren, Entdeckung bisher unbekannter Elemente. All dieses bestürzend Neue hat Humboldts Denken bis zuletzt bewegt.
Volksbildner und Volkserzieher Wenn wir uns fragen, aus welchen inneren Kräften Humboldt aus der ursprünglichen, nach seinem eigenen Zeugnis fast verwir28
renden Vielseitigkeit zur Klarheit vorzudringen vermochte, so findet sich als die eigentlich bestimmende Kraft immer wieder seine Erlebnisfähigkeit. Sie war im Gegensatz zu den meisten Naturforschern der damaligen Zeit besonders lebendig. Schon als Neunzehnjähriger ist er davon überzeugt, daß allgemein die Neigung, sich mit Naturdingen zu beschäftigen, viel zu schwach ausgebildet sei. Am 25. Februar 1789 schreibt er an einen Frankfurter Studienfreund über seine einsamen Spaziergänge im Berliner Tiergarten, wo er Moose, Flechten und Schwämme suchte: „Wie traurig, so allein herumzuwandern!" Seine Gedanken schweifen weiter, und er fragt sich, wie viele Menschen wohl zu einem so innigen Verhältnis zur Natur bereit wären, das am besten durch Beschäftigung mit einem Spezialproblem entwickelt werde. Die Antwort ist vernichtend: „Solltest du glauben, daß unter den anderen 145 000 Menschen in Berlin kaum vier zu zählen sind, die diesen Teil der Naturlehre auch nur zu ihrem Nebenstudium, nur zur Erholung kultivierten?" Und nun deutet sich bereits ganz früh ein starkes soziales Verantwortungsbewußtsein an, das sieh im Laufe seines langen Lebens folgerichtig weiter entwickelte. Er will die Wissenschaft nicht in einer lebensfremden Abgeschlossenheit treiben, sondern sie in den Dienst der Verbesserung der Lebensverhältnisse, der Verunehrung der Nahrungsmittel und des sozialen Aufstiegs stellen. So fährt er fort: „Je mehr die Menschenzahl und mit ihr der Preis der Lebensmittel steigen, je mehr die Völker die Last zerrütteter Finanzen fühlen müssen, desto mehr sollte man darauf sinnen, neue Nahrungsquellen gegen den von allen Seiten einreißenden Mangel zu eröffnen. Wie viele, unübersehbar viele Kräfte liegen in der Natur ungenutzt, deren Entwicklung Tausenden von Menschen Nahrung oder Beschäftigung geben könnte. Viele Produkte, die wir von fernen Weltteilen haben, treten wir in unserem Lande mit Füßen, bis nach vielen Jahrzehnten ein Zufall sie entdeckt, ein anderer die Entdeckung vergräbt oder, was selten der Fall ist, ausbreitet. Die meisten Menschen betrachten die Botanik als eine Wissenschaft, die für Nichtärzte nur zum Vergnügen oder allenfalls (ein Nutzen, der selbst wenigen erst einleuchtet) zur subjektiven Bildung des Ver- « Standes dient. Ich halte sie für eines von den Studien, von denen sich die menschliche Gesellschaft am meisten zu versprechen hat." So nüchtern und überlegt konnte schon der 19jährige schreiben. Wer nur diese Seite in Humboldt kennt, muß ihn geradezu als einen kühlen Rechner und einen guten Organisator empfinden. Aber auch in diesen Worten kündet sich sein inniges Verhältnis zur Natur selbst an. Und darum soll aus den vielen Hunderten von Zeugniss«n, 29
die diese seine eigentliche Kraftquelle für sein ganzes Lebenswerk beweisen, ein Stimmungsbild aus dem Urwald dienen: „Nichts kann dem Menschen lebendiger vor die Seele führen, wie weit und wie gewaltig das Reich des organischen Lebens ist. Myriaden Insekten kriechen auf dem Boden oder uingaukeln die von der Sonnenhitze verbrannten Gewächse. Ein wirres Getöne dringt aus jedem Busch, aus faulen Baumstämmen, aus den Felsspalten, aus dem Boden, in dem Eidechsen, Tausendfüße, Cäcilien ihre Gänge graben. Es sind ebenso viele Stimmen, die uns zurufen, daß alles in der Natur atmet, daß in tausendfältiger Gestalt das Leben im staubigen, zerklüfteten Boden waltet, so gut wie im Schöße der Wasser und in der Luft, die uns umgibt. Die Empfindungen, die ich hier andeute, sind keinem fremd, der zwar nicht bis zum Äquator gekommen, aber doch in Italien, in Spanien oder in Ägypten gewesen ist. Dieser Kontrast zwischen Regsamkeit und Stille, dieses ruhige und doch wieder so bewegte Antlitz der Natur wirken lebhaft auf die Einbildungskraft des Reisenden." Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, oft sogar von Jahr zu Jahr läßt sich feststellen, wie Humboldt immer mehr das Ziel seiner ganzen Arbeit erkennt und Licht in die Zusammenhänge bringt, die er in all der Vielseitigkeit und dem Reichtum der Natur im einzelnen zunächst nur dunkel gefühlt hat. Dieses Lieht nicht nur in sich selbst leuchten zu lassen, sondern auch die anderen Menschen dorthin zu führen, das wird dann vor allem in Berlin zu einem unentbehrlichen Wesenszug, ohne den wir die Gesamterscheinung Humboldts nie richtig verstehen werden. Gegen Ende des Jahres 1827 wurde bekannt, daß Humboldt in Berlin Vorträge über „Physische Weltbeschreibung" zu halten beabsichtige. Diese Nachricht hatte die Wirkung, daß die geistig aufgeschlossenen Kreise von Berlin und aus der weiteren Umgebung zum Besuch der Vorträge herbeieilten. Er begann die Vorlesungen am 3. November 1827 vor Studenten und einer kleinen Anzahl von Gelehrten in einem Saale des Universitätsgebäudes. Bald wurde der Andrang so groß, daß sich Humboldt zu seiner Freude entschließen mußte, die Vorträge zu wiederholen; er nahm sich dafür die große Halle der Singakademie in Berlin. An jedem Abend sah man den mit ihm befreundeten König Friedrich Wilhelm IV., das königliche Haus, viele Gelehrte, die oft eigens dazu von weither nach Berlin kamen, und breite Volkskreise aus allen Schichten. Seit 1845 erschienen seine Vorlesungen, die das gesamte Naturwissen seiner Zeit umfaßten, unter dem Titel „Kosmos" auch als Buchausgabe. Humboldt war damals schon für das ganze Volk eine verehrungs30
würdige Gestalt, und das blieb er in all der Zeit, die er noch zu leben hatte. Man wußte, welchen Ruf er erworben hatte, man wußte aber auch, wie er zahlreichen Menschen auf ihrem Lebenswege weiterhalf, und zwar völlig uneigennützig, ohne je im gerin"sten den Wunsch zu haben, sich zu bereichern. Humboldt ist ein wahrer Volkserzieher gewesen, und man darf ihn den ersten Volksbildner in Deutschland nennen. Denn vor ihm gab es noch keine allgemeinverständlichen und doch in die Tiefe der Fragen dringenden öffentlichen Vorträge über alle Gebiete der Naturwissenschaften. Seine Nichte Gabriele von Bülow, die Tochter seines Bruders Wilhelm, schrieb nach einem seiner Vorträge an ihren Mann, Heinrich von Bülow, den preußischen Gesandten in London, tief bewegt und im Bewußtsein der Bedeutung dieser Abende folgendes: „Heute war des Onkels Vorlesung wieder unendlich interessant. Mit jedem Male werden die Vorlesungen schöner, es herrscht eine vollendete Klarheit darin und eine solche Größe der Ansichten, daß sie wirklich erhebend auf Verstand und Gemüt wirken. Auch wird des Onkels Vortrag immer schöner und freier, er liest auch sehr selten etwas ab wie zu Anfang, was mir immer nicht angenehm war." Die Verstandes- und die Gemütskräfte entfalten — darin liegt das Geheimnis seines Werkes und insbesondere seines Wirkens als Volksbildner. Nicht mit einer Fülle von Einzelheiten sollten sich die Menschen den Kopf vollstopfen, sondern sie sollten den Weg einschlagen von dem liebevollen Eindringen in den Reichtum der Natur auf allen Gebieten zur Erkenntnis der Größe, der Einheit und der Majestät der Natur und ihrer Gesetze. Jedes Naturgesetz, so sagte er in jenen Vorträgen, das sich dem Beobachter offenbart, läßt auf ein höheres, noch unerkanntes schließen. Denn die Natur ist „das ewig Wachsende, ewig im Bilden und Entfalten Begriffene."
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Vati, erfreut über die Fortschritte^ die Klaus in der Schule macht, stiftet ihm nun öfter mal zur Ermunterung bei kniffigen Hausarbeiten eine Flasche S I N A L C O . Da legt sich Klaus mächtig ins Zeug. Denn klappt's, dann darf er ja weiter damit rechnen, daß ihm SINALCO*) bei der Arbeit hilft: Ist dieses Beispiel nicht der Nacheiferung wert? Nicht ohne G r u n d ist alle W e l t längst auf S I N A L C O eingestellt: D e n Trank aus köstlichen Früchten.
Die SINALCOFlasche mit Kelch DER Q U A U T Ä T 5 - U N D ECHTHEITSBEWEIS im roten Punkt: