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Buch: Jens steuerte das Luftschiff an den Rand des Sees. Dann blickte er aufmerksam zur Erde. Eine Uferwiese bot sich zur Landung an. Sacht ließ er das Luftschiff niederschweben. Ein leichter Stoß, und sie setzten auf weichem Boden auf. »Kommando Kanal 5«, sagte Jens. »Am Seeufer aufklären. Höhle suchen.« 2071: Die Welt sieht anders aus als heute, vieles hat sich geändert, in der Technik und im Zusammenleben der Menschen. Aber eines ist geblieben: die Unternehmungslust, die Freude am Abenteuer. Und mitunter entdeckt man etwas Neues, was eigentlich uralt ist: zum Beispiel eine Kassette, von Jungen Pionieren im Jahre 1963 in einen Brunnenschacht versenkt, die neben einigen Kuriositäten einen Auftrag an Kinder des Jahres 2000 enthält. Natürlich gibt es auch zünftig Zukünftiges, eine Reise zum Mond etwa oder die Abenteuer in der – auch für die Verhältnisse des Jahres 2071 – modernen Stadt Futuria. Eine abenteuerliche Erzählung, die von einer interessanten Zukunft mit Humor zu berichten weiß.
Klaus Beuchler
ABENTEUER FUTURIA
Der Kinderbuchverlag Berlin
Illustrationen von Hans Mau
ISBN 3-358-00140-7 Gekürzte und veränderte Ausgabe der beiden Erzählungen: Einer zuviel im. Lunakurier Zepp und hundert Abenteuer 3. Auflage 1987 (dieser Ausgabe) © DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN – DDR 1974 Lizenz-Nr. 304-270/285/87-(100) Satz und Reproduktion: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30 Druck und buchbinderische Verarbeitung: (140) Druckerei Neues Deutschland LSV 7513 Für Leser von 12 Jahren an Best.-Nr. 631 770 8 00540
Ja, träume, junger Mann! Träume! Ohne Träume verwandelt sich der Mensch in ein Tier. LENIN Achtung, Reprovision! Reprovision! Welch ein Klotz von einem Wort. Erinnert an Television oder Reproduktion und ist doch keines von beiden. Ich habe es mir selbst gebastelt. Jemand, ich weiß immer noch nicht wer, packte mich und setzte mich in das Jahr 2071. Er hob mich einfach heraus aus dem Jahr 1963. Stellt euch vor, das hätte dieser Jemand schon einmal 1855 mit eurem Ururgroßvater Balthasar getan. Der Arme. Ihr hättet ihn bei euch begrüßt, einen jungen Mann aus dem Jahre 1855. Ihr hättet das elektrische Licht eingeschaltet. Nun, wenn er sie auch nicht selbst benutzte, so kannte er doch die 1814 erfundene Gasbeleuchtung. »Oh«, höre ich Ururgroßvater Balthasar sagen, »eine neue Erfindung: Gas-direkt.« Ihr stellt dem Guten das Radio ein. Eine Musik erklingt. »Nanu«, würde er vielleicht fragen, »was ist das? Kommodmusik?« Und das Flugzeug, das er am Himmel vorüberjagen sieht, könnte er »Vogelmobil« nennen. Lassen wir Ururgroßvater Balthasar, verwirrt und erschrocken, in seine Zeit zurückkehren. In eine Zeit, in der es weder die Elektrolok noch die drahtlose Telegrafie, kein Fernsehen, keine Plaste, keine Röntgenstrahlen, keine Atomenergie, kein Kino, keine Fotos, keine Anilinfarben und noch nicht einmal die Petroleumlampe gab. So, meine Freunde, nun nehmt euch ein Herz, setzt euch hin, fix, und hört zu, was ich euch von Reprovision zu erzählen habe. Mein Ausflug begann so: An einem Sommermorgen saß ich in einem der großen Ateliers der Filmgesellschaft DEFA in Babelsberg. Eine hohe Halle, ohne Fenster, die Scheinwerfer gelöscht. Nur eine nackte Lampe baumelte von der Decke herab und verbreitete ein käsiges Licht. Es roch nach Staub, Dekorationen und verbrauchter Luft. Eine Drehnacht war vorüber. Ich war
allein und müde. Rechts an der Säule stand der Stuhl des Regisseurs, dahinter der Sessel des Kameramannes. Ich hatte noch die Worte des Regisseurs im Ohr. »Ich verschwinde jetzt. Es ist nicht zum Aushalten. Schon wieder so ein historischer Märchenschinken. Macht mal etwas Neues. Hundert Jahre nach vorn – und nicht zurück. Unsere Kinder wollen wissen, wie sie morgen leben und was ihre Kinder dann anstellen.« Ja, was stellen sie denn an? fragte ich mich verzweifelt. Werden sie wie die Kinder von der Märchenlandschaft etwas albern sein, in gestelzten Worten sprechen und gar keinen Unsinn treiben? Sind nur wir richtig lustig, burschikos, einmal vorlaut, auch frech und immer von brennender Abenteuerlust beseelt? In Gedanken drückte ich auf den Knopf der Rückprojektionsanlage. Aber was war das? Statt des Märchenschlosses, das die ganze Nacht riesengroß auf der Leinwand gestanden hatte, düster, grau und staubig, ging plötzlich die Sonne über einer modernen Stadt auf. Hochhäuser reckten sich in den blauen Morgenhimmel. Ich rieb die Augen. Berlin sollte das sein, unsere Hauptstadt? Das Rote Rathaus stand noch, es gab die Staatsoper und die Universität, das Brandenburger Tor und den Tierpark. Aber diese Riesenstadt hatte sieben Millionen Einwohner, reichte im Norden vom Werbellinsee bis zum Süden nach Jüterbog, im Westen bis Brandenburg und Südosten bis Königs Wusterhausen. Ja, und dann sah ich die Menschen… Aber von ihnen werde ich der Reihe nach erzählen. Merkt euch nur das Datum. Auf der Reprowand, nein, auf der Reprovisionsanlage des Jahres 2071 flimmerte eine Zahl: 4. Juli 2071.
1. KAPITEL Zepp oder Pickwick? Im Morgengrauen hatte es geregnet. Von vier bis fünf Uhr war ein gleichmäßiger Guß niedergegangen. Diese Frühdusche ließ das Gras der Grünanlagen längs der Avenue Zampetta kräftig sprießen. Die Rosen in den Blumenrabatten öffneten beim ersten Strahl der Sonne ihre Blütenköpfe. Die Chaussee, die schnurgerade nach Berlin hineinführte, dampfte vor Feuchtigkeit. Der 4. Juli des Jahres 2071 versprach ein schöner Tag zu werden. Zemed, der Zentrale Meteorologische Dienst, hatte in der warmen Nacht aufmerksam die Wolkenbildung im Oderraum beobachtet. Durch geschickte Steuerung der Regelgeräte wurde eine Gewitterfront vor Frankfurt aufgelöst. Es gelang, die Höhenluftströmung zu beeinflussen. Die schweren Regenwolken segelten über die Trabantenstädte BerlinZeuthen, Berlin-Zossen und Berlin-Jüterbog und brachten die erwünschte Erquickung. Nun wölbte sich ein hoher, klarer Himmel über den acht Hochhäusern des Boulevards Zampetta. Die zwanziggeschossigen Hochhäuser waren in Orange gehalten, jedes Haus in leichter V-Form fischgrätenartig zum Boulevard angeordnet. In Richtung Berlin reihten sich an der linken Seite der Straße die Blocks A, B, C und D, zur besseren Kennzeichnung Archibald, Benjamin, Cesare und Demisan genannt. Rechts vom Boulevard standen die Häuser E, F, G, H. Auch hier hatte man zur Unterscheidung Vornamen gebraucht, nur weibliche diesmal: Elvira, Friedegund, Gisela und Hildegard. Vorbild für die Anordnung war, wie gesagt, das Fischskelett. Die Avenue war die Mittelgräte. Cesare und Demisan waren als letzte Häuser vor knapp vier Wochen fertiggestellt worden, jedoch bereits von Mietern bezogen, obgleich es vor der Hinterfront des Hauses B noch ein wenig kahl aussah. Dort ragte am Morgen des 4. Juli ein Stahlrohr aus der Erde, eine Sonde. Hausmechaniker Karl-Franz Bluffke hatte sie noch am Abend zuvor zur Prüfung der Bodenbeschaffenheit bis zu 20 Meter Tiefe niedergebracht. Hier sollte heute der Elektroskraper mit den Erdarbeiten beginnen. Nach
Karl-Franz Bluffkes Plänen hatte dort ab morgen früh eine Fontäne aufzusteigen, um ein Blumenrondell zu netzen. Der lange Zeiger in der Halle von Cesare federte lautlos auf die zwölfte Ziffer. Sieben Uhr. Das Zifferblatt leuchtete auf, eine Melodie ertönte. »Horch, Astralmusik. Der Gesang der Sterne«, sagte Karl-Franz Bluffke verzückt, der gerade aus dem Kellerlift stieg und lauschend stehenblieb. Der Dobermann neben ihm hatte jedoch keinen Sinn für derlei Andacht. Er sog witternd Luft in die lackschwarze Nase, klemmte den Schwanz zwischen die Beine und begann zu knurren. »Ts, ts, ts.« Karl-Franz Bluffke schob die Sportmütze zurück, schüttelte den Kopf und tätschelte dem Dobermann das Fell. »Pickwick! Du bist und bleibst eben ein Hund. Tausend Jahre Fressen. Tausend Jahre Vermehrung. Aber im Kopf immer noch dasselbe kleine Gehirn. Wenn du deine Nase nicht hättest, was bliebe dann vom besten Spürhund der Welt? Nichts, nichts als Freßlust auf vier Beinen.« Bluffke wandte sich seiner Morgenarbeit zu. Er öffnete einen Wandschrank. Kontrollanzeiger, Blinklampen, ein Dutzend Hebel, von denen Bluffke jetzt zwei herunterdrückte. In allen zwanzig Etagen öffneten sich in diesem Moment Klapptüren. Zwanzig Rotoren marschierten schnurstracks heraus und begannen die Fußböden zu reinigen und zu polieren. Aus den Fensterfugen rieselte Wasser über die zwanzigtausend Fensterscheiben. Und breite Wischblätter strichen über das Glas, ließen es im Sonnenschein aufblitzen. Karl-Franz Bluffke regulierte die Ionisatoren. Würzige Luft wehte durch die weite Halle. Pickwick wedelte mit dem Schwanz, witterte vergnügt und leckte sich vor Behagen die Schnauze. Da schnappte in der zweiten Etage leise eine Tür. Ein Summen war zu hören. Der Rotor stellte dort seine Arbeit ein. Die Kontrollampe im Wandschrank erlosch. Gleich darauf sauste der bis eben in der Halle herumkutschierende Rotor in seine Klappe, die sich sofort schloß. Im Ionisator knackte es. Die Frischluftzufuhr setzte aus. Pickwick stellte die Beine breit, schnüffelte aufgeregt am Boden. Da er offensichtlich nichts Verdächtiges roch, hob er den Kopf, spitzte die
Ohren und begann kläglich zu jaulen. Das Summen kam jetzt aus dem Fahrstuhlschacht vier und wurde lauter. Die Schwingtür am Lift öffnete sich. Und heraus schoß ein seltsames Vehikel, pudelgroß, schildkrötenartig, aber durchaus nicht schildkrötenlangsam, ohne Räder, ohne Beine, freischwebend in der Luft. Ein kleines Luftkissenfahrzeug? Aber nein, es war kein Fahrzeug. Denn es murmelte mit krächzender Stimme: »Platz! Jetzt kommt Zepp!« Ein Tier? Nein, es hatte kein Fell, dieses eigenartige Vehikel. Es war gekleidet in eine Polymerhülle, schwarzweißes Karomuster, schachbrettartig. Auf dem Rücken brannte eine rosafarbene Kontrollampe. Zwei Antennen vibrierten, zwei Scheinwerfer leuchteten. Pickwick knurrte. Vor Wut oder vor Angst? Er schob die Nase vor. Nichts zu riechen als warmer Staub, wirbelnd um die Kontrollampe. Pickwick jagte aufgeregt hinterher, hinaus aus dem Haus. Man hörte ihn bellen, und dazwischen das Schnarren dieses Zepp, das einem ärgerlichen Raunzen glich: »Sei ruhig, Hund.« Karl-Franz Bluffke schüttelte den Kopf. Er ging zum Wandschrank, regulierte die von Zepp verschobenen Kontakte, ließ Fensterwischer und Rotoren erneut arbeiten. Zufrieden lauschte er dem beruhigend gleichmäßigen Geräusch seiner »Heinzelmänner«. Dann schlenderte er gemächlich zu dem Schreibtisch in der Ecke der Halle und setzte sich. Wie allmorgendlich strich seine Hand mit Genuß über die Plastplatte. Er liebte Frische, Sauberkeit, Eleganz. Das Sonnenlicht fiel in breiter Bahn durch die blendungsfreien großen Scheiben in die Halle. Die ionisierte Luft versetzte Bluffke in Hochstimmung, machte ihn ausgeglichen und zufrieden. Er begann Eintragungen in sein Tagebuch zu machen. Er war jetzt ungestört. Der allgemeine Arbeitsbeginn in der Stadt war auf neun Uhr festgesetzt. Im Haus war noch Ruhe. Karl-Franz Bluffke notierte: »6 Uhr. Telefilmsaal. Stereobild nach Beschwerde der Hausgemeinschaft überprüft. Abendvorstellung war gestört. Zwei Transistoren ausgewechselt, Tiefenschärfe geregelt.« Er überlegte einen Moment. Nachdenklich spielte er mit dem Stift in seiner Hand. Dann rückte er das Tischmikrophon heran, räusperte sich. Sollte er nicht doch lieber für sein Tagesstenogramm das Diktaphon
benutzen? Das Tagebuch konnte er anschließend an den Abtaster schieben und den Bericht des Diktaphons abprotokollieren lassen. Ach was. Zärtlich fast sah er sich seine steile Handschrift an. Wenn man sich nur der technischen Hilfsmittel bediente, verlernte man am Ende die soliden Grundlagen allen Wissens, das Schreiben und Lesen. Er gab dem Tischmikrophon einen verächtlichen Stoß und griff wieder zum Schreibstift. »6.30 Uhr. Kontrolle der Keller…« (Keller wurde durchgestrichen) »Untergrundanlagen. Reinigungsanlage des Hausschwimmbades eingestellt. Thermostat überprüft. Erster Gast Fräulein Marlene Zipp, die sich über zuviel Duftstoff im Wasser beklagte. Eau-de-Cologne-Zusatz neutralisiert.« Marlene Zipp. Karl-Franz Bluffke wiegte anerkennend den Kopf. Er sah sie vor sich, wie sie in eleganter Schraube vom Dreimeterbrett ins Wasser drehte. Anschließend hatte er ihre Zeit gestoppt, fünfzig Meter Schmetterlingsstil. Zwanzig müßte man eben noch einmal sein und Kind dieser Zeit. Oder man müßte eine Tochter wie diese Marlene haben. Er seufzte und dachte an Meckie, an seinen Sohn Mac Bluffke, der, hier sei's geklagt, um Wasser einen ebensolchen Bogen machte wie Pickwick, der Dobermann. Mac, den Kopf voller Ideen und Flausen, genoß zur Zeit die Internatsferien. Noch schlief er. Wenn er aufwachte, würde er aufspringen und in seine Primalon-Jacke schlüpfen, in die Primalon-Jacke, die garantiert wasserabweisend war. Nein, mit Wasser hatte Mac nichts im Sinn. Karl-Franz Bluffke notierte seufzend weiter: »6.45 Uhr. Müllbunker betreten. Müllschrotanlage eingestellt. Spülvorrichtung betätigt. Abfluß des Hausmülls in die Kanalisation überwacht. 7 Uhr. Hausputz begonnen. 7.05 Uhr. Störung der Reinigungskräfte durch Zepp.« Jawohl. Heute trug er das ein. Seine Geduld war zu Ende. Sollte sich die Administration des Zampetta-Boulevards doch ruhig einmal mit diesem Zepp befassen, diesem zwar lustigen, aber doch wohl überflüssigen Spielzeug des Professors Lutz Dietrich, das seit vier Wochen nun schon als Störenfried im Haus Cesare auftrat. In den ersten zwei Wochen hatte er, Karl-Franz Bluffke, noch selbst seinen Spaß an diesem seltsamen Vehikel gehabt, hatte es sogar drei, vier Tage in seiner Wohnung aufbewahrt, wenn der Professor im Lunikport bei der Arbeit war. Das Vehikel interessierte ihn. Karl-Franz Bluffke untersuchte den Zepp gründlich
und stellte fest, daß in seinem Inneren eine chemische Kleinzelle mit einer Lebenskraft von zwanzig Jahren arbeitete und in direkter Umsetzung mechanische Energie lieferte. Steuerung und Reaktion wurden von einem Elektronengehirn beeinflußt. Alles in allem eine prima Sache. Aber wohl nicht ganz gelungen, denn ein Zuviel an Impulsen gab dem kleinen Burschen eine derart intensive Strahlung, daß die empfindlichen Geräte im Haus beim Auftauchen von Zepp regelmäßig nicht mehr funktionierten. Karl-Franz Bluffke war ein tüchtiger Techniker. Er hatte sechs Jahre lang die Spezialschule »Hundert Kenntnisse« in Prag besucht. Anschließend hatte er sich für den modernen Dienstleistungsbetrieb entschieden. Als Hausmechaniker war er seit zehn Jahren tätig. Ihm war nichts Technisches fremd, und so hatte er aus diesem Superzepp einen normalen Zepp zu basteln versucht. Es war mißglückt. Schließlich hatte Professor Dietrich gesagt: »Lieber Karl-Franz Bluffke, lassen wir diesen Burschen, wie er ist. Ich weiß um seine Schwächen, aber gerade deshalb macht er mir Spaß. Er bleibt in der Wohnung. Sie haben Ihre Ruhe. Ist das ein Wort?« Karl-Franz Bluffke war einverstanden. Aber dann kam mit Meckie Bluffke der Sohn von Professor Dietrich, Jens, in die Ferien. Und der Ärger begann. Meckie hatte den Dobermann Pickwick zu seinem ständigen Begleiter ernannt, und Jens Dietrich ließ Zepp nicht mehr von seiner Seite. Albereien! Seit zwei Tagen war es ganz schlimm. Der Professor arbeitete im Lunikport an einem neuen Projekt und kam nicht oft nach Haus. Frau Maika Svenson, die Mutter von Jens, war seit einem halben Jahr in der Mondstadt Clavius tätig. Jens, sich selbst überlassen, programmierte diesem Zepp, was ihm seine Phantasie eingab. Zepp schwirrte in und vor dem Haus wie ein Hund herum, von dem aufgeregten Pickwick verfolgt. Jens wollte aus Zepp einen Pickwick machen, Meckie aus Pickwick einen Zepp. Beiden Jungs ging nicht ein, was ihnen Vater Bluffke am Tage zehnmal predigte: »Zepp ist eine Maschine und kein Lebewesen. Zepp hat noch nicht einmal das Gehirn eines Spatzen. Ein Apparat, so gut er ist, kann zwar Probleme lösen, aber nicht Probleme stellen. Zepp wird nie ein Hund. Und Pickwick wird nie Zepp.« Ach, es war tauben Ohren gepredigt. Das hatte sich eben wieder gezeigt. Jens, offenbar gerade aufgestanden, hieß Zepp auf die Gasse ge-
hen, Geschäft verrichten. Der Erfolg waren zwanzig Kurzschlüsse. Nein, Karl-Franz Bluffke mußte ein Machtwort sprechen. Ein greller Pfiff ertönte. Karl-Franz Bluffke zuckte zusammen und blickte zur Tür. Da stand der Pfeifer. Ein jungenhaft aussehendes Mädchen in Shorts und blaugelbgestreiftem Pulli. Dunkles, auf drei Zentimeter getrimmtes Haar, Damenmode des Jahres 2071, das nach allen Seiten abstand. »Sprottenkopf« hatten die Jungs daher ihre neue Freundin genannt, die ansonsten brav und bieder Claudia Steinmann hieß. »Was ist denn, Sprottenkopf, äh, Claudia?« fragte Karl-Franz Bluffke verdutzt. »Meckie schläft noch.« Claudia wies mit dem Daumen über die Schulter nach draußen. »Zwanzig Meter bis zur Hausecke. Linkswendung. Noch einmal dreißig Meter, Kurs Südost. Was steht denn da, Herr Bluffke?« Karl-Franz Bluffke lächelte. Dann erhob er sich würdig und salutierte. »Eine Sonde, Kapitän!« Claudia nickte und dachte, jetzt ist er noch albern, aber gleich dreht er durch. Sie machte eine Kopfbewegung in die angegebene Richtung. »Halten Sie sich fest, Admiral. Um Ihre Sonde tobt Windstärke acht. Mindestens fünfzig Menschen.« Karl-Franz Bluffke setzte sich die Mütze zurecht und rannte hinter Claudia her, die mit grellem Pfiff an der Hausecke stehenblieb und durch die zum Schalltrichter geformten Hände rief: »Achtung, er kommt.« Karl-Franz Bluffke jagte um den Wohnblock. Nanu, was war denn da los? Er traute Augen und Ohren nicht. Pickwick stand hochaufgerichtet an der Sonde, schnupperte an ihrer Öffnung. Er jaulte und fletschte die Zähne. In großem Bogen schnurrte Zepp um dieses lebende Denkmal. Seine Kontrollampe leuchtete puterrot. Sie schien glühheiß zu sein. Fräulein Marlene Zipp hatte einen Spaten in der Hand und grub rund um die Sonde ein Loch. Auf dem Platz drängelten sich Neugierige, durch das Jaulen von Pickwick und den kochenden Zepp angelockt.
Auf dem inzwischen recht belebten Boulevard stoppten mit Sirenenklang Quicktaxen und Autos. Immer mehr Menschen kamen über den Platz gelaufen. Ein grauhaariger Mann in einer Lederjacke sagte: »Schätze, hier hat ein ganz Schlauer die Kanalisation angebohrt. Junge, Junge, das wird ein schöner Springbrunnen werden.« Fräulein Marlene Zipp richtete sich auf, strich das Haar aus der Stirn. »Unsinn. Ich nehme an, daß ein Pferdekadaver oder so etwas da unten liegt. Früher sind sie hier in der Gegend mit Pferdefuhrwerken gefahren.« Karl-Franz Bluffke schritt vorsichtig näher. Er schob den aufgeregten Pickwick energisch beiseite. Der bellte kurz, verschwand zum nächsten Baum, hob das Bein und kam knurrend zurück. Zepp drehte nach wie vor, gleichmäßig wie ein Karussell, seine Runden. Karl-Franz Bluffke schnupperte an der Sondenöffnung. Ein unangenehmer Geruch kam aus dem Stahlrohr. Der Mann in der Lederjacke drängte sich heran. »Also doch die Kanalisation?« Bluffke schüttelte den Kopf. Zu Fräulein Zipp sagte er: »Pferdekadaver ist es auch nicht. Bestimmt nicht. So etwas riecht anders.« Der Mann in der Lederjacke hob die Arme zum Himmel. »Nicht Kanalisation, nicht Kadaver. Mann, machen Sie doch endlich etwas. Ich will Ihnen ja gern helfen. Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle. Meinert, Monteur. Was hatten Sie denn vor?« »Ich wollte einen Springbrunnen bauen, eine Fontäne, verstehen Sie?« Bluffke sah Meinert unschlüssig an. »Wenn es nun tatsächlich die Kanalisation ist? Ich habe vor einer Stunde den Müll aus dem Haus gespült. Das wird 'ne Schweinerei.« Claudia schob sich durch die Neugierigen. Sie zeigte auf den brummenden, glühenden Zepp. »Der Hund vom Jens hat's zuerst gemerkt. Ich hole Jens. Er soll ihn mal testen.« Sie stob davon. Fräulein Marlene Zipp lachte hellauf. »Hund? Die Spielzeugschildkröte hat höchstens einen Wackelkontakt und scheint nicht recht zu funktionieren. Nein, der Pickwick hat's zuerst gerochen und gleich verbellt.«
Bluffke nickte anerkennend. »So muß es gewesen sein.« Er wandte sich an Meinert und zeigte voller Stolz auf Pickwick, der eifrig mit dem Schwanz wedelte. »Mein Hund. Der beste Spürhund der Welt. Der riecht eine Maus auf drei Kilometer Entfernung. Vielleicht sind's nur Mäuse?« Meinert rüttelte an dem Rohr. Es blieb kerzengerade im Boden. »Wie tief?« »Zwanzig Meter.« »So tief gibt es keine Mäuse. Los, an die Arbeit. Haben Sie Geräte?« »Einen Elektroskraper, mit Bohrspindel.« »Na, dann ran. Ich helfe Ihnen.« Die beiden Männer marschierten davon. Zwei junge Leute lösten sich aus der Menge der Neugierigen und schlossen sich an. Pickwick trottete hinterdrein. Zepp blieb plötzlich stehen. Er summte leise und setzte sich dann auf die Erde. Fräulein Marlene Zipp konstatierte trocken: »Nun ist er ganz kaputt.« Sie versuchte vorsichtig, den Spaten unter Zepp zu schieben. »Lassen Sie das doch, bitte«, sagte in diesem Moment eine helle Stimme. Durch die Menge der Neugierigen schob sich ein etwa vierzehn Jahre alter Junge. Er hatte ein fröhliches rundes Gesicht mit energischem Kinn. Verlegen strich er sich über sein kurzes Haar, das akkurat vom Wirbel zur Stirn gebürstet war. Dann hockte er sich vor den summenden Zepp nieder. Meckie Bluffke, rothaarig, das Gesicht voller Sommersprossen, drängte sich hinter ihm her. Auch er hockte sich hin. Meckie lächelte verlegen. Das sah jedoch gar nicht verlegen, sondern recht frech aus, weil die Lippen zwei große Schneidezähne freigaben, die dazu auch noch etwas auseinanderstanden. »Ich glaub, der kann nicht mehr«, sagte Meckie. Die Leute lachten. »Soll ich ihn mit rauftragen in die Wohnung, Jens?« Jens Dietrich faßte sich ans Kinn, dann sagte er: »Der Junge hat etwas. Der hat etwas auf dem Herzen.«
Marlene Zipp fragte spitz: »Nanu, seit wann haben Spielzeugschildkröten ein Herz?« Alles lachte. Aber Jens sagte mit ruhiger Stimme: »Zepp! Anfrage auf Kanal 5. Was ist los?« »Anfrage auf Kanal 5. Ich lach mich tot«, schrie Marlene Zipp. Claudia, die neben ihr stand, boxte sie in die Seite und zeigte auf Zepps Kontrollampe. Die Kontrollampe begann zu glühen. Dann leuchteten die Scheinwerferaugen auf. Die Antennen drehten sich in Richtung Sonde. »Allerhand.« Fräulein Zipp staunte. Zepp ließ ein paar grelle Pfeiftöne los. Dann begann er zu schnarren: »Meldung über Kanal 5. Zwanzig Meter Tiefe. Metallgegenstand geortet. Größe dreißig mal vierzig mal zwanzig Zentimeter. Hohlkörper. Ende.« Fräulein Zipp hockte sich neben die Kinder. Neugierig fragte sie: »Und der Geruch, Schildkröte? Was ist mit dem Geruch?« Zepp löschte die Scheinwerfer und drehte die Antennen in die Ausgangsstellung zurück. Er schwieg. Karl-Franz Bluffke dirigierte den selbstfahrenden Elektroskraper heran, eine gedrungene, kleine Maschine. Meckie sprang auf und lief auf seinen Vater zu. »Zepp hat's rausgekriegt. Metallgegenstand, hohl, dreißig mal vierzig mal zwanzig Zentimeter. In zwanzig Meter Tiefe.« Karl-Franz Bluffke winkte ungehalten ab. Er sah seinem Sohn hinter die Ohren und fragte streng: »Hast du dich gewaschen?« Meckie sah ihn hilflos an. Er strich verlegen über seine silbergraue Primalon-Jacke. Wasserabstoßend. »Nimm dir bloß nicht deine Jacke zum Vorbild«, sagte Vater Bluffke. »Ab. Waschen. Oder du darfst nicht zugucken.« Meckie sauste davon. Karl-Franz Bluffke fragte Jens, indem er auf Zepp deutete: »Und das hat er alles gerochen?« »Nein«, antwortete Jens unsicher. »Recht eigentlich… gerochen hat er nicht. Aber geortet.«
Bluffke winkte ab. Dann zeigte er auf Pickwick, der schon wieder die Nase in das Rohr stuppte und knurrte. »Da kannst du sehen, was ein richtiger Hund ist: Spürnase, mein Lieber. Gehirn. Elektronen, Steuermechanismen, alles prima. Hier bleibt eben die Natur der Maschine überlegen.« Jens trat gekränkt zurück. Zepp schnurrte hinter ihm her. Meinert schloß die Sonde an den Skraper an, der sie mit leisem Summen herauswand. Bluffke setzte den Bohrer über das Loch. Er überlegte einen Moment. Vierzig Zentimeter breit? Er dachte nach. Vielleicht hatte dieser Zepp doch recht. Er stellte auf 42 Zentimeter Durchmesser ein und ließ den Bohrer losschnurren. Der Bohrer hob alle zwei Meter an, drückte die Erde aus dem Bohrkamin heraus. Die Schaufel des Skrapers schob die Erde beiseite. Zehnmal geschah das. Dann setzte die rotierende Metallplatte des Bohrers auf, kratzte und knirschte. »Metall«, sagte Meinert trocken. »Doch nicht die Kanalisation.« Karl-Franz Bluffke ließ den Bohrer heraufschnurren. Der Bohrteller schwappte Modder über den Rand des Erdlochs, schwarz und übelriechend. »Das war alles«, sagte Meinert. »Unten liegt ein Stück Eisen im Modder. War vielleicht mal ein Brunnen. Und einer hat einen Eimer runtergeschmissen. Vor hundert Jahren gab es noch Metalleimer.« »Oder ein altes Auto liegt dort unten. Sie haben ja damals solche komischen Blechkisten gefahren«, sagte einer der jungen Leute, die geholfen hatten. Karl-Franz Bluffke sah nachdenklich auf Zepp, dessen rote Lampe jetzt wieder leuchtete. Dann schloß er eine Hebezange ans Bohrgestänge. »Ich versuch's mal. Vielleicht bekommen wir irgend etwas hoch.« Meckie, der schon wieder da war, beugte sich über das Bohrloch. »Vielleicht eine Autohupe? Vater, die kriege ich. Ich habe mal alte Bilder gesehen. Das waren vielleicht Dinger, aber schön laut.« Karl-Franz Bluffke sagte gar nichts. Er ließ die Hebezange in das Bohrloch sausen. Die Hebezange faßte. Laut polterte eine Blechkiste auf die Erde.
Claudia, umsichtig wie immer, jagte zur Wasserleitung, die Bluffke am Vorabend freigelegt hatte. Sie schloß den Schlauch an, der zwischen Bluffkes Arbeitsgerät lag. Meckie zerrte den Schlauch heran. Er griff in die Hosentasche, holte vor Bluffkes staunenden Augen eine feine Duschdüse aus der Hosentasche, setzte sie auf den Schlauch, drehte an ihrem Stutzen. Millimeterfeine Wasserstrahlen, zu einem etwa daumenbreiten Guß gebündelt, schossen heraus. »Wo hast du denn das her?« fragte Karl-Franz Bluffke verdutzt. »Damit habe ich Zepp bisher saubergemacht. Aber ich habe etwas Neues. Kann er haben«, sagte Jens ruhig. »Ach so.« Karl-Franz Bluffke sah in das strahlende Gesicht seines Sohnes. »Hat sich damit das Problem Morgenwäsche erledigt?« »Sogar das Zähneputzen.« Meckie zeigte die Schneidezähne. Meinert verzog den Mund bis zu den Ohren. »Dann putz mal den Kasten.« Meckie jagte die scharfe Dusche über alle Ecken und Enden des Kastens. Pickwick knurrte und kläffte leise vor sich hin. Die Kiste war tatsächlich aus Metall. Sie mußte einmal rotbraun gespritzt gewesen sein. Jetzt war die Farbe nahezu abgeblättert, nur am Deckelrand hatten sich ein paar Reste gehalten. In der Deckelmitte war ein altertümlicher Griff, offenbar aus Messing. Er war umgeklappt. Meinert klopfte mit dem gebogenen Zeigefinger gegen den Kasten. »Hohl«, sagte er, ließ einen Meterstab aus einer verchromten Scheide schnappen und maß nach. »Stimmt genau, was die Schildkröte sagte. Vierzig Zentimeter lang, dreißig Zentimeter breit, zwanzig Zentimeter hoch. Donnerwetter.« Meinert nickte Jens anerkennend zu. Zepps Rückenlampe leuchtete feuerrot. Dampf stieg auf. Bluffke sagte: »Paß auf deinen Hund auf, Jens. Er hat Überdruck. Gleich platzt er. Vor Neugier.«
Aber Jens ließ sich jetzt nicht mehr aufziehen. Von Karl-Franz Bluffke gleich gar nicht. Er war stolz, stolz auf Zepp. »Aber gerochen hat die Schildkröte trotzdem nichts«, sagte Fräulein Marlene. »Ach, was hat denn Ihr Pickwick, Herr Bluffke?« Pickwick hatte sich bereits beim Auftauchen der Kiste auf den Bauch gelegt. Den Kopf auf die Vorderpfoten, die Nase im Sand. Jetzt robbte er sich mit zuckenden Nüstern an die Kiste heran, sog Luft ein und knurrte. Meinert sah Bluffke an. Meckie stellte die Dusche ab. »Pickwick riecht etwas, Vater. Der Geruch kommt aus der Kiste.« Bluffke schob die Leute zurück. »Ich kann sonst die Verantwortung nicht übernehmen. Treten Sie zurück, meine Herrschaften.« Durch Meinerts Kopf jagten die Gedanken. Die Kiste datierte er um etwa fünfzig Jahre zurück, obwohl er im Haushalt seines Vater solch ein Monstrum nicht gesehen hatte. Was mochte da drin sein? Ein Schatz? Ach, Unsinn. Im Jahre 2020 hatte niemand mehr Münzen verbuddelt. Karl-Franz Bluffke fummelte mit einem Spezialschlüssel an dem verrosteten Schloß herum. Pickwick lag auf dem Bauch, ließ keinen Blick vom Schloß und knurrte. Meinert holte einen verchromten Apparat aus der Brusttasche der Lederjacke, klein wie ein Feuerzeug. Er drückte auf einen roten Knopf. Eine drei Zentimeter lange, scharfe Flamme schoß hervor. Meinert sagte zu Bluffke: »Lassen Sie mich mal machen.« Meinert schnitt einfach den Kistendeckel auf, hob ihn ab. Pickwick stand sofort auf allen vier Beinen. Und bellte laut. Die Leute wichen erschrocken zurück und hielten sich die Nase zu. Es roch infernalisch. Ganz einfach, es stank. Claudia zeigte mit spitzen Fingern auf eine Büchse im Seitenfach. Was sonst noch in der Kiste sein mochte, war von einem weiteren Deckel verschlossen. Claudia sagte: »Das Ding da ist es. Das stinkt.«
Karl-Franz Bluffke nahm kurzentschlossen die Büchse aus dem Fach. Ein explosionsartiger Knall. Bluffke ließ die Büchse fallen. Pickwick jaulte auf. Er klemmte den Schwanz zwischen die Beine und raste davon. Zepp schnurrte heran, streckte die Antennen vor und leuchtete mit seinen Scheinwerferaugen die Büchse an. »Nichts«, schnarrte er. »Hohl. Ungefährlich. Keine Strahlung.« Meinert steckte mit zitternden Händen seinen Taschenschneider ein. Bluffke war grau im Gesicht vom durchstandenen Schrecken. Fräulein Marlene zirpte mit dünner Stimme: »Na, ich weiß nicht. Das Ganze ist mir nicht geheuer.« Doch Jens bückte sich, hob die Büchse auf. Nichts geschah. Kein Knall. Nichts. Meckie drängte sich sofort neugierig heran. Claudia tippte mit dem Finger auf den bunten Klebezettel der Büchse. Der Klebezettel zeigte ein Paar Würstchen. Auf dem Klebezettel stand: »Prager Würstchen.« Claudia buchstabierte: »Zum Verbrauch bestimmt bis 1965.« Meinert nahm die Büchse resolut in die Hand. Dann drehte er sich um und verkündete: »Über hundert Jahre alt. Der Inhalt verdarb und bildete Gase. Daher der Knall.« Alles lachte. Karl-Franz Bluffke wischte die Tränen aus den Augen und rief: »Schöne Helden sind wir, hahaha. Das hätte mein Urgroßvater sehen sollen. Er träumte von kühnen Eroberern des Kosmos. Daß es zu gleicher Zeit auch Hasenfüße gibt… daran hat er sicher nicht gedacht.« Aber Meinert sagte nachdenklich: »Ich finde es gar nicht so lustig. Es hätte ja tatsächlich eine geballte Ladung oder eine Zeitbombe sein können. Denkt doch mal hundert oder hundertfünfzig Jahre zurück. Ja, ja, eine Menge Menschen lebten da noch wie Barbaren, waren gewalttätig, beuteten andere aus, verübten Verbrechen. Na, und wenn das hier nun von irgendeinem hinterhältigen Schuft gestammt hätte?« Meckie sah Meinert mit offenem Mund voll unverhohlenem Staunen an. Geballte Ladung. Zeitbombe. Barbaren. Meinert erschien ihm wie ein Jongleur, der mit Ungeheuerlichkeiten Ball spielt. Was waren Bomben? Er hatte vor einiger Zeit einen Film gesehen, dokumentar, in dem die Verwertung der letzten H-Bombe als Energielieferant gezeigt wurde.
Waren die Menschen damals mit solch einem Kaliber durch Keller und Straßen geschlichen! Ihm grauste. Aber er stand immer noch vor Haus Cesare. Die Sonne schien. Bienen summten. Die Rosen blühten. Und vom Pfirsichbaum in den Anlagen fiel gerade ein saftiger Pfirsich herunter. Meckies Herz wurde weit und froh. Er war wieder mitten im Jahr 2071. Und nun wurde Meckie kühn. Er kroch einfach durch die Beine seines mit Meinert debattierenden Vaters, ging zum Kasten und klappte den zweiten Deckel hoch. Das Porträt eines etwa dreizehnjährigen Jungen lächelte Meckie an. Die Fotografie zeigte ein lustiges Gesicht. Stupsnase. Sommersprossen. Zwei große Schneidezähne, etwas auseinanderstehend. Meckie wurde blaß. Hilflos, der Anziehungskraft dieses Bildes erlegen, starrte er in den Kasten. Jens drängte sich heran. »Mensch, das bist doch du! Meckie, du hast dir wohl einen Spaß gemacht?« Meckies geweitete Augen machten Jens unsicher. Sollte das Bild tatsächlich hundert Jahre alt sein? Er winkte Claudia heran. Die Erwachsenen hatten den Kasten vergessen. Sie debattierten im Rücken der Kinder über Verbrecher und Verbrechen vor hundert Jahren, waren je nach Temperament entrüstet über ihre Vorfahren, mitleidig, überlegen oder ironisch. Jens hielt das Bild in der Hand und verglich es mit Meckie. Der Junge auf dem Bild hatte halb soviel Sommersprossen wie Meckie, mehr Haare auf dem Kopf und ein Tuch um den Hals. In der Ausführung erlaubte das Bild überhaupt keinen Vergleich mit heute. Es war nicht auf Superkarton gezogen, gab keine Plastizität, war flach, grau und schlecht belichtet. Aber trotz aller Mängel: Der Junge auf dem Bild sah Meckie ähnlich. Claudia blickte mitleidig in das Gesicht des Freundes. Es hatte alle Farbe verloren. Ganz klar. Meckie war es unheimlich. Dieser geheimnisvolle Fund brachte ihn an den Rand seiner Fassung. »Dreh doch mal um«, sagte Claudia, die längst auf die Rückseite des Bildes geluchst hatte.
Jens drehte unter vernehmbarem Aufatmen von Meckie das unheimliche Konterfei um. In eigenartiger Krakelschrift stand da: »Ich grüße Euch, Pioniere im Jahr 2000. Euer Helmut Schulze.« Meckie lachte. Ihm war ein Stein vom Herzen gefallen. »Na, seht ihr. Kein Verwandter, Schulze – Bluffke, überhaupt nicht zu vergleichen. Das ist noch nicht einmal mein Urgroßvater.« »So?« Jens hob die Augenbrauen. »Wieso nicht?« »Da müßte er Bluffke heißen.« »Ach? Dann mal dir deinen Stammbaum auf. Was denkst du, wie viele du findest, die nicht deinen Namen tragen.« Jens packte jetzt kurzentschlossen die Kiste aus. Es war nicht viel darin. Manches war absonderlich, rätselhaft, ohne Zusammenhang, wie die Wurstbüchse und die Fotografie mit dem Gruß an die Pioniere des Jahres 2000. Jens holte ein zerknittertes blaues Tuch hervor. Karl-Franz Bluffke, Monteur Meinert und die anderen betrachteten es neugierig. Marlene Zipp, angehende Geschichtslehrerin, identifizierte das Tuch einwandfrei als ein Pioniertuch des vergangenen Jahrhunderts. Jens packte weiter aus, und Fräulein Zipp kennzeichnete sofort: eine Signallampe für Geländeübungen, wie sie die alten Deutschen vor hundert Jahren benutzten. Einen Pionierausweis mit dem Sputnik, dem ersten künstlichen Himmelskörper. Eine Fotografie mit dem Porträt und der offensichtlich eigenhändigen Unterschrift des ersten Weltraumfahrers Gagarin. (Hier entstand ein Tumult, weil alle diese Kostbarkeit sehen wollten. Fräulein Zipp glättete die Wogen mit dem Hinweis, daß das alles natürlich erst auf Echtheit überprüft werden müßte.) Ein Uniformknopf mit Stern, offensichtlich von einer sowjetischen Uniform des vergangenen Jahrhunderts. »Gagarin«, war mit feiner Nadel daraufgeritzt.
Eine Tüte steinharter Himbeerbonbons. Jens gab sie sofort Karl-Franz Bluffke, der sie analysieren wollte. Sehr zum Leidwesen von Meckie. Schließlich wurde noch ein Brief gefunden, dessen Schrift jedoch fast verblaßt, auf jeden Fall im Moment unleserlich war. Jens packte den Brief sorgfältig ein. Er wies Karl-Franz Bluffke darauf hin, daß auf dem Lunikport ein sogenannter Entzifferer für alte Dokumente und Zeichnungen stand. Sein Vater würde ihm den Wunsch auf jeden Fall erfüllen und den Brief zum Sprechen bringen. »In Ordnung, Jens«, sagte Karl-Franz Bluffke. So marschierten Jens, Meckie und Claudia los, erfüllt von ihrer neuen Aufgabe. Am Boulevard Zampetta sprangen sie vier Stufen abwärts in. einen von mildem Licht erhellten Gang, in dem ein Pfeil zu einer horizontalen Rolltreppe wies. »S-Steig zur Stadtbahn.« Zepp folgte ihnen. Sie fuhren in mäßigem Tempo davon. Doch Pickwick klemmte den Schwanz zwischen die Beine, jaulte kläglich und zeigte sich in seiner ganzen irdischen Beschränktheit. Er trottete zurück.
2. KAPITEL Lunikport Im Arbeitszimmer des Chefkoordinators Lutz Dietrich hing ein in kräftigen Farben gehaltenes Ölgemälde. Das einfallende Sonnenlicht schickte ihm täglich für drei, vier Vormittagsstunden einen Gruß. Während dieser Zeit eintretende Besucher verhielten den Schritt und sahen sich mit Respekt das Bild an. Von einem Unbekannten gemalt, zeigte es eine verträumte Landschaft. Unter blauem Himmel breiteten sich Felder, Wiesen und Weiden, nur von spärlichem Buschwerk begrenzt. Schwarzgeschecktes Vieh ruhte hinter Koppelzäunen. Das Flügelrad eines Windmotors. Im Vordergrund zogen sich Gräben und Fließe, an denen ein paar junge Menschen mit Pickel und Spaten werkten. Die Besucher fragten nach der Betrachtung regelmäßig: »Nanu, was ist denn das?« Und Dietrich tippte ebenso regelmäßig auf eine kleine Metallplatte an der unteren Rahmenleiste. »Rhinluch, 1963«, stand da. Dann führte Dietrich seine Besucher an das hohe Fenster, ließ durch Knopfdruck die Scheibe herab und zeigte mit weitausladender Geste hinaus. »So sah es hier vor hundert Jahren aus.« Das alte Bild. Die neue Zeit. Nur wenige mochten hier einen Zusammenhang erkennen. Die meisten schüttelten den Kopf, lächelten und dachten: Sieh da, der Realist Dietrich war hier einer romantischen Laune aufgesessen. Ein Traum, ein Märchen von gestern hatte den verehrten Wissenschaftler eingefangen. Aber warum sollte er nicht seinen Spaß haben? Freunden zeigte Dietrich dann und wann alte Skizzen, Bücher und vergilbte Broschüren. Er belegte sozusagen dokumentarisch das romantische Bild. Das Gebiet, das in alten Karten von den Orten Kremmen, Paulinenaue und Fehrbellin eingefaßt wurde, sah vor hundert Jahren tatsächlich so aus. Der Unbekannte hatte es gemalt, wie es sich ihm damals darbot. Die jungen Menschen aber, die darauf mit altertümlichem Werkzeug arbeite-
ten, nannte Dietrich: Unsere Pioniere. Er sprach mit Hochachtung von ihnen. Nach seinen Worten erschlossen sie hier in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Sumpfland zur landwirtschaftlichen Nutzung, legten den Grund zu einem bedeutenden wissenschaftlich-technischen Projekt des neuen Jahrtausends. Hier war Lunikport entstanden. Männer und Frauen der vergangenen Generationen hatten gute Vorarbeit dafür geleistet. Sie hatten bei Rheinsberg ein kleines Atomkraftwerk gebaut, das zu einem gigantischen Energielieferanten geworden war. Sie hatten die Großschiffahrtswege Berlin – Szczecin und Berlin – Rostock gebaut und erweitert, die heute zu den Hauptwasserstraßen Europas zählten. Die bescheidenen Bahntrassen zur Ostsee waren zu Breitspurlinien geworden, auf denen schwere Atomzüge dahinrasten. Und von dem vor einem Jahrhundert entstandenen Eisenhüttenstadt an der Oder war in westlicher Richtung eine fortlaufende Kette von Stahlveredlungswerken gewachsen… Vor fünfzig Jahren hatten sich die Länder der Erde zu den Vereinigten Weltnationen zusammengeschlossen. Seitdem war es möglich geworden, die landwirtschaftlichen Nutzflächen in die günstigsten Klimazonen der Erde zu verlegen. Dort aber, wo die größten materiellen, technischen und fachlichen Reserven waren, entstanden die Wirtschafts- und Wissenschaftszentren der Welt. Lunikport gehörte dazu. Zu Beginn seiner Entwicklung bildete Lunikport eine Art Fernlenkstation für den Vorstoß der Menschen in den Weltraum. Spezialisten schufen sich Verbindung mit den vielen Raketen, die im Rahmen eines gewaltigen Weltforschungsprogramms ins All vorstießen. Sie hielten Kontakt mit Flugkörpern, die auf entfernte Planeten zujagten, reichten sie weiter an andere Stationen, führten sie sicher im Bereich ihrer elektromagnetischen Wellen. Von den Entdeckern des Kosmos wurde wichtiges Informationsmaterial zurückgereicht. Biologische, geologische und meteorologische Institute wurden gebaut. Von Fernsehstationen wurden die Nachrichten auf-
gefangen. Registrierbüros entstanden. Die Signale wurden auf Magnetbänder geschnitten. Archivhäuser nahmen sie auf. Elektronenmaschinen begannen mit ihrer Arbeit. Die Dechiffrierung erfolgte automatisch. Automatisch war die Auswertung. Die einlaufenden Meldungen bezogen sich nicht nur auf kosmische Entdeckungen. Aus ihnen wurde auch ersichtlich, welcher Verbesserung die Flugkörper noch bedurften und welche Konstruktionen sich bewährten. Wie ließ sich die Geschwindigkeit erhöhen? Was wurde an neuem Material und Ausrüstung gebraucht? Eine Raketenversuchsstation entstand. Und weil die Erfahrungen auf diesem Gebiet auch für den Weltflugverkehr von Nutzen waren, entstand ein Institut für allgemeine Flugkörperforschung. Spezialmetalle und hochwertige Treibstoffe wurden entwickelt. Und als der Mond schließlich auf Beschluß der Weltnationen zum siebenten Kontinent der Erde erklärt wurde, die ersten bescheidenen Mondsiedlungen zu Mondstädten wuchsen, aus der Behelfsverbindung Berlin-Mond eine der neuen Hauptleitbahnen des Lunaverkehrs geworden war, galt Lunikport als einer der wichtigsten Koordinatenpunkte im goldenen Zeitalter. Die Name »Lunikport« war vor ungefähr fünfzig Jahren entstanden. Damals legte man im Bereich der ehemaligen Dörfer Linum, Friedenshorst und Betzin einen Startplatz für Mondraketen an. Die Monderoberung hatte begonnen. Auf allen Kontinenten entstanden Versorgungsbasen. Alle Länder schickten das Beste, was sie in Wissenschaft und Technik aufweisen konnten, und entsandten das Wertvollste, was sie besaßen: junge Menschen, von Entdeckerfreude beseelt, kühn, klug und schöpferisch. Von Lunikport stieg damals Rakete nach Rakete auf. Auf Grund exakter Pläne des Rates der Wissenschaftler aller Länder wurde von hier aus eine der zehn kosmischen Umsteigestationen ins All angelegt, über die dann der Mondverkehr etwa zwanzig Jahre lang lief. Dank dieser Umsteigestationen gelang es in verhältnismäßig kurzem Zeitraum, drei große Mondsiedlungen anzulegen. Sie bildeten heute den alten Kern der modernen Mondstädte Eratosthenes, Transquillitatis und Clavius. Clavius war das Zentrum des achten Kontinents.
In den folgenden Jahrzehnten wuchs um den Startplatz Lunikport eine Stadt der Wissenschaft und Technik. Die Warnschilder »Lunikport! Vorsicht, Gefahrenzone« standen nur um das engbegrenzte Versuchsareal und waren eigentlich nicht mehr notwendig. Hier wurden ausschließlich Tests mit neuen Flugkörpern oder Kurierflüge zum Mond unternommen. Wenn die Warnsirenen erklangen, schnellte eine Kunststoffbarriere aus dem Boden, das weite Fluggelände hermetisch absperrend. In diesem Bereich stand neben Hangars und Spezialwerkstätten das Glashaus der Zweitausend, in dem der Chefkoordinator mit seinen engsten Mitarbeitern wirkte. Stadt Lunikport hingegen war eine offene Siedlung, für jeden zugänglich, der Interesse an den Wunderwerken der Zeit hatte. An den Seiten der breiten Asphaltstraßen standen jetzt Hunderte wunderschöner Tropfenautos, in die jeder nach Belieben einsteigen konnte. Er brauchte nur den Kontaktknopf zu drücken und das Fahrtziel zu nennen, und schon trug ihn der Wagen an jeden gewünschten Ort. Ein Hochfrequenzkabel, unter der Straßendecke versenkt, lieferte die notwendige Energie. Auf freien Plätzen, auf den Flachdächern der Häuser warteten Luftgleiter. Auch hier brauchte nur das Reiseziel genannt zu werden. Als Sensation wurde seit einiger Zeit allabendlich das Aufgehen einer künstlichen Sonne beobachtet. Sowie die Dämmerung sich über die Stadt senkte, leuchtete ein Feuerball in einer Höhe von zwanzig Kilometern über den Dächern auf und lenkte seine hellen, warmen Strahlen über Lunikport. Das Wunderwerk verdankte seine Existenz sechs Hochfrequenzstationen an der Stadtgrenze von Lunikport. Dort, wo sich die Strahlen kreuzten, glühten Stickstoff- und Sauerstoffmoleküle auf. Sie bildeten die künstliche Sonne. Die gewaltigen Energien wurden jedoch nicht um einer Sensation willen vertan. Lunikport kannte keine Nächte mehr, in seinen Instituten und Anlagen wurde zu jeder der vierundzwanzig Stunden des Tages zu gleichen Bedingungen gearbeitet wie in allen ähnlich angelegten Zentren der Wissenschaft und Technik auf dem Erdball. Moskau, New York, Sydney, Tokio, Bombay, Kapstadt hatten so für ihre Forschungszentren
eine gleiche Erdzeit festlegen können. Ja, man hatte diese Spezialzeit sogar für die Mondzentrale Clavius fixiert. Die künstliche Sonne hatte für Lunikport noch eine Besonderheit geschaffen. Im ewigen Tag war eine üppig blühende und reifende Vegetation entstanden. Sie hatte die Stadt ihrer Klimazone entrückt. Hier war der Garten Eden, von dem die Bibelerzähler geträumt, Wirklichkeit geworden. Die Leitung dieses außergewöhnlichen Forschungszentrums lag in den Händen eines Rates von Wissenschaftlern. Ihr stand der Chefkoordinator Professor Lutz Dietrich vor, der zugleich dem Parlament der Vereinigten Weltnationen angehörte. Die Chefkoordinatoren waren Wissenschaftler in des Wortes bester Bedeutung. Die entscheidende Rolle, die sie im Leben dieser Zeit spielten, verdankten sie einem außergewöhnlichen Können, einer hervorragenden Ausbildung, für die es im Vergleich zu früheren Zeiten keine Beispiele gab. Ein Mensch vor hundert Jahren, der sich über einen Chefkoordinator von heute den Kopf zerbrechen müßte, würde vielleicht an das Theater oder den Film denken und sich einen Regisseur zum Vergleich vorstellen. Es gab Tausende solcher Regisseure einer neuen Zeit. Sie waren in ihrer Lebenshaltung, in ihrem Alltag bescheidene Menschen, voll Menschlichkeit, schlicht und einfach. Aber ihr Denken war kühn. Und ihr Handeln war außergewöhnlich… Man sprach in dieser Zeit von dem sowjetischen Chefkoordinator Pjotr Kamanow, der ein Riesenprojekt des Rates der Wissenschaften verwirklichte. Unter Kamanows Leitung war in der Beringstraße ein Damm aufgeschüttet worden, durch den die kalte Strömung des Nördlichen Eismeeres in die warmen Fluten des Ozeans geleitet wurde. Das war die erste Etappe. Dann versah Kamanow den Damm mit einem umfangreichen Pumpsystem. Längs der Küste baute er eine Kette von Atomkraftwerken, die den Pumpen die Antriebsenergien lieferten. Damit gelang es ihm, einen zweiten Golfstrom zu schaffen. Hunderttausend Kubikkilometer Wasser im Jahr wurden aus dem Stillen Ozean ins Eismeer befördert. Das war die zweite Etappe.
In der dritten Etappe begann sich das Klima von Kamtschatka, von Alaska, ja vom ganzen nordöstlichen Sibirien zu verändern. Eine der unwirtlichsten Zonen der Erde blühte auf. Im Großeinsatz wurde die vor hundert Jahren begonnene Erschließung der gerade in diesem Gebiet vorhandenen riesigen Bodenschätze fortgesetzt. Neue Industriezentren bildeten sich. Städte wurden gegründet… Nicht weniger rühmend wurde der Name des Inders Krishna Naqvi genannt. Nach seinen kühnen Plänen arbeiteten auf Geheiß des Weltparlaments hochbegabte asiatische Spezialisten das Projekt Himalaja aus. Riesige Stahlzylinder wurden in den Gebirgsgürtel getrieben, der Nordund Südasien voneinander scheidet. Die Zylinder waren mit einem Spezialsprengstoff auf Thermonuklearbasis gefüllt. Nach der Zündung riß eine mächtige Explosion die Bergwände auseinander. Die Voraussagen Naqvis erfüllten sich nach kurzer Zeit. Eisenbahnlinien und Autobahnen, die nach der Sprengung in Nordsüdrichtung gebaut wurden, waren für die Weltwirtschaft bald wichtiger als die bis dahin üblichen Ostwestverbindungen. Das rasche Aufblühen des asiatischen Kontinents war nicht zuletzt die Frucht seines kühnen Projektes… Zu den Köpfen des neuen Jahrtausends zählte man den Araber Ali Ben Khaab. Durch Anlage großer Meere in der afrikanischen Sahara gelang es, das extreme Festlandklima, heiße Tage, kalte Nächte, in diesen Zonen zu mäßigen. Die Wüste wandelte sich in Ackerland. Ein Blick aus dem Flugzeug schmerzte längst nicht mehr das Auge. Wo sich einst Sanddünen, hitzeflimmernd und kahl, bis zum Horizont dehnten, breiteten sich jetzt Weiden mit Viehherden. Und Weizenfelder wogten im Wind. Chirurgen wie die Franzosen Forel und Prunier wurden genannt, die mit dem Ultraschallmesser die unblutige Operation einführten und das Klebeverfahren der Gewebe durchsetzten. So reduzierte sich die Heilperiode auf eine früher unvorstellbar kurze Zeit. Meeresbiologen vom Schlage eines Nikolai Aksanow waren in aller Munde. Aksanow schuf die gewaltigen Anlagen zur Nutzung von Plankton und Algen für Industrie und Ernährung, die in allen Weltmeeren arbeiten. Neue Menschen, große Begabungen, noch kühnere Projekte. Das Leben bot sich voller Vielfalt, voller Möglichkeiten und ohne Grenzen…
In Lunikport war an diesem hellen Sommermorgen ein Raum in tiefes Dunkel gehüllt. Durch Zimmer I des Hauses der Zweitausend, zu jener Tageszeit sonst von gewichtigen Gesprächen erfüllt, wehte der leise Atem eines zufrieden schlafenden Menschen. Auf weichem Schaumpolster ruhte der Chefkoordinator. Nach zehn Stunden angestrengter Arbeit hatte ihn die Müdigkeit überwältigt. Seine Mitarbeiter nannten Lutz Dietrich den »Rastlosen«. Ein Perpendikel schien ständig in ihm zu schwingen. Dietrich war immer in Bewegung, kümmerte sich um alles, wußte alles. Er achtete genau darauf, daß in Lunikport sechs Stunden Arbeit nicht überschritten wurden. Für sich kannte er jedoch keine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit. Gedanken und Einfälle schlugen sich in seinen sogenannten stillen Stunden in neuen Plänen, Erfindungen und Konstruktionen nieder. Arbeit und Freizeit befruchteten sich wechselseitig. Einzige Ausnahme bildete der Sport. Ihm widmete sich Dietrich zwei Stunden täglich mit Ausdauer. Aber auch das tat er im Interesse der geliebten Arbeit. Dietrich hatte eine kluge selbstbewußte Frau gefunden, die wie er in der Arbeit aufging. Sie respektierte seinen selbstlosen Einsatz für den Fortschritt der Menschheit. Er wiederum war stolz auf ihre Leistungen als Biologin in der Mondstadt Clavius. Die gegenseitige Achtung hatte trotz zeitweiliger Trennung die Verbundenheit gefestigt. Alles in allem waren sie eine sehr glückliche Familie. Der breitschultrige Mann, Größe 1,90 Meter, drehte sich im Schlaf. Keine Träume, keine Nervosität. Dafür sorgte einmal der Ionisator, der ozonhaltige Luft in den Raum strömte. Andrerseits hatte hier wohlige Müdigkeit einem Menschen gesunden Schlaf gebracht, der sich erfolgreich und glücklich am Ziel einer langen Wegstrecke sah… Unweit des Hauses der Zweitausend ragte an diesem Morgen ein Flugkörper in den Himmel. Sein silberner Leib glänzte im Sonnenlicht. Die Konstruktion schien elegant auf der hohen Raketenrampe zu schweben, ja, von der Ferne gesehen, sogar zerbrechlich leicht zu sein. Aber der äußere Eindruck trog.
Aus den besten Werkstoffen der Welt gefertigt, stand hier ein neues Modell für den Schnellverkehr zum Mond, stabil und wendig. Die Kabine war im Innern des Flugkörpers nach dem System des Kreiselkompasses angebracht, so daß sie sich jeder Raketenlage anpaßte. Eine Reise zum Mond unterschied sich damit nicht sonderlich von einer D-ZugFahrt auf der Erde. Ein Spezialtreibstoff sorgte für eine bis dahin nicht gekannte Geschwindigkeit, so daß sich die Entfernung Erde – Mond auf Tagesdistanz verkürzen ließ. Das war der Lunakurier. Sein Schöpfer hieß Lutz Dietrich. Gebaut wurde der neue Flugkörper von den Spezialisten des Hauses der Zweitausend. Und der Probeflug sollte in der elften Tagesstunde stattfinden. Den Start wollte Dietrich selbst leiten. Die mattleuchtende Uhr im abgedunkelten Raum zeigte die neunte Stunde an. Dietrich schlief, traumlos und ruhig. Er hörte nicht den Summer, der plötzlich und fordernd seinen Ruf durchs Zimmer schickte. Zugleich mit dem an- und abschwellenden Summton leuchtete an der Wand ein Signalknopf auf. Der darüber angebrachte Bildschirm strahlte hellgrünes Licht aus. Der Mann auf der Liege rekelte sich schlaftrunken. Gleich darauf atmete er wieder schwer und ruhig und schlief ungeachtet der Geräusche einfach weiter. Nach etwa zehn Minuten wurde die Tür geöffnet. Ein Mädchen blickte in den Raum, trat zum Fenster und drückte auf einen Knopf. Summend ging der Vorhang zur Seite, das Licht schoß in breiter Bahn ins Zimmer. Das Mädchen schüttelte lächelnd den Kopf. Dietrich schlief noch immer. Das Mädchen schritt leichtfüßig zu dem Signalknopf an der Wand und drehte an einem Schalter. Licht und Summton erloschen. Dafür war jetzt auf dem Bildschirm ein breitschultriger Mann, das Gesicht ruhig und ausgeglichen, zu sehen. Er trug einen hellen Anzug und trank mit Genuß eine Orangeade. Das Mädchen sagte: »Was soll ich machen? Sie sehen ja, er schläft immer noch.«
Der Mann auf dem Bildschirm fuhr herum, setzte das Glas ab und. blickte vom Bildschirm herunter in den Raum. Dann schmunzelte er. »Ja, tatsächlich, wie ein Bär in seiner Höhle. Hat er schon gefrühstückt?« Das Mädchen bückte sich, klappte eine Tür in der Wand auf. »Nein, es steht alles noch da. Er hat sich gleich nach der Arbeit hingelegt. Es muß um sechs Uhr gewesen sein. Jedenfalls stand das auf dem Zettel, der auf seinem Schreibtisch lag.« Der Mann erhob sich und schritt ins Bild, bis sein Kopf die Bildfläche einnahm. Nachdenklich blickte er auf den Schlafenden. Dann sage er: »Lassen wir ihm noch ein paar Minuten. Unser Chef kennt eben so lange keine Ruhe, bis die Natur einschreitet. Machen Sie das Frühstück. Für mich mit. Wenn alles fertig ist, rufen Sie mich, Gisela.« Das Mädchen nickte. Dann schaltete es den Bildschirm aus. Gisela deckte den Tisch. Sie schnitt eine Ananas auf und legte sie in eine Schale, holte zwei Trinkgefäße aus dem Tiefkühlfach und trennte geschickt die Stanniolkappen ab. Frische, schäumende Milch. Sie stellte sie auf den Tisch. Ein Tablett, ebenfalls mit Stanniolhülle versehen, schob sie in ein Infrarotfach. Als die Klappe nach wenigen Sekunden wieder aufsprang, holte sie das Tablett heraus und riß die Stanniolhülle auf. Goldbraune duftende Wecken kamen zum Vorschein. In Sekundenschnelle briet sie auf einem Grill zwei Steaks, stellte Eier auf den Tisch und Kaffee, der das Zimmer mit seinem Aroma erfüllte. Es war 9.30 Uhr. Es half alles nichts. Jetzt mußte Gisela ihren Chef wecken. Chef? Ach, sie mochte das dumme und altertümliche Wort gar nicht. Aber es war nun einmal die Abkürzung von Chefkoordinator, war üblich geworden hier im Haus. Auch sie mußte sich daran halten. Leise rüttelte sie Dietrich an den Schultern. Er rührte sich nicht. Einen Moment überlegte sie. Dann zog sie dem Schläfer kurzentschlossen das Kissen unter dem Kopf weg. Dietrich war sofort wach und fuhr herum. Verlegen stand das Mädchen mit dem Kissen vor ihm. »Entschuldigen Sie. Es ging nicht anders. Sie müssen aufstehen. Beyer wartet schon im Vorzimmer.«
Dietrich reckte schlaftrunken die Arme. Langsam zu sich kommend, sah er die Sekretärin freundlich an. Dann zeigte er auf den gedeckten Tisch. »Waren Sie der gute Geist?« Gisela nickte. Dietrich stand auf. »Ich verspreche Ihnen, daß in diesen Hallen nie ein Roboter herumspazieren wird. So etwas kann nur ein lebendiges Wesen zaubern. Außerdem…« Dietrich machte eine kleine Pause. Gisela war rot vor Verlegenheit. Aber ihre Augen hielten dem Blick stand. »Was ist außerdem?« Dietrich sah das Mädchen an. »Außerdem weiß ich jetzt, wie schön der Tag ist. Schicken Sie Beyer rein. Ich gehe nur schnell duschen.« Er nickte dem Mädchen kurz zu. Ehe er die Tür zum Bad aufstieß, drehte er sich noch einmal um. »War etwas Besonderes?« Das Mädchen Gisela schüttelte erst den Kopf, überlegte einen Moment und sagte dann: »Ja, doch. Ein Herr Bluffke hat angerufen und etwas von einer Entdeckung erzählt. Ihr Sohn ist unterwegs, hierher zu Ihnen.« »So?« Dietrich lachte behaglich. »Und eine Entdeckung gibt es auch noch? Wann werden wir den Startplatz sperren?« »Um zehn Uhr.« Dietrich überlegte. »Bis dahin ist der Junge nicht hier. Lassen Sie ihm über den automatischen Pförtner sagen, er soll unbedingt auf mich warten.« Gisela nickte strahlend. Der Besuch von Jens versprach ein paar vergnügte Stunden. Sie mochte den lustigen Jungen ebenso wie den Vater. Eilig verschwand sie im Vorzimmer. Dietrich schloß die Tür zum Bad hinter sich. Das Geräusch der Dusche war gleich darauf zu hören und der vergnügte Gesang des Chefs, der sein Lieblingslied schmetterte: »Steigt, silberne Vögel, zu den Sternen, erobert den Weltraum im Flug…« Beyer, der zur Tür hereintrat, blieb feixend stehen. Dann kratzte er sich den Wirbel und pfiff mit.
Er räumte einen weißen Bogen, auf dem ein paar glitzernde Metallstäubchen lagen, vom Tisch und ließ sich nieder. Mit Vergnügen begann er eine Ananasscheibe zu verzehren. Dabei sah er unverwandt das Bild an der Wand an: Das Rhinluch im Jahre 1963. Unglaublich, dachte Beyer. Damals freuten sie sich über fette Weiden und Milch aus dem Euter gutgenährter Kühe. Heute schmeckt dir die Ananas, die auf dem gleichen Boden gedeiht. Aber Spaß muß ihnen das Leben auch damals gemacht haben, denn die Jungen und Mädchen auf dem Bild scheinen sich zu amüsieren. Doch bestimmt lebt sich's heute besser. Mit gutem Appetit biß er wieder in die Ananasscheibe. Dietrich stand plötzlich im Zimmer. Er blickte auf den Tisch, auf den behaglich kauenden Beyer und machte ein erschrockenes Gesicht. »Was ist denn, Chef?« fragte Beyer ahnungslos. »Der Papierbogen? Wo ist der Bogen?« Dietrich war mit ein paar Schritten an der Tür und rief das Mädchen herein. Gisela hatte den Papierbogen nicht angerührt. In Beyer dämmerte es. Er stand auf und ging zum Regal und zog den Papierbogen hervor. Die Metallstäubchen lagen akkurat und wohlgeordnet noch immer darauf. Aufatmend ließ sich Dietrich in den Sessel fallen. »Na, dann guten Appetit«, sagte er. Gisela ging verblüfft aus dem Raum: Die beiden Männer ließen es sich schmecken. Nach einer Weile fragte Dietrich: »Wundert Sie meine Aufregung nicht?« Beyer aß mit größter Ruhe das Steak auf, ehe er antwortete: »Sie werden Ihren Grund gehabt haben. Und wenn Sie einen Grund haben, sagen Sie ihn mir schon. Was soll ich also fragen?« Dietrich ging zum Regal und brachte das Papier vorsichtig zum Tisch. Er griff zu einer Pinzette und hob sorgsam eines der Metallstäubchen hoch. »Wissen Sie, was das ist?« Beyer zog die Hand mit der Pinzette vorsichtig vor die Augen. »Schätze, ein neuer Werkstoff.« Dietrich holte eine Lupe aus der Tasche und gab sie Beyer. Beyer sah aufmerksam hindurch.
Die Vergrößerung zeigte zahlreiche Transistoren, Widerstände, komplizierte Schaltungen und Leitungen. Die Metallstäubchen waren elektronische Bauelemente. Beyer pfiff durch die Zähne. Dietrich lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Damit werden Sie in einer Stunde starten. Ihre Molekularelektronik. Ein paar Dinge mit Pfiff sind darunter.« Beyer legte die Serviette beiseite, mit der er sich gerade die Hände abtrocknete. »Es sind so viele Extras an Bord, daß ich mir daraufhin den Kurier noch einmal ansehen möchte. Ich glaube, die Zeit drängt. Gehen wir?« Als die beiden Männer vor das Haus traten, heulten die Sirenen rund um den Startplatz los. Ihre Dissonanzen zerrissen die Stille des Sommertages. Beyer sah mit zusammengekniffenen Augen, wie rund um das weite Areal lautlos die Kunststoffbarrieren aus dem Boden wuchsen. Zugleich fackelten Kilometer auf Kilometer bis in die Ferne scharfgebündelte rote Lichtstrahlen in den Himmel. Dietrich blickte auf seine Uhr am Handgelenk. »Zehn Uhr«, sagte er trocken. »In einer Stunde sagen Sie Mutter Erde ade, Georges.« Mit freundlicher Geste legte er dem untersetzten Beyer seinen Arm um die Schulter. Wie sie so dahinschritten, mochte man sie beide für befreundete Ingenieure halten. Beide waren durchtrainiert, ohne ein Gramm überflüssiges Fett. Aus gebräunten Gesichtern blickten kluge Augen in die Welt. Beide hatten den gleichen weitausholenden Gang, mit dem sie jetzt zu einem der Gleitfahrzeuge auf dem Parkplatz des Hauses der Zweitausend schritten. Dietrichs Geste war nicht von ungefähr und etwa leutselig gemeint. Er war Beyer wirklich zugetan. Er schätzte diesen tapferen und kenntnisreichen Testpiloten von ganzem Herzen. Beyer war vor seinem Einsatz in Lunikport lange Zeit Verkehrspilot auf den transatlantischen Strecken gewesen. Mit den modernen Großflugkörpern, die, von Kernenergie getrieben, mit sechstausend Stundenkilometern durch die Ionosphäre
von einem Punkt der Erde zum anderen flogen, hatte er jahrelang bis auf die Minute pünktlich Passagiere und Frachten transportiert. Dann war er auf Raketen umgestiegen und hatte im Mondflugverkehr mehrere Rekorde aufgestellt. Beyers allzeit wachem und aufs Praktische gerichtetem Verstand waren eine ganze Reihe Verbesserungen im Flugwesen zu danken. So waren nach der Beyer-Methode moderne Positionssatelliten in den Weltraum aufgelassen worden, die hundertprozentige Flugsicherung garantierten. Nach seinen Vorschlägen waren die versenkbaren Kunststoffbarrieren rings um den Testplatz Lunikport montiert worden. Und er hatte dafür gesorgt, daß bei Versuchsflügen rote Warnfeuer an den Himmel projiziert wurden, die die automatisch gesteuerten Lufttaxis vom Raketengelände fernhielten. Beyer kletterte behend in das Gleitfahrzeug und startete durch. Der Düsenmotor summte kurz auf, verstummte jedoch gleich wieder. Dietrich, der eben einsteigen wollte, winkte ab. »Kommen Sie, Georges. Wir nehmen den Nachbarn.« Und schon schritt Dietrich auf eine andere Maschine zu. Beyer schüttelte störrisch den Kopf. Er klappte mit geübtem Griff das Armaturenbrett vor, holte ein Prüfgerät aus der Tasche und tastete die Kontakte ab. Gleich darauf hatte er den Fehler gefunden und schloß den unterbrochenen Stromkreis. Dietrich stieg ein. Das Fahrzeug hob sich mit einem Ruck von der Erde und schoß, weich auf seinem Luftkissen gleitend, über den Platz. Dietrich lehnte sich bequem in den roten Sessel zurück. Er nickte Beyer anerkennend zu. Der steuerte die Maschine in schneller Fahrt auf die Raketenrampe zu, auf der Lunakurier in silberner Schwerelosigkeit schwebte. Kurz vor der Anlage zog Beyer den Kontaktknopf heraus. In weiter Schleife summte der Gleiter bis vor die Rolltreppe der Rampe, setzte weich auf und stand. Die beiden Männer kletterten aus dem Fahrzeug und ließen sich zur Plattform der Rampe emportragen.
Schwarz und Jäger, zwei Assistenten Dietrichs, begrüßten den Chefkoordinator mit Handschlag. Sie nickten dem resoluten Beyer freundlich zu, der sofort in das Innere der Rakete trat. Beyer, der am Grundaufbau des Flugkörpers beteiligt war, die letzten Arbeiten jedoch nicht verfolgt hatte, betrachtete mit Genuß und Sachkenntnis die gediegene Ausstattung der Kabine. Schmunzelnd verfolgte er seinen lautlosen Schritt auf dem weichen Fußbodenbelag, der jedes Geräusch dämpfte. Mit diesem Werkstoff, der straff und elastisch war, hatte man auch die Wände der einer Glocke gleichenden Kabine verkleidet. Sechs Sessel waren im Boden verankert. Sie standen in einigem Abstand voneinander, so daß sie sich auch als Liegesitze verwenden ließen. Die Apparaturen waren zierlich. Übersichtlich und indirekt beleuchtet, zeigten sie ihre Kontrollscheiben auf einer Polymertafel. Vor drei übereinander angeordneten Bildschirmen mit der Videofunkanlage saß der Bordfunker Steinmann, der Vater Claudias. Ein Lächeln spielte um seine Lippen und zauberte zwei Grübchen in sein rundes Gesicht. Steinmann war stets gut gelaunt und zu Späßen aufgelegt. Er nannte Claudia nur bei ihrem Spitznamen: »Sprottenkopf«. Neben ihm hockte Bordmechaniker Berthold am Boden. Er hatte einen Kabelschrank geöffnet und überprüfte die Antriebsleitungen. Berthold war hager, hochaufgeschossen. Durch sein dunkles Haar zogen sich erste graue Strähnen. Er war, ganz im Gegensatz zu Steinmann, ernst, grüblerisch und zurückhaltend. Das war die Mannschaft von Lunakurier, eine eingeschworene Truppe. Beyer war gleich nach dem Eintritt in die Kabine nachdenklich stehengeblieben. Befriedigt musterte er die freundliche Ausstattung. Frisch, dachte er, frisch, blank und elegant. Kein Drumherum. Alles präzise, sauber und wohltuend. Wenn der Apparat auch während des Fluges so ist, dann wird's im Herzen weh tun, wenn du wieder aussteigen mußt. Solch Herzweh litt Beyer immer, wenn er sich von einer technischen Einrichtung trennen mußte, die ihn begeisterte.
Steinmann grinste ihn vergnügt an, wandte sich jedoch gleich wieder seinen Apparaturen zu. Er machte sich Notizen, die ihm ein Techniker diktierte. Berthold war in seine Arbeit versunken. Beyer beobachtete ihn mit wachsender Unruhe. Der Mechaniker kroch fast in den Kabelschrank hinein. Er trommelte nervös mit den Fingern auf eine der Sessellehnen. Dann gab er sich einen Ruck und fragte: »Was ist los, Karl? Suchst du Ostereier?« Berthold fuhr herum. Als er den Piloten sah, richtete er sich zu stattlicher Länge auf. Verlegen hob er die Schultern. »Ich hab nur ein bißchen geguckt. Es ist einfach unglaublich. Was die Spezialapparaturen sind, die verplombten, die müssen sie alle versenkt haben. Ich finde einfach keine Automaten. Das andere, Triebwerk und die dazugehörigen Leitungen, ist in Ordnung. Wir haben von gestern 23 Uhr bis heute 4 Uhr Probeläufe gemacht. Alles gut. Tipptopp.« Beyer lächelte. Er zeigte auf Dietrich, der mit kurzem Gruß die Kabine betrat. »Frage den Chef, Junge. Ich habe mich auch schon gewundert, obgleich es da gar nichts zu wundern gibt. Unsere Möglichkeiten werden halt immer größer, während die Technik immer kleiner wird. Es ist die reziproke Unendlichkeit, die uns im kommenden Jahrhundert in ihre Mitte stellt.« Berthold sah Dietrich fragend an. Der erklärte ihm kurz die neuesten Errungenschaften der Molekularelektronik und machten dann auf die Metallkonstruktion der Rakete aufmerksam, deren Gerüst aus einem Stahl von ungewöhnlichen Härtegraden gefertigt worden war. Martensit. Berthold nickte. »Ich habe gestern die Feile zur Probe angesetzt, sie glitt glatt ab.« »Es ist eine Wolframlegierung«, sagte Dietrich. »Sie wurde uns vom Werk ›Hundert Jahre Oktober‹ geliefert.« Dietrich sah Steinmann über die Schulter. Steinmann stenografierte die Werte, die ihm ein Wissenschaftler über den Bildschirm diktierte, schnell und sicher auf den Protokollblock. »Irgendwelche Fragen?« Steinmann grinste. »Nur eine einzige, Chef. Wo ist der Proviant?«
Beyer sagte verlegen: »Na, na, Uwe. Die zwei Stunden Probeflug wirst du schon mal ohne Essen aushalten.« Dietrich hob den Finger. »Sagen Sie das nicht, Georges. Vergnügen soll die Reise ja auch machen.« Er blickte in das runde Gesicht von Steinmann. »Und das Hauptvergnügen von unserem Steinmann scheint eben ein gutes Essen zu sein.« Da Steinmann auf eine Frage des Wissenschaftlers antworten mußte, hatte er keine Zeit zu einer Entgegnung. Es sah aber schnell aus den Augenwinkeln auf die Bordbar, die sich nach Knopfdruck von Dietrich in der Kabinenwand öffnete. Befriedigt nickte er. Auf blitzender Fläche boten sich ihm Orangen, Mangofrüchte, Bananen, Schokolade in bunter Verpackung, Salate, dunkler Kaffee in durchsichtigen Thermosbehältern, gegrillte Steaks und noch einige andere Überraschungen für Gaumen und Magen an. Dietrich legte einen verchromten Hebel herum. Hinter den Sesseln öffnete sich geräuschlos der Boden. Eine kleine Treppe wurde sichtbar. Dietrich winkte Beyer und Berthold, ihm zu folgen. Im Sousparterre der Rakete befand sich ein angenehm temperierter Raum, blitzblank und polymerverkleidet. »Für Tiertransporte.« Dietrich zeigte auf einige Riemen und Halterungen. »Wenn wir den Mond schon bevölkern, so wollen wir doch auch den anderen Erdbewohnern eine Möglichkeit zum Verlassen der Erde geben. Außerdem versprechen wir uns interessante Forschungen in der künstlichen Atmosphäre, die wir dort geschaffen haben. Und schließlich wollen wir nicht noch ein paar hundert Jahre lang die Verpflegung der Mondbevölkerung transportieren.« Berthold legte einen der Wandriemen zu einem Lasso zusammen. Er stieß Beyer an. »Georges, ich sehe schon, wir avancieren zu Cowboys. Was denkst du, was wir noch für Viehherden die Mondleitbahn hinauftreiben?« »Na ja«, sagte Beyer und lachte. »Ich hab nichts dagegen, ein interstellarer Schweinehirt zu werden. Das ist schließlich die Superqualifikation in diesem Beruf.«
Dietrich fand das gar nicht spaßig. »Warum nicht?« fragte er. »Wenn sich dieser Typ bewahrt, soll er solchen und ähnlichen Aufgaben dienen. Ich sehe ihn als eine Art Schnelltransporter für alle Zwecke, von der Postbeförderung über Personenverkehr bis schließlich… na meinetwegen, bis schließlich zum fliegenden Viehkäfig.« Der Chefkoordinator zeigte noch ein Terrarium für den Transport von Pflanzen, ein Bassin für Meergetier und den ziemlich geräumigen Gepäckraum. Als sie wieder in die Kabine stiegen, blickte Assistent Schwarz nervös auf die Uhr. Es war 10.30 Uhr. Dietrich nickte. »Ich weiß. Es ist höchste Zeit.« Er trat zu Steinmann. »Alles in Ordnung?« Steinmann antwortete freundlich: »Es könnte nicht besser sein.« Dietrich wandte sich zu Berthold. »Noch Fragen?« Berthold nahm Dietrichs Hand vorsichtig in seine Pranken. Ernst sagte er: »Es ist so wie immer bei Ihnen, Professor. Sie sind ein großartiger Mensch.« Dietrich klopfte Berthold leicht auf die Schulter. »Keine großen Worte, Berthold. Meine Arbeit ist getan. Ihre beginnt. Eines geht nicht ohne das andere. Alles Gute.« Berthold strahlte den Chefkoordinator an. Verehrung und Sympathie sprachen aus dem Blick. Dietrich ging mit Schwarz und Jäger zum Ausgang, von Beyer gefolgt. Kurz vor der Tür faßte er den Testpiloten an der Schulter. Er fragte: »Und bei Ihnen? Alles klar, Georges?« Beyer nickte kurz. Dietrich lächelte. Dann sagte er: »Sie kennen ja die Route. Zehnmalige Erdumkreisung. Start erfolgt wie üblich durch unsere Einweisung. Sowie Sie die Erdhülle verlassen haben, übernehmen Sie das Kommando bis zur Landung. Wir bleiben mit Ihnen in Verbindung.« Dietrich hob beide Daumen. »Das für Sie. Alle guten Wünsche. Wenn alles so funktioniert, wie wir vorgesehen haben, gehen Sie in einigen Tagen mit der Maschine ab zum Mond.« Beyer dachte, am liebsten würde ich das heute schon machen. Bei ihm ist noch nie etwas schiefgegangen. Aber Dietrich geht eben hundertpro-
zentig auf sicher. Laut sagte er: »Sie können sich auf uns verlassen, Chef.«
3. KAPITEL Einsame Patrouille Meckie war Pilot. Er hatte die Augen unverwandt schräg nach oben gerichtet. So sah er nichts als den klaren Himmel, die Sonne, der er entgegenzufliegen schien, und zwei Möwen. Die Möwen versuchten mitzuhalten beim rasenden Flug in die Ferne. Und blieben schließlich doch kraftlos zurück. Um Meckies Mund spielte überlegenes Lächeln. Seine beiden Schneidezähne blitzten. Und er pfiff ein verwegenes Lied durch die Zahnlücke. »Alle Mann voran. Voran! Wir fliegen und werden die Schwerkraft besiegen.« Meckie war Pilot. Er sah sich in der gläsernen Kuppel eines eigens für ihn konstruierten und gebauten Raumschiffes in den Himmel hineinjagen. Pilot Mac Bluffke, der Rastlose, einer der zehn Kühnen, war gestartet zur interstellaren Entdeckungsreise, fernen Welten entgegen. Ho, was würde ihn erwarten, wenn er den Fuß auf den Planeten X, von keinem bisher entdeckt, setzte? Eigenartige Wesen mit Antennen auf den Köpfen würden ihn begrüßen, Signale tütern, Signale, Signale… Meckie bekam einen freundschaftlichen Rippenstoß. »Träumst du?« fragte eine sachliche Stimme. Meckie hörte immer noch das leise zirpende Signal. Aber das Signal kam nicht von den Lebewesen des Planeten X, sondern von dem Armaturenbrett vor ihm. Dort stand in roter Leuchtschrift: »Fahrtziel gesperrt. Landung auf Platz der Entdecker.« Meckie sank in den Alltag des Jahres 2071. Über sich sah er jetzt den schwingenden Rotor des Luftgleiters, in dem er neben einem freundlichen Mechaniker saß, immer matter werden. Mit triumphierendem Gekakel strichen die Möwen vorbei und schwangen sich in den hellen Himmel.
Meckie fühlte Blei an den Beinen, das ihn zur Erde zog. Er hatte Jasminduft in der Nase und Bäume vor den Augen. Er war gelandet. Und die Wirklichkeit holte ihn aus dem Reich der Träume. Er sah Jens aus dem Luftgleiter steigen und sich artig bei dem Mechaniker bedanken, der sie vom Bahnhof Lunikport hierhergebracht hatte. Zepp schnurrte aufgeregt über den Weg. Claudia haschte nach einem großen Schmetterling, der schwerfällig zwischen den Büschen torkelte. Ach, Meckie war enttäuscht. Zehn Jahre alter müßte man sein, dachte er. Natürlich würdest du dann zu den Eroberern des Kosmos gehören. Der Mond wäre deine zweite Heimat. Den Mars hättest du durchquert. Und in den Telefilmstudios würdest du lässig von deinen Abenteuern auf fernen Welten berichten. Der junge Mechaniker neben Meckie hatte gar keine Ader für Träume eines zukünftigen Kosmonauten. Trocken fragte er: »Na, was ist, Pilot? Willst du hier warten? Schätze, wir werden kaum weiterfliegen können. Komm, steig aus. Gleich wirst du einen Raketenstart erleben.« Was nutzt mir der Raketenstart, dachte Meckie, wenn ich nicht in der Rakete sitze. Traurig erhob er sich und kletterte mit steifen Beinen aus der Maschine. Sie waren am Rande eines weiten Platzes gelandet, in dessen Mitte sich eine Art Obelisk erhob: Symbol einer in den Himmel aufsteigenden Rakete. Das Denkmal war von Blumenrabatten und Palmen eingefaßt. Von den Wegen führten Seitenpfade in duftendes Jasmingebüsch. Das exotische Bild versöhnte Meckie mit seinem Schicksal. Lunikport liegt schon auf einem anderen Stern, dachte er. Hier hast du den Eingang zum Kosmos. Und mit einem Sprung setzte Meckie hinter den Freunden her. Jens kannte den Weg zum Haus der Zweitausend. Aus den Anlagen traten sie auf eine breite Straße, von Platanen überschattet. Sie führte schnurgerade auf ein goldfarbenes Gittertor zu. Autos, auf Hochglanz poliert, in freundlichen Farben gehalten, stoppten am Eingang.
Auch Zepp, der davongeschnurrt war, machte halt und kam mit leuchtend roter Signallampe zurück. Er meldete: »Sperrzeit sechzig Minuten. Kein Zugang zum Haus der Zweitausend. Ende.« Jens winkte ab. »Ja, ja, ist gut. Mir wird schon was einfallen.« Aber ihm fiel nichts ein. Rechts und links vom Eingang waren die Kunststoffbarrieren hochgezogen. Der Platz war abgesperrt. Meckie sah die Lichtsignale in den Himmel schießen. Claudia hielt es resignierend mit den ergeben dreinschauenden Männern, die aus den Autos stiegen. Sie ging zu den Automaten in der Wartehalle und nahm einen Erdbeerdrink. Jens trat an die rechte Torsäule, in die ein Bildschirm und eine Sprechfunkanlage eingelassen waren. Er drückte auf einen der weißen Knöpfe und meldete sich. »Hier ist Jens Dietrich. Ich möchte dringend zu meinem Vater, Chefkoordinator Dietrich.« Auf dem Bildschirm erschien der weißhaarige Kopf eines Platzangestellten. Jens sah, wie er auf einen Plan blickte. Dann sagte eine gutmütige Stimme: »Bitte warten. Platzsperre wird in sechzig Minuten aufgehoben. Dein Vater möchte dich sprechen.« Jens ließ nicht locker. »Es ist ganz dringend. Ich habe meinem Vater eine wichtige Entdeckung mitzuteilen.« Die Stimme sagte: »Bitte warten… Bitte warten.« Der Bildschirm wurde dunkel, die Sprechanlage verstummte. Meckie hatte eine Idee. Nachdenklich sah er sich einen Augenblick Zepps aufgeregtes Gebaren an, der brummend vor dem Gittertor herumflog. Dann zog er Jens zur Seite. »Komm. Wir gehen hundert Meter weiter. Dort sind nicht so viele Leute. Dann läßt du Zepp einfach über den Sperrgürtel springen.« Jens schob das spitze Kinn vor und zupfte verlegen an den Flaumhärchen, die schüchtern hervorsprossen. Das kann man nicht machen, dachte er. Es ist einfach gegen die Regel. Ich hab Vater versprochen, nie gegen die Regel zu handeln. Aber in seiner Jackentasche spürte er das geheimnisvolle Papier des Helmut Schulze knistern. Galt hier noch die Regel? Oder war das nicht die Ausnahme, die Versprechen und Abmachungen aufhob?
Meckie stand vor Jens wie der leibhaftige Verführer. Sechzig Minuten warten? Ihm brannte der Boden unter den Füßen. Er wollte auf den Platz, zum Haus der Zweitausend, zur Rakete. Und er war sicher, daß ein Mann wie der Chefkoordinator drei solch außergewöhnlichen Menschen wie ihnen, die dazu noch eine geheimnisvolle Botschaft bei sich trugen, eine Sondergenehmigung geben würde. Meckies Augen glänzten. Er sah an der Kunststoffwand empor. Sie war blank und glatt, zog sich kilometerweit in die Ferne, nicht rostend, wetterfest, für die Ewigkeit gebaut. Meckie schätzte die Höhe. Mindestens drei Meter. Und obwohl er wußte, daß solch ein Hindernis nie von Pickwick genommen werden würde, sagte er dreist: »Einen richtigen Hund müßte man haben. Pickwick wäre mit einem Sprung rüber und mit einer Botschaft von uns zu deinem Vater.« Jens sah Meckie an. Unschlüssig schob er die Unterlippe vor. Meckie stichelte ungerührt weiter. »Mit Zepp ist das natürlich nicht zu machen. Der krebst zwanzig Zentimeter über dem Erdboden herum und kann nichts als Staub aufwirbeln. Ist eben kein Hund. Wir hätten lieber Pickwick mitnehmen sollen.« Jens blies Luft durch die Nase. Der Kampf in seinem Inneren ließ sein Gesicht langsam rot werden. Er biß sich vor Anstrengung auf die Lippe. Meckie schlenderte an der Kunststoffwand entlang. Er klopfte mit dem Fingerknöchel dagegen. Es klang dumpf. Meckie blickte über die Schulter auf den wie versteinert dastehenden Freund. »Ein richtiger Hund nimmt so etwas in einem Sprung.« Zepp schnurrte an der Wand entlang. Brummend leuchtete er mit seinen Scheinwerferaugen den Sockel ab. Seine Antennen spielten. Jens gab sich einen Ruck. Was sollte schon passieren? Zepp kannte den Weg zum Haus der Zweitausend. Er würde schnurgerade darauf lossausen. Und wenn Vater Zepp sah, würde er sie schon hereinlassen. »Zepp!« Zepp brummte gehorsam heran. Meckie machte vor Freude einen Luftsprung.
Jens kommandierte: »Auftrag über Sonderkanal zehn! Abmarsch zum Haus der Zweitausend. Entdeckung melden. Einlaßgenehmigung holen. Abfahrt.« Zepps Kontrollampe leuchtete auf. Staub wirbelte unter ihm hoch. Er stieg mit scharfem Singen bis auf drei Meter Höhe und sauste über die Mauerkante. Meckies Augen waren kugelrund. Das macht ihm keiner nach, dachte er. Pickwick ist eben doch ein armer Hund. Aber was war das? Zepp schlug in der Luft einen Haken, raste in Zickzackfahrt auf die Mauer zurück, passierte sie knapp und setzte auf dem Boden auf. Die Lampe erlosch kurz. Dann glomm sie nur noch matt vor sich hin. Jens rüttelte an dem kleinen Gefährten, klopfte an die Kontrollampe. Sie leuchtete langsam auf. Dann drehte Zepp vorsichtig seine Antennen auf die Wand zu. Aus Zepps Innerem quäkte es: »Sperrkreis. Starker Stromimpuls. Sperrkreis. Ende.« Meckie zog es vor, zu verschwinden. Er ging zur Wartehalle zurück und holte sich einen Erdbeerdrink, den er in die vor Aufregung trockene Kehle hinunterschüttete. Claudia sah erschrocken den blaß mit hängenden Schultern heranschlurfenden Jens an. Hinter ihm schaukelte ächzend und knarrend Zepp. Was war passiert? Während Jens erzählte, sah sie Meckie ärgerlich an. »Ideen hast du«, sagte sie. »Und mach dich bloß nicht mit deinem Pickwick stark. Der hat ja sogar Angst vor der Rolltreppe.« Jens holte den Brief des Helmut Schulze hervor. Claudia hielt ihn gegen das Sonnenlicht. Nein, die verlaufene und verblaßte Schrift war nicht zu entziffern. Als sie Zepp den Brief vor die Scheinwerfer rückte, zog er die Antennen ein und setzte sich schweigend auf den Boden. Claudia faltete das Papier wieder zusammen. »Dann ist nichts zu machen. Wir müssen warten. Wenn ich nur wüßte, wo es noch solch einen Entzifferer gibt!« Sie hatte kaum die Frage gestellt, da leuchtete auch schon wieder die Kontrollampe auf Zepps Rücken auf. Er gab zwei starke Lichtstöße mit den Scheinwerferaugen ab.
Meckie, der sich soeben einen Himbeerdrink eingeschenkt hatte und vor Behagen die Lippen leckte, stellte das Glas ab. Jens bückte sich und fragte: »Was ist los, Zepp?« Zepp pfiff ein paar Signaltöne. Dann quäkte er: »Stadtrepublik ›Wissenschaft beginnt mit 13‹. Fernand… Fernand…« Die Lampe auf seinem Rücken glühte. Dampf wölkte auf. Claudia schlug die Hände zusammen. »Natürlich. Fernand Witsch meint er. Wir müssen zur ›Stadt der Jugend‹.« Fernand Witsch war der Leiter ihrer Arbeitsgemeinschaft in der Stadt der Jugend, die den Namen »Wissenschaft beginnt mit 13« trug. Dort war auch die Internatsschule der drei Freunde vom Boulevard Zampetta. Zepp beruhigte sich langsam. Meckie fragte gedehnt: »Was wollen wir denn jetzt in der Schule? Wir können auch hier warten.« Er hatte überhaupt keine Lust, dorthin zurückzukehren. Vier Monate lang war er unruhig auf der Schulbank herumgerutscht. Hier war alles neu, faszinierend, interessant, reizte seine Abenteuerlust. Vom Lunikport zur Stadt der Jugend? Das Schicksal hatte sich heute einfach gegen Meckie verschworen. Nein, für ihn gab es kein Entrinnen. Jens hielt eine Autotür auf. Zepp summte als erster hinein, Claudia stieg hinterher. Meckie ließ die Mundwinkel hängen. Er ergab sich in sein Schicksal. Kaum glitt das Auto die Allee hinunter, ertönte hinter ihm ein explosionsartiger Knall. Meckie drückte die Nase ans Rückfenster. Rauschend und silberglänzend stieg der Lunakurier zum Himmel auf, wurde klein und immer kleiner, verschwand im unendlichen Blau. Und Meckie war nicht dabei… Der Schnellboothafen lag im Ostbezirk von Lunikport, unweit des ehemaligen Städtchens Kremmen. Hier war der frühere Ruppiner Kanal zu einem kleinen See verbreitert worden. Eine Uferterrasse senkte sich allmählich zum Wasser hinunter. Palmen säumten die Promenade. Cafes und Restaurants, Erfrischungshallen und Klubs reihten sich am kiesbestreuten Flanierweg. Rotweiße Markisen flatterten im Sommer-
wind. Stühle und Tische waren unter Sonnensegeln ins Freie gerückt. Vom Ufer schwang sich der Landungssteg in weichem Bogen in den See. Der Landungssteg war an der Anlegestelle von einer weitgespannten frei schwebenden Polymerkuppel überdacht. Hinter ihr ragte der Kontrollturm mit seiner Glasfront in den Himmel. An Masten flatterten Fahnen. Am Pier wiegte sich ein Schnellverbindungsboot. Das Schiff hatte einen delphinartigen Rumpf mit hoher Stabilisierungsflosse am Heck. Die Rückstoßöffnung des Turbinenmotors sah aus wie ein abgeschnittenes Kanonenrohr. Am Bug leuchteten zwei Scheinwerfer wie gläserne Augen. In den Fenstern des Passagierdecks spiegelte sich die Sonne… Aber die ganze Pracht versöhnte die drei Reiselustigen nicht mit ihrem Mißgeschick. Jens, Claudia und Meckie blickten hilflos auf das überfüllte Boot. In der Kajüte, auf dem Sonnendeck, überall drängten sich lustig schwatzende Menschen, winkten mit Taschentüchern, begrüßten sie mit lautem Hallo, gaben aber nicht einen Platz mehr frei. Der Bootsmann, mit weißer Mütze über braungebranntem Gesicht, legte einen Hebel herum und schloß die Reling. »Aber nicht doch«, rief er den betrübt dreinblickenden Freunden auf dem Pier zu. »Nicht so traurig, junge Leute. In einer halben Stunde fährt das nächste Schiff. Geht solange etwas essen. Es ist Mittagszeit.« »Wir haben einen Sonderauftrag«, krähte Meckie wichtig. Der Bootsmann feixte und schüttelte den Kopf. Jens wedelte mit dem Brief von Helmut Schulze. »Ein wichtiges Dokument.« Der Bootsmann machte ein verblüfftes Gesicht, drückte jedoch auf den Signalknopf. Zweimal kurz röhrte die Sirene. Der Bootsmann salutierte. »Gute Reise. In einer halben Stunde.« Jens blickte zu Meckie. Der sah Claudia an. Enttäuschte Gesichter. Da beugte sich Jens kurzentschlossen zu Zepp hinunter. »Kommando auf Kanal 10. Patrouille zur Stadt der Jugend ›Wissenschaft beginnt mit 13‹. Auftrag an Fernand: Entzifferer vorbereiten. Ab.« Zepp erhob sich vom Boden, drehte eine leichte Kurve und schoß mit voller Fahrt an dem Bootsmann vorbei auf das Sonnendeck. Der Bootsmann schaute ihm nach, mit offenem Mund. »Das haut dich um«,
murmelte er. »Das haut dich um.« Aber schon begannen sich die Turbinen zu drehen, wurden schnell und immer schneller. Mit leisem Pfeifen legte das Boot vom Pier ab. Dann flog es wie ein von der Sehne losgeschossener Pfeil über die aufsprühende Wasserfläche. Der Bootsmann hörte vom Sonnendeck ein paar erschrockene Juchzer und kletterte eilends nach oben. Er sah das komische Ding durch einen aufgeregten Menschenschwarm sausen und in einem Oberlichtfenster verschwinden. Eine rundliche Mittvierzigerin lief dem Bootsmann entgegen. »Das geht nicht, Herr Kapitän. Das geht auf gar keinen Fall. Wie können Sie uns mit solch einem Vieh erschrecken? Sperren Sie Ihren Hund sofort ein. Oder ziehen Sie ihm wenigstens die alberne Jacke aus.« Der Bootsmann hob abwehrend die Hände. Hund? Das war doch kein Hund. Das war vielleicht eine Schildkröte, mit komischer Malerei auf dem Rücken. Aber seit wann gab es fliegende Schildkröten, mit Antennen und Scheinwerfern ausstaffiert? Der Bootsmann beschloß, zum Kommandanten zu gehen. Eine Sirene ertönte. Über das Sonnendeck zog sich eine Glaskuppel. Das Boot beschleunigte seine Fahrt auf zweihundert Stundenkilometer. Gischtend stob das Wasser in breiten Fahnen an dem schnittigen Bug hoch. Der Kapitän stand behäbig neben dem Steuermann. Der verfolgte wachsam die Fahrt auf dem Bildschirm. Infrastrahlen tasteten die Fahrtstrecke auf zwanzig Kilometer voraus ab. Es zeigte sich kein Hindernis. Der Kapitän sah den vor Aufregung zitternden Bootsmann argwöhnisch an. »Gibt es außer dem 1. April oder Silvester noch einen Juxtag im Jahr?« fragte er den Steuermann. Der entblößte seine Zähne und wieherte vor Lachen. Wie ein Pferd, dachte der Bootsmann, wirklich wie ein Pferd. Laut sagte er: »Ich habe das Ding doch gesehen, mit eigenen Augen. Zwei Jungs und ein Mädchen haben es losgelassen. Dann ist es im Niedergang verschwunden.« In diesem Moment betrat ein Steward die Brücke. Er murmelte verstört: »Riesenschildkröte an Bord, Kapitän. Muß eine ganz neue Züch-
tung sein. Schoß mir mit unwahrscheinlichem Tempo zwischen den Beinen durch. Ich habe vor Schreck das Tablett fallen lassen.« Der Steuermann lachte. Der Kapitän sagte: »Achten Sie lieber auf den Kurs.« Dann drehte er sich zum Bootsmann um. »Los, fangen Sie das Vieh, ehe es uns noch mehr Ärger macht. Oder ist es vielleicht nur so ein elektronisches Spielzeug, eh? So etwas kriecht doch jetzt überall herum.« »Unmöglich«, antwortete der Steward. »Das Vieh dampfte ja. Es ist dazu auch viel zu behende. Ich möchte sagen, es hat sogar Instinkt. Es verkroch sich gleich.« Bootsmann und Steward kletterten zum Salon hinunter. Als sie auf halber Höhe des Niederganges waren, sahen sie ein rotes Licht hinter den Stufen glühen. Und eine Stimme brabbelte: »Zepp. Hier ist nur Zepp.« »Zepp, Zepp«, sagte der Steward aufgeregt. »Das ist das Tier.« Der Bootsmann verstand auch nur Zepp, Zepp. Entgeistert sagte er. »Also, das ist die erste Schildkröte, die Laut gibt. Aber möglich ist ja alles. Los, hinterher.« Zepp aber ließ sich nicht fangen. Er schnurrte den Gang hinunter, stieß an eine Klappe, die sich öffnete, und sauste hindurch. Zepp war in den Luftschacht geraten. Gemächlich ließ er sich von dem Luftstrom nach oben tragen und blieb in halber Höhe im dunklen Kamin schweben. Im Salon wurde es unerträglich warm. Die Männer öffneten ihre Hemdkragen. Eine Frau reichte Kölnischwasser herum. Der Maschinist stieg an Deck und senkte eine automatische Bürste in den Kamin, um der Verstopfung beizukommen. Dabei drückte er Zepp nach unten und aus der Klappe heraus. Aufatmend nahmen die glücklichen Salonpassagiere einen Drink zu sich. Zepp ortete am Niedergang den verdutzt um sich blickenden Bootsmann und den Steward, der mit lauter Stimme seine zoologischen Kenntnisse zum besten gab.
Zepp schmuggelte sich flink in die Kantine. Seine Rückenlampe leuchtete purpurrot. Hastige Stromstöße ließen seine Scheinwerferaugen blitzen und funkeln. Sofort sprangen die Sicherungen der Kühlanlagen heraus. Kurzschluß. Koch und Kellnergehilfe rannten entsetzt zum Bordingenieur. Der Bordingenieur enterte zur Brücke hinauf und meldete: »An Bord ist alles drunter und drüber. Wir müssen anlegen, Kapitän. Hier hat sich jemand einen bösen Scherz erlaubt.« In diesem Moment rief der Steuermann: »Finowfurt voraus. Anlegestelle: Stadt der Jugend.« »Es ist gut«, entschied der Kapitän. »Wir lassen aussteigen und fahren das Boot in die Reparaturwerft. Das ist natürlich so ein außer Rand und Band geratenes Dingsda. So ein elektronisches Dingsda. Das holen wir raus.« Die Turbine wurde abgestellt. Mit elegantem Schwung zog das Boot in das Hafenbecken von Finowfurt und legte vor der gläsernen Wartehalle des Seebahnhofes an. Gerade wollte der Bootsmann »Aussteigen! Alles aussteigen!« durch die Sprechfunkanlage schmettern, da schnurrte zwischen seinen breit ausgestellten Beinen das Dingsda hindurch. Der Bootsmann streckte den Kopf vor. Dingsda stieg behend an der Reling hoch und summte zum Kai hinüber. Dort jagte es in voller Fahrt auf die Uferpromenade zu und verschwand in wirbelnder Staubwolke. Der Bootsmann krächzte heiser vor Anstrengung zur Brücke empor: »Alles in Ordnung, Kapitän. Dingsda hat sich aus dem Staub gemacht.«
4. KAPITEL Auftrag 1963 Ein hellblauer Bus glitt geräuschlos durch die Stadt der Jugend. Der Bus fuhr ohne Chauffeur und ohne Motor, von Hochfrequenzstrom unter der Straßendecke gespeist. Nach jeweils einhundertundfünfzig Metern hielt er für einen Moment. Mit leisem Knacken öffneten sich die Schiebetüren des Ein- und Ausstiegs, schlossen sich ebenso sacht. Der Bus wurde im Oberstock von einer Glaskuppel überdacht, die die Hitze der Sonnenstrahlen absorbierte, ihr Licht jedoch in die Kabine ließ. Hier oben hatten Jens und Meckie auf einer breiten Ruhebank Platz genommen. Sie dösten, in Gedanken versunken, vor sich hin. Claudia stand, schlank und ein wenig spillrig, an der Frontseite der Glaskuppel und spähte neugierig die Straße hinunter. Die Straße war menschenleer. Rechts und links der Allee versteckten sich Schulgebäude, Wohnheime, Labors und Werkstätten zwischen Bäumen und Büschen. Einmal hob sich die Kuppel eines Planetariums in den Himmel. Das Beobachtungsrohr drohte kalt wie eine Kanone zur Sonne. Es waren Ferien. Der größte Teil der Schüler war nach Hause gefahren. Der Rest schien zu schlafen, in den Labors zu arbeiten oder im Lichtspieltheater zu sitzen, das jetzt an der Straßenbiegung auftauchte. Hier mußten die drei Freunde aussteigen. Bis zum »Zentroexperimental« waren es nur noch hundert Schritt. Der Bus hielt genau vor dem Filmtheater. Das Haus war auf Stelzen gebaut. Dem mächtigen Bau war dadurch die Wucht genommen. Er schien in luftiger Eleganz gleichsam an der Straße zu schweben. Ein helles Haus, freundlich und einladend. Die Aluminiumverkleidung war im Mittelteil von einer Glasfront unterbrochen. Dahinter rankten sich Lianen. Der Film das Tages hieß »Kampf gegen Meteore«. Ein Plakat zeigte ein Raumschiff, das sich seinen Weg durch das Weltall bahnte.
Meckie blieb mit offenem Mund in der Tür des Busses stehen. Die Fotozellen am Fahrzeugausgang gaben dadurch nicht die Abfahrt frei. Zugleich meldete die Uhr in der Steuerzentrale, daß die Aufenthaltszeit überschritten war. Ein Horn schmetterte Fanfarentöne in den stillen Tag. »Siehst du«, sagte Jens zu Claudia und zeigte auf den staunenden Mekkie. »Erst wollte er nicht her. Jetzt will er nicht hier weg… Nun komm schon, Meckie.« Jens drängte den Freund resolut aus der Tür. Der Bus setzte sich in Bewegung. In diesem Moment jagte aus der Straße, die zum »Zentroexperimental« führte, ein flinkes zweisitziges Fahrzeug. Es stoppte, ließ den Bus vorüberrollen und bog dann in die Sonnenallee ein. Das kleine Auto fuhr in die Richtung, aus der eben die Freunde gekommen waren. Claudia spähte angestrengt dem Wagen nach. Ganz deutlich hatte sie Cornelius Brink gesehen. Und wenn sie sich nicht getäuscht hatte, lag im Fond des Wagens Zepp. Aber was hatte Zepp in diesem Zweisitzer zu suchen? Und wohin ging die Fahrt? Jens und Meckie standen in heftigem Disput unter dem Schutzdach des Kinoeingangs. Meckie hatte entdeckt, daß der Film vor knapp zehn Minuten angelaufen war. Natürlich wollte er ins Kino. »Der Film dauert doch höchstens eine Stunde«, sagte Meckie. »Auf eine Stunde kommt es nun auch nicht mehr an.« Jens hielt Meckie am Arm fest. »Du kommst mit. Ich weiß ja, daß dir der Helmut Schulze nicht sonderlich sympathisch ist. Aber vielleicht hatte er die Botschaft speziell für dich abgefaßt? Vielleicht wirst du der Held des Tages?« Meckie nuckelte mit den Schneidezähnen auf der Unterlippe herum. Dann erklärte er: »Also, ich will ganz ehrlich sein: Mir paßt die Sache nicht. Nein, mir paßt sie nicht. Wer weiß, was dieser Bursche ausgefressen hat. Wenn es rauskommt, bin ich der Dumme.« »Wieso denn das?« Jens sah Meckie verblüfft an. »Das ist doch schon hundert Jahre her.« Meckie pfiff durch die Zahnlücke. »Und das Porträt? Du vergißt die Ähnlichkeit. Vor hundert Jahren hat so einer Räuber und Gendarm gespielt, Äpfel geklaut, die Schule am liebsten von hinten angesehen…«
Jens hob die Augenbrauen. »Hallo, du hast hier das Paradies, aber sag bloß nicht, daß du dich mit heller Begeisterung drin aufhältst.« Meckie nickte grimmig. »Da… da geht es schon los. Und wenn ihr den Brief gelesen habt, ist mein Spitzname Helmut. Dann heißt es, genau wie Schulze. Seht ihn euch an! Schulze hat das getan, Meckie jenes. Und zum Schluß weiß ich nicht mehr, ob ich oder Schulzes Bild in der Kiste lag. Nein, ich gehe ins Kino. Meckie sieht sich den Kampf gegen Meteore an. Ich lebe im Jahre 2071. Und nun gute Reise. Mit Helmut Schulze ins Jahr 1963.« Meckie streifte die Hand des Freundes vom Arm. »Meckie«, rief Claudia, »Meckie, was soll denn der Unsinn?« Aber Mekkie, der nicht Helmut Schulze sein wollte und ihm doch in mancher Hinsicht ähnelte, stolzierte mit hocherhobenem Kopf in den Filmsaal hinein. Jens blickte Claudia an. »Sag mal, ärgerst du dich eigentlich über deinen Spitznamen? Ich habe mir noch gar nicht überlegt, daß man sich über so etwas ärgern kann.« Claudia zupfte an ihren Stichelhaaren, die wie kleine schwarze Gräten um ihren Kopf sprießten. »Du stellst Fragen. Ich habe den Eindruck, daß uns dieser Helmut Schulze schon angesteckt hat. Das sind doch alberne Überlegungen. Sprottenkopf, pöh. Ich muß jedesmal lachen, wenn mich einer so nennt.« »Aber Meckie hat einen tüchtigen Knacks weg.« »Ach, der wollte doch bloß den Film sehen.« Damit war für Claudia das Thema erledigt. Die beiden gingen über den gelben Kiesweg auf das »Zentroexperimental« zu. Claudia erinnerte sich plötzlich. »Als der Bus abfuhr, kam ein Auto hier entlang. Es bog in die Sonnenallee ein. Hast du es gesehen?« »Nein.« Jens schüttelte den Kopf. Claudia sagte langsam: »Cornelius Brink saß drin. Im Fond lag Zepp.« Jens sah überrascht auf. »Das kann nicht sein. Du hast dich getäuscht. Bestimmt hast du dich getäuscht.« Claudia zuckte die Schultern. Aber sie hatte sich nicht getäuscht… Zepp war nach Verlassen des Schiffs durch die Stadt der Jugend gesaust und auf der Suche nach dem Dozenten in eine Vorführung moderner
Laser geraten. Dabei hatte ihn ein Strahl erwischt und außer Gefecht gesetzt. Fernand Witsch war nach der bösen Entdeckung sofort zur VideoTelefonanlage gegangen. Er hatte mit der Abteilung Rechenmaschinen, Testapparate und Elektronen telefoniert. Zepp wurde ins Bild gerückt. Der Ingenieur für Spezialreparaturen ließ sich den Hergang erzählen. Dann sagte er sachlich: »Den bekommen wir schon wieder hin.« Witsch hatte das Vehikel Zepp in einen Wagen geladen. Der Schüler Cornelius war eingestiegen und mit dem lädierten Zepp davongefahren… Das war der Hergang, den Jens nun von seinen aufgeregten Freunden im »Zentroexperimental« erfuhr. Witsch sagte ärgerlich: »Ich versteh dich nicht, Jens. Das ist doch kein Hund, dem du eine Botschaft um den Hals binden und losjagen kannst. Dein Zepp ist ein herrliches elektronisches Spielzeug. Aber für Pfadfinderdienste taugt er nicht.« Jens trumpfte auf: »Na, na. Da hätten Sie Pickwick sehen sollen. Der hat sich vielleicht dämlich angestellt.« »Wer ist Pickwick?« Fernand Witsch machte ein verdutztes Gesicht. »Der Dobermann von Herrn Bluffke.« »Schluß jetzt«, sagte Fernand Witsch mit einer energischen Handbewegung. »Du siehst ja, was passiert ist. Eines Tages können wir die Probe machen. Schätze, daß Pickwick dann Probleme stellt und löst, die die Überlegenheit des Lebewesens über die Maschine beweisen werden.« »Zeig den Brief, Jens«, drängte Claudia. Sie erzählten Fernand Witsch die Geschichte der Entdeckung am Boulevard Zampetta. Der Schüler Heinrich Schorr hatte gleich verträumte Augen. Er murmelte: »Das Geheimnis der verborgenen Kassette.« Sein Freund Hänschen drängte sich in den Kreis. »Was habt ihr mit der Wurst gemacht?« fragte er. Anita wollte unbedingt das Gagarinbild mit Unterschrift sehen. Jens kramte in den Taschen. Er holte erst einmal den Brief hervor. Unleserlich, konstatierte Fernand Witsch. Aber den werden wir gleich zum Sprechen bringen. Witsch fühlte sich um zehn Jahre zurückversetzt. Wißbe-
gier und jungenhafte Unternehmungslust funkelten in seinen Augen. Jens gab Marita die Fotografie. Hänschen, der mit Meckie in eine Klasse ging, hob sich auf die Zehenspitzen und krähte vergnügt: »Das ist doch Meckie.« »Wer ist Meckie?« fragte Fernand Witsch. Er kannte Meckie nicht, der sich als angehender Raketenfachmann fühlte und einer Arbeitsgemeinschaft für Hochfrequenztechnik tunlichst fernblieb. Jens sagte: »Richtig heißt er Mac Bluffke.« »Der Betreuer von Pickwick.« »Der Sohn«, sagte Claudia, »der Sohn von Herrn Bluffke.« »Und der sieht diesem Jungen ähnlich?« Fernand lachte. Der lacht, dachte Jens beklommen. Und der kleine Meckie hält den Atem an, so erschrocken ist er von dieser Begegnung mit dem Jahr 1963. Ist schon recht, Meckie, daß du dir das hier ersparen wolltest. Claudia zeigte den Uniformknopf mit dem eingeritzten Signum »Gagarin« herum. »Von einer sowjetischen Soldatenmontur, ohne Zweifel.« Fernand wog den leichten Knopf in seiner Hand. »Das scheint mir doch eine außergewöhnliche Entdeckung zu sein. Noch etwas?« Jens zog das Pioniertuch, den Pionierausweis und die Lampe aus den Taschen. Fernand Witsch musterte alles sehr aufmerksam. Neugier, von der eben auch ein Mann nicht frei ist, der Maxwellsche Gleichungen löst, stieg in ihm auf. Zu den begeisterten Kindern sagte er: »Wir werden dem Geheimnis des Boulevard Zampetta auf die Spur kommen. Wenn es uns Rätsel aufgibt, werden wir sie lösen. Und wenn verborgene Wünsche in ihm ruhen, werden wir sie erfüllen. Wer macht mit?« Natürlich hoben alle den Arm. Und während Meckie in achtzig spannenden Minuten das Problem Helmut Schulze vergaß, im Panorama-Kino als Kosmonaut durch das Weltall reiste und mit Laserstrahlen, die ihn auf der Erde gar nicht interessierten, Meteorschwärme vernichtete, enträtselten im fototechnischen Labor Fernand Witsch und seine Freunde den geheimnisvollen Brief aus dem Jahre 1963…
Fernand Witsch hatte den Brief einem Bibliotechniker gegeben. Der Bibliotechniker war ein weißhaariger Mann, mit vielen spinnwebfeinen Falten im Gesicht. Er hatte das Papier zwischen seinem breiten Daumen und dem Zeigefinger gerieben, nachdenklich daran gerochen und verkündet: »Schätze, das ist älter als ich.« Das Papier war aber gar nicht so viel älter als der Bibliotechniker. Er war im Jahre 1970 geboren, also nur sieben Jahre jünger. Mit seinen 101 Jahren war der Bibliotechniker aber keineswegs ein Greis. Er war ein rüstiger und lebendiger Mann, der auf Hänschens Frage, ob er nun bald sterben würde, trocken antwortete: »Das hast du dir gedacht. 120 mache ich noch voll.« Hänschen erklärte darauf schnell: »Dann werde ich 150 Jahre alt.« Der alte Mann nickte. Helmut Schulze ist also erst vierzig Jahre tot, dachte Jens. So fern ist er uns gar nicht. Das Pendel unserer Zeituhr schwingt weit in die Vergangenheit und weit in die Zukunft. Wenn ich 150 Jahre alt bin, trennen uns bald 300 Jahre. Ei je. Der alte Bibliotechniker hielt wieder die schnuppernde Nase an das Papier. »Keine Urkunde«, behauptete er. »Einfaches Papier. Schreibmaschinenpapier. Hoffentlich ist es nicht bloß eine alte Rechnung. Na ja, wollen mal sehen.« Er ging auf eine sonderbare Maschine im Hintergrund seines Arbeitsraumes zu. Alle folgten ihm ehrfürchtig. Marita lief sogar auf Zehenspitzen. Die Maschine bestand aus drei Segmenten. In der ersten Abteilung befand sich ein Abtaster von hoher Empfindlichkeit. Er dechiffrierte die verloschenen Schriftzüge und projizierte sie in den Denkmechanismus einer Elektronenanlage. Dort wurden alle Worte erfaßt, fehlende Stellen ergänzt, klare Sätze konstruiert. Alles, was der Abtaster roh und ungefüge aufnahm, erhielt dort Glätte und Präzision. In der zweiten Abteilung wurde die Schrift aus dem Jahre 1963 in gut lesbare typografische Zeichen des Jahres 2071 umgesetzt. Hier leuchtete ein großer roter Knopf. Als der Bibliotechniker darauf drückte, sprang ein Papierbogen aus der Maschine, eng beschrieben. Es war also doch
keine Rechnung, die Helmut Schulze in seine Kassette gelegt hatte, sondern ein Brief. Jens stürzte sofort vor und griff nach dem Bogen. Der alte Mann hob abwehrend die Hand. »Sachte, sachte, junger Freund. Das kommt ins Archiv. Jeder erhält nachher eine Kopie. Wir machen es uns einfacher. Nehmt Platz.« Er wies einladend auf eine lange Bank. Der Bibliotechniker trat zur dritten Abteilung. Als er hier zwei Schalter drückte, flimmerten auf einem Bildschirm an der Wand krakelige Schriftzüge. Drei Worte waren durchgestrichen. Dann kam ein großer Tintenklecks. »Das ist der Originalbrief«, sagte der Bibliotechniker leise. »Und nun hört aufmerksam zu, was er uns zu sagen hat.« In einem Lautsprecher knackte und räusperte es. Gleich darauf ertönte eine helle Stimme: »Liebe Freunde im Jahr 2000…« Claudia flüsterte: »Wir haben doch schon das Jahr 2071…« »Psst.« Jens legte den Finger an die Lippen. »Ruhe jetzt«, kommandierte Fernand Witsch. Der alte Mann kauerte sich in einen Sessel und kicherte vergnügt. Wieder Räuspern. Und dann erklang die helle Stimme erneut. »Es ist ein sehr warmer Herbsttag. Ich schreibe diesen Brief am 20. Oktober 1963. Die Herbstferien sind vorbei. Schade. Wird es für Euch auch noch Ferien geben? Oder gibt es gar keine Schule mehr? Vielleicht müßt Ihr gar nicht mehr Lesen und Schreiben lernen? Ich habe in einem Buch gelesen, daß dann alles Maschinen machen…« Heinrich Schorr lachte laut. »Das ist gut.« »Pssst«, zischte Fernand Witsch. »Entschuldigt die schlechte Schrift. Wir haben das erste Mal geheizt. Und in meinem Zimmer ist es jetzt sehr heiß. Der Federhalter klebt mir in der Hand.« »Nanu«, sagte Claudia verwundert, »gab es denn damals noch keine Klimaanlage?« »Ruhe jetzt«, donnerte Fernand. »Erzählt wird hinterher.«
Die Stimme wurde von nun an nicht mehr unterbrochen. Sie erzählte umständlich weiter: »Unser Brunnenschacht soll nämlich zugeschüttet werden. Er ist sehr tief und sehr gefährlich. Gestern ist Pfiffi, der Hund von unserem Nachbarn, darin ersof… ertrunken. Eines Tages fällt noch einmal ein Kind hinein oder Herbert Bönicke. Er guckt immer zu tief in das Bierglas, sagt Mutter. Und wenn er zu tief geguckt hat, bekommt er die rote Nase nicht mehr von der Erde hoch. So kann er in den Schacht fallen. In meinem Zimmer steht jetzt eine alte Geldkassette. Die ist von meiner Oma. Meine Oma hatte einen Zigarrenladen. In die Kassette legte sie ihr Geld rein. Die Kassette steht schon lange auf dem Boden. Ich werde sie in den Brunnen versenken. Vorher packe ich Euch noch ein paar Sachen hinein. Eine Büchse mit Prager Würstchen liegt schon drin. Mein Vater hat sie gestern aus Prag mitgebracht. Dort war er zu Besuch. Mein Vater ist Monteur in einer Werkzeugmaschinenfabrik. Und in Prag war er zum Erfahrungsaustausch. Hier eine Einfügung: Ich habe die Büchse geklaut. Und das kam so. Gestern abend pfiff mein Freund Bernhard Möhr am Fenster. Er sagte zu mir: Pack das Zelt ein. Wir gehen morgen nachmittag zelten. Und nimm Konserven mit. Wir kochen uns alles selber. Eine einzige Konserve stand in der Speisekammer. Es waren die Würstchen. Ich weiß nicht, wie es kam. Aber ich habe die Würstchen vom Regal genommen. Nun sagt Mutter, Vater hat gar keine mitgebracht. Und Vater weiß auch nicht mehr, ob er sie überhaupt mitgebracht hat. Wenn ich jetzt etwas sage, gibt es Stunk. In Omas Zimmer gibt es ein Kissen. Darauf steht: ›Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen‹. Weil ich jetzt kein gutes Gewissen habe, möchte ich die Büchse loswerden. Darum liegt sie in der Kassette. Ich habe sie damit neutralisiert. Ihr könnt Euch die Würstchen heiß machen und feststellen, daß wir im Jahre 1963 gut gegessen haben. Denn für Euch gibt es dann ja nur noch Tabletten und Mittagessen aus Zahnpastatuben. Das muß schrecklich sein. Dann wißt Ihr ja gar nicht, wie Götterspeise schmeckt und Mandelpudding mit Schokolade.
Soeben finde ich in meinem Schubfach noch eine Tüte Himbeerbonbons. Die werde ich auch in die Kassette packen. Übrigens essen wir Ostern Schokoladeneier und Weihnachten Pfefferkuchen. Ihr tut mir leid. Bernhard Möhr sagt gerade, daß Ihr dafür den ganzen Tag lang mit Raketen herumfliegt und jeder einen Wolga hat. Stimmt das? Dafür würde ich natürlich auf Mandelpudding verzichten. Ich habe nur ein Fahrrad. Und Bernhard hat ein Sternchen. Das ist ein kleines Radio. Wir dürfen unser Zelt hinten im Garten aufbauen. Mutter sagt, sonst machen wir bloß Dummheiten. Überhaupt stehen überall Erwachsene herum und heben den Zeigefinger hoch. Das Zelt dürfen wir auch nur im Sommer aufbauen. Im Winter heißt es: Ihr erkältet euch. Dabei würden wir so gern Erforschung der Antarktis spielen. Bernhard sagt gerade, daß ich Euch fragen soll, ob Ihr schon in der Antarktis wart. Bestimmt seid Ihr schon in der Antarktis gewesen. Mit einer Rakete ist man ja in einer Stunde da. Und bestimmt fliegt Ihr zum Mond. Ihr habt es gut. Vor den Ferien war ein Mann in der Schule, der spannende Bücher schreibt. Er sagte uns, für ihn sind wir Erwachsene, die bloß noch nicht soviel Erfahrung haben. Alles wird sich ändern, sagte der Mann. In fünfzig Jahren stellt man uns große Aufgaben, vor allem in der Schule. Ich denke dagegen, daß wir dann nur noch zwei Jahre in die Schule gehen. Bernhard Möhr sagt, dann hat uns keiner mehr etwas zu sagen. Wir fahren in großen Autos, fliegen in Raketen, sitzen den ganzen Tag im Kino und können das machen, wozu wir Lust haben. Wenn das stimmt, geben wir Euch den Auftrag, das zu machen, was wir nicht dürfen. Jetzt diktiert Bernhard Möhr: ›Fliegt mit der nächsten Rakete zum Mond. Dort sucht Ihr nach dem sowjetischen Mondwimpel, der im Jahre 1960 mit der ersten Mondrakete auf den Mond geschossen wurde. Wenn Ihr den Wimpel gefunden habt, fahrt Ihr weiter zu dem Mondkrater Eratosthenes. Dort versenkt Ihr in einem Schacht den Pionierausweis von Bernhard Möhr. Er wird nämlich in einem Jahr schon FDJ-Mitglied. Versenkt auch das Pioniertuch. Und legt die Taschenlampe bei. An dieser Stelle soll einmal das Denkmal der jungen Abenteurer stehen.‹
Wir sind zwei der jungen Abenteurer. Zum Beweis lege ich Euch ein Bild des ersten Kosmonauten Juri Gagarm bei. Er hat uns in Berlin besucht. Ich habe mich zu ihm durchgedrängt. Das war ein Kampf. Ein Mann hat mich am Pioniertuch festgehalten und gesagt: ›Das ist für Kinder verboten.‹ Aber Juri Gagarin hat gelacht und mir ein Bild mit seiner Unterschrift gegeben. So wie ihn stelle ich mir die Erwachsenen im Jahr 2000 vor, Juri Gagarin ist mir Vorbild. Während Gagarin mir das Bild gab, habe ich ihm einen Knopf von der Uniform abgedreht. Das war eigentlich gemein. Denn Gagarin ist Oberstleutnant. Das hat aber der Mann, der mich festgehalten hat, nicht gesehen. So sind die Erwachsenen. Was sie schon sehen müßten, sehen sie nicht. Legt das Bild mit dem Knopf und den Mondwimpel in das Kosmonautenmuseum. Das gibt es im Jahr 2000. Bernhard sagt, das steht dann in Moskau. Stimmt das? Dreimal hat man unserer Pioniergruppe fest versprochen, nach Moskau zu fahren. Und dann ist immer wieder nichts daraus geworden. Werden Euch auch immer noch Versprechen gemacht und nicht gehalten? Bernhard Möhr wollte sein Meerschweinchen in die Kiste packen. Aber das ist Quatsch. Das ist ja schon tot, wenn wir den Deckel zumachen. Wir geben Euch den Auftrag, ein Meerschweinchen in einem Klimakäfig auf dem Mond auszusetzen. Wir haben gelesen, daß man vor zweihundert Jahren Kaninchen nach Australien brachte, wo sie sich ungeheuer vermehrten. Sicher gibt es mit Meerschweinchen andere Überraschungen auf dem Mond. Aber jetzt will ich schließen. Die Kiste muß in den Schacht, ehe die Arbeiter kommen. Ich nehme Euch das Ehrenwort ab, alles zu tun, was ich Euch geschrieben habe. Bernhard sagt, ich soll das große Pionierehrenwort verlangen. Also: Seid bereit, Freunde im Jahr 2000. Im Namen meines Freundes Bernhard Mohr Euer Helmut Schulze.
Nachtrag: Ich lege Euch ein Bild von mir bei. Ich bin dreizehn Jahre alt und ein guter Schüler, Durchschnittsnote 2,6…« Die Stimme schwieg. Aus dem Lautsprecher kam noch einmal ein kurzes Knacken. Letzte Schriftzüge flimmerten auf dem Bildschirm vorüber. Dann schaltete die Maschine selbsttätig ab. Tiefe Stille stand im Raum. Die Zeit schien mit mächtigem Schwingenschlag alle davongetragen und auf einsamer Insel ausgesetzt zu haben. Verlassen hockten sie nun da wie Schiffbrüchige und versuchten aus dem Jahre 1963 in das Jahr 2071 zurückzufinden. Der alte Bibliotechniker schlug die Brücke in den Alltag. Er kicherte vergnügt und rieb sich die Hände. »Das waren Bürschchen,«, sagte er. »Und nun los, knackt ihre Nuß.« Jens erwachte aus tiefen Gedanken. Bei allem Respekt vor dem Briefschreiber gab es eine ganze Menge Blödsinn in dem Bericht. Hatte sie dieser Helmut Schulze etwa auf den Arm nehmen wollen? »Sie sind doch sieben Jahre nach diesem Brief geboren worden?« Jens wandte sich an den alten Mann. »Ja, ja.« Der weißhaarige Bibliotechniker nickte eifrig. »Frag nur, wenn du Fragen hast.« »Zuerst einmal… Wie kommt dieser Helmut Schulze auf die verrückte Idee, daß Maschinen für uns das Lernen besorgen und daß es keine Schule mehr gibt?« Jens sah den alten Mann hilflos an. Hänschen meckerte ein verlegenes Lachen. »Er hat eben an so eine Stadt der Jugend noch gar nicht gedacht«, sagte der alte Mann. »Er hat nicht gesehen, daß der Lehrstoff immer interessanter wird und die Lernmöglichkeiten immer besser. Ja, und wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, dann erinnere ich mich, daß die Note 2,6 nicht gerade die beste war. Unser Freund aus dem Jahre 1963 schickte wohl mit dem Wunsch, daß ihm Maschinen das Denken abnehmen, einen kleinen faulen Gedanken auf die Reise? Na, und in einhundert Jahren sind wir ja auch verständiger geworden, nicht wahr? Wir haben festgestellt, daß uns nichts in den Schoß fällt und daß eben zum Erfolg viel Fleiß gehört. Aber sagt selbst, gibt es nicht noch so manchen unter
uns, der in Gedanken schon als Raketenpilot durch die Lüfte eilt, im Kopf aber noch gar nicht das dafür nötige Wissen hat?« Jens sah Meckie vor sich und war über die Ähnlichkeit mit diesem Helmut Schulze bestürzt. Fernand Witsch brummte etwas Unverständliches. Dann erhob er sich und nahm den von der Elektronenmaschine entzifferten Brief vor die Augen und sagte über die Schulter hinweg: »Vor allem wollen wir nicht überheblich sein. Der Junge hat aufgeschrieben, was ihm einfiel. Sind wir anders? Jeder kann sich die Jacke anziehen, die ihm paßt.« Jens senkte den Kopf. Damit hat er mich gemeint, dachte er. Was hab ich auch schon für Blödsinn mit Zepp getrieben! Und wenn mir Erwachsene etwas sagten, wußte ich oft alles besser. Dabei hat sich tatsächlich vieles geändert. Und Verbote gibt es nicht mehr. »Halte dich an die Regel«, pflegt Vater zu sagen. Aber es fällt halt nicht immer leicht, sich an die Regel zu halten. Helmut Schulze steckt eben auch in mir. Oder ist er in jedem von uns, weil es uns an Lebenserfahrung fehlt? Heinrich Schorr stieg langsam aus tiefem Traum in die Gegenwart. »Es ist das Abenteuer«, flüsterte er. Der alte Mann kicherte vergnügt. Fernand Witsch sah Schorr verblüfft an. »Junge, du hast Theorien. Mein größtes Abenteuer ist die Wissenschaft. Seit ich denken kann, ist sie für mich die abenteuerlichste aller Welten. Träumen ist gut. Aber diszipliniert träumen, das verlangt unsere Zeit.« »Helmut Schulze träumte von der Antarktis«, sagte Jens trocken. »Ich träume von einer Entdeckungsreise zum Mond. Jeder hat eben andere Träume.« »Warum träumen?« krähte Hänschen. »Der Mond ist entdeckt. Ich fahre zum Mond und führe den Auftrag aus.« Anita lachte laut. »Versuch's mal«, rief sie. »Dann geht's dir wie Helmut Schulze. Er durfte nicht zur Antarktis, wir dürfen nicht zum achten Kontinent. Das ist nun wirklich verboten.« »Es gibt noch zu viele Gefahren«, wehrte Fernand Witsch ab. »Bedenkt doch die Meteoriteneinschläge. Die Reise ist zu lang. Wir haben so viel
auf der Erde zu tun. Die meisten von euch waren weder in Australien noch in Afrika. Ich war auch noch nicht auf dem Mond.« Jens nickte. Es war Unsinn, was sie hier redeten. Im Herbst würde er mit seinem Vater nach Südamerika reisen. Das war fest versprochen. Jeder hatte die Möglichkeit, die Welt kennenzulernen. Erst einmal die Welt sehen. Und in zehn Jahren zum Mond fahren. So war das richtig. Aber was wurde dann aus dem Auftrag? Fernand sagte, daß er über den Brief im Rat der Wissenschaftler berichten würde. Und vielleicht ließe sich in einem Jahre eine Jugendexpedition zum Mond ausrüsten? Dann könnten sie den Auftrag Helmut Schulzes erfüllen. Die Ferienzeit aber sollten sie für erste Vorbereitungen nutzen: Mondkarten studieren, sich über die Geschichte der Mondstädte Clavius, Transquillitatis und Eratosthenes informieren, Flugkörperkunde treiben. Und natürlich müßte man gleich eine regelrechte Exkursion nach Lunikport durchführen. »Darüber spreche ich mit meinem Vater«, erklärte Jens. »Gut«, entschied Fernand Witsch. »Und du nimmst die Utensilien des Helmut Schulze wieder in Verwahrung. Hebe sie gut auf.«
5. KAPITEL Die erstaunliche Wandlung des Mac Bluffke Meckie kam aus dem Kino: Zwölf bunte Jahre seines Lebens erschienen ihm seit jenem Nachmittag so gut wie nicht gelebt. Wenn die Lehrer früher zu Vater Bluffke gesagt hatten, »er trägt es in sich, aber er gibt es nicht so gern von sich«, so war Meckie jetzt bereit, seine Gaben zu beweisen. Er war aufgewacht und stellte sich der Aufgabe seines Lebens. Und die hieß seit jenem Nachmittag in der Stadt der Jugend: Die Nachfolge von Helmut Schulze antreten. Selbst das zu werden, was jenem versagt war. Aus Meckie mauserte sich der kühne Abenteurer Mac Bluffke, der den Mond zu erobern und ein Vermächtnis aus dem Jahre 1963 zu erfüllen gedachte. An jenem Nachmittag war er wie benebelt aus dem Kino getreten. Noch hielt er den rechten Zeigefinger leicht gekrümmt, mit dem er zwei Stunden am Abzug des Laser gesessen hatte. Vor seinen Augen stoben die Meteoritenschwärme, die im Panoramafilm auf ihn zugejagt waren. Mac Bluffke zog nur leicht ab. Und schon zerbröckelten die gefährlichen Weltraumgeschosse zu Staub. Mac Bluffke blieb Sieger in jeder Situation und führte das Raumschiff sicher seinem fernen Ziel entgegen. Dem stolz über sich selbst hinausgewachsenen Sieger stellten sich in der frischen Luft drei Freunde aus fernen Kindheitstagen entgegen. Es waren das ein gewisser Jens Dietrich, eine Claudia Steinmann und ein stotterndes Vehikel namens Zepp. Sie bestätigten ihm nur seine außergewöhnliche Persönlichkeit, indem sie von dem verhinderten Kosmonauten Helmut Schulze berichteten, einem Freund des ersten Weltraumfahrers Juri Gagarin. Gagarin hatte Schulze also mit einem Spezialschreiben als Jungen Abenteurer ausgezeichnet. Und der junge Abenteurer hatte den Auftrag, den Mond zu erobern, in das Jahr 2071 weitergereicht. Wer anders konnte dafür geeignet sein als der Meteoritenvernichter Mac Bluffke, der diesem Helmut Schulze dazu noch ähnelte wie ein Ei dem anderen?
Jens Dietrichs' sonstige Angaben hielt Meckie für überflüssig, aber er nahm sie gelassen hin. Also bitte: Er akzeptierte großmütig die Arbeitsgemeinschaft der Lunaentdecker. Selbstverständlich würde er einen gewissen Nutzen daraus ziehen. Natürlich war es wichtig, Mondkarten zu studieren, Raketentypen zu prüfen, Lunikport zu besuchen. Aber der Auftrag war an ihn ergangen. Er selbst würde alle notwendigen Vorbereitungen von sich aus treffen. Gleich nach der Heimkehr unterzog sich Meckie einem strengen Test. Der Film hatte ihm gezeigt, daß Weltraumpiloten abgehärtete, sachliche und sportgestählte Männer waren. Vor den Augen seines fassungslosen Vaters Karl-Franz Bluffke stieg der Monderoberer unter die kalte Brause, obwohl ihm der Herzschlag vor Schreck stockte. Aber dann bürstete sich Meckie unter den eisigen Strahlen so lange ab, bis die Haut krebsrot war. Die Bemerkung seiner Mutter, »Karl-Franz, das hast du nun von dem Gerede über den wasserscheuen Jungen«, überging Meckie geringschätzig. Es war einfach selbstverständlich, daß er das frühere Leben abstreifte wie eine alte Haut. Anschließend hob Meckie den Expander seines Vaters vom Haken, stellte den Fuß darauf und ruckte die Federn zentimeterweise in die Höhe. Daß ihm der Apparat dann davonschnappte und dem aufjaulenden Pickwick über den Kopf flog, war zwar nicht vorgesehen, würde sich aber ändern. Schließlich macht Übung den Meister. Von Pickwick argwöhnisch verfolgt, trieb Meckie noch einige andere und für ihn recht außergewöhnliche Sachen. Er machte zwanzig Kniebeugen. Dann massierte er den Körper mit Creme, bis er glänzte. Pickwick schlappte sich mit Zunge über die Nase. Schließlich zog sich Meckie sogar einen frischen Schlafanzug an. Freiwillig. Das war wahrhaftig ein Ereignis. Und dann stülpte er sich den Taucherhelm über den Kopf, den er bislang beim vorsichtigen Schwimmen zu benutzen pflegte. Sorgfältig schraubte Meckie einen Schnorchel an den Helm. Mit dieser Ausrüstung gedachte er für den Mondflug zu trainieren.
Pickwick tränten vor Furcht die Augen, als er den Freund so hingestreckt im Bett liegen sah. Er rührte sich die ganze Nacht nicht. Frau Mary Bluffke war Frühaufsteher. Sie arbeitete als Dispatcher bei der Schnellbahn. Ihr Dienst begann um sechs Uhr. Ehe sie aus dem Haus ging, pflegte sie das Frühstück fertigzumachen, ihren Mann zu wecken und den Dobermann Pickwick vor die Tür zu schicken. Als sie heute morgen Meckies Zimmer betrat, zog sie erschrocken die Gardine auf. Entgeistert sah sie zu ihrem Sohn hinüber. Meckies Gesicht unter dem Taucherhelm war krebsrot. Leise schnorchelte sein Atem durch das an den Helm geschraubte Rohr. Der Schlafanzug hatte große dunkle Flecken. Dort, wo die Jacke verschoben war, glänzte im Sonnenlicht Meckies kleiner runder Bauch. Frau Bluffke stob aus dem Zimmer und rief nach ihrem Mann. Gemeinsam zogen sie Meckie den Taucherhelm vom Kopf. »Er ist krank«, klagte Frau Bluffke. »Er hat Temperatur. Sieh doch, wie er schwitzt. Er war gestern abend schon so komisch. Wer weiß, was die Kinder angestellt haben. Ach, wie er schwitzt. Der Schlafanzug ist ganz feucht.« Meckie saß verschlafen im Bett und machte verdutzt die Augen auf. Er sah seinen Vater, seine Mutter und Pickwick, der seinen Bauch abschnüffelte. Jetzt brauchte Meckie Zeit zum Überlegen. Karl-Franz Bluffke, der seinem Jungen die Jacke auszog, sah sich nachdenklich seine fettverschmierten Finger an. »Das ist doch Creme«, sagte er. »Meckie, wach auf. Was hat das zu bedeuten?« Meckie sah den Taucherhelm am Boden liegen, den Expander in der Ecke. Langsam erinnerte sich Meckie. Du hast durchgehalten, dachte er stolz. Du hast die erste Probe bestanden. Gleich darauf dachte er an das, was ihn an selbstauferlegten Prüfungen erwartete. Nr. 1: Die kalte Dusche. Ein Schauer lief ihm über den Leib. Er friert, sah Frau Bluffke. Er hat Schüttelfrost. Sie rieb dem widerstrebenden Meckie energisch mit der Schlafanzugjacke über Brust und Rücken.
Karl-Franz Bluffke hielt seinem Sohn immer noch den fettigen Finger unter die Nase. »Was ist das, Meckie?« Meckie Bluffke schwankte, ob er in die gestern abend abgestreifte Haut des alten Meckie Bluffke zurückschlüpfen sollte oder der Kosmonaut Mac blieb. Angesichts von Taucherhelm und Expander entschloß er sich schließlich, das heroische Dasein weiterzuführen. Er sah seinen Vater fest an. »Das ist Creme, Vater. Massiert die Haut und stärkt die Muskeln.« »Er spricht im Fieber«, flüsterte seine Mutter. »Das scheint mir auch so.« Karl-Franz Bluffkes Blick war düster. Mary Bluffke sah auf die Uhr. Es war gleich sechs. »Ich muß fort«, sagte sie. »Karl-Franz, rufe den Arzt. Und gib mir Bescheid, was los war. Ich bin um zwölf wieder zu Haus.« »Mein Liebling«, tröstete sie Meckie und strich ihm über das Haar. »Werde rasch wieder gesund. Und bleibe vor allem im Bett.« Pickwick machte sich eilends aus dem Staub. »Meckie, Meckie«, nörgelte Karl-Franz Bluffke bekümmert, »du machst Sachen.« Meckie, vollends wach geworden, besann sich auf seine neue Rolle. Würdig sagte er: »Ich bin nicht krank, Vater. Ich habe nur beschlossen, ein neues Leben zu führen. Und nenne mich bitte nicht mehr Meckie, sondern Mac.« »Es ist gut, Mac.« Vater Bluffke war entschlossen, seinen fiebernden Sohn nicht aufzuregen. Er deckte Meckie sorgfältig zu und rannte anschließend zum Videotelefon. Der Arzt versprach, sofort zu kommen… Sie suchten Meckie dann im ganzen Haus, aber der war verschwunden. Jens, der mit seinem Vater beim Frühstück saß, erzählte dem Arzt auf eingehendes Befragen, daß Meckie schon am Vortag sehr komisch gewesen sei. Unter anderem habe er auf der Heimreise Distanz gewahrt und nur in würdigem Ton mit ihm gesprochen. Claudia Steinmann wiederum fand Meckie eigentlich gar nicht komisch. »Er war wie immer«, sagte sie. »Na ja, er hat ein bißchen von dem
Film gesponnen. Und Kosmonaut spielte er. Und Helmut Schulze wollte er sein. Sie wissen doch, der Junge aus der Kiste, Herr Bluffke. Aber die Phantasie geht immer mit ihm durch. Das ist doch normal bei Meckie. Er beruhigt sich schon wieder.« »Ein sensibles Kind?« fragte der Arzt. Karl-Franz Bluffke mußte die Geschichte von der Entdeckung auf dem Hof erzählen. »Tja«, sagte der Arzt und faßte an seine Brille, »eigenartiger Fall. Ansehen möchte ich mir den Jungen schon mal.« Jens schickte Zepp auf die Suche. Zepp kam nach zehn Minuten zurückgeschnurrt und meldete: »Nicht zu f… finden. Keine Spur f… festzustellen.« »Nanu«, sagte Vater Dietrich verwundert, »der stottert ja?« Er winkte seinen Sohn in die Wohnung zurück und kommandierte Zepp ins Zimmer. Haus C am Boulevard Zampetta harrte der Lösung des zweiten Problems: Warum stottert Zepp? Was war das für ein verrückter Tag gewesen, dieser 4. Juli 2071? Inzwischen nahm Vater Bluffke Pickwick an die Leine und kommandierte: »Such, Pickwick, such.« Pickwick strich schnüffelnd durch die Halle und drängte in den Lift. Arzt und Vater Bluffke fuhren in den Keller. Pickwick blieb vor der Tür des Hallenbades stehen und bellte. Drinnen hörten sie Lachen und begeisterten Zuruf von Fräulein Zipp: »Prima, Mac! Und gleich noch einmal.« Karl-Franz Bluffke schob die Tür auf. Er sah seinen Sohn mit stolzgeschwellter Brust auf dem Dreimeterbrett stehen, langsam wippen und dann mit kühnem Hechtsprung ins Wasser stürzen. Karl-Franz Bluffke blickte den Arzt traurig an. »Es steht schlimm um ihn. Das ist nicht mehr der alte Meckie.« Der alte Meckie war tatsächlich verblaßt wie ein Schatten. Ein Mac kraulte jetzt durch das Schwimmbassin, mit kraftvollen Armschlägen. Und dieser Mac, der sich selbst überwunden hatte, war stolz auf seine Leistung. Er spürte Kraft in den Muskeln. Alles fühlte er gelingen.
Selbstbewußtsein war in ihm erwacht. Unter den anfeuernden Rufen von Fräulein Zipp zeigte er, was er konnte. Der Arzt, der den widerstrebenden Mac Bluffke dann untersuchte, schob den Jungen seinem Vater zu. Er gab Mac noch einen kräftigen Klaps auf das nasse Hinterteil. »Kein Grund zur Sorge, Herr Bluffke. Ein gesunder, strammer Bursche. Wie heißt du denn?« »Mac.« »Jawohl, Mac«, wiederholte Karl-Franz Bluffke. Er sah dem unter die Warmluftdusche tretenden Sohn nach und rieb sich das Kinn. Hoffentlich bleibt es bei Mac, dachte er. Was immer der Grund zu dieser Wandlung sein mag, hoffentlich bleibt es bei Mac. Aber wahrscheinlich hält das nur zwei Stunden vor. Dann kommt der kleine Meckie wieder zum Vorschein. Doch hier täuschte sich Karl-Franz Bluffke. Im Gegensatz zu Mac erlebte Jens an diesem Tag einen wahrhaft trostlosen Niedergang. Sein Vater regte Zepps künstliches Gedächtnis an, er ließ sich über die Speicherzelle Bericht vom vergangenen Tag geben. Zepp ratterte Fakten und Erkenntnisse präzis und monoton heraus. Dietrich hörte aufmerksam zu. Jens lauschte mit wachsender Unruhe. Als Zepp die Gespräche der angehenden Kosmonauten auf dem Heimweg wiedergab, schüttelte Lutz Dietrich besorgt den Kopf. »Ich habe dich für erwachsener gehalten, Jens. Die Idee von Fernand Witsch ist gut. Und eure Ferienaufgabe finde ich auch sehr vernünftig. Aber deine Spekulationen sind unvernünftig.« Was aber hatte Jens spekuliert? Als sich Meckie betont einzig würdiger Nachfolger von Helmut Schulze genannt hatte und sich bereits auf dem Mond sah, war es zu einer Wette gekommen. Jens wettete Zepp. Meckie wettete Pickwick. Jeder behauptete, früher auf dem Mond zu sein als der andere. Als Sieger galt, wer zuerst den Fuß aus der Rakete setzte. »Junge«, sagte Lutz Dietrich ernst, »das ist doch kein Hundertmeterlauf auf dem Sportplatz. Das ist ein auch heute noch großartiges Erlebnis. Von ihm haben die Menschen tausend Jahre lang geträumt. Hast du dir überlegt, was für eine Leistung hinter der Monderoberung steckt? Du
hast es dir nicht überlegt. Sonst würdest du das nicht als Spielerei betrachten. Du bist doch noch ein rechter Kindskopf.« »Aber Helmut Schulze…«, muckte Jens auf. »… lebte vor hundert Jahren und hat geträumt«, sagte Lutz Dietrich. »Und er hat seinen Brief sicher nicht mit dem notwendigen Ernst geschrieben. Und dein Freund Meckie albert hinterher. Aber mir fällt etwas ein. Ich werde euch zum Raketenstart einladen. Lunakurier fliegt am Wochenanfang zum Mond. Du wirst unseren großartigen Aufwand an Energie und Überlegungen kennenlernen. Und ich denke, daß du dann auf dem richtigen Wege zu einem echten Lunaentdecker bist. Aber jetzt hast du nur Ähnlichkeit mit einem Jungen, der Prager Würstchen stibitzt und andere dumme Scherze treibt. Von hundert Jahren menschlicher Weiterentwicklung ist nichts zu merken.« Lutz Dietrich beschloß, Zepp dem Einfluß seines Sohnes zu entziehen. Außerdem mußte Zepp generalüberholt werden. Vater Dietrich entschied: »Zepp reist mit mir zum Lunikport.« Wenige Minuten nach dieser Aussprache blinkte ein kleiner Apparat auf dem Couchtisch Signale. Dazu ertönte ein feines Klingeln. Der Apparat sah aus wie ein achtlos weggelegtes Zigarettenetui. Als Dietrich das Etui aufnahm, enthüllte es sich als ein hochmodernes Empfangs- und Sendegerät. Auf seinem Bildschirm, nicht größer als eine Streichholzschachtel, erschien der Kopf eines Mannes. Das Bild war gestochen scharf, jedes Härchen der Augenwimpern zu erkennen. Der Mann auf dem Bildschirm sagte: »Ich bin auf dem Dachgarten gelandet, Professor. Sind sie bereit?« Dietrich antwortete: »Vielen Dank, Bornemann. Ich komme in drei Minuten.« Das Bild verblaßte. Jetzt sah der kleine Apparat wieder wie ein Zigarettenetui aus. Dietrich steckte ihn in die Brusttasche seines Sakkos. Jens begleitete seinen Vater zum Lift. Zepp schnurrte gehorsam voraus. Sie fuhren zum Dachgarten. Als sie ins Freie traten, bemerkten sie auf einer grauen Betonpiste einen zierlichen Hubschrauber mit einer Zweimannkabine. Die Piste maß 4 mal 4 Meter im Quadrat.
Der Pilot lehnte an der Maschine, blickte über die Stadt und lutschte mit Genuß einen Bonbon. Er war jung. Ein Lachen stand in seinem Gesicht. Er bot Jens, einen Bonbon an. Der Bonbon schmeckte nach Brombeere. Als die zuckrige Hülle zwischen seinen Zähnen zersprang, hatte Jens sogar eine richtige Brombeere auf der Zunge. Das versöhnte ihn etwas mit seinem Geschick. Sein Vater stieg in die Maschine. Zepp schnurrte hinterher und ließ sich unter dem Kabinensitz nieder. »Macht er uns auch keinen Ärger?« fragte der junge Mann und deutete auf Zepp. »Uns nicht«, sagte Dietrich trocken und schraubte Zepp die Kontaktlampe vom Rücken. Jens senkte schuldbewußt den Kopf. Sein Vater beugte sich noch einmal aus der Kabine. Er faßte Jens ins Haar und lächelte. »Na, Kopf hoch. In vierzehn Tagen ist Zepp zurück. Und morgen früh unterhalten wir uns noch einmal. Von Mann zu Mann.« Die Maschine stieg in die Luft und strich mit zunehmender Geschwindigkeit in nordwestlicher Richtung davon. Jens blickte ihr nach, bis sie nur noch ein Punkt in der Ferne war. Als sich Jens abwandte, brannten ihm die Augen. Natürlich kam das vom grellen Licht des hellen Sommertages. Was sollte es sonst sein? Jens fuhr mit dem Lift zum Parterre hinunter. Ihm kam es vor, als hätte sich der Boden unter ihm geöffnet, und er würde fallen, fallen… Bitterkeit in der Kehle. Erwachsene. Hocherhobener Zeigefinger. Überall stehen sie und sagen: das geht nicht. In Gedanken rezitierte Jens den Brief von Helmut Schulze. Mit dickem Kopf marschierte er am Hausmeister vorbei. Karl-Franz Bluffke rief ihm nach: »Mac wartet draußen vor der Tür.« Sein Abstieg wurde Jens erst bewußt, als er diesen Mac ungeduldig durch die Grünanlagen stromern sah. Der trug heute zur Kennzeichnung seiner Wandlung lange, enganliegende Hosen aus grünem Argenta mit dem bekannten Flimmereffekt. Das verschaffte ihm bis zum Bauchnabel Ähnlichkeit mit einer Smaragdeidechse. Der dunkelgraue Blouson aus strapazierfestem Gazella machte Mac um drei Jahre älter. Über das rote
Haar hatte er trotz der Hitze eine Ledermütze gestülpt, Schild sechs Zentimeter breit. Außerdem trug er eine Sonnenbrille und schritt frei aus der Hüfte heraus, kerzengerade. Pickwick, der an kurzer Leine neben ihm hertrottete, hatte offensichtlich Mühe, sich diesem Gang anzupassen. Der Hund trug den Henkel eines Korbes im Maul. Der Korb war aus gedrehter Folie geflochten. Im Korb hockte verängstigt ein schneeweißes Meerschweinchen. Jens schluckte. »Tag, Meckie«, sagte er gepreßt. »Mein Vater nennt mich seit heute Mac.« »Bitte«, antwortete Jens. »Bitte, wenn du so willst, ab heute Mac.« Mac nahm Pickwick den Korb aus dem Maul. »Das ist Laura. Mein Vater hat sie mir geschenkt. Laura fliegt zum Mond.« »… fliegt zum Mond?« echote Jens. Ach so, er erinnerte sich an den Auftrag Helmut Schulzes. Sieh da, Meckie hat sogar schon das Meerschweinchen. Geschenk von seinem Vater. Und mit Pickwick darf er auch herumspazieren. Ich dagegen bin Zepp los. Und morgen gibt es noch ein Gespräch von Mann zu Mann. Ich bin erledigt. Mac sagte würdig: »Ich möchte dich um das Bild von Helmut Schulze bitten. Ich werde mir davon fünfzig Abzüge machen. Der Junge ist doch großartig. Natürlich verpflichtet mich auch die Ähnlichkeit.« »Natürlich.« Jens war sich darüber im klaren, daß vor ihm der zukünftige Leiter der neuen Arbeitsgemeinschaft stand. Meckie brauchte das gar nicht zu sagen. Aber Mac machte ihn jetzt auch noch darauf aufmerksam, daß in ihm über Nacht ein Organisator herangereift war. »Sprottenkopf, Verzeihung, Claudia hat einen Testographen besorgt. Er steht im Jugendklub. Schließlich müssen wir wissen, ob wir für eine Mondreise geeignet sind. Du hast dich doch vorbereitet?« Er zog eine Broschüre aus der Tasche, jede Seite aus glänzender Folie, mit großen Buchstaben bedruckt. Auf dem Titel stand in leuchtender Schrift: »Wissenswertes über die Mondstädte«. Mac war nicht zu schlagen. Wie sich bald herausstellte, war er sogar dem Testographen gewachsen.
Der Jugendklub lag jenseits der Straße, also in der Nähe der Hochhäuser E, F, G und H – Elvira, Friedegund, Gisela und Hildegard. Dort breitete sich ein kleiner Park. Ein Springbrunnen, den Vater Bluffke vor dem Haus Cesare noch anlegen wollte, sprühte hier bereits einen Wasserstrahl in den Himmel. Oleanderbüsche dufteten. Und in Volieren hockte buntgefiedertes Papageienvolk, das fröhlich vor sich hin krächzte. Der Jugendklub, gerade fertiggestellt, war eines der modernsten Gebäude. Das Haus war einstöckig, in Hufeisenform angelegt, die Wände zum Teil aus Glas, zum Teil aus hochglänzendem Kunststoff gefertigt. Ein Cafe wuchs auf einer breiten Terrasse in den Garten hinaus. Sonnenschirme überdachten Hocker und Tische, an denen schwatzende Kinder Sahneeis löffelten. Eine Fensterwand gab den Blick in die Bibliothek frei, wo junge Leser in Liegesesseln vor sich hin träumten. In diesem schmucken Haus gab es Spielzimmer, Bastelräume, Fotolabors, Terrarien, Aquarien, ein Rundfunkstudio, ein Filmtheater und einige Diskussionsstuben, wo man nach Herzenslust streiten und tüchtig laut sein konnte. Dort stand in einem Zimmer auch der Testograph. Mac schritt entschlossen auf das Hauptportal zu. Pickwick trottete ergeben neben ihm her. Jens folgte zögernd. Er versuchte vergebens, sich über Meckies Selbstbewußtsein klarzuwerden. Das Tor zum neuen Mac Bluffke blieb ihm verschlossen. Die Glastür schwang automatisch weit auf. Fotozellen, die jeden Passanten erfaßten, steuerten den Mechanismus. Dennoch klemmte Pickwick den Schwanz ein. Im Flur flammten bläuliche Lichter kurz auf und verloschen wieder. Die neuen Gäste waren, ohne es sonderlich zu bemerken, durch eine Antibakterienschleuse getreten. Der Jugendklub war selbstverständlich mit dieser modernen Anlage ausgerüstet worden. Den Mikroben war der Zutritt zu den Räumen verwehrt. Husten, Schnupfen, Grippe sollten der Vergangenheit angehören. Pickwick hob beim Gang durch die Flure vorsichtig die Pfoten. Kein Schritt war zu hören. Der Boden war mit feuerroten Vinchloridmatten bedeckt, die jeden Laut verschluckten. Mac steuerte auf die letzte Tür am Ende eines langen Ganges zu. Rechts neben dem Türrahmen leuchtet ein Schild: »Bitte nicht stören.«
Mac drehte an einem Knopf. Die Tür öffnete sich geräuschlos. Jens blickte in einen kleinen fensterlosen Raum, dessen Wände schalldicht abgesichert waren. Die Zimmerdecke bestand aus Milchglas. Sie schickte eine Lichtflut über den Raum, in dem es nicht eine dunkle Ecke gab. Der Testograph hatte etwa die Größe eines Fernsehstandgerätes, besaß einen großen Bildschirm und eine Lautsprecheranlage. Nach längerem Hinsehen erkannte man noch einige eingebaute Mikrophone und ein kleines Glasfenster, unter dem »Empfänger« stand. Ein Schacht, wie bei einem Automaten, gähnte in Blickhöhe den neugierigen Beobachter an. Mac, Jens und Pickwick wurden bereits von Claudia und Heinrich Schorr erwartet. Pickwick schnüffelte an dem Gerät herum. Wer weiß, wo es früher einmal gestanden hatte. Pickwick stellte jedenfalls einen feinen Geruch nach Geräuchertem fest. Er begann das Kunststoffgehäuse abzulecken, wofür er einen strengen Verweis von Mac bekam. Er mußte sich in die Ecke neben den Korb mit Laura hocken. Claudia hatte sich den Apparat und seine Arbeitsweise genau erklären lassen. Sie nahm Meckie an die Hand und setzte ihn auf einen Hocker, direkt vor den einladend geöffneten Schacht und das kleine Glasfenster, das übrigens eine scharfgeschliffene Linse war. »Die Maschine ist programmiert«, sagte Claudia. »Das Thema lautet: Prüfung zukünftiger Mondentdecker.« Sie rückte Mac den Kopf gerade. »Die Linse nimmt dein Bild auf. Der Schacht erfaßt die Bioströme, die du aussendest. In das Mikrophon sprichst du deine Lektion. Möglichst flüssig, Meckie.« »Er heißt ab heute Mac«, erlaubte sich Jens zu bemerken. »Mac?« Claudia sah Meckie verblüfft an. Meckie nickte stumm. »Pöh.« Claudia schaltete entschlossen den Apparat ein. »Bei mir bist du Meckie. Und nun los, Meckie.« Meckie, aus der Fassung gebracht, stotterte erst, konzentrierte sich aber dann und erzählte eine Viertelstunde lang. Allerhand, dachte Jens, was er alles weiß. Und wie wichtig er das vorträgt. Du hast ihn nie für voll genommen. Jetzt siehst du erst einmal, was eigentlich alles in dem kleinen Meckie steckt.
Meckies Vortrag gliederte sich in drei Teile. Nummer 1 war offensichtlich am Morgen angelesenes Wissen, das aber wie eine Lektion heruntergerasselt wurde. Meckie sagte: »Der Mond ist der achte Kontinent der Erde und etwa 384 000 Kilometer von meinem jetzigen Aufenthaltsort entfernt. Ein modernes Raumschiff trägt mich sicher in einem Tag zu ihm hin. Durchmesser des Mondes beträgt ein Viertel des Erddurchmessers… Weite Flächen sind mit porösem Gestein und mit Staubschichten bedeckt. Der Mond hat keine Atmosphäre, keinen Wind und keinen Regen. Seine Anziehungskraft ist gering. Jeder Punkt der Mondoberfläche befindet sich einen halben Monat ununterbrochen auf der Tagesseite und einen halben Monat ununterbrochen auf der Nachtseite. Mann kann also sagen, daß ein Mondtag 15 Erdentage dauert. Zur Zeit leben etwa 40 000 Mondsiedler auf dem achten Kontinent. Sie wohnen in den Mondstädten Clavius, Transquillitatis und Eratosthenes. Clavius war eine Wallebene, Transquillitatis ein sogenanntes Mondmeer und Eratosthenes ein Ringgebirge. Alle Städte sind durch Spezialkuppeln geschützt und haben eine künstliche Atmosphäre. Der Mond dient uns als Plattform für den Start in den Weltraum. Von ihm gehen die Fahrzeuge für den Planetenverkehr und für interstellare Entdeckungen auf die Reise. Auf dem Mond gibt es Laboratorien für viele wichtige Experimente. Der Mond ist ein wichtiges Forschungszentrum. Auf ihm gibt es riesige Sternwarten…« Meckie verlor den Faden, hastete ein Weilchen herum, dann faßte er sich entschlossen und kam zum Thema 2. Thema 2 war bei Meckie die Verkehrsverbindung zum Mond. Er erzählte die Geschichte der Raketenentwicklung. Er sprach von ferngelenkten Flugautomaten, von Raketen mit herkömmlichen Treibstoffen und gigantischen Photonenraketen. Hier zeigte er sich als Spezialist, der sich sogar in der Erforschung der Antimaterie auskannte, aus der ferne Sternenwelten aufgebaut sind. Außerdem wertete er gründlich den Film »Kampf gegen Meteore« aus. Thema 3 betraf Meckie selbst. Meckie berichtete von seinen Anstrengungen, um ein anderer Mensch zu werden. Er wolle willensstark, fleißig und sportlich sein. Meckie schonte sich nicht.
Heinrich Schorr lauschte mit offenem Mund. Claudia bemühte sich vergeblich, ernst zu bleiben. Jens hörte angestrengt zu und fiel bei dieser Lebensbeichte von einer Überraschung in die andere. Das hättest du ihm nicht zugetraut, dachte er. Mac Bluffke ist aus dem alten Meckie herausgekrochen wie der bunte Falter aus der Puppe. Meckie wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte abschließend: »Das ist alles. Mehr habe ich zur Zeit nicht.« Der Apparat begann zu rattern. Ein Klingelzeichen ertönte. Aus einem Briefschlitz sprang ein engbeschriebener Papierbogen, Meckies Charakterskizze. Zugleich leuchtete der Bildschirm auf, zeigte Meckies Kopf. Klar und deutlich war sein energisches Gesicht gezeichnet. Die Zähne blitzten, dazwischen die charakteristische Lücke. Daneben stand die Prüfungsnote: 1. »Fahre so fort im Fleiß«, stand am Schluß des Berichtes. Ein paar einschränkende Bemerkungen fehlten jedoch nicht: Gemeinschaftssinn wäre zwar vorhanden, bedürfe aber stärkerer Ausprägung. Meckie sollte sorgfältig auf sich achten, nicht eitel werden und sich vor Überheblichkeit hüten. Im ganzen gesehen zeige Mac Bluffke gute Anlagen für das geplante Unternehmen. Meckie studierte die Charakteristik aufmerksam. Als er die Empfehlungen las, zuckte er zusammen. Verlegen biß er sich auf die Unterlippe. Er sah Claudia ernst an. »Das werde ich abstellen. Natürlich muß ich meine Schwächen überwinden.« Claudia nickte ihm zu. »In Ordnung, Mac.« »Mac« hatte sie gesagt. Dann kam Jens an die Reihe. Er zeigte sich der Prüfung nicht gewachsen. Verstört holperte er die Sätze heraus, erwischte sich, wie er Meckies Mondlektion nachbetete, schwieg betreten, nahm neuen Anlauf und erzählte schließlich von der Arbeitsgemeinschaft, in der er gern mitarbeiten würde. Heiser flüsterte er: »Soweit ich natürlich die Anlagen dazu habe.« Aus. Fünf Minuten! Davon waren mindestens drei Minuten verstottert. Claudia blickte verlegen zu Boden. Meckie sah den Freund mitleidig an. Heinrich Schorr stöhnte: »Na, weißt du…«
Der Apparat summte und ratterte. Wieder klingelte es. Ein neuer Bogen sprang aus der Öffnung. Der Bogen war mit zehn Schreibmaschinenzeilen bedeckt. Jens nahm ihn verwirrt an sich, kniffte ihn und wollte ihn gerade verschämt Wegstecken, da tauchte sein Bild auf dem Bildschirm auf. Ein gescheiter Junge sah ihn an. Freundliche Augen. Grübchen spielten um den verlegenen Mund. Das Kinn schob sich ein wenig vorwitzig hervor. So ein richtiger netter Jens blickte ihn an. Daneben stand die Note 1. »Hallo«, rief Claudia begeistert. Heinrich Schorr klappte die Kinnlade herunter. Das hatte er nicht gedacht. So gestottert war die Rede. Meckie sah fassungslos auf den Bildschirm. Es stimmte. Auch Jens hatte die Note 1. Jens faltete hastig die Charakteristik auseinander. Der Testograph bescheinigte ihm guten Willen, Fleiß, Unternehmungslust, einen anständigen Charakter und lobenswerten Gemeinschaftssinn. Als einschränkende Bemerkung stand nur da: »Vergiß nie, was du versprochen hast.« »Jawohl«, rief Jens aufatmend. »Schrei nicht so«, sagte Claudia. »Denke lieber daran.« Heinrich Schorr, der anschließend geprüft wurde, erzählte ein langes Märchen, in dem von wundersamen Entdeckungen in Mondwüsten, von stundenlangen Reisen durch Kraterlandschaften, Bewährungsproben und mannhaftem Einsatz für den Fortschritt die Rede war. Auch er erhielt die Note 1 mit der Empfehlung, diszipliniert zu träumen. »Meine Schwäche«, flüsterte Heinrich Schorr und leckte sich die trockenen Lippen. »Ich weiß nicht, ob ich das je schaffe.« Claudia bekam nach der Prüfung nur Anerkennung, ohne jede Einschränkung. Dann zog Meckie den widerstrebenden Pickwick aus der Ecke. »Was willst du denn mit dem?« fragte Jens betroffen. »Pickwick ist der beste Spürhund der Welt. Warum soll er nicht der beste Spürhund des Mondes werden? Ich habe gelesen, daß es kein einziges Tier auf dem Mond gibt. Pickwick und Laura müssen mit uns reisen.«
Claudia schüttelte sich vor Lachen. »Junge! Die Empfehlung für Heinrich Schorr solltest vor allem du dir zu Herzen nehmen.« Pickwick kroch mit eingezogenem Schwanz auf den Hocker. Neugierig schnüffelte er in den dunklen Schacht. Als der Apparat zu rattern begann, blinzelte Pickwick verstört. Er ließ die Zunge weit aus dem Maul hängen und lauschte mit spitzgestellten Ohren. Klingeln. Pickwick knurrte. Der Papierbogen witschte aus der Öffnung. Das hielt Pickwick nicht mehr aus. Er bellte vor Schreck, sprang vom Hocker und jagte mit angelegten Ohren in die Ecke. Von dort beobachtete er finster den flimmernden Bildschirm. Als ein Bild erschien, sträubte sich ihm das Fell. Pickwick legte sich auf den Bauch, die Nase auf die Pfoten und knurrte. Das Bild bekam Schärfe. Vom Bildschirm blickte deutlich ein verängstigter Dobermann, hechelnd, mit Knurrfalten um die Nase. Pickwick erhob sich und bellte vor Wut und Verzweiflung in den schalldichten Raum. Er konnte sich jetzt nicht mehr beruhigen, während seine Freunde vor Lachen im Zimmer herumsprangen. Mac war plötzlich wieder der alte Meckie geworden. Er hielt den Papierbogen wie eine Fahne in der Hand, tanzte auf einem Bein und schrie: »Ich lach mich tot, ich lach mich tot. ›Freßlust auf vier Beinen.‹ Gebt ihm eine Wurst, steht da als Empfehlung.«
6. KAPITEL Jens bummelt durch Berlin Chefkoordinator Dietrich kehrte nicht nach vierundzwanzig Stunden, sondern erst nach zwei Tagen zu seinem Sohn zurück. Dietrich hatte einfach das Heimfahren vergessen. In Lunikport war er durch ein Meer interessanter Arbeit und gewichtiger Probleme geschwommen. Er hatte die Fluten geteilt und war Sieger geblieben. Und das seinem Sohn angekündigte Gespräch von Mann zu Mann war wie Blei in tiefe Tiefen versunken. An seinen Sohn Jens hatte Dietrich gar nicht mehr gedacht. Lunakurier absolvierte zwei weitere Probeflüge. Die Flüge wurden ausgewertet. Pilot, Mechaniker und Funker wurden befragt. Es war alles in Ordnung. Für Lunakurier wurde daraufhin der Startplan zum Mond ausgearbeitet, die Flugstrecke vermessen und die Ausrüstung angefordert. Dietrich ließ einen Videotelefonkontakt zu Kapitän Fedorow herstellen und meldete den erfolgreichen Abschluß der Testflüge. Fedorow schlug den 10. Juli 2071 als Einweihungstag der Schnellkurierverbindung vor. Der achte Kontinent würde an diesem Tag noch näher an die Erde heranrücken. Die Mondsiedler hätten die Absicht, Lunakurier mit einer großen Feier zu empfangen. Kapitän Fedorow sagte »Einen Moment, bitte« und reichte das Gespräch in das Mondlaboratorium für Biologische Forschungen weiter. Maika Svenson sah plötzlich ihren Mann an. Sie fragte: »Was macht Jens?« Dietrich wußte es nicht. Betreten sagte er: »Ich war zwei Tage nicht zu Haus.« Maika Svenson blickte ihren Mann vorwurfsvoll an. »Kümmere dich etwas mehr um den Jungen«, sagte sie. »Bitte. Er hat Ferien. Ich komme in zwei Wochen.« Eine Stunde später fand im Konferenzsaal des Hauses der Zweitausend die Tagesbesprechung des Rates der Wissenschaftler statt. Kurz vor ihrem Abschluß erhob sich der Hospitant Witsch und berichtete von der
Arbeitsgemeinschaft der Lunaentdecker. Die Wissenschaftler hörten aufmerksam zu. Auch dieses Versprechen hattest du vergessen, dachte Dietrich voller Selbstvorwürfe. Er sekundierte Witsch sofort und schlug vor, die Arbeitsgemeinschaft zur Verabschiedung von Lunakurier einzuladen. Der Vorschlag wurde angenommen. Witsch hielt den Chefkoordinator vor Verlassen des Sitzungssaales zurück. »Der Jens ist ein netter Junge«, sagte Witsch. »Fleißig und wißbegierig. Aber Sie sollten sich jetzt in den Ferien ein wenig um ihn kümmern. Er scheint Betreuung zu brauchen. Es ist da allerhand passiert mit dem Zepp. Es hätte schlimm ausgehen können.« All das lief vor Dietrichs Augen noch einmal wie ein Film ab, als er sich vom Hubschrauber nach Berlin-Zeuthen zurücktragen ließ. Ich war zu hart zu ihm, dachte er. Natürlich hat der Junge alles; Freunde, eine gute Schule, Arbeitsgemeinschaft und sehr liebe Menschen im Haus Cesare. Aber ich bin schließlich sein Vater und kümmere mich zuwenig um ihn. Dabei müßte ich sein bester Freund sein. Ich muß das ändern, so schnell wie möglich. Dietrich blickte nachdenklich aus der Kabine. Im Sonnenglast lag die Stadt. Schlank strebten die Hochhäuser dem Himmel entgegen. Kuppeln wölbten sich. Parks und Anlagen breiteten sich wie Teppiche. Dazwischen leuchteten die Wasseraugen der Seen und Teiche. Die Spree flocht sich als blaugrünes Band durch die blühende Metropole, über die längst nicht mehr der Rauch der Fabrikschornsteine hinwegzog. Du nimmst deinen Jungen einfach an die Hand, dachte Dietrich, und bummelst mit ihm durch die Stadt. Du brauchst dann keine großen Worte. Wir machen uns einen vergnügten Nachmittag. Anschließend besuchen wir den Tierpark und Professor Drosse. Das wird ein feiner Tag. Und vor allem brauchst du keine großen Worte. Der Hubschrauber setzte auf. Sie waren auf dem Haus Cesare am Boulevard Zampetta gelandet. Bornemann holte sich einen Brombeerbonbon aus der Tüte und steckte ihn in den Mund. Dietrich erinnerte sich. Diese Sorte hatte Jens auch geschmeckt. Er nahm die Tüte aus der Hand und las interessiert den Namen: »Schwarzer Kuß.«
»Ach so«, sagte Dietrich. »Darum lutschen Sie immer.« Bornemann lachte verlegen. Dann gab er Dietrich die Tüte. »Für Ihren Jungen, Professor. Keine Angst, verpflichtet zu nichts.« »Und Sie?« fragte Dietrich. Bornemann öffnete das Seitenfach und zeigte auf drei Tüten. Dietrich stieg aus und sah der Maschine belustigt nach, bis sie in der Ferne verschwunden war. Er fand seinen Sohn im Hallenschwimmbad, wo er mit Meckie Wasserball spielte. Nun geht das Gespräch los, dachte Jens. Er zog sich rasch an. Aber sein Vater faßte ihn freundlich am Genick, schob ihn vor sich her, aus dem Haus hinaus. »Komm, wir machen einen Bummel durch Berlin.« Am Boulevard Zampetta hielt Dietrich eine Quicktaxe an. Er rief dem jungen Fahrer zu: »Stadtzentrum. Alexanderplatz.« Der Fahrer stellte die automatische Steuerung bis zur Stadtgrenze ein, nahm ein Buch vor die Nase und las. Der Wagen fuhr los. Vater und Sohn saßen im Fond, durch eine schalldichte Glaswand vom Fahrer getrennt. Sie blickten aus den großen Panoramafenstern und genossen die Fahrt. Der Wagen jagte ohne Motorengeräusch über den schnurgeraden Boulevard Zampetta, über Hochstraßen mit sechs Fahrbahnen. Es suchte sich selbsttätig den Weg, verringerte unmerklich vor einem Hindernis die Geschwindigkeit, zog schnell und ohne Rucken wieder an. Sie kreuzten Kanäle über hohe Brücken, rauschten unter dem Bogen der Einschienenbahn hindurch und glitten in einen taghell erleuchteten Straßentunnel. Hier übernahm der Fahrer für kurze Zeit die Führung des Wagens. Mit mäßiger Geschwindigkeit glitten sie auf einen unterirdischen Platz. Von allen Seiten mündeten Straßen in dieses Verkehrsrondell. Zehn Rolltreppen führten aus der Halle nach oben ins Freie. Hier hielt der Wagen, und der Fahrer sagte: »Alexanderplatz.« Sie betraten die Rolltreppe. Während der raschen Fahrt ans Tageslicht, die wegen der Tiefe der Halle dennoch drei Minuten dauerte, zog Dietrich die Tüte mit der Bonbonmarke »Schwarzer Kuß« aus der Tasche.
»Bitte, bediene dich«, sagte er freundlich. Jens, der über den vielen neuen Eindrücken das vermeintliche Anliegen vergessen hatte, dachte nach. Was will er? Hoffentlich bringt er mich nicht zu Tante Lucie. Das war die Schwester seines Vaters und eine strenge Dame, die bei den Städtischen Verkehrsbetrieben arbeitete. Bei Tante Lucie ging alles nach der Uhr. Das Leben schnurrte ab wie ein Sekundenzeiger. Fragen wirst du nicht, nahm sich Jens vor. Wenn er gar nicht an Tante Lucie denkt, bringst du ihn durch deine Frage nur auf die Idee. Jedenfalls stand das Gespräch von Mann zu Mann noch aus. Sollte es knifflig werden, wirst du ihm den Bericht des Testographen geben. Jens faßte vorsichtig an die Jackentasche. Das Papier mit der Charakteristik knisterte. Der Alexanderplatz mit seinem Fernsehturm, ein Flanierboulevard ohne Straßenverkehr, überfiel sie mit trubelndem Leben. Zwischen kurzgeschorenen Rasenflächen, angelegt nach der englischen Methode »morgens gießen, abends mähen«, bummelten Nachmittagsspaziergänger. Zweijährige wackelten über die Wege. Auf Bänken saßen verträumte Pärchen. Mütter steuerten selbstfahrende Kinderwagen, luftige und hübsche Fahrzeuge übrigens. Warenhäuser reckten sich mit prächtigen Fassaden in die Höhe. Die Sonne spielte sich in ihren Fenstern. Cafes luden mit Sonnenterrassen zum Verweilen ein. Auf den Flachdächern drehten sich Karussells. Dietrich faßte seinen Sohn an der Jacke. Er drehte Jens einmal um sich selbst und musterte ihn. Die Ärmel glänzten an den Ellenbogen verräterisch. Sie waren abgewetzt. Die Knie guckten zerkratzt unter den kurzen Hosen vor. »Am Zehnten startet Lunakurier«, sagte Dietrich. »Ihr seid zur Verabschiedung eingeladen, die ganze Arbeitsgemeinschaft.« Jens sah seinen Vater dankbar an und dachte gleichzeitig, was fummelt er nur an mir herum? »Brauchst einen neuen Anzug oder?« Jens hob beklommen die Schultern. So feierlich? Irgend etwas hat er mit mir vor. Aber fragen wirst du nicht. Ergeben stiefelte er hinter seinem Vater in das Warenhaus »Chic im dritten Jahrtausend« hinein.
In der Abteilung Tex 5, zweiter Stock, wehte eine elegante Blondine auf sie zu. Sie trug einen enganliegenden dunkelblauen Dreß; kurze Jakke, knapper Rock, weiße Bluse. Sie musterte Jens aufmerksam. Dann schon lieber das Gespräch von Mann zu Mann, dachte Jens. So etwas macht mich nervös. Die Blondine verzog den Mund zu einem Lächeln und ließ Zähne wie Perlen sehen. Dietrich machte der stummen Zwiesprache ein Ende. »Bitte einen Anzug, sportlich.« Es wurde ganz schlimm. Die Blondine legte ihre weiche Hand um die Schulter von Jens. Es nutzte gar nichts, daß die Klimaanlage kühle Luft durch die Halle fächelte. Jens schwitzte wie bei dreißig Grad im Schatten. »Wir werden schon das Richtige finden«, zwitscherte sie. Wir, dachte Jens. Sie kommt also mit. Das kann ja heiter werden. Sie gingen in eine Kabine, Jens winkte seinem Vater ungeduldig, der amüsiert folgte. Die Kabine war ein Fotoatelier mit einem Aufnahmegerät. Die Blondine stellte sich hinter den Apparat. Sie visierte Jens kurz an, wobei sie ihm zuzwinkerte. »Du bist ein hübscher Junge«, sagte sie. Dietrich blieb verdutzt in der Kabinentür stehen. Ich werde alt, dachte er. Jetzt macht mein Jens schon auf junge Damen Eindruck. Jens wischte sich verlegen mit der Hand über das Haar. Es war feucht von der Aufregung. Aber das Mädchen fand er jetzt ganz nett. Vor allem interessierte ihn der Apparat. »Fotografieren Sie jeden Kunden oder nur mich?« fragte er kühn. Das Mädchen zwitscherte: »Nicht so neugierig, vielleicht rahme ich mir Ihr Bild ein?« Sie schätzt mich mindestens zwei Jahre älter, als ich wirklich bin, dachte Jens. Na ja. Aus den Augenwinkeln schielte er zu seinem Vater. Dietrich amüsierte sich großartig. Er war schon für diese Stunde dankbar. Ich weiß gar nicht mehr, dachte er, wie lustig der Alltag eines Vaters sein kann. Das Mädchen fotografierte Jens. Dann erklärte es ihm den Vorgang: »Das Bild wandert in eine Elektronenanlage. Die berechnet blitzschnell Ihre Maße. Die Maße werden in eine Maschine diktiert.
Sie wählt unter der Bezeichnung ›sportlich‹ den für Sie in Frage kommenden Stoff, die Farbe des Stoffes, den Schnitt aus. Gleich darauf beginnt das Zuschneiden und Nähen. Sie können jetzt schon in den ersten Stock gehen und Ihren Anzug abholen. Ober möchten Sie mit mir noch eine Tasse Kaffee trinken?« Jens erhob sich schnell. »Es geht leider nicht. Wir haben es sehr eilig.« »Schade«, sagte die Blondine. Sie gab Jens einen Bon. »Darauf bekommen Sie Ihren Anzug.« Lächelnd sah sie Jens nach. »Uff«, sagte der zu seinem Vater, als sie mit der Rolltreppe in den ersten Stock hinunterfuhren. »Na, na.« Dietrich lachte. »Du bist mir ja ein schöner Lunaentdecker.« Der Anzug war wirklich flott. Er war aus marineblauem Merona, auf einen Knopf gearbeitet, mit enger langer Hose. Jens sah erwachsen in dem Anzug aus. Und das gefiel ihm. »Was machen wir nur mit den alten Sachen?« fragte Jens. »Die bleiben hier und wandern in die Verwertungsmaschine«, sagte die freundliche Frau am Ausgabeschalter. Die Frau zeigte auf ein langes Förderband. Hose und Jacke schnurrten gerade davon. Jens sprang mit einem Satz durch die Schaltertür. Er bekam die Jacke zu fassen, ehe sie mit einem Schwupp im tiefen Schacht verschwand. Jens kramte die Charakteristik aus der Tasche. Dann warf er die Jacke wieder aufs Band. Nun schluckte sie der Schacht auf Nimmerwiedersehen. Die Frau sagte: »Na, so was…« Dietrich, der entgeistert zugesehen hatte, nahm dem widerstrebenden Jens das Papier aus der Hand. Es las aufmerksam, mit hochgezogenen Augenbrauen. »Wer war denn das?« fragte er dann. »Scheint ja besser über dich Bescheid zu wissen als ich.« »Der Testograph«, antwortete Jens, mit rotem Kopf. »Aha.« Dietrich lächelte. Er schob Jens seine Hand unters Kinn und veranlaßte ihn, aufzublicken. »Das hätte ich dir auch sagen können, Junge. Aber ich habe es dir nicht gesagt. Warum wohl?«
Jens schwieg. Dietrich räusperte sich. »Weil man sich nicht alles sagen lassen soll. Da drin«, er klopfte Jens an die Brust, »muß man es selbst fühlen und danach handeln.« Das ist eben Vater, dachte Jens. Er ist schon in Ordnung. Und du wirst dich bemühen und ihm keinen Ärger mehr machen. Er ist ein feiner Kerl. Ist doch Quatsch, was dieser Helmut Schulze über die Erwachsenen geschrieben hat. Nun wurde es ein richtig lustiger Nachmittag. Ecke Friedrichstraße – Unter den Linden gingen sie in eine Eisbar. Vater bestellte zwei Eiscocktails, Marke »Schwarzweiß«. »Schwarzweiß« war Schokoladensahneeis, mit Mokkapulver überpudert. Wenn Jens über die Schulter in den Raum blickte, schien er in Afrika zu sein. Palmen breiteten ihre gefiederten Blätter. Orchideen blühten, und hinter einer Glaswand schwammen exotische Fische. Vor der Veranda aber grüßte das alte Berlin mit seinen historischen Bauten, mit üppig belaubten Linden, mit Rosenbeeten und behäbig dahinfließendem Verkehr. Auch hier bevölkerten nur Spaziergänger die Straßen. Schnellbahnen und Autos waren unter die Erde in geräumige Tunnels verbannt. Anschließend fuhren Vater und Sohn mit der Untergrundschnellbahn nach Friedrichsfelde, zu Professor Drosse. Professor Drosse lebte in einem alten und reizvollen Schloß, das früher einmal der Eingang zu Berlins berühmten Tierpark gewesen war. Wenn man Karten aus vergangenen Zeiten betrachtete und sie mit der Gegenwart verglich, sah es aus, als sei der Tierpark auf einer riesigen Drehscheibe um neunzig Grad geschwenkt worden. Von der Schnellbahnstation Biesdorf gelangte man jetzt zu einem Tierpark, der sich »Exotischer Garten« nannte. Dort tummelten sich auf dem Gelände früherer Rieselfelder Elefantenherden. Das heisere Gebrüll von Löwenrudeln war zu hören. Stelzvögel strichen über einen Pflanzendschungel hinweg. Vom »Exotischen Garten« gelangte man durch ein hohes Tor in einen mächtigen Kuppelbau. Hier lernte man das Klima nördlicher Breiten
kennen, trat in die »Polarzone«. Eisbären kletterten über Packeisberge. Seehunde tauchten schnaufend durch kristallklares Wasser, Pinguine watschelten gravitätisch wie Ober im Frack durch die Halle. Der schöne alte Park von Friedrichsfelde war jedoch erhalten geblieben. Wenn man ihn durchschritten hatte, empfing einen die Stadt der Konstrukteure. Hier war die Biologische Zentralstation der Hauptstadt, mit Hochhäusern, Ausbildungsstätten, Laboratorien, ausgedehnten Stallungen und Obstplantagen. Und etwas seitab unter großen Ulmen wohnte der Leiter, Professor Drosse. Auf seinem Schreibtisch, in einer altertümlichen Bibliothek mit vielen tausend Bänden, lag ein Apfel, dick wie ein Kürbis. Mitten im Raum stand ein Käfig. Darin scharrten vier Hühner, groß wie Schwäne. Während sich Vater mit Professor Drosse unterhielt, beobachtete Jens neugierig die Riesenhennen. Die Tiere waren munter und voller Kraft. Drei buntgefiederte Hennen stolzierten flügelschlagend im Käfig auf und ab. Die vierte Henne erhob sich gerade vom Nest. Sie hatte ein mattbraunes Ei gelegt. Das Ei war so groß wie die zusammengelegten Fäuste von Jens. Was war das für ein phantastisches Reich, in dem Professor Drosse lebte? Lunaentdecker und Raketenreisende schienen im Vergleich mit Professor Drosse alltägliche Menschen zu sein. Zauberhafter als Elektronenmaschinen und moderne Verkehrsmittel waren die Geheimnisse der Natur, die dieser Mann hütete. Zuerst wirst du Biologe, dachte Jens. Und dann schaffst du diese eigenartige Welt von Professor Drosse auf den Mond. Wenn Mutter dort mit Pflanzen experimentiert, wirst du es mit Tieren tun. Jens bemerkte eine Klappe hinter dem Nest. Das Ei ließ sich also ohne Gefahr aus dem Käfig angeln. Jens war angesichts der mächtigen Hühner etwas mulmig im Bauch. Als er das mattbraune Ei in der Hand hielt, war er von dem Gewicht betroffen. Das Ei wog mindestens ein Pfund. Vorsichtig legte er es auf den Schreibtisch, neben den kürbisartigen Apfel. »Na?« fragte Professor Drosse und sah ihn schmunzelnd an. »Hast du dich auch nicht verhoben?«
»Es fehlte nicht viel.« Jens ging auf den Spaß ein. Er fragte, indem er auf Apfel und Ei deutete: »Wird bei Ihnen alles so groß?« Professor Drosse nickte. »Alles. Aber schieß los. Was wolltest du wissen? Auf jede Frage eine Antwort.« »Wie machen Sie das? Zauberei?« »Aber natürlich. Ich bin Calageni, der Welt größter Zauberer.« Professor Drosse winkte Jens und trat ans Fenster. »Und dort arbeiten meine Zaubergehilfen Tag und Nacht in ihren Hexenküchen.« Professor Drosse zeigte auf Hochhäuser und Laboratorien. »Dort stehen junge Menschen an Analysewaagen, pH-Meßgeräten, an Fotometern, Elektronenmikroskopen, Impulsgeneratoren, hochempfindlichen Verstärkern, an Oszillographen und Millivoltschreibern. Und unsere Zauberwelt ist die Wissenschaft.« Jens staunte. Diese Biologen waren Physiker und Chemiker zugleich. »Mein Freund Meckie möchte ein Meerschweinchen auf den Mond schicken«, sagte er. »Wird es sich da auch verändern, vielleicht größer werden oder sich vermehren wie die Kaninchen in Australien?« Professor Drosse lachte. »Wenn wir ein bißchen nachhelfen, warum nicht? Wir können durch Hybridisation, also durch Kreuzung entfernter Verwandter, eine Steigerung der Leistungen erzielen. Das zeigen dir dieser Apfel, die Hühner und das Ei. Wir verändern die Erbanlagen durch Bestrahlung, durch Behandlung mit Kolchizin und Acenaphten und durch extreme Temperaturen.« Jens verstand höchstens die Hälfte der wissenschaftlichen Erklärungen. Aber ganz genau verstand er, daß hier ein ähnlicher Konstrukteur wie sein Vater vor ihm stand. Professor Drosse war eben ein Konstrukteur der Natur. Durch Menschen wie Professor Drosse war die Biologie noch immer der billigste Lieferant von Nahrungsmitteln. Diese Menschen sorgten dafür, daß auch für zehn Milliarden Menschen und mehr auf der Erde der Tisch reich gedeckt war und keiner Hunger leiden mußte. Professor Drosse sagte: »Es ist in Ordnung, daß du dir jetzt schon Gedanken darüber machst, was der achte Kontinent an großen Möglichkeiten für uns bietet.«
Vater Dietrich war stolz. »Sie haben eine Arbeitsgemeinschaft ›Lunaentdecker‹ gegründet.« »Lunaentdecker?« Professor Drosse wiegte anerkennend den Kopf. »Nach der Mondbesiedlung werden sie also den achten Kontinent für die Arbeiten entdecken, die wir hier angefangen haben.« »Nicht schlecht«, sagte er zu Jens. »Gut sogar. Wenn ihr Lust habt, könnt ihr euch bei uns umsehen. Wir brauchen Nachwuchs.« Professor Drosse führte Jens zwei Stunden lang durch sein Reich. Er zeigte ihm Kartoffeln, jede groß wie ein Kinderkopf, erklärte, daß durch diese Züchtung der Herstellerpreis für ein Kilogramm Kartoffelstärke weit unter den Produktionskosten für chemische Stärke liegt. »Wir haben die Natur in unseren Dienst gestellt. Und die Natur ist der billigste Produzent auf der Erde.« Jens sah in Gewächshäusern Tomaten, rot, fleischig, im Umfang wie Fußbälle. Erbsen wuchsen in Riesenschoten auf Bäumen. Ein Versuchsfeld zeigte fingerdicke Getreidehalme, die aufrecht wie Stöcke im Boden standen. Jedes Korn der vollen Ähre war groß wie eine Bohne. Unter dem Apfelbaum mußte Jens mit größter Vorsicht durchgehen. Wer will schon gern einen Apfel von einem Kilogramm Gewicht auf den Kopf bekommen? In den Ställen stand kräftiges Vieh. Kühe zupften am Heu. Es waren mächtige Tiere mit schweren Eutern. Sechs Zentner schwere Schweine grunzten in ihren Boxen. Hier zeigte die Natur, was sie unter menschlicher Leitung vermochte. Zum Abschied gab Professor Drosse Jens eine Mohrrübe. Die Mohrrübe war einen Meter lang. Jens schulterte sie wie ein Gewehr, und Professor Drosse sagte: »Die Mohrrübe gibst du deinem Meerschweinchen mit auf den Mond. Als Marschverpflegung sozusagen. Und nun auf Wiedersehen.« Mit einer Quicktaxe fuhren sie nach Haus. Jens lehnte seinen Kopf an die Schulter des Mannes neben sich. Wie schön, daß man so einen erwachsenen Vater hatte. Schläfrig sagte Jens zu dem vergnügt schmunzelnden Mann: »Also von nun an werde ich bestimmt keine Zicken mehr machen.«
»Macht doch keine Zicken«, hatte Professor Drosse zu seinen aufgeregt kakelnden Hühnern gesagt. Jens hatte dies sofort in sein Vokabular aufgenommen. Aber Jens machte bald darauf nicht nur Zicken, sondern einen folgenschweren Fehler. Das geschah am 10. Juli 2071.
7. KAPITEL Einer zuviel im Lunakurier Am 10. Juli 2071 gab es im Haus Cesare am schönen Boulevard Zampetta drei Frühaufsteher. Die Sonne kletterte um vier Uhr aus ihrem Wolkenbett und mühte sich eine Stunde lang, den Dunst der Nacht zu vertreiben. Als sie das erste Mal mit ihren Strahlen über die Stadt blinzelte, war es fünf Uhr. Im sechsten Stock des Hauses Cesare fuhr einer dieser Sonnenstrahlen durch ein weit geöffnetes Fenster und traf auf eine Fotozelle. Die Fotozelle war auf einen Wecker montiert worden und löste einen Kontakt aus. Der Wecker begann zu klingeln. Ein schwarzer Strubbelkopf fuhr aus den Kissen. Claudia war erwacht. Sie gähnte und sprang dann schnell aus dem Bett. Ihre Füße schlüpften in ein Paar rote Pantoffeln. Sie lief eilig in den Flur zum Videotelefon und rief Lunikport, Zimmer 1311. Auf dem Bildschirm erschien ihr Vater. Er rasierte sich gerade. Mit Genuß ließ er den Elektroapparat um die Backen sausen. »Pöh«, sagte Claudia enttäuscht. »Du bist schon auf?« »Morgen, Sprottenkopf.« Vater Steinmann winkte vergnügt mit dem schnurrenden Apparat. »Steck den Kopf zum Fenster hinaus, damit dir der Morgenwind die Haare kämmt. Oder hast du inzwischen einen Kamm?« Claudia zupfte ärgerlich an den schwarzen Gräten. »Du bist gemein, Vater. Wieso bist du schon auf? Ich wollte dich überraschen.« »An so einem Tag? Soll ich dir etwas verraten? Ich habe Lampenfieber.« »Ach, Vater, hör doch auf.« Vater Steinmann rasierte sich weiter und zwinkerte seiner Tochter zu. »Setz dir eine Perücke auf, wenn du nach Lunikport kommst. Hier werden nur Leute hereingelassen, deren Haare länger als fünf Zentimeter sind. Das ist Gesetz.« Claudia machte ein böses Gesicht. Vater Steinmann lachte. Dann lenkte er ein. »Na, was gibt's, Sprottenkopf?«
Claudia trat ganz dicht ans Telefon und fragte leise: »Ist alles in Ordnung? Und darf ich dir nun Trickie mitgeben?« »Trickies Mondtaufe geht in Ordnung«, sagte Steinmann würdig. »Trickie wird von mir zum ersten Mondpinguin ernannt.« »Vielen Dank«, flüsterte Claudia. »Du bist eben doch ein guter Vater.« Sie verabschiedete sich hastig. In ihrem Zimmer nahm sie Trickie vom Regal und tanzte mit ihm durchs Zimmer. »Du fliegst zum Mond, zum Mond, zum Mond…«, sang sie. Trickie, zehn Zentimeter hoch, schwarzer Frack, weiße Brust, spitzer Schnabel und große Glasaugen, sah sie unbewegt an. Trickie war Claudias Talisman. Zehn Jahre lang hatte er sie tapfer begleitet, aus dem Kinderwagen in die Buddelkiste, aus der Buddelkiste in den Kinderhort, aus dem Kinderhort ins Internat. Nun flog er zum Mond und brachte die Meldung dorthin, daß Claudia bald nachkommen würde. Logische Fortsetzung des gemeinsamen Lebensweges: vom Internat zum Mond. Claudia schlich ins Nebenzimmer und weckte ihre Mutter. Es war 5.30 Uhr. Drei Stockwerke tiefer schnellte der Zeiger einer Wanduhr vor und setzte ein Radio in Gang. »Hier ist die Mondstadt Clavius, die Metropole des achten Kontinents«, schmetterte ein Sprecher in das abgedunkelte Zimmer. Jens sprang mit einem Satz aus dem Bett und sah sich verwirrt um. Wie war er auf den Mond gekommen? Und wieso war es so dunkel? Der Sprecher schnurrte weiter: »Guten Morgen, liebe Freunde auf der Erde. Wir senden Tanzmusik von Moskau nach Paris.« Ach, so war das. Jens sackte auf die Bettkante zurück und sah sich um. Bücher lagen auf dem Tisch. Der Anzug hing sauber über dem Stuhl. Der Nachlaß Helmut Schulzes war ordentlich verpackt. Jens war auf der Erde. Er war zu Haus. Er gähnte, reckte die Arme und machte zehn Kniebeugen. Dann zog er die Fenstervorhänge zurück. Zufrieden blickte er in den wolkenlosen Himmel und auf die Straße hinunter. Ein Sprengwagen ließ seine Wasserfahnen über den Asphalt wehen. Als Jens sich umdrehte, sah er das Datum unter der Wanduhr leuchten. 10. Juli 2071.
Um sieben Uhr würde der Sonderomnibus mit den Lunaentdeckern zum Lunikport fahren. Ein großartiger Tag war das. Jens reckte die Arme, daß die Schultern knackten. Pfeifend ging er in die Küche, um das Frühstück zu machen. Hinter ihm schmetterte die Tanzmusik. Zur gleichen Zeit rauschte im Erdgeschoß, Appartement Bluffke, die Brause. Pickwick stand in der Tür des Badezimmers und zitterte wie Espenlaub. Eiskalte Luft wehte ihn an. Pickwick hob die Pfoten und fror. Meckie teilte die Ängste seines Freundes nicht. Er hatte eine kräftige Wurzelbürste in der Hand und schrubbte sich den Körper, bis die Haut feuerrot war. »Junge, du holst dir den Tod«, jammerte Mary Bluffke, die gerade mit dem Frühstückstablett vorbeiging. Sie stellte die Brause ab. »Nein, so ein Unsinn. Du bist doch noch ein Kind.« Pickwick bellte zustimmend. Dann verschwand er im Wohnzimmer, aus dem der Geruch frischer Schrippen wehte. Meckie sann den Worten seiner Mutter nach. Was für einen Unterschied gab es zwischen einem Erwachsenen unter der kalten Brause und einem Kind unter der kalten Brause? Komische Ansichten hatte sie manchmal. In seinem Zimmer nahm er den Expander vom Haken. Er stellte den Fuß auf einen Bügel. Den anderen Bügel zog er an den Federn hoch, bis zum Bauchnabel, mit einem Ruck. Ich bin ja toll in Form heute, dachte Meckie stolz. Eigentlich wäre ich schon reif für die Mondpartie. In der Ecke lag die Riesenmohrrübe, an deren Spitze Laura herumknabberte. Bis jetzt hatte sie fünf Zentimeter geschafft. Mit dieser Marschverpflegung könnte sie bis zum Merkur fliegen, dachte Meckie. Er nickte Laura zu. »Du fliegst zum Mond, heute noch. Und die Verpflegung für eine ganze Meerschweinchenfamilie bekommst du mit.« Laura knabberte mit spitzen Zähnen, ungerührt, mit leise zitternden Hängebacken. Der Bus fuhr pünktlich um sieben Uhr vor. Aus dem Haus trat zuerst Jens. Er hatte seinen neuen Anzug an und sah sehr erwachsen aus. Die
Taschen beulten etwas: der Nachlaß Helmut Schulzes. Vielleicht nimmt Beyer die Sachen mit, dachte Jens. Ein niedriges Fahrzeug wartete auf der Straße, mit Stabilisierungsflossen am Heck und Scheinwerferaugen am Bug. Der Bus war ein eleganter Zehnsitzer. Die Glaskuppel schnurrte zurück. Aus dem Bus blickten Fernand Witsch, Heinrich Schorr, die Zwillinge Peter und Paul, Anita, Hänschen. Die Arbeitsgemeinschaft »Lunaentdecker« sah Jens mit vielen erwartungsvollen Augen an. Heinrich Schorr zeigte auf den Bus. Verträumt sagte er zu dem einsteigenden Jens: »Besser kann Lunakurier auch nicht sein. Den Bus sollten sie für uns zur Rakete umbauen.« Gleich darauf kam Claudia, ein Täschchen fest unter den Arm geklemmt. Hänschen, der hineinschauen wollte, bekam einen Klaps auf die Finger. Und dann ging der Vorhang hoch zur Galavorstellung des Morgens. Mac Bluffke trat aus dem Haus. Er trat aus dem Haus, als gedächte er alle Brücken hinter sich abzubrechen. Ein Robinson verließ das Eiland, auf dem er so lange gehaust. Meckie trug wieder die smaragdgrüne Hose mit dem Flimmereffekt, die so sehr an eine Eidechse erinnerte. Er hatte den schwarzgrauen Blouson angezogen, der ihm die geheimnisvolle Entdeckernote gab. Meckie hatte die Schildmütze auf dem roten Haar. Ihr Rand schnitt genau an den Ohren ab. Mac trug die Riesenmohrrübe geschultert. Bahn frei für den Artilleristen der verblichenen Königin Viktoria. So sah das aus. Neben Mac trottete mit wedelndem Schweif der beste Spürhund der Welt. Pickwicks Fell war gebürstet. Die Augen leuchteten. Und im Maul des stolzen Pickwicks schwankte der Korb mit der ängstlich fiependen Laura. Es war eine großartige Schau. Jens wurde blaß vor Schreck und Überraschung. Heinrich Schorr schwebte vom Traum überwältigt in die Südsee davon. Hänschen putzte aufgeregt die Nase. Peter und Paul sahen sich an und grinsten verlegen. Nur Claudia und Anita prusteten vor Lachen.
Fernand Witsch sah machtlos diesen Wanderzirkus auf sich zureisen, einsteigen und den Fond seines Busses mit Beschlag belegen. »Wohin willst du denn mit deiner Menagerie?« fragte er schließlich fassungslos. »Zum Lunikport«, erklärte Mac Bluffke mit großer Selbstverständlichkeit. Pickwick bellte und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Fernand Witsch sank ergeben in seinen Sessel zurück und drückte auf einen Knopf. Automatisch schloß sich die Kuppel. Er nannte das Fahrtziel »Lunikport« und stellte die automatische Steuereinrichtung ein. Leise begann eine Turbine zu surren. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Die Turbine drehte nach wenigen Sekunden auf volle Touren. Der Bus schoß wie ein Pfeil davon. Chefkoordinator Dietrich erwartete die Gruppe vor dem Eingang des Raketengeländes. Neben ihm stand sein Assistent, Klaus-Peter Schwarz. Dietrich begrüßte Witsch. »Um zehn Uhr startet Lunakurier. Sehen Sie sich mit den Kindern den Flugkörper an. Dann fahren Sie zurück zum Haus der Zweitausend. Von dort dürfen Sie den Start verfolgen. Mein Assistent begleitet Sie.« Vater und Sohn begrüßten sich. Dietrich strich Jens mit der Hand über das Haar. »Na, mein Junge? Anschließend kannst du mit Mutter sprechen.« Jens nickte tapfer, allerdings nicht ohne Seitenblick auf Meckie. Den Schock hatte er noch nicht verwunden. Mac Bluffke salutierte mit der Mohrrübe. Pickwick knurrte vor Freude. Bellen konnte er nicht, weil ihm der Korb mit Laura im Maul hing. Dietrich sagte streng: »Guten Morgen, Meckie, aber wir sind hier nicht im Zirkus. Hund rechts raus. Meerschweinchen rechts raus. Mohrrübe bei Fuß.« Dann wandte er sich an Schwarz. »Schaffen Sie die Menagerie zum Pförtner.« Schwarz nahm dem erschrockenen Meckie die Mohrrübe ab, faßte den jaulenden Pickwick am Halsband und winkte Meckie. Der mußte den Korb aufnehmen und ging mit eingeknickten Knien, ganz der alte Meckie, hinter dem Assistenten her. K. o. dachte Meckie, ich bin ohne Auszählen k. o.
Der Pförtner freute sich über den Besuch. Da er gerade frühstückte, schnitt er eine dicke Scheibe von seiner Leberwurst und gab sie Pickwick. Pickwick schnalzte mit der Zunge. Er wurde fahnenflüchtig und anerkannte den Pförtner als neuen Herrn. Während der Pförtner mit dem Hund herumspielte, öffnete Meckie blitzschnell den Korb und steckte die leise fiepende Laura in die Hosentasche. Ein schneller Blick. Schwarz hatte nichts gesehen. Fernand Witsch marschierte mit seiner Arbeitsgemeinschaft zu der Flotte der weißen Luftgleiter, die rechts neben dem Haus der Zweitausend parkte. Assistent Schwarz teilte die Fahrgäste ein. Die Zahl war ungerade. Einer mußte zurückbleiben. Witsch sah unschlüssig in die Runde. Jens trat mit plötzlichem Entschluß vor. »Schicken Sie mir ein Fahrzeug zurück«, sagte er. »Ich kenne ja das Gelände. Sollte mein Vater inzwischen kommen, fahre ich mit ihm.« »In Ordnung«, brummte Fernand erleichtert. Er stellte mit Schwarz die Kontakte und das Fahrtziel ein. Dann kommandierte er: »Abfahrt.« Die Luftgleiter schwebten nacheinander vom Platz, ordneten sich ein und glichen fliegenden Wildgänsen. Jens sah ihnen nach, bis sie am Horizont verschwanden. Dort hinten stand Lunakurier, fertig zum Abflug auf den Mond. Er vergnügte sich ein Weilchen damit, zwei Schraubenmuttern, die er auf dem Parkplatz gefunden hatte, in ein kleines Loch zu schnipsen, und hatte es bald geschafft, sie aus einem Meter Entfernung sicher ins Ziel springen zu lassen. Kein Luftgleiter war zu sehen. Jens blickte sich um. Das Haus der Zweitausend lugte hinter den hohen Platanen hervor. Es war still. Nur ein paar Vögel zwitscherten in den Zweigen. Auf einmal dachte Jens an Zepp. Ob Zepp wieder in Ordnung war? Oder hatte ihm Vater die Kontaktlampe nicht wieder eingesetzt? Ob Zepp noch stotterte? Was mochte mit Zepp geschehen sein? Jens bummelte zögernd auf das weiße Haus zu. Fenster blickten ihn stumm an. Viele hundert Fenster. Links oben war Vaters Zimmer. Zimmer Nr. 1.
Du könntest Gisela guten Tag sagen, dachte Jens. Und du könntest auch Zepp guten Tag sagen. Warum eigentlich nicht? Das war nicht gegen die Regel. Das war durchaus nicht gegen die Regel. Fünf Minuten später stand Jens mit klopfendem Herzen vor der Tür, die die schwarze Ziffer 1 trug. Er drückte auf die Klinke und trat ins Zimmer. Unter einem Schreibtisch schoß ein scharfer Lichtstrahl hervor. Zwei Antennen spielten. Dann brabbelte eine Stimme: »Zepp. Hier ist Zepp.« Jens war überwältigt vom Glück. Er kniete auf dem Fußboden und lockte: »Anfrage Jens auf Kanal 10. Alles in Ordnung, Zepp?« Zepp schaukelte unter dem Schreibtisch hervor. Das rote Lämpchen leuchtete auf seinem Rücken. Er meldete: »Zepp steht zu Diensten.« Keine Gisela war zu sehen. Kein Mensch war im Flur. Zepp schnurrte folgsam wie ein Hund hinter Jens her. Jens sagte zwar einmal mit halber Entschlossenheit: »Zurück, Zepp.« Aber Zepp registrierte das flaue Kommando nicht. Und so schwebte er hinter Jens her, die Rolltreppe hinab und auf den Platz. Dort stand jetzt ein Luftgleiter. Jens kletterte in das Fahrzeug. Zepp schwebte hinter ihm her und kroch unter den Sitz. Was ist schon dabei? dachte Jens. Was soll schon passieren? Zepp wird mich ein Weilchen begleiten. Vielleicht läßt ihn Vater sogar mit nach Haus. Aber es passierte eine ganze Menge. Scheinbar hatte sich ein Getriebe in Gang gesetzt und arbeitete unaufhaltsam an einem Verhängnis. Und Jens hatte mit Zepp den Kontakt ausgelöst. Laura flitzte durch die blankpolierte Kabine für Tiertransporte. Sie fiepte ängstlich. Es klang wie das feine Zirpen eines Funkgerätes. Aber niemand achtete darauf. Meckie hatte gähnend die gelehrten Erklärungen von Fernand Witsch und Klaus-Peter Schwarz an seinen Ohren vorüberrauschen lassen. Im Herzen die Niederlage vor dem Eingang von Lunikport, in der Tasche die ungeduldig krabbelnde Laura, hatte Meckie den Entschluß zu kühner Tat gefaßt. Wenn er auch nicht sein Ziel erreichte, so sollte doch Laura in die Schar der mutigen Entdecker eingereiht werden.
Als Klaus-Peter Schwarz die Luke zur Kabine für Tiertransporte geöffnet hatte, sie dann aber aus Versehen nicht wieder schloß, war Lauras Schicksal von ihrem Herrn Mac Bluffke besiegelt worden. Laura hatte einen Stoß bekommen und war in die Kabine gepurzelt, worauf Meckie den offenstehenden Lukendeckel mit Gewalt zu Boden drückte. Es gab einen leisen Knacks. Der Lukendeckel sperrte nun, zwei Zentimeter über dem Boden. Fernand Witsch, Klaus-Peter Schwarz und die jungen Lunaentdecker hatten schließlich die Rakete fünfzehn Minuten vor neun Uhr verlassen. Drei Minuten hatten sie noch an der Rampe gewartet. Der zum Haus der Zweitausend dirigierte Luftgleiter war jedoch nicht wieder erschienen. Schwarz schlug ein kurzes Gespräch mit den Raketentechniken im benachbarten Hangar vor. Sie müßten sich beeilen. Bald würde der Platz geräumt werden. Eine Stunde vor dem Start hätten die verschärften Sicherheitsvorschriften in Kraft zu treten. »Und Jens?« Schwarz, dem die Zeit unter den Nägeln brannte, hatte sogleich Worte des Trostes und der Beruhigung: Entweder würde der Chefkoordinator mit Jens zur Rakete kommen, oder Jens würde allein im Luftgleiter heranreisen und von einem der Raketentechniker hinter ihnen hergeschickt werden… Fünf Minuten vor neun stand die Gruppe im Hangar. Die angehenden Lunaentdecker interviewten die Raketentechniker. Beyer, Berthold und Steinmann, die auf dem Weg zum Lunakurier waren, sahen den Auflauf vor dem Hangar. Sie wendeten ihren Luftgleiter und fuhren zu den Kindern. Es gab ein großes Hallo. Meckie scharwenzelte begeistert um diese echten Lunaentdecker herum. Claudia drückte ihrem Vater den Trickie verstohlen in die Hand. Plötzlich glaubte Heinrich Schorr zu träumen: Ein weißer Schwan segelte über den Platz. Der Schwan schwebte in Richtung Haus der Zweitausend davon. »Ein Schwan«, rief Heinrich Schorr selig.
Fernand Witsch schaute angestrengt hinter dem Vogel her. Dann sagte er: »Unsinn. Das ist ein Luftgleiter. Jens hat uns nicht gefunden und fährt zurück.« Was aber war wirklich geschehen? Jens war gleich nach dem Abzug der Gruppe beim Lunakurier eingetroffen und hatte den Luftgleiter verlassen. Damit begann der erste Ärger mit Zepp. Zepp war schuld am Rückflug des Luftgleiters. Ehe er aus dem Fahrzeug schnurrte, krächzte er wie gewohnt: »Zurück zum Haus der Zweitausend.« Der Luftgleiter wendete und flog davon. So standen nun beide verlassen vor der Raketenrampe. Niemand da, dachte Jens. Keiner hat auf mich gewartet. Dabei hätte ich mir so gern den Lunakurier von innen angesehen. Jens blickte sich um. Es war still auf dem Platz. Nur vom Hangar hörte er helles Lachen. Dorthin schienen sich die Raketentechniker begeben zu haben. Jedenfalls war im Moment kein Mensch zu sehen. Es fehlten noch fünf Minuten an neun Uhr. Der Platz mußte geräumt werden. Beyer, Berthold und Steinmann würden kommen, und damit würde Schluß sein mit der Raketenbesichtigung. Ausgerechnet er sollte den Lunakurier nicht kennen? Das war blamabel. Den Spott würde er nicht ertragen. Jens wußte selbst nicht mehr, wie es gekommen war. Jedenfalls stand er plötzlich auf der Rolltreppe und ließ sich zur Raketenrampe hinauftragen. Zepp schwebte neben ihm. Im Inneren der Rakete war es still. Fasziniert schaute sich Jens in der schmucken Kabine um, starrte auf die geheimnisvollen Armaturen. Regler, Zeichen und Zeiger blinkten stumm und tot. Nur ein Ionisator fächelte frische Luft durch den Raum. Als Jens an den Wandsesseln vorbeistrich, stolperte er über eine Luke. Der Deckel sperrte etwa zwei Zentimeter auf. Aus dem Raum darunter klang leises Zirpen. Jens legte sich auf den Bauch und preßte das Ohr an die Öffnung. Das Zirpen war jetzt ganz deutlich zu hören.
Jens kommandierte: »Zepp! Unbekanntes Geräusch orten.« Zepp ließ die Antennen spielen. Die Scheinwerfer leuchteten auf und erloschen wieder. Zepp brabbelte: »Kein Gegenstand.« Kein Gegenstand? Was denn? In Jens erwachte die Neugier. Er zerrte am Lukendeckel, bis es wieder einen Knacks gab. Die Klappe schwang leicht zurück. Jens kletterte langsam die Stufen herunter. Zepp schwebte hinterher. Der Junge blickte sich staunend in der Kabine um. Er sah die Halteringe an der Wand und die Lederschlaufen, das Aquarium und das Terrarium. Ein Raum für Tiertransporte also. Jens dachte an Professor Drosse. Also war er doch schon soweit? Tiere wurden endlich auf den achten Kontinent gebracht? Um ein Haar hätte er diese großartige Entdeckung verpaßt. Er horchte aufmerksam und angestrengt. Das Zirpen kam aus dem Terrarium. Und die Glasplatte des Terrariums war zurückgeschoben. Jens traute seinen Augen nicht. Laura trippelte in dem Glaskäfig auf und ab. Sie war offensichtlich auf das Terrarium geklettert und in den Glaskasten gefallen. Wie war Laura in die Rakete gekommen? Als Jens nachdenklich das Tierchen in die Hand nahm, summte Zepp aufgeregt und stieß an die Decke, direkt an den Sicherheitsknopf, der die Raketenbesatzung vor vorwitzigen Tieren schützen sollte. Der Lukendeckel klappte herab. Jetzt sperrte er nicht mehr, sondern schloß den Raum hermetisch ab. Eine Klimaanlage pustete frische Luft in das Gefängnis. Für alles war gesorgt. An alles war gedacht. Es gab nur keine Möglichkeit zum Entweichen. Jens rüttelte am Lukendeckel, aber der rührte sich nicht. Jens drückte den Sicherheitsknopf. Der Sicherheitsknopf sorgte eben nur für die Schließung des Käfigs, nicht für das Öffnen. Nichts geschah. Jens war gefangen. Er klopfte an die Decke. Sie war schalldicht abgepolstert. Kein Laut drang an die Außenwelt. Ebenso war kein Ton der Außenwelt in diesem Käfig zu vernehmen. Jens blickte auf die Uhr. Es war 9 Uhr und 5 Minuten. Beyer, Berthold und Steinmann würden jetzt die Kabine über ihm betreten und den Lunakurier startklar machen. Raketentechniker mußten
die letzten Vorbereitungen treffen. Irgendeiner kam sicher noch einmal in die Kabine für Tiertransporte. Vielleicht brachten sie Tiere an Bord. Es gab keinen Grund zur Aufregung. Damit nicht noch mehr Unheil passierte, drehte Jens vorsichtig die Kontaktlampe von Zepps Rücken los. Er nahm Laura auf den Schoß, setzte sich in die Ecke und wartete. Dreißig Minuten wartete Jens ruhig und ergeben. Behalte die Nerven, dachte er. Werde nicht nervös, Junge. Was soll schon passieren? Irgend jemand muß doch gesehen haben, wie du in den Lunakurier hineingegangen und nicht wieder herausgekommen bist. Ganz sicher macht jemand diesen Käfig noch einmal auf. Die Uhr zeigte 9 Uhr 45 Minuten. Laura fiepte leise. Zepp hockte stumm und tot auf dem Boden. Es war still. Nur ein weicher Luftzug strich durch den Raum. Das war die Klimaanlage. Jens setzte Laura ab. Ihm wurde auf einmal heiß. Er stieg die Stufen hinauf und pochte an den Lukendeckel. Seine Faust federte zurück wie beim Schlag gegen einen Punchingball. Jens drückte wieder auf den Sicherheitsknopf. Obwohl das nun wirklich sinnlos war. Noch fünf Minuten. Wenn die Rakete pünktlich startet, fliegst du zum Mond, dachte Jens. Bei diesem Gedanken wurde ihm die Kehle trocken. Aufgeregt hämmerte sein Herz. Jens erinnerte sich. Die Rakete flog mit einem neuen Treibstoff und Spezialtriebwerken. In zwölf Stunden würde Lunakurier in der Mondstadt Clavius sein. Zwölf Stunden, ein Rekord und doch eine lange Zeit. Noch drei Minuten. Jens spürte seine Handflächen feucht werden. Kam denn keiner? Warum fragte niemand nach ihm? Er dachte plötzlich an den Testographen. »Vergiß nie, was du versprochen hast.« Jens sah seinen Vater vor sich. Vater hatte traurige Augen. Er würde Zepp nicht vorfinden. So hält mein Sohn also seine Versprechen, würde Vater denken. Nein, das mußte er denken. Und wenn er erfuhr, daß Jens in der Rakete saß? Es war nicht auszudenken, was dann geschah. Laura kam fiepend auf Jens zugetrippelt. Der dachte an Meckie. Einen Moment stieg heiße Freude in ihm auf, Wette gewonnen. Aber Pickwick wirst du ihm lassen, dachte Jens. Meckie soll Pickwick behalten.
Jens blickte starr auf die Uhr. Der Sekundenzeiger trat den Endspurt an. Und niemand kam. Was sollte Jens auf dem Mond nur anfangen? Dreißig Sekunden. Die Hand stieß an die Jackentasche. Papier knisterte. Der Brief von Helmut Schulze und seine Utensilien. Immerhin ein Ziel und eine Aufgabe. Vier, drei, zwei, eins, null. Jens spürte einen Ruck. Das Blut in den Adern schien zu Blei zu werden. Er wurde plötzlich schwer, sehr schwer. In der Ferne hörte er dumpfes Brausen. Die Rakete war gestartet. Und Jens flog zum Mond.
8. KAPITEL Die wundersame Reise des Jens Dietrich Zuerst war die Landmasse des eurasischen Kontinents wie ein mächtiger Schatten zu erkennen. Dann erglänzten die Weltmeere wie Platinflecken. Und schließlich wurde die Erde zur gewaltigen Kugel. Ein bezauberndes Farbenspiel begann. Am östlichen Horizont hockte blauschwarz die Nacht. Sie schickte graue Dämmerung in den Tag, der hell und sanft über den Weiten Sibiriens, über Europa und dem Atlantik herrschte. Die Erdkugel trat immer mehr zurück. Bald schwebte sie im samtschwarzen Raum, von hellblauer Aureole umgeben. Dieser Streifen wurde allmählich dunkler, wandelte sich in Türkis, glitt ins Blau, ins Violett und löste sich langsam auf. Schließlich ruhte der Planet in majestätischer Schönheit, atemberaubend mit seiner riesigen Wucht. Bordmechaniker Berthold mochte sich nicht von diesem herrlichen Anblick lösen. Zugleich lauschte er dem weißhaarigen Wissenschaftler, der neben ihm stand und ebenso hingerissen war. Professor Fernando Castella, ein Metallurge, den seine Forschungsarbeiten zum Mond trieben, rezitierte mit singender Stimme: »Hast du Verstand und bist nicht ganz beraubt des innren Lichtes auf die Welt gekommen, so will ich dir von dort der Erde Antlitz, das leuchtende, aus jenen Höhen zeigen; schau nieder, wie vom Strahlenglanz der Sonne der weite Ozean schier blendend schimmert! Schon siehst du, wie zu einer kleinen Kugel, was eben noch unübersehbar war, des Erdballs Masse sich zusammenzieht…« »Das ist schön«, sagte Berthold. »Ist Ihnen das eben eingefallen, Professor?«
»O nicht doch.« Professor Castella faßte sich verlegen an die Brille. »Ich bin ein trockener Metallurge, den die Aluminiumvorkommen auf dem Mond interessieren. Das hat ein Landsmann von mir geschrieben.« »Worte wie Musik sind das«, flüsterte Berthold. »Es ist gut, daß jetzt auch unsere Dichter zum Mond reisen.« Professor Castella spitzte die Lippen. Er hob den Finger. »Nein, nein. Es ist nicht so, wie Sie denken.« Genüßlich bewegte er den schmalen Mund. »Mein Landsmann heißt Giordano Bruno und lebte vor vierhundertfünfzig Jahren. Nie sah er die Erde aus dem Weltraum. Seine Reise durch die Sonnenwelt hat er nur geträumt… nur geträumt. Und am Ende seines Traumes loderte der Scheiterhaufen. Bruno wurde als Ketzer von den Häschern der Inquisition verbrannt.« »Professor, was war das nur für eine Welt, in der die Wahrheit ermordet wurde?« Castella putzte nachdenklich seine Brille. Dann sagte er leise: »Es trifft nicht ganz, was Sie da sagen, lieber Berthold. Die Wahrheit läßt sich nicht auslöschen, nicht zum Verstummen bringen, nicht ermorden. Der Mann Giordano Bruno starb. Aber seine Ideen lebten weiter, beeinflußten Leibniz, Goethe und gaben uns ein interessantes Weltbild mit ersten materialistischen Zügen. Heute hat sich die materialistische Denkweise auf der ganzen Erde durchgesetzt. Wir sind eine Welt. Und das leuchtende Antlitz sehen wir mit den Worten Giordano Brunos.« Der Professor nickte Berthold freundlich zu und setzte sich aufatmend in einen der weichen Sessel. Berthold sah nachdenklich den Professor an. Er sah das feine silberweiße Haar über der schmalen Stirn, das kühne, gut geschnittene Profil. Ein interessanter Mann, dachte Berthold. Dietrich hatte den Professor heute morgen der Mannschaft mit den Worten anvertraut: »Ich gebe euch eine Kapazität an Bord. Professor Castella wird im Mondwerk an einer neuen Legierung für Raumschiffe arbeiten. Betrachtet es als eine Auszeichnung, daß gerade ihr ihn mit Lunakurier zum Mond bringt.« Außer der Besatzung und Professor Castella waren noch ein Diplomingenieur und zwei Biologen an Bord. Der Diplomingenieur hieß Friedrich Klein, wog im Gegensatz zu seinem Namen jedoch zwei Zentner.
Er aß ununterbrochen und mit gutem Appetit. Friedrich Klein sollte den Direktor des Atomkraftwerkes in der Mondstadt Clavius ablösen. Die beiden Biologen waren junge Männer. Sie hießen Mückritz und Benjamino. Mückritz sollte von Frau Svenson eingearbeitet werden und dann für zwei Monate ihre Aufgabe übernehmen. Die Bodenklappe hinter dem Wandsessel war fest verschlossen. Wer ein wenig kurzsichtig war wie Professor Castella, sah noch nicht einmal die feine Fuge im weichfedernden Kunststoffboden. Der achte Passagier lag in einem seltsamerweise hellerleuchteten Raum auf dem Rücken. Laura hatte sich in seine Achselhöhle gekuschelt. Tot und stumm hockte Zepp neben ihm. Der achte Passagier hatte die Augen geschlossen und schnarchte leise, von Müdigkeit, Aufregung und Erschöpfung überwältigt. Der achte Passagier sah nichts von dem, was frühere Kosmonauten gesehen und niedergeschrieben hatten. Er sah nicht den schwarzen Himmel, der einem frischgepflügten Boden gleichen sollte, mit den Sternen als Saatkörnern darauf. Er konnte nicht die grelle Sonne beobachten, die hier oben tausendmal heller schien als auf der Erde. Ihm drängten sich nicht Vergleiche zwischen Sonnenglanz und flüssigem Metall beim Hochofenabstich auf. Der achte Passagier segelte höchstens wie der kleine Häwelmann im Traumboot durch die schwarze Nacht seines Schlafes. Er schnarchte. Und Laura fiepte leise in ihrer warmen Geborgenheit. Längst hatte die Rakete die zweite kosmische Geschwindigkeit überschritten. Sie flog viel schneller als 11,2 Kilometer in der Sekunde. Vier Zusatztriebwerke waren nach dem Aufstieg von Beyer eingeschaltet worden. Sie jagten Lunakurier vorwärts, unaufhaltsam vorwärts. Beyer saß mit unerschütterlicher Ruhe in der Kanzel. Er fühlte sich weder einsam noch verloren. Für ihn war die Leitbahn zum Mond eine feste Straße durch das Weltall. So wie früher die Menschen vom Äquator sprachen und dabei in Gedanken einen Gürtel rund um die Erdmitte legten, steckte Beyer 348 000 Kilometer zum Mond ab. Er sah dreißig Erddurchmesser aneinandergereiht und mit Kilometersteinen versehen. Tatsächlich gab es auf dieser Chaussee durch das Weltall sogar Kilometersteine.
Nach jedem zurückgelegten Erddurchmesser schwebten zwei Positionssatelliten im Raum, die der Flugkorrektur auf der komplizierten Bahnkurve dienten. Als Beyer das Professor Castella erklärte, zitierte er: »Der Blick der Wahrheit und die Ordnung, die mit Naturgesetzen rechnet, ist dein Begleiter, wird dich sicher und unversehrt durchs Weltall führen!« »Giordano Bruno«, antwortete Beyer. »Ich habe die ›Reise durch die Sonnenwelt‹ gelesen.« »Oh«, Professor Castella lächelte anerkennend, »dann muß ich mich korrigieren. Ich hätte nie gedacht, daß Raumpiloten so belesene Leute sind.« »Ich habe mich schon auf der Universität dafür begeistert. Vielleicht gab Ihr Landsmann sogar den Ausschlag für die Berufswahl.« Beyer war eben unerschütterlich, sogar in seiner Bildung. Er blickte auf die Uhr. Es war elf. Gleich würden sie den Meteorstrom der Tauriden durchlaufen. Beyer rief Steinmann zu: »Frage Beobachtungsstation Alpha, ob Meteoriten auf der Mondleitbahn geortet wurden.« Die Beobachtungsstation »Alpha« schwebte zwischen den Mondleitbahnen 3 und 4. Sie war ein stationäres Raumschiff, das Kontrollfunktionen im Weltraum ausübte. Steinmann stellte die Verbindung her. Auf dem Bildschirm erschien der Kopf eines jungen Mannes. »Sie tauchen jetzt ein in den Tauridenstrom. Vorsicht auf der Höhe 40 000. Querläufer möglich.« Beyer entsicherte den Laser. Steinmann beobachtete aufmerksam das Radargerät. Der Positionszeiger rückte auf 39 000 Kilometer vor. Bei 39 900 Kilometern flammte ein Warnlicht auf. Das Radargerät zeigte einen weißleuchtenden Punkt, der sich mit rasender Geschwindigkeit von der Steuerbordseite näherte.
Beyer drückte den Laser ab. Ein mächtiger Energiestrom flammte auf und jagte in die angegebene Richtung: Ein Blitz auf dem Radargerät, der den weißleuchtenden Punkt verschlang. Der Meteorit war getroffen, erhitzt und in kleine Teile aufgelöst worden, die in gasförmigen Aggregatzustand übergingen. Von dem gefährlichen Meteoriten blieb nur eine Dampfwolke. Raumstation »Alpha« meldete sich. »Tauriden passiert. Keine Gefahr. Wünsche gute Reise.« Steinmann dankte und schaltete »Alpha« ab. Beyer saß nach wie vor unerschüttert und gelassen. Mit Stolz musterte er die Armaturen vor sich. Er war Kapitän auf der Brücke des modernsten und schnellsten Fahrzeuges des neuen Jahrtausends. Seine schwere Hand glitt bedächtig über die Verkleidung des Steuerpultes. Es lag ein wenig Zärtlichkeit in dieser Geste. Beyer blickte über die Schulter. Er lächelte angesichts des Bildes, das sich ihm bot. Größer konnte das Vertrauen nicht sein, das ihm, seinen Kameraden und dem Lunakurier entgegengebracht wurde. Professor Castella hielt den Kopf über Tabellen gebeugt und arbeitete. Er war genauso vertieft wie am Schreibtisch seines Labors. Die Biologen Mückritz und Benjamino lasen. Sie rekelten sich in ihren Sesseln wie in den Polstern eines D-Zug-Abteils. Diplomingenieur Klein hockte wuchtig auf seinem Sitz. Er verzehrte mit Behagen etwas aus einem Döschen. Zwischendurch leckte er sich selbstvergessen den Daumen. Beyer spürte, daß auch er Hunger bekam. Er drehte sich zur Seite und blickte in das runde Gesicht seines Bordfunkers. »Ich wundere mich über dich.« Steinmann hob die Augenbrauen. »Hast du etwas an mir auszusetzen?« Beyer deutete auf die Bordbar. Steinmann machte ein trauriges Gesicht und klagte: »Oje. Du hast recht. Es gibt den alten Steinmann nicht mehr. Der alte Steinmann hätte auf keinen Fall das Essen vergessen.« Er drückte auf den Knopf an der Wand. Geräuschlos glitt die Bespannung beiseite. Ein Büfett schwenkte in den Raum.
Diplomingenieur Klein steckte das Döschen in die Tasche und erhob sich. »Ich habe mich schon gewundert«, sagte er seufzend. Mit Kennerblick legte sich Klein zwei Kaviarbrote, kaltes Huhn, Orangenscheiben und etwas Käse auf den Teller. Außerdem schenkte er sich einen starken Kaffee ein. »So hält man es aus. Bis zum Jupiter hält man es so aus.« Professor Castella nahm sich ein wenig Hummersalat und ein Gläschen Bordeaux. Beyer ließ sich von Berthold ein saftiges Steak mit gerösteten Zwiebelscheiben bringen. Dazu trank er reinen Orangensaft. Alle aßen mit Vergnügen. Am besten schmeckte es Steinmann, der die Spezialitäten der Bordbar probierte und sogar Diplomingenieur Klein schlug. Sie unterhielten sich angeregt, wobei Professor Castella eine humoristische Lektion von der italienischen Küche gab und erzählte, daß die größten italienischen Musiker zugleich hervorragende Köche waren. Als Beispiel nannte er einen Mann namens Rossini. »Gutes Essen gehört durchaus zu den Kulturleistungen der Menschheit«, philosophierte der Professor. Sowohl Klein als auch Steinmann stimmten ihm mit würdevollem Kopfnicken zu. Inzwischen raste Lunakurier mit kosmischer Geschwindigkeit durch den Weltraum. Zwischen Erde und Mond spielten die Funkverbindungen. Als unsichtbare Begleiter reisten elektromagnetische Wellen mit dem Raumschiff. Wissenschaftler und Techniker saßen an den Steuerpulten ihrer Beobachtungsstationen und reichten den Lunakurier wie an geheimnisvollen Fäden von einer Kontrollposition, zur anderen. Um den Raketenkörper tanzten und züngelten Flämmchen. Feinste Teilchen aus den Tiefen des Weltraumes verglühten, ohne den Rumpf beschädigen zu können. Hochfrequenzströme lagen wie ein Schutzschild rund um das schnelle Fahrzeug. Sicher und geborgen wurden so sieben reguläre Reisende und ein blinder Passagier durch das Weltall dem achten Kontinent der Erde entgegengetragen…
Nach 300000 Kilometern Flug meldete sich der Raketenstützpunkt Clavius. In der abgedunkelten Kabine war es längst still geworden. Diplomingenieur Klein lag in seinem zu einem Liegesitz verwandelten Sessel und schnaufte behaglich in tiefem Schlaf. Die Biologen Mückritz und Benjamino schlummerten ebenfalls traumlos. Nur Professor Castella hatte sich ein Soffittenlämpchen angeknipst. Er schrieb mit einem Silberstift zierliche Zeichen auf blütenweiße Bogen. Berthold stand in der Raketenkanzel und sah in die Ferne. Die Sterne schienen ganz nah. Sie funkelten und blitzten mit strahlendem Licht. Wenn er zurückblickte, sah Berthold die Erde, ferner jetzt, aber immer noch groß und wuchtig am Horizont schwebend, in bläulichem Grün leuchtend, von Funken, Flämmchen und Lichtstreifen umspielt. Immer näher rückte der Mond, zunehmend gewaltiger, aufsteigend wie ein Gebirge aus der Tiefe des Raumes. Der Schirm zeigte schon die Beobachtungsstation der Mondstadt, vor die sich das Gesicht Kapitän Fedorows schob. Der musterte freundlich das gemütliche Bild. »Eine Fahrt durch das Eismeer scheint heute tatsächlich noch größere Anforderungen zu stellen als eine Reise zum Mond«, sagte er mit rauher Stimme. »Alles in Ordnung, Beyer?« Beyer nickte. »Selbstverständlich, Kapitän.« »Gut.« Kapitän Fedorow nahm einen Papierstreifen vom Pult, blickte kurz darauf und sah Beyer anerkennend an. »Wissen Sie, daß Sie im Begriff sind, einen neuen Rekord aufzustellen? Wir erwarten Sie schon eine Stunde früher als vorgesehen.« »Ich weiß.« »Unsere Station übernimmt Sie jetzt unter der Chiffre Xenophon. Auf den letzten 5000 Kilometern werden Sie von uns gesteuert, eingewiesen und gelandet. Sie gehen nicht auf dem Kosmodrom nieder, sondern werden durch Mondschleuse I direkt zum Stadtrand Clavius geholt. Wir haben dort einen Kurierhafen gebaut. Noch Fragen?« »Keine Fragen«, antwortete Beyer. »Wir sind unterrichtet.«
Gleich darauf meldete sich Xenophon. »Attention please, here is Xenophon 1, 5, 2, 7«, ertönte eine warme Frauenstimme. Auf dem Bildschirm erschien das ausgeglichene Gesicht einer schönen, dunkelhäutigen Frau. »O lala«, rief sie lachend. »Alle Passagiere schlafen?« »Bis auf Professor Castella«, bemerkte Berthold und ließ sich neben Steinmann nieder. Die Feststellung Bertholds war durchaus nicht korrekt. Seit einer halben Stunde saß unter seinen Füßen, von einer nur zentimeterschwachen Metallplatte von ihm getrennt, noch ein Passagier ebenso hellwach wie Professor Castella. Dieser blinde Passagier krempelte seit einer halben Stunde alle Taschen um. Er hatte Helmut Schulzes Brief, Bild, Lampe, Knopf und Pioniertuch vor sich ausgebreitet und suchte mit knurrendem Magen nach etwas Eßbarem. Düstere Gedanken jagten durch seinen Kopf. Vorstellungen über Weltraumfahrt, Mondlandung und Abenteuer waren nicht darunter. Statt dessen kreisten die Gedanken um Hungertod und Verdursten. Wenn der Magen leer ist und die Kehle trocken, braucht man zu solch finsteren Überlegungen keine trostlose Wüste. Von Verzweiflung kann man im freundlichsten Raum überfallen werden. Es genügt, daß der freundliche Raum fest verschlossen und gut verriegelt ist. Jens taumelte zum Aquarium. Das Aquarium sah ihn blitzblank, ohne Stein und Stäubchen an. Es war leer bis auf den Grund. Von der fiependen Laura verfolgt, untersuchte er das Terrarium. Auch das Terrarium gähnte ihn an wie eine ausgeräumte Schublade. Jens musterte die Lederriemen. Ihn schauderte bei dem Gedanken, sie als verhungernder Gefangener zwischen den Kiefern zerbeißen zu müssen. Es war totenstill im Raum. Gleichmäßig wirbelte die Luft aus der Klimaanlage. Die Luft war würzig und frisch und verstärkte nur den Appetit. Du mußt Kräfte schonen, dachte Jens. Wer weiß, wie lange wir noch durch den Weltraum reisen. Geschichten von abgetriebenen Raumschiffen fielen ihm plötzlich ein. Er hatte zwar nur in Büchern davon gelesen. Sein Vater hatte solche
finsteren Möglichkeiten strikt verneint. Jens nahm die fiepende Laura in die Hand. Ihr kleines warmes Leben tröstete ihn ein wenig. Er schloß die Augen und versank in dumpfes Brüten. Was für ein gewaltiges Panorama bot sich dagegen den sieben Reisenden beim Blick durch die gläserne Kanzel. Professor Castella erinnerte sich wieder eines Landsmannes, der großen Galileo Galilei, der sich durch seine Fernrohrbeobachtungen vor Hunderten von Jahren ein erstes ungefähres Bild von der Beschaffenheit der Mondoberfläche gemacht hatte. Auch Galilei wurde deshalb von der Inquisition der Täuschung und der Gotteslästerung angeklagt. Berthold schüttelte entrüstet den Kopf. Was sie vor sich sahen, war tatsächlich schon von der Erde aus in Umrissen erkennbar. Der Mond am Himmel bot sich jedem Schulkind wie ein Globus dar. Jetzt bestätigte sich für alle in prachtvoller Demonstration, was sie ein Erdenleben lang in der Ferne gesehen hatten. Die dunklen, schon von der Erde aus beobachteten Mondflächen gaben sich beim Näherkommen als weite Ebenen zu erkennen. Ihre Höhenlage war verschieden. Verbunden wurden sie durch terrassenartige Erhebungen. Das waren die sogenannten Mondmeere, Mondsümpfe, Mondseen und Mondbuchten. Es gab jedoch keine Spur von Wasser. Hier hatte sich das Auge früherer Zeitgenossen täuschen lassen, die diese Ebenen Meere, Seen und Buchten genannt hatten. Professor Castella erinnerte sich einer Jugendreise durch die Karstlandschaft der Alpen. Damals war er in zweieinhalbtausend Meter Höhe durch die Felsen geklettert. Ein ähnliches Bild bot sich ihm heute. Steingeklüft. Graues Geröll. Oberflächenverwerfungen und tiefe Felsspalten. Wie sehr glichen die Bergwelten der Erde doch ihrem Trabanten, nur war hier alles großartiger und erhabener. Die Mondgebirge reckten in bedrohlicher Starre ihre Zinnen und Spitzen Tausende von Metern hoch. Dazwischen senkten sich Wallebenen und Kratergruben. Es war schon ein Anblick, der tief beeindruckte und sicher nicht vergessen würde. Beyer und Steinmann hatten ihr ganzes Augenmerk auf das beginnende Landungsmanöver gerichtet. Beyer hockte stark konzentriert vor seinem
Steuerpult und beobachtete die automatische Anlage, die seit einiger Zeit von der Fernlenkstation des Kapitäns Fedorow bedient wurde. In Gedanken sah Beyer die Riesenaugen der Radioteleskope auf sich gerichtet. Er sah das Einschwenken der Radargeräte, das zuverlässige und blitzschnelle Reagieren der Großautomaten. Bilder und Signale jagten zwischen Lunakurier und Fernlenkstation hin und her. Spezialisten beobachteten, registrierten, werteten aus und gaben neue Anweisungen. Beyer selbst war auf dem Sprung und bereit, bei jeder Störung die Führung zu übernehmen. Er war der Kapitän des Lunakuriers. Und im entscheidenden Moment trug der Kapitän die Verantwortung. Niemand nahm sie ihm ab. Jetzt saß auch Berthold neben Beyer. Genauso aufmerksam wie Beyer beobachtete er Armaturen und Geräte. Auf der Skala vor ihnen leuchtete das Wort »Triebwerke« auf. Kurz hintereinander rückten Ziffern auf einer Tabelle vor: 4, 3, 2, 1. »Die Anlage arbeitet tadellos.« »Sie haben die Bremstriebwerke eingeschaltet«, sagte Berthold ruhig. Lunakurier verminderte fühlbar die Geschwindigkeit. Der Flugkörper strich in flachem Bogen über die Karstlandschaft des Mondes hinweg. Die Bremstriebwerke hatten die Aufgabe, den rasenden Flug bis zu einer günstigen Landegeschwindigkeit von nur wenigen Metern in der Sekunde herabzumindern. »Xenophon. Hier ist Xenophon«, rief die Frauenstimme durch die Kabine. Das Gesicht der Frau auf dem Bildschirm war jetzt konzentriert. Sie diktierte mehrere Werte, die Steinmann rasch und exakt auf seinen Geräten einstellte. Aus Steinmanns Gesicht sprachen Ernst, Gewissenhaftigkeit und Hingabe an die Arbeit. Dann ging alles ganz schnell. »Hier ist Xenophon. Sie setzen zur Landung an.« »Wir führen eine geringfügige Kurskorrektur durch.« »Sie passieren die Kontrollstation im Ringgebirge Tycho.« Professor Castella, Diplomingenieur Klein, die Biologen Mückritz und Benjamino starrten auf die Kuppel der Mondstadt, der sie sich rasch näherten. Sie überdachte in mächtiger Wölbung die Wallebene Clavius.
Lunakurier raste auf die Südseite der Kuppel zu, auf der ein gewaltiges Schott ausschwenkte und eine Öffnung freigab. Jetzt drang das scharfe Pfeifen der Bremstriebwerke bis in das Innere der Kabine. Lunakurier hielt mit einem Ruck, ehe er langsam niederschwebte. »Hier ist Xenophon. Sie passieren die Mondschleuse.« Die Frauenstimme vibrierte. Es gab einen winzigen Stoß. Dann war Stille. Professor Castella blickte verwirrt aus der Kanzel. Er sah, wie das mächtige Schott gleich den Schwingen eines großen Vogels über die Kuppel strich und den Ausblick in den Himmel verschloß. Weiches Licht strahlte ihnen entgegen. Eine Halle, offenbar aus Glasplasten erbaut, bot sich dem Blick; Stufen, Gänge und Flure durchliefen die Halle bis in die Ferne. Darunter und darüber wölbten sich Kuppeln, aufeinandergelegt wie die Hüllen einer Zwiebel. Lunakurier stand auf einem Sockel, direkt vor dem hohen Tor eines zweiten Kuppelbaues. Das Tor öffnete sich. Und viele hundert Menschen strömten jubelnd heraus. »Hier Xenophon«, meldete sich die Frauenstimme noch einmal. »Sie sind in der Mondstadt Clavius gelandet. Willkommen, Lunakurier. Wir grüßen die tapfere Besatzung und ihre Passagiere.« Jetzt lächelte die dunkelhäutige Frau dem strahlenden Steinmann zu. Gleich darauf erklang die Hymne des achten Kontinents. Als Beyer die Kabinentür öffnete, griffen vier, sechs, acht Paar Hände nach ihm. Er wehrte lachend ab. Doch schon hoben ihn kräftige Arme aus dem Lunakurier. Auf der Tribüne stand Kapitän Fedorow in einer dunkelblauen Uniform. Er hatte die Hand an den Mützenschirm gelegt. Sein Gesicht war ernst, doch seine Augen strahlten. Beyer salutierte, ruhig und selbstbewußt stand er da und meldete: »Auftrag erfüllt. Kurierverbindung zum achten Kontinent hergestellt.«
Kapitän Fedorow sagte mit rauher Stimme: »Wir danken der Besatzung unter der Leitung ihres Chefpiloten Georges Beyer.« »Hurra, hurra, hurra«, riefen die begeisterten Menschen. Gleich darauf setzte Musik ein. Ein Hundertmannorchester spielte die Hymne der Vereinten Nationen. Die feierlich getragenen Klänge hallten über den Platz. Dann hielt Beyer, immer wieder von Hochrufen unterbrochen, eine kurze Ansprache. Neben Beyer standen auf der Tribüne Klein, Mückritz und Benjamino, mit feierlichen Gesichtern, ganz der Größe ihres einmaligen Erlebnisses bewußt. Professor Castella putzte sich mehrmals die beschlagene Brille. Er schrieb das Anlaufen der Gläser der künstlichen feuchtwarmen Atmosphäre der Mondstadt zu. Oder kam das von der Erregung, der auch er sich nicht entziehen konnte? Berthold ging inzwischen wieder an die Arbeit. Er kletterte mit drei Raketentechnikern durch die Kabine und gab ihnen die notwendigen Erläuterungen für die erste Durchsicht. Am 13. Juli sollte Lunakurier bereits zur Erde zurückkehren. Dann sollte nach Auswertung der Flugergebnisse in Lunikport die Serienproduktion des neuen Raketentyps beginnen. Dreimal vierundzwanzig Stunden waren nicht viel Zeit für eine Prüfung auf Herz und Nieren. Einer der Raketentechniker, ein breitschultriger Sibirier aus Nowosibirsk, drückte in diesem Moment den Öffner zur Kabine für Tiertransporte. Langsam schob sich die Luke hinter den Wandsesseln hoch. »Was ist das?« fragte der Mann verwundert. Berthold, der seine Gefährten mit Ausrüstungsgegenständen bepackte, sagte kurz: »Für Tiertransporte. Wurde jedoch nicht benutzt. Ich schlage vor, wir schaffen erst einmal das Gerät in die Station. Dann können wir uns auch dort umsehen.« Berthold lockerte mit geschickten Griffen die Halterungen eines Automaten. Der Sibirier packte zu, ohne weitere Worte zu verlieren. Berthold verließ mit den Technikern die Kabine… Der achte Passagier hatte das Öffnen seines Gefängnisses verfolgt und dem Gespräch gelauscht. Er hörte ganz fern Musik, Hochrufe und Beyers Stimme.
Was nun? überlegte Jens. Wenn ich auftauche, störe ich die Feier, mache der Besatzung und vor allem Beyer Unannehmlichkeiten. Ich zerstöre Beyer den großen Tag. Ich muß mich also herausschleichen aus der Kabine wie ein übriggebliebenes schlechtes Gewissen der Erde. Ich darf keinem dieser anständigen Menschen Ärger machen. Ich kann noch nicht einmal auf Mutter zulaufen, die sicher an der Feier teilnimmt. Ich muß mich in den Wind schlagen, um Straßen und Häuserecken schleichen. Ich bin das letzte schlechte Gewissen der Erde. Ich bin ein Illegaler auf dem achten Kontinent. Was tun? Was kann ich nur tun? Jens spürte, daß die Reise noch ein harmloses Abenteuer war. Die Probleme begannen für ihn überhaupt erst jetzt. Jens blickte zum Aufstieg in die Freiheit empor. Jetzt muß ich mich entscheiden, dachte er. Jetzt kann ich nicht ausweichen. Jetzt muß ich mich stellen. Das einzige, was ich tun kann, heißt handeln. Und von meinem richtigen Handeln hängt alles ab. Davon hängt die zukünftige Einschätzung der jungen Lunaentdecker ab, die Einstellung von Vater zu mir, von Mutter, von Witsch, von der Arbeitsgemeinschaft, von der Schule, einfach von allen Menschen, mit denen ich zu tun habe. Was mache ich nur? Jens sah den einladend geöffneten Ausstieg. Er musterte die im Raum umhertrippelnde Laura und Zepp, den funktionslosen Gefährten. Zepp konnte kein Unheil anrichten. Jens schraubte daher erst einmal die Kontaktlampe fest, die sofort rot aufleuchtete. Zepp spielte mit den Antennen und schoß kurze Lichtsignale aus den Scheinwerferaugen durch den Raum. Jens überlegte. Natürlich mußte er so schnell wie möglich aus der Rakete verschwinden. Fest stand außerdem, daß er kein Recht hatte, die Feier zu stören. Rechte hatte er überhaupt nicht. Das stand vor allem fest. Was also sollte er tun? Er dachte an den Auftrag Helmut Schulzes. Den ersten Schritt zur Erfüllung des Auftrages hatte er getan, wenn auch ungewollt und ohne Erlaubnis. Aber der erste Schritt war getan. Die mit dem Auftrag gewiesene Richtung mußte er weiterverfolgen.
Das Gescheiteste war, das Stadtarchiv der Mondstadt aufzusuchen und den Auftrag an den dort tätigen Wissenschaftler weiterzugeben. Anschließend konnte er sich bei Kapitän Fedorow stellen, ihm die Erfüllung der ersten Etappe melden und um Nachsicht bitten. Jens kannte Kapitän Fedorow, der seinen Vater im Haus der Zweitausend mehrmals besucht hatte. Kapitän Fedorow war ein großartiger Mann mit Sinn für Humor. Jens hatte durch Helmut Schulze eine erste Legitimation. Dank dem Jahr 1963. Der gescheiterte Abenteurer Schulze mußte den verunglückten Abenteurer Jens Dietrich aus tiefem Mißgeschick retten. Nimm dir ein Herz, Jens! kommandierte der achte Passagier des Lunakuriers. Nicht verzagen. Es gibt kein Problem zwischen Erde, Mond und Sternen, das sich nicht lösen läßt. Kein Unheil ist so groß, daß man es nicht mit Mut und Energie überwinden könnte. Man darf nur nicht feige sein. Man muß nur für alles einstehen. Man muß nur ehrlich zu sich selbst sein. Man muß nur tapfer sein… Jens war mit seinen Überlegungen zu Ende, er begann zu handeln. Er nahm die zutraulich fiepende Laura auf den Arm und kommandierte: »Äußerste Vorsicht, Zepp! Anschließen und drei Schritt bei Fuß.« Zepp antwortete mit kurzem Lichtstoß, schwebte in die Luft und hielt sich in Kniehöhe von Jens. Lautlos folgte er seinem Herrn. Jens kletterte vorsichtig in die obere Kabine. Es war still. Nicht einmal ein Luftzug war zu spüren. Aus Richtung Tribüne klang jetzt ein Marsch. Jens trat aus der Tür auf den Betonsockel der Rampe. Was auf der Tribüne geschah, konnte er nicht sehen. Lunakurier stand mit seinen breiten Stabilisierungsflossen davor. Vor Jens gähnte das hochgezogene Schott zur Mondstadt. Einige verspätete Zuschauer hasteten auf der hellerleuchteten Straße in Richtung Tribüne. Direkt vor Jens parkte ein kantiges Fahrzeug. Viereckiger Kastenbau.
Jens erinnerte sich. Auf dem Mond gab es keine Atmosphäre, weder Wind noch Regen. Sie hatten es hier also nicht nötig, in Stromlinienform oder mit eleganten Tropfenkarosserien zu bauen. Aber was sollten jetzt diese Überlegungen? Jens schlich sich in der Deckung des Fahrzeuges in die Mondstadt. Niemand beachtete ihn. In seinem Anzug glich er einem etwas klein geratenen jungen Mann, der von einem seltsamen Fahrzeug verfolgt wurde. War das ein neuartiges Beobachtungsgerät? Nach einhundert Metern schlug sich Jens in eine Seitenstraße. Die Plastekuppel über ihm war von einem glasartigen Baustoff durchbrochen. Jens sah den dunklen Weltraum und die Sterne. Es waren die letzten Stunden der 15 mal 24 Stunden dauernden Mondnacht. Die mit Leuchtfarbe versehenen einstöckigen Häuser strahlten Licht aus. In einhundert Meter Höhe reflektierten Spiegel den milden Schein eines künstlich hervorgerufenen Tages über die Dächer. Ein Automatenrestaurant lud zum Verweilen ein. Hier stärkte sich Jens an Würstchen und Weißbrot. Erst als er satt war, las er die Aufschrift über dem Restaurant: »Probieren Sie die lukullischen Genüsse der Algenküche.« So etwas, dachte Jens. Hier gibt es wohl nur Überraschungen? Ungeschoren lief er an zwei stämmigen Wachleuten der Mondstadt vorbei. Der eine sagte zu seinem Kameraden: »Hast du das gesehen, Pjotr? Seltsame Dinge gibt es. Was mag das für ein Apparat gewesen sein, den der junge Mann bei sich hatte?« Der andere hob die Schultern. »Sicher irgendeine neue wissenschaftliche Errungenschaft.«
9. KAPITEL Mac, der große Kombinator Auf der Erde wurde die Spur des Verschwundenen von jemandem aufgenommen, dem keiner bisher kriminalistische Fähigkeiten zugetraut hatte. Kaum war der Nachlaß Helmut Schulzes auf der Reise zum Mond, schien sich ein Bann von dem Lunaentdecker und Abenteurer Mac Bluffke zu lösen. Er starrte nicht mehr wie hypnotisiert auf den Mond und in die Sterne. Lunakurier sauste zum Mond. Der zurückgelassene Mac Bluffke aber fiel aus seinem Wolkenkuckucksheim auf die Erde. Er rappelte sich auf, stand auf seinen stämmigen Beinen und stellte fest, was keinem der vom Raketenstart erregten Arbeitsgemeinschaft bisher aufgefallen war: Jens war verschwunden. Einen leisen Verdacht, der sich in ihm regte, verbarg Meckie. Das Signal, das dieser Verdacht ihm gab, ließ er jedoch rot in seinem Inneren leuchten. Mit diesem Verdacht setzte er sich auf die Spur des Verschwundenen. Die Spur führte ihn zu dem größten Triumph seines Lebens und ließ ihn zum Retter seines Freundes werden. Und so trat der neue Mac Bluffke in Aktion: Kaum hatte Chefpilot Beyer auf dem Bildschirm seinen Abschiedsgruß gewinkt und Assistent Klaus-Peter Schwarz die »Aktion Lunakurier« für beendet erklärt, war Meckie aus der Beobachtungsstation ins Haus der Zweitausend geschlichen. Auf dem Flur zog Meckie die Mütze tiefer in die Stirn, rieb sich aufatmend die Hände und sagte: »Dann wollen wir mal.« »Dann wollen wir mal« wurde zum geflügelten Wort des großen Kombinators. »Dann wollen wir mal«, sagte Meckie vor der Tür des Zimmers Nr. 1. Er rieb sich wieder die Hände, weil das ein Mittel war, um Verlegenheit und Befangenheit zu überwinden. Dann drückte er kurzentschlossen auf die Klinke und trat in den Büroraum.
Am Fenster saß Fräulein Gisela. Es sah den frechen Eindringling erstaunt an und fragte: »Was willst du denn hier, du Hirschkäfer?« Meckie fand seinen vor Stunden noch flotten Aufzug plötzlich albern, schwankte einen Moment vor Verlegenheit, faßte sich aber wieder. Er schob die Mütze ins Genick und lächelte verwegen. Lässig sagte er dem verblüfften Fräulein Gisela: »Mich schickt mein Freund Jens Dietrich. Ich soll Zepp holen.« Das Fräulein Gisela lächelte freundlich, strich den Rock glatt und stand auf. »Das hättest du doch gleich sagen können, mein kleiner Hirschkäfer.« Sie rief: »Zepp, Zepp!« und blickte unter den Schreibtisch. Von Zepp war nichts zu sehen. Gisela begab sich in das Zimmer des Chefkoordinators. Meckie, der noch einmal das Schreibzimmer durchsuchte und nicht vergaß, in alle Schränke und Schubladen zu blicken, hörte das aufgeregte Rufen. Fräulein Gisela kam erschrocken zurück. Zepp war nicht da. Er war verschwunden wie Meckies Freund Jens. Der große Kombinator trat auf das kleine Fräulein Gisela zu und fragte: »Sie haben wohl nicht aufgepaßt?« Fräulein Gisela nickte, Tränen in den Augen. Der große Kombinator hielt den Zeigefinger an die Lippen. Sein Blick wurde beschwörend. »Ich halte dicht«, sagte er. »Jens und ich werden Zepp suchen. Nur keine Aufregung. Ihr Chef wird nichts erfahren.« Draußen vor der Tür holte Meckie Bleistift und Papier aus der Tasche. Er notierte: »Fakt 1: Zepp ist mit Jens verschwunden.« Das war der erste Schritt auf der richtigen Spur. Das Kombinationsspiel setzte Mac gleich darauf mit dem besten Spürhund der Welt, dem leider etwas verfressenen Pickwick, fort. Pickwick lag schläfrig zu Füßen des Portiers von Lunikport, hatte den Kopf auf die Pfoten gelegt und blinzelte vor sich hin. Er stand noch nicht einmal auf, als Mac durch die Tür trat. Der Portier sagte zu Meckie: »Ein gesunder Hund. Ein tüchtiger Fresser. Tüchtige Fresser sind immer gesunde Hunde. Mein Frühstücksvorrat liegt in seinem Wanst, zwei Zwiebelleberwürste und sechs Schrippen.« Meckie pfiff durch die Zähne.
»Aber gesund ist er«, sagte der Portier. »Er hat alles vertragen. Jetzt ist er bloß müde, laß ihn hier, Junge. Zu Haus wartet niemand auf mich. Da habe ich wenigstens etwas Lebendiges um mich. Was Lebendiges braucht der Mensch in diesem Maschinenzeitalter.« Pickwick gähnte und blickte in hündischer Ergebenheit zu dem alten Mann auf. Meckie beachtete er nicht. Mit Meckie war die brütende Julihitze und die übliche, von Pickwick gar nicht geschätzte Geschäftigkeit ins Zimmer getreten. Es half weder das Bitten des Portiers noch die Ignoranz des müden Hundes. Pickwick mußte sich mit vollem Bauch der Aufgabe seines Lebens stellen. Er knurrte. Es war ein hartes Leben. Meckie nahm den Dobermann an die kurze Leine. Er führte ihn zum Bus auf dem Parkplatz. Dort befahl er ihm, an dem Sessel zu schnüffeln, auf dem Jens vor Stunden gesessen hatte. Dann kommandierte Meckie: »Such, Pickwick, such!« Pickwick hörte den scharfen Befehl mit spitzgestellten Ohren. Er vergaß den satten Bauch, gab die Resistenz auf und entledigte sich seiner Aufgabe mit Bravour. Er schnürte im Zickzackkurs mit schnüffelnder Nase über den Asphalt. Zwischendurch verhielt er kurz. Er hob die rechte Vorderpfote, kläffte leise. Dann zerrte er weiter, vorwärts zum Parkplatz der Luftgleiter. Dort bellte Pickwick lange und anhaltend. Als Meckie den Dobermann von der Leine lassen wollte, drängte Pickwick jedoch weiter. Der Hund zerrte den großen Kombinator zum Eingang des Hauses der Zweitausend und schnüffelte an der Türschwelle herum. Dann schniefte er und rannte witternd zu einem seitab stehenden Luftgleiter zurück. Dort drehte sich Pickwick im Kreise. Er setzte sich auf die Hinterbeine und begann kläglich zu heulen: Er hatte die Spur verloren. Oder war hier die Spur zu Ende? Meckie zog seinen Notizblock aus der Tasche und warf mit kräftigen Strichen eine geniale Kombination aufs Papier: Strich A führte vom Eingang des Raketengeländes zum Parkplatz der Luftgleiter. Strich B zog schnurgerade vom Parkplatz zum Haus der Zweitausend. Strich C lief vom Haus der Zweitausend zu dem seitab stehenden Fahrzeug. A, B und C ergaben das Kombinationsdreieck eines Meisterdetektivs.
Auf diesem Dreieck ließ Meckie den verschwundenen Jens entlangspazieren. Er war also mit der Arbeitsgemeinschaft zum Parkplatz gegangen und hatte gewartet. Dann war Jens ins Haus der Zweitausend marschiert. Warum wohl? Meckie sah ins Notizbuch und las: »Fakt 1: Zepp ist mit Jens verschwunden.« Mit Zepp war Jens zu dem Luftgleiter gegangen. Er war eingestiegen und zum Lunakurier gefahren. Der Luftgleiter war dann genau zu der Stelle zurückgekehrt, an der er vorher geparkt hatte. An dieser Stelle saß Pickwick und jaulte, weil er die Spur verloren hatte. Pickwick hatte die Spur verloren, weil es gar keine Spur mehr gab. Das heißt: Jens war von der Raketenrampe nicht zurückgekehrt. Meckie gab der großen Kombination den Namen: Fakt 2. Fakt 2 hatte Mac ermittelt wie das Ergebnis einer Mathematikaufgabe mit mehreren Unbekannten. Daß Pickwick dabei die Rolle einer Rechenhilfe gespielt hatte, vergaß er ihm nicht. Er schrieb unter die Skizze das Wort »Pickwick«. Als Meckie mit Pickwick zum Bus ging, hockten dennoch drei Zweifel in seiner Brust. Er überlegte: Jens konnte zu den Raketentechnikern gegangen sein und den Start aus dem Beobachtungsbunker im Hangar beobachtet haben. Zweitens gab es die Möglichkeit, daß die Zwiebelleberwürste Pickwick den Geruchssinn verdorben hatten und er deshalb die Spur verlor. Drittens war es nicht ausgeschlossen, daß Jens zwar zwischen Luftgleiter, und Haus der Zweitausend hin- und hergelaufen, aber nicht eingestiegen war. Jens konnte das Raketengelände mit Zepp verlassen haben und mit seiner Eroberung nach Haus gefahren sein. Zweifel 1 wurde bereits am Bus aufgehoben. Dort stand der Chefkoordinator und suchte seinen Sprößling. Dietrich sagte zu Fernand Witsch: »Sie sind der unbegabteste Pädagoge, den ich mir vorstellen kann. Man läßt doch einen Jungen nicht einfach wie ein Paket in der Gegend herumstehen. Ich war an der Raketenrampe und im Hangar. Niemand hat den Jungen gesehen. Er ist sicher verärgert nach Haus gefahren. Ich kann ihm das nicht verdenken. Reden Sie jetzt nicht, über die Angelegenheit unterhalten wir uns morgen 9 Uhr, Boulevard Zampetta. In meiner Wohnung. Jetzt muß ich hier warten, bis Lunakurier auf dem Mond gelandet ist.« Entrüstet stiefelte Dietrich davon.
Meckie notierte in sein Buch: »Fakt 3: Jens Dietrich von der Raketenrampe nicht zurückgekehrt. Laut Aussage vom Zeugen Vater auch nicht von Raketentechnikern im Hangar gesehen worden.« Während der Rückreise saßen zwei in sich gekehrte Menschen zwischen der lärmenden Meute der Lunaentdecker, die das große Erlebnis feierten. Auf dem Fahrersitz des Turbinenbusses hockte Fernand Witsch, der »kleinste Pädagoge der Welt«. Zusammengekauert saß er da, ein Mann im Büßerhemd, mit Asche auf dem Haupt. Im Fond, Fahrtrichtung letzter Platz rechts, rekelte sich der große Kombinator. Er sah einmal Pickwick auf die Nase, dann auf den leeren Korb an seiner Seite. Den hatte ihm der Portier in den Bus gebracht, mit der Entschuldigung: »Deine weiße Ratte ist verschwunden, Kleiner. Die hat der liebe Hund doch nicht auch noch gefressen?« Laura fliegt zum Mond, dachte Meckie. Und wer weiß, wer noch alles mit ihr gestartet ist. Ob Pickwick durch die Zwiebelleberwürste seinen Geruchssinn und damit die Spur verloren hatte? Meckie beschloß, sich Gewißheit zu verschaffen. Er ging zu Fernand Witsch. Der war froh, daß ihn jemand aus seinen Selbstvorwürfen schreckte. Er überlegte. Dann hielt er einen gelehrten Vortrag über den Spürsinn eines Hundes, ohne natürlich zu wissen, daß er dem großen Kombinator den Fakt 5 und sich selbst eine weitere Niederlage lieferte. »Eine gute Frage«, sagte Fernand Witsch. »Ich sehe, daß du dir Gedanken machst über die Leistungsfähigkeit der Maschine und die Organe eines Lebewesens. Wir sollten dieses Problem einmal in unserer Arbeitsgemeinschaft behandeln.« Im Fond kläffte Pickwick und forderte seinen Herrn zurück. Fernand Witsch besserte sein lädiertes Selbstbewußtsein durch philosophische Erörterungen aus. Meckie ließ diese Meditation vorbeirauschen, bis Witsch endlich zum Fakt kam: »Das Mikrophon hört besser als das Ohr. Die Fotozelle sieht besser als das Auge. Aber der Geruchssinn eines Lebewesens steht auf einsamer Höhe. Nichts kann mit dem feinen Geruchssinn einer Hundenase verglichen werden. Ein Hund riecht winzige Mengen von Atomen.«
Fernand erzählte und erzählte. Als er schließlich aufblickte, war sein Zuhörer verschwunden. Meckie hatten die markanten Sätze über den Geruchssinn der Hundenase genügt. Er saß neben seinem schnüffelnden Naturphänomen und notierte in sein Notizbuch: »Fakt 5: Pickwicks Nase riecht winzige Mengen von Atomen. Es gelang ihm, genau die Spur des Verschwundenen bis in Richtung Raketenrampe zu orten. Im Bedarfsfall Zeugen Witsch als Experten heranziehen.« Daheim angekommen, legte Meckie die smaragdgrüne Hose und den schwarzgrauen Blouson ab. Er suchte die alten Shorts und die PrimalonJacke aus der Truhe. Die Mütze warf Meckie in die dunkelste Ecke des Hutregals. Frau Mary Bluffke flüsterte ihrem Mann zu: »Ich glaube, es ist aus mit dem Theater. Wir haben unseren alten Meckie wieder.« Gleich darauf mußte sie feststellen, daß sie sich geirrt hatte. Es war zwar der Theaterdonner des Weltraumreisenden verklungen, aber den alten Meckie bekam Frau Mary Bluffke doch nicht wieder. Der große Kombinator Mac Bluffke behielt die eigene Note: Er kroch nicht wie früher um 19 Uhr als verschlafenes Murmeltier auf die Couch. Er wurde nicht wieder der Topfgucker, der in allen Schüsseln leckte. Er schmiß nicht mehr die Schuhe ungeputzt in die Ecke. Er mied nicht das Zähneputzen und das Kämmen. Ein zum Handeln entschlossener junger Mann marschierte durch die Wohnung, von Pickwick respektiert und als einziger Herr anerkannt. Um 21 Uhr entschloß sich das Ehepaar Bluffke zu einem Abendspaziergang durch die Anlagen. Mary Bluffke wollte ihrem kleinen Meckie noch schnell »gute Nacht« sagen. Entsetzt sprang sie an der Badezimmertür zurück. Der große Kombinator hatte gerade beschlossen, sich für die letzte große Erkundung frisch zu machen. Eiskaltes Wasser prasselte auf seinen Rücken. Ein Kältehauch wehte aus der Kabine. Mary Bluffke schauerte es noch, als sie mit ihrem Mann durch die laue Sommernacht ging. Und sie klagte über das eigensinnige Kind. KarlFranz Bluffke ließ den düsteren Blick am Hochhaus Cesare entlangwandern und sagte: »Der Junge vom Professor ist genauso verdreht. Er ist
noch immer nicht nach Hause gekommen. Wenn nachher kein Licht in der Wohnung ist, rufe ich den Professor an.« Als das Ehepaar Bluffke nach einer Stunde zurückkehrte, war Licht in der Wohnung des Chefkoordinators. Karl-Franz Bluffke, von einem Glas Bier erquickt, murmelte zufrieden: »Na, dann ist ja alles in Ordnung. Der Junge ist da.« Fünf Minuten später lief Mary Bluffke klagend durch ihre Wohnung. Jetzt war Meckie verschwunden. Und Pickwick jaulte zum Steinerweichen. Der große Kombinator setzte den letzten Stein ins Mosaik seiner Erkundigungen. Er bestätigte sich selbst Weitblick und Scharfsinn. Supermac hatte Millimeterarbeit geleistet. Jetzt wurde es offenbar. Noch einmal hatte Meckie der Rausch von früher gepackt. Phantasie und Wundervorstellungen hatten ihn überwältigt, als er mit dem Nachschlüssel seines Vaters in das Appartement Dietrich eindrang. Der große Kombinator hatte sich als Kriminalist alter Zeiten auf den Spuren übler Gewohnheiten und finsterer Sitten gesehen. Hinter Schrank, Tisch, Bett und Stuhl glaubte er Wispern und Stimmen zu hören. Das Knacken eines Thermostaten hielt er für das Entsichern eines Revolvers. Der Abendwind, der mit der Gardine am offenen Fenster spielte, schien ihm der Arm eines Bösewichts zu sein. Von heimlichem Grauen und Schwäche überfallen, hatte der Kombinator daraufhin den Lichtknopf gedrückt. Der Spuk verflog. Nun saß Mac im Armsessel von Vater Dietrich. Nüchtern war der Blick, klar das Auge, fest die Hand. Mac Bluffke notierte den Fakt 6 und setzte mit ihm den Schlußpunkt unter die Arbeit: Der Gesuchte war um 22 Uhr noch immer nicht in seine Wohnung zurückgekehrt. Vom Bücherbord war der gesamte Nachlaß des Helmut Schulze verschwunden. Der Nachlaß fand sich weder im Spielzeugschrank noch in der Mappe des Verschollenen. Der Nachlaß des Helmut Schulze war nicht im Zimmer und auch nicht in den anderen Räumen des pp. Jens Dietrich. Das Vehikel Zepp war auch hier nicht anzutreffen, schien also tatsächlich in Begleitung des Verschollenen abhanden gekommen zu sein. Der Kühlschrank war leer. Der Verschollene
mußte also seine Tat geplant und daher Marschproviant mitgenommen haben. Der Kombinator überprüfte noch einmal genau alle Notizen vom Fakt 1 bis zum Fakt 6. Dann zog er den Schluß: Jens ist mit Zepp zum Mond gereist, um den Nachlaß Helmut Schulzes wunschgemäß an Ort und Stelle zu bringen, um eine Wette zu gewinnen und den Ruhm des jüngsten Mondsiedlers für sich zu beanspruchen. Das waren die Gründe für das Verschwinden. Ehrgeiz verführte zu diesem abenteuerlichen Plan, der mit Geschick und Berechnung ausgeführt wurde. Mac Bluffke dröhnte der Kopf von dieser erschreckenden Erkenntnis. Dann war die große Rolle ausgeträumt. Über alle Phantasien siegte jetzt Meckie, ein gescheiter, guter und anständiger Kamerad seines Freundes Jens, ein handfester Junge aus dem Jahr 2071. Meckie steckte das Buch in die Tasche. Er trat an das offenstehende Fenster und blickte zum Himmel. Fern blinken die Sterne. Und ein orangefarbener Mond schwamm am Horizont. Jens, lieber, guter Jens, was machst du nur für Sachen, dachte Meckie. Warum hast du das getan? Warum genügten wir dir nicht? Jens, was ist nur mit dir geschehen? In den Anlagen tanzte die von Vater Bluffke heute angelegte Fontäne, von Tiefstrahlern angeleuchtet. Dort hatte alles begonnen, dachte Mekkie. Noch nicht einmal eine Woche ist es her, daß Helmut Schulze dort emporstieg und die schöne Welt des Jahres 2071 durcheinanderbrachte. Meckie ging zum Videotelefon, um den Lunikport anzurufen. Aber kaum meldete sich die Zentrale, legte Meckie wieder auf. Was sollte der Anruf? War Jens gefunden worden, so wußte es der Chefkoordinator längst. Und vielleicht spazierte Jens nur durch Berlin, gefolgt von Zepp. Meckie beschloß, am nächsten Morgen noch einmal in aller Frühe den Freund zu suchen. Entweder war Jens in der Rakete entdeckt worden, oder er lag friedlich in seinem Bett. Wie sollte es anders sein? Als Meckie durch die Tür trat, stürzten die Eltern auf ihn zu. Pickwick bellte, tobte durch die Zimmer und leckte seinem Freund die Hände.
Frau Mary rief glücklich: »Daß du nur wieder da bist, kleiner Meckie.« Heute abend ließ sich Meckie sogar ohne Sträuben von seiner Mutter drücken. Karl-Franz Bluffke fragte finster: »Wo warst du? Dein Freund Jens liegt längst im Bett. Und du treibst dich herum.« Meckie wußte es besser. Aber er sagte nichts. Lange lag er wach und starrte ins Dunkel. Das Herz war ihm schwer. Er dachte an seinen verlorengegangenen Freund. Kurz vor dem Einschlafen stubste Meckie eine kalte, feuchte Nase hinter das Ohr. »Ach, Pickwick, du lieber guter Hund, du«, flüsterte Meckie schlaftrunken. Am nächsten Morgen war die Lage noch düsterer als am Abend. Mekkie schlich in die Wohnung des Freundes und fand das Bett unberührt. Um sieben Uhr holte er Claudia aus dem Bett. Wortlos legte er ihr die Recherchen vor. Claudia fuhr mit Meckie auf das Dach des Hauses Cesare. Dort warteten sie auf den Chefkoordinator. Fünf Minuten vor Ankunft des Hubschraubers tauchte Fernand Witsch hinter ihnen auf. Auch er las die Stichworte Meckies. Als Zeuge genannt, fielen Witsch alle Sünden ein. »Sagt alles, was ihr wißt«, murmelte Fernand. »Schuld habe allein ich.« Der Hubschrauber kam pünktlich. Dietrich stieg gut gelaunt aus. Dann fragte Meckie: »Ist Jens gefunden worden?« »Was ist?« Dietrich sah Meckie erschrocken an. »Wo soll der Junge denn sein?« Witsch reichte ihm wortlos das Notizbuch des großen Kombinators. Dietrich las. Seine Augen weiteten sich. Sein Gesicht wurde blaß. Streng fragte er Meckie: »Das ist doch nicht dein Ernst?« In Meckie brach alles zusammen. Seine Augen schwammen. Aber er nickte tapfer. Dietrich strich Meckie übers Haar. »Vielen Dank, mein Junge«, sagte er leise. »Du hast eine gute Arbeit geleistet.« Fernand Witsch senkte den Blick und ging zur Seite. Es gab für ihn keine Entschuldigung. Er hörte hinter sich die beherrschte Stimme des
Chefkoordinators: »Macht euch keine Sorgen, Kinder. Den Jens holen wir uns zurück. So groß ist die Welt gar nicht, daß in ihr jemand verlorengehen kann.« Fernand Witsch hörte hinter sich das Summen des Hubschraubers. Als er sich umdrehte, sah er ihn schon in der Ferne davonschweben, Lunikport entgegen. Zwischen Erde und Mond begannen die Funkwellen zu spielen. Meldungen wurden erstattet, Befehle gegeben und Alarmsignale ausgelöst. Auf dem achten Kontinent begann die Großaktion: Fahndung nach Jens Dietrich. Der große Kombinator Mac Bluffke, der kleine tapfere Meckie, hatte einen Riesenapparat für die Suche eines verlorenen Freundes in Bewegung gesetzt.
10. KAPITEL Großfahndung in der Mondstadt Es war acht Uhr mitteleuropäischer Zeit. Während Berlin im Sonnenglanz eines Julitages lag, breitete die Mondnacht über der Metropole des achten Kontinents ihre schwarzen Schwingen. Vierzehn Erdentage und zweiundzwanzig Erdenstunden währte bereits das Dunkel. Nun warteten die Mondsiedler auf das Sonnenlicht. In zwei Stunden würde der Terminator, die Lichtgrenze, langsam von West nach Ost streichen. Das sollte wiederum vierzehn Erdentage dauern. Dann würde Mondtag sein. Aber jetzt leuchteten noch überall in der Mondstadt Clavius die Tageslichtlampen. Die Kraftwerke arbeiteten auf Hochtouren, um nicht nur die für das künstliche Licht notwendige Energie zu liefern, sondern auch für die Wärme zu sorgen. Konstant siebzehn Grad Celsius. Außerdem hatten die Kraftwerke die künstliche Atmosphäre zu erzeugen. Der atmosphärische Druck wurde in der Mondstadt mit 500 Millimetern Quecksilbersäule gemessen. Er war um ein Drittel geringer als auf der Erde. Dafür war der Sauerstoffgehalt der Luft größer. Lebewesen konnten also ohne fühlbaren Mangel atmen. Das etwas feuchtwarme Klima der Mondstadt bekam Menschen und Pflanzen sogar sehr gut. Dennoch machte sich heute morgen eine erfahrene Biologin Sorgen um ihre Pflanzen. Sie stand in einer der Großplantagen des achten Kontinents und sah sich mißmutig eines der baumartigen Gewächse an, die, ausgerichtet wie ein Bataillon Soldaten, in Zwanzigerreihen aus dem Boden wuchsen. Diese eigenartigen Gewächse waren zehn Meter hoch. Auf dem Boden zeigte jede Pflanze eine kugelförmige Verdickung, aus der ihre grünen Lanzen zu stattlicher Höhe emporwuchsen. Die Gewächse erinnerten entfernt an Küchenzwiebeln. Sie erinnerten daran? Wer die Biologin befragt hätte, würde von ihr zur Antwort bekommen haben: »Sehen Sie doch genau hin. Das sind Zwiebeln. Zwiebeln von unserer Mondsorte ›Spella‹.« Aber nicht nur Zwiebeln bekam die Mondatmosphäre auf so besondere Weise. Radieschen erreichten die stattliche Größe von Dattelpalmen, denen sie hier oben auch im Aussehen glichen. Tomaten wurden zent-
nerschwer. Erbsen wurden groß wie Billardkugeln. Es war schon eine stattliche Zucht, die der Biologin in Plantagen, Gewächshäusern und Gärten entgegenschaute. Trotzdem hatte die Biologin heute Sorgen. Der grüne Zwiebellauch war geknickt wie ein Baum im Wirbelwind. Die Lanzenspitze hing welk zwischen den anderen Pflanzen. »Das gefällt mir nicht«, sagte die Biologin zu dem neuen Assistenten Mückritz, der diese Entdeckung gemacht hatte. »Entweder ist die Zwiebel krank, oder es gibt hier Schmarotzer. Aber wie sollen Schmarotzer auf den Mond kommen, wo es weder Fliegen noch Mücken noch Blattläuse gibt? Ich verstehe das nicht.« Die Biologin, Frau Maika Svenson, war die Mutter von Jens Dietrich, eine schöne stattliche Frau. Sie war stolz auf. ihre Plantage. Und nun mußte sie sich vor ihrem künftigen Vertreter blamieren. Wäre Frau Maika Svenson nur ein wenig aufmerksamer gewesen, hätte sie am Fuße der dritten Zwiebel rechts ein weißes Meerschweinchen gesehen, das mit zitternden Hängebäckchen herumknabberte. Laura genoß nach langer Hungerperiode ein überraschend üppiges Mahl. Auf den Gedanken, daß ein Meerschweinchen der Schmarotzer in ihrer prächtigen Plantage war, konnte Frau Maika Svenson jedoch unmöglich kommen. Wer sollte auf der Erde so albern sein und ausgerechnet ein Meerschweinchen in eine Rakete stecken? Ebenso fern lag Frau Maika Svenson der Gedanke, daß ausgerechnet ihr Sohn Jens diesen Schmarotzer ausgesetzt haben könnte. Auch ihren Sohn konnte die Biologin unmöglich auf dem Mond vermuten. Wenn sie morgens an ihn dachte, sah sie ihn in seinem Bett liegen. Wie sollte Jens auf den Mond kommen? Darum machte sich Frau Maika auch keine Gedanken, als eine Sirene in der Mondstadt aufheulte. Sie sagte nur kurz zu dem Assistenten: »Was soll der Lärm? Es gibt doch Telefon. Wer etwas zu sagen hat, kann das durchs Telefon tun. Dieser Lärm ist scheußlich.« Assistent Mückritz horchte einen Moment den an- und abschwellenden Tönen nach. Sie verklangen nach wenigen Minuten.
»Sicher eine Sirenenprobe«, meinte Mückritz dann. »Solche Apparate müssen wohl gelegentlich ausprobiert werden.« Aber der neue Mondsiedler Mückritz irrte sich. Die Sirene hatte das Startzeichen für die Suchaktion nach Jens Dietrich gegeben. Und Frau Maika Svenson wäre sicher nicht so aufmerksam durch ihre Plantage geschritten, wenn sie gewußt hätte, daß in ihrem Laboratorium ununterbrochen das Telefon klingelte. Aber wenn der Hörer auf der Gabel ruht, nutzt das beste Telefon der Welt nichts. Gleich nach dem Sirenenlärm rückten die Mondwachen zur Fahndungsaktion aus. Streifenwagen rasten durch die Hauptallee »Großer Kopernikus«. Die Metalldächer der Mobile waren offen. Jeweils vier Männer standen auf den Sitzen und hielten Ausschau nach einem jungen Mann mit einem schwarzweißen Vehikel an der Hand. »Um 20 Uhr mitteleuropäischer Zeit sind wir einem nicht sehr großen Mann im dunkelblauen Anzug begegnet. Er zog einen schwarzweißen Apparat hinter sich her«, hatten nämlich zwei Kontrolleure ihrem Kapitän Fedorow berichtet. Die beiden Männer saßen jetzt erneut vor dem Kapitän und blieben hartnäckig bei der Behauptung, daß der schwarzweiße Apparat Räder gehabt hätte. Der eine der Männer sagte: »Wenn das Dings ein Luftkissenfahrzeug gewesen wäre, Kapitän, hätten wir den Mann doch angehalten. Das wäre uns seltsam vorgekommen. Aber so? Wer zieht nicht alles mit Gerät durch unsere Stadt.« Der andere war ganz sicher. »Also einen Jungen hätte ich nicht passieren lassen. Ein Junge wäre mir aufgefallen, Kapitän. Bis jetzt sind nur Erwachsene hier oben. Ich habe noch kein Kind in der Mondstadt gesehen.« Kapitän Fedorows Augen blickten kühl. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Wer denkt schon in seinem Alltag an die Begegnung mit solch einem außergewöhnlichen Fall. Ich bin Ihnen jedenfalls dankbar. Jetzt wissen wir, daß der Junge in der Stadt ist. Die Beschreibung stimmt. Und der schwarzweiße Apparat ist ein elektronisches Spielzeug mit dem Namen Zepp…« »… und hatte Räder«, sagten beide Kontrolleure einstimmig.
»Und hatte keine Räder, sondern schwebte auf einem Luftkissen.« Kapitän Fedorow schmunzelte. »Daran sehen Sie, wie leicht man sich täuschen kann.« Der erste Kontrolleur wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Was wird nun?« fragte er heiser. »Sind wenigstens alle Schotten bewacht? Durch vier Ausgänge kann der Junge in die Versuchsanlagen. Dort sind nur leichte Plastehüllen gespannt, die gerade noch die Atmosphäre halten, aber nicht meteoritensicher sind. Hoffentlich passiert kein Unglück.« »Die Sicherungskommandos sind unterwegs«, sagte Fedorow ernst. »In dreißig Minuten haben sie alle Ausgänge gesperrt. Sicher wird nichts passieren.« Doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Während die Sicherungskommandos mit Alarmhorn und Warnlicht in alle vier Himmelsrichtungen der Mondstadt rasten, stand Jens vor einem hohen Portal. Er blickte durch das weitgeöffnete Tor in eine seltsam düstere Landschaft. Durch eine durchsichtige Plastkuppel, einer straffgespannten Folie gleichend, fiel aschgraues Mondlicht. Genau am Portal endete der milde Schein der Tageslichtlampen. Dann begann dämmriges Zwielicht, das wie Spinnweb einen unheildrohenden Pflanzendschungel einhüllte. Mühselig unterschied Jens verdorrte Sträucher, spärliches Grün und ausgedehnte Ödflächen. Dazwischen breiteten sich wie Oasen Pflanzendickichte und frisch sprießende Halme. Was war das für ein rätselhaftes Land? Was für ein Werk der Vernichtung wurde hier getrieben? Und wer hatte das veranlaßt, wer pflanzte trotzdem immer wieder neu? Warum waren hier zugleich Zerstörung und Aufbau im Gange? Was sollte das alles bedeuten? Seit Stunden bewegte sich Jens in einer eigenartigen Welt, hatte die eigenartig belebende Luft dieses siebenten Kontinents mit Verwunderung geatmet, ihre Feuchtigkeit gespürt und dennoch nicht unter Schwüle gelitten. Er hatte auf den nahenden Tag gehofft und war bis in die Frühe eines Erdentages von den Sternen am Firmament begleitet worden. Und die Sterne hatten zu ihm durch riesige Fenster herabgeschaut.
Jens war an Häusern mit leuchtenden Wänden vorbeigestrichen, die rund um sich zauberhaftes Licht verbreiteten. Weit standen die Türen von Restaurants offen, in denen es nur Automaten gab. Es bedurfte keiner Frage und keines Wunsches. Wo immer Jens essen und trinken wollte, servierten ihm diese stummen Diener bereitwillig, was er begehrte. In Wartehallen standen Fernsehapparate, die auf Knopfdruck Musik- und Schauprogramme aller Kontinente zeigten. Jens war Männern begegnet, die in verschiedenen Ländern der Erde geboren waren. Er sah schlanke Malaien, baumlange Afrikaner und kräftige Männer aus den Weiten Sibiriens. Sie alle waren lustig und guter Dinge. Jeder hatte ein Scherzwort für ihn. Keiner jedoch stellte die Frage, woher Jens kam und wohin er wollte. Jeder hatte ein Ziel. Und jeder schien auch das gleiche von ihm anzunehmen. Dann war Jens durch kilometerlange Plantagen gegangen. Dort hatte er Laura verloren, die plötzlich von seinem Arm sprang und flink zwischen den mächtigen Bäumen verschwand. In der Erinnerung mußte Jens lächeln. Was war das doch für eine Überraschung gewesen, als er sich gegen einen der Bäume lehnte und der Baum plötzlich umbrach. Der Baum war Lauch einer mächtigen Zwiebel. Und Jens hatte sich nicht weiter um Laura gekümmert. Sollte sie sich daran gütlich tun. Jetzt war er am Ende seiner Entdeckungsreise. Ein Blick noch auf die düstere Landschaft, dann wollte er zurückwandern, den Nachlaß von Helmut Schulze im Stadtarchiv deponieren und sich bei Kapitän Fedorow stellen. In Träume und Überlegungen strahlte ein Lichtblitz. Erschrocken hob Jens den Blick. Er sah, wie rosige Helle langsam die Plastekuppel überzog und das aschgraue Licht aufhob. Wieder blitzte das Licht auf. Strahlenfinger tasteten sich langsam vorwärts. Plötzlich war die Sonne da. Die Mondnacht war gewichen. Auf dem achten Kontinent wurde es Tag. Ein düsteres Bild bot sich dem einsamen Wanderer. Verdorrte Pflanzen reckten sich wie versengte Bäume empor. Gelbes Gras filzte auf weißlicher Erdschicht. Dann wieder zeigte sich eine dünne Humusdecke mit frischen grünen Gewächsen, die offensichtlich gerade aus dem Boden geschossen waren.
Jens stand noch immer unter dem riesigen Portal, über dem die mächtige Schale der Stadtkuppel emporstrebte. Was für ein Unterschied zwischen ihr und der zarten Folie über der düsteren Landschaft. Was sollte das alles bedeuten? Neben Jens summte Zepp mit roter Lampe. Er schnurrte verwegen von Pfeiler zu Pfeiler. Mit einem Mal stieg er singend auf seinem Luftkissen in die Höhe und sauste, angezogen vom Licht, mit weit vorgestreckten Antennen zur Erkundung in die karge Landschaft hinaus. In diesem Moment hörte Jens ein Krachen über dem wilden Tal. Jens sah, daß die Folie plötzlich platzte wie die Haut eines Ballons. Knirschend brach ein meterlanger Riß in der Kuppel auf. Das ging sekundenschnell wie bei einer dünnen Eisfläche. Ein gewaltiger Sog zog Jens fast unter dem Portal weg. Die Luft wurde dünn. Jens fiel das Atmen schwerer. Er sah Pflanzen niederbrechen und urplötzlich welken. Zepp torkelte wenige Meter über dem Boden dahin, stürzte auf einmal und rührte sich nicht mehr. Jens war vor Schreck zu keiner Bewegung fähig. Jetzt hörte er schrilles Pfeifen über sich. Er sprang erschrocken zurück. Aus dem Portal senkte sich eine Stahlwand herab. Das Portal wurde durch ein riesiges Schott hermetisch verschlossen. Im gleichen Moment strömte wieder angenehm frische Luft in die Lungen. Über dem Portal leuchtete in großen Buchstaben die Warnung auf: »Achtung! Meteoriteneinschlag!« Als Jens sich umdrehte, raste ein Wagen mit Rotlicht und Sirenenklang aus der Stadt heraus und auf ihn zu. Noch immer bebte Jens vor Schreck. Er winkte und schrie den Männern im Wagen zu: »Helfen Sie! Vor dem Tor liegt Zepp.« Der Wagen blieb direkt vor Jens stehen. Vier Männer sahen ihn entgeistert an. Sie blickten in die Richtung, die seine Hand ihnen wies. Ein Mann in Lederkombination kletterte aus dem Wagen. Streng fragte er: »Bist du Jens Dietrich?« Jens nickte entgeistert. Woher wußten sie seinen Namen? Der Mann befahl: »Einsteigen. Wir müssen dich sofort zu Kapitän Fedorow bringen.«
»Und Zepp?« fragte Jens. »Meinst du das schwarzweiße Vehikel?« fragte der Mann, der den Wagen wendete und mit aufheulender Turbine in die Stadt zurückjagte. »Den Apparat holen wir uns, wenn die Kuppel ausgebessert ist. Du weißt ja gar nicht, was du für ein Glück gehabt hast, Junge.« Kapitän Fedorow empfing den illegalen Besucher der Mondstadt Clavius in seinem Arbeitsraum. Die Männer hatten Jens durch die Tür geschoben und die Tür gleich wieder hinter ihm geschlossen. Sie waren in der Vorhalle geblieben. Jens stand verloren in einem großen Saal. Er blickte auf den Fußboden, der sich in fernste Fernen zu ziehen schien. Ganz hinten sah Jens einen hufeisenförmigen Tisch, mitten davor hatte Kapitän Fedorow Platz genommen. Rechts und links neben ihm saßen würdige Männer in dunkelblauer Uniform. Von der Saaldecke fiel indirektes Licht. Die Wände des weiten Raumes waren mit Kunststoffplatten getäfelt. Und an der linken Wand hing ein überlebensgroßes Porträt: ein fröhlicher junger Mann mit Grübchen und lustig verwegenem Blick in der Uniform eines sowjetischen Offiziers aus dem Jahre 1960. Der junge Mann auf dem Bild war der erste Kosmonaut der Welt, Juri Gagarin. Während Jens durch den Saal schritt, sah er unverwandt auf das Porträt. Der junge Mann auf dem Bild machte ihm Mut. Na, mein Lieber, schien er zu sagen, Kopf hoch und tapfer sein. Jens stand vor dem Tisch, biß die Zähne zusammen und sah Kapitän Fedorow an. Um die grauen Augen des Kapitäns schien ein Lächeln zu spielen. Oder täuschte sich Jens? Die Stimme des Kapitäns jedenfalls war streng und rauh. »Wir sehen uns ja unter eigenartigen Umständen wieder. Keine Ausflüchte! Keine Entschuldigungen! Wir verlangen einen ehrlichen Bericht. Dann werden wir sehen, was wir mit dir machen.« Jens sah die Männer der Reihe nach an. Ihre Gesichter waren ernst. Oder doch nicht ganz ernst? Der würdige weißhaarige Mann neben Fedorow räusperte sich etwas zu betont. Ein anderer hatte mit einem Hustenanfall zu kämpfen. Aber es lächelte keiner.
Ein fröhliches Gesicht zeigte nur Juri Gagarin. Und ihn gab es im Jahr 2071 leider nur auf dem Bild. Jens holte tief Luft. Er begann zu erzählen. Fest blickte er in die grauen Augen des Kapitäns und erzählte ohne Stocken alles. Er begann mit der Entdeckung des 4. Juli, berichtete von dem Vermächtnis Helmut Schulzes. Er meldete die Gründung der Arbeitsgemeinschaft »Lunaentdecker«. Hier wagte Jens einen schnellen Seitenblick zu dem Bild Gagarins. Gagarin lächelte ihn an. »Weiter«, kommandierte Kapitän Fedorow und klopfte mit der Hand ungeduldig auf den Tisch. Wieder waren die grauen Augen unverwandt und ohne Wimperzucken auf Jens gerichtet. Jens erzählte von der Reise zum Lunikport. Er schonte sich nicht. Jawohl, er hatte Zepp aus dem Zimmer seines Vaters geholt, ohne Erlaubnis. Er wollte Zepp nur sehen. Und damit begann das ganze Abenteuer. Rechts neben Kapitän Fedorow räusperte sich wieder jemand. Wieder hatte einer der würdigen Männer einen Hustenanfall. »Weiter«, mahnte der Kapitän. Jens berichtete von der Alleinfahrt zum Lunakurier. Er berichtete, wie er Laura entdeckte, allein, in der Kabine. »Wer ist Laura?« fragte Kapitän Fedorow erschrocken. »Ist noch ein Mädchen mit auf den Mond gekommen? Wo ist diese Laura?« »Laura?« Jens verlor den Faden. »Laura ist in der Zwiebelplantage.« »Wer ist Laura?« Blitze schossen aus den grauen Augen. »Laura ist ein Meerschweinchen.« Jens wischte sich den Schweiß von der Stirn. Gelächter am Tisch. Selbst Gagarin schien laut zu lachen. »Ruhe bitte«, mahnte der Kapitän. Aber auch er unterdrückte jetzt nur noch mühsam das Lachen. »Weiter.« Und Jens erzählte weiter. Er berichtete, daß die Bodenklappe zum Tiertransporter nicht funktionierte, daß er sie mühsam aufgesperrt hatte. Und dann sei es passiert. Dann hätte Zepp den Kontakt ausgelöst. »Einen Moment«, sagte Kapitän Fedorow. Er schwang sich in seinem Drehsessel herum, sprach in eine Videotelefonanlage: »Überprüfen Sie
bitte sofort den Einstieg zum Tiertransporter auf Lunakurier.« Dann drehte er sich wieder um und kommandierte: »Weiter!« Jens wich dem Blick der grauen Augen nicht aus. Er war jetzt auch nicht mehr verlegen. Er hatte nichts zu verbergen. Alles erzählte er, alles, was es zu erzählen gab. Dann schritt er zum Tisch. Er faßte in die Taschen und packte aus, legte alles vor Kapitän Fedorow auf die Tischplatte, was ihm Helmut Schulze hinterlassen hatte. Der Kapitän fischte nach dem Knopf mit dem eingeritzten Zeichen »Gagarin«. Er wog den Knopf nachdenklich in der Hand und sah auf das Porträt an der Wand. Er schmunzelte. Das Schmunzeln ging in Lachen über. Und dann lachte er, bis ihm die Tränen in die Augen traten. »Ist das eine verrückte Geschichte«, rief er und lachte. »Junge, Junge, wenn das alles stimmt… Wenn das alles stimmt, dann stelle ich mir dein Bild auf den Schreibtisch…« Erschrocken, als habe er zuviel gesagt, hielt er inne. Er sah den Delinquenten an. Jens wich dem Blick nicht aus, aber rot wurde sein Gesicht, ganz rot. Vor Verlegenheit? Vor Stolz? Kapitän Fedorow sagte: »Wenn das stimmt… wenn das alles stimmt.« Er fügte hinzu: »Natürlich nur ein kleines Bild, ein ganz kleines. Denn so großartig war die Geschichte nun auch wieder nicht. Aber trotzdem… wenn alles stimmt, Junge, dann hast du dich tapfer gehalten. Trotz der Dummheiten mit diesem Zepp…« In diesem Moment leuchtete der Bildschirm der Videotelefonanlage auf. Beyer blickte auf die Versammlung. Er meldete verlegen und gar nicht mehr unerschütterlich: »Der Kontakt zum Niedergang Lunakurier ist nicht in Ordnung, Kapitän. Ich habe auch versäumt, eine Abschlußkontrolle vorzunehmen. Aber wir leben im Jahr 2071. Wer denkt da schon an so etwas im Zeitalter des Vertrauens? Das soll natürlich keine Entschuldigung sein. Ich übernehme die Verantwortung.« Kapitän Fedorow winkte ab. »Hören Sie schon auf, Beyer. Wir haben den Jungen. Ist ja alles noch gut gegangen.« Beyer meldete sich ab, stramm wie ein Soldat nach dem Rapport, immer noch zerknirscht.
Der Kapitän überlegte einen Moment. Dann rief er das Laboratorium der Biologischen Versuchsstation. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er in die Sprechanlage. »Wir haben den Jungen.« Maika Svensons verblüfftes Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Sie sah erst nur die würdige Versammlung. Natürlich wußte sie von gar nichts. Sie war ja gerade aus ihrer Plantage gekommen. »Was ist in Ordnung?« fragte sie verdutzt. Dann bemerkte sie Jens. Mit tonloser Stimme sagte sie: »Jens. Mein Junge.« Fedorow war ein Mann schneller Entschlüsse. »Regen Sie sich bitte nicht auf, Frau Svenson. Unser Wagen holt Sie ab.« »Ja. Es ist gut.« Frau Svenson legte sofort wieder auf. Ihr Bild verblaßte. Jens starrte wie gebannt auf die Videotelefonanlage. Und jetzt schien ihm ein Stäubchen in die Augen gekommen zu sein. Er wischte mit dem Taschentuch schnell darüber hin. Kapitän Fedorow sah die Männer seines Arbeitsstabes der Reihe nach an. Sie nickten ihm zu. Er sollte Schluß machen. Der Kapitän winkte Jens zu sich heran und legte ihm seine Rechte auf die Schulter. »Kosmonaut«, sagte er, »was hältst du davon, wenn wir dich morgen zum Museum in die Mondstadt Eratosthenes schicken?« Der Kapitän räumte vorsichtig die Utensilien Helmut Schulzes zusammen. »Die Sachen gibst du dort ab. Dort gehören sie hin, nach dem Wunsch des Jungen aus dem Jahre 1963. Einverstanden?« Jens nickte, ihm schwindelte. Der Kapitän wog den Knopf in der Hand. Er blickte zum Bild Gagarins. »Aber den Knopf werden wir hierbehalten, als Andenken. Ein kleines Andenken haben wir uns verdient.« Er sah Jens freundlich an. »Morgen fährst du natürlich mit deiner Mutter. Übermorgen reist du mit ihr zur Erde zurück. Und im nächsten Jahr wollen wir dich hier mit der ganzen Arbeitsgemeinschaft sehen, aber als regulären Besucher, nicht als blinden Passagier.« Er stand auf und drückte Jens die Hand. Alle Männer in den strengen dunkelblauen Uniformen drückten Jens die Hand. Jens marschierte durch den weiten Saal zurück. Kurz vor der Tür drehte er sich um. »Was wird mit Zepp?« fragte er zögernd.
Jetzt lachten alle Männer hinter dem großen Tisch. Die Stimme des Kapitäns donnerte: »Dem Burschen werden wir das Elektronengehirn zurechtrücken. Dann kommt er in einen Käfig. Und auf der Erde darf er sich nur noch an der Leine bewegen.« Jens fiel überglücklich in die Arme seiner Mutter, die in diesem Moment zur Tür hereintrat.
11. KAPITEL Die Blitzfahrt zum Eratosthenes Die rotgraue Granitstraße war zwanzig Meter breit und in sechs Fahrbahnen unterteilt. Sie führte auf hohen Dämmen, durch Felstunnel, über Berge und Täler schnurgerade in den Süden. Sie wand sich, Tausende von Kilometern lang, wie ein Band rund um den Mond. Der 12. Juli war auf der Erde schon ein heißer Tag. Hier oben auf dem Mond strahlte die Sonne jedoch unbarmherzig auf den mit hoher Geschwindigkeit über die Granitstraße dahinjagenden Wagen. Wäre der Wagen nur mit einer Blechkarosse ausgestattet gewesen, hätten die Insassen unweigerlich verschmoren müssen. Doch Lunagarant war ein speziell für den achten Kontinent gebautes Fahrzeug. Türen und Fenster des Wagens waren hermetisch geschlossen. Im Inneren regulierte eine Klimaanlage die Luftzufuhr. Feuchtigkeitsgehalt und Temperatur waren auf den menschlichen Organismus abgestimmt. Lunagarant war so groß wie ein Autobus auf der Erde. Seine Antriebsenergie wurde von einem Atommotor geliefert, der zugleich Hochfrequenzstrom erzeugte, der sich wie ein Schirm über das Fahrzeug breitete und es vor Meteoriten schützte. Noch vor dem Einschlag würden sie verdampfen. Die Fahreigenschaften waren trotz der kantigen Bauweise hervorragend. Lunagarant brauchte weder eine Stromlinienkarosse noch Stabilisierungsflossen. Er mußte weder gegen den Widerstand der Luft noch gegen die Unbill der Witterung ankämpfen. Auf dem Mond gibt es bekanntlich keine Atmosphäre. Der Kommandant des Fahrzeugs saß zurückgelehnt in seinem Sessel. Er sah sich das Fernsehprogramm der Mondzentrale Clavius an, einen Dokumentarfilm über den Bau von Gezeitenkraftwerken auf der Erde. Der Geschwindigkeitsmesser zeigte dreihundert Stundenkilometer. Trotzdem lag Lunagarant ruhig auf der Straße. Die Steuerung erfolgte durch eine Elektronenanlage.
Der Kommandant sah interessiert auf den Bildschirm. Für die Mondlandschaft hatte er keinen Blick. Sie langweilte ihn. Und das strenge Licht über der Einöde schmerzte mit der Zeit in den Augen. Dagegen hatte Jens für das Fernsehbild keinen Blick übrig. Er sah hingerissen durch die Panoramascheiben über das einsame Land. Auf der rotgrauen Straße flimmerten Millionen und aber Millionen winzigster Glimmersplitterchen. Sie ließen das Granitband bis in die Ferne aufleuchten. Felsbrokken und poröses Gestein säumten den Weg. Wüsten tauchten zur Seite auf. Hohe Dünen aus vulkanischer Asche wellten sich am Horizont wie die Fluten eines vom Sturm bewegten Meeres. Nach siebenhundert Kilometern Reise passierten sie ein halbes Dutzend Kuppelbauten, die sich wie Moscheen in den Mondhimmel wölbten. Der Kommandant antwortete auf die Frage seines wißbegierigen jungen Passagiers: »Das ist das Mondkraftwerk Kopernikus. Hinter dem Ringgebirge befindet sich das Zentrale Kosmodrom. Von dort starten die Raketen zu den interplanetaren Reisen.« Jens sah nachdenklich auf die niedrige Bergkette. Dort also begannen die Reisen zum Mars, zur Venus und zum Pluto. Und der Kommandant betrachtete das offensichtlich als die selbstverständlichste Sache der Welt. Er verschwendete keinen Blick auf das außergewöhnliche Bild, sondern sah gefesselt auf den dagegen doch so simplen Bau von Gezeitenkraftwerken auf der Erde. Jens beobachtete seine Mutter. Sie las in einem Buch und lächelte ihn an, als sie seinen Blick bemerkte. Jens sah dem Kommandanten über die Schulter. Vor ihnen stieg ein Ringgebirge am Horizont auf. Die Straße führte schnurstracks darauf zu. Wieder glänzte eine gewaltige Kuppel am Horizont. Lunagarant stieß einen grellen Sirenenton aus. Der Kommandant blickte auf. Er schaltete das Fernsehgerät ab und beobachtete konzentriert die Mondsiedlung, der sie sich rasch näherten. Die Geschwindigkeit wurde gedrosselt. Lunagarant glitt langsam auf einen engen Tunnel zu.
Kurz vor der Einfahrt flammten die Scheinwerfer des schweren Wagens auf und warfen ihre Strahlenbündel in den dunklen Schacht. Die Fahrt ging durch eine kilometerlange Felshöhle, die in den Berg gesprengt war. Vor ihnen leuchtete ein breites Aluminiumtor auf. Kaum fiel der Scheinwerferstrahl des Wagens auf versteckte Fotozellen im Berg, sprangen auch schon die Torflügel weit auf. Sie passierten die Luftschleuse. Gleich darauf öffnete sich ein zweites Tor. Sie fuhren in die hellerleuchtete Stadt. Eratosthenes war das Erholungszentrum des achten Kontinents. Diese Mondsiedlung war eine grüne Stadt. Auf Plätzen plätscherten Springbrunnen zwischen Blumenrabatten. Rosen neigten ihre großen Blütenköpfe unter dem Licht einer künstlichen Sonne. Palmen breiteten ihre breiten Blätter wie Schirme in schwindelnder Höhe. Hier sah Jens die schweren Äpfel Professor Drosses an mächtigen Obstbäumen reifen. Stachelbeeren und Brombeeren schauten einladend aus dichtem Gebüsch, saftig und groß, zum Anbeißen. Der Zentrale Platz der Mondstadt Eratosthenes glich einem Stadion. In seiner Mitte dehnte sich ein kleiner See, über dem wie eine weiße Fahne eine hundert Meter hohe Fontäne aufstieg. Lunagarant steuerte einem Parkplatz zu, auf dem schon lange Wagenreihen standen. »Was machen wir zuerst?« fragte Maika Svenson ihren Sohn nachdenklich. »Gehen wir essen? Oder sprechen wir mit dem Ratsvorsitzenden Luigi Pella?« Der Kommandant sagte vorsichtig: »Also, wenn Sie mich fragen… ich möchte ins Schwimmbad gehen.« »Gut«, sagte Frau Maika. »Sie können sich meinetwegen bis vier Uhr erholen. Aber was machen wir?« Ebenso wie der Kommandant meinte Jens: »Also, wenn du mich fragst…« »Ja, ich frage dich.« Seine Mutter lächelte. »Du bist nun mal die Hauptperson. Also?« »Dann möchte ich zuerst zum Ratsvorsitzenden.«
Luigi Pella war bereits unterrichtet. Er empfing sie im Rathaus der Stadt, einem weißen Flachbau. Sein kluges Gesicht lachte Jens an. »Willkommen«, rief er mit klangvoller Stimme. »Ich grüße den jüngsten Kosmonauten der Welt.« Er schritt zu einer Vitrine in der Mitte des Museumssaales. Er öffnete die Scheibe und winkte Jens Dietrich heran. Jens blickte auf die Mondwimpel, die vor mehr als hundert Jahren eine sowjetische Rakete auf den achten Kontinent getragen hatte. Mit dieser Botschaft der Menschen an den Erdtrabanten wurde die friedliche Eroberung des Mondes eingeleitet. Jens durfte das Bild Helmut Schulzes, seinen Brief, das Bild Juri Gagarins mit der persönlichen Widmung, Pioniertuch und Pionierausweis aus dem Jahre 1963 danebenlegen.
12. KAPITEL Ein Blick zurück – ein Blick nach vorn Helmut Schulze hatte sein Ziel erreicht. Bernhard Möhrs Auftrag war erfüllt worden. Jens Dietrich kehrte vom Mond zur Erde zurück. Und Mac Bluffke, der nicht mehr der kleine Meckie sein wollte, konnte wieder aufatmen. Blieb nun der Zeiger auf der Zukunftsuhr einfach stehen? Solange es ein Sein gibt, ist das nicht möglich. Auch im dritten Jahrtausend folgt der Stunde nun mal der Tag, dem Tag die Woche, der Woche der Monat und dem Monat das Jahr. Mit unveränderlicher Geschwindigkeit drehen sich die Himmelskörper um ihre eigene Achse. Und an dieser gleichförmigen Bewegung ihres Planeten Erde messen auch die Menschen der Zukunft wie die Menschen der Vergangenheit ihre Zeit. Die Erde bringt ihnen den Tag und die Nacht. Und die Erde läßt also Jens und Mac, Claudia und Heinrich Schorr eines Jahres Frühling, Sommer, Herbst und Winter erleben. Zweimal rundete sich für sie das Jahr. Und was darin aufgehoben war, nannten sie wie die Menschen vor ihnen den Alltag. Sie gingen zur Schule, lernten fleißig ihre Lektionen, wurden klüger, erfahrener, gereifter. Sie bekamen Zeugnisse und wurden versetzt. Sie steigerten ihre Leistungen und maßen mit der Zeit ihre Kräfte. Hin und wieder dachten sie dabei an ein Zweigespann der Vergangenheit, dessen überspannte Vorstellungen von der Zukunft ihnen dann ein Lächeln entlockte. Was sollte das schon für ein Leben sein, das Helmut Schulze und Bernhard Möhr für sie gefordert hatten? Weniger lernen, in Autos herumzufaulenzen und die Tage im Kino verdösen? Wo blieb da der Sinn des Daseins? Um die den Menschen im dritten Jahrtausend gegebenen Möglichkeiten nutzen zu können, brauchten die Jungen und Mädchen im Gegenteil mehr Wissen als ihre Vorgänger. In Helmut Schulzes Brief waren noch mehr faule Gedanken versteckt. »Gibt es gar keine Schule mehr?« hatte er gefragt. »Vielleicht müßt Ihr gar nicht mehr Lesen und Schreiben lernen? Ich habe in einem Buch gelesen, daß dann alles Maschinen machen…«
Heinrich Schorr fand also solche Überlegungen komisch. Jens hielt sie nicht des Nachdenkens wert. Bei Meckie führten sie zur Überprüfung der eigenen Position im Leben. Sah er auch dem Jungen aus dem vorigen Jahrtausend ähnlich, wollte er doch anders sein als der. Hatten die Lehrer einst geurteilt, »er hat es in sich, gibt es aber nicht von sich«, so zeigte Mac nun, daß er tatsächlich ein ganzer Kerl war. Er trainierte wie seine Freunde Geist und Körper für die Aufgaben der Zukunft. Helmut Schulze würde jetzt vielleicht die Nase kraus ziehen und die Frage stellen: »Ist das nicht ein wenig langweilig, solch ein Leben? Arbeiten, lernen, trainieren, sich weiterbilden?« Die Antwort darauf können nur die Freunde des dritten Jahrtausends geben. Sie reisten übrigens mit der Arbeitsgemeinschaft der Lunaentdecker zum Mond, blieben aber in den zwei Jahren dennoch fest mit den Beinen auf der Erde. Sie holten sich Zepp auf den Planeten ihrer Kindheit zurück. Und damit wäre schon einiges gesagt zu Helmut Schulzes mißtrauischer Frage, ob das Leben im dritten Jahrtausend noch genug Abenteuer bereithält. Doch wer mehr wissen will, wird am besten eine Reise in das Jahr 2073 antreten und die Zukunft selbst in Augenschein nehmen. Dort trifft er in der Stadt der Jugend die Freunde wieder, die er vor zwei Jahren verlassen hat…
13. KAPITEL Der fliegende Dobermann des Jahres 2073 Als das Dach über dem Experimentiersaal zurückgeglitten war, blickten sie in den Sternenhimmel. Sie sahen das Zeichen der Kassiopeia, ein W über dem vom First begrenzten Horizont. Und den Mond beobachteten sie, der in einem Lichthof dämmerte. Neben Heinrich Schorr hockte Mac Bluffke auf der Bank. Er zeichnete an einer Skizze, auf der sich Umrisse eines zigarrenförmigen Fahrzeugs zeigten. Ab und zu kratzte er sich mit dem Sechsfarbenstift im rotblonden Haar, das bereits Einsprengsel von blauer und grüner Farbe aufwies. Heinrich Schorr betrachtete seine Hände. Auf der Kuppe des rechten Zeigefingers prangte eine Blutblase. Der Daumennagel war gesprungen. Das waren die praktischen Auswirkungen des Planes, den Mac auf den Knien balancierte, ungesehen vom Dozenten dieses Abendkurses und versteckt vor den Augen der Hintermänner. Aber Macs Vorsicht war unnötig. In der folgenden Bankreihe lauschten aufmerksame Schüler der Sondergruppe für wissenschaftlichtechnische Kenntnisse in der Stadt der Jugend dem Dozenten für Geographie, Antonius Puch. Puch war ein zierlicher Mann, der mit fester Stimme das Kommando gab: »Bild abfahren.« Das Licht erlosch. Sekundenlang stand nur der fahle Dämmerschein der Sommernacht über dem Raum. Blätterrauschen erfüllte den Saal. Dazwischen ertönte der Schrei eines Tropenvogels. Das Krächzen von Papageien war zu hören. Und dann zeichneten sich an der Stirnwand Umrisse mächtiger Bäume ab, traten stärker hervor, verdichteten sich zu einem Urwald, ein betäubender Duft kam auf. In einem Augenblick war die Gruppe in die ferne Welt der Tropen gereist. »Das Geheimnis meiner Abwesenheit in der vergangenen Woche«, erklang die feierliche Stimme des Geographielehrers Antonius Puch. »Um euch die eindrucksvolle Welt der tropischen Regenzone verständlich machen zu können, bin ich mit einem Überschallflugzeug zum Amazonas geflogen und habe diesen Stereocolorfilm gedreht.« Er beobachtete
aufmerksam seine Schüler, die gespannt auf das Panorama blickten. Dann spitzte er ein wenig ironisch die Lippen. »Ihr seht, meine Freunde, daß man nicht unbedingt zum Mond und zu den Sternen reisen muß, um Außergewöhnliches zu erleben. Auch unsere Erde bietet unvergeßliche Erlebnisse.« »Ich weiß, was wir machen«, zischelte Mac dem neben ihm träumenden Heinrich Schorr ins Ohr. Er klopfte mit dem Knöchel seines Zeigefingers auf die Skizze. »Damit reisen wir zum Amazonas und jagen Krokodile.« Heinrich Schorr kehrte aus der Zauberwelt zurück, mit unwilligem Knurren. »Ich denke, du willst den Riesenwels fangen?« »Später. Der schwimmt uns nicht weg.« Macs Blick hing gebannt an dem zauberhaften Bild. Ein leichtes, schnelles Boot, blinkendes Wasser, dichter Urwald, unbeschreiblicher Lärm. Bunte Vögel zwitscherten, Papageien schrien. In dieses exotische Konzert drängte sich auf einmal ein neuer Ton, klang wie das Winseln eines Hundes, das abbrach und wieder aufstieg, bis es in langgezogenes Jaulen überging, dem ein Kläffen folgte. »Ein Wolf«, flüsterte Heinrich Schorr. Hinter ihm wurde gelacht. »Geographie fünf«, raunte Jens. »Geh mal in den Schulzoo, Heiner. Dort steht es schwarz auf weiß, wo Wölfe vorkommen.« Heinrich Schorr schwieg gekränkt. Aber jetzt spitzte Mac die Ohren. »Klingt fast, als hätte Puch unseren Pickwick mit ins Boot genommen.« Antonius Puch marschierte aufgeregt an der Stirnwand des Saales auf und ab. Auch er konnte sich das Heulen und Kläffen mitten im Urwald nicht erklären. Die Klasse begann zu lachen. Es sah auch zu komisch aus, was sich vor ihnen abspielte. Viele außergewöhnliche Dinge gab es ja in dieser Welt des Jahres 2073. Aber daß ein ausgewachsener Mann mit behendem Schritt die Wellen des Amazonas durchquerte, war ein seltsames Schauspiel. Und als Antonius Puch schließlich wie eine Geistererscheinung aus dem Stamm eines Wildkautschukbaumes schaute, auf dem Kopf einen Papagei, gab es Sonderbeifall.
Puch blickte sich um, sah nach oben, erkannte seine Lage. Der Zauber ist dahin, dachte er. Wenn du jetzt nicht gute Miene zu diesem Spiel machst, war deine Arbeit nichts wert. Darum lachte auch er und rief: »Wahrscheinlich ein fliegender Hund, liebe Freunde! Aber daß so etwas bellt wie ein Dorfköter, ist auch mir neu.« Gleich darauf machte er das Licht an. Zwar war man wieder in der Stadt der Jugend unweit von Berlin, waren Papageien und exotische Vögel samt Urwald verschwunden, aber das Hundegebell hatte nicht ab-, sondern eher zugenommen. Es schien direkt vom Sternenhimmel zu kommen. »Wenn ich nicht wüßte, daß Pickwick jetzt seinen Rundgang mit meinem Vater in Berlin macht, würde ich glauben, er hält uns hier zum Narren«, flüsterte Mac über die Schulter seinem Hintermann Jens zu. In diesem Moment erklang eine Sirene. Und an der Stirnwand des Zentroexperimental leuchtete eine Meldung auf. »Alarm. Schülerhilfsdienst zum Einsatz!« Antonius Puch sah fassungslos auf die Leuchtschrift. Einen Unterrichtsnachmittag hatte er geopfert. Um eine Sondergenehmigung für diese Abendvorführung hatte er gekämpft. Und das war nun das Resultat seiner Bemühungen: Ein in Sekundenschnelle geleerter Saal gähnte ihn an. Jens, Mac und Heinrich Schorr standen unterdes schon auf dem unterirdischen Schnelltransportband. Es beförderte sie zum Großen Stern der Stadt der Jugend, dem Mittelpunkt des weiträumigen Schulzentrums. Auf diesem Platz erhob sich das Denkmal einer zum Flug in den Weltraum ansetzenden Rakete. Und ganz klein stand heute vor seinem mächtigen Sockel ein hilfloser Mann: der Hausmechaniker aus der Avenue Zampetta von Berlin, der Spezialist aus der Schule der hundert Berufe, Karl-Franz Bluffke, Vater von Mac. »Pickwick«, flüsterte er. »Wo bist du nur geblieben, Pickwick?« Statt seines Dobermanns Pickwick lief der Vorsitzende des Pädagogischen Rates, Direktor Frank Gabel, auf ihn zu. »Was ist los?« rief er. »Die Nachtruhe von zweitausend Schülern ist hin. Haben Sie Alarm ausgelöst?«
Karl-Franz Bluffke sah verstört den Direktor an. Er zeigte zum Himmel. »Es ist etwas Fürchterliches geschehen«, murmelte er. »Ich glaube, dort oben ist Pickwick.« Gabel, der gerade ein Stündchen geschlafen hatte, rieb sich die Stirn. »Wer ist Pickwick?« fragte er verdutzt. »Mein Hund«, flüsterte Karl-Franz Bluffke. »Er hat das Dingsbums, diesen Zepp, diese elektronische Schildkröte gesehen. Na, Sie wissen schon, das Ding, das Ihnen der Vater Ihres Schülers, der Chefkoordinator Dietrich, zum Geschenk gemacht hat.« »Was reden Sie da?« Gabel wurde ärgerlich. »Zepp ist Requisit der physikalischen Abteilung, der saust nicht in der Dunkelheit herum.« »Doch«, antwortete Karl-Franz Bluffke und zeigte zum nahen Gehölz. »Von dort kam er. Da ist natürlich Pickwick hinterher. Und auf einmal hörte ich das Bellen. Aber da war Pickwick schon in der Luft. Hören Sie doch…« Fern am Himmel war leises Surren zu hören. Und aus der gleichen Richtung ertönte Jaulen und Hundegebell. Der weite Platz war inzwischen von vielen hundert Jungen und Mädchen gefüllt. Sie hielten Abstand von der kleinen Gruppe am Denkmal und horchten ebenfalls auf den seltsamen Lärm in der Nacht. Mac Bluffke hatte seinen Vater gesehen. Es sollte doch ein Geheimnis bleiben, daß er mich besucht, war sein erster Gedanke. Darauf war er hinter das Denkmal geschlichen und hatte die Unterhaltung angehört. Jetzt stand Mac etwas verstört seitab. »Wieso gehst du nicht zu deinem Vater?« fragte Jens. Mac legte den Finger an die Lippen. »Zepp ist mir ausgebüxt.« »Wieso ausgebüxt?« Jens sah den Freund fassungslos an. »Zepp ist doch in der Physikabteilung, oder? Junge, was hast du bloß wieder angestellt?« »Ich hatte mir Zepp ausgeliehen.« Mac sah bedrückt vor sich hin. Schon wollte er weitere Erklärungen geben. Aber in diesem Moment hörte er das Kommando des Direktors. »Lichtwerfer an!« Vier Strahlenbündel schossen in den Himmel, tasteten in breiten Bahnen das Dunkel ab.
Ein Werferkegel erhaschte für Sekunden einen blinkenden Gegenstand am Himmel. Noch ehe das Lichtband wieder zurückgewandert war, hatten die anderen Strahlenfinger nachgegriffen und zogen den Fund aus dem Dunkel in gleißende Helle. Den staunenden Blicken von Lehrern und Schülern bot sich eine Erscheinung. Am Himmel schwamm ein kleines Luftschiff durch die Sommernacht. Über die Brüstung der offenen Gondel blickte der Kopf eines Dobermanns. Deutlich war sein Bellen und Jaulen zu hören. Direktor Frank Gabel wollte seinen Augen nicht trauen. Ihm war es, als sei er immer noch nicht aus Schlaf und Traum zurückgekehrt. »Da ist Pickwick«, schrie Karl-Franz Bluffke plötzlich. »Wie ist der Hund bloß in die Luft gekommen?« Mac hatte sich inzwischen gefaßt. »Kann mir vorstellen, was passiert ist«, sagte er gedehnt. »Zepp ist zur Werkhalle zurück, in der ich zur Zeit arbeite. Dort stehen die Luftkutschen. Pickwick ist in eine von ihnen gesprungen, hat dabei den automatischen Piloten berührt, und ab ging die Reise.« Jens sah prüfend zum Himmel. Tatsächlich war das blinkende Gefährt dort oben eines der kleinen Schiffe, die sich die Schüler für Exkursionen über Land gebaut hatten. Eine uralte Erfindung war von ihnen vor einiger Zeit aufgegriffen und zu einem praktischen Gebrauchsfahrzeug entwickelt worden. Solch ein Kleinluftschiff faßte fünf Mann, eine Forschungsgruppe. Ein automatischer Pilot sorgte für ungefährliches Starten und Landen. Wenn man aber in der Luft war, mußte der Hebel der Pilotanlage schon auf »Aus« gestellt. werden, damit die Passagiere zur Erde zurückkamen. Wie sollte das aber ein Hund wissen? Auf dem Platz hatten sich inzwischen Diskussionsgruppen gebildet. In jeder Gruppe gab ein Fachmann seine Weisheiten zum besten. »Wir sollten ihn mit einem Hochfrequenzstrahler zur Erde dirigieren«, rief ein schlaksiger Bursche. Direktor Gabel winkte ab. »Ehe wir das Gerät aufgestellt haben, ist der Hund längst abgetrieben.« »Mit einem Luftgleiter aufsteigen und entern«, schlug ein Dozent vor.
Gabel nickte. »Navigationsschüler vortreten«, rief er. In diesem Moment hatte Jens eine Idee. Er wußte, daß der Direktor nicht allzuviel von Zepp hielt. Für Gabel war Zepp ein nicht ernst zu nehmendes Experiment des Chefkoordinators. Darum hatte er das schwarzweiße Luftkissenfahrzeug in die Requisitenkammer der Physikabteilung verbannt. Das Herumstromern des Trabanten war ihm auf die Nerven gegangen. Aber Jens hatte eine Idee. Mac war mit dem Plan sofort einverstanden. Zepps Ehrenrettung war in diesem Moment auch seine Angelegenheit. Im Dunkel der Werkhalle V funkelte das Kontaktlämpchen des kleinen gewürfelten Gesellen. »Zepp«, rief Jens. »Kommando auf Kanal 5. Fertig zum Einsatz.« Ein Sirren war zu hören. Gleich darauf schwebte das rote Licht in die Höhe und sauste durch die Luft auf die beiden Jungen zu. »Antwort Kanal 6«, brabbelte eine Stimme. »Zepp ist bereit.« Das Gefährt setzte vor ihnen auf. Scheinwerferaugen sandten zwei scharfe Lichtstöße. Leise vibrierten die langen Antennen. »Kommando Kanal 5«, sagte Jens. »Fertig zur Luftschiffreise. Autopilot einschalten. Zu Pickwick aufsteigen. Autopilot abschalten. Ins Nachbarschiff umsteigen und Pickwick landen. Ab.« Zepp repetierte mit kurzem Aufleuchten der Scheinwerfer. Rot leuchtete das Kontaktlämpchen auf seinem Rücken. Dann schoß er in scharfer Wendung an den beiden Jungen vorbei, zu den Luftschiffen auf der Betonpiste hinüber. »Junge, jetzt habe ich Angst«, sagte Jens, heiser vor Anstrengung. »Das kann er gar nicht kapiert haben.« Mac pfiff durch die Zähne. »Ist kein Spielzeug«, sagte er. »Ich weiß es genau.« Jens sah den Freund nachdenklich an. »Was hast du überhaupt mit ihm getrieben?« fragte er. Aber Mac überhörte die Frage. »Schau mal da«, rief er. Das von Zepp kommandierte Luftschiff schwebte über die Dächer der Häuser. Haarscharf glitt es an dem mächtigen Teleskopfernrohr der pla-
netarischen Beobachtungsstation vorüber und trieb mit zunehmender Geschwindigkeit in die Lichtglocke der Werfer. »Oh, noch ein Luftschiff«, riefen sie auf dem Platz. Ein Spaßvogel krähte: »Wieder ein fliegender Hund.« Direktor Frank Gabel schüttelte mißbilligend den Kopf. Das neue Luftschiff beschrieb einen vorsichtigen Bogen über der Gondel, in der Pickwick nach Leibeskräften jappte und bellte. Ein winziger, schildkrötenartiger Gegenstand jagte durch die strahlende Lichtglokke. Das zweite Luftschiff verlor an Höhe und schwebte zur Piste nieder. »Zepp! Das ist doch Zepp!« rief eine Mädchenstimme. Plötzlich hallten Sprechchöre über den Platz. »Zepp!« – »Zepp!« – »Zepp!« Zepp stürzte wie ein Stein mehrere Meter tief. Schweigen breitete sich auf dem Platz aus. »Er schafft es nicht«, flüsterte Jens. Mac stand mit offenem Mund. Seine Ohren waren feuerrot. Seine vom Sechsfarbenstift gezeichneten Hände schwitzten. Aber Zepp hatte sich gefangen. Er schlug einen scharfen Haken und sauste in die Gondel. Gleich darauf segelte das Luftschiff über den Platz, von den Werferstrahlen gefolgt. Ein verdutzter Pickwick mit hängendem Kopf trottete aus dem Luftschiff, den dünnen Schwanz fest zwischen die Beine geklemmt und kläglich jappend. Hinter dem verstörten Hund schnurrte das kleine Luftkissenfahrzeug mit rotleuchtendem Kontrollämpchen. Die Scheinwerfer funkelten, und die Antennen spielten. »Zepp, Zepp«, brabbelte es durch die Nacht. »Das war Zepp.«
14. KAPITEL Die Erfindung des Mac Bluffke Aus dem kleinen verspielten Meckie, dem die Träume so oft ein Schnippchen geschlagen hatten, war ein kräftiger Junge geworden, der unbeirrt ein einmal anvisiertes Ziel ansteuerte. Und doch lebte manchmal der kleine Meckie in Herz und Kopf des großen Mac. Es ist nun einmal ein eigen Ding um den Werdegang des Menschen. Was wir heute sind, wird von den Erfahrungen des Gestern mitbestimmt. Früher sagten die Lehrer vom kleinen Meckie: »Er hat es in sich, aber gibt es nicht gern von sich.« Vom großen Mac hieß es: »Er könnte mehr, wenn er sich auf die Aufgaben konzentrierte.« Aber das war doch wohl eine dem Alter angepaßte Variante des ersten Urteils oder…? Freund Heinrich Schorr und die Zwillinge Peter und Paul hatten Mac heute mit der Bemerkung verlassen: »Du bist und bleibst ein Spinner, Mac.« An den Direktor, der ihm Zepp ohne Kommentar entführt hatte, wagte er gar nicht zu denken. Am kommenden Morgen sollte es eine Untersuchung der Vorfälle geben, die zu Pickwicks sensationellem Flug geführt hatten. Mac seufzte. Dabei spürte er eine kühle Hundenase in seiner Hand. Im Dämmerlicht der großen Halle funkelten ihn die Augen des Dobermanns an. Der Erreger des ganzen Ärgers lag neben ihm, brav und ergeben mit dem Schwanz wedelnd. Pickwick war das einzige Wesen, dem es gelingen konnte, Zepp wieder herbeizuschaffen. Und Mac brauchte Zepp. Ohne Zepp war seine Erfindung in Gefahr. Aber von der Erfindung des Mac Bluffke hing auch das Ansehen des Schülers Mac Bluffke ab. Warum bist du nicht geblieben, Pap? dachte Mac voller Wehmut. Vater Karl-Franz Bluffke war der einzige, der ihn verstand. Er bewunderte das handwerkliche Geschick seines Sohnes. Für Karl-Franz Bluffke war das die natürliche Weiterentwicklung des väterlichen Erbteils. Er hatte den Sohn bei den Plänen der neuen Erfindung beraten. Karl-Franz Bluffke hatte ihm heute auch die Mikrominiatoren für das automatische Steuer-
system seiner Maschine besorgt. Aber als Mac seinen Vater nach dem nächtlichen Abenteuer heimlich in die Werkhalle V führen wollte, hatte Karl-Franz Bluffke abgewinkt. »Was? Deine Ausbilder wissen nicht von der Erfindung?« hatte er erschrocken gefragt. »Dann ändere das schleunigst. Mit vierzehn Jahren bist du nicht mehr der kleine Meckie. Für deine Pläne mußt du selbst einstehen, Junge.« So saß Mac allein in der großen Werkhalle und fühlte sich verlassen. Neben ihm schniefte und knurrte Pickwick, den Karl-Franz Bluffke nur widerstrebend zurückgelassen hätte. Und neben den beiden einsamen Wesen barg eine Plastpersenning das Wunderwerk eines Vierzehnjährigen im dritten Jahrtausend. Bisher vor den Augen von Lehrern und Ausbildern verborgen, als Schülerarbeit für den Jahresabschluß deklariert und in anstrengenden Nachteinsätzen nahezu fertiggestellt. Mac gähnte. Pickwick, der die schützende Hand verloren hatte, stand auf und schüttelte das blanke braune Fell. Dann schnürte er mit steifen Beinen um das verdeckte Bauwerk herum. Als der Zugwind in der Halle ein Rascheln der Plastbahn verursachte, sträubte sich sein Fell. Er fletschte die Zähne und knurrte leise. Mac sah auf die Uhr am Handgelenk: die erste Stunde des neuen Tages. Am Vormittag wollte Antonius Puch seinen Vortrag über den Amazonas fortsetzen. Mac rieb sich verschlafen die Augen. Wieder würde es wie früher heißen: »Er hat es in sich, aber gibt es nicht so gern von sich.« Der kleine Meckie holte ihn eben immer wieder ein. Mac konnte machen, was er wollte, die besten Pläne zerstoben im Wind. Nun hatten ihn außer Zepp auch noch Heinrich Schorr und die Zwillinge Peter und Paul verlassen. Sollten die durchwachten Nächte umsonst gewesen sein? Um die Verzagtheit zu überwinden, erhob sich Mac widerwillig. Er nahm die Persenning in die Hand und riß sie mit einem kräftigen Ruck beiseite. Pickwick, der gerade am Verdeck herumschnüffelte, sprang zur Seite und begann zu bellen. Von den Wänden tönte es zurück, als hätten sich hundert Hunde in der Halle versammelt. »Pscht, sei ruhig, du. Dummer Hund, dummer Pickwick, du«, flüsterte Mac wütend. Aber Pickwick war nicht zu beruhigen. Er hatte die Beine
vom Körper weggestemmt, streckte den Kopf vor, kläffte und jaulte. Denn was er da vor sich sah, schien ihm ein furchterregendes Tier zu sein. Auf einer Helling aufgebockt, zeigte sich ein silbrig schimmerndes kleines Wasserfahrzeug. In ihren Umrissen war die Konstruktion verwandt mit den Luftschiffen auf der Betonpiste, unweit der Halle. Der Körper war gedrungen. Am spitz zulaufenden Bug war eine gläserne Kanzel eingebaut. Darüber leuchtete ein großes Auge, ein Scheinwerfer. Unter der Kanzel reckten sich stählerne Fangarme mit Gelenken, sogenannte Manipulatoren. Auf dem Deck war ein Einstieg zu sehen. Davor und dahinter konnte man die Magnetbügel der Ballastsilos erkennen, und am Heck fächerten breite Leitflossen. Das Fahrzeug machte einen eleganten und dabei zuverlässigen Eindruck. Delphin 1 war auf die silbrig schimmernde Seitenwand geschrieben. Delphin 1 war unverkennbar ein Tauchboot. Vorerst bestimmt zur Unterwasserjagd im großen See der Stadt der Jugend. Mac schwoll das Herz. Das war sein Werk. Mit festem Schritt umkreiste er das Fahrzeug, von dem verschreckten Pickwick gefolgt. Die Wand des Tauchbootes war glatt und straff. Als Mac mit dem Fingerknöchel daran klopfte, gab es einen trockenen, harten Ton. Das war kein Blech, sondern spezialgehärtetes Metall, leicht, aber stabil und fähig, selbst dem Wasserdruck in drei- bis vierhundert Meter Tiefe standzuhalten. Der Außenrumpf barg eine zylindrische Kunstglaskabine, die ebenfalls auf Maximalbelastung geprüft worden war. Mac und seine Freunde hatten sich mit Improvisationen nicht zufriedengegeben. Ihr Fahrzeug war auf Sicherheit gebaut. Es war ihr Ehrgeiz gewesen, mit diesem Modell ihre Kenntnisse und Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Und ihr Können war nicht gering. Seit dem fünften Lebensjahr besuchten sie die Schulstadt der Jugend, der ein Ehrentitel, »Wissenschaft beginnt mit 13«, zuerkannt worden war. Hochgebildete Lehrer und Spezialisten vieler Berufe hatten für eine umfassende Ausbildung gesorgt.
Wer die wissenschaftlich-technischen Klassen dieser Erziehungsstätte mit einem Diplom verließ, war befähigt, als Operateur in einer Werkhalle mit automatisiertem Produktionsablauf zu arbeiten, in einem Atomkraftwerk tätig zu sein, als Dispatcher in einem ferngelenkten Bergwerk, als Monteur von Universal-Elektromaschinen und als Spezialist in ähnlichen Stellungen seinen Mann zu stehen. Mac erinnerte sich, wie gründlich er am Anfang seiner Schullaufbahn in den Handfertigkeiten des täglichen Lebens unterrichtet wurde, wie er dann in die Welt der Technik eintrat und schließlich selbst schöpferisch tätig sein durfte. Fast mühelos waren er und seine Freunde aus dem Spiel in ein produktives Leben hineingewachsen. Mac pfiff jetzt überlegen eine Melodie durch die Zahnlücke. Er sah sich in Gedanken als kleinen Meckie vor zwei Jahren durch die Anlagen der Avenue Zampetta in Berlin tollen. Damals hatte alles angefangen. Sie hatten eine Kiste aus dem Jahre 1963 entdeckt, die seltsame Pläne und Geschichten barg. Wie hatten sie gelacht über die eigenartigen Moden, Lebensgewohnheiten und Maschinen ihrer Ururgroßeltern. Keiner von ihnen kannte sich so recht im Zeitablauf aus. War man schon 1900 mit einem Überschallflugzeug geflogen? Oder hatten sie erst 1963 das Fernsehen erfunden? Gab es die Elektrizität vor dem Gaslicht? Oder war es umgekehrt? Sie hatten die Archive durchstöbert und die Welt von gestern entdeckt. Der Neubau des Luftschiffes war die Arbeit eines Schülerkollektivs gewesen, das ihm aber ganz andere, zeitgemäße Aufgaben zuwies. Im Zeitalter der superschnellen Flugapparate hatte man Freude am gemächlichen Dahingleiten gewonnen, am nahezu lautlosen Schweben über Wälder und Seen. Dozent Antonius Puch verstand, das Fahrzeug schließlich für den Geographieunterricht zu nutzen, mit ihm topographische Aufgaben zu lösen. So hatte er auch Direktor Frank Gabel überzeugt. Und aus dem Versuchsmodell »Silberne Wolke« war die Luftschiffflotte der Stadt der Jugend entstanden, mit der die Schüler zu Exkursionen über Land reisten und in den freien Stunden das Losgelöstsein von der Erdenschwere genossen.
Mac rubbelte sich den roten Strubbelkopf. Jetzt kam in der Geschichte der kleinen Entdeckungen sein Kapitel: Heinrich Schorr war mit einem zerflederten Heftchen aus dem Archiv gekommen. Am Strand des großen Sees hatte er es aus der Tasche gezogen und auf die Wasserfläche gezeigt. »Silurus glanis«, hatte er gesagt und das Staunen der Kameraden über das ungewöhnliche Wort genossen. »Dort unten tief im Schlamm lebt das Wesen dieses Namens – der Riesenwels. Silurus glanis, mächtigste Trophäe der Angler vor hundert Jahren. Ein breitmäuliger Grundfisch mit keulenförmigem Körper. Drei bis fünf Meter lang. Über 50 Kilogramm schwer. Ein Wesen aus grauer Zeit. Wer hat es je gesehen?« Sie hatten Heinrich Schorr erst ungläubig betrachtet und allerlei Witze gerissen. Aber schließlich hatten sie wochenlang Tauchversuche gemacht, bis sie schmal wie die Binsenhechte wurden. Keine Spur vom Silurus glanis. Daraufhin suchten sie Direktor Gabel auf, um von ihm die Erlaubnis für den Einsatz eines Klein-U-Bootes zu erhalten. Aber der schlug ihnen vor, mit der Angelrute auf Fang zu gehen. Das taten sie auch. Doch sie holten aus dem See nie einen drei Meter langen Silurus glanis, sondern nur drei Finger kurze Rotfedern und einmal einen zweipfündigen Hecht. Schon wollten sie aufgeben, da erschien erneut der Verführer in Gestalt von Heinrich Schorr. »Silurus glanis geht nur nachts auf Fang«, sagte er, »in der Nacht müssen wir ihm auf die Spur kommen.« Sie fuhren mit einem Schleppnetz bei Mondschein aus. Aber alles, was sie an Land zogen, waren Wasserpflanzen; Silurus glanis wuchs in ihrer Phantasie bis zur Größe eines Wales. Mac war ob der Ergebnislosigkeit ihrer Jagd damals aus dem Häuschen geraten. Wiederholt hatte er das Archiv durchstöbert. Bis ihm der alte Archivar Hans-Friedrich Schlemper ein Büchlein in die Hand drückte. »Versucht es doch einmal anders«, waren seine Worte. »Macht es wie der Professor Piccard.« Es hatte ein Witz sein sollen. Aber es war Macs Sternenstunde. Mac hatte sich sofort in die Erfindungen des phantasievollen Schweizer Professors vertieft, der vor 150 Jahren mit einem Ballon bis in die
Stratosphäre und später mit einem Tauchboot tief in den Ozean vorstieß. Das Bathyskaph hatte Mac bald in seinen Bann geschlagen. Zeichnungen entstanden und wurden wieder verworfen. Mac brachte erste Planskizzen zu Papier. Daraus wurden Werkzeichnungen, und am Ende entstand ein schnelles leichtes Boot für Unterwasserfahrten, ausgerüstet mit Hydroradargeräten, mit Unterwasserblitzlampen sowie besonderen Steuervorrichtungen für Schnelltief- und Auftauchen. Heinrich Schorr hatte den Vorschlag gemacht, elektronisch gesteuerte Manipulatoren für den Fang von Silurus glanis am Bug anzubringen. Die Zwillinge Peter und Paul, bekannt für elektrotechnische Kenntnisse, entwarfen einen Supraleitungs-Dynamo für das Antriebssystem. Dann waren sie an die praktische Ausführung gegangen. Zum wichtigsten Helfer bei Berechnung und Aufbau war Zepp geworden, den sie sich aus der Requisitenkammer der Physikabteilung holten. Sein Elektronengehirn reagierte schneller und gründlicher als der Mensch. Blitzartig errechnete er den Weg zum Ziel. Zepp war programmiert auf das Maximum des Erreichbaren. Er kannte den Weg, auf dem in kürzester Zeit und ohne Hindernis die einmal gestellte Aufgabe zu lösen war… Ein leises Winseln holte Mac aus der Erinnerung in die Gegenwart zurück. Pickwick stand vor den starr ausgestreckten Greiferhänden der Manipulatoren und schnüffelte aufgeregt an ihnen herum. Nachdenklich beobachtete Mac den Hund. Dann stieß er einen kurzen Pfiff durch die Zähne. Bisher hatte, wie so manches Teil an diesem Prachtwerk, auch die elektronische Steueranlage der Manipulatoren nicht recht funktioniert. Mac holte ein Päckchen aus der Tasche. Eine Schachtel von Daumenlänge barg die Mikrominiatoren, elektronische Bauteile von mikroskopischen Maßen, die ihm sein Vater heute gebracht hatte. Mit ihnen mußte die Anlage perfekt sein. Mac kletterte wortlos auf den Delphin, öffnete den Deckel zum Einstiegsluk und ließ sich in die Kabine gleiten, die vier Personen Platz bot. In dem Plastesessel setzte er sich behaglich zurecht. Dann löste er die Polymerplatte des Armaturenbrettes. Geschickt hob er einige kleine Bauteile heraus und setzte die Transistoren aus dem Päckchen an ihre Stelle
ein und drückte auf einen Knopf. Der Scheinwerfer über der Glaskanzel flammte auf und sandte ein Lichtbündel in die Halle. Von seinem Sitz aus sah Mac den Dobermann direkt vor den Greiferhänden der Manipulatoren stehen. Geblendet hatte Pickwick die Augen zugekniffen. Er zog Falten an der Nase und zeigte die Zähne. Mac legte einen Hebel herum. Ein leises Surren war zu hören, ein kurzes Knacken. Pickwick begann zu winseln. Mac hielt den Atem an. Die Manipulatoren waren lautlos und behend auf den Dobermann zugeschnellt. In Blitzeseile hatten sie eine leichte Drehbewegung gemacht. Nun verhielten die stählernen Greifer in Millimeterabstand vor dem Körper des Tieres. Kein Mensch konnte so sacht und genau zupacken, so fix eine Klammer schließen. Wie hypnotisiert steckte Pickwick den Kopf vor und ließ die Zunge aus dem Maul hängen. Dabei klagte er mit leisen, spitzen Tönen. Der Hund schien zu fühlen, daß es kein Entrinnen gab. »Großartig«, schnaufte Mac, ganz im Bann des von ihm und seinen Freunden geschaffenen Wunderwerkes. Er lehnte sich zurück und tippte auf einen roten Knopf, über dem das Kommando: »Fang!« aufleuchtete. Zischend entwich Preßluft dem Bootskörper. Ein handtellergroßer Bildschirm auf dem Armaturenbrett zeigte den Vorgang. Aus der Grundplatte war eine Boje mit einem Luk ausgefahren. Im gleichen Moment, in dem die Verschlußkappe aufsprang, zogen die Manipulatoren an, hoben den jaulenden Pickwick in die Luft und beförderten ihn mit elegantem Schwenk in die Boje. Eine Aufzugsvorrichtung summte, stand still, das Licht erlosch. Mac hörte Scharren und Winseln unter der Deckplatte neben seinem Sitz. Als er sie öffnete, sprang Pickwick mit einem Satz in die Kabine, schüttelte sich, legte die Pfoten auf die Schulter seines wiedergefundenen Freundes und begann ihm selig das Ohr zu lecken. Mac hatte Mühe, seinen Fang aus der Kabine zu expedieren. Pickwick sträubte sich mit allen vier Füßen, knurrte und bellte, fletschte die Zähne. Er fürchtete erneutes Ausgeliefertwerden an die Manipulatoren. Mac schob sich schließlich mit den Schultern unter den Körper des Dobermanns und drückte ihn einfach aus dem Luk. Aber Pickwick blieb nun auf dem Bootsdeck stehen, kläffte und heulte aus Leibeskräften.
Mac saß ratlos vor dem Armaturenbrett. Wie konnte er nur den Hund zur Ruhe bringen? Wenn der so weiterbellte, weckte er die Insassen des benachbarten Heimes. Die Schaltvorrichtung! Natürlich, der laufende Elektromotor würde Pickwick einen weiteren Schrecken einjagen und die Furcht vor den Manipulatoren vergessen lassen. Mac drückte den Tourenwähler für den Dynamo auf volle Fahrt. Mit einem sanften Brummton begann sich die Antriebswelle zu drehen, lief in Bruchteilen von Sekunden auf hohen Touren. Dann war nur noch ein helles Pfeifen zu hören. Mac blickte aus der Kanzel und lachte, daß ihm die Tränen kamen. In hohen Sprüngen raste Pickwick durch die Halle und verschwand durch eine Seitentür in der Dunkelheit. Aber mit der Flucht des Dobermanns war Stille im Boot eingetreten. So fleißig Mac auch den Tourenschalter drehte, so ausdauernd schwieg sich der Dynamo aus. Die elektrische Anlage war tot. Selbst die Manipulatoren funktionierten nicht mehr. Die Zwillinge Peter und Paul hatten auf Grund der ständigen Pannen die Elektroanlage für die Störungen verantwortlich gemacht. Bisher war Mac ihrer Ansicht gefolgt. Aber hatten nicht eben noch die Manipulatoren tadellos funktioniert? Mac vergaß Zeit und Umgebung. Schwitzend legte er den Dynamo frei, überprüfte er die Supraleitung. Schließlich kontrollierte er sämtliche Sicherungen. Er quälte sich durch den Bootskörper, kroch auf dem Bauch den Wellentunnel entlang, hockte mit schmerzenden Knien vor den Schaltungen. Als er mit zerstrubbeltem Haar und verölten Händen aus dem Luk auftauchte, lachte ihn die Morgensonne an. Vor den Greiferhänden lag Pickwick. Er schien sich ihrer relativen Ungefährlichkeit bewußt geworden zu sein. Mac blickte erschrocken auf die Uhr. »6.15 Uhr!« Sein Schrei weckte den Dobermann, der mit einem Ruck auf die Beine sprang. Mac schenkte dem Chaos, das er im Inneren des Bootes hinterließ, keinen Blick mehr. Wenn er sich nicht beeilte, mißglückte ihm auch noch die Jagd nach Zepp. Und wenn er Zepp nicht bekam, würde er unter Umständen noch viele Wochen nach der Fehlerquelle suchen. Zepp
mußte die Supraleitung überprüfen. Nur dort war die Störung der Gesamtanlage verborgen. »Das wollen Elektrotechniker sein«, räsonierte Mac, während er die Persenning über das Boot zog und das Fahrzeug hinter einer Schiebewand verbarg. »Fehlerzwillinge sind das. Ein Pannenduo.« Pickwick wedelte wie zum Zeichen des Einverständnisses mit dem Schwanz.
15. KAPITEL Aufregung um das Jägersextett Es war sieben Uhr. Und obschon die Sonne recht kräftig vom blauen Himmel schien, war es in dem Appartement I des Lehrerhauses angenehm kühl. Durch die bis zum Fußboden reichende Fensterwand drang nur weiches Licht, aber keine Wärme. Filter absorbierten automatisch die lästigen Begleiterscheinungen der Sonnenstrahlen. Direktor Frank Gabel schlief unruhig. Im Traum hörte er Hundegebell und das feine Singen des durch die Luft davonschwebenden Zepp. Noch einmal durchlebte er die Ereignisse des vergangenen Abends. Und als Zepp aus dem Luftschiff sauste, wie ein Stein fiel, direkt auf ihn zufiel…, wachte Gabel mit einem erschrockenen Ruf auf. Ein Blick auf die Uhr, und er sprang aus dem Bett. Er mußte die Weckanlage des Hauses überhört haben. Direktor Gabel hielt auf Pünktlichkeit und einen exakten Tagesablauf. Er hatte dreißig Minuten seines Morgens verschenkt. »Schlechter Start«, konstatierte er mißmutig und versuchte in Windeseile die versäumte Zeit aufzuholen. Energisch trat er an eine gekachelte Nische und drückte auf einen Knopf. Aus dem Fußboden stieg die versenkbare Badewanne, gefüllt mit kristallklarem Wasser. Nach Bad und Morgentoilette ging Gabel in den Vorflur, wo an der Seitenwand ein Plan hinter einer Mattglasscheibe leuchtete. »Wir empfehlen zum Frühstück«, stand dort, und darunter wurden pikante Lekkerbissen angeboten. Gabel drückte mehrere Knöpfe und wartete einen kurzen Moment. Eine Klappe sprang auf. Aus der Hauskombüse servierte der Küchenlift Schrippen, Kaffee, eine Orange und zwei Eier. Während der Direktor in seinem Zimmer mit gutem Appetit aß und die inzwischen aufgeholten Minuten von der verlorenen Zeit subtrahierte, erinnerte er sich plötzlich an Zepp. »Kommando Kanal 5«, rief er vergnügt. »Sag mir ›guten Morgen‹, Zepp.«
Aber im Zimmer blieb es bis auf das leise Summen der Klimaanlage still. Gabel setzte verdutzt die Kaffeetasse ab und schritt in den Nebenraum, aus dem Zepp in der Nacht verschwunden war. Die Tür der Terrasse stand halb auf. Die Gardine wehte im Morgenwind. Keine Spur von Zepp. Gabel erinnerte sich an den unruhigen Schlaf der Morgenstunde. Hatte er nicht Hundegebell und das Singen des aufsteigenden Luftkissenfahrzeugs gehört? Also hatte er diesen Lärm nicht nur geträumt. Gabel vergaß seinen Zeitplan und marschierte auf und ab. Der Hund heißt Pickwick, überlegte er. Er gehört einem Mann namens Bluffke. Dieser Karl-Franz Bluffke ist nach eigener Angabe Vater eines Schülers namens Mac Bluffke. Da war doch noch etwas? überlegte der Direktor. Ach ja, dieser Dobermann Pickwick fand in Zepp einen Gefährten aus alten Tagen wieder. Und wenn Pickwick Hund der Bluffkes war, dann kannte natürlich der Bluffkesprößling Mac auch den Zepp. Triumphierend blickte der Direktor sich um. Jetzt schloß sich der Kreis. Er hatte die Spur. Die seltsamen Vorgänge hatten etwas mit diesem Mac Bluffke zu tun. Er sah Mac Bluffke vor sich: ein rothaariger, hochaufgeschossener Junge, der einst ein Klein-U-Boot für die Jagd nach Silurus glanis verlangt hatte. Und noch etwas fiel dem Direktor ein. Ein Hausmeister hatte von geheimnisvollen Geschehnissen in der Werkhalle V berichtet. Auch damals war von einem rothaarigen Jungen die Rede gewesen. Direktor Frank Gabel war ein aufgeschlossener Mann, trotz seines energischen Auftretens seinen Schülern herzlich zugetan. Darum hatte er dem Beobachter seinerzeit gesagt: »Keine Nachforschungen. Ich vertraue den Jungen. Bei uns gibt es keine Geheimnisse. Lassen wir ihnen ihre Pläne und Träume. Über kurz oder lang werden sie uns damit überraschen.« Nun gut, dachte er jetzt, das war schnell gesagt. Aber bisher gab es nur Heimlichkeiten statt Überraschungen. Und die Entführung des Zepp kann ich nicht auf die leichte Schulter nehmen. Trotzdem wehrte er sich gegen das aufkeimende Mißtrauen. Wenn du jetzt Nachforschungen anstellst, dachte er, wird eine Drachensaat ausgesät. Dann wird das gute Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern erschüttert. An jeder Panne,
die sich hier ereignet, bist du selbst schuld. Denn du bist der Erzieher. Und die Fehler der Schüler sind deine eigenen Fehler. Diese Gedanken unterbrach ein kurzer Summton. Auf dem Fernsehtischgerät leuchtete der Kopf eines Mannes auf. Es war Dozent Antonius Puch. »Darf ich eintreten?« fragte Puch. »Ich habe eine dringende Bitte.« Gabel drückte die Sprechtaste. »Aber bitte, mein lieber Puch. Sie kommen mir gerade recht zum Rätselraten.« »Geben Sie mir heute morgen für eine Stunde den Kinosaal, damit ich meinen Film vorführen kann. Der fliegende Hund gestern abend hat mein Konzept verdorben«, bat Puch dann ohne Umschweife. Frank Gabel hatte statt der Antwort selbst eine Frage bereit. »Sie müssen doch einen Bluffke, Mac, genauer kennen? Was ist los mit ihm?« Antonius Puch sah den Direktor überrascht an. Dann setzte er sich erst einmal hin. »Bluffke?« fragte er gedehnt. »Nicht schlecht. Auch nicht gut. Früher war er einmal besser. Heute ist er Durchschnitt. Aber da ist ein ganzes Quartett an Mittelmaß. Wenn Sie Bluffke sagen, müssen Sie auch noch die Zimmermannschaft 243 des Wohnheimes dazuzählen, also Heinrich Schorr und die Zwillinge Peter und Paul Jansen. Übermüdungserscheinungen. Nachlassen der Spannkraft. Sie scheinen sich mehr auf Vorgänge außerhalb des Schulbetriebes zu konzentrieren.« »Auf fliegende Hunde und elektronische Schildkröten?« fragte Frank Gabel nachdenklich. »Sie wollten zu viert Silurus glanis, den Riesenwels, jagen. Nun versuchen sie es vielleicht zu sechst, mit Zepp und Pickwick? Ein Jägersextett! Daß ich nicht gleich darauf kam.« »Ich verstehe Sie nicht«, gestand Antonius Puch und dachte, lieber Gabel, so heiß ist es doch gar nicht, daß Sie schon an Halluzinationen leiden. Der Direktor lachte auf. Er sah das fassungslose runde Gesicht seines Dozenten, die staunenden Augen. Das bestärkt ihn in seiner Heiterkeit. »Puch, was sind wir doch mit unseren dreißig Jahren schon für alte Herren. Wir denken, die Welt ist im Lot, wenn sie nur so von Technik und Wissen überquillt. Aber an die Abenteuer und Spiele unserer Jugend erinnern wir uns nicht mehr. Wissen Sie, auch in meiner Kindheit war
ich von den erstaunlichsten Geräten umgeben. Trotzdem habe ich mich monatelang damit abgequält, einen Wellensittich das Sprechen zu lehren. Ein Knopfdruck an der Wand hätte mir ein Stereokonzert ins Zimmer gebracht. Aber nein, ich lauschte verzückt dem undeutlichen Gekrächz eines winzigen Vogels. Haben Sie gestern abend unsere Schüler beobachtet? Der Hund im Luftschiff hätte für Schüler unserer wissenschaftlichtechnischen Gruppe ein albernes Ereignis sein müssen. Aber sie hatten ihre helle Freude daran. Über unsere Straßen rasen hochmoderne Fahrzeuge. Wer eine Luftreise wagen will, kann es ohne Umstände tun. Turbinenboote tragen die Schüler in Windeseile über den See. Und trotzdem ist unsere Welt offensichtlich nicht abenteuerlich genug, um ihre Phantasie zu befriedigen. Sie haben Spaß an Außergewöhnlichem. Und das sind oft die einfachsten Dinge, über die Kinder früherer Zeiten kaum ein Wort verloren hätten.« Antonius Puch kehrte zu seinem Anliegen zurück. »Darum möchte ich ja auch meinen Amazonasfilm zeigen«, sagte er. »Genehmigt«, antwortete der Direktor. »Aber eine Bitte habe ich noch: Behalten Sie Ihr müdes Quartett im Auge. Beim Leistungsabfall hört der Spaß auf. Ich selbst werde mich unauffällig um die Heimlichkeiten kümmern. Wie war die Zimmernummer der matten Helden?« »243«, sagte Antonius Puch. Direktor Frank Gabel vergaß an diesem Vormittag seine Verabredungen. Wer ihn jetzt gesehen hätte, wäre ebenso fassungslos wie der Dozent für Geographie, Antonius Puch, gewesen. Der als sachlich und phantasielos eingeschätzte Direktor schlich sich nämlich in das Zimmer 243 und saß dort nachdenklich vor Plänen eines Tauchbootes. Später ging er unter Beachtung aller Vorsichtsmaßnahmen in die Werkhalle V. Dort stand er kopfschüttelnd vor dem Fahrzeug des Mac Bluffke. Hinter einer Schiebewand entdeckte er übrigens Pickwick und seinen entführten Trabanten Zepp. Am Nachmittag hatte sich der Direktor hinter einer Tanne versteckt und sah das Quartett Mac Bluffke, Heinrich Schorr und die Zwillinge Peter und Paul in die große Halle am See ziehen. Aber der Direktor griff nicht ein. Er stellte die vier Gesellen nicht zur Rede.
Frank Gabel ging am See spazieren. Er träumte in die Weite der Wasserfläche hinaus und murmelte: »Silurus glanis.« Als ein Fisch sprang, lachte er leise vor sich hin. Und dann hatte der Direktor eine Idee. Er bestellte drei Vertreter des Schülerrates der Stadt der Jugend zu sich. Jens Dietrich, Claudia Steinmann und Cornelius Brink debattierten zwei Stunden lang mit ihrem Direktor. Und wenn die Tür seines Zimmers nicht schalldicht abgepolstert gewesen wäre, hätte ihr Lachen durch den langen Flur geschallt. Es entstand ein Plan, durch den das Sextett der Jäger zu Gejagten wurde.
16. KAPITEL Probefahrt Mac hatte seine Freunde noch einmal überzeugen können. Während er den so lang entbehrten Schlaf in einer Ecke der Werkhalle V genoß, von Pickwick bewacht, untersuchten die Zwillinge Peter und Paul die von ihnen entworfene und gebaute Supraleitung. Wer die Jungen nicht genau kannte, hätte sie kaum für Zwillinge gehalten. Peter hatte dunkles Haar, schwarze Augen und eine kurze, feste Nase. Pauls Schopf war hell wie ein Roggenfeld, seine Iris grau und der Blick kühl. In ihren Novothermanzügen, dunklen plustrigen Kombinationen, glichen die beiden zwei Königspinguinen. Sie veranstalteten einen höllischen Lärm im Inneren des Bootes. Wie immer waren sie verschiedener Meinung. Sie arbeiteten in der sogenannten Entspannungskammer ihrer Spezialanlage. Dort war die Kältepumpe installiert, die in Sekundenschnelle eine Temperatur bis zu 12 Grad Kelvin erzeugen konnte – das aber bedeutete: minus 261 Grad Celsius. Peter und Paul debattierten lautstark und wortreich über Konstruktion und Aufbau der Antriebsanlage. Sie war mit allerlei Raffinessen versehen. Aber das Komplizierte braucht nicht immer das Beste zu sein. Möglich, daß darin der Fehler lag. Vorläufig sahen das die Bastler nicht ein. Sie priesen wechselseitig die Vorteile ihres launenhaften Dynamos. Mac hatte nach Konstruktion des Tauchbootes eine Kraftquelle gesucht, die mit möglichst wenig Brennstoffzufuhr ein Maximum an Leistung brachte. Turbinen und große Motoren schieden aus. Damals erinnerte sich Paul einer Physiklektion über die Supraleitung. Er ging bei seinen Arbeiten von der Tatsache aus, daß gewisse Metalle bei extrem niedrigen Temperaturen dem elektrischen Strom fast keinen Widerstand mehr entgegensetzen. Die erfinderischen Zwillinge bauten einen leistungsfähigen Dynamo, mit dem sie mächtige Stromstöße ohne unerwünschte Nebenwirkungen induzieren konnten. Der Delphin sollte flink sein wie ein Fisch. Aber
leider war die Ausdauer nicht adäquat dem Tempo. Mitten im schönsten Lauf verstummte die großartige Anlage. Die Zwillinge machten anfangs das elektronische Steuerungssystem des Tauchbootes dafür verantwortlich. Aber Mac hatte ihnen heute die tadellose Arbeit der Manipulatoren vorgeführt, die nicht mit dem Supraleitungssystem gekoppelt waren, sondern ihre Energie aus einer Spezialanlage bezogen. Paul begann am Wert der eigenen Arbeit zu zweifeln. Doch Peter war nicht von der einwandfreien Konstruktion der Steuerungsanlage des Mac Bluffke überzeugt. »Er schummelt, Paul«, warnte er. Paul arbeitete verbissen weiter. »Prüfung bis zum letzten Millimeter«, murrte er. »Und wenn ich mich nur abmühe, um Mac zu beweisen, daß nicht bei uns, sondern bei ihm der Fehler liegt.« Mac merkte von diesem Wettlauf nichts. Er lag zusammengekrümmt auf einer Luftmatratze, einem pneumatischen Ungetüm, in dem er wie in einer Wolke versunken war. Er schnurchelte leise und seufzte im Traum. Pickwick ruhte zu seinen Füßen. Der Kopf lag auf den Vorderpfoten. Ab und an spielten die spitzen Ohren. Das war immer dann, wenn das Klopfen und Kratzen im Boot sich zu einem wahren Höllenkonzert steigerte. Pickwicks Blick ging zu seinem Herrn. Er fletschte die Zähne und knurrte unruhig. Aber seine Sorge war unnötig. Selbst wenn ein Wirbelsturm die Halle 5 mit sich fortgeführt hätte, wäre Mac nicht aufgewacht. Die Abenddämmerung tastete sich schon vorsichtig in den Raum, da warf Peter Prüfgerät und Werkzeug hin. »Mir reicht es«, sagte er. »Bei uns ist alles in Ordnung. Es liegt am Bauwerk des großen Erfinders. Los, wir wecken ihn. Vielleicht hat er im Traum den Stein der Weisen gefunden.« Paul kletterte ächzend aus der Kabine. Sein Blick glitt prüfend durch die Halle, bis er an der Schiebewand haltmachte. Dort ruhte Zepp. Wäre er ein Lebewesen gewesen, hätte man gesagt, ebenfalls in tiefem Schlaf. Die Antennen waren wie die Fühler eines Käfers ausgestreckt, die Scheinwerfer erloschen. Und das Kontaktlämpchen auf dem karierten Rücken glomm nur schwach. »Ich brauche den Beweis«, sagte Paul und winkte seinem Bruder. Peter warf einen ergebenen Blick zur Decke der Halle und folgte.
Paul zog einen Plan aus der Tasche, studierte ihn aufmerksam. Dann stieg er aus der Kombination. Ein paar Minuten lang suchte er noch nach einem Physikbuch, das sich unerklärlicherweise unter Macs mächtigem Luftbeutel befand. Pickwick bellte. Aber Mac rührte sich nicht, obwohl er beim Anheben der Matratze einen halben Meter nach vorn rutschte. »Zepp«, rief Paul. »Kommando auf Kanal 5: Folgen.« Das Glimmen des Kontaktlämpchens wurde stärker. Ein rosa Schein überflutete den Glaskelch auf dem Rücken Zepps. Die Antennen begannen zu spielen. Schon sandten die Scheinwerferaugen einen kurzen Lichtstoß. Zepp stieg auf und summte bereitwillig hinter den Zwillingen her, die zum Heck des Tauchbootes gingen und sich dort auf einem Stützbalken niederließen. Paul sagte leise: »Kanal 7. Programmiereinrichtung.« Zepps Kontaktlampe wurde sofort feuerrot. Dann begannen die Zwillinge ihn mit ihren Daten zu füttern. Schließlich warteten sie Zepps Antwort ab. Für einen Moment setzte das Leuchten der Kontaktlampe aus. Dann erfolgte ein Lichtstoß aus den Scheinwerferaugen. Und ohne Zögern ratterte Zepp die Berechnungen in solcher Geschwindigkeit heraus, daß Paul kaum mit den Notizen folgen konnte. Peter sah seinem Bruder über die Schulter und verglich. Ihre Ergebnisse stimmten mit den von Zepp genannten Zahlen überein. »Schade um unsere Mühe«, sagte Peter. Er rutschte vom Balken und wandte sich zu Mac, um ihn nun doch zu wecken. In diesem Moment rief Paul: »Warte, Kleiner. Schau mal! Zepp, was ist denn?« Die Kontaktlampe auf dem Rücken von Zepp schien verglühen zu wollen. Er stotterte nur undeutliche Angaben. Dann schwieg er. Peter kam neugierig zurück. »Was ist?« fragte er verblüfft. »Ich habe eben die Maximalstärke der Magnetfelder angegeben und nach der Energieabgabe der Supraleitung gefragt.«
Paul starrte Zepp an, dessen Scheinwerfer kurz aufleuchteten. »Aus«, brabbelte er. »Plus minus null.« Dann hüllte er sich in Schweigen und ließ die Antennen hängen. Peter lachte spöttisch. »Siehst du, den hat es auch geschafft.« Aber Paul schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Ich habe es. Daß wir daran nicht gedacht haben.« Er griff nach dem Physikbuch und begann darin herumzublättern. Sein Bruder nörgelte: »So'n Quatsch. Willst du noch einmal von vorn anfangen?« Statt einer Antwort reichte Paul das Physikbuch und hielt dabei den Daumen auf eine Fußnote. »Achtung«, stand da. »Sehr starke Magnetfelder vernichten die Supraleitung wieder. Um die Supraleitung trotz starker Magnetfelder aufrechterhalten zu können, ist es notwendig, folgende Pegelung vorzunehmen…« Eine auf den ersten Blick verzwickte Berechnung schloß sich an. »Klasse«, rief Peter und sah Zepp ehrfürchtig an. »Klassemaschine. Da reden wir immer davon, daß solch ein Dingsda nur unsere physischen Funktionen modelliert. Aber was ist mit Gedächtnis, Rechenfähigkeit und Reaktionsvermögen?« Paul gab die neuen Daten an. Zepp rasselte ohne Zögern die exakten Angaben für die Pegelung heraus. Die Zwillinge kletterten wortlos wieder in die Kombinationen und arbeiteten im Tauchboot weiter. Es war schon dunkel in der Halle, als Peter und Paul die Isolierplatten vor der Antriebsanlage befestigten. Dann schwang sich Paul in den Pilotensitz und drehte den Tourenschalter auf volle Fahrt. Langsam begann sich die Welle zu drehen, wurde schneller und wirbelte schließlich mit leisem Singen unermüdlich vor sich hin. »Zepp, Zepp«, rief Peter hingerissen. »Kanal 5. Kommen!« Zepp schwebte an das Boot heran. Seine Antennen spielten. Die Scheinwerferaugen leuchteten. »Volle Fahrt«, brabbelte er. »Alles in Ordnung…« Als Paul den Scheinwerfer einschaltete, stand ein fassungsloser Mac mitten im Lichtstrahl. Er lauschte verzückt dem gleichmäßigen Lauf der
Maschine. Plötzlich begann er durch die Halle zu tanzen und warf die Arme in die Luft. Pickwick teilte das Vergnügen seines Herrn. Er hatte die Furcht vor den Manipulatoren vergessen und sprang in hohem Satz über die starr ausgestreckten Greiferhände. Mac bestand auf einer sofortigen Probefahrt. »Lange genug haben wir gewartet«, schrie er entschlossen. Sie schoben die Seitenwand der Halle zurück. Wasser schwappte über den Betonboden. Es war stockdunkel. Der Himmel hatte sich bezogen. Ein kräftiger Wind pfiff über den See. Mac funzelte mit einer Handlampe in die Finsternis. Ihr Strahl wurde von den Wellen aufgefangen und nach wenigen Metern von der Nacht verschluckt. »Jetzt geht Delphin 1 auf die Jagd«, flüsterte Mac. »Hüte dich, alter Wels!« Paul klopfte Mac beruhigend auf die Schulter. »Komm zu dir, Mac. Hauptsache, das Boot läuft erst einmal über Wasser. Den Tauchversuch heben wir uns für später auf.« »Ich mag keine halben Sachen«, murrte Mac. Sie schlugen die Pallungen beiseite. Dann drehte Mac am Steuer der Öldruckanlage. Das Boot ruckte an. Gleich darauf rutschte es über die Gleitbahn ins Wasser. Mac schrie: »Hurra!« Pickwick kläffte aus Leibeskräften. Aufgeregt stiegen sie ins Boot. Der vierte Sitz blieb leer. »Wo ist Heinrich?« fragte Paul. Der vierte Mann der Besatzung war nicht zu sehen. »Ich schlage vor, Zepp an Bord zu nehmen«, sagte Peter. Mac winkte ab. »Der merkt doch nichts«, sagte er. »Ist doch nur eine Maschine.« Paul rutschte nervös auf seinem Sitz herum. »Nun macht schon«, drängte er. »Vier Monate Arbeit. Jetzt möchte ich endlich den Erfolg erleben.« Mac drehte den Tourenschalter und machte den Scheinwerfer an. Delphin 1 zog in weiter Schleife auf den See hinaus. Die Konstrukteure konnten mit ihrem Boot zufrieden sein. Es gehorchte willig dem Steuer-
druck. Auch die automatische Pilotanlage funktionierte tadellos. Mit hoher Geschwindigkeit rauschte das Boot am Uferrand dahin. Sein kräftiger Scheinwerferstrahl riß das Dunkel der Nacht auf und erleuchtete die bewegte Wasserfläche taghell. Die Wellen stoben zur Seite. Delphin 1 schwamm wie ein Fisch. Macs Ohren glühten. Er pfiff durch die Zahnlücke. Als er in seiner Begeisterung den Hebel der Tauchanlage niederdrücken wollte, legte sich ihm die Hand seines Nachbarn auf die Finger. »Klaren Kopf behalten«, sagte Paul ruhig. »Morgen ist auch noch ein Tag.« Mac schob unwillig die Unterlippe vor. Dann warf er das Steuer herum und jagte das Boot zur Halle zurück. Dort stand, vom bellenden Dobermann bedrängt, Heinrich Schorr. Um beide herum sauste wie ein Karussellpferd Zepp. Heinrich Schorr hielt die Arme vorgestreckt. »Habt ihr ihn?« fragte er aufgeregt. »Was sollen wir denn haben?« entgegnete Mac, der als erster an Land sprang. »Silurus glanis? Habt ihr nicht gleich den Riesenwels gefangen?« Mac wollte nach dieser fordernden Frage sofort wieder an Bord zurück. Aber die Zwillinge hinderten ihn daran. Mac geriet aus dem Häuschen und schlug Abstimmung vor. Die Entscheidung sollte Pickwick treffen. Wenn er an Bord drängte, würden sie tauchen. »Es ist zu gefährlich«, sagte Paul. Dabei hätte er natürlich selbst gern die Tüchtigkeit des Bootes erprobt. Bleibe ruhig, ermahnte er sich jedoch. Nur Schritt für Schritt. »Taucht mal«, bettelte Heinrich Schorr. In diesem Moment schlug der um die Gruppe rotierende Zepp einen Haken, fegte zum Boot und verschwand im Luk. Die Klappe des Einstiegs schloß sich. Der Scheinwerfer flammte auf. Und Delphin 1 rauschte davon, auf den stürmischen See hinaus. »Was war denn das?« flüsterte Paul. Mac stand mit hängenden Schultern. »Ich hab nichts gesagt, wollte nur, daß Zepp mit dem Karussellfahren aufhört. ›Kommando Kanal 5‹, habe ich eben gerufen…«
»Tauchen! Er taucht«, rief Heinrich Schorr. Peter beobachtete entgeistert das Manöver. »Da haben wir etwas Tolles angerichtet. Der eine kommandiert. Der andere spinnt vom Tauchen. Zepp führt aus, was die verdrehte Gesellschaft phantasiert.« Sie lauschten auf den See hinaus. Hinter einer Landzunge war das Brummen des Bootes zu hören. Der Scheinwerfer leuchtete kurz auf. »Er kommt zurück«, sagte Paul hoffnungsvoll. Aber der kühle Rechner hatte sich geirrt.
17. KAPITEL Untergang und Rettung des Delphin 1 Auch sie hatten nicht gedacht, daß aus einem Spaß so schnell Ernst werden würde. Die drei Mitglieder des Schülerrates der Stadt der Jugend hockten auf ungewöhnlichem Beobachtungsposten. Jens Dietrich, Cornelius Brink und Claudia Steinmann waren in der Abenddämmerung auf einen Montagekran geklettert, mit dessen Hilfe tagsüber die neue Werkhalle VII errichtet wurde. Von der luftigen Warte des Motorenhäuschens hatten sie eine gute Stunde lang Sicht über Uferstreifen und Weite des Sees gehabt. Als sich der Himmel bezog und es stockdunkel wurde, hatte Jens ein flaches, knapp zwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter großes Bildgerät aus einem Lederfutteral geholt. Er betätigte die Drucktaste des Apparates, der Bildschirm des Empfängers glomm auf. Im Motorenhäuschen wurde die Nacht zum Tag. Sie sahen das sich im Wind wiegende Schilf und einen Fischotter, der auf Fang ging. Verschlafene Enten hockten in einer Bucht. Und einmal beobachteten sie ein Wildschwein, das ein Schlammbad nahm. Nur am Objekt ihrer Beobachtung rührte sich nichts. Die Werkhalle V ragte verlassen am See auf. Ab und an nur geisterte kurz ein Lichtstrahl hinter den Fenstern. Plötzlich zeigte das Bildgerät vier aufgeregte Jungen am Uferstreifen. Um ihre Beine schwänzelte Pickwick. Vom See her kam leises Surren. Als Jens die Antenne in die Tonrichtung drehte, sah er den einsamen Delphin über die weite Wasserfläche stieben. »Nanu, ohne Besatzung?« fragte Cornelius verblüfft. »Ich glaube, sie probieren den Autopiloten«, sagte Jens. Aber Claudia schüttelte den Kopf. Sie drehte die Antenne in Uferrichtung. »Wir sollten den Direktor rufen«, sagte sie. »Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Dieser Mac…« Auf dem Bildschirm zeigten sich erneut die vier Jungen. Sie schienen heftig zu debattieren. Mac rieb sich dabei mit beiden Händen den Hinterkopf.
»Das macht er immer«, flüsterte Jens, »wenn er anfängt durchzudrehen.« »Rufe den Direktor.« Claudia stieß Cornelius Brink an. Der zog ein Videotelefon in Größe einer Zigarettenschachtel aus der Tasche und wollte gerade den Kontakt einschalten, als Jens erschrocken rief: »Das Tauchboot sinkt. Weg ist es.« Der Bildschirm zeigte eine Blasenspur und Wasserkreise. Jens schwenkte die Antenne zum Ufer. Mac war in Großaufnahme zu sehen. Er hielt beide Hände hinter die Ohren und schien angestrengt zu lauschen. Die Zwillinge Peter und Paul kamen ins Bild. Sie rannten in die Halle. Dazwischen drängte sich Heinrich Schorr. Heinrich hielt beschwörend die Arme in die Luft. Plötzlich erklang die Stimme des Direktors im Raum: »Abstieg zur Halle V. Bewahrt die Jungen vor weiteren Dummheiten. Ich komme sofort nach.« Sie standen nach wenigen Minuten vor dem fassungslosen Quintett. Pickwick bellte aus vollem Hals. Mac war der Humor vergangen. »Vier Monate Arbeit«, stöhnte er. »Ich bin ein geschlagener Mann.« »Hat es in sich und gibt es nicht so gern von sich«, sagte Claudia spitz. »Ich habe den Eindruck, jetzt hast du reichlich von dir gegeben.« Die Zwillinge Peter und Paul kamen mit einem Schleppnetz aus der Werkhalle. »Wir nehmen ein Boot«, rief Paul. »Der See ist nicht tief. Wenn sich das Netz verfängt, wissen wir, wo der Delphin 1 ist.« Aufgeregt liefen schließlich alle zwischen Uferstreifen und der großen Halle hin und her. In diesem Moment trat Direktor Frank Gabel ins Licht, das von der Helling schimmerte. Mac setzte sich hin und barg seinen Kopf in den Armen. »Na, na, na«, sagte Gabel ruhig. »Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, mein lieber Mac Bluffke. Lehrgeld müssen wir alle zahlen.« Mac hob den Kopf und blickte seinen Direktor fassungslos an. Gabel nickte ihm wohlwollend zu. Dann ließ er sich die ganze Geschichte von Heinrich Schorr erzählen. Er lächelte dabei. »Wer mit der Technik leben will«, sagte er dann, »muß sie auch beherrschen können, liebe Freunde. Von uns wird mehr Disziplin gefordert als je zuvor von den Menschen.
Phantasie ist gut. Aber ohne Selbstkontrolle verführt sie zu gefährlichen Fehlleistungen. Nun gut. Jetzt müssen wir erst einmal Delphin finden und Zepp aus seinem Gefängnis befreien.« Der Direktor forderte von der Werkhalle ein Turbinenboot des Hilfsdienstes mit Bergungsvorrichtung an. »Höchste Alarmstufe«, setzte er hinzu. Nach knapp zehn Minuten war vom nahen Bootshafen ein dumpfes Brausen zu hören. Zwei Lichtaugen leuchteten in der Finsternis. In voller Fahrt jagte ein gedrungenes Schiff auf die kleine Gruppe zu. Das Turbinenboot hatte einen breiten Bug und war so tiefgesetzt, daß seine Schanze nur einen knappen Meter über das Wasser ragte. Die Backbordreling war niedergeschlagen. Dort erhob sich ein mächtiger Magnetbügel. Drei Schüler standen breitbeinig an Deck, ein, vierter fungierte als Steuermann. Er dirigierte das Wasserfahrzeug in die Nähe des Ufers. Als das Boot zitternd verhielt, schnurrte von seiner Steuerbordseite ein Laufsteg an Land. Der Direktor entschied: »Alle Mann an Bord!« Jens und Mac hielt er zurück. »Euch beide brauche ich«, sagte er. »Ihr kommt mit zum Kapitän.« Der junge Mann am Steuer grüßte kurz, als sein Direktor auf ihn zutrat. »Was liegt an?« fragte er. »Die Tiefen des Sees bergen Geheimnisse, Jörg. Halten Sie auf seine Mitte zu.« Der Kapitän sah verblüfft in die Welt, schenkte sich aber weitere Fragen. Er drückte einen Hebel. Die Turbine jagte los. Es klang, als ob sie einen heiseren Schrei ausstieß. Das Boot rauschte in die Dunkelheit. Trotz des Wellenganges lag es so fest auf dem Wasser, als sei der See eine Betonplatte. In Minutenschnelle waren sie am Ziel. Direktor Gabel gab Kommando, die Scheinwerfer auf Fernlicht zu stellen. Ein Lichtband huschte über den See und tauchte das entfernte Ufer in strahlende Helle. »Hast du dich an irgendeinem markanten Punkt orientiert?« fragte Gabel Jens Dietrich. Der blickte hilflos ans Ufer. Wasser und Wald. Ihn deuchte, es hätte sich auf seinem Bildgerät in direkter Peilung ein hoher
Baum gezeigt. Aber jetzt schienen ihm alle Bäume am Ufer gleich hoch zu sein. Er deutete unsicher nach Steuerbord. »Dort vielleicht?« Aber dem Direktor sagte das zweifelnde Gesicht seines Beobachters genug. Er winkte ab. Mac stand mit roten Ohren am Fenster. Er hielt den Kopf gegen die kühle Scheibe gepreßt. »Mein Boot finden wir nie wieder.« Er stöhnte. Der Direktor unterdrückte angesichts des hinfälligen Erfinders ein Lächeln. »Machen Sie die Beobachtungsanlage klar, Jörg«, sagte er zum Kapitän. Der trat zum Kartentisch und schob eine Plasteplatte zurück. Eine Glasscheibe wurde sichtbar. Als er auf einen Knopf drückte, leuchtete die Scheibe hellgrün auf. Jens trat neugierig näher. Mac blieb am Fenster stehen. Aber auch er hatte sich umgedreht und reckte den Kopf. Über die Scheibe zog ein Fisch. »Silurus glanis«, flüsterte Mac erregt. Der Direktor lachte kurz auf. »Bist ein guter Erfinder, aber ein schlechter Jäger, mein lieber Mac«, sagte er. »Das ist kein Riesenwels, sondern ein prächtiger Hecht.« Der Kapitän sah unruhig von einem zum anderen. »Wollen wir Fische fangen?« fragte er. »Warum haben Sie dann höchste Alarmstufe gegeben, Direktor?« »Wir suchen weder Welse noch Hechte«, antwortete Gabel. »Uns ist ein Tauchboot verlorengegangen.« Der Kapitän schnalzte mit der Zunge und zeigte auf die beiden Jungen. »Haben die beiden Minderjährigen Dummheiten gemacht?« Mac wurde rot. Schon wollte er protestieren, da schniefte und winselte es an der Tür. Der Kapitän riß die Augen auf. »Gestern ein Hund in der Luft. Heute ein Tauchboot auf dem Grund. Und nun noch ein Hund an Bord?« Er öffnete die Tür. Pickwick sprang mit einem Satz auf ihn zu. Er schien den jungen Mann sofort als höchste Instanz an Bord zu erkennen, legte ihm die Pfoten auf die Schulter und zeigte hingegeben die Zunge. Der Steuermann stand wie hypnotisiert vor dem großen Dobermann.
»Beruhigen Sie sich, Jörg«, rief der Direktor. »Das ist keine Erscheinung, sondern ein kreuzbraves Tier.« Mac zerrte den Hund zur Seite und jagte ihn in die Ecke. »Kusch, Pickwick«, schrie er. »Morgen geht es ab nach Hause.« Pickwick schnüffelte im Winkel herum. Dort hörten ihn die vier noch eine geraume Zeit rascheln und schniefen. Aber zum Vorschein kam er nicht wieder. Der Direktor winkte Jens an den Kartentisch. »Ehe wir anfangen, möchte ich mir gern von einem Physiker das Arbeitsprinzip dieser Anlage erklären lassen.« Er beobachtete seinen Schüler aus den Augenwinkeln. »Speziallaser«, antwortete Jens ohne Wimpernzucken, »seine Kristalle arbeiten im grünen Spektralbereich des Lichts. Dadurch sind Möglichkeiten zur Aufklärung unter der Wasseroberfläche gegeben.« »Oho«, sagte Gabel mit deutlichem Respekt in der Stimme. »Wer ist dein Ausbilder?« »Jacob Breitner.« »Der Mathematiker?« Jens nickte. Gabel wandte sich an Mac. »Hättest du das auch gewußt?« Mac druckste ein wenig herum. Dann sagte er: »Ich bin auf diesem Gebiet keine Leuchte.« Der Kapitän prustete vor Lachen. »Lassen Sie ihm eine Sonderausbildung bei Jacob Breitner geben«, rief er dem Direktor zu. »Breitner macht aus jedem einen vernünftigen Menschen, auch aus solch einem Tauchbootspezialisten.« »Keine schlechte Idee«, sagte der Direktor. Dann kommandierte er dem Kapitän: »Langsame Fahrt.« Das Boot trieb von der Mitte des Sees aus in weiten Kreisen über die Wasserfläche. Auf der Glasplatte zeigten sich Fischschwärme, Pflanzen – ein bewachsener Baumstamm, den sie schon für das Tauchboot hielten. Rostige Träger waren zu erkennen und verrottete Blechfässer.
Mac lag mit aufgestützten Armen auf der Platte und beobachtete staunend die Entzauberung des Sees. Von Meter zu Meter wurde seine Hoffnung geringer, daß in der Tiefe dieses Schrottplatzes ein Silurus glanis seine Jagdgründe haben könnte. Wahrscheinlicher schien es ihm, daß sein Tauchboot hier auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Sie pirschten im Kreis und im Zickzack über den See. Aber von Delphin 1 zeigte sich keine Spur. Und mit Macs wachsender Resignation schwand das Vertrauen des Direktors. Er blickte auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. »Noch eine halbe Stunde«, sagte er entschlossen. Flaue Stimmung schien nur im Ruderhaus zu herrschen. Von Deck wehte der Nachtwind Musikklänge und Stimmengewirr. Als der Direktor aus dem Fenster spähte, sah er die Zwillinge Peter und Paul Metallteilchen in die Luft werfen. Die Plättchen flogen nur ein kurzes Stück, standen wie Sternchen in der Nacht und sausten dann auf den Magnetbügel zu. »Halb und halb«, sagte der Direktor und setzte in Gedanken hinzu: Den Kinderschuhen sind sie entwachsen, aber die Welt der Großen haben sie noch nicht erreicht. In diesem Moment rief Mac: »Stop! Alle Maschinen stop.« Die Turbinengeräusche schwiegen. Kapitän, Direktor und Jens liefen zum Kartentisch. Pickwick in seiner Ecke sprang auf. Die Glasplatte zeigte Delphin 1. Das Tauchboot lag über einer Sandbank auf flachem Grund. Es schwojte langsam auf und ab. Der Kapitän schnalzte wieder mit der Zunge. »Alle Achtung. Ein liebliches Ding. Das Modell kenne ich noch gar nicht.« Mac lächelte stolz und zeigte die Zahnlücke. »Der Konstrukteur steht neben Ihnen«, sagte Jens zum Kapitän und deutete auf Mac. Der Kapitän machte ein ungläubiges Gesicht. »Das ist Delphin 1.« Direktor Gabel legte den Arm um Mac. »Und vor Ihnen steht der Erbauer.« Der Kapitän schob anerkennend die Unterlippe vor. »Das hätte ich dem nicht zugetraut.«
Mac hat es in sich, gibt es aber nicht gern von sich, dachte Jens. Er sah den Direktor fragend an. »Was wird nun?« »Stoppen Sie genau über der Stelle und versuchen Sie, das Boot dort zu halten«, rief Gabel dem Kapitän zu. Dann kletterte er eilig an Deck, von Mac und Jens gefolgt. Als das Boot hielt und auf dem Wasser dümpelte, legte einer der Besatzung einen Handhebel herum. Der Magnetbügel schwang außerbords. Der Kapitän schrie aus dem Ruderhaus: »Achtung!« Das Wasser begann zu strudeln. Eine Grundwelle schlug hoch in die Nacht. Als sich die Woge gelegt hatte, hing Delphin 1 an dem Magnetbügel. Das Tauchboot blinkte und glitzerte im Strahl des Deckscheinwerfers. Die Turbine heulte auf, das Boot raste mit voller Fahrt über den See, Richtung Bootshafen der Jugendstadt. »Warum nicht zur Werkhalle zurück?« fragte Mac verdutzt. »Weil wir uns jetzt deiner Erfindung annehmen werden«, sagte der Direktor. »Oder möchtest du dir und deinen Freunden nicht das Abschlußzeugnis verbessern?« Macs Ohren leuchteten vor Stolz. Jetzt fürchtete er selbst den strengen Jacob Breitner nicht mehr. Vor Freude kniff er Pickwick, der sich an ihn drängte, ins Fell. Im Hafen wurde Delphin 1 vorsichtig an Land gesetzt. Dann durften die Zwillinge Peter und Paul das Einstiegsluk öffnen. Paul kletterte eilig in die Kabine. Sein Bruder Peter legte sich über die Öffnung. Gemeinsam schoben und zogen sie Zepp aus dem Boot. Die Lampe war erloschen. Die Antennen hingen kläglich herab. »Das erste Opfer«, sagte Claudia kühl. Aber Zepp war kaum auf festem Boden, da leuchtete die Kontrollampe auf seinem Rücken auf. Die Scheinwerfer funkelten. »Su – su – Supraleitung defekt«, brabbelte er. »T – tauchversuch mißlungen.«
18. KAPITEL Zepp oder princeps mathematicorum? Mathematikdozent Jacob Breitner, in Schülerkreisen als Jaco bekannt, spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Seine Stimme wurde um eine Nuance schärfer. Wer ihn kannte, wußte: Gleich mußte ein Gewitter losprasseln. Mac fing denn auch prompt an, mit den Augenlidern zu blinzeln. Mit einem verlegenen Lächeln versuchte er seine Hilflosigkeit zu demonstrieren. Aber er erreichte das Gegenteil. Die Lücke zwischen den Zähnen machte sein Gesicht eher vorwitzig. »Ergebnis?« forderte Jaco sofort mit drohendem Unterton. Mac begann sich nervös am Ohrläppchen zu zupfen. Er blickte verstört den Lehrer an, sah die dunklen Härchen auf dessen Hand, den blanken Römerschädel und sagte gar nichts. Diesem Mann fühlte er sich nicht gewachsen. Die Blässe seines Gesichtes ließ die Sommersprossen stärker hervortreten. Er hockte auf seinem Stuhl wie ein beim Streunen aufgegriffener Kater. »Junge, denk doch endlich einmal nach«, sagte Jacob Breitner beschwörend. Er versuchte eine andere Taktik einzuschlagen, um diesen widerspenstigen Schüler in die nach seiner Meinung schönste Wissenschaft der Welt, die Mathematik, einzuführen. »Kombination ist das A und O des Denkens. Du hast ein exzellentes Tauchboot geschaffen. Nun mußt du dich auf die Kunst des Abstrahierens verstehen, um aus deiner Arbeit auch Erkenntnisse ziehen zu können. Permutieren, kombinieren, variieren führen dich über die Schwelle ins Reich der höheren Mathematik…« Der Lehrer brach ab. Er sah den müden Blick seines renitenten Schülers und erkannte, daß er sich ganz umsonst abrackerte. Dieser da war nicht einfältig und auch nicht schwer von Begriff. Er folgte ihm gar nicht. Das machte Jacob Breitner stutzig. Das gefürchtete Gewitter ließ er ohne Entladung abziehen. Er trat zum Fenster und sah nachdenklich auf den im Nachmittagsschlaf liegenden Großen Stern der Stadt der Jugend. Jacob Breitner gehörte einer Lehrer-
kommission an, die zur Zeit die Konstruktion des Erfinders begutachtete. Begeistert von dieser außergewöhnlichen Arbeit hatte er den Vorschlag des Direktors aufgegriffen, gleichzeitig die Wissenslücke des Mac Bluffke zu füllen. Wie ich heute zeigte, ließ der Erfolg seiner Bemühungen auf sich warten. Aus dem Unterricht war ein Gedankenduell geworden, in dem er ständig angriff, sein Partner aber ebenso unermüdlich auswich. Er bekam diesen Mac Bluffke nie zu fassen. Dabei galt Jacob Breitner in den Oberklassen als ein Pädagoge, der die Schüler für sein Fach zu begeistern verstand. Der verehrte und manchmal auch ein wenig gefürchtete Jaco lugte über die Schulter. Mac zupfte verloren am Ohr, gähnte und döste abwesend vor sich hin. Bevor du nicht weißt, was in seinem Kopf vorgeht, dachte Breitner, nutzen dir alle Anstrengungen nichts. Erst wenn du weißt, woran du mit ihm bist, ist es dir möglich, ihn aus der Abwehr zu ziehen. Und dann mußt du ihn so interessieren, daß er dir folgt. Dieser Junge braucht Impulse, wechselnde Eindrücke, Farbe im Leben. Das ist kein geduldiger Arbeiter. In plötzlichem Entschluß trat der Lehrer in das stille Zimmer zurück. Mac sah Breitner aus den Augenwinkeln an. Aber Jacob Breitner verzichtete auf die Wiederholung der Aufgabe. Er winkte wortlos, und Mac trottete ergeben hinter ihm her. Mach endlich Schluß, dachte er. Die Plage ist ohne Zweck und Ziel. Sie traten in einen schalldicht abgepolsterten Raum. Dort hieß der Lehrer seinen Schüler in einem tiefen Sessel Platz nehmen und den Kopf an ein Polster lehnen. »Vielleicht verleiht dir Bequemlichkeit Gedankenstärke«, scherzte Jacob Breitner und begab sich in eine Kabine. Hier war eine elektronische Apparatur installiert, die aus Integratoren, Verstärkern, Tonbandgeräten und Oszillographen bestand. Der Lehrer drückte auf einen Knopf; das Licht erlosch. »Lege die Hände auf die Lehnen deines Sessels, Mac«, sagte er ruhig. Auf einem Bildgerät sah er, wie Mac folgsam seiner Weisung nachkam. Lichtimpulse sprangen über den Oszillographen. Und ohne daß Mac die Lippen bewegte, ertönte seine Stimme. »Möchte wissen, was das nun wieder soll. Mathematik! Es gibt nichts Langwei-
ligeres als Rechnen. Schade um die Zeit. Sollten mich einen praktischen Beruf ausüben lassen.« Aha, so ist das, überlegte Breitner. Dieser Acker ist verkrustet. Er beugte sich zu einer Sprechanlage und drückte die Taste. »Aufgepaßt, Mac«, sagte er. »Ich gebe dir jetzt eine klassische Kombinationsaufgabe, die mit ein wenig Geschick leicht zu lösen ist: Wenn in einer Tischrunde von 12 Personen jeder mit jedem anstößt, erklingen wie oft die Gläser?« Über den Oszillographen sausten Lichtimpulse in hohen Schwüngen. Das Bildgerät zeigte einen schweigenden Mac. Aber trotzdem ertönte wieder seine Stimme: »Haben wir doch schon mal gehabt? Wie war das denn? Eine ganz einfache Formel. 12 mal 11. Dann kommt ein Bruchstrich. Aber der Nenner? Solch ein Unsinn. Ich strapaziere meinen Kopf mit Sachen, die ich gar nicht brauche! Dafür ist doch Zepp da. Wenn ich Zepp diese Aufgabe stelle, löst er sie in einer knappen Sekunde. Mein lieber Jaco, wenn ich mit Papier und Bleistift mein Tauchboot hätte errechnen wollen, wäre ich in drei Jahren nicht fertig geworden.« Sieh an, dachte der Lehrer und lachte leise vor sich hin. Er hat es in sich, gibt es aber nicht von sich. In der inneren Rede ist er geschwätzig wie eine Elster, obschon er nach außen stumm bleibt wie ein Fisch. Jetzt habe ich dich mit meiner Kombination besiegt, Mac. Mit meinem Einfall und dem Elektromyogramm wurde ein großer Schweiger zum Reden gebracht. Das Elektromyogramm, mit dessen Hilfe Jacob Breitner endlich Kontakt zu seinem Schüler fand, arbeitete auf Grund einer simplen Tatsache. Schon seit Jahrtausenden war den Menschen bekannt, daß sich ein Lehrstoff besonders gut einprägen läßt, wenn man ihn lautlos aufsagt. Später kam man hinter das »Geheimnis«. Gehirn und Muskeln der Sprechorgane lenken einander. Jeder Gedanke gibt eine Schwingung zum Kehlkopf, zu Zunge und Lippen. Vollausgestaltet nach den Gesetzen der Sprache gelangt also ein Gedanke zu den Sprechorganen. Das Elektromyogramm nahm diese Impulse auf und verstärkte sie. Und somit gelang es heute Jacob Breitner, einem Schüler namens Mac Bluffke die Gründe für seine Widerspenstigkeit zu entlocken. Der Lehrer schaltete nach dem Test die Anlage ab. Er trat aus der Kabine und ging im hell erleuchteten Raum auf Mac zu. Der sah ihn er-
staunt an. »Was denn? Schon fertig? Ich habe aber noch gar nicht die Lösung.« »Tja«, sagte Jacob Breitner gedehnt und strich mit der Hand zögernd über den glatten Kopf, »Menschen mit schlafenden Gehirnen soll man nicht quälen. Ich werde mich an deine Empfehlung halten und künftig dein Leihgehirn, Klein Mac oder Zepp, befragen.« Mac errötete. Er rutschte im Sessel herum, als ob er auf einem Nadelkissen säße. »Elektromyogramm?« fragte er. Jacob Breitner nickte und fuhr ungerührt fort: »Wenn es so mit dir weitergeht, werden wir uns künftig den ganzen Mac Bluffke schenken können. Wenn wir etwas von dir haben wollen, gehen wir lieber gleich zu einer automatischen Säge oder einer programmgesteuerten Bohrmaschine…« »Wieso denn das?« schrie Mac aufgeregt. Jacob Breitner blieb gelassen. »Zepp ist ein Gerät der Kybernetik, mein lieber Mac. Das sollte dir vor allem bewußt werden. Auch Zepp ist nur eine von Menschen geschaffene Maschine. Ein Biomat. Er arbeitet an der allgemeinen Aufgabe der Technik weiter, den natürlichen Wirkungsradius des Menschen zu erweitern und zu verstärken. Dampfhammer und Rechenanlage unterscheiden sich also in dieser Hinsicht nicht voneinander. Du aber benutzt nicht nur Zepp, sondern machst dich von ihm abhängig. Sollten also die Macs in der Welt überhandnehmen, wovor uns die Zukunft bewahre, dann wird sich der Mensch das Arbeiten und das Denken schenken. Wir gehen nicht mehr vorwärts, sondern bleiben auf der Stelle. Und unsere Väter und Vorväter hätten sich dann ganz umsonst abgemüht. Ehrlich gesagt, dann wären wir ihrer nicht mehr würdig. Denn jede Generation vor uns baute die Plattform für den Weg in neue, unbekannte Gebiete, mit Fleiß, mit Wissen, mit steter Suche nach neuen Erkenntnissen.« Mac hatte ein Taschentuch aus der Hose gezogen und knuddelte es zwischen den Fingern. »Aber die Mathematik? Es ist doch seit Jahrtausenden dasselbe Rechnen. Zahlen verändern sich nicht. Weshalb jedesmal von vorn anfangen?« »Wer verlangt von dir, daß du wie eine Maschine rechnen sollst?« fragte Jacob Breitner. »Ich möchte, daß du dein Gehirn trainierst. Die Ma-
thematik fördert die Gabe der Kombination. Sie will, daß dein Geist hell und klar bleibt, daß du dich immer wieder neu bestätigst. Ich gebe dir das Rüstzeug der Logik, mit dem du scharfsinnig und klug dein Leben und die einmal an dich gestellten Aufgaben meistern kannst. Zu hoch?« Mac schwieg gequält. »Nimm dir nicht Zepp, sondern Gauß zum Vorbild«, sagte Jacob Breitner leise. »Wer ist das?« fragte Mac. »Ein Mathematiker, der vor ungefähr dreihundert Jahren lebte«, sagte Jacob Breitner. Er kniff spöttisch die Augen zusammen. Denn Mac machte ein enttäuschtes Gesicht. »Was wäre dir denn lieber gewesen – Erfinder, Entdecker?« . Mac nickte. Jacob Breitner zog sich einen Sessel heran. »Ich will dir jetzt keinen Vortrag halten, mein lieber Mac«, sagte er leicht. »Aber da du ja auf Erfinder und Entdecker begierig bist, kannst du an einem Mann wie Carl Friedrich Gauß nicht vorübergehen. Auch wenn er für dich, leider, ein Mathematiker ist. Darf ich ihn dir wenigstens vorstellen? Eine genaue Bekanntschaft mit Gauß wird dir Vater Schlemper im Archiv vermitteln.« Mac wand sich unter dem freundlichen Blick des Lehrers. Entdecker? Erfinder? Solche Männer sah Mac als Tiefseetaucher, Kosmonauten, Eroberer des Mondes und Konstrukteure der Biomaten. Mathematik war für ihn farblos. Mac hatte Freude an kraftvollen Gestalten, nicht an Schemen. »Es gibt eine hübsche Geschichte von Gauß, aus seiner Jugendzeit«, sagte Jacob Breitner beiläufig. »Damals war er acht Jahre alt, also sechs Jahre jünger als du, besuchte keine Stadt der Jugend, sondern eine einklassige Dorfschule.« Mac sah Breitner verständnislos an. »Alle Jahrgänge in einer Klasse? Das ist unmöglich.« Breitner fuhr ohne weitschweifige Erklärungen fort: »Für dich nicht vorstellbar, damals jedenfalls eine Tatsache. Was machte der Lehrer angesichts der vielen Jahrgänge, denen er verschiedenes Wissen beizubrin-
gen hatte? Er stellte jeder Gruppe Sonderaufgaben, recht verzwickte, damit sie möglichst lange zu tun hatte.« Mac grinste. »Rechenaufgaben ohne Zepp also?« »Aber mit Gauß«, antwortete Jacob, Breitner. »Acht Jahre alt war der Junge, Mac! Und der Lehrer sagte: ›Zählt alle Zahlen von 1 bis 40 zusammen. Also 1 und 2 und 3 und 4… bis 40‹…« »Arme Schüler.« Mac wiegte bedauernd den Kopf. »Dann waren sie sozusagen vollbeschäftigt?« Jacob Breitner lachte. »Bis auf einen, Mac, bis auf einen… bis auf Gauß. Er meldete sich nach wenigen Minuten und sagte das Ergebnis: 820!« Mac winkte ab. »Das ist ohne Zepp unmöglich.« »Mac, du hast Lücken, gewaltige sogar.« Breitner seufzte. »Du kennst die arithmetische Reihe nicht, die der kleine achtjährige Gauß in jener Schulstunde fand. Er hatte sich nämlich folgendes überlegt: Addiert man 1 zu 40, so gibt das 41, 2 zu 39, so ergibt das 41, 3 zu 38, so ergibt das auch 41. Das heißt, Gauß fand heraus, daß sich 20 Paare zu je 41 bilden ließen. Mithin war die Summe 20 mal 41. Und das Ergebnis hieß…« »820«, rief Mac und schlug sich auf die Schenkel. Er hatte seine Abneigung gegen die Welt der Zahlen in diesem Moment vergessen. »Junge, Junge«, rief er wiederholt. »Acht Jahre alt.« Jacob Breitner schmunzelte. Jetzt brauchte er nur noch ein wenig das Feuer zu schüren, dann konnte er sicher sein, daß es nie mehr erlosch. War er selbst nicht ähnlich für die Mathematik gewonnen worden? Freude am eigenen Scharfsinn wecken, darauf kam es an. »Laß dir von Schlemper das wissenschaftliche Tagebuch des Carl Friedrich Gauß zeigen«, sagte Breitner. »Es beginnt mit der Eintragung über die Entdeckung der Konstruierbarkeit des regelmäßigen Siebzehnecks mit alleiniger Hilfe von Zirkel und Lineal. Gauß war damals neunzehn Jahre alt. Er gab sich nie mit Überkommenem zufrieden. Immer suchte er neue Wege. Als er einmal als Landesvermesser arbeitete, bereicherte er die Differentialgeometrie gleich durch eine Flächentheorie und schuf damit die neue wissenschaftliche Grundlegung der Geodäsie. Gauß erfand das Heliotrop. Durch ihn wurde der Planetoid Ceres wieder auf-
gefunden, den man schon vor Jahrtausenden entdeckt und dann verloren hatte. Gauß, mein Junge, ist einer der größten Entdecker, die je gelebt haben. Mit seiner Geometrie mehrdimensionaler Räume schaffen wir heute die kühnsten Erfindungen. Princeps mathematicorum – Fürst der Mathematiker – wurde Gauß genannt. Willst du Eleganz der Beweisführung in knapper Form, mußt du immer noch bei ihm in die Schule gehen. Es gibt keinen Klügeren und Besseren…« Mac erhob sich. »Jeden Tag freiwillig zwei Stunden«, sagte er und streckte Jacob Breitner die Hand entgegen. »Gut«, sagte der Lehrer und schlug ein. »Aber wir bleiben nicht nur bei Gauß.« Mac schüttelte den Kopf. »Das ist auch nicht nötig. Gauß statte ich lieber allein meinen Besuch ab. Übrigens bin ich nicht ganz so beschränkt, wie Sie vielleicht denken werden. Wissen Sie, wievielmal die Gläser klingen, wenn in einer Tischrunde von 12 Personen jede mit jeder anstößt?« »Na, schieß schon los«, sagte Jacob Breitner. »Zwölf stoßen mit elf an, nicht wahr? Zwei Gläser immer ein Klingen. Das ergibt folgende Aufgabe: 12 mal 11, dividiert durch 2 mal 1. Sechsundsechzigmal erklingen die Gläser.« Jacob Breitner verneigte sich. »Der erste Schritt zum großen Mac ist getan.« Mac winkte ab, aber in seinem Gesicht stand Triumph.
19. KAPITEL Der Brief aus Futuria Die letzten fünf Wochen des Schuljahres schienen wie im Flug zu vergehen. Kaum einer fand Zeit, Ferienpläne zu schmieden. Die meisten Schüler waren zu sehr mit ihren praktischen Abschlußarbeiten beschäftigt. Heinrich Schorr hatte nach der Entzauberung des Sees seiner Jagdleidenschaft entsagt. In seinen freien Stunden assistierte er dem Geographielehrer beim Entwickeln der Stereocolorfilme und versuchte mit den dabei gewonnenen Erkenntnissen seine Note aufzubessern. Die Zwillinge Peter und Paul waren dem Delphin 1 treu geblieben. Sie gehörten zur Schülergruppe der Testkommission und halfen Tag für Tag bei der Überprüfung des Tauchbootes. Jacob Breitner leitete die Untersuchungen und zeichnete für die Verbesserungen verantwortlich. Vor den Schülern hielt er sich mit seinem Urteil zurück. Nur der Direktor Gabel bekam Einblick in die Untersuchungsberichte. Beide Männer stimmten überein: Mit Delphin sollte ein ähnlicher Weg beschritten werden wie bei der Entwicklung des Luftschiffes Silberne Wolke. Ihr Entschluß stand schon fest: Das Tauchboot war zur Produktionsreife zu führen und ausersehen, Vorläufer einer Exkursionsflotte zu werden. Dem Erfinder Mac Bluffke allerdings hatten Gabel und Breitner geraten, seine zum Teil erheblichen Wissenslücken aufzufüllen. Punkt fünfzehn Uhr erschien er täglich zur Nachhilfestunde in Mathematik. Und um siebzehn Uhr sah man ihn zum Archiv der Jugendstadt marschieren, gefolgt von Pickwick. Der Dobermann wurde in der Jugendstadt auf Bitten von Hans-Friedrich Schlemper geduldet, der gesagt hatte: »Laßt einem alten Mann doch auch einmal eine kleine Freude.« Wenn Mac im Lesezimmer verschwunden war, wo Schlemper ihm einen umfangreichen Wissensstoff wohldosiert reichte, tat sich Pickwick im Wohnzimmer des Archivars an einer Wurst gütlich. Dann ließ er sich von dem alten Mann allerlei Kunststücke beibringen. Am späten Abend führte Pickwick das Gelernte im Schülerwohnheim vor. Pickwick apportierte Hausschuhe, sprang aus dem Stand über den Tisch, verstand sich
bald aufs Türöffnen und unterließ wohlerzogen das Bellen. Damit waren Frank Gabels Einwände gegen das Verbleiben des Dobermanns gegenstandslos geworden. Vater Bluffke teilte seinem Sohn mit: »Lieber Mac! Wenn es stimmt, daß Du nun endlich die große Klugheit von Dir gibst, die in Dir sein soll, so magst Du ruhig Deinen Spaß an dem Dobermann haben. Pickwick ist ein guter Hund. Und er wird sicher auf Dich aufpassen. Er ist klug, aber ein wenig verfressen. Achte auf seine Verpflegung, denn in dieser Hinsicht kennt Pickwick keine Hemmungen. Grüße Herrn Schlemper von mir und sage ihm, daß Pickwick der bester Spurensucher der Welt ist. Er soll ihn daher nicht dressieren, wie man das früher im Zirkus mit den armen Tieren tat. Dein Vater Karl-Franz.« Inzwischen konnte Pickwick auf zwei Beinen marschieren, eine Trommel schlagen und durch einen Reifen springen. Aber auch Pickwicks biomatisches Pendant Zepp war seinen früheren Aufgaben nicht treu geblieben. Jeden Abend sah man Direktor Gabel mit großen Schritten das Achtkilometertagespensum am See heruntermarschieren. Neben seinen weitausgreifenden Beinen schnurrte Zepp. Er war ein braver Begleiter seines neuen Herrn geworden und hatte in Schülerkreisen den Namen »Der Aufklärer« bekommen. Zepp meldete jede Panne im technischen Bereich der Stadt der Jugend und signalisierte dem Direktor alle Vorgänge in den Werkhallen. Für Gabel war er nicht mehr nur ein Spielzeug, sondern ein unentbehrlicher Helfer. »Tut es dir nicht leid um Zepp?« fragte Cornelius Brink auf der Terrasse der Schülereisbar. Jens löffelte ungerührt sein Eis zu Ende. »Einen richtigen Biomaten müßte man haben«, sagte er. »So groß wie wir und menschenähnlich.« »Vorsicht«, rief Claudia. »Schon der kleine Zepp verführte dich zu einer Reise auf den Mond. Nicht auszudenken, was ein großer Biomat mit dir anstellen würde.«
»Ich glaube, daß wir erwachsen genug sind, um solch einen Apparat beherrschen zu können«, entgegnete Jens. »Du sprichst weise wie ein echter Chefadministrator«, sagte Cornelius Brink spöttisch. »Jens Dietrich, früh gealtert, voller Wissenseifer… Mensch, sei nicht so klug.« Er erhob sich. »Ich hole mir noch ein Eis, Methusalem.« Jens lachte verlegen. »Bringst du mir eins mit?« »In Ordnung.« Cornelius Brink machte sich steif und winkelte die Arme an. »Biomat CB führt jeden Befehl aus.« Über die Terrasse, die mit Sonnenschirmen, weißen Stühlen und Tischen ausgestattet war, führte sein Weg in den Büfettraum. Zehn Automaten standen an der Wand aufgereiht, und jeder hatte eine bestimmte Eissorte anzubieten. Cornelius Brink marschierte zögernd von einem Automaten zum anderen. Wer die Wahl hat, hat die Qual, dachte er. Nach minutenlangem Überlegen stand er vor Automat 7 und drückte zweimal auf einen Knopf. Hinter der geschliffenen Glasscheibe drehte sich langsam ein Servierrad und ließ zwei Becher auf eine Platte gleiten. Eine Klappe sprang auf. Kalter Luftzug wehte Cornelius an. Er ließ sich einen Moment vergnügt die Hände kühlen. Dann griff er die Portionen und zog zufrieden ab. Auf der Terrasse legte er wieder die Arme an die Seiten und schnurrte steif zu den Freunden zurück. »Biomat CB immer zu Diensten«, schmetterte er. Aber kein Echo kam zurück. Verwundert sah Cornelius die Freunde an. Jens hielt eine azurblaue Scheibe in der Hand und starrte sie wie hypnotisiert an. Claudia las mit hochgezogenen Augenbrauen einen Brief. Auf dem Tisch lag ein Umschlag mit roter Eilpostfrankierung. Cornelius stellte das Eis auf den Tisch. Noch immer achtete keiner auf ihn. »Was ist denn mit euch?« rief er so laut er konnte. Claudia winkte ab. Nur Jens sagte: »Brief von meinem Vater. Die Besuchersperre für Futuria ist aufgehoben.«
Cornelius setzte sich langsam. »Hast ja eine merkwürdige Verjüngung durchgemacht«, sagte er. »Siehst aus, als ob du noch einmal auf den Mond wolltest.« »Versteh doch«, rief Jens, »ich will nicht auf den Mond, sondern nach Futuria. Und du kommst mit. Und Claudia kommt mit.« Er sprang auf. »Das Tauchboot muß mit. Und Zepp wird gebraucht. Und Mac hat endlich wieder etwas Neues.« »… und Pickwick kommt mit. Die ganze Schule kommt mit«, ahmte Cornelius Brink mit verstellter Stimme nach. »Die ganze Welt geht nach Futuria.« Claudia ließ den Brief sinken. »Iß dein Eis«, sagte sie trocken. Dann winkte sie mit dem Umschlag. »Was diese Post bedeutet, kannst du nicht ahnen. Die Ferien sind gerettet. Eine großartige Idee. Seen, Wälder und die modernste Stadt des Kontinents.« »… der Welt«, schrie Jens. »Halli, hallo, der Welt«, rief Claudia. Sie hatte ihre Würde verloren und war wieder das kleine Mädchen aus der Avenue Zampetta. Cornelius Brink griff nach dem Briefchen und las mit wachsender Aufmerksamkeit: »… Der Rat der Wissenschaftler wird die Klassen für technisch-wissenschaftliche Kenntnisse zu einer Ferienexkursion nach Futuria noch offiziell einladen. Dir und Deinen Freunden im Schülerrat vorerst dieser Brief und die Tonbildplatte zur Information. Wir freuen uns über jeden jungen Physiker, Techniker, Biologen, Architekten und Monteur. Kommt und seht! Wir sind sicher, daß hier so mancher von Euch seine Lebensaufgabe findet. Salut, mein Sohn Jens! Dein Vater Lutz Dietrich.« Cornelius Brink ließ den Brief sinken. Er tupfte sich den Schweiß von der Stirn, wollte zur Abkühlung nach seinem Eisbecher greifen. Aber er faßte ins Leere. Als er aufblickte, sah er in das lachende Gesicht von Claudia. Sie löffelte gerade den Rest. »Schluß«, sagte Jens. »Schülerrat bei Direktor Gabel. Ich möchte wissen, was die beigelegte Platte für Überraschungen birgt.«
20. KAPITEL Direktor Gabel sorgt für Überraschungen Jeder Speisesaal in der Stadt der Jugend war nach Plan gebaut. Ehe man ihn betreten konnte, mußte die Servierzelle mit ihren dreißig Automaten passiert werden. Sie lieferten in Sekundenschnelle das gewünschte Gedeck. Es gab keine Stauungen und Wartezeiten. Für Frühstück, Mittagund Abendbrot bestand die Möglichkeit der Wahl. Getränke wurden mitgereicht. Wer gewählt hatte, marschierte mit seinem Tablett durch eine Konterschleuse. Das heißt, er gelangte aus dem Servierraum in den Speisesaal, konnte aber auf gleichem Weg nicht wieder zurück. Wer das dennoch versuchte, wurde durch einen automatischen Riegel abgefangen. Es gab Hunderte buntfarbiger Tischchen, zu jedem gehörten vier Stühle. Immer acht dieser Plätze bildeten ein von Zierpflanzen umrahmtes Ensemble. In der Mitte des Raumes tanzte der Wasserstrahl eines kleinen Springbrunnens. Der Innenarchitekt hatte die weise Empfehlung dahingegangener Feinschmecker beherzigt: »Sei beim Essen gesellig, aber tafele nicht in Massen. Suche beim Mahl die Quelle, denn sie fördert den Appetit. Liebe das Licht und achte die Weite.« Heinrich Schorr steuerte vorsichtig durch die Schleuse und nahm dann an einem Tisch Platz, wo der Kapitän des Bergungsbootes ein Steak verzehrte. Heinrich stopfte sich die Serviette in den Ausschnitt seines Hemdes und wollte gerade eine appetitanregende Unterhaltung anfangen, als ein langgezogener Summton ertönte. Der Kapitän blickte zur Stirnwand der Halle. »Hoffentlich ist nicht schon wieder ein Tauchboot verlorengegangen«, sagte er argwöhnisch. »O nein«, Heinrich Schorr biß arglos in ein Würstchen, daß es nur so knackte. »Du siehst mich ja hier beim Essen. Mac ist im Archiv. Und die Zwillinge Peter und Paul…« Er wollte gemütlich zu einer Rede ansetzen,
merkte aber, daß er plötzlich allein am Tisch war. Der Kapitän hastete bereits mit großen Schritten aus dem Raum. Heinrich Schorr saß mit dem Würstchen in der Hand zwischen den Zierpflanzen und staunte über die Bewegung im Saal. Überall erhoben sich Schüler und eilten davon. Jetzt erst sah Heinrich die Leuchtschrift an der Wand: »Achtung, Schülerrat sofort zum Konferenzgebäude. Direktor Gabel dringend gesucht.« Heinrich Schorr zuckte mit den Schultern. »Dieses Mal ohne mich«, sagte er gelassen. »Hat auch sein Gutes, wenn man nicht zum Schülerrat gehört.« Aber aus dem Herzen kam dieser Ausruf nicht. In den nächsten Minuten schon machte ihn das Plätschern des Springbrunnens nervös. Heinrich reckte wiederholt den Hals und hätte gar zu gerne gewußt, was im Konferenzgebäude eigentlich geschah. Lediglich der Mann, der dringend gesucht wurde, war heute abend nicht aus der Ruhe zu bringen. Direktor Frank Gabel hatte eine Besprechung mit Lehrern und Ausbildern. Trotz Blinkzeichen und Achtungrufen des Schulsignal- und Kontrollgerätes befand er sich in angeregter Unterhaltung mit den fünfzig Männern und Frauen. »Sie haben den Schülerrat einberufen«, mahnte Antonius Puch. Aber Direktor Gabel ließ sich nicht in seinem in leichtem Plauderton vorgetragenen Bericht stören. Schließlich erhob sich Jacob Breitner, der am unteren Ende der langen Tafel saß. »Unter Umständen ist etwas vorgefallen«, flüsterte er Gabel ins Ohr. »In letzter Zeit geht es doch bei uns recht lustig zu.« Der Direktor wehrte gleichmütig ab. Während Breitner unschlüssig hinter seinem Rücken stand, beendete er in aller Ruhe seinen Vortrag. Nun erst winkte er seiner Sekretärin. »Teilen Sie dem Schülerrat mit, daß ich nicht aufzufinden bin«, sagte er ruhig. Lehrer und Ausbilder musterten ihren Direktor leicht verstört. Gabel erhob sich. »Ich glaube, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig«, sagte er. »Mit Absicht spiele ich ein wenig Verstecken vor den Schülern. Heute nachmittag wurde mir vom Rat der Wissenschaftler mitgeteilt, daß die Sperre über Futuria aufgehoben ist. Der Rat hat die sechs Gruppen für technisch-wissenschaftliche Kenntnisse zu einer Ferienexkursion in diese neue und modernste Stadt
unseres Kontinents eingeladen. Die Einberufung des Schülerrates dürfte in gleichem Zusammenhang erfolgen.« »Aber woher wissen das schon die Schüler, wenn ihre Ausbilder noch gar nicht unterrichtet sind?« fragte Antonius Puch vorwurfsvoll. Direktor Gabel lächelte ein wenig verschmitzt und hob die Hand. »Bitte, liebe Freunde, keine Aufregung. Ich selbst bin zwar schuld, doch ich denke, wenn ich Ihnen den Grund erklärt habe, werden Sie alles verstehen. Ich habe den Chefkoordinator um Eilpostbenachrichtigung seines Sohnes gebeten. Damit fädelten wir diese Schülerratstagung ein. Ich möchte die Schüler nicht nach Futuria schicken. Sie sollen die Reise selbst wünschen. Es wäre die Krönung dieses Schuljahres, wenn sich Schüler und Erzieher mit ihren Vorstellungen und Plänen begegnen.« »Bravo«, rief eine Lehrerin. Direktor Gabel aber schaltete nun sein Kontrollgerät ein. Die Erzieher blickten in den großen Saal des Konferenzgebäudes: Jens Dietrich hockte, von Zurufen bedrängt, mit Cornelius Brink und Claudia Steinmann auf dem Podium. Gabel blickte nachdenklich auf das Durcheinander. In diesem Moment sahen sie den schlanken Kapitän auf das Podium springen. Er rief: »Schluß mit dem Gerede. Spielt endlich die Bildtonplatte ab.« Es wurde dunkel auf dem Schirm des Kontrollgerätes. »Wir sind mit dem Vorführapparat gekoppelt«, sagte der Direktor. Da leuchtete auch schon der Schirm auf. In kräftigen Farben zeigte sich eine romantische Landschaft. Wolken segelten über den Himmel, unter dem sich Laubwälder, Wiesen und in langgezogenen Bodensenken versteckte Seen ausbreiteten. Ein Kommentator sprach: »Das Naturschutzgebiet im Feldberger Bereich wurde in fernen Zeiten geprägt, als das Landeis der Eiszeit tiefe Furchen in den Boden pflügte. Drumlins heißen die charakteristischen Erdfalten, die sich durch die mächtigen Verschiebungen bildeten. Hier ging vor Jahrmillionen etwas Ähnliches vor sich wie bei der Wasserströmung über einem Flußboden. Gigantische Wellenfurchen entstanden. Darin sammelte sich zum Teil das Grundwasser, das die heutigen Seen entstehen ließ, zum Teil blieben Schutt und Schotter zurück. Hier begannen unsere Bohrungen.«
Auf dem Bildschirm wurde eine Skizze sichtbar, die das Vortreiben der Bohrwerke bis in 15 000 Meter Tiefe zeigte. Gleich darauf war zu erkennen, wie das Wärmelager im Erdinneren aufbrach. Dampf und glühende Gase stiegen wie aus einem Vulkan hoch, wurden in Rohrleitungen gezwungen, wanderten in einen Kessel für die Grobreinigung, passierten die Feinfilterung mit ihrem auseinanderlaufenden Netz von Kanälen, wo die verschiedenen Stoffe gesammelt und sortiert wurden. Am Ende wanderten die chemischen Elemente in riesige Kondensatoren. Sie wurden gepreßt und erhitzten die Halbleiterbatterien, die den elektrischen Strom erzeugten. »Eindrucksvoll, geradezu phänomenal«, flüsterte Jacob Breitner. In schneller Folge wechselten die Bilder der neuen Stadt Futuria und der von den zivilisatorischen Errungenschaften geprägten Landschaft. Buchenwälder waren als Parks erhalten geblieben. Zwischen den Bäumen ragten die Häuser auf, in hellen Farben gehalten, mit spiegelnden Glasfronten. Alle Häuser waren laut Bericht aus Kunststoff gebaut und hatten ein Zehntel des Gewichts von in herkömmlicher Weise errichteten Bauwerken. Der Stadtkern sah repräsentativ aus. Verwaltungsgebäude wechselten mit Warenhäusern, Restaurants und Cafes. Eine Nachtaufnahme zeigte Leuchtpaneele an den Häusern. Besonders originell erschienen die Stufenbänder, die durch die Stadt liefen und zu Aussichtspunkten auf den Höhenzügen emporstiegen. Parallel gleitende Rolltreppen bewegten sich in mäßigem Tempo, mit mittlerer Beschleunigung und auf Hochtouren. Roilinien jagten ins Land hinaus. Sie trugen Sessel und Bänke, auf denen man sich bequem niederlassen konnte. Ein Tal wurde von einer Kunststoffkuppel überdacht. Darunter blühten Blumen in prächtigen Farben und reiften Früchte. Schließlich wurde eine Tomatenplantage gezeigt, deren Pflanzen vier Meter hoch waren, wie Bäume anzusehen, und reichen Ertrag brachten. Die Projektionsflächen der Freilichtstereokinos fesselten Antonius Puch derart, daß er beschloß, seinen Amazonasfilm dort vorzuführen. Automatische Schachtmaschinen, die Gräben aushoben, Rohre verlegten und sofort wieder das Erdreich planierten, beeindruckten hingegen Jacob Breitner. Fabrikhallen, in denen alle Maschinen selbsttätig arbeiteten, wurden sichtbar.
Das war an und für sich nicht sensationell: Aber heute machten die Beobachter doch eine auch für sie erstaunliche Entdeckung: In den Dispatcherzentralen fungierten keine Lebewesen, sondern menschenähnliche Geräte. Geschickt bewegten sich auf nahezu allen Arbeitsplätzen Biomaten. Und nur in den Administrationspunkten waren jeweils drei, vier Spezialisten zu sehen, die lediglich mit der Überwachung beschäftigt waren. Biomaten leiteten auch den Verkehr an den Kreuzungspunkten der Stadt und lösten Transportaufgaben. Biomaten ernteten in den Großgärtnereien, leiteten die Geräte der Straßenreinigung, waren Kellner und Köche. Durch den Biomaten war in dieser Stadt dem Menschen die volle Entfaltung seiner Schöpferkraft gewährt: Der Mensch war Regent. Mit der Vorführung der Biomaten endete die Bildtonplatte. Auf dem Kontrollgerät erlosch für einen Moment der Bildschirm. Gabel sah seine Lehrer und Ausbilder an. »Kein Kommentar«, sagte Jacob Breitner. »Mit Worten ist das eben Gezeigte nicht zu übertreffen.« Gespannt blickte er auf das Kontrollgerät. Dort begann der Bildschirm wieder zu glimmen. Gleich darauf war der Konferenzsaal zu sehen. Die Schüler saßen wie erstarrt. Dann brach ein ungeheurer Jubel los. Einer kommandierte: »Auf nach Futuria!«
21. KAPITEL Das Abenteuer beginnt Gegen Überraschungen ist niemand gefeit, dachte Mac. Sie durchquerten im Morgengrauen den schmalen Durchstich vom Werbellinsee zum Oder-Havel-Kanal. Die Sonne kämpfte noch mit dem Dunst der Nacht. Heinrich Schorr und die Zwillinge träumten an Deck in den stillen Tag hinein. Delphin war auf der Reise nach Futuria. Auch Mac hatte bis zu diesem Moment ein wenig versponnen den aufsteigenden feuerroten Sonnenball beobachtet, ins Schiff geblinzelt und mit aufgestütztem Kopf aus dem Turmluk gedöst. Aber nun stand er hellwach als Kommandant im Turm und spähte in die Ferne. Enten ruderten aufgeregt am Ufer entlang. Ein Storch stieg mit Flügelschlag in die Luft. Vom Ast einer Eiche gakelte ein Häher. Auf dem Damm raste ein Schatten dahin. Dann wogte weit voraus das Binsengras des Vorlandes. Und schließlich gab es einen Plumps. Mitten im Wasser trieb ein Tier auf das Tauchboot zu. Mac schaltete die Maschine von langsamer Fahrt auf Stop. Die drei Jungen an Deck hatten sich jetzt auch erhoben und starrten auf den paddelnden Störenfried. »Wenn wir auf dem Nil wären, würde ich sagen: ein Flußpferd«, murmelte Heinrich Schorr. Peter blickte mißtrauisch. Paul ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er beugte sich vor, schaute aufmerksam über das Wasser und rief: »Ein Hund. Ein ausgewachsener Köter will uns entern. Kapitän! Klar zum Gefecht.« Mac hing mit dem Oberkörper aus dem Luk und starrte angestrengt nach vorn. Ihm schwante Ungutes. Hilflos kratzte er sich am Kopf. Da rief Heinrich Schorr verzückt: »Pickwick! Mein lieber guter Pickwick, du treuer Hund! Du konntest deine Freunde nicht vergessen.« Mac stöhnte. Was soll ich jetzt mit einem Dobermann anfangen, dachte er. Bring ich ihn zurück, ist eine Stunde verloren. Jage ich ihn ans Ufer, rennt er unter Umständen bis nach Futuria neben dem Boot her. Vor einer Ferienexkursion mit Pickwick graute es Mac. Dann hatte er wieder Aufpasser zu spielen. Außerdem war ein Brief an seinen Vater
fällig. Und der Direktor würde denken, er hätte den Hund heimlich versteckt gehabt. Hundert Komplikationen bahnten sich an. Pickwick ließ seinem Herrn keine Zeit zum Überlegen. Er drängte sich wie immer dickfellig in das Leben des Erfinders Mac Bluffke. Die Welt der Technik versank. Ein Hund forderte wie alle Hunde, daß ihre Treue mit Freude belohnt wurde. Pickwick paddelte hechelnd um das Boot herum. Aber sosehr er auch versuchte, an Bord zu kommen, es gelang ihm nicht. Er rutschte immer wieder von dem glatten Metall ab. Peter und Paul lagen lang ausgestreckt an Deck. Sie reichten jedoch mit ihren Armen nicht über die Wölbung des Bootsrumpfes. »Wir tauchen unter ihm durch und heben ihn hoch«, schlug Heinrich Schorr vor. Pickwick jaulte. Hastig paddelte er vor dem Bug herum und stupste mit der Schnauze gegen die Glaskanzel. Mac überlegte, ob er den Vorschlag von Heinrich Schorr beherzigen sollte. Doch dann fiel ihm Besseres ein. »Haltet euch fest«, rief er den Freunden zu. Er schaltete auf Rückwärtsfahrt. Das Boot purrte mit kräftigem Stoß in seine Kiellinie. Pickwick jaulte anklagend. Wie toll paddelte er hinter dem Boot her. Mac drückte den roten Knopf am Schaltbrett. »Fang!« leuchtete die Schrift auf der Glasscheibe. Ein leises Rauschen war zu hören, die Manipulatoren schnellten vor. Das Boot schoß auf Pickwick zu, er wurde von den Greiferhänden gepackt, unter Wasser gezogen. Ein letztes Bellen trieb über die strudelnde Wasserfläche. »Der Hund ertrinkt«, schrie Heinrich Schorr. »So etwas Verrücktes.« Als Paul durch das Luk blickte, sah er Mac die Bodenklappe öffnen. Mit einem Satz sprang der quietschnasse Dobermann in die Kabine. Er schüttelte sich, daß die Tropfen flogen. Paul kletterte in den engen Raum und sah sich suchend um. Dann öffnete er ein schmales Schapp hinter den Sitzen. »Sollten wir tauchen, hat er dort zu verschwinden«, sagte er. »Und in Futuria?« Macs Blick drückte Zweifel aus. »Kommt er in einen Käfig und geht mit dem nächsten Expreß ab nach Hause.«
Mac nickte. Es war der einzige Ausweg. Dann wickelte er sein Frühstückspaket aus und belohnte Pickwick mit einem Happen Salamiwurst. Die durchstandene Aufregung hatte den Appetit des Dobermanns angeregt. Er futterte ein halbes Weißbrot und hätte sich auch noch über die Verpflegung der Freunde hergemacht, wenn das Tauchboot jetzt nicht auf volle Fahrt gegangen wäre. Das feine Singen des Dynamos jagte Pickwick einen Schrecken ein. Er kroch in die Ecke hinter den Sitzen. Schließlich legte er den Kopf auf die Pfoten, gähnte und schloß die Augen. Pickwick verschlief den romantischen und auch den abenteuerlichen Teil der Reise. Das Boot gelangte nach einer knappen Stunde Fahrt zum Oder-HavelKanal und schwamm mit ständig steigender Geschwindigkeit in Richtung Norden. An den Schleusen winkten Zuschauer. Ein Schiffer rief von der Brücke eines mächtigen Lastträgers: »Hallo, Seeleute! Wo soll's hingehen? Zum Nordpol?« Da ließ Mac die Greiferhände seines Manipulators vorschnellen und die unvorschriftsmäßig an der Bordwand baumelnde Pütz des Schiffers packen. »Habt ihr einen Riesen unter den Rumpf gebunden?« schrie der Schiffer verdutzt. In diesem Moment öffnete sich das Schleusentor, und Mac zog die Manipulatoren ein. Der Eimer sauste in die Tiefe. Staunend schaute der Schiffer dem flink davonquirlenden Boot nach. Er hatte an der nächsten Raststelle etwas zu erzählen. Ab Zehdenick reisten sie die Havel hinauf. Den Fluß säumten nun niedrige Werkhallen. Aber kein Schornstein steilte in die Luft. Und kein Rauch zog über das Land. Energielieferant war das mächtige geothermische Kraftwerk von Futuria. Mac rief die Freunde vom Deck. Er dachte an die Warnung des Chefkoordinators: »Eure Reise ist keine Spazierfahrt. Treibt also keine Späße und denkt an eure Aufgabe. Ihr sollt das Boot heil nach Futuria bringen, weil es dort gebraucht wird.« Inzwischen änderte sich das Bild. Die Stadt streckte auf den Verkehrswegen zu Lande und zu Wasser ihre Fühler aus. Über Brücken rasten von Atomkraft getriebene Züge. Auf den Uferstraßen brausten in ununterbrochener Kette Transportfahrzeuge. Mit ihrem gewölbten Buckel,
der Windströmung angepaßt und pfeilgeschwind, sahen sie aus wie Riesenkäfer. Der Fluß hatte seine Stille verloren. Fahrgast- und Frachtschiffe glitten über das Wasser. Sie erinnerten an fliegende Fische. Ihre Körper waren breit und flach und lagen kaum auf den Wellen auf. Heinrich Schorr zog den Kopf ein, wenn solch eine Riese seinen Schatten über das Tauchboot warf. »Keine Angst«, tröstete Mac. »Sie fahren mit Infraleitvorrichtung und Autopilot.« Aber ganz wohl war auch ihm nicht. Er blickte immer häufiger auf die Karte, die Ankunft in Futuria mit Sehnsucht erwartend. Der Verkehr wurde dichter. Am Ufer drängten sich Lagerhallen, aus denen sich Fahrzeugströme über den Fluß ergossen. Kleine Turbinenboote preschten mit singendem Ton am Delphin vorbei. Hinter den blitzenden Scheiben ihrer Steuerhäuser war kein Mensch zu erblicken. Der Fluß wurde zu einem Transportband, auf dem alles genau nach Regel funktionierte. Die Freunde hockten schweigend in der engen Kabine. Sie fühlten sich plötzlich sehr allein in dieser fremden Welt, in der jede Bewegung vorausberechnet war. Mac hatte seit geraumer Zeit Tunnelöffnungen zu ihrer Rechten beobachtet, über deren Wölbung die Aufforderung leuchtete: »Achtung! Tauchboote vom Typ X 200 Direktzugang benutzen!« Etwa 25 Kilometer vom Stadthafen entfernt tat sich ein mächtiger Schlund in einem Steinwall an Steuerbordseite auf. »21 Y 17 PR«, verkündete ein Code. »Tauchtiefe vier Meter beachten.« Ein Leuchtpfeil zeigte in den Tunnel. »Zentrum« stand darunter. Mac sah seine Freunde fragend an. »Ich würde es versuchen«, sagte Paul ruhig. »Bloß fort vom Fluß«, rief Heinrich Schorr. »Was soll auch schon passieren?« meinte Peter. Er hatte ein wenig Furcht vor neuen Überraschungen, zeigte sie aber nicht. Mac flutete die Ballastsilos. Das Boot senkte sich auf die angegebene Tauchtiefe und glitt mit langsamer Fahrt in den Tunnel. Es wurde stockdunkel. Mac schaltete die Scheinwerfer ein.
Nach fünfhundert Metern öffnete sich der Tunnel. Weiches Licht aus Unterwasserflutlampen fiel auf ein mächtiges Gewölbe. Delphin 1 war kaum in die kreisrunde Halle vorgestoßen, da leuchteten zu seiner Seite Sichtbarrieren auf. Die Jungen verhielten den Atem. Aus den Kreuzungstunneln rasten riesige Boote mit Scheinwerferaugen auf Delphin zu. Jetzt erkannten sie den Sinn der Sperren. Wie an einem Bahnübergang die Schranken hielten die Barrieren die gefährlichen Kolosse auf. Die roten Lichtbalken lösten einen Schaltvorgang in den Antriebsaggregaten aus und geboten Stop! Der erste hatte den Vorrang. Und der erste war der fremde Delphin. Er trieb gesichert durch die Halle und in das nächste Gewölbe. Aufatmend hörten die Freunde hinter sich das Rauschen der nun erst weiterziehenden Boote. Etwa fünf Kilometer glitten sie durch schmale Fahrrinnen und querten mächtige Becken, die groß wie Seen waren. Es öffneten sich Schleusentore. Sie fuhren in Bassins, die sich mit ihnen tief unter die Erde senkten. Dann trieben sie durch einen Kanal, wurden in einer Stahlwanne aufgenommen und mit einem Lift wieder in die Höhe befördert. Mit einem Mal schien ihre Reise zu Ende zu sein. Eine Metalltür verriegelte ihnen den Weg. Mac schaltete den Rückwärtsgang ein. Der Delphin trieb zwanzig Meter in die Richtung, aus der er gekommen war. Dann gab es einen Stoß. Paul schaltete das Bildgerät ein. Der Schirm zeigte, daß auch der Rückweg versperrt war. Dort verschloß ein Schott, das sich nach ihrer Durchfahrt gesenkt haben mußte, den Tunnel. Sie waren in einem etwa sechs Meter hohen und zwanzig Meter langen Schlauch gefangen. Um sie herum waren nur Wasser und drohende Dunkelheit. Heinrich Schorr verfolgte den Lichtstrahl des Bugscheinwerfers, der eine glasiggrüne Aquarienfarbe erzeugte. »Wir sollten SOS funken«, sagte er gepreßt. Peter nickte zustimmend. Mac zupfte nervös an seinem Ohrläppchen. Nur Paul wirkte unerschütterlich.
Sie waren in keinem Zaubersee verschwunden, sondern in einem zwar unbekannten, doch der menschlichen Versorgung dienenden unterirdischen Kanalnetz. Es mußte also einen Ausweg geben. Sie warteten zehn Minuten, fünfzehn Minuten. Paul hatte längst sein Frühstück verzehrt. Pickwick lag in der Ecke. Mac spürte, wie Unruhe in ihm wuchs. Heinrich Schorr blätterte nervös in seinem Buch. Plötzlich rief Peter: »Schaut doch! Die Wand!« Die Stahltür begann zu leuchten. In großen Lettern stand ein Kommando auf dem blinkenden Metall: »Langsam anfahren. Klar zum Auftauchen. Stop an der Kontrollstelle.« Die Metallwand senkte sich in die Tiefe. Mac schaltete die Maschine auf »Langsame Fahrt«. Der Delphin glitt durch die Öffnung in eine Halle, in deren Mitte sich eine kleine Insel erhob. Beim Blick aus der Glaskanzel bemerkten sie, daß sie nur knapp zwei Meter unter der Wasseroberfläche waren. Mac ließ Preßluft in die Silos zischen, Delphin 1 stieg im Bruchteil einer Sekunde und tauchte auf. »Na, was habe ich gesagt?« rief Paul triumphierend. »In unserer Welt geht niemand verloren.« Gleich darauf verschlug es ihnen die Sprache. Strahlendes Licht erfüllte die Halle. Sechs silberblinkende Tore schlossen die Zufahrtskanäle ab. Das Gewölbe der Halle war mit hellblauem Plast verkleidet. Auf der Insel erhob sich ein gläserner Kontrollturm, in dem ein Paternoster hoch in die Kuppel stieg und dann wohl ins Freie verschwand. Das Tauchboot wurde schnurgerade auf die Anlegestelle der Insel gezogen. »Die Steuerung versagt«, ächzte Mac. »Laß die Steuerung«, rief Paul. »Sie werden eine Magnetvorrichtung eingebaut haben. Schalte die Maschine ab.« Auch mit ruhendem Dynamo glitt der Delphin weiter bis zur Anlegestelle, wo er hielt. »Aussteigen«, schlug Paul den Freunden vor. Er öffnete das Luk, steckte den Kopf hinaus und blieb wie erstarrt stehen. Am Kontrollturm schwang eine Tür auf. Mit blinkenden Kontaktlampen und federnden
Antennenstäben fuhr ein Apparat von menschenähnlicher Gestalt auf ihn zu. Es war der erste Biomat der Stadt Futuria.
22. KAPITEL Der verschwundene Aufklärer Die Flotte der Luftschiffe verharrte zu dieser Zeit am Stadtrand von Futuria. Die Silbernen Wolken trieben wie Gewölk am Himmel. Die Besatzungen hatten beim Flug kaum Muße zur Beobachtung des Panoramas gefunden. Jetzt warteten sie erregt auf das Zeichen zur Landung. Sie waren eine runde Stunde zu früh am Ziel ihrer Reise eingetroffen. Niemand erwartete sie. Im Gegenteil. Der für die Landung vorgesehene Platz war gesperrt. Stoppfeuer verboten jede weitere Annäherung an das Zentrum von Futuria. Antonius Puch, der die Luftschiffe kommandierte, blickte besorgt aus seiner Gondel. Zwischen Buchenhainen blinkten die Seen. Über die von hier oben wie schmale Schneisen wirkenden Autobahnen zogen Hunderte von Fahrzeugen. Schienenwege kreuzten sich. Und bis zum Horizont reckten sich Hochhäuser, wölbten sich Kuppeln über Tälern und breiteten sich die Flachdächer von Fabrikhallen. Eine Landung ohne Einweisung erschien dem vorsichtigen Lehrer zu gefahrvoll. Warnfeuer verboten solch einen Leichtsinn ohnehin. Den Grund für die Sperre glaubte Puch zu erkennen, als er nach Norden blickte. Vier Raketenflugzeuge stießen mit langen Rauchstreifen am Heck in den Himmel. Antonius Puch beneidete in diesem Moment seinen Direktor, der sicher im Salonwagen des Expreßzuges saß, sich an einem Gläschen Wein und einem zweiten Frühstück erfreute. Frank Gabel reiste nämlich mit zwei Gruppen in der Bahn nach Futuria. Hingegen hatte Antonius Puch Mühe, über Sprechfunk die Besatzungen der vierzehn Luftschiffe bei guter Laune zu halten. Schon in der eigenen Gondel ging es hoch her. Antonius Puch hatte fünf Mädchen an Bord. »Gute Nacht. Wenn es so weitergeht«, rief Claudia Steinmann, »dann sind wir heute abend immer noch am Himmel.« Sie spähte aufmerksam aus der Gondel, entschlossen, einen provisorischen Landeplatz zu su-
chen. »Da unten ist eine Wiese«, sagte sie zu Puch. »Los, wir landen und halten dann einfach ein Fahrzeug an.« Antonius Puch rückte vorsichtig das Bodenfernrohr zum angegebenen Punkt. In hundertfacher Vergrößerung zeigte sich ein mit Gebüsch und Gräsern bewachsener, aber verdächtig feucht aussehender Platz. Der Lehrer setzte gerade zu einer Erklärung an, da riefen die Mädchen begeistert: »Ein Luftgleiter. Sie holen uns. Wir dürfen landen.« Claudia zeigte nach Westen. Aus dieser Richtung schwebte ein weißer Flugapparat auf sie nieder. Kontrollampen und ein Lautsprecher kennzeichneten das unbekannte Modell als fliegenden Biomaten. Der Gleiter drehte einen Bogen um das von Puch gesteuerte Luftschiff und hielt dann mit schwirrenden Rotoren direkt neben der Gondel. »Warten«, kommandierte der Apparat. »In fünfzig Minuten Platzsperre aufgehoben. Meldung von Administrator Witsch: Ein Vorausfahrzeug wird erwartet.« Puch trat ans Sprechfunkgerät und rief: »Schiff 14 schließt sich dem Luftgleiter an. Beeile dich, Jens. Und versucht, daß wir früher als vorgesehen landen können.« Aus dem Verband löste sich ein Luftschiff und trieb auf den Gleiter zu. Jens rief aus der Gondel: »In Ordnung. Ich gebe sofort nach der Landung Nachricht.« An Bord von Schiff 14 stießen sich die fünf Jungen vor Vergnügen an, als sie die enttäuschten Mädchengesichter in der Gondel des Luftschiffes sahen. »Glück gehabt«, rief Cornelius Brink. »Der erste Mondreisende der Stadt der Jugend darf auch als erster nach Futuria.« Jens winkte seinem Lehrer und dessen Besatzung abschiednehmend zu. Dann gab er Signal an den Luftgleiter, daß sein Schiff bereit war. Der Biomat schwang sich an die Spitze und glitt gemächlich vor dem Luftschiff auf das Stadtzentrum zu. Sie gingen immer tiefer und trieben schließlich nur wenige Meter über die Dächer der Hochhäuser hinweg. Die Jungen blickten staunend über den Rand der Gondel. Sie sahen eine Liegeterrasse am See mit bunt getupften Sonnenschirmen und flinke Boote auf dem Wasser. Von einem
Dachgarten winkten ihnen einige Kinder zu. Auf dem Flachdach eines Warenhauses drehte sich ein Karussell. Die Flugreisenden blickten in gläserne Werkhallen. Springbrunnen tanzten in Parks. Und überall gab es blühende Gärten. »Hier möchte man nicht wieder fort«, sagte Cornelius Brink. »Ich hätte nie gedacht, daß Arbeit und Idylle so miteinander verschmelzen können. Sei mir gegrüßt, Futuria!« Jens wagte nicht aufzublicken. Die Manöver des Luftgleiters erforderten seine Aufmerksamkeit. Der Biomat setzte zu einer weichen Kurve an. zog über einen zwischen Hügeln gebetteten Grundsee hinweg, streifte fast eine Häuserzeile und landete mit flottem Schwung auf einer Betonpiste. Jens ließ das Luftschiff sanft zur Erde schweben. »Geschafft«, rief er aufatmend. Dann stieg er als erster aus der Gondel. Sie standen auf einem weiten, von hohen Bäumen umgebenen Platz. Vorn lugte aus dichtem Grün ein Haus, das offenbar ganz aus Glas gebaut war. Seine Wände funkelten im Schein der Sonne. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen. »Was nun?« fragte Jens den Biomaten. Aber der Apparat hatte seine Aufgabe wohl erfüllt. Er schwieg. Die Kontrollichter waren erloschen. »Ich schlage vor, wir machen uns einfach auf den Weg«, sagte Cornelius Brink, doch Jens wehrte ab. »Ich denke nicht daran, das Luftschiff zu verlassen. Außerdem wartet Antonius Puch.« Aber auf dem Platz rührte sich noch immer nichts. Stumm hockte der Biomat auf der Piste. Die fünf Aufklärer zogen Kissen aus der Gondel, um sich darauf niederzulassen. Dabei entdeckte Cornelius Brink unter einem Sessel Zepp. »Hallo«, rief er. »Was ist das für eine Überraschung?« Jens drehte sich verlegen hin und her. »Gabel hatte Zepp wieder in den Physikraum gesperrt«, sagte er schließlich. »Aber ich denke, er kann uns hier nützlich werden.« Einer der Jungen rief: »Warum das nicht gleich mal ausprobieren?« »Aber natürlich«, sagte Cornelius und zeigte zu dem Glashaus am Rande des Platzes. »Vielleicht wartet Witsch dort schon? Schick doch Zepp auf Patrouille, wenn wir hier warten müssen.«
Warum nicht? dachte Jens. Puch wird ohnehin ungeduldig sein. Irgend etwas muß geschehen. Und Zepp findet sich in dieser Welt sicher am besten zurecht. Er trat an die Gondel und rief: »Zepp! Kanal 5: Kommen.« Zepp schwebte unter dem Sitz hervor auf den Platz. Jens programmierte ihn. »Aufklären und Fernand Witsch benachrichtigen.« Die Kontaktlampe leuchtete auf, die Antennen spielten. »Verstanden«, brabbelte Zepp. »Aufklären.« Er stieg mit leisem Singen in die Luft und sauste in einer Staubwolke über den Platz. Dann verschwand er im Gebüsch. Es verging eine Viertelstunde. Die Jungen warteten mit wachsender Ungeduld. Aber kein Zepp ließ sich blicken.
23. KAPITEL Stadt ohne Rätsel Antonius Puch hing nach wie vor in der Luft. Und auf dem Landeplatz trauerten fünf Jungen um den spurlos verschwundenen Zepp. Diese Welt schien den Neuankömmlingen voller Geheimnisse und nicht gerade voll freundlicher Überraschungen zu sein. Dabei gab es eine schlichte Auflösung der Rätsel. Eine Panne hatte alle Pläne durcheinandergebracht. Und verschuldet wurde die Panne durch die Mannschaft des Delphin 1. So konnte Fernand Witsch dank ihres Mißgeschicks nicht den Silbernen Wolken die Erlaubnis zur vorzeitigen Landung geben. Er war zur Kanalinsel Latauko unterwegs. Der melodische Name wurde von keiner Trauminsel des Südseearchipels entlehnt, sondern war die Abkürzung für »Lasttauchbootkontrolle«. Auf Latauko gab es keine Palmen und keinen flimmernden Strand, sondern ein Gebäude mit kühlen Glasfronten. Das Zentrum des Gebäudes war ein heller Raum, in dessen Mitte sich ein runder Tisch befand. Dort saß Leitingenieur Giuseppe Ferrari. Neben ihm hatten die beiden Technikerinnen Hele und Susanna Platz genommen. Die drei blickten mit strengen Gesichtern die Mannschaft von Delphin 1 an, die sich in dem weiten Saal recht unglücklich vorkam. Mac Bluffke, Heinrich Schorr und die Zwillinge Peter und Paul Jansen saßen auf einer schmalen Bank und dachten über die Abenteuer der letzten Stunden nach. Vor allem staunten sie, daß sie den Schrecken der vergangenen zwanzig Minuten überstanden hatten. Vom Biomaten waren sie schweigend arretiert worden. Dann hatte er sie in den Glasturm geführt. Sie mußten einzeln in die Tragekisten des Paternosters steigen. Nach dreißig Meter Fahrt in die Höhe, die ihnen wie eine Reise in den Himmel vorkam, erwartete sie schon wieder der Biomat. Er drängte sie durch einen langen Flur und dann in diesen Glaskasten. Giuseppe Ferrari, einer der besten Spezialisten für Einrichtungen des Wasserverkehrs, war ein temperamentvoller Italiener. Er hatte sich beim Auftauchen der Jungen die Haare gerauft und mit den Augen gerollt. »Was seid ihr nur für Menschen, o mamma mia«, schrie er. »Seit dreißig
Minuten muß ich sämtliche Transportwege vom geothermischen Kraftwerk zu den Fabriken blockieren. Boote warten, Stauungen kilometerweit. Denkt ihr, wir treiben hier Eselskarawanen?« Hele rief sofort den Administrator Witsch an. Und Susanna lief wie ein Wiesel im Kreisrund des mächtigen Tisches auf und ab, schaltete und gab die Verbindungswege wieder frei. Dem Wortschwall des Leitingenieurs entnahmen die kühnen Entdekker: Schon beim Einlauf in den ersten Tunnel waren sie von einem Kontrollgerät erfaßt und nach Latauko gemeldet worden. Um Kollisionen mit den schweren Booten zu vermeiden, die auf unterirdischen Wasserstraßen die im Feinfilter des Kraftwerks gewonnenen Elemente Helium, Wasserstoff, Magnesium, Aluminium, Kalzium und Schwefel zu den Verarbeitungsbasen transportierten, würde der gesamte Verkehr unterbrochen. Sorgen hätten sich die vier Insassen des Delphin also nicht zu machen brauchen. Giuseppe Ferrari leitete sie sicher bis zu seiner Insel. Paul sah seine Kameraden nach dieser Erkenntnis triumphierend an. Aber dann hatte ihnen Ferrari die Kosten des durch ihren Leichtsinn verursachten Produktionsausfalls vorgerechnet. Tonnenzahlen und das Gewicht verlorengegangener Arbeitseinheiten drückten Mac und seine Freunde zu Boden. Jetzt hockten sie mit schlechtem Gewissen auf ihrer Bank, von dem seit geraumer Zeit schweigenden Ferrari gemustert. Ihr Selbstbewußtsein war auf den Nullpunkt gesunken. Mac dachte an Pickwick, der im Tauchboot schlief. Er malte sich einen Zusammenstoß zwischen dem Biomaten und dem Dobermann aus. Mac war bisher nicht zu Wort gekommen. Jedesmal, wenn er zu einer Erklärung ansetzte, brachte ihn Ferrari mit einer Handbewegung zum Schweigen. Jetzt warteten alle auf Fernand Witsch. Langsam tröpfelten die Sekunden in die Minuten hinein. Mac krümmte sich bei dem Gedanken an die bevorstehende Begegnung. Er hatte stolz vor dem einstigen Erzieher erscheinen wollen. Nun waren die Streiche von gestern klitzekleine Fische gegen das Abenteuer von heute. Ich kann machen, was ich will, dachte Mac. Alles geht schief.
In diesem Moment tat sich geräuschvoll die Tür auf. Mac hörte leise Pfoten über den Plastfußboden tapsen. Als er sich erschrocken umdrehte, sah er Pickwick auf sich zurasen. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und sprang seinen verlorenen Herrn mit einem freudigen Satz an. »Pickwick«, flüsterte Mac, »wie kommst du hierher?« Er schielte vorsichtig in den Saal. Kein Biomat war dem Dobermann gefolgt. Fernand Witsch kam im steingrauen Anzug mit strahlenden Augen auf ihn zu. »Willkommen in Futuria«, sagte er sehr freundlich. »Ihr habt es wohl nicht ausgehalten und wolltet ohne Umweg an euren zukünftigen Arbeitsplatz?« Giuseppe Ferrari war beim Erscheinen des Hundes aufgesprungen. Jetzt ruderte er mit den Armen und rief: »Was denn, diese Bambini in meinem Reich? Etwa auch noch der schwarze Hund? Cave canem sagten schon meine Vorfahren. Hüte dich vor dem Hund. Ich möchte mich lieber vor diesen vier Helden hüten.« Fernand Witsch lachte herzlich. »Giuseppe, drei Atü weniger. Es ist das Recht der Jugend, sich zu irren, mein Lieber. Verbotsschilder haben wir abgeschafft. Und zur Einführung dieser Jungen in unsere Welt gab es bisher noch keine Gelegenheit. Mach aus diesen Abenteurern tüchtige Verkehrsspezialisten, und sie werden nie wieder dein Reich durcheinanderbringen.« Hele und Susanna sahen schon weniger streng aus. »Ich glaube nicht«, sagte die blonde Hele, »daß die vier auf Latauko bleiben werden. Giuseppe hat ihnen bereits allen Mut genommen.« Fernand Witsch nahm Mac um die Schulter und schob ihn auf Ferrari zu. »Er hat das Tauchboot gebaut«, sagte er. »Als du so alt warst, Giuseppe, hast du nicht im Traum an so etwas gedacht.« Ferrari blickte Mac ungläubig an und schaltete wortlos ein Bildgerät ein. Auf dem Schirm erschien der silbrig blinkende Delphin. Ferrari betrachtete ihn aufmerksam. »Nicht möglich«, sagte er. »Hast du das Diplom bei dir?« fragte Fernand Witsch. Mac reichte die Urkunde wortlos dem Ingenieur.
Ferrari las und sah für einen Moment verblüfft aus. »Mit Hilfe dieser drei Spatzen?« fragte er und zeigte auf die Zwillinge und Heinrich Schorr. Fernand Witsch nickte stolz. »Meine Schule«, sagte er. Das gab Mac den Mut zu einer gewagten Bitte: »Ich möchte große und noch bessere Boote bauen. Bei Ihnen, wenn es möglich ist, Maestro.« »Maestro«, wiederholte Ferrari, »ich bin doch kein Musiker.« Er zögerte einen Moment und reichte schließlich die Hand über den Tisch. »Aufgenommen in mein Orchester, das nur große Sinfonien spielt.« Mac drückte kräftig die schmale Hand. »Aber es ist keine Spielerei«, sagte Ferrari warnend. »Und der Hund muß in einen Käfig.« »Ich schicke den Hund zu meinem Vater zurück. Er ist mir nachgelaufen«, sagte Mac. Auch Peter und Paul schlossen mit Handschlag den unverhofften Arbeitskontrakt. Nur Heinrich Schorr zögerte. Er dachte an blühende Bäume, an Treibhäuser, an ein Meer von Blumen. Diese Welt hier unter der Erde war ihm zu nüchtern und zu technisch. »Was ist denn mit dir?« fragte Mac den zaudernden Kameraden. »Stell dir vor, wir lernen Tauchboote aller Typen kennen. Dann können wir noch bessere Modelle als den Delphin bauen.« »Du weißt, was am Anfang unserer Pläne stand«, mahnte Heinrich Schorr. »Der Silurus glanis?« Mac lachte auf. »Das war doch nur der Zündfunke, Heiner. Jetzt brauchen wir keinen Riesenwels mehr.« »Was ist mit Silurus glanis?« fragte Ferrari verwundert. »Ein Fisch? Was soll ein Fisch in unserem Kanalsystem? Oh, Bambini, hört der Ärger immer noch nicht auf?« Mac hatte seinen Freund verstanden. »Er möchte keine Boote bauen, sondern den Riesenwels fangen«, erklärte er. »Wir sind zwar eine Mannschaft, aber sehr verschiedener Auffassung über unsere Ziele.« Heinrich Schorr lachte erleichtert, als ihm Witsch freundschaftlich auf die Schulter schlug. »Wir bauen ein Aquarium im Park«, sagte er. »Und wehe, du sorgst nicht für eine Sensation.«
»Er kann auch den Delphin mitnehmen«, rief Ferrari erleichtert, denn er sah eine Gelegenheit, den Störenfried aus seinen Kanälen zu verbannen. »Vielleicht fängt er mit dem Delphin doch noch den Riesenwels?« meinte Paul. Fernand Witsch hob geheimnisvoll den Finger. »Psst«, sagte er. »Unsere Seen sind tief und unergründlich. Und in acht Tagen haben wir Neumond.« »O mamma mia«, rief Ferrari in gespieltem Entsetzen, »das nächste Unglück bahnt sich an.« Fernand Witsch blickte auf die Uhr. »Euer armer Lehrer hängt noch immer in der Luft«, sagte er betreten. »Susanna! Heben Sie die Platzsperre auf und geben Sie sofort Landeerlaubnis.« Mac kniff ein Auge zu und sah die Kameraden an. »Am liebsten würde ich jetzt wieder Meckie zu dir sagen«, brummte Fernand Witsch. »Antonius Puch mußte sich für euch opfern, mein Lieber. Giuseppe Ferrari hatte Katastrophenalarm gegeben. Und für die nächsten Stunden müssen wir die Stauungen auf den unterirdischen Wasserwegen entwirren.« »Also stimmten die Zahlen?« fragte Paul bedrückt. »Schuld hatten beide Teile«, sagte Witsch tröstend. »Wir haben einen Code für Spezialtransporter am Kanaleingang angebracht, aber an die Sperre für vorwitzige Leute nicht gedacht. Es geht eben nicht alles mit dem Appell an die Disziplin. Wir werden künftig etwas klüger sein. Und dafür sollten wir uns eigentlich bei euch bedanken.« Es ist der gute alte Fernand, dachte Mac. Er hat dir schon gestern deine Streiche nachgesehen und immer an das geglaubt, was in dir ist. Mit ihm würde ich zu den fernsten Sternen reisen. Auch Pickwick hatte seine Sympathien neu entdeckt. Schweifwedelnd lief er um Witsch herum und stupste ihn zärtlich ans Knie. Fernand tätschelte das blanke Fell des Dobermanns. »Alle wieder beisammen, alter Pickwick«, brummte er. »Nur einer fehlt leider.« In diesem Moment reichte ihm Hele das Videotelefon. Auf der Mattscheibe war Zepp zu
erkennen, der umhersurrte, und Frau Witsch, wie sie mit ausgestrecktem Arm durch eine weit geöffnete Tür in den Flur wies. »Vor zwanzig Minuten gekommen«, sagte sie. »Zepp heißt er. Und er will dich sprechen.« Fernand Witsch schüttelte den Kopf. »Unglaublich«, brummte er. »Mach die Tür auf, Karin. Kommandiere den Burschen über Kanal 5 zum Landeplatz der Luftschiffe. Er findet schon den Weg.« Dann gab er das Gerät zurück. »Ich muß die Küken sammeln«, rief er Ferrari zu. »Sonst verirren sie sich alle.« »Ein Tag der Karambolagen«, trompetete der Ingenieur. »Morgen acht Uhr hole ich die Bambini persönlich ab. Kein Schritt aus dem Haus ohne mich.« Junge, dachte Mac, haben wir uns schlecht eingeführt. Lauter kleine Meckies. Wo nur wieder dieser Zepp herkommt? Während sie gemeinsam im Paternoster zur Kanalhalle hinabschwebten, sagte Heinrich Schorr strahlend: »Ich finde es mächtig spannend hier. Ständig passiert etwas.« Mac kratzte sich am Kopf. »So kann man es auch sehen«, erwiderte er. »Aber der Direktor wird seinen Glauben an uns verlieren, wenn er alles erfährt.« Der Biomat erwartete sie an einem Tauchboot mit vielen Bullaugen. Fernand Witsch gab einen Befehl. Der Biomat koppelte mit einem Magnetbügel am Heck des großen Bootes den Delphin an. Geräuschlos machte der Apparat dann kehrt und verschwand hinter einer Tür. Fernand Witsch ließ einen Verschluß an Deck des turmlosen Bootes aufschnappen, eine Platte glitt zurück. Sie stiegen die Treppe zu einem geräumigen Salon hinab. Witsch verriegelte wieder die Deckplatte, kam dann auch in den Salon. Er öffnete die Tür zu einer Kombüse, in deren Wandschrank appetitliche Dinge zu sehen waren. »Ich hoffe, daß euch die Zeit nicht lang wird«, sagte er. »Und vergeßt den braven Pickwick nicht.« Damit verschwand er im Führerstand. Gleich darauf summte die Antriebswelle. Heinrich Schorr drückte das Gesicht an ein Bullauge. Lichtpaneele erleuchteten den Kanal zur Seite des Tauchbootes. Mit hoher Geschwindigkeit ging das Schiff auf Tiefe.
Eines der Tore sprang auf. Durch einen endlos langen Kanal begann die Fahrt. Nach zwanzig Minuten lief das Tauchboot in das Bassin eines Hebewerkes. »Siehst du etwas Neues?« fragte Mac. Heinrich Schorr beschrieb die wechselnden Farben der Seitenwand und schätzte danach die Höhen ein. »Schon vierzig Meter«, rief er schließlich. »Der Hafen«, schrie Heinrich Schorr begeistert, als strahlendes Licht durch die Bullaugen flutete. Er atmete auf und blickte in den blauen Himmel, auf die grünen Wellen, die an der Bordwand schwappten. »Bäume. Ein Park. Und Blumen…«, sagte er andächtig. »Was das schon ist«, unterbrach ihn Mac trocken. Seine Phantasie kannte eben nur ein Feld: die Technik. Zwischen Metall und Maschinen begann er zu dichten. Später einmal würde er über seinen Widerstand gegen die Mathematik den Kopf schütteln. Differentiale und Integrale sollten ihn dann genauso entzücken wie Heinrich Schorr der Anblick bewaldeter Hügel. Das Tauchboot legte an einer Sonnenterrasse an. Mac stieg aus und sah lächelnd den Delphin wie einen kleinen Fisch am Heck des großen Fahrzeuges pendeln. »Reicht gerade für eine Jagd nach Silurus glanis«, sagte er ohne Trauer. So verabschiedete sich ein Erfinder von seiner stolzen Schöpfung. Mac war in den nächsten Abschnitt seines Lebens eingetreten.
24. KAPITEL Silurus glanis macht wieder von sich reden Ein zweisitziger Sportwagen fuhr gemächlich durch das Stadtzentrum von Futuria. Das Verdeck war zurückgeschoben. In den Polstern ruhte ein mit sich und der Welt zufriedener Mann. Auf breiten Gehwegen tollten Kinder, deren Eltern an den Schaufensterauslagen entlangbummelten. Unablässig schwangen die Glastüren der Hallen auf und zu, von Selenzellen gesteuert, sowie sich eine Kunde näherte. Auf den Terrassen der Cafes saßen Menschen, die unter buntgetupften Schirmen in den heiteren Tag träumten. Die junge Stadt strahlte Behagen aus. Und der Mann im automatisch gesteuerten Sportwagen genoß dieses Bild. Es war Direktor Frank Gabel. Er kam von der täglichen Inspektionsreise zu den Einsatzorten seiner Schüler zurück und fuhr zum Stadtarchiv. Um sechzehn Uhr sollte das Großaquarium des Kulturparkes eingeweiht werden, das junge Biologen einrichten halfen. Und Direktor Gabel beabsichtigte aus diesem Anlaß, eine kleine Rede zu halten. Vorher wollte er jedoch ein paar geeignete Bücher ansehen, die Heinrich Schorr aus der Bibliothek herauszusuchen ihm versprochen hatte. Beim Gedanken an diesen Jungen glitt ein Schatten über das Gesicht des Direktors. Alle Schüler hatten nach seiner Meinung hier in Futuria eine Aufgabe gefunden, die sie voll ausfüllte. Mac Bluffke, den der italienische Verkehrsfachmann Giuseppe Ferrari temperamentvoll als »prima Bambino« lobte. Jens Dietrich hatte man einen verantwortungsvollen Kontrollposten im geothermischen Kraftwerk übertragen. Claudia Steinmann zeichnete sich bei der Anlage des Großaquariums durch hübsche Ideen aus. Nur Heinrich Schorr war ziellos durch die Stadt gestreift und hatte sich schließlich im Archiv vergraben. Und auch dort war er nach Auskunft des alten Leiters Gabriel Hauk durchaus nicht aktiv. Heinrich stöberte in den Winkeln herum, suchte sich die ältesten Bücher und verträumte die Zeit. Nach Meinung des Archivars war Schorr vor der Zeit gealtert und passiv.
Kenne sich einer in diesem Jungen aus, dachte Gabel. Wir hätten ihm den Spaß an einem Silurus glanis nicht ausreden sollen. Der Junge braucht ein Symbol für seine Tätigkeit. Bei ihm vermischen sich Traum und Wirklichkeit. Ein schlechter Pädagoge, der dem nicht Rechnung trägt. Ich sollte ihn heute aus dem Archiv holen und mit zum Aquarium nehmen. Dann wird er uns vielleicht den Silurus glanis jagen. Aber Heinrich Schorr war dem Direktor längst mit neuen Vorstellungen davongeeilt. Als Frank Gabel den großen Rundbau am Boulevard »Wissenschaft und Technik« betrat, sah ihn im Bibliothekszimmer ein aufgeweckter Schüler an. Heinrich Schorr hielt seinem Direktor ein abgeledertes Bändchen entgegen und rief: »Wissen Sie, daß hier vor mehr als tausend Jahren die Redarier ihre Burgen bauten? Unter den Hügeln muß es Tempelstätten geben und Siedlungen der Slawen. Hier fanden Kriege und Schlachten statt.« »Junge, wir leben im Jahr 2073«, sagte Frank Gabel ungehalten. »Für uns gibt es eine geeinte Welt ohne Waffen und Krieg. Die Fehlentwicklungen unserer Vorfahren können uns kein Beispiel für unsere Aufgaben sein.« Gabels Unmut war verständlich. Eben noch hatte er sich im Glanz des Fortschritts gesonnt, und nun schaufelte sein Schüler vor seinen Augen den Schutt einer längst vergessenen Geschichte hoch. Frank Gabel achtete zwar den verdienstvollen Historiker, aber für ihn war das Werden und Wachsen der Welt erklärt. Es gab für ihn in Futuria, dem Namen der Stadt entsprechend, nur Aufgaben zu lösen, die die Zukunft stellte. Ausgerechnet Heinrich Schorr, der sich im unterirdischen Netz der Kanalanlage wie eine Maus vorkam, wühlte sich wie ein Maulwurf in die Vergangenheit hinein. Frank Gabel nahm, ohne eine Miene zu verziehen, das ihm begeistert entgegengestreckte Bändchen. Es trug die Jahreszahl 1902. Gleich auf der ersten Seite wurde auf die Kulturleistungen der alten deutschen Kaiser verwiesen. Und dann ging es auf die wendischen Redarier los. Der Verfasser bezeichnete sie als menschliche Biber, die in Wasserburgen hausten und nur von See her ihren Schlupfwinkel aufsuchten.
Auch das noch, dachte der Direktor. Rassenwahn von gestern vergiftet meine Schüler. Er beschloß, ein Wort mit dem Archivar zu reden. Gabriel Hauk sollte besser auf die Auswahl achten. »Ich halte es nicht für gut, daß du so etwas liest«, sagte Gabel vorsichtig. »Eine böse Zeit streckt nach dir ihre schmutzigen Hände aus. Dieser Wahn paßt nicht in unsere saubere Gegenwart.« Heinrich Schorr schaute den Lehrer verständnislos an. »Das weiß ich doch«, erwiderte er leise. »Hinter den Zeilen habe ich das gesucht, was dieser Mann verstecken wollte. Leistungen der Menschen, die hier einmal gelebt haben. Jeder arbeitende Mensch auf dieser Erde war schöpferisch tätig. Und ich dachte, wenn man die Leistungen der Vergangenheit zeigt, stärkt das auch unser Selbstbewußtsein. Wir sind doch nicht wie Schmetterlinge hierhergekommen. Wir gehören zu denen, die die Blumen säten. Und vor den Blumen wurde das Land bestellt. Nach diesen Menschen habe ich gesucht.« Nachdenklich sah der Direktor Heinrich an. Du mußt tiefer in deine Schüler dringen, dachte er. Es sind Persönlichkeiten, die nicht nur Antwort verlangen, sondern auch Antworten geben können. »Was willst du tun?« fragte er darum. Heinrich Schorr hob die Schultern. Er war sich noch nicht klar, was er wollte. Der Direktor überlegte einen Moment. Dann sagte er: »Ich gebe dir Delphin 1. Claudia Steinmann möchte das Aquarium mit Lebewesen der einheimischen Gewässer füllen. Hilf ihr dabei. Vielleicht findet ihr außer dem Silurus glanis auch noch den Schatz der Redarier.« Heinrich Schorr sah seinen Direktor erst ungläubig, dann begeistert an. »Kreuzfahrten mit Delphin 1, ich werde alle dafür gewinnen.« »Das nun wieder nicht«, wehrte der Direktor ab. »Jeder bleibt an seinem Platz. Und du bist ab heute Kapitän des Delphin 1. Einverstanden?« Als sie nach einer Stunde gemeinsam zum Kulturpark hinausfuhren, war Direktor Gabel erneut überrascht von seinem Schüler. Der sonst so stille Heinrich Schorr redete wie ein Wasserfall. Allmählich wurde der Direktor von seiner Begeisterung angesteckt und ertappte sich schließlich selbst beim Pläneschmieden.
Dieser Träumer ist ein Spiritus rector, dachte Gabel. Luftschiff und Tauchboot kommen schon auf seine Kosten. Und am Ende baut er uns ein Museum für eine noch weiterreichende Reise in die Vergangenheit. Wie recht der Direktor mit dieser Vermutung behalten sollte, zeigte sich bald. Aber vorerst fuhren sie im schnellen Wagen über die tief im Boden versteckten Schätze vergessener Kulturen hinweg. In den Buchen lärmten Vögel. In einem Tiergehege zottelten Rotten von Wildschweinen, neugierig betrachtet von Ausflüglern. Ein Sechzehnender stolzierte gravitätisch unter den Bäumen. Zwischen Tannen und Geröll hockte eine verschlafene Uhufamilie. Die Attraktion des Kulturparks aber war ohne jeden Zweifel das Großaquarium an der Steilküste des Langen Sees. Die Konstrukteure hatten einen erstaunlichen Einfall gehabt: Das Aquarium zog sich vom See bis zur Kuppe des Hügels empor. Die Rückseite bildete der Fels. Man konnte mit einem Lift langsam am Aquarium entlanggleiten. Und wem das zu schnell ging, der durfte an der entgegengesetzten Seite eine Wendeltreppe benutzen. So hatte er die Möglichkeit, die Aquarienbewohner zu besichtigen. In den Fels waren Kammern gehauen, in die man durch einen Gang vom Hügel aus gelangte. Jede Kammer war geflutet und durch ein Schiebegatter vom Aquarium getrennt. Hier sollten die Fische zu sehen sein, die man als Demonstrationsobjekte für die Schüler benutzen wollte. Diese Anlagen waren von Claudia Steinmann vorgeschlagen worden. Sie führte ihren Direktor und Heinrich Schorr mit sichtlichem Stolz durch die Gewölbe, die in farbiger Beleuchtung erstrahlten. »Zaubergrotten«, flüsterte Heinrich Schorr. »Bißchen kitschig, was?« fragte Claudia unsicher. »Den Zehnjährigen wird es gefallen«, tröstete Frank Gabel. Ein Ingenieur, der gerade aus der Pumpstation trat, in der er die letzten Kontrollen vorgenommen hatte, mischte sich in die Unterhaltung. »Ich finde die Anlage großartig«, erklärte er resolut. »Und die Farbe macht alles richtig gefällig.«
»Na, Claudia, wenn das ein nüchterner Techniker sagt, kannst du zufrieden sein«, rief der Direktor lachend. »Damit ist alles in bester Ordnung. Nun fehlen nur noch die Fische.« »Mac hat kein Interesse am Fang mit dem Tauchboot«, sagte Claudia betreten. »In der Schule faselte er von früh bis abends vom Silurus glanis. Jetzt hat er uns ausgelacht.« »Der Erfinder strebt zu neuen Ufern.« Gabel blickte aufmunternd Heinrich Schorr an. »Was ist, Kapitän?« »Du hast den Delphin übernommen?« fragte Claudia den Träumer skeptisch. »Er wird uns Schätze aus den Tiefen holen«, sagte Gabel geheimnisvoll. Claudia zuckte die Schultern. »Mir genügt es, wenn er Fische fängt. Aber vermutlich wird er nur Phantomen nachjagen.« »Dann komm doch mit«, sagte Heinrich Schorr. Claudia pustete ihre Haarsträhne aus der Stirn. »Das werde ich auch«, sagte sie fest. Damit war die neue Besatzung des Delphin 1 gebildet. Und schon am kommenden Abend gingen sie auf Fang.
25. KAPITEL Schätze in der Tiefe Es war Neumond und stockfinster, als der Delphin zum Nachtfang ablegte. Mac und Jens standen neben Direktor Gabel am Ufer und blickten mit der Überlegenheit erfahrener Techniker auf den winkenden Heinrich Schorr. »Hast du keine Angst vor der Seeschlange?« rief Mac dem neuen Kapitän spöttisch nach. Auch Jens konnte sich einen Witz nicht verkneifen. »Angle keine alten Schuhe. In Futuria gibt es genug neue.« Heinrich Schorr verschwand gekränkt im Luk. Entschlossen drehte er die Verschraubung der Deckplatte fest und rutschte in seinen Sitz. »Was war?« fragte Claudia. »Sie machen sich über uns lustig«, sagte Heinrich Schorr. Claudia hob die Schulter. »Den lautesten Mann kommt am schnellsten das Heulen an«, sagte sie ironisch. »Mac wird bald bereuen, daß er nicht mitgefahren ist. Und auch Jens hat ein Abenteuer verpaßt. Aber nun volle Fahrt voraus, Kapitän.« Heinrich Schorr hatte auf diese Stunde seit der Konstruktion des Tauchbootes gewartet. Er drehte den Tourenschalter bis zum Anschlag. Der Delphin flitzte über den weiten See, immer der Schneise nach, die der große Scheinwerfer in die Dunkelheit schlug. Fern am Ufer blinkte die Perlenkette der Uferbeleuchtung. Einmal überholten sie ein Turbinenboot mit funkelnden Lampen. Aber das war auch das einzige Zeichen von Leben. Die beiden Insassen des Tauchbootes kamen sich bald wie Entdecker auf den einsamen Weiten des Ozeans vor. Ungefähr in der Mitte des Gewässers flutete Heinrich Schorr die Ballastsilos. Der Delphin ging in die Tiefe. Der Scheinwerfer ließ eine Welt romantischen Zaubers sichtbar werden. In der Lichtbahn wogten gefiederte Gewächse. Wasserkraut nahm bizarre Formen an. Pflanzen griffen seltsam lebendig mit ihren dünnen Armen nach dem Boot. Und
Schwärme winziger Fische huschten als Wolken vor die Kanzel und stoben davon. »Es ist wie am Amazonas«, sagte Heinrich Schorr mit glänzenden Augen. »Ein Wasserdschungel mit ureigenen Geheimnissen.« Claudia packte erschrocken den Gefährten am Arm. Wenige Zentimeter vor ihren Augen, nur durch das Glas der Kanzel getrennt, stupste ein Ungeheuer sein glänzendes Maul gegen den Delphin. Ein Flossenschlag klatschte an den Bug, und schon war die Erscheinung wieder verschwunden. Heinrich Schorr sagte verträumt: »Rätsel der Tiefe.« Aber Claudia hatte sich schon wieder gefaßt. »Es war ein Karpfen, du Phantast. Ein uralter Herr mit Moos auf dem Rücken. Das wäre ein Fang gewesen. Zeig mir, wie man die Manipulatoren betätigt.« Heinrich Schorr drückte auf den roten Knopf am Armaturenbrett. »Fang«, leuchtete es auf der Mattglasscheibe auf. Claudia näherte den Kopf der Kanzelfront und blickte aufmerksam nach vorn. In diesem Moment schoß ein Hecht aus dem Geschling der Wasserpflanzen. Die Greifer schnappten nach dem fast meterlangen Fisch. Ein kurzer Ruck im Boot, vom kraftvollen Ausreißversuch des Tieres, aber die Manipulatoren hielten den Hecht straff in ihrem Griff. Ein leises Summen war zu hören. Der Bildschirm am Armaturenbrett leuchtete auf. Claudia beobachtete staunend, wie aus der Grundplatte eine Boje ausgefahren wurde. Ein Luk sprang auf. Die Manipulatoren schwenkten unter den Bug. Der Hecht flitzte in die Öffnung. Das Luk schloß sich. Im gleichen Moment war das leise Zischen von Preßluft zu hören. Die Boje verschwand wieder im Boot, und der Bildschirm war wieder dunkel. »Fabelhaft«, rief Claudia. »Mac ist doch ein genialer Bursche.« »Kollektivarbeit«, sagte Heinrich Schorr. »Dann seid ihr eben eine tolle Mannschaft«, lobte Claudia bereitwillig. »Kann man den Fisch mal in Ruhe betrachten?«
Heinrich Schorr schaltete einen Bodenkontakt. Lautlos glitt eine Stahlplatte zur Seite. Die Wand des Glaszylinders war zu sehen. Im schwachen Licht eines Lämpchens stand der Hecht in einem durch Schotte abgeteilten Bassin. Es gab noch vier dieser Behälter. »Bißchen eng«, sagte Claudia. »Wenn wir den Silurus glanis fangen, müssen wir natürlich alle Schotte ziehen«, belehrte Heinrich Schorr sie. »Aber für den Hecht muß eine Sektion reichen.« Weitere Vorträge ersparte er sich. Neue Eindrücke nahmen seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Wie die Arme eines Riesenkraken starrten ihnen die Spanten eines vor langer Zeit versunkenen und schon halb verfaulten Bootes entgegen. Der Seegrund war angestiegen und machte einen mächtigen Buckel. Heinrich Schorr mußte die Tauchtiefe verringern. Der Delphin stieß in einen Schwarm Plötzen, die erschrocken auseinanderfuhren. Und auf einmal schlängelte sich aus wehendem Wasserfarn eine Schlange, armdick und anscheinend meterlang. Diesmal ließ sich Heinrich Schorr nicht überraschen. Er hatte schon auf den Knopf der Fanganlage gedrückt. Die Manipulatoren schossen nach vorn und griffen zu. Zuckend wand sich das Tier und ringelte sich wie ein Riesenwurm um das Metall. »Ein Aal«, rief Claudia fassungslos. Das Entsetzen, das sie im ersten Moment angesprungen war, erlosch. »Hier unten sieht alles größer und schrecklicher aus, als es in Wirklichkeit ist.« »Die Verzerrungen kommen durch die Brechung des Lichts«, erklärte Heinrich Schorr, obwohl er im ersten Augenblick selbst an die Seeschlange gedacht hatte. »Hast du deine Freunde schon einmal beim Baden im See beobachtet?« fragte er. »Beine und Arme scheinen unter Wasser zu wachsen.« Claudia gab keine Antwort. Sie blickte in die Bassins. Der Aal sah im matten Licht tatsächlich wie eine sich windende Schlange aus. »Das wird eine Schau«, flüsterte Claudia. »Exoten können es nicht mit unseren Prachtexemplaren aufnehmen. Als Kind sah ich so etwas nur immer an der Angel, gebraten oder geräuchert. Ich wollte schon damals wissen, wie diese Fische im See leben.«
Heinrich Schorr fühlte sich als Pionier, der sichtbar macht, was dem Menschen bisher verborgen blieb. Ihm schienen sich unbegrenzte Weiten zu öffnen. In diesem Moment wurde es stockdunkel. Der eben noch so von seinen Taten berauschte Entdecker starrte verstört in die Finsternis. Er griff zum Schalter des Scheinwerfers. Aber der Schalter stand auf Fernlicht. Und das blaue Kontrollämpchen zeigte, daß die Lichtanlage Kontakt hatte. »Wir sind, glaube ich, zu tief«, flüsterte Claudia und lauschte auf kratzende Geräusche der Grundberührung. Aber der Delphin glitt nach wie vor lautlos durch das Wasser. Jetzt bemerkten sie Schmutz- und Schlammteilchen, die das Scheinwerferlicht verdunkelt hatten. Und auf einmal glaubten sie hinter den dunklen Wolken einen riesigen Schatten wahrzunehmen. Heinrich rieb sich die Augen. War es eine Täuschung, oder sah er tatsächlich schemenhaft einen breiten Kopf auf keulenförmigem Körper? War das nicht mächtig und urwelthaft? »Silurus glanis«, flüsterte er. Claudia drückte den Knopf der Fangeinrichtung. Die Greifer der Manipulatoren schnellten vor, faßten aber ins Leere. Immer dichter wogte die Schmutzwolke vor dem Boot. Der Delphin jagte wie ein Hai in das Dunkel. Plötzlich gab es ein kratzendes Geräusch, dann einen Stoß. Heinrich Schorr schaltete mit flatternden Händen die Fanganlage ab und den Dynamo aus. Doch seltsamerweise kehrten die Manipulatoren nicht in ihre Ausgangsstellung zurück. Sie schnellten vielmehr unter den Bug. Der Bildschirm leuchtete auf, die Boje fuhr aus. Es schepperte und klirrte. Auf dem glimmenden Schirm erschien langsam ein Gegenstand – ein großer, runder Krug. Zischend glitt die Boje ins Boot. Die beiden Entdecker sahen sich an. Dann beugten sie sich über das Beobachtungsfensterchen. Im matten Licht des Lämpchens schimmerte und funkelte es: Der Krug war randvoll mit blinkenden Metallteilchen gefüllt. »Gold und Silber«, sagte Heinrich Schorr. »Sieht aus wie kleingehackte Münzen«, rätselte Claudia. »Wer kann hier im See Schätze verborgen haben?«
»Die Redarier«, flüsterte Heinrich. »Die was?« fragte Claudia. »Redarier waren Angehörige eines slawischen Stammes, der vor mehr als tausend Jahren hier lebte«, versuchte Heinrich zu erklären. »Ihre Burgen wurden zerstört…« Er stieß Claudia an und zeigte auf das Wasser. Die Schlammwolken hatten sich gesenkt. Im Licht des Scheinwerfers zeigte sich eine tiefe Höhle. Der Delphin schwojte an ihrem Eingang auf und ab. »Was ist das?« fragte Claudia erstaunt. »Wir haben die Burg gefunden«, schrie Heinrich. »Das ist der SeeEingang. Der Zugang von der Landseite wurde verschüttet und unter dem Hügel begraben. Ich habe es doch gewußt. Überlieferungen lügen nicht. Ich habe recht behalten.« Claudia drückte auf den Knopf der Fangeinrichtung. Wieder schossen die Greiferarme vor. Sie zogen eine Urne aus dem Schlamm und transportierten sie in die Boje. Im gleichen Moment wurde es wieder dunkel. Ein mächtiger Schlag traf das Boot. »Silurus glanis. Der Wels«, rief Heinrich erschrocken. Das Boot dümpelte hin und her, als ob jemand mit Gewalt nach ihm griff und es durchschüttelte. »Der Wels ist im Schlamm verborgen. Er wühlt sich vorbei«, sagte Claudia aufgeregt. Heinrich betätigte den Rückwärtsgang. Der Delphin schoß aus der Höhle. Immer noch war es stockdunkel vor der Kanzel. Wieder schaltete sie die Fanganlage ein. Und wieder griffen die Manipulatoren ins Leere. »So werden wir den Wels nicht fangen«, sagte Heinrich betrübt. »Der Scheinwerfer reicht nicht aus.« »Vielleicht ist der Wels schon hundert Jahre alt und bisher jeder Verfolgung entgangen«, flüsterte Claudia. »Ein Weiser des Sees? Dann fangen wir ihn nicht.« Sie kreuzten noch eine ganze Zeit vor der Höhle. Aber dem Silurus glanis begegneten sie nicht wieder. So traten sie schließlich den Rückweg an.
Erst nach dem Auftauchen und Anlegen an der Terrasse gewann Hochgefühl die Oberhand in ihnen. Vor den staunenden Augen des Direktors und den überraschten Kameraden ließen sie Hecht und Aal mit Hilfe der Manipulatoren in zwei Bottiche gleiten. Und dann brachten sie die Schätze der Redarier mit vereinten Kräften an Land. »Sieht nicht gerade wie ein alter Schuh aus«, spottete Mac, während es Jens die Sprache verschlagen hatte. Er bückte sich und ließ die Metallteilchen durch die Hand rieseln. Direktor Gabel prüfte den Fund aufmerksam. »Hacksilber und Hackgold«, sagte er nachdenklich. »Zerschlagene Münzen, wie mir scheint. Du bist doch flink?« fragte er und sah den knieenden Jens aufmunternd an. »Wir können ja einen Langstreckenlauf veranstalten.« Mac trat unternehmungslustig näher. Gabel winkte ab. Er zeigte zum Sportwagen, der an der Seestraße wartete. »Einer fährt und holt den Archivar Gabriel Hauk.« Jens stob davon. Gleich darauf war das Geräusch des losbrausenden Wagens zu hören. Mac wühlte in dem Metallhäcksel herum. Gabel untersuchte die Urne. Er klopfte sie vorsichtig ab. Als er sie auf den Kopf stellte, rutschte ein Pflock heraus. Dann klirrte eine etwa 50 cm lange Kette auf den Boden. Es war eine feingeflochtene Filigranarbeit aus Silber. Claudia legte sie sich um den Hals. »Schön«, sagte Gabel beeindruckt. Mac winkte Heinrich zur Seite. Ein leises Gespräch entspann sich. Erst hörte man Mac immer »oho« rufen. Dann flüsterte er aufgeregt: »Wir müssen bohren. Vom Hügel bis zur Höhle hinunter müssen wir bohren. Anschließend fangen wir den Wels. Paß auf, die ganze Stadt wird von uns sprechen.« Heinrich trat von einem Bein aufs andere und machte dem Freund ein Zeichen, nicht so laut zu sein. Sie schauten sich vorsichtig um. Aber Direktor Gabel führte mit Claudia eine angeregte Unterhaltung über Schmuck in alter und neuer Zeit. Er hörte nichts. »Natürlich taugt der Scheinwerfer in solchen Schlammfluten nichts«, zischte Mac. »Jens muß ran. Wir brauchen ein Unterwasserbeobach-
tungsgerät auf Laserbasis.« Die Jungen steckten wieder die Köpfe zusammen. Heinrich redete über neue Ziele für die künftige Arbeit in Futuria. Noch einmal, ein letztes Mal vielleicht, führte der Forscherdrang die Jungen zurück in die abenteuerliche Welt ihrer Kindertage. Der alte, weise Gabriel Hauk schürte das Feuer mit einem ans Märchenhafte grenzenden Bericht. Er warf spielerisch die Gold- und Silberstücke von einer Hand in die andere. Seine Augen leuchteten. In das faltige Gesicht war ein warmer Schein getreten. »Das kommt von weit her«, sagte er. »Arabische Münzen, Dirhems, vor mehr als tausend Jahren in Bagdad geprägt. Und Runengeld des Dänenkönigs Sven Estridson. Kleingehackt das alles, weil die Wenden mit Edelmetall nach Gewicht handelten.« Er langte nach der Kette, die ihm Claudia reichte. »So etwas kommt aus Kiew. Schmuck der alten Slawenfürsten. Ihr seid nicht nur in eine Höhle geraten, Freunde, sondern in die tiefsten Tiefen der Vergangenheit. Eine große Kultur wurde durch Mord und Brand zerstört. Sich daran zu erinnern, dürfte nicht schaden. Mit um so größerer Dankbarkeit werden wir unser friedliches Dasein empfinden.« Gabel deutete auf Krug und Urne. »Was nun?« fragte er. »Wir werden die Sachen in mein Archiv bringen«, schlug Gabriel Hauk vor. Er nickte Heinrich anerkennend zu. »Bist wacker, mein Junge. Dank deiner Entdeckung werden wir doch noch zu einem Museum kommen, gegen dessen Bau sich Administrator Witsch bisher wehrte. Es gibt keine Gegenwart ohne die Vergangenheit. Wer in die Zukunft schaut, darf auch die Geschichte nicht vergessen.« Die letzten Worte waren Öl in die Flamme des Pläneschmiedes Mac. Der Direktor war kaum mit dem Archivar davongefahren, da gab es ein langes Palaver am Seeufer. Claudia nahm allerdings nur für kurze Zeit an der Beratung teil. Sie lauschte interessiert den Vorschlägen von Jens für ein Unterwasserbeobachtungsgerät. Als das Gespräch auf die Attraktion einer alten Burg kam, stand sie auf. »Ihr seid und bleibt Phantasten«, sagte sie. »Vergeßt über euren Träumen die Tagesaufgaben nicht.« »Eiskalt«, kommentierte Mac, nachdem Claudia gegangen war. »Trokken wie ein Stück Papier. Natürlich fangen wir gleich morgen früh mit den Bohrungen an.«
Jens winkte ab. »Auf keinen Fall, Mac. Alles in Maßen. Wir machen unsere Arbeit. Und das ist unser Hobby, unsere Freizeitbeschäftigung.« »Ei je«, rief Mac verzweifelt. »Ferraris Steckenpferde sind die Tauchboote. Ich komme den ganzen Tag nicht aus seinen Rohrleitungen heraus.« Sie versanken in Nachdenken. Dann hatte Heinrich Schorr eine Idee. »Sag ihm, daß du den Hund ausführen mußt. Wann kommt dein Vater, um ihn abzuholen?« »Noch gar keine Zeit zum Schreiben gefunden«, brummte Mac, dem alle Sünden einfielen. »Habe auch keine Lust, nun noch mit Pickwick herumzuziehen. Er ist doch überall im Wege.« »Ich denke nicht«, sagte Jens diplomatisch und knuffte Heinrich Schorr. Der ruderte beschwörend mit den Armen. »Wir brauchen einen Spurensucher von Format. Es gibt keinen besseren als Pickwick.« Mac streckte die Waffen. »Also wann?« fragte er. »Morgen fünfzehn Uhr am Luftschiffhafen«, sagte Jens.
26. KAPITEL Pickwick wird von Zepp geschlagen Topographie ist die Lehre von der Oberflächengestalt der Erde und ihrer kartographischen Darstellung. Was aber nutzt alle Weisheit, wenn das, was man sucht, auf der Erde nicht zu finden ist? Wie hilft sich ein Entdecker, dem nur der Zugang einer Burg auf dem Wasserweg bekannt ist? Er versucht es mit Glück. Heinrich schwebte mit Jens und Peter in der Silbernen Wolke über Kusselwald und Gebüsch. Der Zwilling dirigierte aus luftiger Höhe mit Flaggensignal seinen Bruder Paul und den unternehmungslustigen Mac. Die beiden Spurensucher rannten verzweifelt über ein Gelände, das vom Luftschiff eben wie eine Tischplatte aussah. Auf der Erde verwandelte sich jedoch die scheinbar glatte Fläche in Kuhlen, Gräben und mit Dornbüschen bewachsene Höhen. Bis zur Gondel hinauf klang das Jaulen des Dobermanns Pickwick. Peter zog die Flaggen ein. »Wenn wir so weitermachen, spricht Paul in der nächsten Woche kein Wort mehr mit mir. Gib doch zu, daß du auf dem Land keine Orientierung hast.« Heinrich zeichnete resolut einen Kreis auf die Karte, maß noch einmal mit einem Winkel nach, richtete den Kompaß und griff nun selbst zu den Signalflaggen. Auf sein Zeichen setzten sich die Spurensucher wieder gehorsam in Bewegung. Sie mußten noch etwa zweitausend Meter im Zickzack durch die Wildnis rennen. Dann warf Heinrich das Lot. In hohem Bogen schmiß er eine an langer Leine befestigte Wurst zur Erde hinab. »Du spinnst über alle Maßen«, sagte Jens. Er machte aber den Hals lang und blickte neugierig aus der Gondel. Sie waren über das Gelände des Kulturparks geraten. Unter ihnen drehte sich das Karussell mit Raketenflugzeugen und Sputniks. Und mitten auf dem wirbelnden Verdeck lag die Wurst. Zwischen Vätern und Müttern stand Mac und machte eine drohende Faust. Pickwick aber sprang mit mächtigen Sätzen durch die wartende Menge und bellte aus Leibeskräften. Paul debattierte mit einem Mann, der das Manöver offen-
sichtlich für einen schlechten Scherz hielt. Der Mann zeigte wütend zum Himmel. Das Karussell hielt. Kinder kletterten aus den Gondeln. Sie blickten ebenfalls zum Luftschiff. Heinrich zog hastig an seiner Schnur: Die Wurst schwebte in der Luft. Pickwick marschierte bettelnd auf den Hinterbeinen durch die Menge, deren Rufen und Lachen bis in die Gondel drang. »Schluß mit dem Zirkus«, sagte Jens. »Ich versuch am Ufer zu landen. Dann werden wir vom See aus suchen.« Heinrich sank auf seinen Sitz. »Es stimmt aber«, flüsterte er. »Ganz genau an dieser Stelle muß es sein.« Jens steuerte das Luftschiff an den Rand des Sees. Dann blickte er aufmerksam zur Erde. Eine Uferwiese bot sich zur Landung an. Sacht ließ er das Luftschiff niederschweben. Ein leichter Stoß, und sie setzten auf weichem Boden auf. »Kommando Kanal 5«, sagte Jens. »Am Seeufer aufklaren. Höhle suchen.« Zwischen ihren Beinen schob sich Zepp hervor, stieg in die Luft, schlug einen Haken und sauste davon. Auf der Wiese waren in diesem Moment Mac, Paul und der bellende Pickwick erschienen. Sie blickten dem karierten Kundschafter nach. Dann liefen sie auf das Luftschiff zu. »Habt ihr den Punkt?« rief Mac atemlos. Jens sah Heinrich an. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Zepp wird uns Auskunft geben.« »Wenn du am Karussell gewesen wärst, Heinrich«, sagte Paul, »hätten dir die Leute das Laufen beigebracht. Einige fielen bald in Ohnmacht, als deine Wurst auf sie niedersauste.« »Was sagte dein Spurensucher, Mac?« fragte Jens neugierig. »Der hatte nur die Wurst in der Nase«, sagte Mac. »Solch eine verrückte Idee konnte bloß Heinrich haben. Aber laufen kann Pickwick, wenn man ihm solch einen Happen vor das Maul hält.« Sie lachten alle vier. Heinrich Schorr sah Jens dankbar an. Jens zwinkerte ihm zu. Dann winkte er den Freunden, ihm zu folgen. Sie marschierten am See entlang. Das Ufer stieg ganz sacht zu einem kleinen
Hügel an. Heinrich ging als letzter. Heimlich verglich er den Weg mit der Karte und der eingesetzten Route, die das Tauchboot in der Nacht genommen hatte. Ein triumphierendes Lächeln spielte um seine Lippen. Er sah Pickwick. Der schwamm hechelnd einen Bogen und verschwand hinter dem Knick, den das Ufer machte. Lautes Bellen ließ sie um die Wette rennen. Ein seltsamer Anblick bot sich ihnen. Der See hatte den Hügel unterspült. Das Wasser schwappte fast bis an den oberen Rand einer kleinen Höhle. Auf dem Rasenbuckel stand Pickwick und machte einen unbeschreiblichen Lärm. Plötzlich zeigte das Wasser das Spiegelbild von Zepp. Er brummte aus dem schmalen Spalt, den See und Land frei ließen. »Meldung über Kanal 5«, brabbelte Zepp. Seine Scheinwerfer gaben ein paar Lichtstöße. »Höhle sechs Meter hoch, zwanzig Meter lang und drei Meter breit. Ende.« Heinrich zeigte auf seine Karte. »Ich habe richtig getippt, mich nur in der Himmelsrichtung geirrt.« Mac und Paul lagen schon auf der Erde und versuchten, einen Blick durch den Spalt in die Höhle zu werfen. Jens winkte Heinrich. Sie kletterten auf den Hügel und blieben oben überrascht stehen. In hundert Meter Entfernung drehte sich das Karussell. Und zu ihren Füßen breitete sich die Terrasse eines in den See vorgebauten Cafes. »Ein idealer Ort für eine Touristenattraktion«, sagte Heinrich Schorr. »Aber nicht für eine Bohrung«, entgegnete Jens. Hinter sich hörten sie das Keuchen Pickwicks. Und dann kamen Mac, Peter und Paul angerannt. »Prima«, rief Mac, praktisch wie immer. »Sogar eine Straße. Also ran mit dem Elektrobohrer.« Er bemerkte die betretenen Gesichter der Freunde. »Was wartet ihr noch? Habt ihr Sorgen wegen der vielen Menschen? Was ist denn schon eine Bohrung in einer Stadt, die überall noch im Aufbau ist? Um uns wird sich niemand kümmern.« Aber Mac hatte sich wieder einmal geirrt. Als nach einer Stunde der Bohrer in den Hügel hineinsurrte, blieb das Karussell sofort stehen. Die Kinder liefen lärmend über die Wiese und spielten mit dem gelben Sand. Erwachsene folgten und beobachteten neugierig die Arbeiten. Aus dem Cafe kamen junge Leute. Schweigend
bediente Jens die Spindel, die er heimlich aus dem Magazin des Kraftwerkes geholt hatte. Er schwitzte bei dem Gedanken, hier einen der Monteure und Techniker zu treffen. Peter und Paul setzten rotweiß lackierte Markierungsstangen und ein Schild mit der Aufschrift: »Vorsicht. Bohrarbeiten. Gefahrenstelle«. Aber die Menschen drängten sich immer dichter auf dem Hügel. Schließlich erschien der Leiter des Kulturparks, ein weißhaariger Mann, mit einem von Wind und Wetter zerfurchten Gesicht. »Freundchen«, sagte er liebenswürdig. »Ihr wollt mir doch nicht ohne Bauplan ein Haus bauen?« Mac zupfte an den Ohrläppchen. Er pfiff durch die Zahnlücke. »Sag doch was«, knurrte Paul. Mac hatte seinen schlechten Tag. Der kleine Meckie stiftete Unfug an. Er reckte die Brust und erklärte: »Wir prüfen, ob das Erdreich trägt. In der Wasserhöhle soll eine Anlegestelle für Tauchboote geschaffen werden.« »Nanu?« sagte der weißhaarige Mann betroffen. »Wer hat denn das angeordnet?« In Macs Kopf machte der kleine Meckie einen Luftsprung. »Leitingenieur Giuseppe Ferrari.« Der Weißhaarige kratzte sich am Kinn. Dann marschierte er wortlos davon. »Du bist von allen guten Geistern verlassen«, flüsterte Jens. Er dirigierte, ohne aufzublicken, die Bohrspindel. »War doch in Ordnung«, sagte der kleine Meckie. »Dem alten Mann verschlug der Name meines großen Chefs die Sprache. Er ist fort. Und alles ist in Ordnung.« Aber der weißhaarige Mann stand längst am Videotelefon seines Arbeitszimmers und sagte mit scharfer Stimme: »Sie können nicht einfach in einem Kulturpark, der zur Erholung geschaffen wurde, mit wilden Bohrungen beginnen, Ferrari. Alles hat seine Grenzen. Und wenn über meinen Kopf hinweg administriert wird, lege ich meinen Posten nieder. Schicken Sie doch einen Ihrer Biomaten hierher. Der springt, wenn Sie nur mit dem Finger schnipsen.« Auf der Mattscheibe war das Gesicht des Leitingenieurs zu sehen. Er machte vor Staunen einen runden Mund. »Mamma mia«, rief er klagend.
»Bleiben Sie ruhig, Verehrtester. Denken Sie an Ihre Gesundheit. Ehre Ihrem Alter. Trinken Sie einen Tee. Beruhigen Sie Ihre Nerven. Ein Irrtum. In zwanzig Minuten werde ich alles klären.« Schon nach einer knappen Viertelstunde jagte das Spezialtauchboot UB 204 des Leitingenieurs über den See und machte unterhalb des Hügels fest. Zwei Biomaten schoben eine Gangway an Land. Dann rannte Giuseppe Ferrari im schneeweißen Anzug den Berg hinauf. Genau in diesem Moment, als hätte er nur auf Ferrari gewartet, stieß der Bohrer durch die Hügeldecke und raste im Leerlauf in das Gewölbe hinab. Jens hatte Mühe, sein Gerät vor dem Absturz in die Tiefe zu bewahren. Eilig schaltete er die Spindel auf den Rückwärtsgang. Zuerst schwappte ein wenig Schlamm aus der Öffnung. Und dann warf der Bohrer schmutziggelbe Brühe über den Hügel. Die neugierigen Beobachter nahmen schleunigst Reißaus, allen voran Heinrich Schorr und die Zwillinge. Väter und Mütter liefen schimpfend den Hügel hinab. Nur die Kinder lärmten vor Vergnügen. Mac sah aus wie ein Schlammbeißer. Er wischte sich mit den Händen den Modder aus Gesicht und Haar. Doch kaum hatte er die Augen geöffnet, glaubte er an Erscheinungen. Als wäre er von dem Bohrer aus den Tiefen seines Reiches gegriffen worden, stand Giuseppe Ferrari auf dem Berg. Der weiße Anzug war jetzt grau. Mac schob abwehrend die Arme vor und stolperte einige Schritte zurück. Auch Peter und Paul musterten den Italiener mit aufgerissenen Augen. Nur Jens hatte die Bedeutung dieses Augenblicks nicht erfaßt. Er klopfte sich mit der Miene eines Menschen, der aus Versehen ausgeglitten ist, seine Sachen ab. »Bambini, Teufelskerle«, schrie Giuseppe Ferrari. »Hat euch der Verstand verlassen? Was für Streiche? Kleine Kinder spielen mit großer Technik.« Er drängte Jens vom Bohrgerät weg und fuhr es zur Seite. Dann jagte er die Kinder und die letzten hartnäckigen Beobachter davon. Zu dem mächtigen Bohrloch zurückeilend, schüttelte Ferrari den Kopf, ehe er wieder hügelabwärts rannte.
Kurz darauf erschienen die von Ferrari eingesetzten Biomaten mit Stangen und Sperrgittern. Sie drängten Mac, Jens, Heinrich und die Zwillinge zur Seite. Pickwick bedurfte ihrer wortlosen Gewalt nicht. Schon bei ihrem Anblick hatte er den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, knurrend die Zähne gezeigt und war auf die Flucht gegangen. Das Bohrloch wurde eingegrenzt. Damit war eine der Forderungen des Kulturparkleiters erfüllt. Die Biomaten zogen als Wache auf. Entdecker von Ungewöhnlichem haben es immer schwer. Die fünf Archäologen aber, nach den letzten Spuren der Redarier suchend, fühlten sich nun mißverstanden. In sich gekehrt hockten sie auf dem Hügel und haderten mit ihrem Schicksal. Ferrari ist verschwunden, dachte Mac. Und natürlich wird er Alarm schlagen. Dann erscheinen der Direktor und Fernand Witsch. Ich werde verantwortlich gemacht für den verschmutzten Anzug des Leitingenieurs, für die falsche Auskunft an den Kulturparkleiter, für die Störung der Erholungssuchenden am Karussell durch Pickwick. Je länger Mac Bluffke überlegte, um so geringer schien ihm die Wahrscheinlichkeit, jemals an den Kommandotisch von Latauko zurückkehren zu dürfen. Die Ferien in Futuria waren für ihn beendet. Auch Jens marschierte in Gedanken seine Straße in eine ungewisse Zukunft. Er sah seinen Vater vor sich, wie er den Finger hob: »Erst denken, dann handeln.« Ohne Überlegen hatte er sich seit dem gestrigen Abend ins Abenteuer gestürzt. Heimlich war von ihm das Luftschiff aus der Verankerung gelöst worden. Ohne Erlaubnis seines Abteilungsleiters hatte er den Elektrobohrer aus dem Magazin geholt, also Vertrauen mißbraucht. Fazit: Vorläufig unfähig für einen Posten in Futuria. Die Zwillinge Peter und Paul strapazierten ihre Phantasie weniger. Paul dachte kurz und bündig: Pech gehabt. Peter erwartete eine ellenlange Belehrung. Der einzige, der nach wie vor Pläne schmiedete, war Heinrich Schorr. Sah er die Landaktion als gescheitert an, so baute er sich nun eine Gedankenbrücke zu den Biologen. Der Wels war immer noch zu fangen. Heinrich Schorr beschloß, mit Claudia eine neue Nachtfahrt zu verabreden.
Der Leitingenieur kehrte allein auf den Hügel zurück. Er trug wieder einen schneeweißen Anzug. Sein dunkles Haar war glatt gescheitelt. Er glänzte von Kopf bis Fuß vor Sauberkeit und Frische. Und er schenkte sich jedes weitere Wort über die vergangenen Ereignisse. Statt dessen warf er dem graugetünchten Mac eine Lederkombination zu und gab einen ähnlichen Anzug auch dem schmutzstarrenden Jens. Die Jungen zogen sich wortlos um, ohne aufzusehen. Dann winkte Ferrari den Biomaten. Sie öffneten die Sperre. Ferrari trat an das Bohrloch und blickte in die Tiefe. Mit einem elektronischen Meßgerät in Taschenformat informierte er sich über die Dicke der Erdschicht und maß das darunterliegende Gewölbe aus. Er blickte auf, sah die betretenen Gesichter der Jungen und sagte: »Kommt her, ihr Felsmäuse. Wozu wolltet ihr euch in diesem Berg verkriechen?« Mac knuffte Heinrich Schorr. Und der erzählte umständlich die ganze Vorgeschichte. Ferrari hob mehrmals die Augenbrauen und ließ sich von den Freunden Entdeckung des Schatzes, Anerkennung durch den Archivar und das Lob des Direktors extra bestätigen. Als Heinrich geendet hatte, schob Ferrari die fünf an den Rand des Bohrlochs. »Ihr seid Bambini und keine Biomaten«, sagte er provozierend. »Wie soll es nun weitergehen?« »Wir sollten uns abseilen«, faselte Heinrich, der sich über die nächste Stufe seines Planes noch nicht den Kopf zerbrochen hatte. »Einen Lift sollten wir bauen«, rief Mac kühn. Ferrari faßte sich schweigend an den Kopf. »Was ist mit dir?« fragte er den nach einer Antwort suchenden Jens. »Wirst du mir vielleicht einen Sprungturm vorschlagen, Sohn eines Chefkoordinators und von Haus aus in der klugen Kombination geübt?« Erst denken, dann handeln, dachte Jens. Keiner von uns hat sich überlegt, was nach dem ersten Schritt kommen soll. Ferrari winkte Jens zur Seite und sah nun die Zwillinge an. Paul putzte sich die Nase. Peter reckte den Kopf, als ob aus dem Kamin eine Erleuchtung zu ihm aufsteigen könnte. Ferrari nickte. »Genauso habe ich mir das gedacht. An Plänen berauschen, aber den Tatsachen nicht Rechnung tragen. Im Leben gibt es ein
Prozent Intuition, aber neunundneunzig Prozent sind Arbeit. Arbeit mit dem Verstand, mit Wissen und Können«, sagte er hart. Er blickte über das Feld der Verwüstung. »Wenn wir so in Futuria gewühlt hätten, wie ihr das auf diesem Berg getan habt, wäre keine Stadt, sondern ein Chaos entstanden. Erst nüchterne Überlegung macht den Meister.« Er schwieg und sah die fünf Kinder, die ihren Verstand vergessen hatten, der Reihe nach an. Jens hatte einen roten Kopf, hielt aber dem Blick stand. In seinem Gesicht stand zu lesen, was er dachte: Respekt und Anerkennung. Mac lächelte seinen Chef hilflos an. Ein wenig vorwitzig sah er durch die Lücke zwischen den Schneidezähnen ja aus, aber seine glühenden Ohren sagten Ferrari genug. Heinrich Schorr hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen und machte den Eindruck einer aus dem Nest gefallenen Dohle. Die Zwillinge strahlten Ferrari voller Bewunderung an. »O mamma mia«, rief Ferrari in gespieltem Entsetzen. »Es hat ihnen die Sprache verschlagen. Ich werde dem Schrecken ein Ende bereiten.« Er zog Papier und Schreibstift aus der Tasche. Auf einem von den Biomaten errichteten Klapptisch zeichnete Ferrari eine Skizze. »Wir werden die Terrasse des Cafes bis zur Höhle vorziehen«, erklärte er, während er den Bericht ins Bild umsetzte. »Vier Pumpen drücken das Wasser aus dem Gewölbe. Stahlstreben stützen die Decke ab. Vom Grund der Höhle ziehen wir dann durch das Bohrloch bis in diese Höhe ein Rohr, durch das ein Lift gleiten wird. Und hier oben auf dem Hügel wird ein gläserner Pavillon errichtet, das Museum. Wer nur die Schätze der Redarier bewundern möchte, kann Ketten, Ringe, Silbermünzen und alles, was wir noch bei den Schachtarbeiten finden, in den Vitrinen betrachten. Liebhaber der Vergangenheit können vom Hügel oder vom See her das Gewölbe betreten und vielleicht einen Abglanz der untergegangenen Kultur erhaschen. Das ist alles. Wir brauchen nur noch den Riesenwels aus der Höhle zu jagen und eine Baugenehmigung. Dann werden meine Biomaten in einer Woche die Touristenattraktion geschaffen haben. Und ihr, meine Freunde, habt hoffentlich begriffen, daß es in Futuria auf den Kopf ankommt.«
Die Zeichnung war fertig. Auf dem Papier waren die krausen Vorstellungen der fünf zu einer eindrucksvollen Gedenkstätte der Redarier geworden, formschön, zweckmäßig, attraktiv. »Toll«, sagte Heinrich und betrachtete verzückt die Skizze. »Er hat immer noch nichts kapiert«, rief Giuseppe Ferrari. »Die Konstrukteure von Futuria sind keine Zauberer. Jeder, der hier arbeitet, muß nur den Anforderungen der Zeit gewachsen sein. Verstanden? Morgen wird das gleiche von dir verlangt. Denken mußt du können! Kombination.« »… wie Gauß«, rief Mac aufgeregt. »Gauß«, sagte Ferrari bewundernd. »Ja, Gauß. Bambino, du weißt es und wendest es nicht an. Was bist du für ein Mensch?« Mac zog die Schultern hoch. Er dachte an den kleinen Meckie, der ihm wieder einmal einen Schabernack gespielt hatte. Er hat es in sich und gibt es nicht so gern von sich? Wann würde er das endlich überwunden haben…? Jens verglich Ferrari mit seinem Vater und mit Fernand Witsch. Diesen Männern wollte er gleichen? Es ist ein weiter Weg, seufzte er heimlich. Und es mag sein, daß ich nie ans Ziel gelange. Aber zum Vorbild werde ich mir diese klugen Männer nehmen, noch mehr als früher. Paul blieb mit beiden Beinen auf dem Boden des Alltags. Und auch sein Bruder Peter zerbrach sich nicht den Kopf über die Zukunft. Alles würde sich arrangieren. Aus jedem Fehler wuchs eine Erkenntnis. Beiden ging es nur darum, ob es Ferrari ernst mit seinem Plan war. »Wann geht es los?« fragte Paul und zeigte auf die Skizze. »In diesem Moment«, grollte eine Stimme hinter ihnen. Die Jungen drehten sich um. Fernand Witsch und der Direktor Gabel standen vor ihnen. Ferrari nutzte die Schrecksekunde. Temperamentvoll erklärte er, daß er einer Anregung der fünf Jungen gefolgt sei. »Was ist?« fragte er den skeptischen Administrator. »Du hast mir selbst vorgeschlagen, mit diesen Bambini zu denken. Nun gut, ihre Gedanken waren so gut, daß sie mich überwältigten.«
»Wir bekamen eine Meldung, daß die fünf hier Unfug treiben«, sagte Gabel, fügte jedoch sofort hinzu: »Wenn Sie aber ihren Plänen folgten, dann dürfte es kaum Unsinn gewesen sein.« Ferrari verteidigte das Projekt leidenschaftlich und nannte die fünf Jungen großartige Initiatoren, von erstaunlichen Plänen beseelt. Fernand Witsch folgte Ferraris Erklärungen erst nur zögernd. Aber vor den wortreich vorgetragenen Argumenten versagten schließlich seine Einwände. Mit einer matten Handbewegung stoppte er den Redefluß Ferraris. »Baue das Wunderwerk, Giuseppe«, sagte er. Dann aber wandte er sich warnend an die Jungen. »Künftig keine wilden Aktionen mehr. Wo wollten wir hinkommen, wenn in Futuria jeder macht, wozu er gerade Lust hat? Disziplin und Einsicht sind die Grundpfeiler unserer Ordnung.« Er weiß alles, dachte Jens. Ihm kann man nichts vormachen. Trotzdem trägt er keinem von uns etwas nach. In Zukunft werde ich schon um seinetwillen klüger sein. Und Giuseppe wird mein Vorbild.
27. KAPITEL Auf Jagd mit UB 204 In der stählernen Bucht von Latauko hatte UB 204 festgemacht. Das schlanke Boot wirkte in der Halle wie ein riesiger Haifisch. Zwei Scheinwerferaugen am Bug verstärkten den lebendigen, ja angriffslustigen Eindruck. Und als sich in eben diesem Moment unterhalb des Vorschiffs eine Bodenklappe wie ein mächtiges Maul öffnete und strudelndes Wasser einsog, wäre ein uneingeweihter Beobachter sicher zu dem Schwur bereit gewesen, keine Schöpfung der Technik, sondern ein ungeheures Wassertier gesehen zu haben. Aus dem weitgeöffneten Luk des Oberdecks klang Tanzmusik. Alle paar Minuten zeigte sich der Kopf eines Jungen. Die fünf Freunde Giuseppe Ferraris prüften das Boot auf Herz und Nieren. »Ihr fallt glatt um, wenn ihr erfahren habt, was UB 204 für ein raffinierter Fisch ist«, sagte Heinrich. Mit heftiger Handbewegung winkte er den Freunden. Im Vorschiff führte Paul die Fangeinrichtung des Tauchbootes vor. Er legte einen Hebel herum. Ein Bildgerät zeigte, wie die Bugklappe aufschwang. Ein Rotor riß das Wasser in kraftvollem Strom durch einen Zylinder und preßte es am Heck durch ein Sieb wieder hinaus. »Damit kann man Wale fangen, See-Elefanten. Es gibt kein Tier, das sich wehren kann«, behauptete Heinrich Schorr. Mac las die Größenangaben des Zylinders auf einer Skala ab. »Fünf Meter«, sagte er. »Für einen Wels dürfte es reichen, aber ein Wal paßt knapp mit seinem Kopf hinein.« Peter konterte den großen Konstrukteur Mac Bluffke. »Aber den Delphin räumt Ferrari glatt aus dem Weg.« »Ich will ja gar nicht in Konkurrenz mit Ferrari treten«, sagte Mac ruhig. »Jeder fängt einmal klein an.« Heinrich zeigte Mac seine nächste Entdeckung. Fünf Monitoren waren über dem Schaltkasten angebracht, mit denen jede Bewegung an Bug und Heck, Backbord- und Steuerbordseite zu kontrollieren war. Zuerst drückte Heinrich auf einen blauen Knopf. An beiden Seiten des Tauch-
bootes schnellten mit scharfgeschliffenen Messern bestückte Räder heraus, die sich wirbelnd zu drehen begannen. »Zur Beseitigung der Wasserpflanzen«, erklärte Heinrich. Mac schwieg. Dann legte Heinrich spielerisch den Finger auf einen gelben Knopf. Der Grund in der Halle war gestochen scharf zu erkennen. »Unterwasserbeobachtungsgerät auf Laserbasis«, kommentierte er. Mac zupfte sich bereits am Ohrläppchen. Heinrich drückte einen roten Knopf. Ein mächtiger Greifer tastete durch das Wasser. Mac öffnete vor Staunen den Mund. Schließlich betätigte er selbst den grünen Knopf, noch ehe Heinrich zufassen konnte. Jetzt zischte der Strahl einer Plasmakanone durchs Wasser. »Unterwasserschneidgerät«, rief Heinrich und schlug die Hände auf die Schenkel. Mac gab ihm einen Knuff. »Stell dich nicht so an«, sagte er. »Tust so, als ob du das alles konstruiert hättest.« Angesichts dieser technischen Details ging Macs Stimmung durchaus nicht auf den Nullpunkt zurück, wie Heinrich erwartet hatte. Ein echter Erfinder hat eben Anteil an den Schöpfungen anderer, weil sie erst seine Phantasie für eigene Entdeckungen anregen. »Wer hat behauptet, daß der Delphin vollkommen ist?« fragte Mac dann auch. »Ich bin hierhergekommen, um zu lernen. Und dir altem Redarierfürsten werden noch vor meinem Können die Augen übergehen.« Heinrich streckte die Waffen. »Alles mögliche gibt es«, brummelte er. »Nur nichts zu essen.« Mac blickte auf die Uhr. Die neunte Abendstunde war gerade vorüber. Auch ihm knurrte der Magen. Im Salon hatte Peter es sich auf einem Liegesitz bequem gemacht. Er schlief schon. Jens hockte vor einem Regal und blätterte in einigen Büchern, die er jedoch nicht lesen konnte. Sie waren italienisch geschrieben. Mac zog auch einen Band hervor. Es war ein russisches Fachbuch über einen modernen Tauchbootantrieb, der seine Kraft aus der unmittelbaren Umwandlung von chemischer in elektrische Energie bezog. Mac begann aufmerksam die Pläne zu
studieren. Paul beobachtete ihn. Er lehnte in der Tür, hatte ebenfalls Hunger. »Ein Kochbuch?« fragte er. »Mich interessiert jetzt ein Kochbuch – und eine vollgepackte Kombüse.« In diesem Moment schnurrte Zepp zwischen seinen Beinen hindurch. Paul machte eine Bewegung mit den Händen, als ob er ein Messer wetzte. »Oje«, rief Ferrari, der plötzlich hinter ihm stand. »Jetzt wollen sich diese Bambini schon an dem allerliebsten kleinen Zepp vergreifen, den meine Mädchen als elektronischen Pudel haben möchten. Ich denke, wir fangen schnell den großen Fisch und essen ihn auf?« Heinrich nahm den Scherz für bare Münze. »Silurus glanis ist alt. Alte Fische schmecken nicht. Außerdem warten die Biologen auf ihn.« Mac blickte von seinem Buch auf. »Eine ganz einfache Sache. Ich habe schon verstanden. Das Muskelproblem.« Er war noch bei der Umwandlung von chemischer in elektrische Energie. Die Freunde lachten. »Ganz richtig«, sagte Ferrari, »das Muskelproblem kann natürlich nur durch Energiezufuhr gelöst werden.« Jetzt blickte Mac, der nichts verstanden hatte, entgeistert Ferrari an. Der ging an Deck. Sie hörten, wie er das Signalhorn betätigte. Gleich darauf servierten zwei Biomaten ein reichliches Abendessen. Mac ließ seinen Chef hochleben. Alle aßen mit ungeheurem Appetit. »Wißt ihr, Bambini, ihr macht mir große Freude«, sagte Giuseppe Ferrari. »Lauter Maschinen um mich herum. Da hatte ich fast vergessen, daß es solche Feuerköpfe gibt.« Es hob sein Glas. »Auf die Jugend, Bambini. Ohne Jugend keine Sonne in dieser wunderschönen Welt.« Mac mußte der Wein zu Kopf gestiegen sein. Er kletterte jedenfalls auf seinen Stuhl, machte die Arme weit und rief: »Ohne den Maestro Giuseppe Ferrari keinen Spaß an dieser wunderschönen Ferienzeit, keine Unterwassersinfonie, keinen Tauchbootspezialisten Mac Bluffke von morgen. Ein dreifaches Hoch auf den großen Sohn von Venedig.« Ferrari drohte mit dem Finger. Gleich darauf erhob er sich und verließ den Salon. »Was hat er denn?« fragte Mac verdutzt.
»Du machst zuviel Theater«, entgegnete Jens. Zu weiteren Erörterungen blieb keine Zeit. Die Biomaten räumten das Geschirr weg und verschwanden so lautlos, wie sie gekommen waren. Dann begann UB 204 ganz leicht zu vibrieren. Im Beobachtungsraum zeigten die Monitore, daß das Tauchboot bereits über den See jagte. Ferrari stand in der Steuerkabine und zwinkerte vergnügt. »Heute noch Silurus glanis«, sagte er. »Morgen Jagd in der Tiefsee. Ist das ein Wort, ihr Bambini?« Er zeigte auf die Karte. »Genaue Kursangabe, Heinrich. Und dann erkläre uns, wo du den Wels gesehen hast.« Heinrich Schorr steckte gewissenhaft die Route ab. »Es war an der Höhle«, sagte er. Mac drückte auf den gelben Knopf. Auf dem Monitor erschien der See. Die Zwillinge, Jens und Mac schauten gebannt in den Dschungel der Wasserpflanzen, der wehenden Farne und grünen Fangarme. Schwärme winziger Fische stoben vorbei. Ein Aal zuckte über den Grund. Und zwei Hechte machten Jagd auf fette Plötzen. Der scharfe Strahl des Beobachtungsgerätes tastete weit voraus und sicherte den Weg in der Tiefe ab. Und plötzlich war da eine Bewegung im Schlamm. Ein keulenförmiger Körper wuchtete sich aus dem Modder, mit spitzen Dornen und Knochentafeln bedeckt. Das breite Maul tat sich auf. Stumpf glotzten die kleinen Augen. »Das ist er, Silurus glanis«, schrie Heinrich. Giuseppe Ferrari hatte längst den Autopiloten eingeschaltet. Jetzt war er jung. »Paolo! Was zögerst du, Bambino?« rief er. »Lege den Hebel herum.« Die Bodenklappe öffnete sich. Sie sahen, wie der sich wehrende Wels, dieser drei Meter lange Riese, der Generationen im Schlamm überdauerte, zuckend mit der Flosse schlug, seine ganze Kraft aufbot, um dem unerbittlichen Sog zu entkommen. Plötzlich war nur noch strudelndes Wasser zu erkennen. Dann war Stille. Ein paar Blasen stiegen aus dem Sumpf. UB 204 trieb ruhig vor der Höhle. Sie hatten kein Stoß und keinen Schlag am Bootsrumpf verspürt. Ohne merkbaren Aufwand hatte UB 204 den Riesenwels überwältigt.
Mac blickte den Leitingenieur fassungslos an. »Es ist ungeheuerlich«, ächzte er. »Und wir wollten den Riesen mit unserem kleinen Delphin fangen.« »Mit der Angel«, rief Peter. »Mit dem Netz und der Taucherbrille«, brüllte Paul. »Heinrich, sei froh, daß du den Riesenfisch damals nicht erwischt hast«, sagte Jens. »Wir hätten dich, Claudia und den Delphin vielleicht nie wieder gesehen.« »Mamma mia«, rief in diesem Moment Giuseppe Ferrari. »Was haben wir uns getäuscht. Das Beobachtungsgerät muß mit Verzerrungen gearbeitet haben.« Er sperrte Daumen und Zeigefinger auseinander. »So groß ist der Fisch. Ganz kleiner Fisch. Amurus nebulosus.« »Was heißt denn das?« fragte Mac mißtrauisch. »Zwergwels, Bambino.« Auf einem Bildschirm schwamm hinter Nebeln ein winziges Fischlein. Erschüttert starrten sie den Däumling an. Ferrari weidete sich an den traurigen Gesichtern. Dann sagte er: »So, das war für die Sturzflut auf dem Berg. Kleine Rache. Aber großer Fisch.« Er drehte am Skalenknopf. Und nun rückte unter dem Geschrei der Jäger der mächtige Kopf des Silurus glanis ins Bild. Sie hatten ihn wirklich gefangen. Sie waren keiner Spiegelung aufgesessen. Silurus glanis war ihnen in die Falle gegangen. Tief im Rumpf des UB 204 ruhte der mächtigste Räuber der Binnengewässer. Ein Traum war Wirklichkeit geworden. Ein Jahr Suche und Plagen hatte sich gelohnt. Beharrlichkeit war von Erfolg gekrönt worden. UB 204 zog mit seiner Beute einen weiten Bogen in den See hinaus. Leise vibrierte der Körper des Tauchbootes. Es nahm Kurs auf das Großaquarium. »Heinrich«, sagte Giuseppe Ferrari, »du bist ein großartiger Junge. Ein wenig mehr Boden unter den Füßen – und du holst uns die fernsten Welten heran.« Er reichte Heinrich Schorr das Videotelefon. »Und nun rufe deinen Direktor an, damit er endlich auch auf den Schüler stolz sein kann, den er bisher verkannt hat…« Frank Gabel war zunächst beunruhigt, als er hörte und sah, daß der Anruf aus dem Tauchboot Giuseppe Ferraris kam. Dann tupfte er sich
die Stirn mit einem Taschentuch. »Großartig«, flüsterte er, »eine erstaunliche Leistung, ihr Helden. Ich schicke alle Schüler sofort zum Aquarium.« Erschrocken blickte er auf die Uhr. »Eine Stunde vor Mitternacht? Ach, ist egal. Eine echte Sensation…« Giuseppe Ferrari steuerte UB 204 auf das Großaquarium zu. Kurz vor dem Felsen ließ er das Boot auftauchen. Vorsichtig manövrierte er den Bug an den Bassinlift heran. Die Jungen stiegen an Deck. Über ihnen war sternenklare Nacht. Nur im Schatten des Felsens hockte die Finsternis. Mit einem Mal flammten an Bord des UB 204 die Lichter von Scheinwerfern auf, ließen fast schmerzende Helle in den Glasbau des Aquariums fahren und tünchten den dunklen Felsen mit kalkigem Weiß. Ein Biomat huschte lautlos an den Jungen vorbei und ließ das Bassin direkt vor die Bugklappe gleiten. UB 204 öffnete sein riesiges Maul. Und dann rauschte der Wels in das Becken. Der Lift glitt in die luftige Höhe. Ferrari aber stieg mit seinen fünf Freunden die steile Wendeltreppe hinauf. Sie hatten kaum die halbe Strecke des Weges zurückgelegt, da tönte ihnen ein Sprechchor entgegen: »Kein Jägerlatein. Der Wels ist groß und grau wie ein Stein.« »Das ist Claudias Werk«, sagte Heinrich. Tatsächlich stand Claudia inmitten einer Schar Jungen und Mädchen auf der Steilküste. Überschwenglich küßte sie jeden der Ankommenden. Ferrari schmunzelte, als er seine fünf Jägermeister betreten das Gesicht mit dem Handrücken abwischen sah. »Amurus nebulosus«, flüsterte er dem lachenden Direktor Gabel zu. »Jeder ein Zwergwels.« Sie standen dann andächtig vor einer der Felsenkammern. Im rosafarbenen Licht ruhte Silurus glanis schwer wie ein Stein auf dem Grund. Nahezu am Ende eines langen räuberischen Lebens war er doch noch zu einem Besiegten geworden.
28. KAPITEL Alarm im Kraftwerk Zehnte Stunde des letzten Mittwochs vor dem Ende des Aufenthalts in Futuria: Den Volontär des Großkraftwerkes hatte mitten in der Arbeit das Nachdenken überwältigt. Um ihn war die Stille weiträumiger Hallen. Kein Uneingeweihter sah dem geothermischen Kraftwerk seine Funktion an. Weit und breit war kein Fluß zu sehen, dessen tosende Wasser gestaut wurden und Turbinen antreiben mußten. Allein der gebändigte Vulkan im Erdinnern spendete ungeheure Energien. Seine unvorstellbaren Temperaturen erhitzten gewaltige Halbleiterbatterien, die den elektrischen Strom erzeugten. Und obwohl sich keine Turbine drehte und kein Schornstein rauchte, jagte die Elektrizität durch Kabel und Erdleitungen, versorgte nicht nur die Stadt, sondern auch das weite Land mit Licht und Wärme und Produktionskraft. Gedankenversunken saß Jens da. Er hörte nicht den warnenden Summton in der Halle und sah auch nicht das flackernde Signallicht auf dem Bildschirm. Jens kaute an den Erkenntnissen, die er in den vergangenen Wochen gewonnen hatte. Er revidierte Anschauungen, die von den zurückliegenden Ereignissen überholt waren. Er sah die Gesichter der Freunde vor sich, von denen er so manchen verkannt hatte. Alle hatten sich hier bewährt, jeder auf seine Weise. Heinrich, über den er manchmal spöttische Worte in den Schülerversammlungen gesagt hatte, war auf dem Wege, ein tüchtiger Geograph zu werden. Längst war man in diesem Beruf vom bloßen Beschreiben abgegangen und bemühte sich, zum aktiven Gestalter zu werden. Futuria bot dafür nicht das einzige Beispiel. Hier war nur ein Distrikt verändert worden. Aber schon gab es neue Pläne, den Verlauf warmer Meeresströmungen zu korrigieren und eine Veränderung der klimatischen Verhältnisse auf den Kontinenten herbeizuführen. Luftströmungen wollte man in neue Bahnen leiten, um das ewige Eis der kältesten Gegend der Erde zum Schmelzen zu bringen. Heinrich, der Träumer, hatte ein Betätigungsfeld für seine Phantasie gefunden.
Claudia hatte entschlossen und klug den Weg in die Zukunft abgesteckt. Sie sammelte Erfahrungen im Großaquarium und wollte Meeresbiologin werden. Peter und Paul hatten sich mit Geschick und erstaunlichem Fachwissen beim Bau elektrotechnischer Anlagen bewährt. Sie würden als Mechaniker nach Futuria zurückkehren. Auch Cornelius Brink, der im Atelier des Stadtarchitekten arbeitete, hatte schon seinen Entschluß verkündet, eine Diplomarbeit über Futuria vorzulegen. Überall, in Maschinenhallen und Steuerzentren, in Werkstätten und Konstruktionsbüros, waren die Schüler der Stadtrepublik »Wissenschaft beginnt mit 13« dabei, eine Brücke in ihre Zukunft zu schlagen. Die erstaunlichste Wandlung aber hatte Mac Bluffke durchgemacht. Jens konnte sich einfach nicht mehr vorstellen, daß er über Macs Streiche gelacht und ihn nie richtig für voll genommen hatte. Mac war der Mitarbeiter von Giuseppe Ferrari geworden, sein Schüler und Helfer. Beim Gedanken an den großartigen Lehrmeister und seinen verdienstvollen Famulus gab es Jens einen kleinen Stich im Herzen. Er war frei von Neid, aber nur zu gern hätte er selbst in der Nähe des temperamentvollen Giuseppe Ferrari geweilt. Ferrari war zum Ideal der jungen Gäste geworden. Er war der heimliche Chef der Gruppe, ein Vorbild, nach dem sich alle richteten. Was war dagegen der Vorgesetzte von Jens in diesem Kraftwerk? Ein wortkarger Mann, korrekt, zuverlässig und penibel, der seinen Volontär nicht zu begeistern verstand. Der Gedanke an den Diplomingenieur Edmund Müller ließ Jens sofort aus der Tiefe seiner Überlegungen hochsteigen wie UB 204 aus dem Wasser des Langen Sees. Er sah das Warnlicht auf dem Bildschirm flackern. Und hörte jetzt auch den Summton in der Halle. Alarm! Jens hatte das wichtigste Signal der Stunde verdöst. »Alarm!« schrie er. »Schon seit fünf Minuten, du Siebenschläfer«, sagte eine Stimme hinter ihm. Edmund Müller stand vor dem großen Koordinationsgerät, das ihn mit allen Abteilungen verband, und blickte unbewegt auf die flimmernde
Mattscheibe seines Monitors. Jens tat nun im stillen Abbitte. Hierher gehörte tatsächlich ein Mann wie Edmund Müller, der nüchtern auf die Ereignisse der Welt sah, der Nerven wie Stahl und ein durch nichts zu zerstörendes Vertrauen in die Macht seines Wissens und die Kraft seines Könnens hatte. »Was ist los?« fragte Jens, der sich beinah automatisch der Sachlichkeit des Ingenieurs anpaßte. »Panne im Stollen Cabiria«, erklärte Müller. »Schwefelwasserstoff wurde mit den Vulkangasen in die Rohrleitungen getrieben. Der Hauptfilter schaffte die Reinigung nicht. Irgendwo muß eine Fehlsteuerung sein. Jetzt zischt das Zeug durch die Schwefelrampe des Stollens Cabiria in den C-Kanal.« »Schwefelwasserstoff?« Jens sah den Ingenieur erschrocken an. »Ist doch giftig.« Müller nickte nur. »H2S wirkt bereits mit 0,08 Volumenprozent nach fünf bis acht Minuten tödlich. Blut von Lebewesen nimmt dann braune bis olivgrüne Färbung an.« Jens sperrte den Mund auf und atmete schwer. Ihn beeindruckte die Ruhe und Nüchternheit seines offensichtlich durch nichts zu erschütternden Vorgesetzten. »Beruhige dich, Junge«, sagte Müller trocken. »Wir sitzen nun mal auf einem Vulkan. Der muß zwar vieles tun, was wir wollen. Eine Wasserleitung, bei der man den Hahn seelenruhig auf- und zudrehen kann, ist er jedoch nicht.« »Eine Katastrophe. Entsetzlich«, stöhnte Jens. »Kann man da nichts machen? Nichts tun?« »Fehler finden. Ersatzregler betätigen«, dozierte Edmund Müller und verzog nur um weniges die Lippen. »Quittung für unsere Unvollkommenheit… Wenn das nichts nützt: Stollen fluten und verriegeln. Schwefelproduktion passe. Funktioniert das noch immer nicht, letzter Ausweg: Hauptschieber zu und Kraftwerk bis zur Reparatur stillegen.« »Und Futuria? Die Stadt? Die Produktion?« Jens sah schon das kühne Werk der Vernichtung ausgeliefert.
»Immer mit der Ruhe«, sagte Müller. »Wir haben genug Reserven. Die Kosten der ausgefallenen Produktion werden natürlich hoch sein. Aber besser ein paar Stunden Pause als Gefahr unter den Sohlen.« In diesem Moment leuchtete der Bildschirm des Koordinationsgerätes auf. Müller zog seinen Sessel näher an die Mattscheibe. Jens blickte ihm über die Schulter. Das Beratungszimmer des Administrators. Witsch war von seinen Leitingenieuren umgeben. Auch Ferrari fehlte nicht. Um die von ihren Arbeitsplätzen unabkömmlichen Abteilungsleiter der Produktionsstätten an der Besprechung teilhaben zu lassen, waren Koordinationsgeräte zwischengeschaltet. Edmund Müller brauchte nur auf die Kontakttaste seines Apparates zu drücken, um eigene Ratschläge vorzubringen. Witsch gab kurz einen Bericht der Alarmmeldungen. Ferrari teilte mit, daß er den Transport in den Kanälen gestoppt hatte. Edmund Müller brummte: »Soweit ist es also schon.« Jetzt sah Jens, daß sich Fernand Witsch erhob. Sein Gesicht wurde in Großaufnahme gezeigt. »Es ist kein Grund zur Beunruhigung«, sagte er. »Wir haben sämtliche Rohrleitungen und Kanäle unter Kontrolle. Außerdem steht noch nicht fest, daß der Ausbruch der Gasmassen länger anhalten wird.« »Trotzdem kostet jede Stunde Sperrzeit ein paar tausend Tonnen«, murmelte Edmund Müller und schnüffelte ein wenig durch die Nase. Das war das einzige Zeichen seiner Erregung. Jens spitzte die Ohren. Ferrari berichtete von bisher aussichtslosen Versuchen, den Rohrschieber an der Rampe von Cabiria zu sperren. Tauchboote hätten die dort zur Sicherung errichtete Barriere nicht untertauchen können. Zwar wäre der Wasserspiegel durch Lenzpumpen gesenkt und ein Biomat vorgeschickt worden, aber auch er wäre bis zur Direktsteuerung des Schiebers nicht durchgedrungen. »Kleinere Abmessungen also?« fragte Witsch. Er drehte sich zu einem weißhaarigen Ingenieur an seiner Seite. »Wie lange dauern Konstruktion und Aufbau eines Kleinsttauchbootes oder eines entsprechenden Biomaten? Maximalzeit, bitte…«
»Stunden, kostbare Stunden«, brummte Edmund Müller. Er wollte seinen Schüler auf die nach seiner Meinung sehr bedauerliche Häufung von Schwierigkeiten aufmerksam machen. Aber als er sich umblickte, war der Platz neben ihm leer. »Freilich«, sagte Edmund Müller ruhig, »Sitzungen sind langweilig. In dem Alter saß ich auch lieber in der Sonne als am Konferenztisch.« Doch Jens Dietrich versuchte sich nicht zu drücken, um in der Sonne zu sitzen. Beflügelt von einem Plan, winkte der Vierzehnjährige einem Quicktaxi, das auf der Chaussee mit dem Freizeichen fuhr. Gleich nach dem Einsteigen in das von keinem Chauffeur gesteuerte Fahrzeug, sozusagen einem Biomaten auf Rädern, stellte Jens die Verbindung her. »Landzugang Latauko. Es eilt.« Der Wagen setzte das rote Warnsignal für hohe Geschwindigkeit, zog sanft an und jagte innerhalb weniger Sekunden mit zweihundertfünfzig Stundenkilometern auf den Autobahnring. Nach knapp zehn Minuten fuhr die Taxe durch einen Hohlweg, schlüpfte in einen Tunnel und stand. Vorn war die gläserne Halle der Kommandozentrale von Latauko zu sehen. Mac saß mit Susanna vor dem Bildschirm und verfolgte gespannt die Beratung im Arbeitszimmer des Administrators. Jens marschierte vorsichtig um den Tisch und blieb dabei in gebührender Distanz zu Susanna. Mac lief gehorsam mit, schimpfte aber: »Bist du von Sinnen? Das ist doch keine Manege.« Unter dem Tisch brummelte mit rotleuchtender Kontaktlampe Zepp. Zepp hatte auf Latauko eine Heimstatt gefunden, zum Spaß des Leitingenieurs. Jens hörte das leise Geräusch und blickte zu Boden. Als er den Gefährten früherer Tage sah, ging ein Aufleuchten über sein Gesicht. »Dann sind wir ja alle beisammen«, sagte er leise. »Fehlen nur noch der Delphin und UB 204.« Mac war schon immer wegen seiner fixen Auffassungsgabe gerühmt worden. Jetzt schlug er jeden Rekord. »Was denn?« flüsterte er. »Du willst auf eigene Faust?« Erregt zupfte er sich am Ohrläppchen. »Du hast doch die Unterhaltung gehört?« fragte Jens und ahmte unbewußt die stoische Ruhe Edmund Müllers nach. »Kleinsttauchboot und
kleiner Biomat. Delphin und Zepp also. Du sitzt in der Steuerzentrale des unterirdischen Kanalsystems. Warum also lange überlegen? Gib mir UB 204. Ich nehme damit den Delphin an Bord. Zepp wird als Besatzung angeheuert. Dann geht es los.« Mac blieb vor seinem Steuerpult stehen und zeigte die mit roten Zeichen blockierte Fahrstrecke zum Stollen Cabiria. »Hast du dir das auch überlegt?« flüsterte er. »Es ist eine lange Reise in die Tiefe.« In diesem Moment erhob sich Susanna. »Sie werden bauen«, sagte sie. »Kleinstboot und Biomat. Die Strecke bleibt blockiert. Wir haben also vorläufig nichts zu tun. Ich gehe essen.« Jetzt erst sah sie Jens, der sich über das Steuerpult gebeugt hatte. »Paß auf deinen Freund auf«, sagte sie warnend zu Mac. »Hier darf nichts verändert werden.« Sie nickte kurz und verschwand. Mac sicherte die blockierte Strecke bis auf eigenen Widerruf, indem er ein winziges elektronisches Bauteil mit der Entschlossenheit eines Mannes herausnahm, der alle Brücken hinter sich abbricht. »Es ist keine Zeit mehr zu verlieren.« Er schob Jens aus dem Raum. »Ich mache mit.« »Mac«, sagte der und schlug dem Freund auf die Schulter. »Das werde ich dir nie vergessen.« Mac beherrschte jetzt ein zäher Wille. Alles wirst du jetzt wettmachen, dachte er. Du wirst Giuseppe Ferrari für den ersten Tag entschädigen. Hier ist die Gelegenheit, auf die du gewartet hast. Sie fuhren schweigend, in Gedanken versunken, mit dem Paternoster zum Fuße der stählernen Insel. Zepp, mit roter Kontaktlampe, schwebte brummend neben ihnen. Seine Scheinwerfer blinkten ab und an, seine Antennen spielten. UB 204 lag in der kleinen Bucht. Auch das Tauchboot mit dem Delphin am Heck sah im Licht der Halle aus, als wäre es auf dem Sprung für den großen Einsatz. Als die Jungen den Fuß auf die Inselplattform setzten, schwang automatisch die Tür des Turmes auf, und der wachhabende Biomat huschte lautlos heran.
»Zwei Schutzmasken und Spezialkombinationen«, sagte Mac kurz. Mac ist kein Volontär, sondern schon Regent in diesem Reich, dachte Jens. Es gab ihm wieder einen feinen Stich. Sie stiegen auf das UB 204. »Glück gehabt«, sagte Jens. »Warum ist Ferrari nicht mit dem Boot gefahren?« »Sie haben ihn mit dem Hubschrauber geholt«, antwortete Mac. »Ferrari ist Hals über Kopf davon. Ohne UB 204 hätten wir überhaupt nicht daran denken dürfen, das Unternehmen zu wagen.« Der Biomat flitzte an ihnen vorüber. Über seinem Arm trug er Masken und Schutzkleidung. Er legte die Ausrüstung im Salon ab und verschwand hinter seiner Tür. Mac wies auf Zepp. »Soll ich ihm die Daten geben und für den Einsatz programmieren?« Einen klaren Kopf hat er, dachte Jens. Nüchtern und sachlich wie Edmund Müller. Er hatte vergessen, daß er seinen Chef noch vor einer Stunde ein Schemen nannte. Längst erfüllte ihn Hochachtung für den nervenstarken Ingenieur, mit dem Mac so viel Ähnlichkeit hatte. »Was ist?« drängte Mac. »Du oder ich?« Jens nickte. »Natürlich du, Mac.« Er beobachtete, wie Mac von einer Tabelle präzise Weisungen ablas und an Zepp gab, dessen Scheinwerferaugen kurze Stromstöße aussandten. Die Antennen wanderten hin und her. Feuerrot leuchtete das Lämpchen auf dem Rücken. Mac marschierte mit dem Kleinstbiomaten Zepp über das Deck des UB 204. Am Heck angelangt, öffnete er die Turmklappe des Delphins. »Kommando Kanal 5«, sagte Mac. »Auf Abruf bereit zum Einsatz.« Die Scheinwerferaugen des kleinen Trabanten funkelten. »Zepp. Jetzt kommt Zepp. Auf Abruf bereit«, brabbelte er, stieg mit leisem Singen in die Luft, schlug einen Haken und verschwand im Luk des Delphins. Gleich darauf schloß sich die Klappe. Mac holte tief Atem. Verstohlen sah er noch einmal seine Tabelle durch. Klare Berechnungen aus dem Elektronengehirn der Steuerzentrale von Latauko. Er hatte sie präzis weitergegeben. Jetzt mußte sich die vom Menschen geschaffene Macht der Kybernetik zeigen.
Mac dachte an einen klugen Hinweis seines Lehrmeisters Ferrari: »In außergewöhnlichen Situationen ist der Biomat dem Menschen vorzuziehen. In unserer Zeit setzen wir kein Lebewesen unnötig einer Gefahr aus. Der Biomat wird zum technischen Ich. Er braucht keine Luft zum Atmen, kennt keine Furcht und keine Aufregung. Er löst die Aufgaben, die für unser Sein ein Risiko bedeuten würden.« Zepp mußte Cabiria retten. Die Jungen zogen die Schutzkleidung an. Dann hieß Mac den Freund am Steuerpult vor den Monitoren Platz nehmen. Er selbst ging in den danebenliegenden Kommandoraum. UB 204 begann leise zu vibrieren, manövrierte aus der Bucht und näherte sich mit dem Bug dem Delphin. Jens drückte den Hebel der Fangvorrichtung. Auf dem Monitor war das Aufschwingen der Bodenklappe zu erkennen. Dann schwamm mit einem Wasserstrudel die Konstruktion Mac Bluffkes in den Rumpf des Tauchbootes. UB 204 glitt durch die Halle. Automatisch sprang ein Tor auf. Der stählerne Hai raste in den Hauptkanal. Jens schaltete das Beobachtungsgerät ein und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Weit vorn war jetzt der Tunnel zu erkennen, wie in strahlendes Licht getaucht. Mac reichte aus dem Nebenraum eine Skizze des Fahrtenschreibers. Sie glitten in die Tiefe. Nach zwanzig Minuten erreichte UB 204 den ersten Lift. Ein mächtiges Bassin nahm sie auf. Dann schwebten sie in einem Schacht fünfhundert Meter abwärts. Wieder tat sich ein Tor auf, und sie fuhren durch eine schmale Rinne zwischen wartenden Tauchbooten. Backbord lagen reglos leere Frachter, steuerbord harrten vollbeladene Boote auf die Weiterfahrt. Sie hatten rote Warnlichter gesetzt. Der Schlauch schien endlos zu sein. Jens musterte bedrückt die ungeheure Maschinerie, die der Mensch zur Reglosigkeit verurteilt hatte und die auf des Menschen Hand wartete, um sich wieder in den endlosen Kreislauf der Arbeit und des Aufbaus einreihen zu können. Er schaute in den Nebenraum, in dem Mac wachsam vor seinem Kommandopult saß.
»Achtung!« rief Mac in diesem Moment. »Wir stoßen in den Stollen Cabiria vor. Setz die Schutzmaske auf. Wir bleiben in tausend Meter Entfernung. UB 204 ist durch den Wasserschild geschützt. Aber Vorsicht ist besser. Ich übernehme von hier aus das Kommando über das Boot. Laß also die Finger von den Kontakten.« Jens gehorchte schweigend. Mac war der Kapitän, war nicht zu schlagen. Jens blickte nach Anlegen der Schutzmaske zur Seite. Er sah in Mac sein Spiegelbild. Die graue Kombination war vom Fuß bis zum Kopf geschlossen. Mit dem Maskenhelm sah Mac aus wie ein Kosmonaut. Plötzlich schwiegen die Vibrationslaute. UB 204 lag wie ein Hai auf der Lauer. Das Beobachtungsgerät zeigte einen schmalen Schlund, der sich zu einem Trichter verengte. Backbord war ein Tunnel, aus dem das Heck eines Frachttauchbootes ragte. Eine Tunnelöffnung an Steuerbordseite zeigte den Bug solch eines Riesen. Rot blinkten die Warnlichter. Jens hörte die Stimme des Kameraden. »Achtung, Zepp! Zepp! Kommando Kanal 5. Einsatz Rohrschieber Cabiria. Verriegelung in Gang setzen. Ab.« Zischend jagte Preßluft durch den Zylinder. Und der Delphin sauste wie ein Torpedo aus dem Rumpf des UB 204 und glitt in die Tiefe des Trichters.
29. KAPITEL Zepp rettet Cabiria Die Beratung im Arbeitszimmer Fernand Witschs endete mit folgenden Beschlüssen: Kleinsttauchboot und Liliputbiomat hatten in zwei Stunden einsatzbereit zu sein. Dann sollte ein Vorstoß in den Stollen C gewagt werden. Bis zur Behebung des Schadens blieb der Unterwasserfrachtverkehr unterbrochen. Mißglückte die Aktion, war der Hauptschieber vorzuziehen, der unterirdische Vulkan zu schließen und die Arbeit im Kraftwerk vorläufig einzustellen. Fernand Witsch erhob sich. »Jeder bleibt auf seinem Posten«, sagte er. »In einer Stunde wird eine Geologenkommission aus der Stadt der Wissenschaftler eintreffen und mit Spezialgeräten die Zusammensetzung der Vulkangase prüfen. Von ihrer Entscheidung hängt alles Weitere ab. Chefkoordinator Lutz Dietrich wird die Experten begleiten. Besondere Verantwortung trägt in diesem Augenblick Giuseppe Ferrari. Er hat über die Totalsperre des Unterwasserstraßennetzes zu wachen.« Ferrari nickte. Er verließ als erster den Raum. Der Hubschrauber trug ihn nach Latauko zurück. Im Glasbau seiner Kommandozentrale entdeckte Giuseppe Ferrari zunächst nichts Außergewöhnliches. Susanna saß aufmerksam vor dem Bildschirm des Koordinationsgerätes. Überall herrschte peinliche Ordnung. Der Leitingenieur kontrollierte die Regelgeräte und Fahrstraßenblokkierungen. Auch hier schien alles so zu sein, wie er es verlassen hatte. Trotzdem betätigte er noch einmal die Schieber. In diesem Moment erlosch das rote Licht auf der wichtigsten Sperrstrecke zum Stollen Cabiria. Erschrocken wartete Ferrari auf das grüne Freizeichen. Aber auch das grüne Freizeichen erschien nicht. Die Anlage war tot. Jetzt sah er, daß ein elektronisches Bauteilchen entfernt worden war. »Wo ist Mac?« fragte er die arglose Susanna. Das Mädchen hob die Schultern. »Als ich zurückkam, war er mit seinem Freund verschwunden.« »Freund? Was für ein Freund?«
»Jens Dietrich«, sagte Susanna. »Übrigens ist auch Zepp verschwunden.« Was wollte Mac mit dem Bauteil? dachte Ferrari beunruhigt. Hatte er die Strecke noch einmal zu sichern versucht? Was für ein Spiel trieben in diesem Moment die Jungen? Wo waren die beiden überhaupt? Weshalb hatten sie Zepp mitgenommen? Hatten sie sich zur Inselplattform begeben? Ferrari stellte eine Verbindung mit dem wachenden Biomaten von Latauko her. »Hier ist Samuel 4«, meldete sich der Biomat schnarrend. »UB 204 mit Delphin und Kleinstbiomaten in den Hauptkanal und zum Stollen Cabiria vorgedrungen. Leitung Mac Bluffke. Schalte Kanalbeobachtungsgerät auf Sendung.« »Das ist doch nicht möglich«, flüsterte Giuseppe Ferrari. »Zwei Bambini im Stollen?« »Rettungsmannschaft alarmieren«, rief er Susanna zu. »Spezialtauchboot. Unterwassersuchausrüstung. Drei Tauchbiomaten. Und Professor Sandler in der Stadtklinik benachrichtigen. Keine Fragen. Keinen Kommentar. In fünf Minuten muß alles einsatzbereit sein.« Susanna hatte verstanden. Sie begann mit aufgeregter Stimme zu telefonieren. In diesem Moment sandte das Koordinationsgerät einen pfeifenden Signalton. Streifen flimmerten über die Mattscheibe und zogen sich zu einem Bild zusammen: Delphin lag vor der Verladerampe von Cabiria. Sein Turm ragte aus dem Wasser. Das Ausstiegsluk öffnete sich. Und dann schwebte geisterhaft Zepp durch das Gewölbe. Seine Scheinwerferaugen leuchteten. Die Antennen spielten unruhig hin und her. Zepp glitt dicht über der Wasseroberfläche dahin. Ab und zu wurde der kleine Körper von Gaswolken umhüllt. Aber immer wieder tauchte Zepp auf und setzte seinen Weg fort, schnurgerade auf einen blinkenden Punkt über dem Schacht zu. Aus der Öffnung in der Rohrleitung stieg eine Rauchsäule. Sie wogte in das Gewölbe hinein. Mit einem Mal war Zepp verschwunden. Ferrari stöhnte. Bambini, dachte er, worauf habe ich mich mit euch eingelassen? Wo mag UB 204 sein? Was ist aus den Jungen geworden?
Die Aufforderung seines Administrators kam Ferrari in den Sinn: »…er hat über die Totalsperre des Unterwasserstraßennetzes zu wachen.« Über den Schirm des Koordinationsgerätes zogen Wolken und Dämpfe. Was mochte sich hinter ihrem Rauchschleier abspielen? Ein Biomat riß den Leitingenieur aus seinen Gedanken. »Samuel 1, 2 und 3, SUB 27 bereit«, schnarrte er. »Lassen Sie niemand in die Zentrale«, rief Ferrari seiner Mitarbeiterin zu. Dann trat er zum Paternoster und fuhr mit dem Biomaten nach unten. SUB 27 war ein tiefliegendes Boot mit einer weitreichenden, jetzt aber eingezogenen Greiferanlage am Bug, einer magnetischen Fangvorrichtung und einem Schleppgerät am Heck. Das Deck des Tauchbootes war wie eine Tischplatte und nach allen Seiten abgeschrägt. SUB 27 wurde extrem flach gebaut, um fähig zu sein, unter manövrierunfähige Boote zu gleiten und die hilflosen Fahrzeuge davonzutragen. Giuseppe Ferrari dirigierte die Biomaten an die drei Ausstoßrohre. Dann schaltete er die Antriebsanlage ein und raste mit SUB 27 in den Hauptkanal. Über ein großflächiges Bildempfangsgerät stellte Ferrari die Verbindung mit Susanna her. »Professor Sandler ist bereit«, sagte sie. »Ein Ambulanzboot ist soeben eingetroffen. Soll ich Sie jetzt mit dem Administrator verbinden?« »Ja«, sagte Ferrari. »Ich gehe auf Empfang.« SUB 27 lief gerade in das Tauchbassin und glitt fünfhundert Meter in die Tiefe. Der Leitingenieur konzentrierte sich auf das Geschehen im Senk- und Hebewerk. Sein Blick verfolgte die Tiefenangaben. Zweihundert Meter, dreihundert Meter, vierhundert Meter… In diesem Moment erschien der Kopf von Fernand Witsch auf dem Bildschirm. Ferrari setzte zu einer Erklärung an. Aber der Administrator fiel ihm ins Wort, seine Augen strahlten. »Gratuliere, Giuseppe. Die Abriegelung ist geglückt. War eine großartige Idee von dir, den Delphin und Zepp einzusetzen. Eine genial einfache Lösung.« Ferrari schnappte nach Luft. »Mamma mia…«
Witsch fuhr fort: »Solch ein Fall ist natürlich keine Disziplinlosigkeit. Wenn ein erfahrener Spezialist die Sache in die Hand nimmt, haben selbst Administratoren zu schweigen…« Die Fünfhundertmetermarke leuchtete auf. »Wie ich sehe, kommst du bereits zurück«, sagte Fernand Witsch. »Wir werden dir einen großen Empfang bereiten. Eine Krönung deiner Arbeit in Futuria, mein Lieber. Jetzt werden wir dich noch schwerer nach Tokelau zu deiner Algenfabrik ziehen lassen.« Ferrari schrie: »Hör mich doch endlich einmal an…« Aber der Kopf des Administrators war schon vom Bildschirm verschwunden. Susanna erschien auf dem Gerät. Sie setzte zum Sprechen an. Aber Ferrari schaltete sich aus dem Empfang heraus. SUB 27 glitt aus dem Bassin. Der Leitingenieur drehte den Tourenschalter auf volle Fahrt. Dann ließ er das Boot, ungeachtet der immer dichter an die schmale Fahrrinne heranrückenden Frachter, durch das Wasser rasen. Der Laserstrahl des Beobachters tastete weit voraus in die Dunkelheit. Und plötzlich war auf der Bildröhre der silbrige Rumpf von UB 204 zu sehen. In langsamer Fahrt trieb das Boot mit dem Heck auf den Spezialtaucher zu. »Achtung, Achtung UB 204«, rief Ferrari in sein Mikrophon. »Achtung, Mac, hörst du mich? Hier ist Ferrari auf SUB 27. Zur Hilfe bereit.« Er verminderte die Geschwindigkeit, weil er nur noch knapp zweitausend Meter von dem Tauchboot entfernt war, und lauschte gespannt. Eine dumpfe Stimme ertönte aus dem Empfangsgerät. »Hallo SUB 27. Alles in Ordnung. Brauchen keine Hilfe…« Plötzlich war die Stimme ganz hell. »Hier ist Mac, Giuseppe. Mac und Jens sind hier. Und Zepp. Zepp rettete Cabiria.«
30. KAPITEL Abschied von Futuria Das Zimmer war in Dämmerung gehüllt. Matte Farben ließen die Wände zurücktreten. Aus unbestimmter Richtung klang das Murmeln eines Baches, das Rauschen eines Waldes, Wind, der nur leicht die Blätter bewegte. Gähnen, wohlige Müdigkeit, Schlaf kamen den Menschen an, der sich Professor Sandlers Schlaftherapie unterzog. Die gegen ihren Willen in dieses Zimmer verfrachteten Schicksalszwillinge, Mac Bluffke und Jens Dietrich, waren kurz nach ihrem Abenteuer in tiefen Schlummer gesunken. Sie hatten drei Tage und vier Nächte geschlafen. Zwischendurch wurden sie kurz geweckt, aßen und tranken halb im Traum. Und wieder griff mit Bächleinmurmeln und Blätterrauschen der Sandmann nach ihnen und entführte sie in sein Reich. Professor Sandler hatte keine Erkrankungen konstatiert, aber eine Schockwirkung befürchtet. Für angegriffene Nerven und ein aufgeregtes Gemüt kannte er als wirksamstes Heilmittel den Schlaf. Der Professor hielt nichts von Drogen und Beruhigungsmitteln, von Pillen und Tabletten. Seinem kategorischen Spruch mußten sich auch die jüngsten Helden von Futuria beugen: »Liegen, ruhen und erquicken.« Aber nun waren drei Tage verschlafen und vier Nächte verträumt. Für die beiden Jungen hatten alle Bäche der Welt zu murmeln und alle Bäume der schönen Erde zu rauschen aufgehört. Jens und Mac hockten mit angezogenen Knien auf ihren Betten. Sie fühlten so viel Kraft in ihren Gliedern, um jeden Rekord von Leistungssportlern zu brechen. »Ich glaube, ich werde nie wieder in meinem Leben schlafen können«, sagte Mac, hüpfte vom Bett und in die Kniebeuge, beide Arme weit vorgestreckt. Jens machte einen Kopfstand auf seiner Liege und verharrte in dieser Stellung. »Hast du etwas vergessen von unserer Aktion?« fragte er. »Ich erinnere mich an jedes Detail. Mir kommt es vor, als wäre ich eben erst aus UB 204 ausgestiegen.«
»Genauso«, sagte Mac, der sich aufgerichtet hatte, den Brustkasten wölbte, das Kreuz hohl machte und dann mit einem Schwung den Salto rückwärts sprang. Jens blieb in der Yogistellung und philosophierte vor sich hin. »Fernand Witsch machte ein entgeistertes Gesicht, als uns Ferrari den gerade an ihn überreichten Blumenstrauß gab. Armer Giuseppe, er wird es bei aller Freude nicht leicht gehabt haben. Und das Gesicht von unserem Direktor hätte ich sehen mögen.« Mac marschierte im Handstand durch das Zimmer und rief: »Der größte Spaß für mich war, als sie alle Jagd nach Zepp machten. Selbst die Biomaten bekamen ihn nicht zu fassen, bis schließlich der Professor seinen Kittel nach ihm warf.« Sie lachten, bis ein drittes Lachen mitlachte. Professor Sandler stand im Zimmer. »Kommen Sie rein, Ferrari«, rief er durch die offenstehende Tür. »Ihre Helden liegen nicht mit dicken Köpfen in tiefem Schlummer, sondern benutzen mein Behandlungszimmer als Turnhalle.« Ferrari kniff die Augen zusammen und versuchte, sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. »Anziehen«, kommandierte Sandler. »Wir warten vor der Tür. Es gibt ein Festessen.« Er schob Ferrari aus dem Zimmer. »Schon Sonntag?« fragte Mac nachdenklich. Jens nickte. Kaum waren sie aus dem Zimmer und auf den Flur getreten, sagte Mac schon zu Giuseppe Ferrari: »Maestro, kann ich für die nächsten vier Wochen bei Ihnen auf Latauko bleiben?« Ferrari blickte seinen Schüler gerührt an. »Es ist aus mit Maestro«, sagte Professor Sandler kühl. »Giuseppe Ferrari verläßt Futuria. Es ist ihm zu unruhig hier.« Vor der Klinik wartete ein schnittiger Wagen. Die beiden Jungen stiegen wortlos ein. »Fachschule für technisch-wissenschaftliche Kenntnisse«, kommandierte Ferrari dem elektronischen Piloten. Jens horchte verwundert auf. Ein Gebäude dieses Namens war ihm bisher in Futuria nicht bekannt. Aber er schenkte sich die Frage, zumal sich Mac nicht äußerte.
Der schnelle Wagen hielt plötzlich. Die Jungen folgten Ferraris Aufforderung, kletterten ins Freie und blieben überrascht stehen. Zuerst sahen sie nur die vielen Menschen, dann erkannten sie ihre Kameraden, die ihnen zuwinkten. Ein Hund bellte, und als Mac sich umblickte, sah er seinen Vater. »Siehst du die Schule?« Jens tippte den Freund mit dem Ellenbogen an. Erst jetzt bemerkte Mac den gläsernen Flachbau, der fast den ganzen Hügel einnahm. Auf dem Dach drehte sich ein Globus. Eine rote Fahne bauschte sich im Sommerwind. Auf dem Tuch zeigte sich das Emblem der Stadtrepublik »Wissenschaft beginnt mit 13«:: Weltkugel und aufgeschlagenes Buch. Nun aber sahen beide Jungen Frank Gabel vor dem Eingang stehen. Der reckte sich und winkte ihnen, in das Karree zu treten, das die Schüler bildeten. Sie blieben in der Mitte des Platzes stehen, wenige Meter von ihrem Direktor entfernt. Jens sah seine Lehrer. Dann erblickte er, hochgewachsen und sportlich, eine gewichtige Persönlichkeit, seinen Vater. Neben Lutz Dietrich stand Maika Svenson. Sie winkte ihrem Sohn zu. Frank Gabel begann zu sprechen, kaum daß die Musik geendet hatte. »Hier ist euer neues Haus, liebe Schüler«, sagte er und zeigte auf den Flachbau. »Die Gruppen für wissenschaftlich-technische Kenntnisse werden künftig in Futuria ihre Schulzeit beenden. Für euch wurde die moderne Welt geschaffen. Hier ist der Platz, von dem aus ihr sie erobern werdet. Euer Praktikum in Futuria hat gezeigt, daß jeder von euch die Voraussetzungen in sich trägt, vor den Anforderungen der Zeit zu bestehen. Kluge Köpfe und goldene Hände werden gebraucht. Futuria, die Stadt der Zukunft, braucht Helden, die mit Siegerwimpel den Weg des menschlichen Fortschritts zeichnen.« Der Direktor machte eine kleine Pause, trat auf Jens und Mac zu, legte ihnen die Hände mit der Geste eines Freundes auf die Schulter und lächelte dabei. Er sagte: »Mit einer besonderen Tat haben sich die Schüler Jens Dietrich und Mac Bluffke in das gerade begonnene Geschichtsbuch der Stadt Futuria eingezeichnet. Wir wollen stolz auf sie sein.« Lärm brach los, Beifall erklang.
»Ich mach's kurz«, sagte Frank Gabel. »Besondere Taten verdienen auch in unserer Zeit ihre Auszeichnung. Jungens, ihr reist mit Giuseppe Ferrari nach Latauko.« Stille. Na ja, dachte Jens, Latauko ist gleich um die Ecke, trotzdem ist der Vorschlag Klasse. Wir dürfen bei Giuseppe bleiben. Mac strahlte. Mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, freute er sich. Nun aber trat Giuseppe Ferrari mit raschem Schritt aus dem Kreis der Wartenden und ging auf den Direktor zu. Er beugte sich an sein Ohr und flüsterte ihm etwas zu. Direktor Gabel zog sein Taschentuch hervor und tupfte sich erregt das Gesicht. »Entschuldigt, Freunde, die Aufregung… Tokelau meine ich natürlich«, rief er mit heller Stimme. »Für vier Wochen nach Tokelau, in der Südsee, meine ich. Dort entsteht unter Leitung unseres verehrten Giuseppe Ferrari die größte Algenfarm des Pazifik.« »Mit UB 204 nach Tokelau«, rief Heinrich Schorr überwältigt. »Glückskinder. Gratuliere.« »Ferrari«, rief in diesem Moment der Chefkoordinator Lutz Dietrich und wies auf die Tür des Schulgebäudes. Dort huschte nicht ein Zepp, sondern schwebten zwei, drei, vier schwarzweißkarierte Luftkissenfahrzeuge ins Freie. Mit Ferrari starrten die Versammelten auf die wendigen, kleinen Gesellen. In die Stille hinein sagte Lutz Dietrich: »Drei bleiben in Futuria, auf Weisung des Rates der Wissenschaftler. Einer ist zum Aussuchen als Abschiedsgeschenk für unseren tüchtigen Spezialisten Giuseppe Ferrari.« »Wo ist der Stammvater der drei Neulinge?« flüsterte Ferrari begeistert. »Den brauche ich. Keinen anderen will ich haben. Wo ist Zepp?« In diesem Moment leuchteten zwei Scheinwerfer auf. Und ein Trabant huschte auf Ferrari zu. »Zepp, Zepp«, brabbelte er. »Hier ist Zepp.«