(HEYNE-ANTHOLOGIEN»)
HEXEN STORIES Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM H E Y N E VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-ANTHOLOGIE...
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(HEYNE-ANTHOLOGIEN»)
HEXEN STORIES Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM H E Y N E VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-ANTHOLOGIEN Band 37
Inhalt Dorothy Quick Bund mit dem Satan (TWO FOR A BARGAIN)
Seite 7
COPYRIGHT: BUND MIT DEM SATAN (Two For A Bargain) von Dorothy Quick: Street & Smith; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch DIE ROTHAARIGE von Hans Kneifel: Wilhelm Heyne Verlag und Autor DAS ELIXIER (The Elixier) von Jane Rice: Unknown Worids; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch DIE KRUMME JANET (Thrawn Janet) von Robert Louis Stevenson: Wilhelm Heyne Verlag; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch HEXENHAMMER von Ernst Vicek: Wilhelm Heyne Verlag DAS AMULETT (The Amulet)) von Gordon R. Dickson: The Magazine of Fantasy & Science Fiction; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch DAS HEXENEI (Hatchery Of Dreams) von Fritz Leiber: 1961 by Zirf Davis Publishing Company; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch •
DIE GALGENPUPPE von Hubert Straßl: Wilhelm Heyne Verlag
MEINE HEKATE (My Darling Hecate) von Wyrnan Guin: 1953 by Galaxy Publishing Company; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch NICHTS IST UMSONST (Capital Expenditure) von Fletcher Pratt: 1953 by Future Publications, Inc.; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch DIE HEXE (The Witch) von A. E. van Vogt: A. E. van Vogt; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch Copyright © 1973 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag München Printed in Belgium 1973 Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Gerard & Cie, Verviers
Hans Kneifel Die Rothaarige Seite 55 Jane Rice Das Elixier (THE ELIXIR)
Seite 6l Robert Louis Stevenson Die krumme Janet (THRAWN JANET) Seite 91 Ernst Vkek Hexenhammer Seite 105 Gordon R. Dickson Das Amulett (THE AMULET)
Seite 127 Fritz Leiber Das Hexenei (HATCHERY OF DREAMS)
Seite 145
Hubert Straßl Die Galgenpuppe Seite 161 Wyman Guin Meine Hekate
Bund. mit dem Satan \ von ' Dorothy Quick
(MY DARLING HECATE)
Seite 171
Hetcher Pratt Nichts ist umsonst (CAPITAL EXPENDITURE)
Seite 191
A. £. van Vogt Die Hexe (THE WITCH) 251
Ich sah die aus Flicken zusammengesetzte Bettdecke an. Sie verwandelte das altmodische Himmelbett in ein glanzvolles Ding, würdig eines Königs. Die verschiedenfarbigen Materialien schimmerten im Schein meiner Nachttischlampe, und die merkwürdige, runenartige Stickerei, welche die Flicken zusammenhielt, glänzte wie Sonnenlicht auf bewegtem Wasser. Man mochte nicht glauben, daß etwas so Schönes düstere Dinge bergen konnte. ; Und doch hatte mir Tante Amabel sonderbare Geschichten über sie erzählt; daß eine Hexe sie gemacht habe und daß man durch jeden Flikj ken in die Vergangenheit zurückverS setzt werden könne, um noch einmal i die Geschichte des Menschen zu ' durchleben, der mit diesem besondei2 ren Material in Verbindung gestanH den hatte. »* Ich war immer noch skeptisch, obwohl ich eines Nachts im Schlafe die Hand auf ein blausilbernes Brokatstück gelegt hatte und durch den Raum in einen unheimlichen und schrecklichen Teil der französischen
Geschichte geschleudert worden war. Später ging ich sogar noch weiter zurück, nach Babylon, zu unheimlichen Ereignissen, die ich in einem früheren Leben durchgemacht hatte; was zumindest für mich der Beweis war,, daß es so etwas wie die Wiedergeburt gab. Ich betrachtete die Decke. Sie sah harmlos genug aus, und doch schien die Stickerei etwas aussagen zu wollen. Und als ich die goldenen Fäden berührte, war es, als berührte ich etwas Lebendiges. Nach Tante Amabel hatte ein Mann mit der Hand auf einem der Flicken geschlafen, und am nächsten Morgen war er wahnsinnig gewesen. Nach ihrem Dienstmädchen, Hester, hatte eine Frau mit der Hand auf einem der Flicken geschlafen und war arn nächsten Morgen tot gewesen! Weder Tante Amabel noch Hester wußten, welcher Flicken Wahnsinn und welcher Vernichtung brachte, aber sie baten mich inständig, kein Risiko einzugehen und die Decke nicht mehr zu benutzen.
DOROTHY QUICK
Aber ich mußte es tun. Ich glaubte nicht, daß es einen Flicken gab, dessen Geschichte für mich entweder Wahnsinn oder Tod enthalten würde, doch es war ein seltsames, dreieckiges Stück aus einem pergamentähnlichen Material da, das wie Menschenhaut aussah. Ich mußte wissen, was es war - welche Geschichte es beinhaltete —, und meine Neugier war stärker als meine Furcht. Außerdem wollte ich, mehr als alles andere in der Welt, erfahren, ob ich in einem Abenteuer noch einmal den Mann wiedersehen würde, dem ich mich in meiner letzten Vision für alle Zeiten versprochen hatte. Ich kletterte in das hohe Bett, ließ mich tief in die Decken sinken und zog sie bis an den Hals herauf, denn die schottische Luft, die von den Mooren hereindrang, war sehr kalt. Dann suchte ich den Flicken, auf den ich es abgesehen hatte - diesen harten, ledrigen Flicken, der wie Menschenhaut aussah —, und legte meine linke Hand darauf. Ich zuckte ein wenig zusammen, denn es war, als berührte ich eine andere Hand. Dann machte ich schnell, bevor ich mich anders entschließen würde, das Licht aus. Ich wartete im Dunkel, die Hand auf dem Flicken, die Gedanken sonderbar wach. Ich wollte einschlafen, damit das Abenteuer beginnen konnte - wenn es überhaupt eines gab -, aber nichts geschah. Nur die kalte
Luft war da, die mir ums Gesicht blies, und das seltsame Gefühl, daß meine Hand auf einer anderen Hand ruhte, ein Gefühl, das auch durch angestrengte Bemühungen der Logik nicht verschwinden wollte. Plötzlich erkannte ich, daß ich nicht mehr den Flicken festhielt, der wie Menschenhaut aussah. Statt dessen berührte meine Hand tatsächlich Haut, echte Haut - eine andere Hand! Wieder einmal hatte ein Abenteuer der Flickendecke begonnen. Ich sah herunter auf zwei Hände mit dünnen, nervösen Fingern, die sich ineinander verschränkten. Es waren die abstoßendsten Hände, die ich je gesehen hatte, leichenähnlich, mit langen spitzen Nägeln, die sich am Ende wie Vogelkrallen krümmten. Bis dahin hatte ich wohl einige schaurige Ereignisse durchlebt, aber die Körper, in denen der Geist von Alice Strand - mein Geist - durch den Zauber der Flickendecke gefangen gewesen war, hatten anziehend gewirkt. Nachdem ich diese abstoßenden Hände betrachtet hatte, wußte ich, daß das diesmal nicht so sein konnte. Ich hatte Angst, die Person, in der ich nun wohnte, ganz zu sehen. Es war eine Frau. Das erkannte ich an der weißen Schürze und dem weiten schwarzen Wollrock, der um die mageren Knöchel fiel, und an dem Leibchen aus dem gleichen Material.
BUND MIT DEM SATAN
her ich konnte nicht sehen, wie alt sie war und von welchem Typ. Die Frau stand am Rand eines Waldes. Überall um sie und hinter ihr ragten hohe Bäume von undurchdringlicher Schwärze auf. Schwarz gekleidet, wie sie war, mußte sie nahezu unsichtbar sein, wie sie so mit den Schatten verschmolz. Vor ihr lagen Felder im Sonnenschein da; etwas entfernt stand ein Steinbrunnen mit Stufen, die über ihn hinweg- und auf der anderen Seite hinunterführten. Ich hatte noch nie einen so scharfen Gegensatz zwischen Dunkelheit und Licht gesehen - die hellen, bebauten Felder und die dunklen, drohenden Wälder. Ich fragte mich, ob der Tod so sein konnte - von der Dunkelheit ins Licht tretend. In diesem Augenblick begann die Frau vor sich hinzumurmeln. »Er wird kommen - er wird kommen.« Ihre Stimme klang jung. Vielleicht war es gar keine Frau, vielleicht war ..tes ein junges Mädchen. Die Hände f'1- diese abstoßenden Hände - gaben •j4jkeinerlei Hinweis auf ihr Alter. Die ^yiaut war fest, faltenlos. Jetzt sehn?'|e sich meine Neugier nach einem »ppiegel. Wenn ich einen Spiegel hätl'ite, könnte ich mir einen Begriff von Bier Person machen, mit der ich nun Ijto eng verbunden war. Aber es gab •'keinen, und es war auch in der Nähe „„„.nichts, in dem man einen Wider||schein sehen konnte.
Ein fröhlicher Gesang erfüllte plötzlich die Stille. Eine Männerstimme, voll und weich, sang etwas von Liebe und Frühling und kündete damit sein Kommen an. Die Hände hörten auf, sich ineinander zu verflechten, und ich spürte eine wilde Freude durch die Adern strömen, die vorübergehend die meinen waren. Es schien merkwürdig, daß ich ihre Gedanken nicht lesen konnte, aber ich wußte von früheren Erfahrungen, daß ich es nicht konnte, außer zu den seltenen Gelegenheiten großer Gefühlsbelastung. Obwohl die Gefühle des Körpers, den ich bewohnte, die meinen waren, erkannte ich sie erst, wenn sie erlebt wurden. Ich verstand, daß die Frau - oder das Mädchen - voller Freude war. Ich nahm an, daß sie sich über die Ankunft des Sängers freute, aber ich wußte es erst, als sie rief: »Johan!« Jetzt sah ich einen Mann die Stufen des Brunnens hinaufkommen. Sein Kopf erschien zuerst, dann sein Körper, Stück für Stück, bis er schließlich auf der Brüstung stand und winkte. »Elsbeth, bist du hier?« »Ja, Johan, ja . . . hier am Waldrand.» Begierig die Stimme, begierig das Herz, das heftig in ihrem Busen schlug. Johan eilte die Stufen hinunter und über das Feld. Er war auf eine helle nordische Weise verblüffend schön
DOROTHY QUICK
Lichtblondes Haar umgab seinen Kopf wie ein Helm und fiel ihm bis zu den Schultern herab; selbst auf die Entfernung waren seine Augen strahlend blau. Im alten Griechenland wäre er zweifelsohne ein Held der Olympischen Spiele gewesen - er hatte den perfekten Wuchs und die Muskeln dafür. Sein Mund war fest und freundlich, seine Nase gerade. . Er trug einen schlichten braunen Rock mit breitem Kragen und weißen Manschetten. Seine Beine steckten in gestrickten Strümpfen, die Schuhe hatten Silberschnallen, und der Hut, den er in der Hand trug, hatte eine breite Krempe und vorne ebenfalls eine Silberschnalle. Die ganze Kleidung kam mir merkwürdig bekannt vor. Ich hatte sie schon oft gesehen - in den Zeitungen und auf Karten zum Erntedankfest. Einer der Pilgerväter stand leibhaftig vor mir. Ich war in Amerika zur Zeit seiner Anfänge. Der Mann kam näher. »Guten Tag, Elsbeth Farquar. Ich grüße Euch im Namen Unseres Herrn.« »Wie ich Euch, Johan Rider.« »Kommt aus dem Dunkel, denn ich kann Euch kaum sehen, und ich habe viel zu erzählen.« Erschauernd ging Elsbeth auf ihn zu und hielt die Hände unter die Schürze. Es war klar, daß sie um die Häßlichkeit ihrer Hände wußte.
Als sie ein Stück näher gekommen war, warf er sich ins Gras und winkte ihr, sich neben ihn zu setzen. »Elsbeth, erinnerst du dich, wovon ich das letzte Mal sprach?« Elsbeths Herz schlug schneller, so wie die Flügel einer Motte schneller flattern, wenn sie gegen das Licht fliegen. »Ich erinnere mich.« Johan wartete, bis sie neben ihm saß, und legte dann den Kopf auf den Arm. »Nun, freue dich mit mir. Die Ältesten haben beschlossen, daß ich ins heiratsfähige Alter gekommen bin, und haben ihre Einwilligung gegeben, daß ich mir ein Weib nehme.« »Oh, Johan . . . Johan!« Elsbeths Stimme zitterte vor Erregung. »Ich wußte, daß du dich für mich freuen würdest, Elsbeth, aber ich hatte keine Ahnung, daß es dich so stark berühren würde.« Johans Stimme war klar und ruhig wie ein Waldweiher. »Nun mußt du mir Gottes Segen für meine Reise nach Boston wünschen.« '•'• ' " • »Nach Boston?« rief sie. »Wesh^dÜ gehst du dorthin?« , ' »Wozu sonst, als um die Hand Von Priscilla Damen anzuhalten und sie als mein Weib nach Anesfield heimzuholen?« i; Wenn jedes Wort ein Messer in Elsbeths Herz getrieben hätte, so
BUND MIT DEM SATAN
väre die Wirkung nicht verheerender gewesen. »Dein Weib?« murmelte sie'. »Aber es kann nicht sein, daß ich recht höre. Du scherzst nur um mich zu hänseln.« Johan war überrascht. »Weshalb sollte ich das, Elsbeth? Ich wollte, daß du als erste von der Verwirklichung meiner Träume hörst, so wie du als erste die Träume selbst gehört hast.« Beinahe wie in Trance rief Elsbeth: »Aber ich dachte - ich dachte, du hast mir diese Träume erzählt, weil ich zu ihnen gehörte ... weil ich es war, die —« Sie unterbrach sich abrupt. Johan begann zu lachen. »Du dachtest, daß ich dich liebte? Daß ich dich heiraten würde? Oh, gewiß nicht. Hast du noch nie in deinen Spiegel geblickt?« Er ' lachte und i lachte. »Jetzt scherzst du, Elsbeth, und es ist ein köstlicher Scherz.« »Es ist ein Scherz, aber nicht so, wie du denkst, Johan. Der Scherz ist mit keiner als mit Elsbeth Farquar getrieben worden. Es ist ein Scherz, daß ich dachte, du liebst mich, weil du freundlich zu mir warst und nicht | .Wie die anderen meine Häßlichkeit verspottet hast.« Sie lachte - aber ihr Lachen war schrill und fast wie im Wahnsinn. »Ich war eine Närrin, und doch - und doch - du warst so freundlich zu mir . . .« Sie vergrub ;i das Gesicht in den Händen.
Johan hörte zu lachen auf. »Wirklich, Elsbeth, ich wollte d nicht wehtun. Du warst meine Freu din - und ich ahnte nicht, daß d anders denken könntest. Ich erzähl dir alle meine Gedanken, aber kam mir nicht in den Sinn, daß es persönlich nehmen würdest, we ich von Liebe sprach . . . ebensow nig ahnte ich, daß du überhaupt Liebe denken könntest. Du schien immer zu verstehen, daß du -« unterbrach sich, da er sie nicht no mehr verletzen wollte. Elsbeth nahm die Hände vom G sicht. Langsam, besonnen sprach si »Du dachtest, weil ich so häßlich b würde ich nicht von Liebe träum Nun, ich hätte es nicht getan, d an dem Tag, als der Junge von R nail mich verspottete und du i einen Klaps gabst und sagtest, Sch heit käme von innen und nicht außen, da dachte ich, daß du Hülle dieses hassenswerten Körp durchdrungen und meine Seele sehen hättest, wie sie in Liebe zu erstrahlte. Es schien zu schön, wahr zu sein, doch dann suchtest mich auf und sprachst mit mir, ich glaubte, du seist nicht so wie anderen. Ich betete dich an, und jedemmal, da wir uns trafen, li ich dich noch mehr. Wenn du Leute schaltest, die sich über m lustig machten, hätte ich dir Füße mit meinem Haar troc
DOROTHY QUICK
mögen. Und nun erzählst du mir, daß alles nur Freundschaft war Mitleid - keine Liebe . . . und daß ich gewußt haben müßte, es könne keine Liebe sein, wenn ich nur einen Blick in den Spiegel geworfen hätte!« »Ganz bestimmt, Elsbeth, es tut mir leid.« »Ganz bestimmt, es sollte dir leid tun. Und es wird dir noch sehr leid tun, dir und deiner schönen Braut aus Boston.« Sie warf den Kopf zurück, als sei sie eine Schlange, die sich zum Angriff bereit machte. »Geh jetzt, Johan Rider, und sprich nie wieder mit mir, außer du kommst, um meine Gnade zu erflehen.« »Bitte, Elsbeth, du bist überreizt.« Sowohl Johan als auch Elsbeth benutzten weiterhin das >Euch< und >Ihr< jener Zeit, aber ich ersetzte in Gedanken die Ausdrücke durch die vertrauteren Pronomen. Johan stand auf und streckte die Hand aus. »Ich möchte gern dein Freund bleiben, Elsbeth.« Sie schüttelte den Kopf. »Zwischen uns kann es keine Freundschaft geben. Ich liebte dich aus ganzem Herzen und aus ganzer Seele, aber jetzt liebe ich dich nicht mehr. Statt dessen hasse ich dich, Johan ja, ich hasse dich —, weil du mich als Prellbock zwischen deiner Einsam-keit und der Sehnsucht nach einem 12
anderen Mädchen ausgenützt hast. Du hattest Mitleid mit mir — ja —, und du warst freundlich zu mir, aber das geschah nur, weil du jemand brauchtest, mit dem du von Liebe reden konntest - ein verbotenes Thema in Salem, solange die Ältesten nicht ihre Zustimmung geben. Ich riskierte den Block, um mir deine Träume anzuhören. Ich war eine Närrin . . . eine häßliche Närrin. Aber jetzt bin ich es nicht mehr. Geh und hüte dich vor mir, Johan, denn es heißt, daß mit einer geschmähten Frau nicht zu spaßen ist. Ich werde mich an dir rächen und auch an jenen, die nur Häßlichkeit sehen. Ich werde euch allen zeigen, was wahre Häßlichkeit ist.« Johan redete eine Zeitlang auf sie ein, aber sie war unnachgiebig. Schließlich ging er zögernd, bestürzt über das, was er angerichtet hatte. Ihre Drohungen nahm er nicht allzu schwer - das stand deutlich in seinem Gesicht geschrieben -, aber es war ebenso deutlich, daß ihm das Vorgefallene ehrlich leid tat. Elsbeth beobachtete seinen Rückzug. Als er den Scheitelpunkt der Treppe erreicht hatte, drehte er sich um und winkte. Elsbeth erhob sich aus dem Gras, wo sie immer noch saß, wandte ihm den Rücken zu und ging mit ruhigen Schritten auf den Wald zu. Erst als sie den Schutz der Blätter erreicht hatte, floh sie hinter eine
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große Ulme. Endlich, als niemand mehr sie beobachten konnte, sah sie zurück. Die grünen Felder erstreckten sich in ihrer Lieblichkeit weithin über die Landschaft, aber in dem grünenden Reich war nirgends die Spur eines Menschen zu sehen. Johan Rider war fort. Elsbeth rannte tief in den Wald. Während des Laufens schüttelte ein trockenes Schluchzen ihren Körper, und ihre Nägel gruben sich tief in die Handflächen. Sie rannte, bis sie eine Lichtung erreichte, wo ein kleiner Teich das Funkeln des Sonnenlichts auffing und es in flüssiges Gold verwandelte. Sie sank auf das Moos daneben, stützte sich auf beide Ellbogen, legte das Gesicht in die Hände und sah unverwandt in das Kristallwasser. Sie hatte ihren Spiegel gefunden, und zum erstenmal sah ich ihr Gesicht. Noch nie in meinem Leben und noch nie in den Leben, die ich durch die Flickendecke nachempfunden hatte, , ^ar mir solche Häßlichkeit begegnet. Der Mund war groß wie der eines Clowns, mit einem komischen Aufwärtszucken in den Mundwinkeln. Neben ihrer Nase wäre die von Cyrano de Bergerac geradezu verschwunden. Sie war lang schmal und scharf, mit einem Höcker in der
Mitte und einem breit auslaufenden Ende, das nach oben gebogen war und vergrößerte Nasenlöcher zeigte. Ihr Kinn war spitz, ihre Wangenknochen hoch angesetzt. Die Haut selbst war fleckig und aufgedunsen. Ein dichter Schöpf drahtigen schwarzen Haars war unter eine weiße Leinenhaube geschoben, unter der es grob und dicht wieder hervorlugte. Nur ihre Augen waren schön - große, leidgeprüfte Brunnentiefen von kastanienbrauner Farbe -, aber sie verbargen sich halb unter buschigen Brauen und Wimpern von dem gleichen dichten, drahtigen Haar. Zum erstenmal verstand ich Johan. Es schien unglaublich, daß so ein Geschöpf auch nur einen Augenblick lang annehmen konnte, ein Mann würde in Liebe an sie denken. Ich hatte Johans Verhalten verurteilt, aber jetzt konnte ich das nicht mehr. Natürlich mußte er .gedacht haben, er könnte mit ihr frei über seine Träume und die Liebe sprechen, sicher in der Annahme, daß sie abseits von diesen Dingen stand, während sie - oh, es war mitleiderregend. Arme Elsbeth! Und sie war jung - jung mit einem Körper, um den sie Diana, die Mondgöttin, beneiden hätte können. Sicher hatten die Götter ihren Spott getrieben, als sie einen perfekten Leib nahmen und ihm einen Kopf und Gliedmaßen gaben, die Karikaturen 15
DOROTHY QUiCK
waren und nicht zu ihm paßten. Was für eine schreckliche Last für ein Mädchen, besonders in einer Zeit, wo es noch keine Schönheitssalons gab. Ich starrte weiterhin auf das Bild im Weiher und mußte zugeben, daß diesem Gesicht auch durch mo'derne Methoden nicht hätte geholfen werden können. Elsbeth erkannte es auch. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Keine Hoffnung - es gibt keine Hoffnung. Weshalb wurde ich so verflucht - weshalb? Habe ich nicht gebetet . . . gebetet? Gebete nützen nichts. Der Herr hat mich verlassen, gequält, betrogen. Für mich gibt es keine Hoffnung mehr im Gebet außer . ..« Sie sah ihre Hände an, und ein deutliches Bild zeichnete sich in ihrem Innern ab - ein kleines braunes Buch mit Eselsohren. »Ich habe es nach dem Tod meines Vaters in seiner Truhe gefunden«, flüsterte sie. »Die Hexenlitanei . . . nur einmal habe ich einen Blick hineingeworfen und es dann schnell weggelegt, aus Angst, eine Sünde zu begehen, aber es behauptete, Satan könne alle Dinge gewähren. Soviel sah ich noch, bevor ich es tief vergrub. Mein Vater war Gelehrter - er kannte geheime Lehren. Vielleicht hat das Buch recht. .Ich werde es studieren . . . Ich werde eine Hexe! Ja, hier und jetzt will ich zu Satan beten.« Sie unterbrach sich, entsetzt von ih-
ren eigenen Worten. Aber dann wurde sie von fester Entschlossenheit ergriffen. Sie benetzte ihr Gesicht, diese ekelerregenden Züge, mit Wasser aus dem Weiher. Dann kniete sie nieder und hob flehend die Hände. »Oh, Satan, Herr der Unterwelt, ich bete zu Dir und bitte Dich, mich in Deine Obhut zu nehmen, mir von Deinem Überfluß und Deiner Weisheit zu geben, so daß ich meine Feinde bezwingen kann - ja, damit Johan Rider stöhnend vor mir auf den Knien liegt und ich ein Nichts, weniger als ein Nichts, aus dieser Priscilla mache, die er liebt. Laß mich Rache nehmen an ihnen und allen anderen, die mich verspottet haben. Als Gegenleistung gebe ich für immer mein früheres Leben auf und weihe mich Dir, Herr und Satan, für jetzt und in alle Ewigkeit. Amen.« Anfangs war ihre Stimme leise und zögernd gewesen, aber gegen Ende war sie stark und trotzig, ohne Scham vor der Gotteslästerung. Nichts geschah - nichts. Die Sonne ergoß sich immer noch in den Weiher, und Elsbeth blieb unverändert. Sie wartete, offensichtlich gefaßt auf einen Blitzstrahl oder zumindest das Erscheinen von Luzifer selbst, aber nichts geschah. Sie beugte den Kopf zu Boden und schrie laut: »Satan, Satan, ich rufe Dich! Nimm meine Seele und mach mich dafür zu einer Hexe. Gewähre meinen Wunsch, auf
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daß ich dir für alle Zeiten dienen kann.« Immer und immer wieder rief sie. Dann wartete sie. Es geschah immer noch nichts. Endlich stand sie müde auf. »Vielleicht hat er es gar nicht gehört - oder vielleicht habe ich es falsch angepackt. Ich will heimgehen und das Buch zu Rate ziehen, denn ich muß eine Hexe werden . . . nein, ich bin eine Hexe.« Sie warf den Kopf stolz zurück, dann verließ sie langsam den Wald. Als Elsbeth sich dem Dorf näherte, .traf sie einen der Ältesten, der sie lächelnd grüßte. Sie neigte den Kopf. Höflichkeit gegenüber den Ältesten .war Gesetz, und sie hatte nicht den Wunsch, in der glühenden Sonne im Block zu sitzen. Zu ihrer Überraschung hielt der Älteste, Cyrus Finchley, sie an. »Guten Abend, Schwester, du warst -;? ^jwieder in den Wäldern.« '»Ja, Vater Finchley.« »Die Ältesten haben im Rat von dir gesprochen. Wir sind der Meinung, daß es nicht sicher für dich ist, dich so weit hinauszuwagen. Ja, bei einer anderen als dir hätten wir es längst verboten.« »Gewiß, Vater, mein Gesicht ist mein Schutz.« Als Elsbeth diese Worte sagte, keuchte sie. Noch ein paar Stunden zuvor wäre sie lieber gestor-
ben, als daß sie ihre Häßlichkeit eingestanden hätte. Nun rühmte sie sich damit. Satan mußte ihr Gebet gehört und beantwortet haben. Cyrus Finchley war überrascht. »Das sagte ich nicht, Tochter. Die Stadt ist dir dankbar für dein Geschick mit Krautern und würde dich deshalb nicht gern von den Plätzen fernhalten, wo du sie findest. Dein Tee hat der Schwester des Gouverneurs das Leben gerettet, so sind wir dir alle zu Dank verpflichtet. Und deshalb haben wir einen Beschützer für dich ernannt. Wenn du wieder auf die Suche nach deinen Heilmitteln gehst, wird der alte Fithian Grey dafür sorgen, daß du sicher bist.« »Ich danke euch allen von ganzem Herzen, aber ich brauche keinen Bewacher. Die Indianer sind freundlich. Sonst gibt es nichts zu fürchten.« »Dennoch hätten wir es lieber, wenn Fithian und seine Flinte dich bewachen.« »Dann soll es so geschehen.« Schließlich war Fithian alt und senil. Wenn sie irgend etwas tun wollte, das er nicht sehen sollte, würde sie schon mit ihm zurechtkommen. »Noch eines, Tochter. Wir hatten es vergessen, bis Schuyier van Warden sich daran erinnerte - dein Vater, ein sehr gelehrter Mann, hatte viele Bücher. Nun sind einige davon vielleicht nicht für eine Jungfrau geeigi?
DOROTHY QUICK
net. Der Rat möchte diese Bücher nen Peinigern los und sprang mit untersuchen. Diejenigen, die wir für einem wilden Satz in Elsbeths Arme geeignet erachten, werden dir zurück- - der nächste ZuSuchtsort vor den gegeben - die anderen behalten oder Kindern, die es verfolgten. verbrennen wir.« »Gib uns das Kätzchen wieder«, rief Nun wußte Elsbeth, daß Satan ihr der älteste der Jungen. Gebet erhört hatte. Er hatte ihr die»Nein.« Elsbeth drückte das arme, se Warnung zukommen lassen, damit verängstigte Tier an sich. »Ihr sollt sie nicht das Buch verlor, das den so ein arm.es Ding nicht quälen.« Schlüssel zu ihrer Verwandlung in »Die Witwe Aylesford hat es hineine Hexe darstellte. Sie lächelte im ausgeworfen. Sie sagte, eine schwargeheimen. ze Katze sei nur gut für Hexen, und »Da ist eine Kiste, die ich nicht ge- wir könnten damit tun, was wir öffnet habe. Ich mache mir nichts aus wollten.« Büchern. Ich kann nicht besonders Ein Freudenfeuer entflammte in Elsgut lesen.« Das waren die ersten Lü- beth. Sie hatte geflüsterte Erzählungen, die sie je ausgesprochen hatte, gen von Hexen und ihren Vertrauund sie kamen ihr so leicht über die ten gehört. Der Teufel hatte ihr eine Lippen, als sei sie Ananias selbst. Vertraute geschickt; das hieß, daß sie »Gut, Tochter. Ich komme morgen praktisch eine Hexe war. Sie würde mit meinem Dienstmann, um die Ki- das Kätzchen, wenn nötig, mit ihrem ste zu öffnen, und wenn wir irgendLeben schützen, denn es bedeutete welche zweifelhaften Bücher finden, , für sie den Beginn des neuen Lebens. nehme ich sie mit zum Rat. Guten So wandte sie sich heftig an die KinTag, Elsbeth Farquar.« der. »Guten Tag, Cyrus Finchley.« Els»Alles, was atmet, hat ein Recht auf beth machte einen kleinen Knicks und Leben. Das Kätzchen hat nichts Böeilte weiter. ses getan. Ich werde es versorgen. Sicher, sicher hatte Satan ihr Gebet Geht heim zu euren Müttern und gehört und ihr diese Warnung ge- betet um Vergebung für eure Grausandt. Als sie die Hälfte der Straße samkeit. Da -« Sie hielt die Pfote zurückgelegt hatte, erhielt sie eine des Kätzchens hoch, die aufgeschunneue Bestätigung. Eine Gruppe von den war und blutete. »Seht, was ihr Kindern quälten ein armes, dürres, gemacht habt.« kleines schwarzes Kätzchen. Gerade Einer nach dem anderen stahl sich als Elsbeth auf gleiche Höhe mit ihnen fort. Als sie gingen, faßte der älteste kam, riß sich das Kätzchen von sei- Junge Mut. »Hexen katze, Hexen16
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katze!« rief er zurück. Der Junge, Thomas, erwartete, daß Elsbeth das Kätzchen bei diesen schlimmen Worten fallenlassen würde, und mußte erstaunt feststellen, daß sie das kleine schwarze Ding stattdessen eng an sich drückte und freudig lächelte, als habe sie unerwartet einen Schatz gefunden. '"'..Das erste, was Elsbeth tat, als sie ihr winziges, schindelgedecktes Haus erreichte, war, daß sie das Kätzchen versorgte. Sie badete die verletzte Pfote und verband sie mit einem Stückchen weißem Leinen. Dann gab sie ihm eine Schale Milch, die das kleine Ding begierig leerschleckte. Als _,es fertig war, kam es vorsichtig auf Urer verbundenen Pfote zu Elsbeth '"herüber, sprang ihr auf den Schoß und leckte ihr die Hand, als sei es |An Hund und kein Kätzchen. Dann, ebenso vorsichtig, wie es gekommen war, ging es zurück zu dem Kissen, das sie neben die Milch schale gelegt hatte. Dort rollte es ,ich zusammen und schnurrte sich bald in den Schlaf. Elsbeth saß da und sah auf die Hand, wo die Zunge des Kätzchens sie geküßt hatte, als habe sie sich plötzlich verschönt. »Es hat mich angenommen. Der Abgesandte Satans hat mir sein Siegel der Zustimmung aufgedrückt.« Natürlich war da, wo die Zunge der
Katze sie berührt hatte, ein Fleck. Ein Gefühl der Freude stieg in hoch. In diesem Augenblick ve derte sie sich. Sie war im Laufe ein paar Stunden von einem Gefü höhepunkt zum anderen geschw - vom verliebten Mädchen zur erfüllten Frau. Von einer sche zurückgezogenen Jungfer, die einfaches Leben führte, jederm helfen wollte und an das Gute gl te, hatte sie sich in einen verb ten, sarkastischen Menschen ver delt, der an das Böse glaubte Rache haben wollte - nicht nu Johan, sondern auch an allen a ren. Eine Welle der Energie durchd sie, ^epriart mit grimmiger Entsc senheil Sie konnte es kaum er ten, eine Hexe zu sein. Sie mußte Buch suchen. Sie verriegelte ihre und entzündete eine zweite K Sie nahm sie, deckte sie vorsi mit der freien Hand ab und die Treppe zum Speicher hinauf. Dort angelangt, stellte sie die K auf dem Boden ab und stellte sie ter einem alten Kissen ab, so Vorübergehende nicht erke konnten, daß sie auf dem Spe war. Dann fand sie die Truhe Vaters, zog sie heraus und w fieberhaft ihren Inhalt durch. meisten Bücher waren Gelehrten de, die sie überhaupt nicht interes
DOROTHY QUICK
ten. Schließlich fand sie ganz am Boden das Buch, das sie suchte. Es war in ein sonderbares, pergamentähnliches Material gebunden, und auf dem Titelblatt stand: >Das Hexenbuch<. Elsbeth wollte es sofort lesen, aber niemand sollte argwöhnen, daß sie an der Truhe gewesen war, und außerdem befürchtete sie, daß man das Licht sehen könnte. Nachdem sie die Bücher wieder etwa so wie zuvor angeordnet hatte, verschloß sie die Truhe. Um der Sache den letzten Schliff zu geben, nahm Elsbeth ein großes Spinnennetz, das in einer Ecke hing, und drapierte es über das Schloß. Die Spinne selbst befand sich im Mittelpunkt des Netzes, und als sie es herüberholte, krabbelte sie ihr über die Hand. Gewöhnlich hätte ihr die bloße Berührung einer Spinne einen kalten Schauer über den Rükken gejagt, aber jetzt betrachtete sie das Tier ziemlich kühl. »Es ist ein Freund«, sagte sie zu sich. Den Rest der Nacht verbrachte sie in einem Schrank, wo sie das Buch las. Nach Anleitung des Buches sollte Elsbeth als Bewerberin bei einer Verschwörung erscheinen und von dreizehn dem Teufel geweihten Wesen in die Versammlung eingeführt vverden. Das konnte sie nicht tun. Es gab vielleicht in der Nähe von Anesfield Verschwörungen, aber sie hatte 18
weder die Möglichkeit zu erfahren, wo sie stattfanden, noch wer sie abhalten würde. Die Wahrscheinlichkeit bestand, dachte sie, daß ihr Herr - denn sie hielt den Satan bereits für ihren Herrn - sie zur rechten Zeit zu einer führen würde, doch inzwischen war sie überzeugt davon, daß sie sich in seiner Hut befand. Sie hatte ihrem früheren Glauben auf ihre eigene Art abgeschworen und sich dem Satan geweiht, und sie war sicher, daß er sie akzeptiert hatte denn hatte er ihr nicht die schwarze Katze als Vertraute geschickt? Das einzige, was laut Buch noch hinderte, war die Taufe. Das, erkannte sie, war ein sehr wichtiger Teil des Rituals, aber sie glaubte, daß sie selbst das schaffen würde. Als es hell genug wurde, daß sie sehen konnte, löschte sie die Kerze, schlich zu dem Kätzchen, und ntit seiner verwundeten Pfote zog sie das Zeichen des Kreuzes in umgekehrter Richtung über ihre Stirn. Dann stieß sie einen großen Seufzer der Erleichterung aus. Sie war nun eine Hexe! Als sie sich an diesem Morgen umzog, suchte sie nach einem Hexenmal, und als sie direkt unter der Gürtellinie das winzige, warzenähnliche Ding fand, das sie noch nie zuvor bemerkt hatte, war sie überzeugt davon, daß alles geschehen war, wie es geschehen sollte. Nun war sie bereit, einen der Zau-
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sah; sogar die Spuren von winzige ber auszuprobieren, die das Buch beHörnern fanden sich am Rand. El schrieb. Sie wollte mit etwas Leichbeth nahm das als Omen und such tem beginnen und sich allmählich zu fleißig nach den ändern Dingen, d den schweren Fällen hinaufarbeiten, sie brauchte. bis sie Rache an Johan nehmen Sie fand alles - Eibensprößling •Sehnte. . ' Blätter von Bittersüß; ein selten Aber nicht jetzt. Es war keine Zeit Kraut, das im Buch beschrieb dazu. Der Älteste Finchley konnte war, und eine Blume, die zum Glü jsedcn Moment kommen, und sie gerade in der Blüte stand. All di mußte das Haus in Ordnung brinwickelte sie in ihr Taschentuch u gen. eilte heim, weil sie so schnell w Sie verbarg das Buch unter einem möglich ihren Zauberspruch auspr ^g»4o6en Brett in ihrer Schlafkammer bieren wollte. Bmä machte sich an die Tagesarbeit, Johan Rider war am gleichen M als sei nichts Besonderes geschehen. gen nach Boston aufgebrochen, Bald kam der Älteste Finchley wegen hätte Cyrus Finchley ihr bericht der Bücher, und er nahm einige Geund die Nachricht war wie Salz a schichtsbände und lateinische Schrifeine offene Wunde gewesen. Zur R ten mit, von denen er behauptete, che gegenüber Johan selbst war sie seien nichts für ihre Augen. Er noch nicht bereit, aber sie hatte betrachtete die schwarze Katze mit feste Absicht, etwas von seinem B ^.Mißbehagen und sagte, sie würde sitz .zu verwünschen, und hatte ^it 'daran tun, sie auszusetzen. Als Kühe ausgewählt, die geduldig Elsbeth ihm erzählte, auf welche Stall standen und von einem Kne ^ Weise sie das Tier gerettet hatte, sagversorgt wurden. llK'er: »Wie immer dein gutes Herz, Sie kehrte in ihr Haus zurück u Tochter«, und ging seiner Wege, verriegelte die Tür. Das Kätzc ohne ihr spöttisches Lächeln zu besprang ihr auf die Schulter und bl ||tnerken. die ganze Zeit dort, während sie ü dem >Hexenbuch< saß. Der schwa An diesem Nachmittag ging Elsbeth Schwanz warf seinen Schatten l:: in den Wald hinaus, um die Zutaten die gedruckte Seite. für ihren Zauberspruch zu sammeln. Elsbeth studierte den Zauber so Während sie dort war, nahm sie gleich fältig, und dann begann sie. Alraune mit, und sie war besonders erfreut, ein Exemplar zu finden, das kochte ihre Zutaten nach Anweis und fügte ein wenig von ihrem so haargenau wie Beelzebub selbst aus-
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sam gehüteten Salz hinzu - denn Salz war in jenen Tagen ein rares Gut und wurde in kleinen Mengen an das Volk verteilt. Als sie die Brühe umrührte, sprach sie die Worte, die im Buch, standen, und als alles fertig war und der Topf sich abgekühlt hatte, knetete sie den Inhalt zu einer Kugel. Um diese wikkelte sie ein Haar von ihrem eigenen Kopf.. Dann sang sie: Schrumpft und trocknet dieser Ball, Komme Unheil auf den Stall. Seine Kühe sieht er nimmer Gut zu schlimm und schlimm zu schlimmer. Als sie fertig war, hängte sie die Kugel in ihren Kamin. Sie wußte, daß die Feuerhitze sie schnell austrocknen würde, und wartete ungeduldig darauf, daß ihre böse Tat Früchte trug. Ein paar Tage später schlug sie zum ersten Male in ihrem Leben ein Kind, die kleine Patience Maitland, ein rundliches, goldhaariges Kind von sieben Jahren. Bis dahin hatte Elsbeth oft mit Patience gespielt und sie beschäftigt, wenn ihre Mutter butterte oder sich einer sonstigen Hausarbeit widmete. Als Patience sie in ihre Richtung eilen sah, dachte sie, Elsbeth wolle mit ihr spielen. Sie hatte keine Ahnung, daß Elsbeth zum Rider-Hof
hinausging, in der Hoffnung, etwas zu hören oder zu sehen, was ihre Neugier wegen der Kühe befriedigte. Klein-Patience lief ihr entgegen und warf beide Arme um Elsbeths Taille. »Guten Tag, Mistreß Farquar«, sagte sie. »Ich muß Ihnen die neue Puppe zeigen, die mir Master Rider gab, bevor er nach Boston ritt.« Wenn Patience Johan und Boston nicht erwähnt hätte, so hätte Elsbeth vielleicht ihren Haß vergessen, denn sie hatte das Kind geliebt. Aber die unschuldige Bemerkung war wie ein Funke auf trockenes Holz. »Geh weg. Ich habe keine Zeit für Puppen«, sagte Elsbeth grob und schob das Kind weg. Sie hatte offensichtlich mehr Kraft, als sie wußte, denn das Kind schrie vor Schmerz auf. Elsbeth blieb nicht stehen, um sie zu trösten. Sie ging weiter. Patience lief hinter Elsbeth her. »Mistreß Farquar, Mistreß Farquar, wenn ich Sie gekränkt habe, dann bitte ich um Verzeihung. Bitte, bitte, kommen Sie zurück und sehen Sie sich meine Puppe an.« Das arme kleine Ding dachte, daß sie etwas falsch gemacht haben mußte. Sie konnte nicht verstehen, daß Elsbeth nicht freundlich wie immer war. Sie packte Elsbeth an der Schürze, um sie aufzuhalten. Elsbeth hob die Hand. »Geh weggeh weg . . .«
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»Bitte — b i t t e . . . « Das Kind schluchzte hysterisch. Elsbeth senkte die Hand und schlug Patience hart auf die Wange. »Laß mich in Ruhe.-« Sie riß ihre Schürze los und ging weiter, ohne darauf zu achten, daß das Kind durch das plötzliche Freilassen der Schürze zu Boden gestürzt und auf ihren Fuß gefallen war. Der Knöchel war verstaucht, und sie wurde vor :hmerzen ohnmächtig. re Mutter lief herbei, beugte sich über das Kind und schrie auf: »Mein armes Lamm!« Der schmerzerfüllte Tonfall der Mutter freute Elsbeth, aber im gleiBehen Moment hörte sie einen andeUren Aufschrei - aus Johan Riders Stall - den Aufschrei eines gequälten Tieres, der wie Himmelsmusik in Elsbeths Ohren klang. IJgfcSie stand da und horchte und freute |bich an ihrer neu entdeckten Macht. pSie konnte sehen, daß um den Stall allerhand vorging. Leute rannten hin und her, und sie lächelte vor sich hin: »Gut zu schlimm und schlimm zu schlimmer . . .« ;. Die Schreie verstummten. Elsbeth ||war noch glücklicher. Das bedeutete, |daß die Kuh gestorben war. Sie hofff'te, daß es die Jersey-Kuh war, auf die Johan so große Stücke hielt. Im gleichen Moment kam Johans Knecht aus dem StalL Elsbeth ging t» ihm.
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»Seid ihr hier in Schwierigkeiten?« fragte sie. »Nein, Mrs. Farquar, wir haben Grund zur Freude. Die Jersey-Kuh hat gekalbt. Zwei hübsche Färsen. Zwillinge! Und von seiner Lieblingskuh! Master Rider wird sich freuen.« Eine Schwächewelle überkam Elsbeth. Ihr Zauber hatte nicht gewirkt. Sie murmelte etwas und drehte sich um, in Richtung ihres Hauses. Sie mußte nach der Kugel im Kamin sehen! Sie mußte noch einmal das Buch um Rat fragen. Als sie am Haus der Maitlands vorbeikam, rannte der Bruder von Patience heraus. »Du bist böse«, .schrie er. »Du has meiner Schwester wehgetan.« »Es war ihre eigene Schuld. Schlim me Kinder müssen bestraft wer den.« »Nein«, unterbrach eine weiche, sanf te Stimme. »Meine Patience verdien nur Gutes. Ich weiß, daß sie Si nicht kränken wollte, Elsbeth Far quar. Wollen Sie nicht hereinkom men? Das kleine Ding weint nach Ihnen. Sie liebt Sie so sehr.« Mrs Maitland streckte die Hand nach Els beth aus. »Wie sie dieses Gesicht lieben kann verstehe ich nicht, aber sie tut es« flüsterte der Junge. Elsbeth hörte es. »Mein Gesicht ist meine Sache, Tho
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mas Matiland, aber da es dir mißfällt, trage ich es anderswohin.« Sie warf ihnen einen giftigen Blick zu und ging, wobei sie dem Jungen Flüche zumurmelte. Sie horte, daß Mrs. Maitland nach ihr rief, aber sie achtete nicht darauf. Als sie heimkam, rannte das Kätzchen auf sie zu und zeigte ihr deutlich, daß es sich freute, sie wiederzusehen. Elsbeth drückte es an die Brust. »Du und ich - wir sind eins«, sagte Sie feierlich, und • das Kätzchen schnurrte glücklich. Als die Tür verriegelt war, sah Elsbeth nach der Kugel im Kamin. Sie war trocken und auf die Hälfte ihrer früheren Größe zusammengeschrumpft. Wenn alles mit rechten Dingen zuging, müßte jetzt zumindest der größere Teil von Johans Herde krank sein. Elsbeth holte ihr Buch heraus. Soweit sie sehen konnte, hatte sie nichts falsch gemacht, nur daß sie die Alraunwurzel nicht bei Vollmond und um Mitternacht geholt hatte. Natürlich - das war es. Nun, sie würde einen anderen' Zauber versuchen und sich diesmal vergewissern, daß sie die richtigen Zutaten hatte. Sie war eine Hexe. Sie würde die Attribute einer Hexe erlangen. Sie würde zu Johans Hof hinübergehen und Flüche auf ihn und die Seinen
herabrufen. »Schlimm zu schlimmer« sollte es mit seinen Kühen gehen, mit seinem Land, seiner Braut und ihm selbst. Obwohl der bloße Gedanke an einige der Zutaten sie normalerweise hätte erschauern lassen, dachte sie nun ganz ruhig daran, wie sie sie beschaffen konnte. Sie schlich in der gleichen Nacht mit dem Kätzchen unter dem Arm ins Freie. Sie wollte es nicht allein daheimlassen, da sie fürchtete, es könnte während ihrer Abwesenheit jammern. In einen dunklen Umhang gehüllt, war sie nahezu unsichtbar. Auf dem Kirchhof würde sie finden, was sie suchte, und sie machte sich unerbittlich daran, die Dinge zu bescharfen, von denen das Buch sprach. Jeder meiner Sinne wehrte sich gegen das, was sie tat. Ich, Alice Strand, haßte Elsbeth und die dunklen Mächte, die sie sich zu eigen gemacht hatte. Ich bemitleidete sie auch, denn ich wußte besser als alle anderen, daß ihre Seele durch Johan verwirrt worden war, und doch konnte ich ihm keine Schuld geben. Ich fürchtete auch das, was dabei noch herauskommen konnte. Würde Elsbeth in die völlige Dunkelheit des Teufelsglaubens hinabsteigen und mich mitziehen? Ich wußte, daß es in der Welt Magie gab - und Hexen. Ich hätte nicht Elsbeths Leben durchgemacht, wenn nicht die Zauberdecke
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die einer Hexe gewesen wäre. Würde Elsbeth die Schwarze Kunst meil'stern? Was würde mit mir geschehen? Hier in dem unheimlichen Friedhof war ich voller Furcht. Elsbeth fürchtete sich nicht. Sie vollendete ihre ekelerregenden Aufgaben mit ruhigen Fingern, und als sie den Kirchhof verließ, hatte sie nicht nur die schwarze Katze unter dem Arm. Auf dem Rückweg ging sie durch die Wälder, wo sie ihren Bund mit Satan geschlossen hatte. Sie erinnerte |Ssich daran und hielt lange genug an, um niederzuknien und zu ihrem Herrn zu beten. Am gleichen Ort grub sie Alraunwurzel und Bilsenkraut aus. Als sie zurück in die Stadt karrt, gstand der Mond niedrig am Himmel. "- Sie ging am Haus der Maitlands vorbei und bemerkte, daß in einem Fen'^ ster Licht brannte. Einige Schritte weiter stieß sie in der Dunkelheit gegen jemanden. i, »Aber, aber. Miß Farquar - was machen Sie hier? Hat Mrs. Maitland auch nach Ihnen geschickt?« Es war Dr. Prouty. Elsbeth hielt den Atem an und überlegte schnell. »Nein, in meinem Hause war es so warm, daß ich mich nach frischer Luft sehnte und einen Spaziergang unternahm. Ist Mrs. Maitland krank?« »Ein Kummer kommt nie allein. Erst «< heute nachmittag hat sich Patience |t böse den Knöchel verrenkt, und nun
ist der junge Tom die Kellertre hinuntergefallen und hat sich d Arm gebrochen. Wollen Sie n mitkommen, Elsbeth, Sie, die Sie gut mit Kranken umgehen könne »Man hat mich nicht rufen lass und ich werde auch nicht gebrau wenn Sie da sind. Außerdem bin sehr müde.« Sie konnte kein H mit der düsteren Last betreten, sie unter dem Umhang trug. »Dann gehen Sie heim, Mrs. F quar, und verlassen Sie nachts Haus nicht mehr. Es ist unziemlich »Ich werde gehorchen.« »Gut - dann werde ich dies schweigen. Leben Sie wohl, Elsb Farquar.« »Leben Sie wohl.« Sie rannte restlichen Weg zu ihrem Haus, bei sie sich im Schatten hielt, und als sie daheim war und die Früc ihrer nächtlichen Arbeit sicher v borgen hatte, wagte sie es, sich entspannen und Atem zu schöpfe
Am nächsten Tag, als eines der K der ihr eine Grimasse schnitt und was über ihre Häßlichkeit rief, widerte Elsbeth: »Wenn du glau daß mein Gesicht häßlich ist, so wa nur, wie das deine später ausse wird.« Der Junge war sprachlos vor Ob raschung und lief weg. Er war n nicht weit gekommen, als Elsb einen Schrei hörte und ihn am Bo
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liegen sah. Er blutete aus einer Schnittwunde. Er war auf einen scharfen, schartigen Stein gefallen, und ein Hautlappen hing ihm vom Gesicht. Elsbeth wußte, daß er nun bis zu seinem Tode eine Narbe haben würde. Sie lachte. »Sagte ich dir nicht, daß du warten solltest, wie dein eigenes Gesicht einmal aussehen würde!« Das Kind wich nicht vor ihr zurück; statt dessen deutete es auf den Hautfetzen und bat sie, ihm zu helfen. Sie zog die Haut ab und schob sie in die Tasche. Sie dachte, daß sie das Stück vielleicht einmal bei einem Zauberspruch brauchen konnte. Sie beugte sich über den Jungen. »Laß es dir eine Lehre sein, und spotte nicht mehr über mich, sonst werde ich dich noch schlimmer verfluchen.« Der Junge hielt seine breite Manschette ans Gesicht und lächelte ihr durch Tränen zu. »Ich bitte um Verzeihung wegen meines Spottes. Sie sind zu gütig, daß Sie diesen Fetzen weggenommen haben. Ich danke Ihnen.« Elsbeth hörte nicht auf seine Entschuldigungen. »Ich werde dich noch schlimmer verfluchen — ich werde dich verfluchen.« Cyrus Fmchleys Stimme schaltete sich ein. »Friede, Tochter. Ich hörte die bösen Dinge, die der Junge von Ihnen sagte.« Er wandte sich an den Bu24
ben. »Geh jetzt zum Arzt und sieh zu, daß du niemanden mehr verspottest.« »Ich habe ihn verflucht, und sehen Sie, was geschehen ist«, rief Elsbeth. »Wenn ich wieder fluchen sollte -« »Du bist überreizt, Tochter, >Die Rache ist mein<, sagt der Herr und wahrlich kam Sein Zorn prompt. Du bist keine Schönheit, Elsbeth, aber du bist gut und freundlich, und das zählt mehr.« »Ich bin weder gut noch freundlich, und ich war viel zu lange geduldig!« Zorn und Verbitterung machten ihre Stimme hart. »Es ist wahr, man hat dich auf eine harte Probe gestellt.« Cyrus betrachtete mitleidig das groteske Gesicht und die schrecklichen Hände. »So wollen wir es vergessen, aber fluche nicht mehr, Tochter, damit die Leute nicht sagen, du seist mit dem Bösen im Bunde. Würdest du zu Mrs. Finchley gehen? Sie ist leidend und hätte gern einen heilenden Trank von dir.« Elsbeth ging zu Mrs. Finchley. Die ältere Frau war krank, und die Erschöpfung hatte große Ringe unter ihre Augen gezeichnet. Sie freute sich, als sie Elsbeth sah, und fragte sofort: »Könntest du mir etwas von dem Tee geben, den ich vor zwei Monaten bekam, Elsbeth? Er hat mir so geholfen.«
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werde jetzt gehen und die Krauter suchen«, lächelte Elsbeth. »In einer Stunde bringe ich ihn.« »Gut, und dann erzähle ich dir von Johans Braut Priscilla. Johan brachte sie heute vormittag heim. Mein guter Mann sagte mir, daß sie außerordentlich glücklich sind, und Johan will sie zu mir bringen, weil ich nicht kräftig genug bin, sie zu besuchen.« Mrs. Finchley hob eine gebrechliche Hand. »Ist es nicht wunderbar, Elsbeth, daß Johan so glücklich und gut verheiratet ist? Sie brachte ihm eine große Mitgift und Wagenladungen mit wohlgefüllten Truhen. Aber das bedeutet Johan gar nichts. Er ist so verliebt in sie, daß er nichts sieht als ihre blauen Augen. Ich werde sehr freundlich zu Priscilla Rider sein und ihr helfen. Sie ist noch so jung.« Eine Eisschicht überzog Elsbeths Herz, und Haß durchströmte sie wie an jenem Tag auf den Feldern, als sie mit Johan gesprochen hatte. Nun schloß dieser Haß auch Mrs. Finchley ein. Sie sollte auch leiden. Sie würde ihr einen Tee brauen - jawohl -, aber nicht ganz den Tee, den sie erwartete. Mrs. Finchley sollte nicht in der Lage sein, Priscilla, dieser blauäugigen Puppe, zu helfen. l "Öie Worte schickten Stachel in Elsbeths Gehirn. Es war ein Zauber in ...ihrem Buch, ein Zauber, der viel~ »cht -
Sie verließ Mrs. Finchley und brachte ihr später eine Flasche. »Sie müssen täglich ein wenig davon trinken«, sagte sie. In ihrer Stimme verriet nichts, daß das Gebräu nicht aus den wohltuenden Krautern bestand, die sie Mrs. Finchley schon einmal gebracht hatte. Mrs. Finchley sprach nur von Johan und seiner Braut. »Sie hat Haare wie gesponnenes Gold und so viele Locken, daß sie nicht unter der Haube bleiben wol len, und Augen wie Kornblumen Ihre Haut ist weiß, und ihr kleines Gesicht rund und frisch wie eine Apfelblüte. Es verwundert mich nicht, daß Johan sie so liebt«, und so ging es fort und fort. Während sie sprach, fiel Elsbeth et was Goldglitzerndes ins Auge, das am Boden lag. Sie sah hinunter, und da war auf dem handgewebten Tep pich ein langes, goldenes Haar. Satan sorgte in der Tat für sie, dach te Elsbeth. Genau der Gegenstand den sie für ihren. Zauber brauchte Während Mrs. Finchley weiter schwärmte, beugte sich Elsbeth un auffällig vor, hob das goldene Haa auf und schob es in ihren langen Ärmel. Das war mehr Glück, als sie erhofft hatte. In dem Buch stand ausdrücklich, daß man etwas Per sönliches von dem Menschen, den man verwünschen wollte, brauchte, um den Zauber zu vervollständigen
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ein Stückchen Haut, einen abgeschnittenen Nagel oder ein Kopfhaar. Elsbeth hatte gedacht, sie müßte Monate warten, bis sie eines dieser Dinge ergatterte, und nun hatte sie es ohne Anstrengung bekommen. Elsbeth verabschiedete sich von Mrs. Finchley so schnell wie möglich. In dieser Nacht arbeitete sie lange und mit Ausdauer. Zuerst schmolz sie das Wachs von zwei Kerzen und vermischte es mit ein wenig Menschenfett - eihes der Dinge, die sie sich vom Friedhof beschafft hatte. Als alles geschmolzen und abgekühlt war, begann sie eine kleine Figur zu formen. Sie knetete sie sorgfältig zurecht, bis sie unter ihren Fingern die Umrisse eines jungen Mädchens annahm. Sie modellierte sogar das Gesicht, so gut sie es nach Mrs. Finchleys Beschreibung vermochte. Ins Innere tat sie das goldene Haar und ein Stückchen Alraunwurzel, die angeblich bei Zaubersprüchen aller Art helfen sollte. Dann füllte sie die Figur auf und versteckte sie, als sie ganz hart war. Jetzt brauchte sie nur noch etwas, das Priscilla getragen hatte, um die Figur damit einzuwikkeln. Dann konnte sie mit ihrem Werk richtig beginnen, Das kleine schwarze Kätzchen kam, legte ihr den Kopf in die Hand und rieb sich gegen sie, als wolle es ihr gratulieren. 26
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»Es ist jetzt alles geglückt bis auf die Sache mit Johans Kuh«, sagte sie ganz ernsthaft zu der Katze, als sei diese ein Mensch. »Tom Maitland hat sich den Arm gebrochen, und das gute Aussehen des anderen Jungen ist durch meinen Fluch dahin. Es scheint, daß ich mit Verfluchungen besser vorankomme als mit Zaubersprüchen. Aber ich werde etwas von Priscilla finden, und dann werde ich lange und tüchtig fluchen.« Es dauerte fast eine Woche, bis sie etwas von Priscilla fand - eine Woche, in der sie das Glück von Braut und Bräutigam miterleben mußte. Sie versuchte den Haß, den sie spürte, aus ihren Gesichtszügen zu verbannen. Sie war sogar nett zu Priscilla, als sie schließlich zusammentrafen, aber sie reichte ihr nicht die Hand. Sie konnte es nicht ertragen, Priscillas schöne weiße Finger zu berühren, und so sagte sie, daß sie sich das Handgelenk verstaucht hätte. Priscilla war sehr besorgt wegen dieser Verletzung. Es war, als hätte der Teufel Elsbeth den Gedanken in den Kopf gesetzt, denn dadurch erhielt sie ein Taschentuch, das dem Mädchen gehörte. Priscilla sagte, daß Elsbeths Hand schneller heilen würde, wenn sie fest verbunden war. Sie hätte das bei ihrem Vater gesehen. 'So ließ sich Elsbeth das Handgelenk verbinden und jubelte innerlich über die Tatsache, daß Priscilla für den
"Q< Verband ihr eigenes Taschentuch benützt hatte. . In dieser Nacht zog Elsbeth der Puppe das Taschentuch an und beugte sich darüber, indem sie magische Worte sang. Dann nahm sie spitze Stecknadeln und trieb sie in die Puppe, wozu sie sagte: Bohret, bohret euch hinein, K|||ef ins Fleisch und ins Gebein. rf Pein und Pein und Pein sei dein, bis steif sind deine Glieder fein. [gägf'^t
'
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Dann kniete sie nieder und betete. »O Satan, mein Herr und Meister, laß meinen Zauber wirksam sein. Schicke Pein und Elend und all die Schrecken, die Du beherrschst, zu Priscilla Rider. Ich flehe darum in Deinem Namen - Ich, Elsbeth Farquar, die Hexe, eine Deiner untertänigsten Mägde, die nur lebt, um „„ Dir zu dienen. Sieh her, ich schreibe Ip es mit Blut auf Menschenhaut.« Sie nahm ein Messer, stach sich damit in den Finger und schrieb auf den "' Hautfetzen des Jungen, den sie so lange aufgehoben hatte. »Elsbeth Farquar vereinbart mit Sa1^- tan, daß sie ihm ihre Seele gibt, wenn er ihr Hexenkräfte verleiht.« Sie unterschrieb mit ihrem Namen, iH^tJUnd während sie es tat, sprang die ' kleine schwarze Katze auf den Tisch, leckte ihr den Finger, von dem imnoch Blut lief, und dann den
Rand des Hautfetzens, so daß ein rötlicher Wischer blieb, der genau wie eine Unterschrift aussah. Elsbeth schwenkte die Haut über ihrem Kopf und tanzte voller Freude durch die Stube. »Ich bin eine Hexe - eine Hexe! Satan hat den Bund unterzeichnet. Hüte dich, Priscilla, hüte dich, denn jetzt ist dein Leben in meiner Hand.« Sie hatte noch keine Nadel dahin gesteckt, wo das Herz der Puppe sein sollte. Sie wollte nicht, daß Priscilla sofort starb. Sie wollte, daß sie litt, damit auch Johan litt. Sie konnte immer noch die letzte Nadel hineinstechen, die den Tod bedeutete. Die Tage vergingen, und Elsbeth beobachtete Priscilla mit Habichtaugen, aber Priscillas rosigweißes Gesicht blieb unverändert. Sie wurde nicht bleich, sie wurde nicht krank, sie hatte augenscheinlich keine Schmerzen. Ihr Glück war eine Freude für jeden außer Elsbeth, der es sah, und Johans Glück war ebensogroß. Wieder einmal stand Elsbeth der Erkenntnis gegenüber, daß ihr Zauber nicht wirkte. Sie stach die Nadel in das Herz der Puppe und murmelte Beschwörungen dabei, und doch lebte Priscilla fröhlich und glücklich weiter. Und nicht nur Priscilla blieb unberührt, auch Mrs. Finchley, die nun nach Elsbeths Berechnung schwer27
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krank hätte sein müssen, wirkte kräftiger als je zuvor. Natürlich konnte Elsbeth nicht ahnen, daß das Kraut, welches sie für ein tödliches Gift hielt, genau das richtige Anregungsmittel für Mrs. Finchleys zu schwaches Herz war. Das Zusammentreffen all dieser Dinge machte Elsbeth verbitterter denn je. Sie war garstig und haßerfüllt. Sie fauchte jedermann an. Immer wenn Klein-Patience in ihre Nähe kam, schob sie das Kind weg. Aber die Kleine zeigte ihr beharrlich ihre Zuneigung, und daran änderte sich nichts, was auch immer Elsbeth sagen oder tun mochte. Die Jungen dachten daran, was mit ihren Gefährten geschehen war, und gingen ihr aus dem Weg, und das narbige Gesicht des einen, der sie verspottet hatte, diente ihnen als ständige Warnung, Elsbeth zu meiden. Priscilla, die versucht hatte, nett zu ihr zu sein - dazu angehalten von Johan, der immer noch unglücklich über das Unheil war, das er angerichtet hatte —, erkannte bald, daß sie ebensogut einen Stein hätte bebauen können, doch sie gab nicht auf. Es schien, daß jedermann um so netter zu Elsbeth war, je haßerfüllter sie wurde. Selbst die Ältesten bemühten sich um Freundlichkeit, .und ihre Heiltränke waren immer mehr gefragt, seit Mrs. Finchley mit 28
jedem Tag kräftiger und gesünder wurde. Einmal, als Cyrus Finchley ihr wegen der Gesundheit seiner Frau dankte, erwiderte Elsbeth kühn, ohne an die Folgen zu denken: »Weshalb sollte ich sie nicht heilen? Ich bin eine Hexe.« Ihre Worte klangen nicht überzeugend, denn im Innern begann sie zu zweifeln. Cyrus lachte. »Es freut mich/ dich scherzen zu hören. Für jeden anderen wäre das Thema gefährlich, aber du, die wir alle kennen und lieben, darfst ruhig darüber sprechen .. . niemand von uns würde dich für eine Hexe halten.« Elsbeth lief weinend weg. »Ich bin eine, ich bin eine, aber keiner will es glauben . . . vielleicht wirken deshalb meine Zaubersprüche nicht.« Später saß Elsbeth wieder ruhig vor ihrem Feuer. Auf einem kleinen Tisch vor ihr lagen das Hexenbuch und die groteske Puppe, die wie das Zerrbild eines Nadelkissens aussah. Es war etwas Erschreckendes an ihr, denn Elsbeth hatte ihr nichts erspart. Nadeln steckten in allen möglichen Winkeln darin, im Mund, in den Augen und in den Ohren. In der Tat sah man kaum einen Fleck, der nicht durchbohrt war. Die groben, fußahnlichen Dinger waren geschmolzen und geschwärzt. Einmal hatte Elsbeth in schierer Verzweiflung
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•rsucht, die Puppe zu verbrennen, was keinerlei Wirkung auf das lebende Gegenstück hatte, das Abbild jedoch drastisch verformt hatte. Das Kätzchen lag auf Elsbeths Schoß und betrachtete gleichgültig die Dinge auf dem Tisch. Seine grünen Augen waren friedlich; es blieb völlig unberührt von dem inneren Aufruhr, den seine Herrin durchmachte. Elsbeth sah zum erstenmal seit jenem Tag im Walde, als sie zu Satan lebetet hatte, den Tatsachen direkt ||hs Auge. '»Ich bin keine Hexe«, sagte sie zu sich. »Satan hat mein Gebet nicht erhört. Das Kätzchen ist nur ein gewöhnliches Kätzchen, die Dinge, die den Jungen zustießen, waren reine Zufälle. Keiner meiner Zaubersprüche hat gewirkt, keine der Beschwörungen - obwohl ich alles getan habe, was in dem Buch stand. Ich habe Gräber in finsterer Nacht beraubt, ich habe versucht, Mrs. Finchley krank werden zu lassen, weil sie so nett zu Priscilla war. All diese Dinge und noch mehr habe ich getan, und ich bin meinem Ziel, mich an Johan Rider zu rächen, noch um keinen Schritt näher gekommen. Es hat keinen Zweck. Ich muß den Gedanken, Rache an Johan zu üben, aufgeben, jtluch wenn es mich schmerzt.« Im gleichen Moment, als sie diese Worte sagte, klopfte es an der Tür. »Mach auf, Elsbeth Farquar.«
Sie zuckte zusammen. Sie konnte n manden hereinlassen - nicht mit d offen daliegenden Buch und Puppe und den anderen scheu chen Gegenständen aus den Gräbe die sie unter dem Boden verste hatte. »Wer ist da?« rief sie. »Cyrus Finchleys Knecht. Ko schnell. Wir brauchen Hilfe. M Finchley ist schwer erkrankt.« »In einem Augenblick bin ich f tig.« Schnell steckte Elsbeth die P pe und das Buch an den Ort, wo reits das Stück Haut lag. Sie w ihren schwarzen Umhang um Schultern und gab sich Mühe, Freude nicht durch ihre Blicke verraten. Satan hatte sie gehört ihren Zaubersprüchen war Ma nur war sie zu ungeduldig gewes um ihnen Zeit zum Wirken zu sen. Sie folgte dem Diener zitte vor Erregung. Gerade als sie Haus der Finchleys erreichten, k eine Frau herausgelaufen. Sie h Tränen auf den Wangen. »Oh - oh - die gute Lady ist Eben noch lachte sie und sagte d Herrn, er solle sich keine Sorgen m chen, und dann faßte sie sich plö lich an die Brust, stieß einen lau Schmerzensschrei aus und fiel tot der. 0 weh - o weh!« Cyrus Finchley kam bleich und schmerzverzerrter Miene an die Tü »Du kommst zu spät, Tochter,
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spät. Dennoch bin ich dir dankbar. Erst heute sprach meine Frau von deinen guten Diensten und um wieviel besser sie sich fühle.« »Aber nun ist sie tot.« Elsbeth sprach, ohne zu denken. »Ich habe sie umgebracht.« In ihrer Stimme klang Triumph mit. Endlich hatte ihr Zauberspruch gewirkt, der Zauberspruch, den sie gemurmelt hatte, als sie die Nachtschattengewächse in den Trank getan hatte. Endlich war sie sicher, daß sie eine Hexe war und daß sie sich noch an Johan rächen konnte. Sie hob den Kopf und lachte laut und hart. Der Mann und die Frau sahen sie sonderbar an. Cyrus Finchley jedoch lächelte traurig und klopfte ihr auf die Schulter. »Schmerz äußert sich manchmal auf diese Art«, erklärte er dem Mann. »Sie liebte Mrs. Finchley. Sorg dafür, daß sie sicher heimkommt. Gute Nacht, Elsbeth. Du darfst nicht grübeln. Du hast meine Frau nicht getötet; du hast ihr geholfen und ihren letzten Tagen Freude verliehen. Es war der Herr, der sie heimrief.« Er ging nach drinnen und schloß die Tür. Der Mann nahm Elsbeth am Arm. »Ich bringe dich zu deinem Haus, wie es mein Herr befahl.« Elsbeth ging willig mit. Sie wollte daheim sein. Sie hatte viel zu tun.
Sobald sie in ihrem Haus war und die Tür verriegelt hatte, begann Elsbeth zu arbeiten. Zuerst nahm sie die Puppe aus ihrem Versteck. Sie hielt sie einen Moment lang vor sich, dann begann sie zu singen: Priscilla sei die Puppe, die Puppe sei Priscilla.
Ich rufe an die Macht des Bösen. Im Rauch vergehe dieses Wesen, damit Priscillas Seele flieht, dem Äug der Menschen sich entzieht. Und tüei'rer sag ich diesen Bann: sie sei dem Satan Untertan,
daß nicht im Tod und nicht im Leben, Johan ihr seine Lieb kann geben. Priscilla sei die Puppe, die Puppe sei Priscilla.
Konzentrierter Haß floß durch ihre Adern, als sie die Puppe ins Herz der Flammen warf. Sie sah zu, während sie verbrannte. Ihrem Auge entging keine der Veränderungen, die sie durchmachte das Aufzüngeln des brennenden Leinens, das Brutzeln des Fettes, dann das Kleinerwerden der Flammen, als die Umrisse zu nichts verschmolzen und in einer Rauchfahne zum Kamin hinaufwehten. »Ich bin eine Hexe«, sagte sie feierlich zu dem Kätzchen, »eine mächtige Hexe. Das hier ist die Nacht meiner Nächte. Ich muß noch mehr tun, solange mir mein Herr hilft. Wäh-
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rend Priscilla sich ihre Seele vor Schmerzen herausschreit, reite ich jawohl, ich reite - über ihr Hausdach und lausche den Schreien. Die Salbe zum Fliegen! Ich werde sie herstellen und auf meinem Besenstiel reiten, wie es sich für eine wahre Hexe gehört. Ich war bisher zu ängstlich, um es zu versuchen, aber jetzt fürchte ich mich nicht mehr.« Schnell, als stünde der Teufel neben ihr und triebe sie voran, machte sie sich daran, die Salbe herzustellen. Wieder wurde der Kessel über die knisternden Holzscheite gehängt, und sie begann eine greuliche Brühe zusammenzukochen, über die sie magische Worte sprach, die nach Angaben des Buches unfehlbar waren. Als sie alles beendet hatte und die Salbe abgekühlt war, streifte sie ihr Kleid ab und rieb sich mit der Paste den ganzen Körper ein. Dann zog sie sich wieder an, denn die Gewohnheit war stark, und obwohl sie auf einem Besenstiel hoch über den Häusern reiten wollte, konnte sie doch den Gedanken nicht ertragen, daß sie jemand sehen sollte, wenn sie nicht icklich gekleidet war. 'chon hatte Elsbeth ein seltsames Gefühl, als ob sie sich bewegte. Es schien, während sie in der Stube umherging, daß sie flog. Sie spürte, wie sie schwebte, und sie wußte, daß der Moment gekommen war, um sich auf
den Besen zu setzen. Sie holte i aus der Ecke und wollte sich gera rittlings darauf niederlassen, als i einfiel, daß nicht Platz genug w um aus den Fenstern zu segeln. S waren zu winzig, um ihren Körp durchzulassen. Also mußte sie etw anderes suchen. Ein Gedanke kam ihr. Im Speich war eine Falltür, die breit genug se mußte. Sie lief die Speichertrep nach oben, öffnete die Falltür un kletterte auf den Rand. Das Kät chen war ihr gefolgt und kauerte nu auf seinem Lieblingsplatz, ihrer Schu ter. Elsbeth machte es nichts aus. S war froh, daß sie auf ihrem Ausflu von ihrem Vertrauten begleitet wurd Sie sah zum Himmel hinauf. Vo ihrem Platz aus erschien er so nahe. Es war ein großartiger Ausgang punkt. Das Gefühl des Fliegens, d sie überkommen hatte, war hier noc stärker als zuvor. Sie stieg auf de Besenstiel, und ohne das gerings Zögern wandte sie die Spitze nac Johans Hof und warf sich in de Raum. Eine Sekunde lang spürte s die Freude des durch-die-Luft-S gelns, doch im nächsten Mome wurde ihr übel. Einen schrecklichen Augenblick lan erkannte sie, daß der Zauberspruc nicht gewirkt hatte. Sie fiel. Sie schr mit aller Kraft, dann schlug ih Körper mit einem furchtbaren Lau auf dem Boden auf.
UOROT1IY QUICK
Alles verschwamm. Ein leises Stöhnen brachte sie wieder zu Sinnen. Dae Kätzchen - es lag unter ihr, und sein Stöhnen wurde leiser. Sie wollte sich umdrehen, um ihm zu helfen, aber sie merkte, daß sie sich nicht rühren konr.ie. Sie hörte das Kätzchen stöhnen, ois seine Klage leiser wurde und wie eine kleine Luftblase im Wasser erstarb. Sie hörte Gerenne - Türen öffneten sich, Menschen liefen herbei, riefen sich Sätze zu. »Jemand ist verletzt!« »Es kam von hier!« »Hier entlang —« Sie versuchte, sie anzurufen, aber sie konnte nicht sprechen. Die Salbe zum Fliegen hatte versagt. Sie hatte etwas falsch gemacht. Was? Das fragte sie sich, als sie regungslos, aber ohne Schmerzen dalag. Nun, es war gleichgültig. Solange der Zauber bei Priscilla wirkte, war alles andere gleichgültig. Selbst wenn sie starb, machte es ihr nichts aus. Sie würde Priscillas Gesellschaft in der Hölle haben. Hatte sie sie nicht selbst hingeschickt? Hatte nicht die Puppe, die Priscilla darstellte, gebrannt? Sie konnte die Leute jetzt sehen. Sie hatten sie gefunden und scharten sich um sie. Selbst Cyrus Finchley war da und kniete neben ihr. Sie sah ihn mit ihren großen Augen an. »Tochter, Tochter, was ist geschehen?« flüsterte er. »Sie muß ihren Speicher gesäubert
BUND MIT DtM SATAN
haben. Da, die Tür ist offen, und Bp"'^On ihrer Sanftheit sagten, war zum h.er hegL ihr Besen.« Elsbeth er- ff Lachen, aber selbst das hatte nun kannte Mrs. Maitlands Stimme. »Sie ffi keine Bedeutung. Sie hatte ihre Trimuß sich hinausgebeugt haben, um KW umphe erlebt - Tom Maitland, der den Besen auszuschütteln. Und dabei andere Junge, Mrs. Finchley und Priscilla. Ihre Rache Johan gegenist sie gestürzt. Meine Patience wird über war alles, was zählte, und sie ganz außer sich sein. Sie liebt Elsbeth.« ^ '^,S^äftttte sie vollbracht - das wußte sie so gut wie sie die Ursache für Mrs. Elsbeth wollte Mrs. Maltland sagen, Finchleys Ableben kannte. Ein tridaß sie sich täuschte, aber sie merkte, daß sie nicht sprechen konnte, i umphierendes Licht war in ihren Augen - die Freude über ihre Rache »Leise, sie ist bei Bewußtsein«, rief an Johan. Cyrus Finchley. »Ich sehe es an ihren Augen.« K '' Cyrus Finchley beugte sich über sie. Immer mehr Leute waren herbeige»Du verstehst, was ich sage, Tochlaufen. Sie war froh, als sie sah, daß ter?« Sie sah ihn an. Johan nicht dabei war. Natürlich »Ja, ich weiß, daß sie mich versteht«, konnte Johan nicht kommen; Priscilla war jetzt vermutlich schon tot. , sagte Cyrus zum Doktor. »Freund, Wenn Elsbeth hätte lachen können, |
die Zutaten studiert, die du dazu benutzt hast, und habe entdeckt, daß sie sehr heilkräftig sind. Ich werde den Trank selbst verordnen.« Immer mehr Leute kamen, und dann hörte sie Priscillas Stimme. »Oh, Elsbeth, Elsbeth ... wir kamen, sobald wir davon erfuhren Johann und ich . . .<> Priscilla! Priscilla, die aussah wie immer - schön und heiter. Elsbeth tat ihr leid, sie fühlte mit ihr, aber immer noch war sie voll des inneren Friedens, den nur Glück und Liebe bringen konnten, Johan hatte ihn auch - diesen inneren Frieden. Seine Stimme zitterte, als er Elsbeth ansah. '»Arme, arme Elsbeth - sie war meine Freundin.« Priscilla beugte sich nieder und küßte Elsbeth auf die Stirn. Und gleichzeitig küßte Johan ihre reglose Hand. Der Triumph in Elsbeths Augen erstarb. Er wurde vertrieben von Seelenqual. So mußte sie also von ihrem Versagen erfahren. Sie hatte nichts erreicht! Rund um sie begannen die Leute, deren Gewissen sich plötzlich rührte, weil sie nicht freundlich zu ihr gewesen waren und ihre Häßlichkeit verachtet hatten, ihr Lob zu singen; und jedes Wort war wie ein Stich in Elsbeths Herz. Sie hatte nicht nett sein wollen. Sie hatte gemein und 35
DOROTHY QUICK
rachsüchtig sein wollen. Sie hatte es versucht, aber es war, als habe sich alles gegen sie verschworen. Die Leute hatten sich geweigert, ihre Bosheit zu bemerken. Sie hatte eine Hexe sein wollen, sie hatte zu Satan gebetet, sie hatte einen Blutsbund mit dem Herrn des Bösen geschlossen, um sich an Johan rächen zu können, aber sie hatte keine Rache, keine Befriedigung erhalten. Was sagte Johan? »Sie - sie leidet - in ihren Augen ist Schmerz.« »Sie kann keine Schmerzen spüren«, erklärte der Doktor feierlich. »Dann leidet sie für uns - weil wir traurig sind.« Priscillas Augen waren voller Tränen. Johan nahm die Hand seiner Frau; als sich ihre Blikke trafen, konnte Elsbeth ihre Liebe füreinander sehen. Sie machte eine gewaltige Anstrengung - es war, als müßte die Bitterkeit in ihr einen Ausgang finden. »Nein - nein«, schrie sie. »Ich hasse euch alle. Ich bin eine Hexe - i c h ich .. .« Ihre Stimme erstarb in einem schrecklichen Gurgeln.
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»Sie ist nicht bei Verstand«, sagte Johan mitleidig. »Als könnte Elsbeth eine Hexe sein!« Seine Worte hatten noch zu ihrem Elend gefehlt. Elsbeth stöhnte ein wenig - wie vorher das Kätzchen. Es erinnerte sie an das Kätzchen, ihren einzigen Freund - und sie hatte es getötet. Völlige Verzweiflung brach gemeinsam mit einer barmherzigen Dunkelheit über sie herein. Ich, Alice Strand, erwachte keuchend, als meine Hand von dem Flik•ken rutschte, der wie Menschenhaut aussah. Es war Menschenhaut gewesen. Das wußte ich jetzt. Ein mitleiderregendes Fragment, das irgendwie durch die Zeiten erhalten geblieben war - alles, was noch von Elsbeth Farquar übrig war, von ihr und ihrer gequälten, verzweifelten Seele. Ich wußte, daß ich Elsbeths Handschrift erkennen würde, wenn ich die andere Seite des Flickens sehen könnte. Ich setzte mich schaudernd in dem großen Himmelbett von Tante Amabels Gästezimmer auf.
Die Rothaarige von Hans Kneifel
Nächte zwischen Spätsommer und Winter; Nebel prickelt auf der Haut. Die entlaubten Bäume stehen wie Skelette über nassem Gras. Ferner Lärm von Wagen, geisternde Lichtstrahlen. Die rundumlaufenden Balkone der Hochhäuser laden ein, sich fallenzulassen. Ein neunjähriges Mädchen, elfter Stock. Eine nerven' kranke Frau, zehnter Stock, und ein verkrachter Jurastudent, fünfzehnter Stock. In einem 1ahr drei Selbst•Härrier. Hinter deckenhohen' Glas-
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'Scheiben das eiskalt-blaue Flimmern
der Fernsehapparate: eine Zeit, in (3der, man beginnt, jede Art von Ver' rücktheit zu glauben und für Tatsachen zu halten. l'
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Der Himmel war von seltsamer Klarheit; dichter Nebel lag über dem Boden und dämpfte die Geräusche wie ein schwarzer Samtvorhang. Zwischen den eiskalten Sternen schwebte blaß und mächtig ein Vollmond. Mit eingeschalteten Breitstrahlern donnerte der schwere Triumph mit den gweißen Querstreifen über der Motor-
haube durch die Straße, die zwischen Häusern blind endete - der Nebel schluckte die Auspuffgeräusche. Der rote Wagen wurde scharf abgebremst und fuhr sacht in eine Parklücke. Lichter erloschen, die Tür fiel hart zu. Der Mann schob den Kragen der Pelz jacke hoch, schloß den Wagen ab und ging auf das Haus zu, entlang dem Licht, das hinter Betonwinkeln strahlte, umgeben von einem milchigen Halo aus Nebeltropfen. Vor der Glastür des Hochhauses stand ein gelbroter Lastwagen mit der Aufschrift Matheu y Matheu und einer spanischen Nummer. »Merkwürdige Zeit für einen Umzug«, murmelte Tomas und suchte den Hausschlüssel. Es war unnötig, denn die vier Personen unter dem Beleuchtungskörper hatten die schwere Tür festgestellt. »Guten Morgen«, grüßte Tomas lakonisch. Er nickte dem Hausmeister zu, sah in die müden Gesichter der spanischen Lastwagenfahrer und blieb stehen, als eine alte Dame, klein, zierlich und etwas zu modern 55
HANS KNEITEL
aufgemacht, eine schlechtverpackte Lampe an ihm vorbeitrug. »Da schauen Sie, was?« fragte der Hausmeister. »Ein modernes Haus Umzug um Mitternacht.« »Hier wundert mich nur noch wenig«, erwiderte der Mann und steckte seine gelben Lederhandschuhe ein. »In der Höhe der Miete sind Überraschungen Inbegriffen.« Der Hausmeister lachte. Die alte Dame versuchte vergebens, die Tür des Schneilifts zu öffnen. Der Mann, schlank und braunhaarig, riß die Tür auf. Er kannte ein paar Brocken Spanisch. »Por favor, senora«, sagte er und lächelte verbindlich, aber etwas unsicher. »Gracias«, erwiderte die Dame überrascht. »Sie sprechen Spanisch, junger Mann?« Er zuckte zusammen. Tomas war zweiunddreißig, und die Anrede störte ihn ein wenig. Er sah in ihre dunkelgrünen Augen und antwortete: »Vier Worte, gnädige Frau. Drei davon hörten Sie eben. Welches Stockwerk?« »Sieben, bitte. Wissen Sie - ich ziehe hier gerade ein, und wir sind seit vorgestern unterwegs. Sie sind todmüde, die Männer.« Der Lift hielt. Die Sicherheitsplatten schoben sich zusammen. Tomas öffnete die Tür, die alte Dame lächelte
dankend und stolperte über den' Rand des braunen Teppichs in der Liftkabine. Tomas' Arm schoß vor und verhinderte, daß der Lampenfuß gegen den Türrahmen schlug. Das Papier hatte sich verschoben, unter der zerrissenen Umhüllung sah Tomas wertvolles Glas aus Murano. »Danke. Sie sind sehr freundlich«, sagte die Dame und griff mit der linken Hand an ihr Herz. »Ich kann nur keine Scherben sehen«, erwiderte er und nahm ihr die Lampe aus den Armen. »Lassen Sie mich das Ding tragen. Rechts oder links?« Der Lift in ihrem Rücken fuhr nach unten. »Links, bitte. Ich habe dieses kleine Apartment, wissen Sie. Ich bin glücklich, hier wohnen zu können.« Er ging mit seinen langen Beinen neben der Alten bis zur angelehnten Tür. Er kannte den Grundriß dieser Kleinwohnung; ehe er hier eingezogen war, hatte er jede Wohnung genau gemustert. Die alte Dame öffnete die Tür - eine silbergraue Siamkatze mit grünen, leuchtenden Augen sprang von einer Packkiste. »Ich bin schon wieder da, Osiris«, sagte die Alte und deutete auf ein zierliches Tischchen. »Bitte dorthin stellen, die Lampe.« Er stellte die Lampe nieder und schälte vorsichtig die Verpackung ab. Der Schirm war aus Seidenstoff, zylindrisch geformt und mit einem ur-
DIE ROTHAARIGE
alten Druck verziert, der Faune und Sylphiden zeigte. Die Szene war mehr als nur frei gestaltet. »Nett!« sagte er. »Sie kommen aus Spanien?« »Ja.« Er lehnte sich gegen die Wand und ' zog ein zerknittertes Zigarettenpäckchen aus der Hemdtasche. Die Arbeiter kamen und schleppten einen gewaltigen weißen Teppich heran, i den sie achtlos in die Ecke des Korri?4ors warfen. »Bringen Sie jetzt das Regal?« trägste die Dame. |»Bi!« Tomas sah genauer hin. Sie schien jetzt etwas schlanker, größer als {•Vorher. Das Gesicht deutete darauf hin, daß die Frau vor vielen Jahren einmal sehr schön gewesen sein mußte. Weißes Haar, zu unzähligen kleinen Löckchen gedreht, zuviel verrutschtes Lippenrot und sehr exakt r'getuschte Augen. Der Hals war faltig wie die Greisinnenhände. Am Zeigefinger der rechten Hand und am Mittelfinger der linken funkelten zwei Ringe, die sicher alles andere als billig waren. Vermutlich Familienschmuck, in der erstarrten Form spanischer Großfamilien über Jahrhunderte hinweg vererbt. Die Dame bemerkte seinen prüfenden Blick, lächelte nervös und deutete auf eine Kiste. »Nehmen Sie Platz«, bat sie, »man
findet in diesem Land selten jem den, der so hilfreich ist.« Er winkte ab und ließ die Ziga tenasche auf den Boden fallen. »Ist nur ein Hobby von mir«, sa er. Sie lächelte schelmisch und den Zeigefinger. »Ach, das glaube ich nicht. Ich g be, Sie sind ein gutaussehender, zender junger Mann.« Er grinste und blies den. Rauch die Richtung der Fensterfront. silbergraue Siamkatze mit dem gewöhnlichen Namen strich um se Beine und hinterließ eine Me Haare, die er wieder würde w bürsten müssen. Er zuckte die Sc tern und meinte: »Nennen Sie mich nicht >jun Mann
HANS KNEIFEL
der Tür stehen. In einem Spanisch, das wie eine Maschinengewehrsalve klang, redete die alte Dame auf die Männer ein. Sie grinsten trotz ihrer Müdigkeit; als aus einer Kiste eine Flasche und vier angestaubte Gläser erschienen, breitete sich etwas Ähnliches wie eine gemütliche Stimmung im Zimmer aus, das fünf zu fünf Meter groß war und voller Umzugsgut stand. Tomas nahm die Flasche hoch und staunte über das Etikett. »Dios!« sagte er. »Das Zeug, das ich in Barcelona bis zur Bewußtlosigkeit getrunken habe. Jerez dulce! Schade, daß kein Eis da ist.« Die Gläser wurden geleert, und Tomas verabschiedete sich. Es war halb zwei, und er war müde. Die Alte brachte ihn bis zur Tür. »Wenn ich ganz eingerichtet bin, werde ich Sie zum Kaffee einladen, ja? Und vielen Dank für Ihre tüchtige Hilfe. Wie heißen Sie?« »Tomas Fischer, gnädige Frau. Fünfzehnter Stock.« Sie gab ihm die Hand. Sie war leblos und kalt, knöchern. Die scharfen Kanten der Ringe drückten. »Nochmals: besten Dank!« Er nickte, nahm die Jacke in den Arm und sah, wie ihn die Siamkatze prüfend anstarrte. Dann schloß sich die Tür aus Palisanderfurnier. Als Tomas auf den Lift wartete, stellte er fest, daß er eine Gänsehaut hatte.
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Am Nachmittag des nächsten Tages wurde seine leidlich gute Laune gründlich verdorben. Der Verdacht, daß sich in einer abgeschlossenen Wohnsiedlung von rund tausend Familien unbeobachtete Dramen abspielten, wurde weiter genährt. Tomas verließ das Haus, um die tägliche Ration Zigaretten zu holen. »Verzeihen, Herr!« Er drehte sich um. Hinter ihm stand ein Mann, etwa dreißig Jahre alt und mit den typischen Zügen des spanischen Zigeuners. Viel schwarzes Haar, brennende Augen in einem schmalen Gesicht. Der Mann sah aus, als leide er an Schwindsucht. Seine Finger krallten sich um Tomas' Arm. »Ja?«Tomas entfernte die Hand und sah unwillig auf die schwarzen Ränder der Fingernägel. »Hier wohnen Fräulein?« Tomas runzelte die Stirn und betrachtete den Mann genauer. Die Schuhe waren ungeputzt, und die Hose wirkte abgetragen und staubig. Der Hemdkragen war vor drei Wochen weiß gewesen. »Hier wohnen viele Fräuleins.« Tomas deutete auf die zahlreichen jungen Mütter, die ihre spielenden Kleinkinder im Sandkasten beaufsichtigten und über Waschpulver oder über ihre Männer sprachen. »Ja? Fräulein, groß, schlank. Rote Haar, so lang! Grüne Augen. Sie kennen Fräulein?«
DIE ROTHAARIGE
Eine entsprechende Bewegung beider Hände deutete die Umrisse ari. Es schien sich um eine einmalige Dame zu handeln. Der Zigeuner blickte Tomas flehentlich an; er schien auf jedes zustimmende Wort zu warten. »Tut mir leid, aber ich kenne kein Fräulein, die so aussieht. Sie lebt auch nicht in einem dieser acht Häuser, denn ich wohne seit fast zwei Jahren hier. Ich müßte sie kennen.« Der Zigeuner rührte sich nicht. Sein Gesicht wurde verschlossen, und er breitete mutlos beide Arme aus. »Entschuldigen!« sagte er und wandte sich ab. »Bitte«, sagte Tomas und ging auf den weißen Platten zwischen neugepflanzten Bäumen und spielenden Kindern bis zum Supermarkt. Er kaufte Zigaretten und eine Zweiliterflasche billigen Rotwein und ging wieder zurück. Der schwarzhaarige, hungrig aussehende Mann saß auf einem der Betonwinkel der Beleuchtung und sah Tomas entgegen. Er starrte ihm nach, bis er im Haus ver-
schwunden war. Tomas fühlte die Blicke wie Messerspitzen im Rücken. Tomas Fischer ernährte sich von dem Bedürfnis anderer, vor dem Einschlafen lesen zu wollen; er stellte Unterhaltungsliteratur her. Er verdiente so, wie er schrieb, nämlich mittelmäßig. Schriebe er besser, würde er vermutlich verhungert sein. Er
konnte sich einen Smoking, einen gebrauchten englischen Sportwagen und gelegentlich - meist in Begleitung von jungen Mädchen - ein teures Essen in einem teuren Lokal leisten. Tomas war groß, schlank und braunäugig. Durch das lange Sitzen vor der Schreibmaschine hatte er ab und zu Kreuzschmerzen. Außer der Befürchtung, dick zu werden, war er im Augenblick sorglos und glaubte, in der nächsten Zeit einigermaßen gut über die Runden zu kommen. Zwei Tage später, gegen ein Uhr, klingelte es. Er saß im roten Bademantel am Schreibtisch und las die Zeitung. Tomas ging zur Tür und öffnete. Der Hausmeister stand im Korridor. »Herr Molnar?« »Sie haben doch neulich der alten Dame geholfen, Herr Fischer, ntdit wahr?« »Ja«, erwiderte Tomas mürrisch, »ist sie wieder ausgezogen?« »Im Gegenteil. Ich habe sie eben vor dem Lift getroffen. Sie sollen heute um drei zu ihr zum Karfee kommen. hat sie gesagt. Drei Uhr nachmittags.« »Na ja«, erwiderte Tomas kurz, »Wohltun bringt Zinsen. Danke, Herr Molnar.« Der Hausmeister nickte und ging. Tomas zog die Schultern hoch. Eine wenig reizvolle Vision tauchte auf: dünner Kaffee in altmodischen Tas59
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sen mit Goldrand und Kuchen, der so trocken war, daß er vom Teller sprang. »Gar nicht lustig«, sagte er, »vielleicht kennt sie einen Verleger.« Er ersparte es sich, den obligaten Blumenstrauß zu kaufen, und hoffte, diesen Mangel durch seinen kargen Charme auszugleichen. Zehn Minuten nach drei Uhr klingelte er. Nieves Dalmar stand über dem Klingelknopf. Merkwürdiger Name, dachte Tomas, dann klingelte er. Als er hinter der Tür die trippelnden Schritte der Alten hörte, konnte er einen undeutlichen Schauder nicht UnterdrÜkken. Die Tür ging auf - und Tomas erschrak bis ins Mark. »Tomas Fischer«, sagte er und räusperte sich. »Verzeihen Sie, ich bin offensichtlich ein Stockwerk zu weit gefahren.« Das Mädchen lächelte ihn an und öffnete die Tür noch mehr. Hinter ihr saß Osiris auf der Schwelle und starrte Tomas regungslos an. »Wenn Sie der junge Mann sind, der meiner Tante beim Umzug geholfen hat, sind Sie hier richtig. Sie scheinen überrascht zu sein?« Tomas ging einen Schritt näher. Es roch stark nach Kaffee, und in der Kanne mußte ein höllisches Gebräu sein. »Einigermaßen, ja. Ich erwartete eine etwas . . . reifere Dame.« »Kommen Sie herein, ich bin die 40
reichte. Meine Tante ist verhindert. Ich hätte es schlimmer treffen können«, fügte sie hinzu. Hinter Tomas schloß sich die Tür. »Nett haben Sie es hier«, sagte er und sah sich im Wohnraum um. Die bleiche Sonne des Herbstnachmittags leuchtete durch die Glaswand und brachte die Farben zur Geltung. Den Boden bedeckte ein beiger Spannteppich, darauf lag ein riesiges weißes Ding mit langen Haaren. Es hätten zusammengenähte Ziegenfelle sein können. Die wenigen Möbel waren modern und von erlesener Schönheit. Sie harmonierten mit lederüberzogenen Schaumstoffwürfeln, die entlang einer Wand eine vier Meter lange Couch bildeten. Auf einem wertvollen Stereoplattenspieler rotierte Strawinskys Weihe des Frühlings. »Ihr Platz ist hier«-, sagte das Mädchen. Tomas setzte sich vorsichtig in den hochlehnigen Sessel. »Erstaunlich«, sagte er und sah in die grünen Augen des Mädchens. Die Farbe war die der Greisinnenaugen. »Wer oder was ist erstaunlich?« fragte sie. Sie hatte herrliches Haar, das bis knapp zu den Schultern reichte und dessen Farbe zwischen dunkelrot und kastanienfarben schwankte. Über dem rechten Auge begann eine graue Strähne. »Ich dachte an eine weißhaarige Dame und war erstaunt, als Sie öffneten«, sagte Tomas. Sie lachte.
DIE ROTHAARIGE
tit Milch und Zucker?« »Wie?« fragte er zerstreut. »Möchten Sie Ihren Kaffee mit Milch und Zucker oder ohne?« Er war verwirrt und löste seinen Blick nur zögernd von dem weißen Totenschädel, der auf einem kostbar gebundenen Buch lag. Dieses Buch wiederum befand sich in einem Fach des weißen Regals. Es war ein außergewöhnlich kleiner Schädel mit zierlichen Zähnen. »Nette Spielzeuge hat Ihre Tante«, l'antwortete er, »da ich eine Karaffe mit Cognac sehe, ziehe ich den Kaffee schwarz vor.« Das Geschirr war hochmodern - finnisches Design, es war wirklich echter Cognac, der Kaffee war teuflisch schwarz und stark, und auf Tomas Teller lag ein Stück fetter Cremetorte. ' »Alte Damen haben gewisse Eigenheiten«, erwiderte das Mädchen. E»»Man muß sie ihnen nachsehen. Meine Tante ist andererseits eine Perle „von einem Menschen.« '-.Tomas lächelte flüchtig. »Ich zweifle nicht daran, schließlich habe ich die Nichte kennengelernt. Herzlichen Dank!« Er machte eine Geste, die den Tisch 'umfaßte. Die einzigen alten Möbel jfearen das Tischchen, einige Bilder und kleine Phiolen, die einer mittelalterlichen Alchimistenküche entstamien konnten. Tomas sah sich um,
dann blickte er wieder das Mädche an. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Son erzähle ich immer dumme Witze un wirke auf meine Art recht unte haltsam, aber im Augenblick bin ic etwas irritiert.« Sie zog sehenswerte Beine in teure Strümpfen zu sich heran und lehn gegen das Leder der Sitzbank. »Irritiert? Meinetwegen?« »Auch«, sagte er. »Und tun Sie nic so, als ob Sie es nicht gemerkt hätte Gutaussehende Mädchen laden mic selten zum Kaffee ein. Und daz noch zu einem derart starken Kaffe Wieviel Pfund nehmen Sie pro Tass - oder hat Tantchen ihn schnell g kocht, ehe sie fortging?« Sie schüttelte den Kopf, das Haa flog zurück, und die Antwort hatt er so oder ähnlich erwartet. »Ich habe ihn gekocht. Kaffeekoche gehört zu meinen wenigen Fähig keiten.« Tomas lachte verlegen. »Sie scherzen. Welchen Job habe Sie, wenn ich fragen darf?« »Sie dürfen. Ich vertrete ein Werk das Spezialkosmetik herstellt. Ich re se ziemlich viel, und meistens wohn ich in der Zwischenzeit bei Tantchen Sie sind ein berühmter Schriftstel ler, habe ich von Tante Nieves er fahren?« Tomas winkte mit beiden Hände ab.
HANS KNEIFEL
»Sie hat's von Molnar, dem Hausmeister. Er denkt es, weil ich gewöhnlich erst mittags aufstehe. Aber ich mache selten vor zwei, drei Uhr nachts Schluß.« Ihre Figur war das Atemberaubendste, das er seit zehn Jahren gesehen hatte. Vorausgesetzt, die Manipulationen hielten sich in Grenzen. Er abonnierte Playboy, las deutsche Illustrierte, kannte daher manches und wunderte sich kaum mehr über die Eigentümlichkeiten weiblicher Anatomie. »Was schreiben Sie?« fragte sie. »Bücher«, antwortete er kurz. »Lassen wir das Thema . . . wenn Sie wieder in Madrid oder Kapstadt aus dem Jet steigen, kaufen Sie eines. Ich schreibe Ihnen dann eine lustige Widmung hinein. Ihre Tante ist überraschend modern eingerichtet.« Sie betrachtete ihn sehr genau. Und er begann sich wie vor einem Röntgenschirm zu fühlen. Osiris schlich an seinen Beinen vorbei, sprang mit einem virtuosen Satz auf die Couch und rollte sich zusammen. Vier grüne Augen musterten ihn, während die wilde Musik Strawinsky spielte. Wieder begann er, sich unruhig und unsicher zu fühlen. Er balancierte den Teller auf seiner Hand und spießte eine kandierte Kirsche auf. »Ich bin es zwar gewöhnt«, scherzte er, »im Rampenlicht zu stehen, aber Ihre Katze und Sie - Sie sollten sich 42
einmal im Spiegel sehen. Ich habe den Eindruck, Sie beide mustern mich ausgesprochen gnadenlos.« Sie lachte laut und herzlich. »Das hat keinen besonderen Grund«, erwiderte sie dann und trank einen Schluck aus ihrer Tasse. »Ich sehe jeden sehr genau an, und außerdem genieße ich es, mit einem charmanten jungen Mann hier zu sitzen und zu plaudern.« »Verdammt«, sagte er. Das Vokabular von Tante und Nichte war fast identisch. »Und ich habe immer geglaubt, erst bei Damen ab neununddreißig Chancen zu haben. Sollten Sie die Ausnahme in meinem vergammelten Leben sein?« Sie zupfte an einem Ohr der Katze, Osiris blinzelte verschwörerisch. »Wer weiß . . .?« sagte sie lächelnd. Jetzt glich sie Mona Lisa, Lucretia B'orgia und Cleopatra, trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre. Ihre Haut hatte die Farbe dunklen Honigs, und die Hände waren eine kleine Sensation mit langen, golden lackierten Nägeln. Sie trug einen ähnlichen oder sogar denselben Ring wie ihre Tante, auch am Mittelfinger der Linken. Eine Viertelstunde später, nach drei Tassen Kaffee mit Cognac, hatte Tomas seine Befangenheit überwunden und begann, sich wohlzufühlen. Die andersartige, aber zwingende Atmosphäre dieses Zimmers verstärkte
DIE ROTHAARIGE
sich, als es zu dunkeln begann. Dazu kam, daß sich dieses Mädchen eindeutig für ihn interessierte; das war ein sicheres Mittel, auch aus einem Misanthropen Funken zu schlagen. Er erfuhr ihren Namen, sie hieß wie ihre Tante und das, sagte sie, bedeute soviel wie >frischgefallener Schnee«. Es wurde ein langer, einzigartiger Nachmittag. Die Karaffe war leer, als Tomas aufstand, um sich zu verabschieden. »Wir werden uns ja wieder sehen«, sagte er ruhig. »Zufällig?« »Wenn wir uns sehen, dann nicht zufällig«, erwiderte sie. »Viel Erfolg bei der Arbeit.« »Danke, Nieves - ebenfalls.« In seiner Wohnung riß er die Balkontür auf und starrte die zahllosen Lichter unter ihm an. Nieves war das schönste Mädchen, das er jemals kennengelernt hatte, und sie schien alles andere als dumm zu sein. Er beschloß, sich wieder einmal der Gefahr auszusetzen, enttäuscht zu werden. Tomas Fischer glaubte, daß jeder Mann bei fast jeder Frau alles erreichen könne, wenn die Umstände günstig waren. Hier, zwischen dem siebenten und fünfzehnten Stock, schienen sie einmalig günstig zu sein. Er kaufte einen Strauß sorgfältig ausgesuchter Blumen und schrieb eine kurze Notiz auf die Briefkarte: Ich las-
se mich wahnsinnig gern zum Karfee einladen - von Ihnen! Er bat das ältliche Mädchen im Blumengeschäft, den Strauß an die junge Dame a\js zugeben. Als er den Laden verlriS" und entlang des Kanals, vorbei am entvölkerten Kinderspielplatz, dem Hochhaus zuschlenderte, rannte der verwahrloste Zigeuner fast in ihn hinein. Er wirkte wie ein Mensch kurz vor dem Verrücktwerden. ' »Entschuldigen, Herr«, sagte der Schwarzhaarige. »Noch immer nicht gesehen Fräulein?« Blitzartig fiel Tomas ein, daß der Fremde nur Nieves meinen konnte. Keine andere! Er schüttelte den Kopf, Argwohn und Ablehnung erwachten gleichzeitig. Er sagte schroff: »Nein. Kein Fräulein. Wohnt nicht hier!« »Danke - danke!« beteuerte der Mann und ging zu den fast leeren Bänken. Er musterte die wenigen Frauen, die dort saßen. Schlagartig brachen sämtliche Unterhaltungen ab. Der Mann wirkte wie ein moderner Ahasver; unruhig, fiebernd, hungrig. Einen Tag, nachdem die Blumen abgeliefert worden waren, begann Tomas zu eskalieren. Nach Jahren machte es ihm wieder einmal Spaß, sich in das bizarre, nervenreizende Spiel zwischen Mann und Frau zu wagen. Er war so weit von sich überzeugt, daß er an seinen Erfolg glaubte. Er fuhr in den siebenten Stock, und 45
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nachdem der Nachhall der Glocke ver- nahm, betrachtete er den Ring. Es klungen war, hörte er das Fauchen war wirklich der gleiche Ring. War der Katze. Dieses Mal hatte Tomas es möglich, daß ihn beide Frauen abdamit gerechnet, die alte Dame anzu- wechselnd trugen? »Jerez mit Eis«, sagte er und trank. treffen. »Herrlich.« »Sie sind es, Herr Fischer?« sagte sie und streckte ihm die Greisinnen- »Nieves kommt morgen oder überhand entgegen. »Schade - meine morgen«, meinte die Tante. »KomNichte ist nicht da. Sie flog nach men Sie doch einfach zu uns herunBarcelona. Sie haben ihr mit den ter, wenn Sie mögen.« Blumen eine große Freude gemacht. »Das werde ich tun«, antwortete er und sah sich um. Er entdeckte in Kommen Sie herein!« »Gern«, sagte er und sah die Blu- einem Fach des Regals ein schwarzes men, die verdorrt in einer schlanken Telefon und schüttelte ungläubig den Vase standen. Nach zwei Tagen in Kopf. »Telefon haben Sie ja, sogar diesem Zimmer waren sie verdorrt! ein schwarzes; ich rufe vorher kurz »Ich wollte mit Ihrer Nichte einen an, ja?« »Hier - die Nummer!« Herbstspaziergang machen. Im offenen Wagen zum Schloß und dort zu Die Alte schrieb etwas auf eine Karte. Tomas drehte sie um: eine GeFuß durchs Herbstlaub.« Sie schob ihn herzlich in den Wohn- schäftskarte der jungen Nieves. Die raum. Zwei neue Bilder waren auf- Schrift der Alten sah nicht wie die gehängt worden. Eines zeigte einen einer fünfundsechzigj ährigen Frau Ausschnitt aus dem Garten der Lüste aus. Tomas steckte die Karte ein und von Hieronymus Bosch, das andere sagte: eine Federzeichnung von Baldung- »Schade, daß Ihre Nichte nicht da ist.« Grien, die eine junge Hexe mit einem Die zwei Frauen hatten über ihn geDrachen und zwei böse blickende sprochen - offensichtlich nicht Knaben zeigte; eine sinnliche und schlecht. Die Tante strahlte ihn an. gewagt-obszöne Darstellung. Tomas Osiris hockte auf dem Kissen und zuckte schweigend die Schultern und beobachtete mit großen Augen jede seiner Gesten. drehte sich um. Nieves musterte ihn spöttisch und hielt ihm ein Glas ent- »Ja, schade. Sie wird oft bei mir wohnen, wenn sie in der Stadt ist. gegen. »Sie trinken ihn doch so gern«, sagte Sie müssen wissen, sie ist ständig unterwegs. Wir kommen aus einer reisie. »Nur für Sie!« Während Tomas den Jerez entgegen- selustigen Familie, doch früher war 44
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das Reisen viel unangenehmer. Aber auch interessanter.« »Ich entsinne mich«, sagte Tomas und lachte. »Hat Sie dieser merkwürdige Zigeuner oder was er ist, schon belästigt?« »Zigeuner?« Die Alte schien zu erschrecken und senkte ihre Stimme zum Flüsterton. Osiris stand auf, streckte den Schwanz in die Höhe und buckelte fauchend. »Na ja«, sagte Tomas, »ein etwa dreißigjähriger Mann, ziemlich abgerissen und scheinbar am Verhungern. Er fragte nach einem Fräulein aus Spanien. Ich sagte, ich kenne sie nicht.« Nieves war an das Regal gegangen und legte die Hand auf den Totenschädel, im Nebenfach stand ein Edelholzkeil, und auf diesem saß ein ausgestopfter Rabe, pechschwarz und mit stechenden Knopfaugen. Tomas glaubte, Unsicherheit aus ihrer Stimme herauszuhören. »Mich hat er nicht belästigt. Ich habe ihn nicht gesehen«. Sie schien zu lügen. Tomas roch an dem leeren Glas und stellte es ab. »Versprechen Sie mir, die Flasche nicht allein auszutrinken? Ich liebe diesen Jerez. Ich rufe morgen oder übermorgen an. Wenn es regnen sollte, kann ich mit Ihrem Fräulein Nichte zum Essen fahren - vorausgesetzt, ich langweile sie nicht.« Die Alte sah Tomas an, schüttelte
den Kopf und nahm die Ha Totenkopf, dann erwiderte si »Ich kenne Nieves so gut w selbst, und ich verrate siche Neues, wenn ich Ihnen sage, Nieves sehr darüber freuen Schließlich sind Sie ein e cher ...« Tomas blickte verzweifelt zu ke und murmelte: ». . . gutaussehender, cha junger Mann, ich weiß. Sie ü ben reizvoll, gnädige Frau, a übertreiben. Darf ich mich schieden?« Sie ging vor ihm zur Tür. kleinen Garderobe hing ein d tellanger weißer Pelzmantel. berührte ihn mit dem Hand und glaubte, von den Haaren elektrischen Schlag zu beko Nannte man diesen Pelz nicht wolf? »Ich rufe an«, sagte er und die knochige kalte Hand mi scharfkantigen Ring. »Darf i »Sie sollen. Nieves würde sich en.« Tomas fuhr mit dem Lift hin kletterte in den Sportwagen stieß aus der Parklücke. Als Stockwerke abzählte und bei Apartment angelangt war, glau hinter dem Gewebe der Vorhän unverkennbare Silhouette des j Mädchens zu sehen. Unsinn! E statt zum Schloß zur Bank, zu
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und in die Wäscherei. Er war sehr nachdenklich, als er in den dichten Verkehr der Hauptstraße einbog. Zwischen ihnen flackerte die Kerze. Tomas hob den Leuchter und hielt ihn über den Tisch. Nieves zündete sich die Zigarette an und blies Tomas den Rauch ins Gesicht. »Danke«, sagte er. Sie lächelte; jetzt nur für ihn allein. In dem kleinen Lokal, das Tomas nur dann besuchte, wenn er mit einer jungen Dame eindeutige Absichten hegte, waren sie - oder vielmehr Nieves - eine kleine Sensation gewesen. Tomas in seinem dunkelblauen Anzug sah passabel aus. Nieves war mit einem weißen Kleid aufgetaucht, dessen Dekollete die dem Abend entsprechende Tiefe hatte. Der Kellner, der Tomas seit zwei Jahren kannte, hatte sich förmlich erschöpft. Nachdem Tomas die erstaunliche Rechnung gezahlt hatte, sagte er leise: »Ich nehme an, daß es Ihnen gemundet hat. Teuerste.« Ihr Lächeln ähnelte jetzt dem einer großen, trägen Katze. »Trefflich. Ich nehme an, in dieses Lokal gehen Sie immer mit den kleinen Mädchen, die Sie verführen wollen?« »Klugheit, dein Name ist Weib«, sagte Tomas und nickte bitter. »Wie recht Sie haben. Selbstverständlich sind Sie die Ausnahme. Mit Ihnen
ging ich deshalb hierher, weil das Essen teuer und delikat und der Service excellent sind. Waren Sie zufrieden?« »Dank Ihrer Begleitung einer der zehn unvergeßlichen Abende eines Mädchenlebens.« »Es ist erstaunlich, wie Sie sich meinem ironischen Tonfall angeglichen haben. Das erlebe ich selten, und wenn, dann mit Frauen ab neununddreißig.« »Warum gerade neununddreißig?« Tomas machte eine entschuldigende Geste. »Ich kenne kaum Damen über vierzig. Was machen wir jetzt?« »Wäre es nicht so kalt, befände sich ferner ein Park in der Nähe, würde ich Sie um einen langen Spaziergang bitten. So aber . . .« »Ich höre!« Tomas legte die Hand. ans Ohr. , »Ich beschränke mich darauf. Sie auf ein Glas Jerez in den siebenten Stock einzuladen. Ich hoffe. Sie interpretieren die Einladung richtig.« »Ich glaube, daß ich es tue«, gab er zur Antwort. Er lächelte versonnen. Zwischen ihnen war im Lauf der vergangenen hundertfünfzig Minuten ein geheimnisvolles Einverständnis entstanden. Tomas hatte Nieves gegen sieben Uhr angerufen und sie kurz vor acht abgeholt. Sie waren ins Zentrum gefahren. Während des Essens hatten
DIE ROTHAARIGE
sie sich kennengelernt: erstaunlich, wie tief der Grad gegenseitigen Verständnisses geworden war. Tomas würde sich, hätte er ernsthafte Chancen, in dieses Mädchen verlieben wollen, aber seine Erfahrung ließ ihn skeptisch bleiben. Nieves selbst schien stark an ihm interessiert zu sein - wenn nicht, spielte sie hervorragendes Theater. Er hatte nach einigen Worten festgestellt, daß ihr sowohl das Fluidum, das selbst mittelmäßige Schriftsteller umgab, als auch der grellrote Sportwagen und die Tatsache, daß er beim Essen nicht schmatzte, völlig gleichgültig waren. Er war tief beeindruckt. »Darf ich Ihren Mantel holen?« fragte er. »Bitte.« Sie drückte die Zigarette aus, und Tomas holte seinen Wildledermantel und ihren Polarwolf. Die Männer warfen ihm neidvolle Blicke zu, die Gesichter der meisten Mädchen versteinerten; er fühlte sich geschmeichelt. Sein kühler Verstand registrierte gleichzeitig, daß Nieves die Bewunderung genoß. Als sie neben ihm auf dem Schalensitz kauerte, fragte sie kurz: »Wie spät?« »Viertel vor Zwölf. Geisterstunde. Die Zeit des Nebels, der Liebenden und der Hexen.« Das Motorengeräusch weckte vielfältige Echos. Sie fuhren die vier Kilo-
meter bis zum Hochhaus, und Tomas fand sogar eine Parklücke. Er gestattete sich, Nieves am Ellenbogen zu führen, schloß die Tür auf und stellte sich im Lift neben das Mädchen. Nieves betrachtete sich in dem schmalen Spiegel. »Sie brauchen nur in meine Augen zu sehen«, sagte Tomas sarkastisch. »Zwei runde Spiegel werden Ihnen zeigen, wie gut Sie aussehen.« Sie drehte sich schnell um und nahm seine Hand. »Sie sind ja ein richtiger Literat!« sagte sie erstaunt. »Und eine so schöne Metapher!« »Und völlig kostenlos.« Er nickte. »Sie haben noch genügend Jerez?« Ihr Lächeln traf ihn wie eine glühende Nadel. »Genug, um Sie betrunken zu machen und zu verführen.« Der Lift hielt, Tomas stieß die Tür auf. Zehn Leuchtstoffröhren erhellten flackernd den H-förmigen Korridor. Das Geräusch von Ledersohlen und hohen Absätzen hallte zwischen Rauhputzwänden. Mit gespieltem Entsetzen fragte Tomas: »Sie werden mich doch nicht verführen wollen. Teuerste?« Über die Schulter warf ihm Nieves einen kurzen, eindeutigen BUck zu und schloß die Tür auf. »Nehmen Sie an, ich sei eine Nonne?« »Nein«, entgegnete er trocken. »Das ganz sicher nicht.« 47
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Während er ihr den Pelz abnahm, begrüßte Osiris das Mädchen nach Katzenart. Als sich das Fell an den Strümpfen rieb, glaubte Tomas, Funken zu sehen. Sie gingen in den Wohnraum, Tomas setzte sich in den Sessel. »Was trinken Sie? Kaffee, Jerez, Cognac, Gin oder Whisky?« »Zuerst einen Kaffee, dann Jerez mit Eis.« Er sah auf. »Macht es Ihnen nicht zuviel Mühe?« »Nein«, sagte sie, »ich rechnete mit dieser Kombination.« Sie ging in die Miniküche und stellte eine kleine, doppelt kugelförmige Karfeemaschine auf eine Kochplatte. »Wirklich erstaunlich«, murmelte Tomas, als sie zurückkam, »wie gut Sie mich zu kennen glauben. Ich ziehe um diese Stunde wirklich Kaffee und Jerez vor.« Sie stand vor dem Sessel und fuhr schnell, unverbindlich durch sein Haar. »Ich wußte es genau. Tausend Jahre Erfahrung liegen hinter mir.« »So alt, Mädchen?« fragte er. »So weise«, erwiderte sie. »Eine Sekunde - ich ziehe mich nur um. Wenn das Ding dort zu pfeifen beginnt, schalten Sie die Platte ab. Sie werden einen Schalter drehen können?« »Möglicherweise sogar in die entsprechende Richtung«, sagte er. Das Geräusch der Wohnraumtür, das
Klappen von Schranktüren, Geräusche, die er nicht deuten konnte. Drei Minuten später pfiff die kleine Kaffeemaschine. Er stand auf und drehte den Schalter herum. Aus dem Hochschrank suchte er Teller, Tassen und Löffel, fand Milch und Zukker und plazierte alles auf ein Tablett, das er vorsichtig zum Tisch trug. Dann schaltete er unter Osiris' mißtrauischen Blicken die Couchlampe mit den freizügigen Darstellungen auf dem Seidenschirm ein und die Deckenbeleuchtung ab. Er wartete einige Sekunden und hörte im Bad Wasser rauschen. Dann suchte er zwischen den hochkant stehenden Schallplatten. Er legte Berlioz auf, Sinfonie fantastique. Aus Stereolautsprechern quoll Musik wie Nebel und füllte den Raum. Tomas war nüchtern wie ein Stück Mauer, aber er fühlte sich im Banne einer Verzauberung: Musik, Totenschädel, das Zimmer, die lautlose Katze und die weichen Möbel . . . die Dinge waren wohlausgesuchte Zutaten zu einer eindeutigen Situation. Er setzte sich wieder, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand Nieves vor ihm. »Wie ich Menschen liebe«, sagte Tomas ruhig und sehr leise, »die jedesmal die richtigen Dinge im richtigen Augenblick tun!« Sie legte eine Handfläche gegen seine Wange.
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»Auch das wußte ich. Außerdem bin ich dort, wo es sich nicht vermeiden lassen sollte, für Ehrlichkeit. Ich sehe, du hast den Jerez nicht gefunden.« Tomas klappte den Deckel des stählernen Kästchens auf und zündete zwei Zigaretten an. i »Hauptsächlich deswegen, weil ich nicht gesucht habe. Sicher entspricht Berlioz der Situation - du scheinst mich verzaubern zu wollen?« Sie schwieg und lächelte, dann klappte das Barfach auf, und Nieves stellte die Flasche und zwei schlanke Gläser auf den Tisch, holte Eis aus der Küche. Tomas verteilte das Geschirr und entschloß sich, ihr das Entgegenkommen zu erleichtern. Er setzte sich in eines der lederüberzogenen Couchelemente. Nieves kam mit der Schale voller Eiswürfel zurück. Sie trug einen knöchellangen Morgenmantel aus einem hauchdünnen, kostbaren Stoff. Schwarz. Die Oberfläche sah wie der Druck einer Sternphotographie aus; Sterne, Monde, Planeten und Kometen bildeten verstreute Muster auf dem schwarzen Grund. »Ich kenne manches«, sagte Tomas und drehte den Kopf. »Aber solch einen Stoff habe ich nicht einmal in der Phantasie gesehen.« Nieves goß pechschwarzen Kaffee in die Tassen, füllte die Gläser mit Jerez. Sie trug jetzt keinen Ring mehr. Vier Eisstückchen klingelten in die
Gläser.
»Ich bin auch keines deiner Mädchen, die sich von einem SechzigMark-Essen so beeindrucken lassen, daß sie deswegen mit dir schlafen.« Sie lächelte nicht, als sie das sagte. »Das ist bitter«, erwiderte er, »aber richtig formuliert. Ich habe nichts 'gegen begründetes Selbstbewußtsein. Ich glaube, bei dir ist es nicht grundlos - natürlich werde ich mich täuschen.« Er blieb skeptisch. Stets dann, wenn Dinge perfekt erschienen, erwachte verstärkt sein Mißtrauen. Berlioz' Musik schilderte die Verwandlung einer geliebten Frau in eine Hexe und die Verzweiflung, mit der es der Mann sah. In dieser Stunde um Mitternacht war alles zu perfekt und zu präzise arrangiert. Es mußte ihn mißtrauisch machen. Wie viele Menschen, denen die Grenzen ihrer Begabung bewußt waren, blieb Tomas ironisch, ohne Zyniker zu sein, und skeptisch, ohne sich den Dingen zu verschließen. Er trank Kaffee und löschte die Zigarette. »Wo ist Tantchen?« fragte er. »Sie besucht eine Freundin. Wir Dalmars sind eine große Familie, fast über die ganze Welt verbreitet. Dazu kommt, daß wir nicht besonders arm sind. Zufrieden?« »Ja und nein , . . das alles hat Zeit. Ich hoffe, dieser Abend wird nicht der letzte sein, den ich mit dir verbringe.« 49
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Sie lehnte sich leicht gegen seine Schulter, aber die Berührung wog mehr als eine Umarmung eines anderen Mädchens. Tomas bewegte vorsichtig sein Glas, Eis schlug gegen die dünne Wandung. Sie sahen sich in die Augen. »Wer verführt wen?« fragte Tomas. »Fast alle Mädchen glauben, es sei Sache des Mannes, zu handeln, nachdem man ihn an die Wand gedrängt hat, nicht vorher.« \ Sie lachte laut. »Schriftsteller haben mitunter den Vorzug, sich um originelle Formulierungen zu bemühen. Daß du so wohltuend sachlich bleibst, macht dich unwiderstehlich. Verführen wir einander!« Tomas küßte sie leicht auf die Lippen, sie schmeckten nach etwas, das er nicht kannte. Er bog seinen Kopf zurück und murmelte: »Sekunde. Ich öffne nur die Manschettenknöpfe, welch letztere Handarbeit aus Toledo sind. Mitbringsel.« »Ich weiß, ich sah es bereits im Lokal. In Toledo habe ich einmal gewohnt, vor einigen Jahrhunderten.« Sie lachte verlegen, wie es schien. Tomas störte es nicht einmal, daß Osiris mit grünen Augen alles mit ansah. Die Küsse, die Nieves und er tauschten, waren Naturereignisse. Jetzt begann er zu wissen, daß Nieves allen anderen Mädchen in einem 50
Maß überlegen war, das er nicht beschreiben konnte. Sie kontrollierte den Körper mit dem Verstand, war heiß wie Magma und kalt wie polares Eis gleichzeitig. Als er den langen Reißverschluß des sternübersäten Mantels öffnete und seine nervösen Hände die weiche Haut spürten, wußte er, daß ihr Körper hielt, was andere Körper nicht einmal versprachen. Eine halbe Stunde oder eine Woche später erwachten sie aus dem Schweigen. Tomas setzte sich auf, schob seinen Schuh zur Seite und goß Kaffee in eine Tasse. Er trank sie in einem Zug leer. »Tom?« »Ja?« Er drehte sich herum. »Lege Mussorgski auf; Nacht auf dem kahlen Berge. Willst du?« Er gehorchte schweigend. Als er die Titel durchsah, es waren über hundert Platten, bemerkte er die Ähnlichkeit. Mystik, Sagen, rituelle Bezüge, faszinierende Themen. Überbegriff Zauber und Verzauberung. Untypisch für ein Mädchen von fünfundzwanzig Jahren. Kein Barock, nicht ein Mozartstück, viele Slaven und einige Sonderausgaben mit mythologischen Ritentänzen eingeborener Naturvölker. Der Diamant senkte sich, Musik schwang durch den Raum. »Zündest du Zigaretten an?« bat Nieves. »Natürlich.«
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Ihr Körper lag ausgestreckt auf den Lederkissen. Tomas setzte sich neben sie, und ihr Arm legte sich um seine Hüften. Tomas sagte nachdenklich: »Ja . . . ich spiele gern, aber ich werde vergessen, was ich zu tun pflegte. Du bist das erste Mädchen, von dem ich weiß, daß ich es lieben könnte.« Sie küßte seine Schulter, und ihre Zähne hinterließen ein feines, kaum sichtbares Mal. »Ich kenne eine Unzahl Männer«, erwiderte sie so leise, daß er Mühe hatte, sie zu verstehen, »aber du hast einen Maßstab gesetzt. Du bist weder schön noch wild, weder klug noch ausschließlich - aber du bist die beste Kombination von allem und allen. Ich glaube, daß ich dich lieben werde.« Er war verzaubert und zwang sich, seine Skepsis nicht zu vergessen. »Ich weiß nicht, wie lange es zwischen uns dauert, aber ich werde dich nicht vergessen. Du bist fremd, unbegreiflich, aber du bist die Geliebte, von der jeder Mann träumt. Du liebst mit jedem Muskel und jeder Hirnzelle. Warum hast du gerade mich herausgesucht? Du hast mich für andere Mädchen verdorben!« »Warum? Es wird für dich kein anderes Mädchen mehr geben, Tom«, sagte sie und setzte sich auf. Zwischen ihren Brüsten hing an einem dünnen Goldkettchen ein Amulett oder etwas Ähnliches. Als fürchte er,
eine unbedachte Bewegung könne den Zauber zerstören, griff er danach. »Karneol«, flüsterte er. »Fundort bei Teil Brak. Eine Schildkröte, Symbol für Fruchtbarkeit und langes Leben. Was bedeutet das, Nieves?« Ihre schlanken, kundigen Hände lagen auf seinen Knien. Plötzlich bekam ihre Stimme den Klang unwiderruflichen Ernstes. Was sie sagte, schien tiefe Wahrheit zu sein, fernab jeder Koketterie oder wohlwollenden Spottes. »Du hast recht, auch mit der Herkunft. Der Stein stammt aus dem Lande Sumer; er ist älter als die Ringe, die Tante und ich tragen. Es ist das Zeichen unserer . . . Familie. Wenn wir es verlieren oder wenn es uns geraubt wird, stößt uns etwas Furchtbares zu. Aberglauben? Vermutlich, aber du als Schriftsteller wirst wissen, was die >prägende Kraft des Normativem bedeutet. Jemand, der sich einbildet, krank zu sein, wird daran sterben. Die Karneolschildkröte ist für die Familie das Symbol der Unsterblichkeit, das Zeichen des Lebens. Keiner, der es verloren hatte, lebte nachher noch lange.« Tomas nahm ihr die Zigarette aus den Fingern und schnippte die Asche ab. »Ich weiß, es gibt solche Abhängigkeiten. Wenn du glaubst, die Karneolschildkröte zu brauchen - ich
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werde sie dir nicht stehlen. Trotzdem finde ich deinen Busen attraktiver ohne das runde Ding.« Sie machte zwei aufregende Bewegungen, und nur die dünne Kette war noch um ihren Hals zu sehen. »Ich trage die Schildkröte dir zuliebe auf dem Rücken«, sagte Nieves. Sie lächelte, und er küßte sie. Er ließ sich zurückfallen auf das warme Leder. »Lassen wir uns die gegenseitigen Verrücktheiten. Wie lange wird es dauern mit uns beiden?« Sie preßte sich eng an ihn. »Solange du willst. Ich sehe keinen Grund, dich mit anderen Männern zu betrügen. Ich war allen meinen Geliebten treu, bis sie starben.« Er grinste ihr ins Gesicht und hielt sie an den Schultern etwas zurück. »Auf deinen Reisen bist du nur Geschäftsfrau . , . oder Geschäftsmädchen?« »Nichts anderes. Wenn ich von meinen Flügen zurückkomme - wirst du auf mich warten? Wirst du da sein, wenn ich anrufe?« Er spielte mit der Kette und strich die graue Strähne aus ihrer Stirn. »Heute, morgen . . . ja. Übermorgen? Vielleicht. Du darfst nicht zu lange wegbleiben, Nieves.« Sie richtete sich auf, ging hinüber zum weißen Regal und nahm etwas aus einer Kassette. Sie öffnete die Hand und zeigte ihm einen Schlüssel für ein Sicherheitsschloß. 52
»Ich riskiere es, dir zu vertrauen. Das ist der Schlüssel dieser Wohnung. Benütze ihn niemals, ohne vorher anzurufen. Benütze ihn, wenn ich da bin. Versprichst du es mir?« In dieser Situation hätte Tomas Nieves alles versprochen außer der Ehe. Er bemühte sich, den Verstand einzuschalten, überlegte sekundenlang und erwiderte: »Ich verspreche es, Nieves, wirklich.« »Gut. Hier ist er. Benutze ihn nur, wenn ich hier bin, niemals sonst.« Sie versenkte ihn in die Brusttasche seiner Anzugsjacke. Es war fast zwei Uhr. Die Nacht eilte mit Riesenschritten. Sie liebten sich mit ertrinkender Atemlosigkeit, 'als gäbe es kein Morgen. Beide wollten sie, daß es ein Morgen gäbe. Sie trennten sich am nächsten Tag gegen Mittag, nach einem Frühstück, das Nieves zubereitete, diesmal in einem roten Hemd aus hauchdünnem Wildleder, unter dem sie nichts trug als ihre Haut. Tomas fuhr in den Fünfzehnten, las kurz in der Zeitung und schlief bis abends. Als er in der Dunkelheit erwachte, kamen die Gedanken, die fürchterlichen Partner der Vernunft. Er liebte nicht, er war nicht verliebt .., er war verzaubert worden. Er fühlte sich leer, ausgebrannt und erkannte jedenfalls den Begriff >verfallen< ziemlich genau. Er badete,
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trank eine Kanne Kaffee leer und beendete die letzten fünfzehn Seiten des Manuskripts. Er schaffte es in der Hälfte der sonst üblichen Zeit. Die folgende Woche arbeitete er wie ein Rasender, um zwischen sich und die Nacht mit Nieves einen so großen Abstand zu bringen, der es ihm erlaubte, alles mit kalter Reife zu betrachten. Er schaffte es bis genau zu jenem Abend, an dem er irgendwo eingeladen war und nachts um ein Uhr, die Pelzjacke über dem Smoking, aus dem heißgefahrenen Wagen stieg. Er blieb stehen, starrte die Front des Hochhauses an. ». . . fünf . . . sieben. Was ist das?« Hinter den Schleiern des Vorhanges bewegten sich zwei Schatten. Zwei schlanke, schnelle Schatten mit rudernden Armen, hastig und schnell. Kein Zweifel - in der kleinen Wohnung ging etwas vor. Langsam ging Tomas näher. Rechts von ihm bildete sich Reif an den schwarzen Ästen der Büsche. Die Lichter unter den Betonwinkeln strahlten böse, die Platten des Weges hatten nasse Fugen. Irgendwo klirrte Glas, und ein Hund bellte. Dann mehrere. Schließlich stimmten die kleinen Pudel, Dackel, Terrier und Spaniels, die in den acht Häusern lebten, in das Kläffen ein. Ein Fenster wurde aufgerissen, und eine Männerstimme schrie, sich überschla-
gend: »Ruhe!« Der Erfolg war gleich Null. Ein höllischer Spektakel brach los. Tomas fühlte in seinem Magen einen harten Klumpen und begann zu laufen. Er rutschte auf den glatten Steinen aus und schloß die Tür auf. Vor dem Lift wußte er, was zu tun war. Er würde zu sich hinauffahren, Nieves anrufen und es zehnmal läuten lassen, wenn sie nicht abhob. Es war ihre Silhouette gewesen, nicht die der Alten. Keuchend sprang er aus dem Lift, sein Herz schlug wie rasend. Er warf die Jacke achtlos in den Korridor, schloß die Tür und öffnete die andere Tür zum Wohnraum. Sein Telefon stand in einem Stringregal links vor der Glaswand. Er schaltete die Korblampe an und blieb stehen, als habe man ihn in den Magen getroffen. Auf dem Balkon stand Nieves, splitternackt, und jetzt berührte sie die Glastür. Sie öffnete sich, obwohl der Sperrhebel nach oben umgelegt war. Das Mädchen kam ins Zimmer, zitternd vor Angst und Kälte. Hinter ihr blieb die Tür offen. Das Hundegebell war mörderisch laut, dauerte mit unverminderter Heftigkeit an. »Nieves . . . was . . .?« Er umarmte sie flüchtig, trat die Tür mit dem Fuß zu und raste in den Flur. Er hob die Pelzjacke auf und hängte sie um die Schultern des Mädchens. Tomas sah die Spuren von 55
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Fingern an den Oberarmen des Mädchens. »Was ist los?« fragte er, sich mühsam zur Ruhe zwingend. »Der Zigeuner. Er wollte mich vergewaltigen. Osiris hat ihm das Gesicht zerkratzt, und dann versuchte er, mir die Schildkröte abzureißen. Ich . . .« Sie öffnete die Hand und hielt ihm das Amulett entgegen. Das Goldkettchen war zerrissen. »Wie kommst du auf den Balkon, Nieves?« fragte er leise. Sie sah ihn ratlos an und schwieg. Er nahm sie vorsichtig bei den Schultern und zog sie an sich. »Frage mich bitte nicht«, flüsterte sie. »Wenn du mich liebst, frage mich niemals. Nimm alles, wie es ist. Ja?« »Mal sehen«, sagte er und hob sie auf. Er öffnete die Tür mit dem Knie und trug Nieves ins Bad, setzte sie auf den Rand der Wanne. »Du kannst jetzt duschen und meinen Bademantel anziehen«, sagte er. »Ich bin gleich wieder zurück.« Sie erschrak wieder: Ihr Gesicht wurde unnatürlich bleich. »Wohin gehst du?« »Wenn du mich liebst, frage niemals«, erwiderte er und grinste grimmig. »Ich bin in fünf Minuten wieder da.« Er ging in den Schlafraum, öffnete das oberste Fach des Schrankes, dessen Vorderseite mit der fotografi54
sehen Wiedergabe ägyptischer Wandmalerien beklebt war und wickelte die kleine Pistole aus der Decke. Er zog den Schlitten zurück, entsicherte die Waffe und zog einen Handschuh an. Dann steckte er die blauschwarze Pistole in die Innentasche der Smoking jacke. Er verließ die Wohnung, fuhr in den siebenten Stock hinunter und ging schnell und geräuschlos auf die Tür zu. Er holte die Waffe hervor, nahm sie in die behandschuhte Rechte und schloß auf. Osiris, der auf dem Ablagebrett saß, sprang auf Tomas' Schulter und schlug seine Krallen in den Schalkragen. »Ruhig, Osiris«, sagte Tomas und stieß die Tür zum Wohnraum auf. »Halt.« Der Zigeuner stand in der Mitte des Raumes, eine leere Flasche in der Hand und starrte Tomas an. Tomas richtete die Waffe auf ihn. »Schnell!« sagte er knurrend. »Die Flasche weglegen, die Taschen ausleeren. Du bist hier kein erwünschter Gast!« Wortlos, aber ohne Tomas aus den Augen zu lassen, gehorchte der Mann. Tomas konnte den stechenden Blick der brennenden Augen nicht ertragen, aber er wartete geduldig. In den Taschen war nichts, das so aussah, als könne es der Alten oder Nieves gehören. »Steck den Krempel wieder ein«, sagte Tomas hart, »und dann ver-
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schwinde. Wenn ich dich hier in der | Nähe des Hauses noch einmal sehen sollte, bringe ich dich um. Damit! Er hob die Pistole und zielte ins Gesicht des anderen Mannes. Der Zigeuner, der noch jämmerlicher, verzweifelter und verschmutzter war, drückte sich entlang des Regals zur Tür, glitt durch den Flur und machte schweigend die Tür hinter sich zu. Tomas wartete, bis er das Geräusch des Lifts hörte, dann legte er die Waffe auf den Tisch. Er warf die Kissen zurück auf die Couch, richtete die Lampe auf und machte flüchtig Ordnung. Dann nahm er Osiris von der Schulter, schlug das Buch unter dem Totenkopf auf und sah, daß es ein mittelalterliches, vergilbtes Exemplar war, abgegriffen und sicher ungeheuer wertvoll. Die Schrift konnte er lesen, aber nur wenige Brocken Latein verstehen. »Jetzt hast du, Tomas, was du niemals wolltest«, brummte er. »Mitten in einer Tragödie drin. Und in was für einer dazu!« Er bedeutete Osiris, ihm nicht nachzulaufen, steckte die Waffe ein und löschte die Beleuchtung. Mit seinem Schlüssel versperrte er die Tür, ging leise zum Lift und fuhr in seine Wohnung hinauf. Nieves saß auf dem Schreibtisch und hatte sich beruhigt. Das wütende Kläffen der Hunde war vorbei. Wieder lagen Ruhe und
Nebel über den Häusern, über dem bereiften Rasen und den schwarzen Ästen. In der Ferne blinkten die Lichter des Fernsehturmes. »Ich habe den Zigeuner aus der Wohnung der Tante entfernt und ihm versprochen, ihn umzubringen, wenn ich ihn noch einmal sehe.« Sie starrte ihn wortlos an, als er die Waffe aus der Tasche nahm, sie sorgfältig entlud und wieder im Schrank verstaute. »Ich bleib heute bei dir«, sagte sie. »In deiner Arbeitswohnung. In deinen Funktionsräumen.« Er nickte. »Du wirst sie nicht entweihen«, sagte er dann. Bevor er einschlief - er spürte ihren Körper an seiner Schulter und an den Knien -, dachte er nach. Morgen würde er versuchen, alle Dinge in ein logisches System zu bringen, aber er fürchtete, daß sie sich nicht einfach unterbringen ließen. Er schlief ein, matt und erschöpft, aber nicht glücklich. Seine Gedanken suchten ihn heim und verschafften ihm Träume, so daß er froh war, sich ihrer nach dem Wachwerden nicht mehr erinnern zu können. Nives Dalmar flog nach Rom, dann nach Zürich; sie war diese Woche nicht in der Stadt. Tomas Fischer arbeitete viel und, wie er hoffte, mit guten Resultaten. Er traf sich am 55
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Freitag mit einem Abteilungsleiter des Verlags, und sie blieben in einer Bar sitzen, bis es drei Uhr war. Tomas, nicht mehr ganz nüchtern, fuhr mit dem Sportwagen mehr als vorsichtig über die eisglatten Straßen, verhinderte mit Mühe eine Kollision und stellte den Wagen dann direkt vor dem Haus ab; durch einen Zufall gab es einen Parkplatz. Es war bitter kalt. Mit hochgestelltem Mantelkragen ging er auf das Haus zu, wieder war hinter den Vorhängen des Apartments Licht. Er hatte sich diesen Blick schon angewöhnt. Eine sternklare Nacht, ein blasser, hämisch grinsender Mond und eine Sternschnuppe, die den Himmel teilte. Tomas steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte-ihn um. Geräusche . . . dann ein Laut, den er ein einziges Mal in seinem Leben gehört hatte. Er fuhr herum, erinnerte sich und schloß auf. Dann steckte er den Schlüssel ein, schüttelte verwirrt den Kopf und ging scharf nach rechts. Auf beiden Seiten des Treppenhauses waren weitere, aber weniger breite Eingänge. Er öffnete die Tür und blieb stehen. Dieses Bild kannte er. Er war fünfzig Meter vor der Stelle entlanggegangen, als die nervenkranke Frau aus dem zehnten Stock des Nachbarhauses gesprungen war. Er hatte sich das Geräusch des Auf56
pralls, mit dem ein menschlicher Körper auf die Steine schlug, unauslöschlich eingeprägt. Vor ihm, vier Meter entfernt, lag ein Mann auf den eiskalten Fliesen. Blut floß aus den Ohren und dem Mund, und Arme und Beine waren so ausgestreckt, daß der Körper ein Kreuz bildete. Vorsichtig ging Tomas näher, kauerte sich hin und überwand seinen Ekel. Er faßte den Kopf am Haar und drehte ihn herum. Es war der Zigeuner — so tot, wie jemand nur tot sein konnte. Sein Gesicht trug undeutlich die verheilten Spuren der Katzenkrallen und ein Muster aus Schnitten, die noch bluteten. Das Gesicht und beim näheren Hinsehen auch .die Hände waren förmlich eine blutige Masse, kreuz und quer zerfetzt. Eine Hand des Toten war offen; die Finger zuckten noch ein wenig. Die andere war zu einer Faust geballt. Tomas richtete sich auf und sah sich um. Niemand war in der Nähe, nur fünfundzwanzig Meter entfernt, nach einem Wiesenstreifen, der Böschung des Baches und einigen schwarzen Baumstämmen, fuhr ein Wagen langsam über das Eis. »Die Karneolschildkröte .. .«, murmelte Tomas. Er zog die Handschuhe wieder an, schüttelte sich vor Kälte und Entsetzen und versuchte, die Finger der Faust aufzubiegen. Er schaffte es nach Minuten. Dann hob er den runden
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Stein hoch, und das zerrissene Goldkettchen rutschte aus dem Loch des Amuletts. Tomas floh zurück ins Licht und in die Wärme des Eingangs, riß die Lifttür auf und starrte in den Spiegel. Er sah ein leichenfahles Gesicht. Seine Finger zitterten, und am ganzen Körper hatte er Gänsehaut, fror und schwitzte gleichzeitig. Er steckte das Amulett in die Hosentasche und öffnete seine Wohnung, darauf gefaßt, Nieves auf dem Balkon vorzufinden oder im Zimmer. »Nichts«, sagte er. Er griff nach dem Telefon. 5-9-8-8-8-2 Das Freizeichen. Dreimal, viermal. Dann knackte es in der Leitung, polternde Geräusche. Ein Ton, als blase jemand gegen die Sprechmuschel. Tomas runzelte die Stirn. Dann erkannte er die Bedeutung dieses Geräusches. Es war die Katze, die den Hörer aus der Auflage geworfen hatte und fauchend vor der Muschel saß. Osiris fauchte und miaute dann klagend. Tomas warf den Hörer zurück. Er blieb einige Sekunden vor der Glasscheibe des Fensters stehen und sah hinaus, ohne etwas wahrzunehmen. Was sollte er tun? In seiner Hand lag der Schlüssel des Apartments. Der tote Zigeuner verblutete neben dem Haus . . . Tomas rannnte hinaus in den Flur, riß die Handschuhe aus der Manteltasche und
warf die Tür zu. Er rannte hinaus auf den Balkon des Treppenhauses, öffnete die Tür zur Treppe und rannte acht Treppen hinunter. Dann huschte er, die Handschuhe an den Fingern, wieder zurück in die eisige Luft des Balkons. Drei Blutstropfen waren auf dem Beton zu erkennen, die Spuren von blutenden Händen am Vierkantstahl des Geländers. Tomas öffnete die Tür zum Korridor, drückte rechts den Lichtknopf und sah die Spur, die von der angelehnten Tür der Wohnung bis zu seinen Füßen führte. Blutstropfen, mindestens fünfzig Stück, unregelmäßig wie die Fährte eines sterbenden Tieres. Er rannte auf Zehenspitzen den Korridor entlang, riß die Tür auf, schloß sie und lehnte sich keuchend mit dem Rücken dagegen. Die Tür zum Wohnraum stand offen, und auf dem Teppich waren Blutflecke. Osiris saß im Regal, neben dem Telefon, und leckte die Pfoten ab. »Osiris . . .«, flüsterte Tomas. Halb auf der Couch, halb auf dem Teppich, neben einem blutigen Kissen, lag Nieves. Tomas keuchte auf, ging Schritt für Schritt näher. Es war nicht der Körper, den er kannte, liebte, gestreichelt hatte. Es war ein Etwas, das noch im Tod zu leben schien. Oder lebendig sich verformte. Aus der runzligen Haut der Greisin wurde langsam, in einem Prozeß, der zu beobachten war, der Mädchen57
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körper. Das Haar rollte sich langsam auf, wie eine erwachende Pflanze. Tomas atmete röchelnd, sein Herz hämmerte wie eine Maschine, die Kehle war trocken. Er zwang sich dazu, näherzugehen. Die Katze, er warf einen schnellen Blick hinüber, saß ruhig da, neben dem heruntergeworfenen schwarzen Hörer, und leckte die blutigen Krallen und das blutige Fell sauber. Es schien ihr zu schmecken. »Nieves!« Tomas nahm wie in Trance das Amulett aus der Tasche, machte mit zitternden Fingern einen Knoten in die Goldkette und zog die Kette vorsichtig über den Kopf. Immer mehr Falten verschwanden, es verschwanden auch die Würgemale an der Seite des Halses, die Tomas sehen konnte. Er blieb einige Zeit stehen, starr und unfähig, etwas zu tun, dann entschloß er sich, zu handeln. Er richtete die Lampe auf und bemerkte, daß hier ein wütender Kampf stattgefunden hatte, ein Kampf um Leben und Tod. Er nahm ein feuchtes Handtuch aus der Küche, streute Reinigungsmittel darauf und spähte durch die Spionlinse der Tür. Der Korridor war dunkel. Eine Minute später hatte er, fieberhaft arbeitend, die Blutspuren beseitigt. Als er den Korridor entlangsah, bemerkte er kaum noch die Spuren seiner Tätigkeit. ?8
Zurück in die Wohnung, die Tür zu. Der Lappen verschwand in der Küche, im Spülwasser, das Tomas aufdrehte. Dann legte er den Hörer zurück, nahm die Katze aus dem Fach und blieb stehen. Was war geschehen? Er versuchte zu rekonstruieren. Der Zigeuner hatte es verstanden, sich Eintritt zu verschaffen. Er mußte sich auf die alte Dame gestürzt haben, mit nur dem Ziel, ihr das Familienamulett vom Hals zu reißen. Nieves Dalmar hatte sich gewehrt, weil es um ihr Leben ging. Zuerst hatte der Zigeuner ihr das Amulett abgerissen, dann war Osiris über ihn gekommen. Zu diesem Zeitpunkt mußte Nieves entweder tot gewesen sein oder niedergeschlagen. Dann war der Zigeuner mit der Katze, die ihm das Gesicht und als er sich wehrte auch die Hände zerfleischte, hinaus auf den Korridor gerast, durch die Tür .. . und hinaus auf den Balkon. Entweder hatte er es nicht gemerkt, oder er war am Ende seiner Kräfte oder seines Weges gewesen. Er war über die Brüstung gesprungen. »So war es«, sagte Tomas mit ausgedörrten Lippeni Bis jetzt war sein Verstand beschäftigt gewesen. Jetzt, da dieses Problem gelöst schien, sah er sich wieder mit der Person konfrontiert. Nieves Dalmar. Lebte sie, oder war sie tot? Oder
DIE ROTHAARIGE
war das, was er sah, nicht das Mädchen, nicht die alte Dame? Die plötzliche Erkenntnis dessen, was es - sie - wirklich war, ließ ihn taumeln. Er zwang sich, hinzusehen. Die Verwandlung von einer fünfundsechzigjährigen Frau zu einem Mädchen von fünfundzwanzig bot ein derart faszinierendesund abstoßendes Bild, daß Tomas noch immer nicht begriff. Was konnte er tun? Nichts mehr. Er hatte der . . . der Hexe, ja, das war es, ihr Amulett zurückgegeben, hatte die Spuren beseitigt, hatte das Telefon wieder aufgelegt. Alles, was jetzt geschah, entzog sich seiner Kontrolle. »Das war es, Osiris«, flüsterte er und mußte sich räuspern. »Sag ihr, daß ich hier war.« Er schaltete das Licht aus, legte den Schlüssel auf den Tisch, drehte auch die Beleuchtung im Flur ab und verließ die Wohnung. Vorsichtig und lautlos schloß er die Palisandertür. Langsam ging er hinaus auf den Balkon und kletterte nach oben. Er vermied es, über die Brüstung zu blikken. In seiner Wohnung fiel er in einen Sessel, goß sich ein Glas voll Whisky ein und trank es in drei Zügen aus. Nieves, die Hexe. Schlagartig fielen ihm zahllose Äußerungen ein, bildete sich ein dunkles Netz verwirrender Assoziationen. Tomas war bleich, schwitzte, obwohl
er fror, und die Hände zitterten noch immer. Er zog die nassen Handschuhe aus. Ich blieb bei den Männern bis zu ihrem Tod. Der Schädel, das Zauberbuch, sogar der Hexenmantel in moderner Version. Es war atemberaubend logisch in einer Art Logik der Verrücktheit. Das Amulett, alt wie die Sumerer. Die Verwandlung - Tante Nieves und das Mädchen. Der Rabe, die Katze namens Osiris, die eigentümliche und beziehungsvolle Musik. Der Job und die Reisen: Vertreterin von kosmetischen Produkten. Unter der Wucht des plötzlichen Erkennens schüttelte sich Tomas. Nieves, überraschend und völlig nackt auf seinem Balkon . . . »Es gibt nur eine Frau , . .«, flüsterte er wie im Fieber. Die Alte und das Mädchen waren ein und dieselbe Person. Und . . . dieses unbegreifliche Etwas - war es noch ein Mensch? - lag dort unten und verwandelte sich. Vermutlich in eine junge, begehrenswerte Frau, denn Tomas hatte ihr das Amulett zurückgegeben, die Karneolschildkröte. »Ich war«, hatte sie gesagt, »allen meinen Liebhabern treu bis zum Tod.« Tomas schluckte. Er wartete nun, gelähmt und voller Schrecken. Er glaubte, ein exotisches Gift durch seinen Kreislauf rasen zu fühlen. Worauf wartete er eigentlich? 59
HANS KNEIFEL
»Ja ... worauf warte ich?« fragte er sich. Er wußte es nicht. Aber er begann zu ahnen, daß ihn unsichtbare Ketten an dieses alterlose Zwitterwesen zwischen Greisin und Mädchen fesselten, das dort unten, weit unter ihm, durch Betonschotten und Böden getrennt, eine erstaunliche Wandlung durchlief. Was erwartete ihn? Er wußte es nicht. Es begann ihm zu grauen. Jetzt erfuhr er am eigenen Leib, was er oft beschrieben hatte: Der Klumpen in seinem Magen löste sich auf und überschwemmte seinen Körper mit Übelkeit. Er lief schnell
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ins Bad und übergab sich. Was immer ihn erwartete - es war sinnlos, den Versuch des Entkommens zu wagen. Zum erstenmal in seinem Leben fühlte Tomas Fischer nackte, brutale Furcht. Er lehnte die schweißbedeckte Stirn an die Fensterscheibe und sah die Lichter unter sich wie durch einen Nebel. Die Angst hatte ihn gepackt. Seine Zähne schlugen aufeinander, und er wartete, voll bleichen Entsetzens. Plötzlich würde sie wieder auf dem Balkon stehen, ihm lächelnd entgegengehen und ihre Krallen in seine Schultern schlagen. Sie würde ihm treu bleiben bis zu seinem Tod.
Das Elixier von Jane Rice
' Es nahm alles in Cläre Holloways Kellerbar seinen Lauf. Die Dinge nehmen gern in Cläre Holloways Kellerbar ihren Lauf. Cläre Holloways Kellerbar ist nun mal so. Und Cläre Holloway ist auch so. Sie hat einen untrüglichen Sinn für das Ausgefallene, was zweifellos in gewissem Maße ihren Erfolg als Antiquitätenhändlerin erklärt. Ich meine damit, daß die meisten Antiquitätenhändler sich normal kleiden, benehmen und einen normalen Preisaufschlag für ihre alten Rollenbetten und ihre schundigen grünen Glasflaschen nehmen. Cläre Holloway kleidet sich so, wie >Bolero< klingt, wenn Sie mich verstehen - an der Stelle, wo die Musik raffiniert in ein Tempo überwechselt, bei dem man sich auf die Hinterbeine stellen und jemand seine gesellschaftlichen Bindungen um die Ohren schlagen möchte. Ihr Benehmen hat alle Eigenschaften eines Märzsturmes an einer belebten Kreuzung beim ersten Winterschlußverkaufstag. Dementsprechend ist ihr Preisaufschlag bei alten Rollenbet-
ten und schundigen Glasflaschen mit den Grundstückspreisen während des Florida-Booms vergleichbar. Ihr Keller spiegelt ihre Persönlichkeit bis aufs i-Tüpfchen wider. Er ist einfach das Letzte. Er hat eine Bar an einer und einen Sodawasser-Ausschank an der anderen Seite. Er hat innen eine Grube mit Bratspieß und einen kleinen, gut eingedämmten Bach, an dem nichts fehlt, nicht die Strudel, nicht die bemoosten Steine und auch nicht der Biber - ebenfalls klein und reichlich träge und ungemein scharf auf gefüllte Oliven und - nun, das müßte reichen, um Ihnen das richtige Bild zu geben. Es ist die Art von Gesellschaftszimmer, in dem einfach alles vorkommen kann - und oft genug ist das auch der Fall. Es regt einen an. Mich jedenfalls. Ich kann hingehen, fest entschlossen, mich wohlerzogen und damenhaft zu benehmen, und es endet unweigerlich damit, daß ich ausprobiere, wie viele Tischtennisbälle in meinen Mund passen, oder daß ich gracie Allen imitiere, wie sie Baby 61
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Snooks imitiert, wenn sie Grade Allen imitiert - ist das klar!!? 7 Oder sind Sie ebenso verwirrt wie ich? Cläre führt mich in ihrer Liste einladbarer Leute, nicht meiner Schauspielkunst wegen und auch nicht, weil ich zufällig nebenan, auf der anderen Seite unserer verstädterten, weltmüden Hecke lebe, sondern aus dem einfachen Grund, weil ich letztes Jahr unabsichtlich der Mrs. Diggots-Marksbury die Windpocken andrehte, als sie aus Versehen in meine Wohnung platzte und auf allen vieren nach echten Holzwurmlöchern in meinem gebeizten Fichtenschreibtisch suchte, bevor sie entdeckte, daß der Schreibtisch blitzneu war, frisch vom Fließband - daß sie im falschen Haus war - und daß ich ganz und gar aus rosigen Pusteln bestand. Ich kenne Cläre nicht sehr gut (und vielleicht darf ich an dieser Stelle ein inbrünstiges >Gott sei Dank!< einfügen), und ich könnte ebensogut versuchen, mich mit einem Gewittersturm anzufreunden, doch ich bin von beiden fasziniert. Ich würde um nichts in der Welt eine ihrer Parties versäumen. Sie sind für mich die Angostura-Tropfen in einem Manhattan-Cocktail, und so war mein >Repondez-s'il-vous-plait< ein erfreuliches JA, als die >Ehre meiner Anwesenheit bei ihrem Hallowe'en.Fez erbeten wurde. Ich gab also meine Zusage wie der 62.
berühmte Blitz und beschloß, der Linie des geringsten Widerstandes folgend, als Hexe zu gehen. Eliza, Ebenholzjuwel, das sie ist, stemmte, als sie von dem beabsichtigten Kostüm erfuhr, die Hände in ihre mehr als breiten Hüften und sagte; »Hmmph!« Eliza ist seit vierzehn Jahren bei mir und betrachtet mich mit voreingenommenen Augen. Abwechselnd sind diese Augen streng, mißbilligend oder mahnend, hin und wieder auch nachsichtig, aber immer voreingenommen. Für Eliza ist jede Frau, die mit zweiundvierzig noch keinen Mann erwischt hat - mit Betonung auf dem >erwischt<, und irgendwie, weshalb weiß ich auch nicht, ist das eine moralische Verurteilung - und die, was der Gipfel ist, nicht einmal den Versuch macht, ihre grau durchschimmernden Haare mit Henna zu verbergen, und die grundsätzlich flache Schuhe trägt und die öffentlich zugibt, daß sie Limburger mag, und die ihren Lebensunterhalt durch das Schreiben von Kriminalromanen verdient, ein hoffnungsloser Fall. Das >ein hoffnungsloser Fall< hängt ganz verloren am Ende, nicht wahr? Jedenfalls sagte Eliza: »Hmmph!« Ich sagte: »Der Wäscheschrank muß neu mit Papier ausgelegt werden, und hast du schon bemerkt, was für einen herrlich braunen Schimmer das Silber bekommt, und als Abendessen
DAS ELIXIER ;
würde ich Apfelpastete vorschlagen.« Zwecklos. »Hmmph«, sagte Eliza. »Eine Hexe.« >Eine Hexe«, wiederholte ich. »Nun hören Sie, Miß Amy -« l »Eliza, ich streite nicht mit dir. Eine | Hexe.« l »Miß Amy, ich lasse nicht -« £ »Eine Hexe, Eliza.« l, »Hmmph. Schön, alles was ich dazu l zu sagen habe -« | »Ist schon zuviel, Eliza.« »— ist folgendes: Wenn Sie schon die Möglichkeit haben, eine -« »Hast du nicht gehört, Eliza? Die Sache steht fest.« ; »— Maske aufzusetzen und tolle KleiI der anzuziehen, sollten Sie doch veri nünftig sein.« ! »Eliza!« Eliza seufzte. »Ja, Ma'am«, sagte sie und machte sich kopfschüttelnd auf den Weg, wobei sie vor sich hinmurmelte: »Keine Vernunft. Überhaupt kei-ne Vernunft.« An der Tür drehte sie sich um. »Ich könnte Sie so toll wie diese Madame Pompidor oder Königin Victrola herrichten.« »Eine Hexe«, sagte ich fest. ' »Ja, Ma'am.« Sie watschelte hinaus und sagte kein Wort mehr, aber sie errang einen moralischen Sieg, indem sie das Schrankpapier zu kurz schnitt, das Silber" in den grünen Filzschächtelchen verstaute und statt Apfelpastete Brotpudding machte.
Doch als Hallowe'en herannahte, war ich eine herrliche Hexe. Ich muß allerdings zugeben, daß ich Elizas Standpunkt einsah, als ich mich im Spiegel betrachtete. Eliza lieh mir ihren Besen und das Röstblech, das noch die größte Ähnlichkeit mit einem Hexenkessel hatte, und sie ließ sich sogar dazu herab, mir auf die Beine zu helfen und mich abzustauben, als ich über den Besen stolperte und die Vordertreppe hinunterfiel. Unten landete ich als ein wirres Häufchen aus schwarzem Umhang, Silberschnallenschuhen und spitzem Hut — der von dem Elastikband meines Doppelkinn-Massage-Geräts festgehalten wurde und mit Aluminiumfolie-Sternen, Monden und kabalistischen Symbolen beklebt war. Sie winkte mir angeekelt zum Abschied nach, als ich um die Grenzhecke herumging, und beschränkte sich auf zwei kurze »ts ts« anstelle des »Hmmph«. Ich bin die ewige Zufrüh-Kommerin. Es ist eine alte Gewohnheit, die sich schon während meiner Entwicklungsjahre abzeichnete, als ich fünf Meilen weit durch den neuenglischen Winter zur Schule gehen mußte. Damals entdeckte ich, daß ich, wenn ich eine halbe Stunde zu früh kam, mein Hinterteil vor dem dicken Ofen auftauen und ungeniert an meiner wollenen Unterwäsche kratzen konnte. So kam ich als erste bei Cläre Hollo65
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way an - nicht um mich zu kratzen oder aufzutauen, sondern - na. Sie werden es bald genug sehen. Ich klingelte, und Parkins ließ mich hinein, und gemeinsam rutschten wir die Treppe in den Keller hinunter. Nicht mit Absicht, wohlgemerkt. Es war wieder der Besen, doch Parkins verriet nicht einmal durch ein Muskelzucken, daß das nicht seine normale Fortbewegungsweise war, wenn er auch »SQUONK!« sagte, als wir unsere Stegreif-Rutschpartie begannen, und »UFF«, als wir unten ankamen. Wonach er aufstand, seine Brille zurechtrückte, seine Manschetten schloß, die Zähne zu einem eisigen Lächeln entblößte und — unter sichtbarer Verdrängung des Impulses, mir das Röstblech um die Ohren zu schlagen - mich allein ließ. Ich bin gern mir selbst überlassen. Wenn ich allein bin, kommen neugierige kleine Teufelchen an die Oberfläche und stochern und schnüffeln und stecken ihre Nasen in die ungewöhnlichsten Dinge. Ganz selten bringen sie mich mal in schwierige Situationen, wie damals im Museum, als sie mich in diese Ritterrüstung steckten und nicht mehr herausholten, oder damals, als sie mich überredeten, beim Wettbewerb der Sportlerschau mitzumachen und - ach, lassen wir das. Es ist eine lange Liste. Auf alle Fälle, als ich, mir allein überlassen, den Kürbis, die Papier64
mascheekatze und den mit Feldfrüchten dekorierten Keller gründlich inspiziert hatte, beschloß ich, die Wartezeit auszunützen, indem ich mir in meinem Röstblech-Kessel einen Hexentrunk braute. Ich mixte uns ein tolles Ding. Einen tüchtigen Spritzer (etwa eine Gallone) Sprudelwasser, einen halben Liter Gin, ein paar Bällchen Schokoladeneis, vier Cherryphosphate; etwas Wermut, eine ordentliche Portion und eine Spur türkischen Honig; einen Schuß Rye und einen Schuß Bourbon, dazu eine Handvoll Puffmais, damit die Sache Substanz bekam. Ich rührte immer wieder mit meinem Besenstiel um und erfand ein paar Worte, die dem Augenblick entsprachen. Etwas wie »Igeisquigel hoppalopp igittsch«, wenn ich mich recht erinnere, und die Teufelchen rutschten näher heran und flüsterten: »Koste es. Los! Koste es.« »Sehe ich 50 blöd aus?« flüsterte ich zynisch zurück. »Ja«, zischten sie. »Koste es. Los!« »Hört zu«, sagte ich, »dieses Elixier ist für Mrs. Diggots-Marksbury, die mit den Holzwurmlöchern. Und jetzt laßt mich zufrieden.« »Angsthase!« »Blödsinn!« »Selber Blödsinn! Zimperliese!« »So ein Quatsch.« »Du traust dich nicht.« »Ach, verschwindet doch!«
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Jnd ob du dich nicht traust!« ^Verschwindet!« »Traust du dich, einen Kupfercent vom Auge eines Toten zu holen?« »Ich werde nicht -« »Aber Amy Parrish! Wir schämen uns. Wir schämen uns richtig. Bei einer Herausforderung flachliegen! Also -« »Ich liege nicht flach. Ich stehe ganz . kerzengerade da.« »Du weißt, was wir meinen.« »Trotzdem, ich werde einfach A nicht -« »Wir schämen uns. Das ist es. Wir sind gedemütigt. Wie sollen wir je wieder die Köpfe oben tragen? Also, Amy Parrish, wir schämen uns zu Tode.« »N-a j-a, wenn ihr es so auslegt . . .« »Jetzt spricht die Vernunft aus dir.« »Nur einen Schluck.« »Braves Mädchen.« »Nur einen ganz kleinen Schluck.« »Zum Teufel, halte endlich den Mund und lasse Taten sprechen!« Ich klaute mir eine Mickymaus-Tasse, stellte s[e aber wieder ab und nahm statt dessen eine Art Becher - angeschlagen, mit einem Sprung, schwarz und zerbrechlich aussehend, aber tres, tres hexenhaft. Ich umkreiste den Topf mit dem Wiesollmansnennen wie ein Jagdhund, der skeptisch ein Stachelschwein umschnüffelt, holte einen Schluck des Trankes heraus und bot ihn dem Biber an.
Der Biber zog sich hastig unters Wasser zurück. Das hätte mich warnen sollen. Aber das war nicht der Fall. Ich roch prüfend an dem Getränk, überlegte noch einmal und schluckte es schließlich, indem ich mir die Nase zuhielt. Was danach geschah, ist ein schreckliches kaleidoskopähnliches Durcheinander. Jeder Nerv meines Körpers zog sich zu einem Doppelknoten zusammen, und mein brennender Magen versuchte durch meine verbrühte Speiseröhre hochzuklettern, aber das ging nicht, weil meine Speiseröhre sich angsterfüllt an meinem Rückgrat festhielt, das wie ein Hundeschweif wedelte. Schwach erinnere ich mich, daß ich den Becher fallenließ, um mir an die Kehle zu fassen, und daß ich dabei gegen den Kessel stieß, dessen Inhalt sich überall verteilte. Ich nahm den Besen auf, in der Absicht, damit in meinem Nahrungszufuhrkanai zu stochern und die Verstopfung zu lösen, und dann hüllte mich Dunkelheit ein. Es war eine turbulente, wirbelnde Dunkelheit, durchbrochen von grellen kleinen Lichtpunkten, die sich auflösten und wieder zusammenflossen und bei dem Lärm, der durch die Schwärze auf mich eindrang, in alle Richtungen stoben. Im Vergleich dazu war eine Kesselfabrik wie ein im Dämmerlicht gesungenes Wiegenlied. Explosion krachte auf Explosion, 6?
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während donnernde Sturzwellen reinen, unverfälschten Lärms über mich hinwegschäumten, vermischt mit gellenden, dämonischen Schreien, deren Echo sich endlos fortpflanzte - betäubende Wellen, die sich auf einem höllischen Teich direkten, ungedämpften Schalls ausbreiteten. Jemand, den ich nicht sehen konnte, begann ein Feuerwerk abzubrennen, während sein ebenfalls unsichtbarer Bruder meinen Schädel im Rhythmus zu einem Sperrfeuer aus Kanonen, Artillerie, Gewehren, Leuchtspurgeschossen und ein psar strategisch plazierten Mill-Bomben gegen die Wand der Dunkelheit schlug. Sie haben sicher gehört, daß Caruso ein Glas anzuschlagen pflegte, den Ton auffing und ihn so lange in das arme Ding hineinsang, bis es in Scherben zersprang. Dieses Glas war ich. Als der verrückte Lärm sich ausbreitete und wuchs, hatte ich das Gefühl, daß ich heftig in alle Richtungen auseinanderfliegen würde. Er wuchs und wuchs und wuchs zu einem unglaublichen Umfang und einer unglaublichen Verstärkung, und eben, als ich den kritischen Punkt erreichte, hörte er auf. Mit einemmal. Und danach fiel ich. Wie die Feder, die in jedem Sprichwort vorkommt, fiel ich durch Riesengewölbe schwarzen Raumes, und während ich mich zu erinnern versuchte, ob Fallschirmspringer mit den Armen oder mit 66
den Beinen ruderten, um aus dem Trudeln herauszukommen, landete ich. Bums. Es war kein schlimmer Aufprall, verglichen mit der Geschwindigkeit, in der ich gefallen war. Im Gegenteil, es war einer der angenehmsten Aufpralle, mit denen ich je aufgeprallt war, und ich bin im Laufe meines Lebens schon des öfteren aufgeprallt. Ich öffnete die Augen und sah in einen sternenerfüllten Himmel. Ich streckte die Hände aus und tastete um mich und hätte vor Freude weinen mögen, als meine Finger auf Gras und Zweige und guten, festen Boden trafen. Es störte mich nicht und machte mich nicht im geringsten stutzig, daß ich in freier Landschaft auf dem Rücken lag, obwohl ich eigentlich in Cläre Holloways Kellerbar hätte sein müssen. Ich dachte nicht einmal daran. Ich schloß nur wieder die Augen und konzentrierte mich darauf, Elizas Brotpudding schön zusammenzuhalten. Schließlich setzte ich mich auf und sah verschwommenen Blickes um mich. Ich schien mich am oberen Ende eines Hügels zu befinden, und unter mir war eine Stadt, die sich offensichtlich zur Nachtruhe begeben hatte. Von der Größe und dem Mangel an Neonröhren schloß ich, daß es nicht gerade eine Großstadt war und daß sie ein schönes Stück von meinem gewöhnlichen Standort entfernt sein mußte.
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Ich wunderte mich, ein wenig seekrank und mit einem Schluckauf, wie ich hierhergeraten sein konnte. War ich kreischend aus Cläres Kellerbar bis hierher gerannt - oder hatte Parkins meine zeitweilige Unpäßlichkeit ausgenützt, um mich und meinen ärgerniserregenden Besen aus dem Wege zu schaffen, ohne es den anderen gegenüber zu erwähnen? Litt ich an Gedächtnisschwund? War ich tot? WAR ICH TOT! Meine Lethargie verschwand überaus plötzlich! Ich sprang hoch und puffte auf mich ein wie ein Gorillamännchen während der Paarungszeit. Ich fühlte mich in Ordnung. Ein wenig wackelig, aber aus einem Stück. Aber würde sich ein Geist nicht auch ganz in Ordnung fühlen? Schluck. Das Bruchstück eines Kindergartenverses fiel mir ein.
Heim ging das Weiblein im Dunkel allein. Hoch sprang das Hündchen und bellt' ihr hinterdrein. Es bellt' ihr hinterdrein, und sie begann zu schrein: Ich bin es nicht, ach, laß mich bitte
sein! Ach, du liebe Güte! Aber es war gar nicht so unvernünftig. Wenn ich ich war, mußte ich nur in diese Stadt hinuntergehen und ein Telefon ausfindig machen. Wenn wenn ich nicht ich war Aber ich weigerte mich, diesen Ge-
dankengang weiterzuverfolgen, und begann resolut den Hang hinunterzusteuern, stolperte über meinen Besenstiel und vollführte das, was man in der Fliegersprache eine Bruchlandung nennt. Danach war ich sehr erleichtert. Gewiß würde kein Gespenst flach auf seiner/ihrer Schnauze landen. Außer - außer es hatte noch keine Übung. Bah! Aber es war ein reichlich blutleeres Bah, das kann ich versichern. Ich packte mir eilig den Besenstiel, rappelte mich hoch, bis ich wieder auf meinem Fahrgestell stand, und erreichte das Ende des Hügels in Nullkomma nichts. Fast. Ich lehnte mich gegen ein Schild und pustete und schnaufte, bis mir die Idee kam, das Schild anzusehen. Auf dem Schild stand SALEM. Ich schloß die Augen, zählte bis zehn und öffnete sie wieder. Auf dem Schild stand immer noch SALEM. Aber ganz offensichtlich konnte es nicht Salem sein. Salem befindet sich in Massachusetts. Ich grinste wissend vor mich hin und mutmaßte, daß es zur Verwirrung der Autofahrer von einem jener kleinen zahnlückigen Jungen aufgestellt worden war, die an Hallowe'en überall aus dem Boden zu schießen schienen. Wenn ich geahnt hätte, was mich erwartete, hätte ich aus mir hinaus gegrinst und wäre den Hügel wieder nach oben gerannt.
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So aber ging ich lässig in das Dörfchen und die Hauptstraße entlang, wobei ich den Besen über der Schulter trug. Ich hatte schon schönere Ortschaften gesehen. Über allem lag ein Hauch von Alter, der auf düstere, unerbittliche Art bezauberte. Die Häuser waren steif und ordentlich und sonst nkhts, und die Läden sahen altmodisch und mufflig aus, und alles war fest verrammelt. Ich konnte nichts finden, was auch nur entfernte Ähnlicheit mit einem Drugstore hatte, und allmählich fühlte ich mich etwas unbehaglich. Es war so still, und ich sah keine Lichter, und die Stadt war >tot< - wie eine Geisterstadt - oder zumindest hatte sie einen Starrkrampf erlitten, von dem sie sich noch nicht erholt hatte. Als ich dann tatsächlich die Stimmen hörte, spitzte ich die Ohren wie ein Jagdhund und rannte dann glücklich in ihre Richtung. Tatsächlich drang ein Spalt Licht aus einer Tür, und ein knarrendes Schild darüber verriet mir, daß sich hier die Taverne zum Blauen Eber befand. Genau das Richtige, dachte ich. Ein Telefon und vielleicht ein paaT Spielautomaten, um sich die Zeit zu vertreiben, bis ein Taxi kam und mich heimholte. Außer natürlich, ich war nicht ich oder ich lag in Wirklichkeit vergiftet auf dem Boden von Cläre Holloways Kellerbar, während 68
meine Überreste umherschweiften . . . Ach, Unsinn. Ich drückte die Klinke hinunter, schob die Tür auf und trat ins Innere. Ich sah lange Tische und Bänke, eine Holzbalkendecke und ein Regal mit Krügen, für die Cläre ihre Großmutter verkauft hätte, dazu einen riesigen Kamin. Und es roch herrlich nach Bier, Rauch und Holz. Ich setzte mein Missionslächeln auf und ging auf eine Gruppe von Männern zu, die offensichtlich auf dem Weg zu einem Maskenball hier haltgemacht hatten oder zumindest der gleichen Loge angehörten. Sie trugen alle merkwürdige Kleider, die mehr oder weniger gleich aussahen, und hatten Perücken auf. »Könnten Sie mir bitte sagen, wo hier das Telefon ist?« fragte ich strahlend. Wenn ich gefragt hätte: »Könnten Sie mir sagen, wie ich hier zur nächsten Nudistenkolonie komme?« hätte die Wirkung nicht verblüffender sein können. Sie hörten schnurstracks zu reden auf, ihre Münder standen offen, und sie glotzten mich an. Ein Mann mit seidenem Wams schien seinen Adamsapfel verschlucken zu wollen. »Das Telefon«, sagte ich. »T-e-l-ef-o-n. Ich möchte, ein Taxi anrufen.« Der Mann, der seinen Adamsapfel zu verschlucken versuchte, stand auf,
DAS ELIXIER
deutete auf mich und wollte etwas |, sagen, aber er schaffte es nicht. So schnappte er nur nach' mir. Da ich dachte, das sei vielleicht das Erkennungszeichen seiner Loge, schnappte ich ebenfalls nach ihm und steckte als Dreingabe meine Daumen in die Ohren, um mit den restlichen Fingern Winke-winke zu machen. Als nächstes hörte ich ein Stampfen wie bei einer Rinderherde, die in Panik ausgebrochen ist, und ich war allein mit den Krügen und Tischen und den schweren Eichenbalken, von denen durch die Erschütterung Staub auf mich herabrieselte. Es geschah so schnell, daß ich - Nun, waren Sie schon mal mit jemand in einer Drehtür, der es eilig hatte? Man wird sozusagen ins Freie gespuckt. Ich jedenfalls landete rittlings auf einer umgekippten Bank, den Umhang über dem Kopf und eine Hand in einem Bierkrug vergraben. Draußen konnte ich Stimmen hören, und ihr Geschrei hatte fast etwas von einer Hundemeute an sich. Während ich über die Launenhaftigkeit der Menschheit nachdachte, befreite ich mich aus den Falten des Umhangs und machte mich daran, den Krug von meiner Hand zu lösen. Der Satz »Ich hoffe, alle Ihre Kinder werden einmal Akrobaten« ist mir immer als besonders grausamer Fluch vorgekommen - nach kurzer Zeit kam ich zu der Erkenntnis, daß es einen
weit grausameren Satz gab: »Ich hoffe, alle Ihre Kinder tauchen später einmal ihre Hände in einen Bierkrug.« Ich stemmte, ich zerrte, ich ruckte. Ich versuchte es langsam und vorsichtig. Ich rüttelte mit Gewalt. Ich versuchte ihn zu drehen. Volle fünf Minuten schwitzte und schuftete ich, während ich den Schmelz meiner hinteren Backenzähne zermalmte. Ich hob die Stimme zu meinem Schöpfer, nicht im flehenden Gebet, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, sondern in einem wutentbrannten Ultimatum. Schließlich klemmte ich das Ding zwischen die Beine, ruckte mit Macht daran, und meine malzumspülte Hand kam mit einem lauten »Plop« frei wie ein Champagnerkorken, begleitet von guten zehn Unzen schäumenden Bieres. Genau in diesem Moment flog die Tür auf, und meine Freunde, die Perücken, standen mit einem Bataillon Stadtleuten vor mir. Mir ist jetzt klar, daß ich wie ein weiblicher Boris Karloff mit Tollwut ausgesehen haben mußte, aber damals wußte ich nur, daß ich müde, wütend und schaumtropfend war, daß an einem Knöchel ein großes Stück Haut fehlte und daß ich heim wollte. Ich krümmte die Finger, um das Blut wieder zum Zirkulieren zu bringen, und die Menge verschwand vom Eingang. Es war eine bunte Narrenge69
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Seilschaft, die sich hauptsächlich mit Nachtmützen und Harzfackeln verkleidet hatte, und sie konnten mir gestohlen bleiben. Mein Sinn für Karneval war längst dahin. Ich stand auf, immer noch mit gekrümmten Fingern, und fragte: »Hören Sie, wo ist denn hier ein Telefon?« Zumindest begann ich, das zu fragen. Ich kam bis zu »Hören Sie <, dann schrie eine der Perücken: »Avong« oder »Avaa« oder so etwas Dämliches, und mit einer winkenden Geste seines Armes holte er eine Woge murmelnder Menschheit hinter sich her, und sie alle drangen auf mich ein, in der klaren Absicht, mich zu überwältigen. Und ich - wie die Krönung aller Dummheit - war so betäubt, daß ich einfach sturen Blicks da stand und. es mir gefallen ließ. Ich erinnere mich vage, daß ich gegen ein paar Schienbeine trat und an einem Bart rupfte, und dann kam ein herrlicher Moment, als ich einen gar nicht herrlichen Fluch ausstieß. Ich ging zu Boden, indem ich mir vorsagte: »Das kann nicht wahr sein. Das ist ein Brotpudding-Alptraum«, und ich erinnere mich, daß ich »Fischers Fritze fischte frische Fische« vor mich hinsagte und dabei verschwommen dachte, daß das irgend etwas beweisen würde - ich hatte keine Ahnung, was -, nur war es sehr schwierig, es durch eine Mundvoll Perücke zu sagen, 70
Ich wurde von einem Klirren, einem weichen Aufschlag und einem leisen, wimmernden Schrei geweckt. Ich setzte mich stöhnend auf und hätte mich sofort wieder hingelegt, wenn ich es gewagt hätte, einen Muskel zu rühren. Ich wagte es nicht. Sie schienen voll von glühenden Nadeln zu stecken und waren zusammengeschrumpft oder etwas ähnliches. Auf alle Fälle paßten sie nicht. Kennen Sie diese Diagramme, wo alle Sehnen und dieses Zeug in deutlichen Einzelheiten aufgezeichnet sind, verdreht und nochmals verdreht? Das war ich. In Technicolor. Ich stöhnte noch einmal. Dieses Stöhnen verwandelte sich in ein Keuchen, als ich sah, daß ich mich in einem düsteren Raum von zwei mal vier Metern befand, mit feuchten Wänden und einem winzigen vergitterten Fenster, das nur widerwillig einen blassen wässerigen Sonnenstrahl durchließ. Er diente dazu, die unverkennbare Atmosphäre eines nicht gerade gepflegten GEFÄNGNISSES zu untermalen. Ich, Amy Parrish. Was würde Eliza sagen! Irgendwie klammerte ich mich an verschiedene Teile meiner Anatomie und manövrierte mich in eine aufrechte Stellung. Da sagte ein Bündel in der Ecke: »Bitte. Oh, bitte!« »Bitte, o bitte, ich will hier raus«, sagte ich. »Ich werde es sie büß- . . . WAS? Ist hier jemand?«
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»Ich«, sagte das Bündel. I^Ich blinzelte durch das Düster, und da war tatsächlich jemand. Ein Mädchen von etwa neunzehn, von dem ''man nur die Riesenaugen und die umfangreichen Röcke sah. Sie betrachtete mich, als sei ich das Originalmodell für Frankenstein. »Bitte. 0 bitte«, sagte sie. »Was denn, o bitte?« fauchte ich. »Sie können doch nicht einfach >bitte, o bitte< sagen. Das ist dämlich. Wer sind Sie? Was machen Sie hier? Was mache ich hier? Wer ist für diese Sache verantwortlich? Wie heißt diese gräßliche Stadt? Wer waren all die Leute? Haben sie den Verstand verloren? Los, reden Sie! Oder haben Sie keine Zunge?« Die blauen Augen wurden, soweit das ging, noch größer und blauer. »Ich - ich .. .« Sie begann zu weinen. Große runde Kullertränen. Sie sah hübsch dabei aus. Ein todsicherer Test für weibliche Schönheit. Ich kramte in meiner Tasche herum und holte ein Taschentuch hervor. »Hier«, sagte ich. »Putzen Sie sich die Nase.« Wenn ich ihr eine schwarze Spinne angeboten hätte, so wäre ihr Entsetzen kaum größer gewesen. Sie zog sich gerade so weit in die Ecke zurück, daß sie nicht durch die Mauer ging. »Hören Sie«, sagte ich, »was ist denn mit Ihnen los? Und was ist mit den anderen los? Was zum - Ach, ,
lassen wir das. Was ist mit Ihnen los?« »Bitte, verhext mich nicht!« »Sie verhexen?« »Ja. Bitte. 0 bitte, ver- . . .« »Wollen Sie endlich mit dem >bitte, o bitte< aufhören? Es ist Wahnsinn. Was soll der Quatsch mit dem Verhexen?« »Es würde nichts nützen«, sagte das Mädchen händeringend. »Wirklich nicht. Man wird uns ohnehin hängen. Es wäre Verschwendung. Verhext mich nicht!« »Weshalb, du grüne Neune, soll ausgerechnet ich Sie verhexen?« fragte ich erschöpft. »Ihr seid eine Hexe.« »Ich bin eine was?« »Eine Hexe. Und Hexen können -« »Uns HÄNGEN!« unterbrach ich schrill, als ich die ganze Bedeutung ihrer Worte verstand. »WOFÜR denn?« »Weil wir Hexen sind.« »Einen Moment mal«, sagte ich. »Das verstehe ich nicht. Fangen wir noch einmal von vorne an. Wer sind Sie? Wie heißen Sie?« »Prudence Symonds.« »Freut mich. Sie kennenzulernen. Ich bin Amy Parrish - hoffe ich. Ist das hier ein Gefängnis?« »Ja.« »Also gut. Und weshalb hat man Sie nun hier eingesperrt?« »Sie behaupten, daß ich Martha Talcott die Blattern angehext habe.« ?i
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In diesem Moment schwamm ich aus meinem Nebel. Die Art, wie sie Blattern sagte, wo jeder andere Pocken gesagt hätte, gab meinem Hirn einen sanften Schubs, und es lief wieder auf einem halben Zylinder. »S.e meinen Pocken?« »Ja - Blattern.« »Na ja, das war unvorsichtig von Ihnen. Aber weshalb war diese komische Martha nicht geimpft? Man sollte lieber die Leute vom Gesundheitsamt ins Gefängnis stecken und nicht Sie.« Prudence Symonds sah mich an, als spräche ich einen Dialekt, den nur Mooskäfer und die Bewohner von Oz verstanden. Sie zupfte an einer Rockfalte und schien zu zittern. »Wollten Sie zu einem Kostümfest?« fragte ich und deutete auf ihr Kleid. »Kostüm? Aber das sind meine normalen Kleider!« Normale Kleider. Blattern. Die ko-
mischen, engen Häuser. Die muffigen Läden. Die Perücken. Keine Telefone. Keine Elektrizität. Das Schild - SALEM. Der Hexentrank, den ich gemixt hatte. Hexen, aufhängen, Hexen! Ich war wie eine Hexe gekleidet. Konnte es sein, daß -? Absurd. Unmöglich. Phantastisch. »Prudence«, sagte ich, und meine Stimme klang, als hätte ich sie durch ein Seihtuch gequetscht. »Wie heißt diese Stadt?« »Salem.« 72
»Salem was?« »Nun, Salem in Massachusetts.« Ich feuchtete die trockenen Lippen mit einer ebenso trockenen Zunge an. »Ist das ... ist das ... welches Jahr haben wir?« Ein paar verwirrte Falten zeigten sich auf Prudence Symonds' Stirn. »Ihr meint - das Datum?« »Ja.« »SJSchzehnzweiundneunzig.« »Was sagten Sie?« » Sechzehnzweiundneunzig.« »Das hatte ich auch verstanden«, stammelte ich dümmlich. Und ganz unerwartet wurden meine Knie wabbelig, und ich setzte mich abrupt, wobei ich sogar das Stöhnen vergaß. Der Hut kippte mir in den Schoß, und ich saß einfach da und betrachtete die Galaxis aus silbernen Sternen, Monden und Symbolen, die ihn zierten. »Gütiger Himmel«, sagte ich. »Du großer Tag eines großen Morgens. Heiliger jubelnder Jehoshaphat!« »Bitte, o bitte«, sagte Prudence Symonds, die sich in ihre Ecke drückte und versuchte, sie um sich zu ziehen. Schön, so war das also. Bis dahin oder besser bis dorthin - hatte ich immer geglaubt, daß ich einer jener tüchtigen Menschen war, die >mit einer Krise wachsem. Ich hatte mir ein Bild zurechtgelegt, wie außerordentlich sicher ich mich in Notfäl-
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verhalten konnte. In diesem Bild gab ich gewöhnlich die Befehle, umging kühn die Bürokratie und arbei|tete in allen Richtungen gleichzeitig, »während jene mit geringeren Befähil'Kungen mein Handeln mit Ohs und |^.hs bewunderten und hin und wie|der in Beifallsstürme und Bravorufe l'ausbrachen. Hah! Und pfui! | Als jemand, der mit der Krise wuchs, l war ich eine einmalige Niete, obwohl | ich tatsächlich in allen Richtungen | zugleich arbeitete. Ich warf mich mit der Selbstaufgabe einer Salome gegen l.das Gitterwerk und die Wände und | schaffte es sogar, mit dem Kinn bis * ans Fenstergitter zu kommen. Ich gab auch einige Befehle, als der Gefängniswärter herbeilief, um den Tumult zu begutachten. Sie waren jedoch ein Mischmasch aus abgerissenen Sätzen, beginnend mit einem Zitat aus den Menschenrechten und endend mit der Forderung, daß man mich sofort freilassen müsse, da ich erst in zweihundert Jahren auf die Welt käme. Der Wärter übergoß mich mit Wasser. Jene mit geringerer Befähigung waren Prudence Symonds und eine unterernährte, schnurrbärtige Maus, deshalb blieben die Ohs und Ahs aus. Die Maus zog sich hastig in ihr Loch zurück, und Prudence saß einfach da und sah mich zitternd an. Und nach einer Weile saß auch ich da und sah mich zitternd an. Ich überlegte und überlegte und
überlegte - vom ersten Schluck des Elixiers, wenn man es so nennen kann, in Cläre Holloways Kellerbar bis zur Episode mit den Perücken und meiner folgenden Einkerkerung. Ich sagte: »Das kann nicht wahr sein.« Ich sagte: »Solche Dinge gibt es nicht.« Ich sagte: »Amy Parrish, du muß weg von hier!« Ich sagte: »!!!++? ± ± !!!+ + « Während ich das » ! ! ! + - ^ ? + + !!!++« sagte, wurde der einsame Sonnenstrahl verdunkelt, und als ich meinen Hals nach oben drehte, entdeckte ich, daß ein kleines Ding mit Häubchen, Schürze, Kragen, gestärktem Unterrock, Knöpfen, Schnallen, Biesen, Zwickeln und Falten zu uns hereinstarrte. Aus der Art der Gewänder, die es trug, schloß ich auf ein Mädchen. Es hatte sich die Backen mit Äpfeln vollgestopft und polierte einen neuen auf dem Ärmel, um ihn sofort hinterherzuschieben, sobald sich wieder Platz bot. Es kauerte da und schnitt Grimassen zu uns herein und aß seinen Apfel - wobei es die Kerne gekonnt durch die Gitterstäbe spuckte -, und als es fertig war, warf es uns das Kerngehäuse nach und kicherte. »Geh weg«, sagte ich. »Du bist ein ungezogenes Mädchen.« »Und ihr seid Hexen«, sagte sie. »Beide. Nyaaah!« »Man sollte dich versohlen, mein Fräulein.« 75
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»Man sollte euch hängen,« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf uns und streckte die Zunge heraus. »Und man wird es auch tun«, fuhr sie fort. »Hört ihr? Hängen, hängen, hängen!« »Geh weg!« »Ich mag nicht, und ihr könnt mich nicht vertreiben. Hängen, hängen. Ihr werdet hängen, hängen, hängen, hängen. Hexen, Hexen, häßliche alte Hexen, Hexen, Hexen, Hexen.« »Ich verhexe dich«, sagte ich grimmig und krümmte die Finger wie »Oonga, das hypnotische Auge<. Dazu bewegte ich sie kompliziert hin und her und sang: »Bula, bula, bula, bula, wir kämpfen für den guten alten Eli. Hep!« Ich verschränkte dramatisch die Arme. »Du«, sagte ich düster, »wirst dich in genau sechs Stunden und zwei Minuten in einen kalten grünen Frosch verwandeln. Verschwinde!« Sie trat zurück, ihr Mund zitterte, die Augen waren glasig und weit aufgerissen, und mit einem lauten Jaulen reinen Entsetzens drehte sie sich um und rannte davon - Hals über Kopf, mit fliegenden Unterröcken und hüpfender Haube. Ich hörte zu, während ihr Geschrei wie das panische Heulen einer Feuersirene immer leiser wurde, und ich wage zu gestehen, daß ich nur damals, als ich Elizas Biskuits Tortoni zum erstenmal kostete, ebenso erfreut war. 74
Und Prudence Symonds strahlte. Nicht daß sie so etwas Unschicklichem wie >Yipee!< Ausdruck verlieh. Im Gegenteil. Sie kniete nieder und betete zum Herrn, daß er >die sündige Befriedigung aus ihrem Herzen reißen und ihre Seele von den Flekken unheiliger Freude reinigen solle< und daß er >ihre frevelhafte Dankbarkeit auslöschen solle<. Woraus ich schloß, daß Prudence und Miß Apfelbutzen schon Bekanntschaft miteinander gemacht hatten und daß Prudence schlecht dabei weggekommen war. Ich bohrte nach und nach die Einzelheiten aus ihr heraus. Miß Apfelbutzen war eine gewisse Charity Beatitude Pyne, Spielgefährtin von >Blattern<-Martha Talcott und Tochter des Magistrats John Matthew Pyne. Mark Talcott, ein Vetter von Martha Talcott, wollte sie, Prudence, heiraten. Kleine Pause, während Prudence ein paar Tränen vergoß. Die Handlung verdichtete sich. Sie verdichtete sich noch mehr, ja, sie wurde nahezu sonnenklar, als Prudence ausführte, daß sie bei besagtem John Matthew Pyne als Erzieherin für die liebe kleine Charity Beatitude angestellt gewesen war. Es sei ihre schmerzvolle Pflicht gewesen, sagte Prudence, Charity B. mit einer Weidenrute auf die offene Handfläche zu schlagen, wenn sie ungehorsam war.
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dachte für mich, wenn ich eine der anderen Hand gehabt hätte, fso wären die Schläge ganz bestimmt »nicht auf die Handfläche gezielt geBt<sen. Aber ich erwähnte nichts dap^on, sondern nickte nur und sagte: l »Weiter!« km vorigen Abend hätte die Verlobung stattfinden sollen. Statt dessen - wieder Tränen - war Martha Tal|,cott krank geworden - Tränen -, |man hatte den Doktor geholt, und |der hatte die Diagnose auf Blattern '/ gestellt - Tränen. Martha, d^ arme Kind, hatte in ihrem Fieber schreckliche Dinge über Prudence gesagt |und sie angeklagt, ihren Vetter ver1 hext zu haben - Tränen und ein paar unterdrückte Schluchzer. Charity Beatitude, das arme Kind, war hysterisch geworden und hatte sich Marthas Beschuldigungen angeschlossen. Die beiden hatten auf sie eingeschrien und sie der unaus^prechlichI' sten Taten beschuldigt. Schließlich waren sie so weit gegangen, daß sie Prudence eine Hexe nannten, die Martha die Blattern angehext hatte - Tränenflut. Ob die Talcotts die Kinder denn nicht ordentlich ins Verhör genommen hatten? Ja. 0 ja. Aber sie hatten beide Krampte erlitten und steif und fest behauptet, daß sie vor den Augen ihrer unwissenden Eltern verhext worden seien.
(Tränenabwischen und Naseputzen.) Heilige Götter! Und am Gipfel des Tumults war Mister Jeremiah Larkin ganz erschöpft und atemlos herbeigejagt, um ihnen zu erzählen, daß man in der Taverne zum Blauen Eber eine Hexe gefangen habe, und die Kinder hatten gewimmert, daß man Prudence wegbringen solle. Was man getan hatte. Und d-das war die ganze G-Geschichte. Eine Hexe im Blauen Eber, hm? Na, und was war mit diesem Mark? Weshalb hatte er sich nicht eingemischt und der Handlung ein Ende bereitet? Wenn sie mich fragte, konnte sie froh sein, so einen . . . einen . . . einen Waschlappen loszuwerden. Jeder Mann, der etwas auf sich hielt, hätte - Aber ich ließ das Ende des Satzes murmelnd verrauschen, weil Prudence Symonds allen Anzeichen nach im Begriff war, mir den Besenstiel über den Schädel zu schlagen. Sie wollte mir verständlich machen, daß Mark ihre Partei ergriffen hatte. Er war sogar so weit gegangen, daß er einen Schwur leistete. Tsts! Und nun war er am Pranger in den Block geschlossen, weil er J. M. Pyne am Kragen gepackt und mit einem Fußtritt von der Talcott-Veranda befördert hatte und weil er ihm seinen Hut und seine Charity Beatitude hinterhergeworfen hatte. 75
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So ist es brav. Und außerdem hatte er versucht, sie vor den guten Leuten in Salem zu verstecken, was ihm nur nicht gelungen war, weil seine im Fieber handelnde Cousine Martha ihn mit einer schweren Nippfigur bewußtlos geschlagen hatte. Im Fieber handelnd war der richtige Name dafür. Was für ein liebenswertes Miststück das sein mußte! Ja. Ein liebes, süßes, verirrtes Kind, das durch seine Krankheit aus dem Gleichgewicht geraten war! An dieser Stelle explodierte ich. »Bläh!« sagte ich mit Vehemenz. »Bläh?« »Schnickschnack!« »Ich verstehe nicht.« »Apfelpudding, Backpflaumenmus, Bananenöl und Meerrettich! Kurz Quatsch mit Sahnensauce!« »Ich habe auch Hunger«, seufzte sie. Lassen wir die nächsten zwei Stunden aus. Wir waren allein, ich, Prudence und die Maus, und wir unterhielten uns über die verschiedensten Dinge. Lassen wir auch das Brot und die Suppe aus, die uns der Gefängniswärter brachte. Das Brot hatte Schimmel angesetzt, und die Suppe sah aus, als wollte sie selbst an Unterernährung eingehen. Ich hatte nicht das Herz, sie zu essen. Sie war so weiß und matt und schien schwer gelitten zu haben. Ich bot sie der Maus an, aber nicht einmal die wollte sie, so 76
weichte ich das Brot hinein in der Erwartung, daß es Wurzeln schlagen und blühen würde, aber das Brot erlitt plötzlich einen Zusammenbruch, und schließlich wartete ich einfach, bis der Gefängniswärter kam, um Schüsseln und Löffel zu holen, und ich warf sie ihm an den Kopf. Ich traf ihn. Kurz danach holte uns eine Delegation perückenbewehrter Salemiter, die uns - nachdem wir sicher gefesselt waren - zum Gerichtsgebäude geleiteten. Das heißt, sie schubsten uns von vorn und hinten, als seien wir preisgekrönte Fettschwanzlämmer, die zum Schurwettbewerb in die Arena gebracht wurden. Man empfing uns mit Miau- und Buhrufen, und zum erstenmal war ich glücklich, daß ich mich im Jahre 1692 befand. Keine Stinkbomben. Der Vorsitzende Richter war - klar, Sie haben es erraten - kein anderer als John Matthew Pyne höchstpersönlich. Er war reichlich dick, besonders um die Backen, die einen rötlichen Schimmer aufwiesen. Die Farbe erstreckte sich auch auf die Nase, ' auf der eine große Warze prangte. Er hätte ein großartiges Umschlagbild für Punch abgegeben. Prudence flüsterte mir seinen Namen zu und wurde prompt von einem gerichtsdienerähnlichen Wesen ermahnt. »Ruhe!« brüllte er mit vernichtender Stimme. Ich glaube, er war der Urahn aller späteren Tabakauktionäre.
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^Sei das, wie es mag, die Verhandlung wurde jedenfalls mit viel Pomp und Zeremoniell und unter Heranziehung von Dokumenten eröffnet. Man klagte uns formell der Hexerei an, und wir erklärten, daß wir unschuldig seien, und jedermann im ; Gerichtssaal fuhr raschelnd und murmelnd hoch. Ich konnte sehen^ daß man uns nicht zur Miß Populär 1692 wählen würde, und wenn man nach den Gesichtern der Geschworenen gehen durfte, bekam das Bestattungsinstitut bald neue Aufträge. Ich weiß nicht, wann ich - abgesehen von den Optikerschaufenstern - mehr eisige Augenpaare auf einem Haufen gesehen habe, und die Temperatur der Menge stand beharrlich so tief wie bei einer Kühlanlage und wollte nicht wärmer werden. Die Zeugen schnellten geradezu gegen uns hoch, und ich habe noch nie im Leben einen haarsträubenderen Unsinn gehört als das Zeug, das sie verzapften. Die ehrenwerte Hannah Simms, die alles andere als gerade ehrenwert aussah, bezeugte, daß wir ihre Bruteier verdorben hatten. Meine Freunde, die Perücken, schworen, daß ich auf dem Besenstiel reitend in ihrer Mitte aufgetaucht sei und versucht hätte, ihre Seelen mit Beschwörungen zu umstricken. Mrs. Faith Thow versicherte, daß Prudence Symonds die Schuld dar-
an trug, daß die Thow-Kuh keine Milch mehr gab, und ein gewisser Lucius Banbridge sagte unter Eid aus, daß sie seine Zähne locker gemacht und seine Haare zum Ausfall gebracht habe und daß sie ihn mit Schüttelfrost und Fieber plage. Wenn je ein Mensch Malaria gehabt hatte, dann war es Lucius Banbridge. Wir wurden beschuldigt, »Blut auf den Mond« getan zu haben, Vögel zum Mausern und Pferde zum Lahmen gebracht und Getreidekäfer in Madam Seabrights Mehlkiste gezaubert zu haben. Eine dicke Matrone mit Dreifachkinn sagte, daß ihr Enkel durch uns einen Durchfall bekommen habe, und ein fettbäuchiger Kerl mit einer Knollennase und Flecken auf dem Wams versicherte, daß er den Teufel gesehen habe, wie er auf einem Ast vor dem Blauen Eber gesessen und mit einem rauchenden Zahnstocher in seinem Gebiß herumgearbeitet habe. Ganz offensichtlich wollte er sich mit mir treffen. Diese Aussage bezweifelte ich nicht. Von der Färbung seiner Nase und dem krampfartigen Zucken des Zeugen konnte ich schließen, daß er den Teufel tatsächlich gesehen hatte und anschließend auf einem rosaroten Elefanten mit Gazeflügeln und einem himmelblauen Netz um den Rüssel heimgeritten war. Nun, nachdem alle Zeugenaussagen gegen uns vorgebracht waren, gab 77
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man uns Gelegenheit, unsere Unschuld zu beweisen. Prudence Symonds sagte das Vaterunser von vorne bis hinten ohne Stocken, was offenbar eine ganz sichere Prüfung war. In diesem Fall half es nichts. Mrs. Dreifachkinn kreischte, das beweise nur, daß sie weit größere Zauberkräfte besitze, als man gedacht habe, und alles brach in ein zustimmendes Murmelmurmel aus. Ich sah, daß es mehr als zwecklos sein würde, wenn ich mich herauszureden versuchte. Prudence hatte es trotz Vaterunser, einem Gesicht wie Milch und Blut und einer Tugendhaftigkeit sondergleichen nicht fertiggebracht. Ich war nicht nur wie eine Hexe gekleidet, ich sah auch wie eine aus, und mein Äußeres hatte sich durch die Gymnastikübungen mit der Bevölkerung im Blauen Eber und den nächtlichen Aufenthalt im Gefängnis nicht gerade verbessert. Die ungeschminkte Wahrheit war gleichbedeutend mit dem Zugeständnis, daß ich eine Hexe der schlimmsten Sorte sei. Nun waren die zwei Stunden, die ich mich mit meiner ZeHengefährtin unterhalten hatte, unbedingt aufschlußreich gewesen. Sehr aufschlußreich. Ich hatte ein paar der respektierlichen Bürger Salems aus der Vogelperspektive betrachtet, und wenn die Skizzen auch sehr lückenhaft waren, fühlte ich mich durchaus in der 7S
Lage, diese Lücken zu schließen. Ich kann zwischen den Zeilen lesen, und Improvisieren ist mein Hobby. Ich setzte mich und begann: »Wenn es dem Hohen Gericht beliebt, so kam ich im Interesse der Gerechtigkeit nach Salem, um gewisse irrige Meinungen aufzuheben.« Die Antwort des Richters war genau das, was ich brauchte. »Meinungen? Wovon sprichst du, Weib?« »Nun«, sagte ich, »erstens einmal die Meinung, daß Mrs. Thow die Gicht hat. Sie hat keine Gicht. Sie hat ein Holzbein, und falls es Sie interessiert, ihre Kuh gibt keine Milch mehr, weil sie zwölf Jahre alt und halb verhungert ist und weil die Eldriges, die nebenan wohnen, sie heimlich melken. Und sehen Sie sich Jeremiah Larkin an - eine Säule der Kirche. Ganz klar. Und wissen Sie, weshalb? Weil er den Schlüssel zur Armenkasse hat. Denken Sie darüber nach. Und sie«, ich deutete auf Mrs. Dreifachkinn, »ist die Dame, die das Gerücht aufbrachte, daß die ehrenwerte Mrs. Simms eine dumme Pute sei, eine geborene Schwachsinnige, die ihr Haus nicht sauberhält und heimlich schnupft. Und was Lucius Banbridge betrifft, so hat er sich von Madam Seabright bestechen lassen und ihrer Pastete den Großen Preis beim Fest gegeben, und Mary Ellen Cull war so wütend - Sie sollten sie mal im
DAS ELIXIER Rappel hören, das sollten Sie wirklich -, daß sie die Getreidekäfer ins Mehl schmuggelte. Und das Bestechungsgeld, das Mister Banbridge altnahm, hatte Madam Seabright ihrem Gatten aus der Hosentasche gestohlen, und er hatte es beim Kartenspiel mit diesen Männern hier gewonnen.« Ich deutete auf die Perücken. »Außerdem«, fuhr ich fort, »fährt Mister Eathan Abbott nicht in Geschäften nach New York, wie er Mrs. Eathan Abbott gern erzählt. Er besucht ein adrettes kleines Ding mit großen braunen Augen und Taillenweite fünfundvierzig. Und Laura Lamby benutzt Puder und reibt sich Rübensaft auf die Wangen«, sagte ich und sah zu, wie Mister Eathan Abbott eiligst den Gerichtssaal verließ, gefolgt von Mrs. Abbot, in deren Augen ein schreckliches Licht glimmte. Wie auf ein Stichwort hin ging die ehrenwerte Mrs. Simms auf Mrs. Dreifachkinn zu, und ein Schwärm erzürnter Damen begann Lucius Banbridge einzukreisen, der eine furchtbare, kirschrote Farbe angenommen hatte. Ein Pfarrer und Jeremiah Larkin spielten Katz und Maus um eine Säule, und eine ältere Frau rieb mit einem Taschentuch die Wangen eines jungen Mädchens ab vermutlich Laura Lamby. Das Taschentuch färbte sich langsam rosa, ebenso die Eldriges. Im ganzen Saal
standen Leute auf und stahlen sich so unauffällig wie möglich hinaus. »Und was Sie angeht, Richter Pyne«, sagte ich, »Sie sind entschlossen, Prudence Symonds überhaupt nicht heiraten zu lassen, wenn Sie sie schon nicht heiraten können, und Sie -« J. M. Pyne vollführte mit seinem Hammer ein regelrechtes Schlagzeugsolo auf dem Richtertisch und bellte: »Sitzung vertagt!« Und im gleichen Moment stürzte eine Frau durch den Mittelgang herein. Sie heulte und stammelte: »Sie hat Charity verhext. Sie hat Charity verhext. Hat sie. Hat sie. Sie hat Charity verhext.« Dann sah sie mich und blieb mitten im Lauf stehen, ich sagte: »Buh!«, und sie fiel glatt in Ohnmacht, »Was!« kreischte der Richter. »Sie haben es gehört«, sagte ich ruhig. »Ich habe Charity verhext. Sie wird in einen Frosch verwandelt.« Damit brach ein Inferno los, und schneller als man >bei stehendem Zug die Toilettenspülung nicht benutzen< sagen konnte, war der Saal leer. Ich blieb aus Respekt vor den vierzig Pfund Ketten, die man hübsch um mich drapiert hatte, stehen. Ich konnte sie nicht gut aufheben und damit davonrennen, denn sie war an einem Haken im Boden befestigt. So stand ich einfach da, während sich Richter Pynes Blutgefäße erweiterten, bis sie kurz vor dem Platzen 79
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waren, und der Gerichtsdiener Wasser über die Ohnmächtige schüttete. (Seine Mutter war wohl von einer SpringSut erschreckt worden. Ich haben selten jemand mit so einer Manie fürs Wasservergießen gesehen.) Die Ohnmächtige kam wieder zu sich und nahm ihr Gejammer da auf, wo sie es abgebrochen hatte, und Prudence Symonds warf mir einen starren Blick zu und fragte: »Mich heiraten? Sie meinen - er - ich - weil . . . das heißt -« »Genau«, sagte ich. Es bleibt ein kurzer Moment zur Orientierung, während Richter Pyne seine Blutgefäße unter Kontrolle bringt und Prudence Symonds ihn ansieht wie eine Schüssel mit Gefängnissuppe und der Gefängniswärter zur Vorsorge einen neuen Eimer Wasser holt und die Ohnmächtige ihre Wehklage wiederaufnimmt und ich an Houdini und Jiu-Jitsu und die doppelten Kuchen denke, die Alice im Wunderland knabberte. Ich muß eines sagen - in Richter Pyne hatte Charity Beatitude einen liebenden Vater. Als ihm klar wurde, welche Aussichten seine Charity B. hatte, wurde er totenblaß und stand kurz vor dem Koller. Ich lächelte ihn beruhigend an Und sagte: »Keine Sorge. Sie wird sich daran gewöhnen. Sobald sie Fliegen essen und auf einem Lilienblatt sitzen kann, ist nichts mehr dabei.« 80
»Sie wird schon grün«, kreischte der sterbende Schwan. »Und sie sagt, daß sie schreckliche Schmerzen hat.« Das überraschte mich gar nicht, wenn ich an ihre Vorliebe für Äpfel dachte. Aber ich sagte: »Das sind die Warzen, die sich bilden. Ich lasse sie immer von innen nach außen wachsen. Es werden Prachtdinger sein. Jede Warze wie eine Rosette geformt, Patent angemeldet.« »Wir dürfen keinen Augenblick verlieren«, kreischte John Matthew, jagte von seinem Podest, packte mich am Arm und rannte mit mir zur Tür. Weiter ging ich nicht, denn die Kette holte mich zurück. »Schlüssel, Schlüssel«, brüllte er den Gefängniswärter an. »Schlüssel. Macht dieses - macht dieses verflixte macht es los!« »Einen Moment«, sagte ich. »Nicht so schnell. Was ist hier los? Wollen Sie, daß ich Ihre Tochter wieder von dem Zauber befreie? Ist es das?« »Stillhalten«, sagte der Gefängniswärter. »Ich kann das hier nicht aufmachen, wenn Sie so zappeln.« »Wenn Sie sie nicht befreien«, sagte J. M. Pyne zu mir, »lasse ich einen Pfahl durch Ihr schwarzes Herz boren. Verstehen Sie? Verstehen Sie?« »Hören Sie mal, Sonny«, sagte ich zum Gefängniswärter, »schließen Sie noch nicht auf.« »Er hat es befohlen. Halten Sie still,
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hören Sie«, sagte der Gefängniswärter zu mir. »Schnell«, sagte J. M. zum Gefängniswärter. »Verflixt noch mal, schnell!« »Sie will nicht stillhalten«, sagte der Gefängniswärter vorwurfsvoll zu J. M. »Schließen Sie nur auf«, sagte ich zum Gefängniswärter. »Sie werden ja sehen.« »Wi-wie meinen Sie das?« sagte der Gefängniswärter zu mir. »Schnell«, kreischte J. M. uns beide an. »SCHNELL!« »Ich meine, daß ich Sie verhexen werde, Freundchen«, sagte ich finster zum Gefängniswärter. »Ich habe ein paar tolle Dinge zur Auswahl. In drei Farben. Strangulier — Purpur, Würge-Rosa oder Abmurks-Rot.« Das brachte ihn zur Vernunft. Sofort. Er schlich sich in sichere Entfernung und begann zu zittern wie Espenlaub. Oder wie rote Grütze? Jedenfalls erweckte er ganz eindeutig den EindrucK, Jaß ei uii vertikalen Verwerfungen litt. Pyne gab ihm eine Kopfnuß, riß ihm die Schlüssel aus der Hand und startete einen gezielten Angriff auf meine Kette. »Ich erlöse Ihre Tochter unter einer Bedingung«, sagte ich. »Und hören Sie mich zu Ende an, bevor Sie mich losmachen, sonst wird es Ihnen leid tun. Sehr, sehr leid tun.«
Es funktioniert. Sicher, er fummelte einen Moment lang an der Kette herum, aber als ich ihn an die Warzen erinnerte, gab er auf. Ich muß gestehen, daß er einen ziemlichen Kampf mit sich austrug, bevor er es tat aber er tat es. Ich legte ihm die Bedingungen in kurzen Sätzen vor, und er akzeptierte sie, obwohl er einen noch schlimmeren Kampf als zuvor ausfocht, und er sah Prudence Symonds dabei an, als sei er der Armenier, der kurz vor dem Verhungern stand, und sie das fürstliche Abendmenü. Die Bedingungen waren: zwei gesattelte Pferde, Mark Talcott, Geld und drei Stunden Vorsprung, wofür Charity Beatitude nicht mit Schv.immhäuten herumhüpfen mußte. Die Pierde kamen, herbeigeführt von einem Stallknecht, der, wäre er ein paar Jahrhundert später geboren worden, Abbott und Costello überflügelt hätte. Er stolperte zweimal über die eigenen Füße, verlor beinahe die Hose und brachte es irgendwie fertig, den Hut fest über die Ohren zu schieben, bis J. M. ihn auf meine Anweisung hin verjagte. Ich will Ihnen die rührende Szene ersparen, die entstand, als Mark und Prudence wiedervereint wurden. Sie würden entweder weinen oder Übelkeit empfinden - je nach Ihrer romantischen Anlage. Also, machen wir es kurz und schmerzlos. 8l
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Das Geld sah komisch aus, aber es schien eine ganze Menge zu sein, und so war ich nicht kleinlich. Und die drei Stunden. Ach ja, die drei Stunden. Bis sie um waren, hätte ich mein bestes Korsett, einen Satz Reifen und einen Zentnersack Zukker als Ersatz gegeben. Sie müssen wissen, zur Versicherung meines guten Glaubens beharrte ich darauf, in Ketten zu bleiben, während Mark und Prudence in einen anderen und weniger hexengierigen Teil des Landes zogen. Drei Stunden gaben ihnen einen ziemlichen Sicherheitsvorsprung. Es war die einzige Lösung. Ich war überzeugt davon, daß J. M. Pyne in dem Augenblick, in dem ich mein Abrakadabra über Charity B. sprach, einen Gesinnungswechsel erleiden würde, und daß man Prudence, wäre sie anwesend, und Mark, wäre er anwesend, und mich, die infolge des Abrakadabras notgedrungen anwesend sein mußte, sofort pakken und doppelt denunzieren würde. Daher ich in Ketten. Es machte einen guten Eindruck. Einen viel besseren, als wenn ich es mir im Hause der Pynes bequem gemacht und J. M. die Möglichkeit gehabt hätte, Charity B. in natura zu besichtigen und festzustellen, daß sie Verdauungsschwierigkeiten anstelle von Froschsucht hatte. Es kostete allerhand Arbeit, Mark und Prudence auf ihre Pferde zu be82
kommen. Prudence stemmte sich fest in den Boden, weil sie bei mir bleiben wollte, und Mark wollte ebenfalls bei mir bleiben und J. B. die lebenden Teufel aus dem Leib reißen, aber schließlich überzeugte ich sie auf einfache Weise, indem ich Prudence zuflüsterte, daß sie keine Angst haben sollte, weil Hexen nun mal gewisse Kräfte besäßen, und daß sie ihre erste Tochter Amy nennen s llte. Dann flüsterte ich Mark zu, daß er sich wieder abkühlen könne, »weil ich persönlich dafür sorgen würde, daß die Pynes zur Schnecke gemacht wurden«, und wenn er je einen Sohn haben sollte, müsse er ihn Parrish nennen. Dann fügte ich hinzu, daß es besser wäre, wenn sie jetzt gingen, bevor die Dorfbewohner kämen und wieder alles zum Scheitern brachten. Prudence umarmte mich und zerquetschte eine Träne an meinem Gesicht und versi herte heftig, daß ich eine >nette< I »exe sei. Sie gingen, bevor ich es richtig wahrnahm, denn ich war zeitweise von dem Kuß ausgeschaltet, den Mark Talcott mir auf die Lippen geschmatzt hatte. Wenn ich so an die zwanzig Jahre jünger gewesen wäre - puh! Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gehen wir über die folgenden drei Stunden leichten Schrittes hinweg. Es muß genügen, wenn ich sage, daß ich nach Ablauf der Zeit - die Minuten
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vergingen wie große, graue, faule, langsam dahinzockelnde Elefanten, die einander an den Schwänzen festhielten - eine neue Theorie über Geopolitik entwickelt hatte, das Einmaleins neunzigmal rückwärts und vorwärts hergesagt hatte, sechs Fragenkomplexe für >Sie fragen - wir antworten ausgedacht hatte und im Geiste die Gliederung für einen Gruselroman zusammengestellt hatte, in dem J. M. P. erschossen, erstochen, gehängt und vergiftet wurde, und die Mörderin - ich - nicht nur öffentlich gelobt wurde, sondern eine Bronzeplakette und eine Reise nach Hollywood - inklusive Taschengeld erhielt. Während ich so beschäftigt war, schickten die Dorfbewohner eine Abordnung, um ausrichten zu lassen, daß sie meine sofortige Beseitigung ohne Gerichtsverhandlung empfahlen, wobei besagte Beseitigung mittels eines Pfahles und ein paar entzündeter Holzscheite taut de suite erfolgen sollte - noch touter de suite, wenn es ging -, und wo, zum Kukkuck, seien Prudence Symonds und Mark Talcott? John Matthew schickte sie zu den Dorfbewohnern zurück, um ihnen auszurichten, daß die Situation vollkommen unter Kontrolle sei und sie sich bis auf weiteres bereithalten sollten - aber daß ich unter keinen Umständen irgendwie belästigt werden
durfte, bis er das Zeichen dazu gäbe. Und mit Prudence Symonds und Mark Talcott würde man sich zur gegebenen Zeit schon noch beschäftigen. Als die Abordnung ab geordnet war, erklärte er, daß Mark und Prudence selbstverständlich in Ruhe gelassen würden und daß er nie das Zeichen geben würde, hahahahaha. Und ich sagte, natürlich, hahahahaha, denn er sei ein Ehrenmann, und außerdem würde es äußerst komisch aussehen, wenn er sich >zufällig< in eine Eidechse mit Schuppenrücken verwandeln sollte. »Hahaha«, sagte er. »Hahaha«, sagte ich. Der Gefängniswärter holte wieder einen Eimer Wasser, um die Ohnmächtige zu sich zu bringen. So wurde ich unter keinen Umständen irgendwie belästigt, als J. M. Pyne und ich uns in der dämmrigen Stunde X auf den Weg machten, um Charity B. wieder zu einem Menschen werden zu lassen. Die Straßen waren sämtlich verlassen, wenn auch hier und da ein paar Türen einen Spalt offenstanden, manche Jalousie diskret um einen Zoll hochgezogen war und mancher Vorhang um eine Spur verrutscht war. Das Haus der Pynes war wie ein Christbaum erleuchtet, als wir ankamen, und angefüllt mit göttlichen Antiquitäten und stöhnenden Die83
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nern - weniger göttlich, da sie meist laufende Nasen und zitternde Kinne hatten. Man schob mich hastig nach oben und in ein Schlafzimmer, und jemand im Bett kreischte los, als ich kam, und versuchte sich unter den Decken zu verkriechen. Der Jemand war Charity B., und sie war grün wie ein schimmliger Socken. Ich sagte: »Bula, bula«, und sie kreischte wieder und verkroch sich so weit unter der Decke, daß sie unten wieder herauskam, dann kreischte sie noch einmal und rutschte wieder nach oben. J. M. begann zusammen mit den Dienern zu stöhnen und flehte mich zwischen dem Stöhnen an, etwas zu tun - etwas zu tun - etwas zu TUN. Ich tat etwas. Schließlich hatte Charity B. ihre Lehre bekommen, und Bauchschmerzen sind nichts Angenehmes, und außerdem konnte J. M. die Sache durchschauen, was von Nachteil für mich war, denn ich wollte einen schönen Vorsprung vor den Pfählen und Scheiterhaufen Salems gewinnen. Deshalb präparierte ich ein Brechmittel. Ich ließ unzählige Gläser und Becken kommen und schüttelte traurig den Kopf, weil weder Eisenhut noch giftige Nachtschatten im Hause waren, doch ich versicherte, daß ich im Notfall auch Salz, Soda und 84
Senkörner mit einem besonderen Gesang verwenden könnte. Salz, Soda und Senfkörner wurden geliefert, und während ich einem zitternden Diener das größte Becken in die Hände drückte, damit er es vor Charity B. hielt, sang ich Beschwörungen auf Teufel-komm-raus. »LirumlarumLöffelstiel«, summte ich tief vor mich hin. »Didihidi«, kreischte ich. »Romdomromdom, jaraj'ara«, knurrte ich. »RAH!« Ich füllte eine Tasse mit Salz, Wasser und Senfkörnern, fügte einen tüchtigen Schuß Soda hinzu, und als es aufschäumte, gellte ich: »Brause, brause, ohne Pause«, und schüttete das Zeug Charity in den Schlund. Das Ergebnis war genau das, was ich erwartet hatte. Sie hatte wohl einen Viertelscheffel Äpfel gegessen. Langsam wich die grünliche Farbe aus ihrem Gesicht, sie sank mit einem zufriedenen Seufzer zurück und schlief prompt ein. »Ist sie - ist sie - wird sie - sie wird doch nicht?« stammelte J. M. Pyne. »Nein«, sagte ich, »sie wird nicht. Ich habe sie noch rechtzeitig erwischt, alter Knabe. Jetzt liegt es an Ihnen, den Handel zu erfüllen.« »Ja«, sagte er. »Natürlich.« Er tupfte sich die Stirn ab, glättete sein Wams und sah mich nachdenklich an. »Sind Sie auch ganz sicher, daß sie nicht -?« Ein schlauer Gesichtsaus-
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druck machte sich auf seinen Zügen breit. »Absolut«, sagte ich, und ein außerordentlich schlauer Gesichtsausdruck machte sich auf meinen Zügen breit. »Wir - wir sind also in Sicherheit?« »Richtig«, zirpte ich, »außer ich entschließe mich, das da zu verwenden -« Ich streckte die Hand aus und entwurzelte gekonnt ein Haarbüschel von seinem Schädel - so ungefähr das letzte, das er noch besaß. »Au!« Der außerordentlich schlaue Gesichtsausdruck wich einem Blick, gemischt aus Schmerz und Besorgnis. Ich hob das Büschel dicht vor seiner Nase hoch. »Vergessen Sie nicht die Eidechse mit dem Schuppenrücken, die ich mir aufgespart habe. Mit Ihrem Namen darunter.« Ich ließ das Büschel in meiner Tasche verschwinden und grinste ihn unverfroren an. »Oh«, sagte er. Und nach einer langen Pause: »Also gut. Folgen Sie mir.« Wir waren die Hälfte der Treppe hinuntergestiegen, als die Vordertür mit einem Knall aufflog und eine Frau, die mit steifem Arm ein Kind hinter sich herschleppte, hereinrannte. Ein Blick auf das Kind verriet mir, daß das >Blattern<-Martha Talcott war, und mir war sofort klar, daß man mir die Rolle der Wunderärztin übertragen wollte und daß es sich nicht um richtige Pocken, son-
dern um die Windpocken der Diggots-Marksbury-Sorte handelte. Vor mir erstanden Visionen, wie ich den Rest meines Lebens als praktische Ärztin in Salem verbringen würde, und einen Moment lang verlor ich mich in einen rosig gefärbten Traum, in dem ich als eine Kombination aus Florence Nightingale, Louis Pasteur und der Mayo-Klinik dastand - und Geld scherfeite, das ganz nebenbei. Die Seifenblase platzte, als das Wort >Äpfel< in mein traumvernebeltes Gehirn eindrang. Ich kam mit einem schweren Sturz zur Erde und hörte mir den Rest von Mrs. >Blattern
JANE RICE
>Blattern<-Talcott sagte idi streng: »Treten Sie zur Seite.« »Ef waren die Äpfel im Keller«, meldete sich Blattern-Martha Talcott. »Fie hat ungefähr fechfehn gegeffen, glaube ich. Und mich juckt es frecklich.« J.P.: »Was?« M. T.: »Ef juckt mich!« Mrs. T.: »Es waren die Äpfel, die vielen Äpfel, die Charity aß, und nicht irgendein Zauber oder sonst etwas. Und diese Frau ist eine Betrügerin, und du kannst jetzt Prudence und Mark freilassen, und, Martha, willst du wohl aufhören, dich zu kratzen!« M. T.: »Ef juckt mich!« Ich: »Treten Sie zur Seite.« J. P.: »Du meinst, daß Charity -« Mrs. T.: »Ja. Ich kann mir gar nicht denken, wie sie soviel in sich hineinstopfen konnte -« M. T. (stolz): »Fie hat einmal gefpien und mußte noch einmal von vorne anfangen -« Mrs. T.: »Martha!« Martha (beharrlich): »Fie hat aber wirklich, und auferdem hat fie -« Mrs. T.: »Martha!« M. T. (ängstlich zurückweichend): »Ja, Madam.« Ich: »Treten Sie zur Seite!« J. P. (der sich mir mit blassem Gesicht zugewandte, während ich mich ein paar Schritte zurückzog): »Also, das -« 86
Ich: »Denken Sie an die Schuppeneidechse! Wenn Sie mich mit einem Finger anrühren, verzaubere ich Sie, daß Sie -« In diesem Moment stolperte ich über meinen Umhang, schwankte unsicher und griff nach der nächsten Stütze. Die nächste Stütze war J. M., und der Griff beruhte auf Gegenseitigkeit. Er allerdings packte mich mit Rachegefühlen, und ich klebte ihm eine, und er klebte mir eine, und ganz plötzlich war ich von glühendem, kochendem Zorn erfüllt. Alles vernebelte sich, und ich machte den Mund auf, um seine Vorfahren häßlich zu schmähen, aber zu meinem vollkommenen Erstaunen stieß ich einen Schwall unverständlichen Zeugs aus. Es kam ganz von selbst und schien nur aus Schnalzlauten und Worten mit Z und XY zu bestehen. Es klang einfach grausig. Der Nebel schwebte immer dichter um mich, während unkontrollierbare Silben tödlichen Giftes ohne mein Zutun über meine Lippen rollten. Mir kam schwach zu Bewußtsein, daß sich die Vorhalle mit Menschen füllte, mit Horden von Menschen, die Pechfakkeln und Knüppel und scheußlich aussehende Heugabeln mit drei Zakken trugen. Hinter mir hörte ich das verstohlene Rascheln von Röcken und wußte, daß sich die Diener zum Oberfall von hinten sammelten und mir die Flucht unmöglich machten.
DAS ELIXIER
Jemand schrie. Und schrie. Und schrie. Und alle begannen auf mich einzudringen. Ich ließ einen letzten, langen stammelnden Ausbruch verrückter Laute los, und dann schrie ich. Und schrie. Und schrie. Denn in meinem Griff schrumpfte J. M. Pyne zusammen und wurde dünn und schmal, und eine Reihe winziger Stacheln wuchs von seinem Hals hinter dem Jackettkragen, und seine Augen wulden glänzend und still, und seine Hände zogen sich zu Pfoten zusammen, und pfft! verschwand er in seinen Kleidern. Die Kleider fielen zu einem schlappen Häufchen zusammen, und etwas krabbelte und wand sich in meiner Tasche. Die Tasche, in der ich das Haarbüschel untergebracht hatte. Und aus der Tasche sah ein Kopf heraus. Ein kleiner brauner Kopf. Eine Eidechse. Eine zehn Zentimeter lange Eidechse mit geschupptem Rücken! Ich war eine Hexe. Ich war tatsächlich eine Hexe. Ich war eine HEXE! Ich. Amy Parrish. Was würde Eliza sagen? Ich versuchte mein Schreien einzustellen und konnte es nicht. Ich versuchte, die gellenden Stimmen zu überhören und die Pechfackeln nicht zu riechen. Ich stand da wie Lots Weib und sah, wie ein Mann die Treppe heraufkam. Er schwang die Heugabel wie ein Bajonett.
Ich nehme an, daß ich auszuweichen versuchte, denn unerwartet stolperte ich wieder über den verflixten Besenstiel und schlitterte armrudernd die Treppe hinunter. Und dann geschah es. Ich surrte einfach über die Köpfe der Menge hinweg. Tatsächlich. Ich saß rittlings auf dem Besenstiel, jagte über sie hinweg, flog eine Kurve und sauste knapp aus der Tür, mit einem Teil des Lüsters um den Hals drapiert und einem Stück Spitzenvorhang um den Knöchel gewikkelt. Weshalb ich nicht herunterfiel, konnte ich nicht verstehen. Ich war so platt, daß meine Nervenzentrale wohl langsamer als gewöhnlich arbeitete. Ich dachte immerzu nur: »Ich bin eine Hexe. Ich bin eine Hexe. Ich bin eine Hexe.« Vielleicht hätte ich es ordentlich geschafft, wenn nicht John Matthew Eidechse gewesen wäre. Ich hätte gelernt, wie man steuert und Kurven dreht und Dreieckspeilungen zur Landung vornimmt, und vielleicht hätte ich mit einiger Übung einen Luftpostdienst einrichten können - aber J. M. Eidechse krabbelte aus meiner Tasche, und das war es. Ich sagte: »Grrr!« und verlor irgendwie das Gleichgewicht, und als nächstes weiß ich nur noch, daß ich wie ein dreizehiges Faultier mit dem Kopf nach unten hing, während J. M. — offenbar ebenso verängstigt wie 87
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ich - mir in den Ärmel schlüpfen wollte. Ich stieß nach ihm. Der Besenstiel geriet ins Schwanken, begann sich zu drehen, und wir wirbelten nach unten, unten, unten. Das letzte, was ich sah, war ein Habicht, der eine Feldmaus im Schnabel hatte. Die Dunkelheit hüllte mich mit einem lauten Wumm! ein, als ich auf außerordentlich hartem Grund landete. Ich stieß um mich. Ich setzte mich auf. Der Boden stieß nach mir und sagte: »Hinlegen, Miß Amy!« Ich öffnete die Augen und sah - Eliza! Eine Leuchtkugel ging in meinem Schädel hoch, und ich legte mich schnell hin. »Und so was ist 'ne erwachsene Frau«, sagte Eliza. »Ts!« »Eliza«, fragte ich schwach, »bist du das?« »Wer sonst?« sagte sie angeekelt. »Tante Jenima?« »Bin ich ich?« »Hmmph«, machte Eliza. »Wo bin ich?« »In Ihrem Bett.« »Wie - wie kam ich hierher?« »Ich hab' Sie nach Miß Holloways Party reingeschleppt.« »Nach Miß Holloways Party? Habe Ich - war ich - welche Party?« »Die Hallowe'en-Party, die Miß Holloway gab. Es war ein Heidenspektakel, und wie ich gehört habe, waren Sie die Hauptattraktion.« »Ich?« 88
»Ja, Ma'am. Sie haben einen Hulatanz auf dem Flügel vorgeführt. Mit eLnem Lampenschirm.« »Ich?« »Ja, Ma'am.« »Ich?« »Ja, Ma'am. Und Sie haben etwas auf dem ganzen Boden verschüttet, bevor Sie damit anfingen.« »Bevor?« »Ja, Ma'am. Irgend etwas, das mein Röstblech kaputtgemacht hat. Einfach kaputtgemacht!« »Tatsächlich?« »Und Sie -« »Eliza, wie spät ist es?« »Zehn Uhr morgens?« »Welcher Tag?« »Sonntag. Miß Amy, Sie -« »Welches Jahr, Eliza?« »1942. Miß Amy, ich rate Ihnen -« »Und wir sind nicht in Salem, Eliza?« »Was ist'n das. Miß Amy?« »In welcher Stadt sind wir, Eliza?« »In der gleichen wie gestern«, stellte sie säuerlich fest. »Ich hab' Ihnen Tomatensaft und einen Eisbeutel zurechtgemacht, und ich rate Ihnen -« »Eliza, war ich die ganze Zeit auf Miß Holloways Party?« »Was ich so höre. Miß Amy, waren Sie nicht nur dort, sondern Sie waren die ganze Party. So, es gibt nichts Besseres gegen einen Kater als Tomatensaft und einen Eisbeutel -« »Habe ich einen Kater?«
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»Ob Sie - hören Sie mal. Miß Amy, ich habe keine Zeit zum Herumalbern. Ich muß arbeiten, auch wenn andere Leute das nicht müssen. Trinken Sie den Tomatensaft da und legen Sie sich das Eis auf die Stirn, und wenn Sie sich wieder besser fühlen, können Sie diese Eidechse versorgen, denn was mich betrifft, so rühre ich sie nicht an. Nicht mit einem drei Meter langen Stock. Ich bin doch nicht - legen Sie sich hin. Miß Amy, ich kann es nicht ändern . . .« »Eidechse! Was für eine Eidechse?« »Die Eidechse, die Sie mit heimgebracht haben. Ich denke es mir wenigstens. Jedenfalls, da ist sie, und ich rühre'sie nicht an.« »Oh«, sagte ich. »Oh. Oh, du liebe Güte. Oh, du liebe Güte!« »Ja, Madam«, sagte Eliza. »So denke ich auch.« Es war eine kleine, braune, schuppige Eidechse mit einer winzigen Reihe von Stacheln am Rücken, und sie kauerte oder saß oder was eben Eidechsen tun, auf meinem Schreibtisch. Ihr Hals zuckte hin und her, und sie sah mich mit schwarzen, starren Knopfaugen an. Das ist das Ende der Geschichte. Außer Sie gehen irgendwann mal in den Tierpark und besichtigen das Reptilienhaus. Sie finden die Eidechse zusammen mit hundert anderen in einem Glaskäfig, aber man erkennt sie leicht an der Warze auf der Nase.
Die Antwort? Bitte, fragen Sie mich nicht. Ich kenne sie nicht. Cläre Holloway - der ich kein Wörtchen verraten habe - versicherte, daß ich den ganzen Abend in gesteigerter Heiterkeit verbrachte und keinen Moment lang abwesend war. Sie sagt auch, daß dieser angeschlagene, gesprungene und geschwärzte Becher ein echter Hexenbecher sein soll - Jahrgang 1692 aus Salem. Aber sie stellt fröhlich fest, daß sie ihn für eine armselige Imitation halte und ganz froh sei, daß ich ihn in tausend Scherben zerbrochen hätte. Aber ich solle doch nächsten bitte nichts mehr von diesem Zeug auf den Boden ihrer Kellerbar schütten, da es die Farbe verätzen würde. Worauf sie sich verlassen kann. Ein Martini dry ist alles, was ich in Zukunft an elixierähnlichen Getränken mixen werde. War es das Elixier? Oder war es der Becher? Hätte Wasser aus dem gleichen Becher auch diese Wirkung gehabt? Befand sich durch Zufall noch ein Tropfen irgendeiner Flüssigkeit in dem Becher, den ich zusammen mit dem Schokoladeneis, dem türkischen Honig und dem Wermutmischmasch trank? Stimmt es, daß Hexen an einem Ort sein können, während sich ihr Geist über die Grenzen der Zeit hinausbewegt? War das Ganze eine Erfindung meiner zu lebhaften Fantasie? Aber wo kam dann die Eidechse her? Sie war keine Erfindung. 89
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Vielleicht war sie durch das Küchenfenster hereingekrochen. Aber hieße es nicht die Leichtgläubigkeit zu weit treiben, wenn man die Warze auf ihrer Nase ignorierte? Und woher kam der Spitzenvorhangfetzen, den Eliza mir zeigte? Sie hatte ihn auf dem Besenstiel gefunden und ge-
glaubt, ich hätte ihn in der Absicht darübergewickelt, die verkohlten und nach Pech stinkenden Borsten zu verbergen. Und ist es nicht merkwürdig, daß - bitte, könnten Sie das Licht ausmachen? Es ist ziemlich dunkel hier drinnen, finden Sie nicht auch?
Die krumme janet von Robert Louis Stevenson
Der hochwürdige Herr Murdoch Soulis war schon lange Jahre Pastor des Heidemoordorfes Balweary im Tale der Dule. Ein gesirenger, finster dreinblickender alter Mann, den die Gläubigen fürchteten, hauste er in seinen letzten Lebensjahren ohne Verwandte, Diener oder sonst welche menschliche Gesellschaft in dem kleinen, einsamen Pfarrhaus unter dem >Hängegebüsch<, wenngleich er Gesichtszüge von eiserner Unbewegtheit hatte, so war sein Blick doch wild, verstört und unsicher; und wenn er bei Ermahnungen unter vier Augen die Zukunft der Unbußfertigen schilderte, dann schienen seine Blicke durch die Stürme der Zeiten bis zu den Schrekken der Ewigkeit vorzudringen. Viele junge Leute, die er auf das heilige Abendmahl vorbereitete, wurden bei seinen Reden von entsetzlicher Furcht ergriffen. Jedes Jahr am Sonntag nach dem siebzehnten August hielt er eine Predigt über I. Petri, Kap. V, 8: »Der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe«, und regelmäßig übertraf er sich bei diesem Text
selbst, sowohl durch die schaurige Natur des Themas als auch durch sein schreckliches Gebaren auf der Kanzel. Die Kinder gerieten außer sich vor Angst, und die Alten sahen orakelhafter drein denn je und ergingen sich den ganzen Tag über in jenen Andeutungen, gegen die schon Hamlet angekämpft hatte. Das Pfarrhaus selbst stand am Ufer der Dule zwischen einigen dichten Bäumen; die eine Seite wurde vom >Gebüsch< verdeckt, nach der anderen blickte es auf unfreundliche, vermoorte Bergkuppen, die in den Himmel ragten. Schon bald nach Herrn Soulis' Amtsantritt wurde es von allen, die sich etwas auf ihre Umsicht einbildeten, in der Dämmerung gemieden; und die ehrsamen Hausväter schüttelten, wenn sie in der Dorfschenke zusammensaßen, die Köpfe bei dem Gedanken, spät abends an dieser nicht geheuren Gegend vorbeizumüssen. Ein Ort vor allem war es, um es genauer zu sagen, der ihnen besonderes Grauen einflößte. Das Pfarrhaus stand zwischen der Landstraße und
ROBERT LOUIS STEVENSON
der Dule, mit je einem Giebel nach den beiden Seiten; die Rückfront ging nach dem Kirchspiel Balweary hinaus, das fast eine halbe Meile entfernt lag, und vorne nahm ein öder, von einer Dornenhecke umgebener Garten den Raum zwischen Fluß und Straße ein. Das Haus hatte zwei Stockwerke mit je zwei großen Räumen. Es stand nicht unmittelbar am Garten, sondern an einem Gäßchen oder Durchgang, der einerseits in die Straße mündete und andererseits durch die hohen Weiden und Holunderstauden begrenzt wurde, welche den Fluß säumten. Und dieser Wegstreifen war es, der bei den Pfarrkindern von Balweary einen so schlechten Ruf genoß. Der Pastor ging ihn oft in der Dunkelheit, manchmal laut stöhnend, so inbrünstig waren seine stummen Gebete. Nur wenn er nicht daheim und die Pfarrhaustür verschlossen war, dann wagten es die mutigeren unter den Schulbuben, ihre Anschleichspiele an diesen berüchtigten Ort zu verlegen. Daß ein rechtgläubiger Mann Gottes mit tadelfreiem Charakter von einer solchen Atmosphäre des Grauens umgeben war, setzte die wenigen Fremden, welche der Zufall oder eine geschäftliche Angelegenheit in jenes unbekannte, abseits gelegene Gebiet führte, stets in Erstaunen und veranlaßte sie zu neugierigen Fragen. Aber selbst unter den Leuten der 92
Gemeinde ahnten viele nichts von den merkwüdigen Begebenheiten, die sich in Herrn Soulis' erstem Amtsjahr zugetragen hatten. Und von jenen, die genauer Bescheid wußten, waren einige von Natur aus zurückhaltend und andere scheu, wenn es um diesen besonderen Vorfall ging. Nur ab und zu erwärmte sich einer der älteren Leute über seinem dritten Becher und erzählt" mutig, warum der Pastor so sonderbar aussah und so einsam lebte. Vor fünfzig Jahren, als Herr Soulis nach Balweary kam, war er noch ein junger Mann - ein energischer Bursche, wie die Leute sagten - voller Buchwissen und ganz groß in der Auslegung der Heiligen Schrift, aber, wie das be; einem so jungen Mann nur natürlich war, ohne praktische Erfahrung in der Religion. Die jüngeren Leute waren sehr angetan von seinem klugen Mundwerk. Aber die älteren, besonnenen, ernsten Männer und Frauen fühlten sich gar zum Gebet veranlaßt; für den jungen Mann, von dem sie glaubten, er schwätze sich selbst etwas vor, und für die Gemeinde, die wahrscheinlich noch übel mit ihm fahren würde. Es war noch vor den Tagen der Gemäßigten - die Pest komme über sie; aber mit den bösen Dingen geht es wie mit den guten - beide kommen schön langsam, Schritt für Schritt. Und es gab sogar damals
DIE KRUMME JANET
schon Leute, die sagten, die Universitätsprofessoren wären ganz von Gott verlassen, und die jungen Burschen, die bei ihnen studierten, täten besser daran, sich wie ihre Vorfahren zur Zeit der Verfolgung ins Torfmoor zu setzen, die Bibel unter den Arm geklemmt und den Geist des Gebets im Herzen. Darüber jedenfalls, daß Herr Soulis zu lange auf der Universität gewesen war, bestand kein Zweifel. Er plackte und mühte sich um viele Dinge, nur nicht um das, was nottat. Einen Haufen Bücher brachte er mit - mehr als je zuvor in der ganzen Umgebung gesehen worden waren; und der Fuhrmann hatte seine liebe Not mit ihnen, denn um ein Haar wären sie alle miteinander im Teufelsmoor zwischen hier und Kilmackerlie ersoffen. Gewiß, es waren Bücher Gottes, zumindest nannte man sie so. Aber die ernsthaften Leute wollten nicht einsellen, daß man so viele brauchte, 'wenn doch die ganze Bibel in der Falte eines Plaids Platz hatte. Dann saß er auch noch den halben Tag und die halbe Nacht darüber - was doch kaum schicklich war - und schrieb einfach; und zuerst fürchteten sie, er würde seine Predigten ablesen, doch dann stellte sich heraus, daß er selbst ein Buch schrieb, und das gehörte sich nun ganz gewiß nicht für einen seines Alters und seiner geringen Erfahrung.
Nun, jedenfalls mußte man ihm ein altes, ehrbares Frauenzimmer suchen, das ihm die Pfarre in Ordnung hielt und das Essen kochte; und da empfahl man ihm eine alte Vettel - Janet M'Clour hieß sie - und unternahm tatsächlich nichts dagegen, als er sie anstellte. Zwar rieten ihm viele ab, denn für die anständigen Leute von Balweary war Janet mehr als verdächtig. Vor langer Zeit hatte ein Dragoner sie mit einem Bankert sitzenlassen. Sie war seit vielleicht dreißig Jahren nicht mehr bei der Beichte gewesen; und Kinder hatten gesehen, wie sie im Dunkel auf Key Loans vor sich hinmurmelte, und das war eine merkwürdige Zeit und ein merkwürdiger Ort für eine gottesfürchtige Frau. Immerhin hatte der Gutsherr persönlich Janet dem Pastor vorgeschlagen, und damals wäre auch einem Pastor kein Weg zu weit gewesen, um der Herrschaft zu schmeicheln. Sagten ihm die Leute, daß Janet mit dem Teufel im Bunde stünde, dann war das seiner Meinung nach nichts als Aberglaube, und hielt man ihm die Bibel vor und die Hexe von Endor, so hämmerte er ihnen ein, daß diese Tage vorbei wären und der Teufel durch Gottes Barmherzigkeit in Ketten läge. Nun, all, es sich in der Gemeinde herumsprach, daß Janet M'Clour als Dienstmagd ins Pfarrhaus kommen sollte, da waren die Leute über 95
ROBERT LOUIS STEVENSON
sie und ihn ziemlich wütend; und einige Weiber hatten nichts Besseres zu tun, als zu ihr hinzurennen und ihr alles vorzuhalten, was man von ihr wußte, von dem Soldatenbankert bis zu den beiden Kühen von John Tamson. Janet sprach für gewöhnlich nicht viel, und die Leute ließen sie ihre eigenen Wege gehen, ohne sie zu grüßen. Aber wenn sie einmal loslegte, dann konnte sie mit ihrem Mundwerk den Müller taub machen. Nun, diesmal ging sie hoch, und es gab keinen Klatsch in Balweary, den sie nicht aufwärmte und jedem unter die Nase rieb. Sagte jemand ein Wort, wußte sie gleich zwei darauf; bis zu guter Letzt die Weiber auf sie losgingen und ihr die Kleider vom Leibe rissen und sie durch das Dorf zur Dule schleppten, um zu sehen, ob sie eine Hexe wäre oder nicht, ob sie schwimmen konnte oder ertrinken würde. Das Weibsstück kreischte so laut, daß man sie bis ans >Hängegebüsch< hören konnte, und sie kämpfte für zehn. Mehr als eines der Weiber trug die Spuren ihrer Krallen noch Tage danach. Und gerade, als es am wildesten herging, wer mußte doch (um seiner Sünden willen) vorbeikommen, wenn nicht der neue Pastor! »Weiber«, sagte er (und er hatte eine laute Stimme), »ich befehle euch im Namen des Herrn, sie loszulassen.« 94
Janet rannte zu ihm hin - sie war halb verrückt vor Angst -, klammerte sich an ihn und bat ihn um Christi willen, sie vor den Klatschweibern zu schützen, und die wiederum erzählten ihm alles, was man von ihr wußte, und vielleicht noch etwas mehr. »Weib«, sagte er zu Janet, »ist das wahr?« »Kein Wort davon stimmt«, erwiderte sie, »so wahr ich vor Gott stehe und so wahr mich Gott erschaffen hat. Bis auf das Kind«, sagte sie, »war ich meiner Lebtag ein ehrsames Weib.« »Willst du«, sagte Herr Soulis, »im Namen Gottes hier vor mir. Seinem unwürdigen Diener, dem Teufel und seinen Werken abschwören?« Nun, es schien, als er das verlangte, grinste sie so, daß alle, die es sahen, erschraken, und man konnte hören, daß ihr die Zähne im Munde klapperten; aber es gab nur den einen oder den anderen Weg, und so hob Janet die Hand und schwor vor allen dem Teufel ab. »Und jetzt«, sagte Herr Soulis zu den Weibern, »macht, daß ihr heimkommt, alle miteinander, und bittet Gott um Verzeihung.« Und er reichte Janet den Arm, obschon sie wenig mehr als ein Hemd anhatte, und führte sie durch das Dorf bis zu ihrer Haustür wie eine richtige Dame, und dabei kreischte
DIE KRUMME JANET
und lachte sie, daß es ein Skandal war. In dieser Nacht versanken viele nachdenkliche Leute lange im Gebet, doch als der Morgen kam, war ganz Balweary von einer solchen Furcht befallen, daß sich die Kinder versteckten und sogar die Mannsleute nur verstohlen hinter den Türen hervorsahen. Denn Janet kam durch das Dorf - sie oder nur ihr Abbild, das konnte keiner sagen -, und ihr Hals war verrenkt, so daß ihr Kopf nach einer Seite hing wie bei einem Gehenkten, und ein Grinsen stand auf ihrem Gesicht wie bei einer Leiche, die noch nicht fürs Grab zurechtgemacht worden war. Nach und nach gewöhnten sie sich daran und starrten sie sogar an, um zu sehen, was eigentlich mit ihr los war. Aber von dem Tag an konnte sie nicht mehr wie ein Christenmensch sprechen, sondern sabberte und klickte mit den Zähnen, als wären sie eine Schere; und von jenem Tag an kam der Name Gottes nie wieder über ihre Lippen. Hin und wieder versuchte sie es, aber es wollte nicht gelingen. Diejenigen, die am meisten wußten, sagten am wenigsten. Aber sie nannten das Ding nie Janet M'Clour, denn ihrer Meinung nach war die alte Janet inzwischen in der tiefsten Hölle. Dem Pastor jedoch war nicht zu raten, noch zu helfen. Er predigte über nichts anderes als die Grausamkeit
der Leute, die daran schuld wäre, daß Janet einen Schlag abbekommen hätte. Er schalt die Kinder, die sie ärgerten, und noch am selben Abend holte er Janet ins Pfarrhaus und lebte dort ganz allein mit ihr unter dem >Hängegebüsch<. Nun, die Zeit verging, und die Müßigen dachten allmählich leichter über diese finstere Angelegenheit. Der Pastor war beliebt. Abends saß er immer noch bis spät über seinen Schriften, und sogar nach Mitternacht sahen die Leute unten am Ufer der Dune seine Kerze brennen. Und er schien zufrieden mit sich und genauso dünkelhaft wie immer, doch jedermann konnte sehen, daß er dahinsiechte. Was Janet betraf, die kam und ging; und hatte sie schon früher nicht viel geredet, jetzt hatte sie allen Grund, noch weniger zu reden. Sie ließ sich mit niemandem ein. Aber sie war gruselig anzusehen, und keiner hätte ihr im Finstern begegnen mögen, nicht einmal, wenn man ihm den Pfarracker von Balweary geschenkt hätte. Gegen Ende Juli kam eine Hitzewelle, wie man sie hierzulande noch nie erlebt hatte. Es war windstill und drückend warm. Die Herden gingen nicht den Schwarzen Berg hinauf. Die Kinder waren zu müde zum Spielen. Und dann war es plötzlich wieder windig, heiße Böen jagten durch die Täler, und dazu kamen 95
ROBERT LOUIS STEVENSON
kurze Schauer, die keine Erleichterung brachten. Wir dachten schon, am nächsten Morgen würde es ein Gewitter geben; aber der Morgen kam, und dann der nächste, und immer noch war dasselbe unheimliche Wetter, da«, Mensch und Tier niederdrückte. Von allen, die darunter litten, traf es keinen so schwer wie Herrn Soulis. Er konnte weder schlafen noch essen, so ,erzählte er dem Kirchenrat. Und wenn er nicht an seinem anstrengenden Buch schrieb, wanderte er durch die Gegend wie einer, der vom Teufel besessen war, während jeder vernünftige Mensch im Hause blieb. Über dem >Hängegebüsch< im Schütze des Schwarzen Berges befindet sich ein Stück eingefriedetes Land mit einem Eisentor, und es scheint, daß dort in den alten Tagen der Friedhof von Balweary lag, den die Papisten geweiht hatten, ehe das Licht der Gnade über unserem Königreiche schien. Das hier war nun der Lieblingsort von Herrn Soulis, und er saß oft dort und überdachte seine Predigten, und es war in der Tat ein friedliches Plätzchen. Nun, als er eines Tages über die öde Kuppe des Schwarzen Berges kam, sah er erst zwei, dann vier, dann sieben Raben immer rund um den Friedhof fliegen. Sie flogen tief und schwerfallig und krächzten einander im Fluge zu, und es war Herrn Soulis 96
klar, daß etwas Ungewöhnliches sie aufgescheucht hatte. Angst bekam er nicht so leicht, und so ging er direkt auf die Mauer zu. Und was fand er dort? Einen Menschen oder zumindest das Abbild eines Menschen, der da drinnen auf einem Grab hockte. Er war groß und schwarz wie die Hölle, und seine Augen waren sonderbar anzusehen. Herr Soulis hatte schon oft genug von schwarzen Männern erzählen gehört, aber der hier hatte etwas so Furchtbares an sich, daß ihn das Grauen packte. So heiß ihm war, jetzt fuhr ihm ein kaltes Schaudern bis ins Mark; aber dennoch sprach er den Schwarzen an und sagte: »Mein Freund, bist du hier fremd?« Der schwarze Mann erwiderte kein Wort. Er stand auf und schlurfte hastig auf die andere Mauer zu. Doch dabei sah er sich in einem fort nach dem Pastor um, und der Pastor starrte ihm nach, bis der schwarze Mann einen Augenblick später über die Mauer wegsprang und in den Schutz der Bäume lief. Herr Soulis rannte hinter ihm her, weshalb, das wußte er kaum. Doch er war schon ganz erschöpft von dem Spaziergang und dem heißen, ungesunden Wetter; und so schnell er auch rennen mochte, er konnte den schwarzen Mann nur einen Moment lang zwischen den Birken sehen, bis er am Fuß des Berges angelangt war, und da erblickte er ihn noch einmal,
DIE KRUMME JANET
wie er hüpfend und springend über '. die Dule zum Pfarrhaus hinüberl'giHg|Herrn Soulis gefiel es ganz und gar ^'.nicht, daß dieser furchterregende Kerl so tat, als fühlte er sich im Pfarrhaus von Balweary zu Hause. Und er rannte noch schneller und mit nassen Schuhen durch den Bach und den Weg hinauf, aber, Deibel, da war kein schwarzer Mann zu sehen. Er trat auf die Straße hinaus, aber da war keiner. Er sah sich im ganzen Garten um, aber nein, nirgends ein schwarzer Mann. Schließlich drückte er die Klinke herunter, lein wenig ängstlich, was nur natürlich war, und ging ins Pfarrhaus. Und da stand Janet M'Clour mit ihrem schiefen Hals vor ihm und war nicht gerade erfreut, ihn zu sehen. Und ihm fiel später immer ein, daß er, als er sie jetzt ansah, das gleiche kalte, tödliche Grauen spürte. »Janet«, sagte er, »hast du einen schwarzen Mann gesehen?« »Einen schwarzen Mann?« fragte sie. »Gott behüte uns! Sie .sind wohl nicht gescheit, Herr Pastor. In ganz Balweary gibt es keinen schwarzen Mann.« Aber ihr müßt verstehen, das sprach sie nicht deutlich, sondern knautschte es hervor wie ein Pferd mit dem Zaumzeug im Maul. »Nun, Janet«, sagte er, »wenn hier
kein schwarzer Mann war, dann habe ich den Bösen selbst gesehen.« Und er setzte sich wie einer im Fieber, und die Zähne klapperten in seinem Mund. »Pfui!« sagte sie. »Sie sollten sich was schämen, Herr Pastor«, und gab ihm einen Schluck von dem Brandy, den sie immer bei sich hatte. Darauf ging Herr Soulis in sein Studierzimmer zu seinen vielen Büchern. Es war eine lange, niedrige, finstere Stube, zum Sterben kalt im Winter und nicht einmal im Hochsommer sonderlich trocken, denn das Pfarrhaus stand dicht am Wasser. So setzte er sich, und er dachte an alles, was sich ereignet hatte, seit er in Balweary war, und an seine Heimat und die Tage seiner Kindheit, als er barfüßig über die Hänge gelaufen war. Und der schwarze Mann ging ihm immer im Kopf umher wie der Kehrreim eines Liedes. Und je mehr er dachte, desto mehr dachte er an den schwarzen Mann. Er Versuchte zu beten, doch es kamen ihm nicht die rechten Worte; und, so erzählt man sich, er versuchte an seinem Buch zu schreiben, aber auch das wollte ihm nicht gelingen. Zuweilen dachte er, der schwarze Mann stünde an seiner Seite, und er war von Schweiß bedeckt, kalt wie Brunnenwasser. Dann kam er wieder wie ein Christenmensch zur Besinnung und machte sich aus alledem nichts. 97
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Am Ende ging er ans Fenster und starrte hinunter in das Wasser der Dule. Die Bäume stehen dort unheimlich dicht, und das Wasser unter dem Pfarrhaus ist tief und schwarz. Und da stand Janet mit hochgeschürzten Röcken und wusch die Wäsche. Sie drehte dem Pastor den Rücken zu, und er merkte kaum, was er da anschaute. Dann drehte sie sich um und zeigte ihr Gesicht. Herr Soulis wurde von dem gleichen kalten Schaudern erfaßt wie schon zweimal an diesem Tage, und ihm fiel das Gerde der Leute ein, daß Janet schon längst tot sei und ein Gespenst in ihrem kalten Leib umginge. Er zog sich ein wenig zurück und beobachtete sie mit scharfen Au' gen. Sie stampfte auf der Wäsche herum und summte vor sich hin und - Gott verzeih uns, aber es war ein schreckliches Gesicht. Manchmal sang sie lauter, aber kein Mensch, der aus einem Weibe geboren war, konnte die Worte ihres Liedes verstehen. Manchmal sah sie auch schräg nach unten hin, doch da gab es nichts für sie zu sehen. Da ging dem Pastor ein Gruseln durch den Leib bis auf die Knochen; und das war eine Warnung des Himmels. Aber Herr Soulis schalt sich selbst, wie er später sagte, weil er so schlecht von einem armen kranken alten Weib dachte, das nur ihn zum Freunde hatte. Und er sprach ein kurzes Gebet für sich und sie 98
und trank ein wenig kaltes Wasser - denn essen mochte er nicht - und ging in der Dämmerung in sein kühles Bett. Diese Nacht wird Balweary nie vergessen, die Nacht des siebzehnten August siebzehnhundertzwölf. Es war zuvor heiß gewesen, wie ich schon erzählte, aber in dieser Nacht war es heißer denn je. Die Sonne ging zwischen drohend aussehenden Wolken nieder. Es wurde kohlschwarz; kein Stern, kein Windhauch. Man konnte die Hand vor den Augen nicht sehen, und selbst die alten Leute warfen die Decken vom Bett und rangen nach Luft. Bei all den Dingen, die ihm im Kopf herumgingen, war es höchst unwahrscheinlich, daß Herr Soulis viel zum Schlafen kommen würde. Er lag da und wälzte sich herum, und das gute, kühle Bett, in das er gekrochen war, erhitzte ihn bis auf die Knochen. Mal schlief er und mal wachte er; mal hörte er die Uhr schlagen, und mal jaulte ein Köter im Moor, als ob jemand gestorben wäre. Mal dachte er, Gespenster flüsterten ihm was ins Ohr, und mal sah er Irrlichter im Zimmer. Er kam zu dem Schluß, daß er krank sein müßte, und krank war er, wenn er auch nicht wußte, was ihm fehlte. Schließlich ging ihm ein Licht auf, er setzte sich im Hemd an den Bettrand und dachte noch einmal über den schwarzen Mann und Janet nach.
DIE KRUMME JAN ET
Er wußte nicht, wie er auf die Idee 'kam - vielleicht, weil er kalte Füße hatte -, aber es dämmerte ihm mit einem Male, daß zwischen den beiden eine Beziehung bestand und daß eines von ihnen — oder auch beide — ein Gespenst war. Und just in diesem Moment hörte man aus Janets Zimmer, das neben seinem lag, ein Füßegetrampel, als ob Männer rauften, und danach einen lauten Krach. Und dann jagte ein Wind um alle vier Ecken des Hauses; und zuletzt war alles wieder still wie in einem Grab. Herr Soulis fürchtete sich weder vor Menschen noch vor dem Teufel. Er suchte seine Zünderschachtel und brannte eine Kerze an, und in drei Schritten war er an Janets Tür. Sie war nicht verschlossen, und so stieß er sie auf und sah mutig hinein. Es war ein großes Zimmer, so groß wie das des Pastors, und es war mit schweren, gediegenen alten Möbeln eingerichtet, denn er hatte keine anderen. Da war ein Himmelbett mit alten Vorhängen und ein herrlicher Eichenschrank, vollgestopft mit den Gottesbüchern des Pastors, die man hierher gebracht hatte, damit sie aus dem Wege waren. Ein paar alte Lumpen von Janet lagen hier und da auf dem Boden verstreut, aber von Janet war nichts zu sehen, ebensowenig wie von den Spuren eines Kampfes. Er ging hinein (und es gibt kaum einen, der ihm dahin gefolgt
wäre), sah sich um und horchte. Doch es gab nichts zu hören, weder im Pfarrhaus noch in der ganzen Gemeinde Balweary, und nichts war zu sehen außer den langen Schatten, die sich um die Kerze drehten. Und dann klopfte dem Pastor das Herz mit einemmal ganz wild und blieb stehen, und ein kalter Wind blies ihm durch das Haar. Was für ein schlimmer Anblick war das für den armen Mann! Denn Janet hing an einem Nagel neben dem alten Eichenschrank. Der Kopf lag wie immer auf der Schulter, die Augen waren starr, die Zunge hing ihr aus dem Mund, und ihre Fersen waren glatt zwei Fuß über dem Boden. »Gott sei uns allen gnädig!« dachte Herr Soulis. »Die arme Janet ist tot.« Er trat einen Schritt näher an die Leiche heran; und dann schlug ihm das Herz wie wild gegen die Rippen. Sie hing - durch welche Zauberei, steht einem Menschen schlecht zu urteilen an - an einem einzigen Nagel und an einem einzigen Wollfaden, wie man ihn zum Strümpfestopfen benutzt. Es ist abscheulich, wenn man nachts mit solchen Ausgeburten der Finsternis allein sein muß, aber Herr Soulis war stark im Herrn. Er drehte sich um, verließ das Zimmer und verschloß die Tür hinter sich. Stufe um Stufe ging er die Treppe hinun99
ROBERT LOUIS STEVENSON
ter, mit bleischweren Gliedern, und er stellte die Kerze auf den Tisch am Fußende der Treppe. Er konnte nicht beten und nicht denken, er triefte von kaltem Schweiß, und er hörte nichts als das Poch-poch-poch seines eigenen Herzens. Vielleicht stand er eine Stunde so da, vielleicht auch zwei, er achtete nicht darauf, als er plötzlich im oberen Stockwerk eine leise, unheimliche Bewegung hörte. Füße gingen in der Kammer, in der die Leiche hing, hin und her. Dann wurde die Tür geöffnet, obwohl er genau wußte, daß er sie verschlossen hatte. Und dann hörte man einen Schritt auf dem Treppenabsatz, und ihm schien es, als schaute die Leiche über das Geländer zu ihm hinunter. Er nahm wieder die Kerze (denn das Licht wollte er nicht entbehren), und so leise er nur konnte, ging er geradewegs aus dem Pfarrhaus bis zum Ende des Gäßchens. Es war immer noch stockdunkel. Die Kerzenflamme brannte ruhig und hell wie in einem Zimmer, als er sie auf den Boden stellte. Nichts regte sich, nur die Dule gluckste und sabbelte durch das Tal, und jene unheimlichen Schritte kamen im Pfarrhaus die Treppe hinuntergetappt. Er kannte sie nur zu gut: Es waren Janets Füße, und mit jedem Stückchen, das sie näher kam, kroch ihm die Kälte tiefer in die Eingeweide. Er empfahl seine Seele dem Herrn, der ihn er100
schaffen und erhalten hatte. »Und, o Gott«, sagte er, »gib mir in dieser Nacht die Kraft, gegen die Mächte des Bösen anzukämpfen.« Inzwischen kamen die Schritte durch den Hausgang auf die Tür zu. Er konnte eine Hand die Wand entlang tappen hören, so als müßte sich das scheußliche Wesen den Weg ertasten. Die Weiden rüttelten gegeneinander und stöhnten, ein langgezogener Seufzer kam über die Berge. Die Flamme der Kerze wurde hin und her geworfen. Und da stand der Leichnam der toten Janet, in dem grobgewebten Kleid und der schwarzen Haube, den Kopf wie immer auf der Schulter, und das Grinsen im Gesicht - lebend, hättet ihr gesagt; tot, wie Herr Soulis genau wußte - auf der Schwelle des Pfarrhauses. Es ist sonderbar, daß die Seele des Menschen an einen so vergänglichen Leib gefesselt ist; der Pastor aber sah dies, und es brach ihm nicht das Herz. Sie blieb nicht lange dort stehen. Sie bewegte sich weiter und kam langsam auf die Stelle zu, wo Herr Soulis unter den Weiden stand. Das ganze Leben in seinem Körper, die ganze Stärke seines Geistes glänzten in seinen Augen. Es schien, als wolle sie sprechen, fände aber keine Worte, und sie machte ein Zeichen mit der linken Hand. Es kam ein Windstoß
DIE KRUMME JANET
wie das Fauchen einer Katze. Die Kerze ging aus, die Weiden kreischten wie Menschen; und Herr Soulis wußte, jetzt ging es um Leben oder Tod. »Hexe, Gevatterin, Teufelin!« schrie er. »Ich befehle dir bei der Macht Gottes, hebe dich hinweg - wenn du tot bist, ins Grab - wenn du verdammt bist, in die Hölle.« Und in diesem Augenblick schlug Gottes Hand aus dem Himmel herab das Ungeheuer auf der Stelle. Der alte tote, entweihte Leichnam des Hexenweibes, der so lange nicht im Grab ruhen konnte und von den Teufeln umhergetrieben wurde, lohte auf wie Zunder und sank in Asche auf dem Boden zusammen. Schlag auf Schlag folgten der Donner und
der klatschende Regen. Und Herr Soulis sprang über die Hecke des Gartens und rannte auf das Dorf zu, wobei er einen wilden Schrei nach dem anderen ausstieß. Am gleichen Morgen sah John Christie den Schwarzen Mann am großen Heidegrab vorbeigehen, als es sechs schlug. Vor acht zog er an der Pferdestation von Knockdow vorbei, und kurze Zeit später sah ihn Sandy M'Lellan rasch den Hang von Kilmackerlie hinunterhüpfen. Es gibt kaum einen Zweifel daran, daß er es war, der so lange in Janets Körper wohnte; aber nun war er endlich fort, und seitdem hat der Teufel uns in Balweary nie mehr heimgesucht.
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Hexenhammer von Ernst Vicek
Um das befangene Schweigen zu brechen, das sich nach dem ersten Lebensschrei des Neugeborenen eingestellt hatte, sagte ich lächelnd: »Es ist ein Prachtjunge. Sieben Pfund schwer und kerngesund.« Aber weder Dr. Lauriel, der das Baby immer noch in seinen Armen hielt, noch der Vater, der mit seinen sieben Söhnen das Bett der frischgebackenen Mutter umstand, reagierten. Nur in den Altbauer, der sich bisher abwartend im Hintergrund gehalten hatte, kam Leben. »Das Hexenmal!« kreischte er und wies mit seinem gichtigen Zeigefinger auf ein großes Muttermal an den Lenden des Babys. Der Kindesvater und seine sieben Söhne bekreuzigten sich, die Mutter stöhnte qualvoll auf. Ich hatte eine scharfe Zurechtweisung für den Alten auf den Lippen, aber Dr. Lauriel gebot mir mit einer Handbewegung Schweigen. »Warten Sie im Wagen auf mich«, bat er. Ich bedachte den Ausgedinger noch mit einem letzten wütenden Blick,
dann stürmte ich grußlos ins Freie und setzte mich in Dr. Lauriels altem Lieferwagen auf den Fahrersitz. Ich mußte zehn Minuten warten, bis der betagte Landarzt herauskam, dessen Stelle ich in Kürze übernehmen sollte. Er nahm umständlich im Beifahrersitz Platz, ich startete und legte den Gang ein. »Wohin?« »Nach Hause«, sagte er. »Es ist schon spät, machen wir morgen weiter.« Während der Heimfahrt sprachen wir kein Wort. Das war mir recht, denn es erforderte einige Konzentration, den vielen Schlaglöchern des holprigen Feldweges auszuweichen. Außerdem wollte ich Ruhe haben, um Ordnung in meine Gedanken bringen zu können. Als wir eine Viertelstunde später Dr. Lauriels Haus am Fuße des Strigenberges, etwas außerhalb des Dorfes, erreichten, war mir noch immer nicht wohler. Deshalb sagte ich ihm, er solle schon alleine das Abendbrot zu sich nehmen, ich wolle noch ein wenig durch die Gegend streifen. 105
ERNST VLCEK
Er hielt mich am Jackenärmel zurück und sah mir ernst in die Augen, als er sagte: »Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, daß die Leute hier schrullig und aberläubisch sind, Herbert. Und trotzdem sind Sie schokkiert?« Ich zögerte, dann entschied ich mich zu einer ausweichenden Antwort. »Nicht schockiert, nur etwas durcheinander, Ihre Warnung hat mich nicht genügend vorbereitet. Ich wußte bis jetzt nicht, wie abergläubisch die Leute hier sind.« Dr. Lauriel stemmte sich auf seinen Gehstock, kräuselte die Lippen und nickte wissend. »Tja«, seufzte er dann, »es war wahrscheinlich mein Fehler, ich hätte Sie besser vorbereiten sollen. Aber wissen Sie, wenn man schon so lange hier ist und Land und Leute kennengelernt hat, dann sieht man alles mit anderen Augen. Wenn ein Bauer mich von seinem Hof jagt, weil er statt eines Arztes einen Hexenaustreiber zu konsultieren wünscht, dann nehme ich das nicht mehr tragisch. Das passiert einem hier eben mal hin und wieder.« Er spielte damit auf ein Ereignis vom Vormittag an, als wir zu einem Gehöft hinausgefahren waren, weil die Bäuerin angeblich mit Fieber zu Bett lag. Aber der Bauer hatte uns gar nicht erst bis zu ihr vorgelassen. Dr. Lauriel sprach weiter. 104
»Striga und Umgebung sind von der Zivilisation abgeschlossen. Das war schon immer so, und es wird wahrscheinlich noch eine Weile dauern, bis sich das ändert; und bis dahin werden sich alle, die hier ansässig werden wollen, an die hiesigen Gebräuche gewöhnen müssen.« »Ich werde mich nicht diesen mittelalterlichen Anschauungen unterwerfen, eher gehe ich in die Stadt zurück«, sagte ich heftig. »Das werden Sie dann wohl tun müssen, Herbert«, entgegnete er bedächtig. »Aber ehe Sie einen Entschluß fassen, sollten Sie einiges bedenken, das für die Bevölkerung spricht. Die Abgeschiedenheit Strigas und die Wirren nach den beiden Kriegen haben es diesen einfachen Leuten nicht gestattet, sich der rasch fortschreitenden Entwicklung anzupassen. Dazu kommt noch, daß dieses Land von einem Fluch befallen zu sein scheint. Tiere und Menschen werden häufiger als anderswo von Krankheiten heimgesucht, der Boden ist unfruchtbar - und wenn dann einmal die karge Ernte vor der Tür steht, kommen Gewitter und vernichten das Korn.« »Die Bauern sollten sich dann aber mehr mit ihren Feldern als mit Nachtspuk, Teufelskult und Zauberei beschäftigen«, hielt ich entgegen. •Er schüttelte den Kopf. »Das ist kein Gegenargument. Der Mentalität die-
HEXENHAMMER
ser Menschen entspricht es mehr, Krankheiten und Mißernten den Hexen und anderen bösen Mächten zuzuschreiben. Und wenn man lange genug in Striga war und selbst einige seltsame Dinge geschehen sah, die sich mit Vernunft und Logik nicht erklären lassen, dann ist man geneigt . . .« »Was ist dann?« sagte ich spöttisch. »Sprechen Sie ruhig aus, daß Sie ebenfalls von dem Hexenwahn angesteckt sind. Ich habe es schon bemerkt, als Sie bei den Jochgrabens das Neugeborene mit dem >Hexenmal< in Händen gehalten haben. Sie schickten mich hinaus, damit ich Ihre Anordnungen nicht hören konnte. War es nicht so? Was verschreiben Sie denn Ihren Patienten bei anderen Gelegenheiten? Knoblauch und Kruzifixe gegen Dämonen an Stelle von Medikamenten?« Er atmete schwer, seine wässerigen Augen blickten mich traurig und enttäuscht an. Plötzlich hatte ich Mitleid mit ihm und bereute meine heftigen Vorwürfe. Ich hatte ganz einfach nicht das Recht, so mit ihm zu sprechen. Dr. Lauriel war sehr hilfreich und zuvorkommend. Er hatte mich gestern, bei meiner Ankunft in Berghofen, mit dem Auto vom Bahnhof abgeholt, mich in seinem Haus aufgenommen und sogar angeboten, mir seine Praxis zu fairen Bedingungen zu überlassen. Heute hatte er den
ganzen Tag dafür geopfert, mich bei seinen Patienten einzuführen. Er hatte sich diese Behandlung nicht verdient. »Entschuldigen Sie, Dr. Lauriel, ich habe mich gehen lassen . ..« »Ich nehme es Ihnen nicht übel«, meinte er; aber ich mußte ihn doch sehr getroffen haben, das merkte ich ihm an. »Ihre Jugend verbietet es Ihnen, an das Übernatürliche auch nur zu denken. Streifen Sie ruhig etwas durch die Gegend, das kühlt den Kopf.« Er kam mir älter und gebeugter vor als bei unserer ersten Begegnung, wie er da auf sein Haus zuging. Schon während meines Studiums stand es für mich fest, daß ich später einmal aufs Land gehen würde. Als ich dann meinen Doktor der Medizin gemacht hatte, änderte ich meinen Entschluß nicht. Ich stellte es mir als deprimierend vor, in irgendeiner Ordination zu hocken und Patienten wie am Fließband abzufertigen oder in einem Krankenhaus Leute zu behandeln, zu denen ich nie eine innere Beziehung bekommen würde, weil sie kamen und gingen, genasen oder starben. Deshalb griff ich zu, als ich von der freiwerdenden Stelle in Striga erfuhr. Mir war von Anfang an klar, daß mein Verdienst nur den Bruchteil dessen ausmachen würde, was ich in der Stadt bekommen hätte. Auch 105
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vor den anderen Unannehmlichkeiten, mit denen ich zu rechnen haben würde, verschloß ich mich nicht. Die Leute auf dem Lande sind Neuerungen gegenüber mißtrauischer als Stadtmenschen, und wenn sie sich erst einmal an das Gesicht und die Methoden eines Arztes gewöhnt haben, war eine Umstellung nicht leicht für sie. Ein junger Arzt würde es besonders schwer haben, ihr Vertrauen zu gewinnen. Mit all dem hatte ich gerechnet, mich darauf vorbereitet und war schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß ich damit fertig werden würde. Aber zu diesen Schwierigkeiten kam nun noch etwas anderes dazu - die Leute von Striga und Umgebung waren von einem finsteren Aberglauben besessen. Das hatte ich bereits erkannt, obwohl ich erst vierundzwanzig Stunden hier war. Vielleicht würde ich mich, wie Dr. Lauriel, im Laufe der Jahre damit abfinden. Vielleicht könnte ich dagegen sogar erfolgreich ankämpfen. Aber - wollte ich das überhaupt? Wäre es nicht besser, gleich morgen abzureisen? Jedenfalls mußte ich meine Entscheidung schnell treffen, noch bevor ich in Striga zu fest Fuß gefaßt hatte. Ich wog die Möglichkeiten gegeneinander ab, während ich in der Dämmerung den schmalen Waldpfad entlangschlenderte. In die eine Waagio6
schale legte ich die Stadt, das eintönige Krankenhauspraktikum und das Warten auf eine neue Chance, in die andere die angestrebte Unabhängigkeit, den zuvorkommenden Dr. Lauriel, aber auch den Aberglauben der zukünftigen Patienten. Ich hatte noch immer keine Entscheidung getroffen, als ich an den kleinen ruhigen Waldsee kam. Eine lange Weile stand ich da und starrte auf die spiegelglatte Wasserfläche hinab. An meine Probleme dachte ich in diesem Augenblick nicht, sondern kostete das Bild geheiligter Einsamkeit vollkommen aus und hielt mit der Welt den Atem an. Eine Bewegung an der Stelle, wo die Büsche bis fast an den See heranreichten, riß mich aus meiner Betrachtung. Ein Tier, ein Reh, das hier seine Tränke hatte? Nein, es war ein Mensch, eine Frau in einem Bauernkittel, der ihr bis zu den Knöcheln hinunterreichte. Der Zauber des Augenblicks war für mich dahin, ich wollte mich wieder abwenden und den Rückweg antreten, weil mir nichts ferner lag, als einem Mädchen beim Baden zuzusehen. Aber dann war etwas an ihrem Gebaren, das mich unschlüssig innehalten ließ. Sie setzte sich auf den mit einem Nadelteppich belegten Boden und holte etwas aus ihrer Schürze. Mich fröstelte unwillkürlich, und das rief mir ins Bewußtsein, daß es für ein
HEXENHAMMER
Bad eigentlich viel zu kalt war. Was Sie hatte das Ufer erreicht, als ich tat dieses Mädchen oder diese Frau noch zwanzig Schritte von ihr entdann also hier? Wollte sie nur ein fernt war, stieß sich mit den Füßen wenig nachdenken oder mit offenen ab und verschwand, ohne einen Laut von sich gegeben zu haben, im WasAugen träumen wie ich eben? ser. Aber dagegen sprach ihr ganzes Verhalten. Sie wirkte irgendwie ange- Kurz darauf war ich an Ort und spannt, ihr Oberkörper war steif, Stelle, und während ich meine Schuhe mit den Händen machte sie schein- abstreifte, erschien der Mädchenkör|Bar sinnlose Bewegungen, die aber per wieder an der Oberßäche. Zudoch Zweckmäßigkeit erkennen lie- erst tauchte der gekrümmte Rücken ßen. Jetzt zögerte sie ein wenig, wo- auf, dann schnellte der Kopf heraus, |fcei sie ihre linke Hand bei den Fü- und ich sah ein jugendliches Gesicht, ßen beließ, legte ihre Rechte dazu umrahmt von tropfnassem dunklen und krümmte ihren Körper durch, Haar. Der Mädchenkörper trieb leicht wie eine Feder auf dem Wasser. bis ihr Kopf ganz weit vorne war und sie mit dem Gesicht Hände und Sie geht nicht unter, dachte ich noch, dann sprang ich kopfüber in den See. Füße berühren konnte. Ich wurde aus ihrem Verhalten im- Mit einigen schnellen Zügen erreichte ich die Lebensmüde, die sich vollmer noch nicht klug. Jetzt richtete sie ihren Oberkörper kommen ruhig verhielt, faßte sie um auf, zog die Hände aber von den die Brust und schwamm mit ihr zurück zum Ufer. Füßen nicht zurück. Es hatte den Wieder an Land, löste ich zuerst ihre Anschein, als umklammere sie den Fesseln und ließ sie dann in meine rechten Fuß mit der linken Hand und Jacke schlüpfen. Während ich selbst den linken Fuß mit der rechten Hand vor Kälte am ganzen Körper zit- in dieser Stellung rutschte sie die terte, saß sie ruhig da, die Beine an Böschung hinunter zum See. den Körper gepreßt, die Knie fest Und mit einemmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Sie hatte umschlungen. sich selbst gefesselt und wollte sich »Das wäre beinahe schiefgegangen«, sagte ich zähneklappernd und das Leben nehmen! Ich setzte mich augenblicklich in Be- schwang mir zur Erwärmung die wegung und entledigte mich noch im Arme um den Körper. Sie blickte zu mir auf, und ein Laufen meiner Jacke. »Halt! Halt! Nicht!« schrie ich, aber leicht spöttisches Lächeln lag um ihre Lippen, als sie sagte: »Sie brauchen es war schon zu spät. 107
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sich gar nicht so als Lebensretter aur- ohne sich umzudrehen, und deutete zuspielen. Ich wäre auch ohne Sie mit ihrem Arm in Richtung Strigennicht abgesoffen. Sie haben ja ge- berg. sehen, daß ich obenauf geblieben Ich sah ihr eine Weile nach, beobbin.« achtete ihren burschikosen unbekümNach der Kälte des Wassers war ihre 'merten Gang, und wurde mir erst Stimme und Ausdrucksweise der zwei- darüber klar, daß ich diese Bekanntte Schock für mich. Sie war hübsch, schaft vertiefen wollte, als sie zwiunleugbar eines der schönsten Mäd- schen den Bäumen zu entschwinden chen, dem ich je begegnet war, aber drohte. irgend etwas war in ihren Augen, Ich rannte ihr nach. das nicht zu ihrem Aussehen passen »Haben Sie denn keine Angst, alwollte — ihr Blick war debil und leine durch den Wald zu gehen?« stumpfsinnig, aber auch noch etwas erkundigte ich mich, nachdem ich sie anderes lag darin, über das ich mir erreicht hatte. nicht klar werden konnte. Sie schien vorgehabt zu haben, mich Ein seltsames Wesen; offensichtlich zu ignorieren, denn sie tat, als sei ich ein wenig beschränkt, aber dennoch Luft, während sie den steiler werfaszinierend.' . denden Pfad hinanstieg. Aber meine Sie können hier nicht sitzen bleiben, Frage dürfte sie umgestimmt haben. sonst holen Sie sich doch noch den Amüsiert sagte sie: »Ich fürchte Tod, dem Sie so knapp entgangen nichts, man fürchtet sich vor mir. sind«, sagte ich und reichte ihr die Haben Sie denn keine Angst?« Hand, um ihr aufzuhelfen. »Kommen »Eigentlich nicht«, lachte ich. Sie, ich bringe Sie nach Hause.« »Dann sind Sie ganz schön dumm.« Meinen hilfreichen Arm ignorierend, Das war eine ernstgemeinte Feststelerhob sie sich. Als sie stand, schlüpfte lung. »Sie waren ja dabei, als ich im sie mit plumpen, ungrazilen Bewe- Wasser schwamm und nicht untergungen aus meiner Jacke und warf ging.« sie mir zu. • »Wenn ich mich vor Ihnen gefürch»Da haben Sie Ihren Fetzen, ich tet hätte, dann hätte ich Ihnen brauche-ihn nicht.« Mit diesen Wor- wahrscheinlich nicht das Leben geretten wandte sie mir den Rücken zu tet.« und wollte davongehen. »Einen Dreck haben Sie!« brauste sie »Halt«, rief ich ihr nach, »zum Dorf auf; ich zuckte unwillkürlich zusamgeht es da lang.« men. »Ich wollte mich nicht ersäufen »Ich wohne aber dort«, sagte sie, und wäre auch ganz bestimmt nicht lö8
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abgesoffen. Ich habe die Hexenprobe gemacht, weil ich herausfinden wollte, was wahr an dem ist, was die Leute tuscheln. Und ich habe die Probe bestanden. Ich bin geschwommen, deshalb bin ich eine Hexe.« „Sie sagte es in einem so ernsten Tonptall,' daß es schon wieder lächerlich klang. Aber ich hütete mich, ihr meine Skepsis oder gar meine Heiterkeit (JZU zeigen. ^i »Ich fürchte mich dennoch nicht vor Ihnen«, sagte ich. Jföie blieb stehen und betrachtete mich KStirnrunzelnd. • H»Sie sind wohl nicht von hier?« |?»Aus der Stadt.« " »Das dachte ich mir fast. Und Sie fürchten sich wirklich nicht vor He||en?«
pch lächelte. »Ganz und gar nicht.« l'Sie kam zu mir, zog meinen Kopf | mit einem kräftigen Ruck zu sich her' ab und küßte mich wild und ungeschickt auf den Mund. Ich mußte mich förmlich mit Gewalt aus ihrer Umarmung befreien. »Ich habe schon lange keinen Burschen mehr getroffen, der mir gefiel«, keuchte sie, und ihre Augen lebten. »Morgen, wenn es dunkel wird, trefifen wir uns wieder hier.« ii»Aber . . .« ^»Morgen bekommst du mich!« |Schrill lachend rannte sie davon. '?' |Dr. Lauriel saß schon beim Früh-
stück, als ich am nächsten Morgen in die Küche hinunterkam. Die Begrüßung fiel etwas kühl aus, und das Eis zwischen uns brach auch nicht, als ich ihm gegenüber am Tisch Platz genommen hatte und er über das heutige Programm sprach. Ich aß lustlos, während ich versuchte, den Worten Dr. Lauriels Aufmerksamkeit zu schenken. Er hatte vor, mich am Vormittag mit einigen weiteren Patienten der näheren Umgebung bekanntzumachen; für den Nachmittag war eine zwanglose Zusammenkunft im Rathaus von Striga geplant, an der der Pfarrer, der Bürgermeister, der Magister und zwei oder drei einflußreiche Bauern der fünfhundert Seelen zählenden Gemeinde teilnehmen würden. Dr. Lauriel versicherte mir, daß die genannten Herren keineswegs vorhatten, mich auf Herz und Nieren zu prüfen, sondern mich eben nur kennenlernen wollten. Zum Schluß sagte er: »Das hat na-
türlich nur dann einen Sinn, wenn Sie in Striga bleiben wollen.« »Ich werde bleiben«, hörte ich mich sagen. Die Visite am Vormittag verlief ohne Zwischenfälle; kein einziges Mal wurde uns die Tür gewiesen, und wir brauchten uns auch kein übertriebenes Gejammer, vonwegen krankem Vieh oder unfruchtbarem Boden, an109
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zuhören. Deshalb hatte ich Dr. Lauriel im Verdacht, daß er für diesen Tag nur solche Patienten ausgesucht hatte, die weniger abergläubisch waren als andere. Um die Mittagszeit kamen wir zurück nach Striga und kehrten in dem einzigen Gasthaus ein, das direkt auf dem Hauptplatz lag. Der Wirt, ein kleiner rundlicher Mann mit einer Glatze, begrüßte uns mit überschäumender Freundlichkeit, nahm unsere Bestellung auf und brachte bald darauf das Bier und die gewünschten Speisen. »Wohl bekomm's«, sagte er, wischte sich die schwitzenden Hände an der Schürze ab und zog sich zurück in seine Privaträume. Wir waren d»e einzigen Gäste. Dr. Lauriel versuchte, eine harmlose Konversation in Gang zu bringen, aber meine einsilbigen Antworten ließen ihn diesen Versuch bald aufgeben. Er mußte gemerkt haben, daß ich mit meinen Gedanken ganz woanders war, und obwohl er mich nicht nach meinen Sorgen auszufragen begann, spürte ich instinktiv, daß er vor Neugierde fast vergehen mußte. Als ahne er etwas von meinem nächtlichen Erlebnis . . . Der Hauptplatz war nur wenig belebt. Einige spielende Kinder tollten herum. Ein Ochsenkarren ratterte langsam über das unebene Kopfsteinpßaster. Vor der geschlossenen Apo110
theke unterhielten sich zwei uralte Weiber. An einem Fenster, von einem der einstöckigen Fachwerkhäuser, erschien eine dickliche Frau und schrie den Kindern irgend etwas zu. Vor dem Fleischerladen wurde ein Lastwagen beladen. Ein alter Mann mit einer langen Pfeife lehnte an den geschlossenen Läden des Lebensmittelgeschäfts und ließ sich von der Sonne bescheinen, während Dr. Lauriel und ich zum Haus des Bürgermeisters gingen. Ich hatte schon gestern festgestellt, daß alle Geschäfte geschlossen hatten und daß sich auf dem Hauptplatz, dem einzigen Treffpunkt des Dorfes, kaum Menschen aufhielten. Es war, als liege Striga im Sterben und keiner seiner Bewohner wolle irgend etwas dagegen unternehmen. Dieses dumpfe Gefühl wurde ich auch nicht los, als wir das Bürgermeisteramt betraten, wo uns fünf alte Männer bereits erwarteten. Dr. Lauriel machte mich mit ihnen bekannt. Der Bürgermeister war ein kleines verhutzeltes Männchen mit einem knochigen Gesicht, in dem die riesige Hakennase mit den kleinen stechenden Äuglein um die Vorherrschaft zu kämpfen schien. Der Magister hatte einen Buckel und zeigte mir die Lücken in seinen gelben Zähnen, als er mich falsch angrinste. Der eine Bauer hieß Köhler, hielt sich betont gerade und wirkte noch am
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rüstigsten; er gab mir mürrisch die Hand. Der andere würdigte mich keines Blickes - es war der alte Jochgraben, der seinem neugeborenen Enkel ein Hexenmal angedichtet hatte. Sie alle brachten mir unverhohlenes Mißtrauen und offene Abneigung entgegen. Nur der Pfarrer, ein kleiner Mann mit einem rosigen Gesicht, bildete eine erfreuliche Ausnahme. Aber trotz der Freundlichkeit, mit der er mich begrüßte und mir einen Sitz an dem großen Tisch anbot, glaubte ich nicht, daß sich etwas an der frostigen Atmosphäre ändern würde. Mit dieser Vermutung behielt ich recht, obwohl sich auch Dr. Lauriel bemühte, mich bei den anderen beliebt zu machen. Die Unterhaltung drehte sich vorerst einmal um das schlechte Wetter, die karge Ernte und die an Schwindsucht leidende Gemeindekasse. Ich fragte mich im stillen, was ich demnach bei dieser Besprechung zu suchen hatte. Aber das Gesprächsthema wechselte, und die Männer diskutierten verschiedene Maßnahmen durch, um der allgemeinen Misere beizukommen, und ich wurde ein paarmal um meine Meinung gefragt. Ich gab ausweichende Antworten, sagte, daß ich in diesen Dingen nicht bewandert sei und dachte im übrigen an das seltsame Mädchen, das ich im Wald getroffen hatte.
»Die mageren Jahre dauern j schon zu lange an«, sagte der B germeister. »Wir müssen wieder mal etwas unternehmen.« Dabei sah er Dr. Lauriel fest an. »Ja«, meinte der unsicher, »wir m sen uns überlegen, was wir tun kö ten ...« »Da gibt es nichts zu überlege unterbrach ihn Jochgraben. »Es hilft nur eines«, stimmte Magister zu. Der Pfarrer räusperte sich. »Was ist denn. Hochwürden«, kundigte sich der Magister. »Ha Hochwürden vielleicht Bedenken Der Pfarrer blickte von einem z anderen, dann sagte er: »Ich k eure gotteslästernden Reden n länger mehr dulden. Entweder hört sofort damit auf, oder ich z mich zurück.« »Aber damals«, sagte Jochgra »damals warst du nicht so zim lich.« »Gott hat uns alle dafür gestraft! »Ja, aber weil wir nicht ganze beit gemacht haben.« Mit hochrotem Kopf sprang Pfarrer auf und ging wortlos dem Raum. »Ihr seid Hitzköpfe«, tadelte Lauriel. »Jetzt habt ihr ihn ve gert. »Na, wenn schon. Wir werden a ohne den Pfaffen fertig«, recht tigte sich Jochgraben. »Jetzt brauc
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wir nur noch diesen Kindskopf da loswerden . . .« »Alfons!« Dr. Lauriel sprang aufgebracht von seinem Stuhl. Ich erhob mich ebenfalls. »Lassen Sie nur«, sagte ich, »ich wollte ohnehin an die frische Luft.« Froh darüber, daß mir eine Entscheidung abgenommen worden war, verließ ich das Rathaus. Länger hätte ich das alberne Greisengeschwätz nicht mehr ertragen. Der Hauptplatz lag wie ausgestorben da, die spielenden Kinder, der Mann mit der Pfeife und der Lastwagen waren verschwunden, die Geschäfte hatten immer noch geschlossen. Von der kleinen Kapelle kam das schüchterne Geläute einer Glocke. Sie läutete fünfmal, und ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, daß es tatsächlich erst fünf war. Demnach verblieben mir noch zweieinhalb Stunden bis zur Dämmerung. Das brachte mich auf die Idee, den Pfarrer aufzusuchen und ihn ein wenig nach seiner Meinung über die Dorfbewohner auszuhorchen. Von ihm würde ich auch etwas über das Mädchen vom Strigenberg erfahren können. Ich verließ den Hauptplatz über die staubige Seitenstraße, die nach kaum zweihundert Metern in einen schmalen Fußpfad überging. Hier stand das letzte Haus, danach kam eine von 112
Unkraut überwucherte Wiese, auf der einige magere Kühe weideten. Die Kapelle stand auf dem Gipfel einer kleinen Anhöhe, über deren Hänge sich Kreuz an Kreuz des idyllischen Gottesackers reihte. Als ich zu dem schmiedeeisernen Tor in der Friedhofsmauer kam, mußte ich zu meiner Überraschung feststellen, daß es abgeschlossen war. Ich rief nach dem Pfarrer, aber er gab kein Lebenszeichen von sich. Da ich wußte, daß jemand hier sein mußte, der den Glokkenzug betätigt hatte, wiederholte ich mein Rufen einige Male. Aber es war umsonst, niemand zeigte sich. Etwas enttäuscht kehrte ich um und strebte dem Strigenberg zu. Ich ließ mir Zeit, machte einen großen Bogen um das Dorf, wich oft vom Weg ab und rastete ein paarmal. Aber ich erreichte den Waldsee trotzdem noch sehr früh. Ich setzte mich ans Ufer und beobachtete die rötlich verfärbte Sonne, wie sie hinter den Wipfeln der Nadelbäume verschwand, noch einmal durch den Wald blinzelte, um dann endgültig hinter dem Strigenberg unterzugehen, »Morgen bekommst du mich«, hatte mir das Mädchen zum Abschied zugerufen. Es schien ihr damit ernst gewesen zu sein. Es lag nun an mir, ihr schonend beizubringen, daß an ein Verhältnis zwischen uns beiden nicht zu denken war. Aber vielleicht, beruhigte ich mich
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dann wieder, meinte sie ihre Worte gar nicht so ernst, sondern hatte sie nur gesagt, um den Anschein von Anrüchigkeit zu erwecken. Plötzlich, ohne daß ich ein Geräusch gehört hatte, schob sich etwas vor meine Augen und preßte sich mir fest gegen die Lider. »Rate, wer da ist«, wurde mir ins Ohr geflüstert. Ich erkannte ihre Stimme sofort, obwohl sie sie verstellte. »Ich habe keine Ahnung«, sagte ich. »Rate.« »Hm . . . der Waldhüter?« Sie lachte. »Bei uns gibt es keinen Waldhüter.« »Bist du etwa ein Wurzelweib?« »Beinahe erraten.« »Dann - kannst du nur die kleine Hexe von gestern sein.« »Jawohl!« Sie ließ meine Augen los, zog mich mit einem kräftigen Ruck zu Boden und beugte sich über mich. »Genau das bin ich, die Hexe von gestern.« Und sie küßte mich. Es dauerte eine Weile, bevor ich mich aus ihrer Umarmung befreien konnte. Ich richtete mich auf und schob sie auf Armeslänge von mir fort. Dann betrachtete ich sie. »Was glotzt du so?« erkundigte sie Sich mißtrauisch. »Nur so, ich will sehen, ob du dich seit gestern verändert hast.«
»Und?« »Du hast dich verändert.« Doch diese Veränderung gereichte ihr nicht gerade zum Vorteil, aber das sagte ich ihr nicht. Sie trug ein silbernes Flitterkleid, das um einige Nummern zu groß war, Pumps mit dicken hohen Absätzen und eine schwarze Stola, außerdem war sie über und über mit falschem Schmuck behangen; auf den Wangen trug sie millimeterdick Rouge, und die Lippen hatte sie grellrot bemalt. Sie sah aus wie ein Clown, aber es war nicht zum Lachen. »Wie gefalle ich dir?« Sie zupfte an dem Kleid, und ihre großen, kindlichen Augen starrten mich erwartungsvoll an. »Recht schick«, sagte ich und hoffte, daß sie meine Lüge nicht durchschaute. »Von wo hast du die Kleidung und die Schminke?« Sie warf den Kopf zurück. »Aus der Klamottenkiste meiner Tanten. Ich hab's mir-ausgeborgt, weil sie es ohnedies nicht mehr brauchen. Nur den Umhang«, sie deutete auf die Stola, »habe ich Tante Frieda abgenommen, aber sie wird schon nicht frieren.« »Sagtest du, daß du bei deinen Tanten wohnst?« »Nein.« Sie sah mich erstaunt an. »Meine drei Tanten wohnen bei mir.« »Das verstehe ich nicht.« Sie seufzte. »Stellst du dich aber 113
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dumm! Ich werde es dir erklären. Meine Tanten, Frieda, Lore und Heidi, sind gelähmt. Sie können sich überhaupt nicht rühren und hocken nur stumm und starr da. Ich muß sie füttern, waschen und niederlegen und anziehen und ihnen Geschichten erzählen. Und ganz richtig im Kopf sind sie auch nicht - ich meine, daß sie schon vorher recht einfältig gewesen sein mußten, bevor das mit ihnen passierte, denn sonst wäre es nicht so weit gekommen. Aber, nein, sie mußten .. . Jedenfalls siehst du, sind sie auf mich angewiesen und nicht ich auf sie. Deshalb wohnen sie bei mir. Verstehst du?« Ich nickte gedankenverloren. »So«, fügte sie abschließend hinzu, »jetzt ist Schluß damit. Redpn wir von was anderem.« Sie versuchte ein verführerisches Lächeln und reichte mir ihre Hand. Ich ergriff sie. Während sie mich langsam zu sich zog, versuchte ich mir das erbärmliche Leben vorzustellen, das dieses junge Mädchen inmitten der drei gelähmten Frauen führen mußte. Mir kam der Gedanke, daß sie womöglich nicht wirklich beschränkt, sondern nur ein Opfer ihrer Umgebung war. »Und du bist ganz alleine mit ihnen?« fragte ich. Wahrscheinlich klang meine Stimme um eine Spur zu mitfühlend, denn sie sagte: 114
»Ich will nicht bemitleidet werden.« »Aber du verdienst Anerkennung. Nicht jeder könnte eine solche Aufopferungsbereitschaft aufbringen wie du.« »Pah, Aufopferungsbereitschaft«, schnaufte sie. Was soll ich denn anderes tun? Alle weichen sie mir aus, weil ich eine Hexe bin. Ich habe nur meine Tanten.« »Die Dorfbewohner sagen, du seist eine Hexe?« fragte ich vorsichtig und lächelte dabei, um die Bedeutung meiner Frage herabzumindern. »Sie sagen es mir nicht, zumindest nicht ins Gesicht, weil sie Angst haben. Aber sie weichen mir aus.« »Du hast keine Freunde in Striga?« Sie lächelte maliziös. »Doch, manchmal stiehlt sich einer der Burschen von zu Hause fort und . . .« »Das meinte ich nicht. Ich dachte an jemanden, der dich wirklich gern hat. Eine Freundin, einen Freund.« »Ich verhexe sie, dann sind sie meine Freunde.« »Aber du mußt doch jemanden kennen, der aus eigenem Antrieb zu dir kommt und dich um deinetwillen mag - jemand, der dasselbe für dich tun würde, wie du für deine Tanten tust.« »Du meinst eine Freundschaft?« Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nein, eine Freundschaft habe ich nicht.« Ich drückte ihre Hand.
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»Jetzt hast du eine.« »Dich?« »Ja.« »Oh . . .« Trotz der Schminke im Gesicht und ihrer großen hervortretenden Augen strahlte sie Schönheit aus. »Ich kann es noch gar nicht glauben Du liebst mich, ohne daß ich dich erst behexen muß?« »Ich biete dir meine Freundschaft an«, erklärte ich, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen. »Das hat mir noch niemand gesagt.« Noch ehe ich mich versah, hatte sie mich wieder umarmt, ließ sich zurücksinken und zog mich über sich. Ich spürte, wie mich ihre Nähe erregte, und es wäre in diesem Augenblick leicht gewesen, der Versuchung nachzugeben und sich von der aufflammenden Leidenschaft mitreißen zu lassen. Aber ich behielt meine Vernunft. Ich wäre mir nachher schmutzig vorgekommen, wenn ich die Situation ausgenützt hätte. »Hör auf damit«, stieß ich hervor, nachdem ich von ihren Lippen losgekommen war. Ich versuchte sie festzuhalten, aber sie schien tausend Arme zu haben, löste sich immer wieder aus meinem Griff und wand sich wie eine Schlange. Mir blieb kein anderer Ausweg, als sie durch einen leichten Schlag zur Besinnung zu bringen. Es half. Ihr Körper sackte in sich zusammen. Ihre Augen klärten sich,
wurden groß wie immer. Wahrend sie sich mit der linken Hand über die geschlagene Wange fuhr, schob sie mich mit der anderen von sich. Langsam richtete sie sich auf. Ich wollte etwas sagen, aber meine Stimme gehorchte nicht. Außerdem erkannte ich, daß Worte hier nicht geholfen hätten. Ich hatte sie gedemütigt, hatte das, was sie unter Freundschaft verstand, abgewiesen, hatte wahrscheinlich ihre letzte Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben mit einem einzigen Schlag zerstört. Jetzt weinte sie haltlos. »Sei verflucht«, sagte sie mit erstickter Stimme, »sei verflucht wie die anderen.« Es blitzte, gleich darauf rollte ein urgewaltiger Donner über den Strigenberg, und es begann in' Strömen zu regnen. Das Mädchen, dessen Namen ich noch nicht einmal kannte, aber von dem ich wußte, daß es dringend Hilfe brauchte, war wie vom Erdboden verschwunden. Ich war bis auf die Haut durchnäßt, als ich Dr. Lauriels Haus erreichte. In der Küche brannte noch Licht, aber ich kümmerte mich vorerst nicht darum, sondern ging in den primitiven Waschraum und befreite meinen Oberkörper von den nassen Kleidern. Dann trocknete ich mich ab und rubbelte mir den Kopf halbwegs trocken. 115
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Kaum war ich damit fertig, da ging die Tür auf, und Dr. Lauriel stand darin. Er hielt eine Tasse in der Hand, die verheißungsvoll dampfte. »Ich habe mir gedacht, daß Sie vom Regen überrascht werden würden«, sagte er. »Deshalb habe ich Tee aufgestellt.« Dankbar nahm ich die dampfende Tasse und machte einen vorsichtigen Schluck. Ich verbrühte mir zwar den Mund, aber der heiße Tee wärmte mich innerlich wenigstens ein bißchen auf. »Nehmen Sie doch meinen Schlafmantel«, schlug Dr. Lauriel vor. »Dann können wir in die Küche gehen, dort ist es gemütlicher.« Ich nickte, stellte die Tasse ab und schlüpfte in seinen Schlafmantel. Er war vorausgegangen und saß schon an dem rohgezimmerten Tisch, die Teekanne und eine halbvolle Flasche doppeltgebrannten Slibowitz vor sich, als ich in die Küche kam. Er sah mich unschlüssig an, benetzte sich die Lippen, sagte aber nichts. »Sie wollen mit mir sprechen?« erkundigte ich mich, um ihm den Anfang leichter zu machen. »Ja«, bekannte er. »Ich wollte es schon' heute vormittag tun, aber es kam immer etwas dazwischen. Wir sollten ein offenes Wort miteinander sprechen, Herbert.« Ich schlürfte den Tee und fühlte, wie schön langsam meine Lebensgeister zurückkehrten. »Warum nicht«, 116
meinte ich dann. »Was haben Sie also auf dem Herzen, Doktor?« »Es geht mich ja nichts an, was Sie mit Ihrer Freizeit anfangen, Herbert«, druckste er herum. «Es geht mich überhaupt nichts an, wo Sie sich herumtreiben. Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Aber ich fühle mich irgendwie verantwortlich für Sie, deshalb möchte ich verhindern, daß Sie eine Dummheit begehen. Ich muß Sie warnen . . .« »Sie müssen mich warnen?« wiederholte ich erstaunt. »Fassen Sie das nicht falsch auf«, sagte er schnell. »Es hat schon genügend Mißverständnisse zwischen uns gegeben, ich möchte nicht neue heraufbeschwören. Ich warne Sie, weil ich zu wissen glaube, wo Sie gestern und heute nacht waren.« »Hm«, machte ich nur. Er würde schon von selbst die Katze aus dem Sack lassen. Er tat es auch. »Sie haben sich, wahrscheinlich vollkommen ahnungslos, im Wald herumgetrieben«, erzählte er mit solcher Überzeugung, als hätte er mich beobachtet. »Sie wollten alleine sein mit sich und Ihren Gedanken, um sich in Ruhe Ihre Lage überlegen zu können. Aber daraus wurde nichts. Plötzlich sahen Sie sich einem Mädchen gegenüber, das alles daranstetzte. Ihnen den Kopf zu verdrehen. Sie fanden das Mädchen etwas seltsam, vielleicht ein wenig beschränkt,
HEXENHAMMER
deshalb wahrten Sie Distanz - oder auch nicht, aber das ist nicht so wichtig. Auf jeden Fall wollten Sie das Mädchen wiedersehen, denn Sie waren auf eine unerklärliche Art von ihr fasziniert. Sie trafen sich heute nacht wieder mit ihr!« Der letzte Satz war eine einzige Anklage. »Sie sind sehr nahe an die Wahrheit herangekommen«, gab ich verblüfft zu. »Woher wissen Sie das alles? Sind Sie mir nachgeschlichen?« Er schüttelte den Kopf und lächelte wissend. »Das habe ich nicht nötig. Denn es ist immer wieder das gleiche. Jeder, der sich des Nachts in der Nähe des Strigenberges aufhält, begegnet irgendwann dem Mädchen.« »Vielleicht sprechen wir nicht von demselben Mädchen.« »•Doch, wir meinen beide Adalethe Grön.« »Adalethe Grön ... Ich kannte bisher noch nicht ihren Namen.« Dr. Lauriel sah mich fest an. »Vergessen Sie ihn sofort wieder«, sagte er eindringlich. Ich lachte auf und fragte dann mit beißendem Spott: »Hegen Sie etwa die Befürchtung, sie könnte mich verhexen?« »Sie können es tatsächlich so aussprechen, daß man sich närrisch und albern vorkommt, überhaupt nur diese Möglichkeit in Betracht gezogen zu haben«, meinte er bedauernd.
»Ich will Sie nicht zu überzeugen versuchen, daß dieses Mädchen übernatürliche Fähigkeiten besitzt. Ich bin mir selbst nicht ganz sicher. Aber nehmen Sie meine Warnung trotzdem an. Adalethe ist es nicht wert, daß man sich ihrer annimmt.« »Sie ist krank«, sagte ich heftig, »und braucht Hilfe.« »Sie ist krank«, bestätigte er, »aber ich glaube nicht, daß sie sich heiren lassen will. Halten Sie sich von ihr fern, Herbert. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« »Warum so geheimnisvoll, Doktor?« »Die Wahrheit würde Sie .schockieren.« »Sie glauben also, ich sei in das Mädchen verliebt?« »Sie wären nicht der erste, der ihr verfallen ist.« »Hören Sie mal, Doktor«, erklärte ich erbost. »Sie hat mir gesagt, daß sich schon oft Burschen aus Striga davongeschlichen haben, um bei ihr ein Abenteuer zu suchen. Sie hat das so freimütig erklärt, daß ich überzeugt bin, sie hat sich überhaupt nichts dabei gedacht. Verstehen Sie, Adalethe erfaßt das Unmoralische ihres Tuns gar nicht. Sie ist nicht intelligent genug, um sich Gedanken darüber machen zu können. Ich glaube, es wäre das Beste, sie von hier fortzuschaffen und in eine Anstalt zu geben.« »Sie scheinen das wirklich ernst zu 117
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meinen, aber - Adalethe ist durch und durch verderbt, sie kann nicht geheilt werden. Das hat sie ... geerbt.« »Geerbt? Von wem? Los, Doktor Lauriel, machen Sie nicht so lange Umschweife, reden Sie schon.« Er blickte verstohlen zur Uhr. »Also gut«, seufzte er und schenkte sich und mir ein Glas Slibowitz voll. »Ich werde Ihnen die ganze Geschichte erzählen«, sagte er, nachdem er sein Glas geleert hatte; er wartete, bis ich meinen Slibowitz ebenfalls getrunken hatte, dann füllte er mein Glas. wieder. »Aber ich werde mich kurz -fassen, weil ich in wenigen Minuten Besuch bekomme.« »Wer besucht Sie denn noch um diese Zeit?« erkundigte ich mich. »Der Bürgermeister - äh - und die anderen kommen noch auf einen Sprung vorbei.« »Na, dann werde ich mich rechtzeitig auf mein Zimmer zurückziehen.« Mir war, als atme er auf. Er begann zu erzählen: »Auf dem Strigenberg steht ein altes Blockhaus, das seit urdenklichen Zeiten unbewohnt war. Man munkelte, daß dort früher eine Hexe gehaust habe, deshalb getraute sich niemand, das Blockhaus zu benützen. Vor zwanzig Jahren geschah es, daß ein Bauer, der sich zufällig in der Nähe aufhielt, Rauch aus dem Schornstein steigen 118
sah. Als sich der verängstigte Mann auf den Rückweg zum Dorf machte, begegnete er drei hübschen jungen Frauen, die Wurzeln und Beeren einsammelten. Sie sagten, daß sie nun die neuen Bewohner des Blockhauses seien, und jeder aus dem Dorf, der Lust auf Abwechslung habe, könne zu ihnen heraufkommen. Und von da an war es aus mit der Ruhe und Ordnung in Striga. Die Männer aller Altersstufen kamen auf den Strigenberg, um sich Abwechslung zu erkaufen. Die drei Dirnen kümmerte es nicht, daß sie Unfrieden, Haß und Neid säten. Sie lachten mich damals nur aus, als ich sie aufsuchte und darauf aufmerksam machte, daß die Männer von Striga ihretwegen Haus, Grund und Familie vernachlässigten. Noch nie vorher oder nachher wurde ich so gedemütigt wie damals, Herbert. Das schwöre ich Ihnen. Diese drei Frauen waren durch und durch böse, aber das hinderte die männliche Einwohnerschaft trotzdem nicht daran, weiterhin an den ausschweifenden Orgien auf dem Strigenberg teilzunehmen. Das blieb schließlich für eine der drei Dirnen nicht ohne Folgen, sie erwartete ein Kind ...« »Adalethe!« warf ich ein. »Jawohl.« »Aber sie sagt, alle drei wären ihre Tanten.« »Weil sie nicht weiß, wer nun wirk-
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lieh ihre Mutter ist. Wir haben das auch nie in Erfahrung gebracht. Denn während der letzten sechs Schwangerschaftsmonate lebten sie zurückgezogen und ließen niemanden zu sich. Erst als Adalethe geboren war, holten sie sich wieder ihre willigen Opfer aus dem Dorf. Vier Jahre lang ging das noch so weiter, dann erhielten sie von Gott ihre gerechte Strafe. Niemand weiß genau, wie es geschah, aber wir vermuten, daß ein Blitz einen Baum fällte, der die drei Huren unter sich begrub. Adalethe war damals kaum älter als vier Jahre, trotzdem gelang es ihr - wie, das wird ebenfalls für immer ein Geheimnis bleiben —, die drei Verwundeten ins Blockhaus zurückzuschaffen. Adalethe pflegt ihre >Tanten< seit damals, die nun bis an ihr Lebensende gelähmt und taubstumm sind.« Mich fröstelte. Es war eine schaurige Geschichte, aber sie konnte wahr sein. »Deshalb habe ich gesagt. Adalethe habe das Nymphomanische geerbt.« »Trotzdem«, sagte ich überlegend, »glaube ich, daß sie krank ist. Stellen Sie sich nur vor, welchen Schock sie mit vier Jahren bekommen mußte, als sie ihre drei Tanten hilflos unter einem Baum begraben liegen sah. Sie als Arzt müssen doch erkennen, daß man ihre Veranlagung nicht einfach als Vererbung abtun kann.«
»Ich habe Ihnen die Geschichte erzählt«, entgegnete Dr. Lauriel kühl. »Es steht Ihnen nun frei, sich eine eigene Meinung zu bilden. Aber ich möchte es nicht verabsäumen. Ihnen noch einmal dringendst zu raten, Adalethes Veranlagung nicht medizinisch erklären zu wollen.« Ich öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, aber da wurde an der Türglocke gezogen. »Ich glaube«, sagte ich und erhob mich, »ich werde Ihrem Besuch lieber ausweichen. Gute Unterhaltung, Dr. Lauriel.« »Gute Nacht, Herbert.« Ich ging auf mein Zimmer hinauf. Aber nichts lag mir ferner, als zu Bett zu gehen. Ich schlüpfte in trokkene Kleider, zog mir den Regenmantel an und schlich mich dann auf Zehenspitzen aus dem Haus. Erst jetzt, nachdem Dr. Lauriel die Hintergründe ein wenig beleuchtet hatte, konnte ich mir einigermaßen vorstellen, wie kompliziert Adalethes Seelenleben sein mußte - und wie sehr ihr mein unüberlegtes Verhalten schaden konnte. Ich glaubte, schnell handeln zu müssen, wenn ich ihr helfen wollte. »Komm nur herein, Herbert.« Die Worte trafen mich wie Peitschenhiebe. Ich war mehr als zehn Meter von der Blockhütte entfernt und wollte sie von meinem Versteck hin119
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ter einem dichten Strauch beobachten. Es hatte zu regnen aufgehört, die Wolkendecke war aufgerissen und gab den Vollmond frei. Ich war lange durch den Wald geirrt, bevor mir seltsame Geräusche, die sich dann als unverständlicher Singsang herausstellten, den Weg zur Blockhütte gewiesen hatten. Aus dem Schornstein kam Qualm, und die dichten Hecken rundherum warfen dunkle Schatten, die zu leben schie»Traue dich nur, Herbert«, drang Adalethes Stimme wieder aus der Hütte. »Meine Tanten und ich haben dich bereits erwartet.« Hatte sich dort nicht gerade jemand in die Büsche geschlagen und war im Wald verschwunden? Ich kam mir übertölpelt vor, als ich mein Versteck verließ und auf die halb offenstehende Tür zuschritt. Ein schmaler flackernder Lichtstreif fiel heraus. Zögernd drückte ich gegen die Tür, die knarrend nach innen schwang. »Na, wie gefällt es dir bei uns?« fragte Adalethe vom Kamin her, wo sie in einem eisernen Topf rührte. Sie trug ein altes, zerschlissenes Neglige, durch das ihre weiße Haut hindurchschimmerte. Ihr schwarzes Haar fiel ihr unordentlich auf die Schultern, ihr Gesicht war hektisch gerötet. Ich konnte nicht sagen, was ich hier 120
zu sehen erwartet hatte, aber alle meine unklaren Vorstellungen wurden von der Wirklichkeit übertroffen. Die Blockhütte hatte nur einen einzigen Raum. In der einen Ecke, gegenüber dem Eingang, befand sich der bereits erwähnte offene Kamin; über einigen brennenden Holzscheiten stand ein eisernes Dreibein, an dem der Topf hing. Gleich daneben befand sich ein einfaches Lager aus Reisig und Stroh; dort hockten, gegen die Wand gelehnt, drei uralte, geschlechtslose Wesen. Der flackernde Schein des Kaminfeuers spielte auf ihren toten, leeren Gesichtern, in denen nur die Augen zu leben schienen - aber selbst diese waren starr und blicklos geradeaus gerichtet. Ich konnte meinen Blick nicht von den drei Alten wenden; sie zogen mich in ihren Bann, obwohl sie sich weder bewegten noch Geräusche verursachten. Ihre stille, gespenstische Anwesenheit genügte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das also waren die drei alten, gelähmten Tanten Adalethes. Welche von ihnen war ihre Mutter? Endlich riß ich die Augen von ihnen los. Es gab 'nichts Außergewöhnliches mehr in dem Raum zu sehen. Eine große, eisenbeschlagene Truhe stand noch da, ein Tisch, einige Sessel und eine alte, aus den Fugen geratene Anrichte. Erwähnenswert wäre viel-
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leicht auch noch die unbeschreibliche Unordnung, die herrschte. Aber das hatte auf die Atmosphäre keinen Einfluß, sie wurde vom Schein der züngelnden Flammen, vom Gestank, der aus dem Kochtopf kam, und von den drei scheinbar leblosen Wesen geprägt. Ich fühlte mich von ihnen beobachtet, obwohl ihre Blicke durch mich hindurchgingen. »Wie gefällt es dir bei uns?« erkundigte sich Adalethe wieder. , Ich versuchte, meine Befangenheit abzuschütteln, aber es gelang mir nicht. In meinem Kopf war ein dumpfes Dröhnen, und auf meine Glieder legte sich eine bleierne Müdigkeit. »Du bist mir nicht mehr böse. Adalethe?« Sie fuhr herum. »Woher weißt du meinen Namen?« »Von . . . von Dr. Lauriel«, antwortete ich irritiert. »Wir haben über dich gesprochen. Er hat mir auch sonst noch einiges erzählt, das mir dazu verholten hat, deine schwere Lage besser zu verstehen.« Sie lachte abfällig. »Ich kann mir schon vorstellen, was Dr. Lauriel über mich zu erzählen wußte. Er haßt mich nämlich, weißt du, aber ich hasse ihn noch mehr! Viel mehr. Deshalb koche ich jetzt einen Liebestrank, damit er mir hörig wird. Alle ,' > werden sie mir hörig werden und meine Liebe wollen.«
»Können wir nicht . . .« Meine Beine wurden schwer, und ich ließ mich auf einen Sessel fallen. »Können wir nicht vernünftig miteinander reden, Adalethe? Ich möchte dir doch helfen, nichts anderes, nur dir helfen.« »Nichts anderes?« fragte sie anzüglich und lachte schrill - dabei beugte sie den Kopf weit zurück. »Ha, ha, ha! Er will nichts anderes. Aber bald wirst du es wollen, Herbert. Riechst du ihn noch nicht, meinen Liebestrank?« »Beende diesen Unfug und höre mir zu!« forderte ich, aber meine Stimme klang sehr verloren. »Warum willst du dir und mir andauernd weismachen, du seist eine Hexe. Hat dir das Erlebnis . .. damals so hart zugesetzt?« Wieder lachte sie schrill. Es klang gemein und ordinär. Ich spürte daß sie knapp vor der entscheidenden Krise stand. Es würde nicht leicht sein, sie zur Vernunft zu bringen, aber wenn mir das überhaupt gelingen würde, dann in den nächsten paar Minuten. Ich war kein Psychiater, und ich wußte, daß ich unter Umständen mehr schaden als nützen konnte. Doch das Risiko mußte ich auf mich nehmen. Adalethe konnte jeden Augenblick geistig vollkommen zusammenbrechen. »Warum spielst du uns etwas vor, Adalethe«, sagte ich in leichtem Konversationston. »Du bist ein voll121
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kommen normales Mädchen, nur eben ein wenig durcheinandergeraten.« »Das habe ich auch lange geglaubt.« Für einen Moment klang ihre Stimme verträumt, aber dann fand sie in jene Gegenwart zurück, die sie wie eine Mauer um sich aufgebaut hatte. »Ich wollte denen nicht glauben, die sagten, ich sei eine Hexe. Aber jetzt weiß ich, daß sie recht haben. Ich habe die Hexenprobe gemacht - und du hast mit eigenen Augen gesehen, daß ich nicht untergegangen bin.« »Das läßt sich wissenschaftlich erklären«, sagte ich, meine Zunge war schwer und trocken. »Du hast die Luft angehalten, deshalb bist du wieder an die Oberfläche getrieben.« Ihr Lachen konnte einen verrückt machen. »Aber die anderen Dinge lassen sich nicht erklären. Die Mißernten, das kranke Vieh, die vielen Fehlgeburten, die habe ich auf dem Gewissen! Und ich werde noch mehr tun. Ich werde es ihnen heimzahlen, daß sie mich immer verachtet haben.« »Du darfst dir solche Dinge nicht einreden . . .« Sie unterbrach mich. »Und hat nicht augenblicklich ein Gewitter eingesetzt, als ich dich im Wald verfluchte? Hast du mich dann weggehen gesehen? Natürlich nicht, weil ich unbemerkt verschwinden kann. Ich kenne deinen Namen, obwohl du ihn mir nicht gesagt hast, und ich habe 122
dich sofort in die Hütte gerufen, als du dich angeschlichen hast. Das alles kann nur eine Hexe.« »Jetzt habe ich dich bei einer Lüge ertappt«, sagte ich triumphierend. »Denn ich habe gesehen, wie sich jemand von deinem Haus fortgeschlichen hat. Wahrscheinlich einer von deinen Liebhabern aus dem Dorf; der hat dir meinen Namen verraten.« Wieder stieß sie ihr aufreizendes Lachen aus. »Was bist du klug, Herbert, und scharfe Augen hast du auch. Es war tatsächlich einer bei mir, der sich ein wenig die Zeit vertrieben hat. Macht es dich nicht eifersüchtig?« Sie stand in einer vulgären Stellung vor mir, das Neglige vorne geöffnet, und lachte mich aus. Ich wich ihrem Blick nicht aus. »Adalethe«, sagte ich eindringlich, aber ich wußte nicht mehr, ob es mir meine Müdigkeit erlaubte, überzeugend zu sprechen, »ich möchte wirklich nichts anderes als dir helfen. Du bist krank, glaube es mir.« »Verrückt, meinst du, nicht wahr?« Ich schüttelte den Kopf; es machte mich ganz schwindlig. »Ich meine krank. Du leidest psychisch, weil du mit einem bestimmten Erlebnis nicht fertigwerden kannst. Wahrscheinlich hast du es vergessen. Aber wenn du dich erinnern könntest .. .« »Ich erinnere mich«, rief sie, plötz-
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ten euch die verdammten Schäde p'4 lieh vollkommen hysterisch. »Ich erinnere mich an jede Einzelheit ge- ein, damit ihr nicht mehr an Hexe rei denken könnt !< Sie waren all nau!« »Dann erzähle mir, was damals ge- vermummt, aber später erkannte ic ,.' einen von ihnen an der Stimme. E schah.« war Dr. Lauriel. Immer, wenn di Sie kam ganz dicht zu mir, daß ich anderen eine ihrer abscheulichen Ta ihren betäubenden Atem riechen ten ausgeführt hatten, schrie er: >S konnte. Ihre Hand wies auf die drei geschlechtslosen Wesen, die regungs- steht es im Hexenhammer! So steh es im Hexenhammer !< los auf dem Reisiglager hockten. »Du willst wissen, was sie mit ihnen Und als dann alles vorbei war, ka men sie zu mir . . .« gemacht haben?« Während sie erzählt hatte, hatte si »Sie?« erkundigte ich mich verwirrt; sich ganz fest an mich gepreßt, hilfs vor meinen Augen und in meinem bedürftig, nach Wärme und Gebor Kopf begann sich alles zu drehen. genheit suchend. In diesem Augen »Was sie getan haben? Hat nicht ein blick war ich immer noch davon über Blitz einen Baum gefällt . . .?« zeugt, daß sie ein psychisch außer Ich glaubte, sie würde wieder hysteordentlich leidendes Wesen war. Zum risch auflachen, aber sie spuckte nur Teil stimmte das, aber ich erkannt abfällig aus. »Das sagt der geschätzte Dr. Lau- gleich darauf, daß noch etwas ande res mitspielte. riel. Aber es war ganz anders, und Plötzlich riß sie sich von mir los un er weiß es. Ich auch, denn ich mußte stellte sich in geduckter Haltung in zuschauen, als die ganze Bande hermitten des Raumes auf. einkam und meine drei Tanten halb »Sie kamen zu mir«, erzählte s totprügelte. Ich war vier Jahre, aber weiter, »und fragten mich höhnisc ich habe alles gesehen. Nie werde ich vergessen, wie sie mit den Prügeln ob ich verbrannt werden wolle. >N du Ausgeburt des Satans, willst d über meine Tanten herfielen. Und brennen?< fragten sie. Ich schrie d ich weiß auch noch genau, was sie mals. Sie ließen mich in Ruhe. Abe sagten. >Wir zerschlagen eure Beine, einer von ihnen sagte immer wiede damit ihr nicht mehr ausschwärmen »Sie ist vom Teufel selbst gezeugt. S könnt, um Unheil anzurichten^ sagten sie. >Wir schneiden euch die Zun- muß brennen. Sie muß brennen . brennen . . . brennen . . .« ge heraus, damit ihr keine Zaubersprüche mehr sprechen könnt<, sag- Adalethe brach zusammen. Schne war ich bei ihr. Als ich sie au ten sie. Und sie sagten auch:>Wir tre-
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meinen Schoß bettete, schlug sie die Augen auf. Ihr Mund verzog sich zu einem höhnischen Grinsen. »Mich hat tatsächlich der Teufel gezeugt!« »Wir müssen schnell von hier fort«, sagte ich drängend. »Warum?« »Weil . . .« Ich versuchte erst gar nicht, es ihr zu erklären, denn es hätte zu lange gedauert. Jede Sekunde konnte kostbar sein. Vielleicht bildete ich mir selbst alles nur ein, aber wenn Adalethes Erzählung auf Wahrheit beruhte, dann schwebte sie in höchster Lebensgefahr. Wenn die Bewohner von Striga tatsächlich zu solch einer Greueltat fähig gewesen waren, dann würden sie sie vielleicht auch wiederholen. Ich erinnerte mich der Andeutungen, die während der heutigen Versammlung im Rathaus gemacht worden waren. Andeutungen darüber, daß der Grund für die Mißernten und Krankheiten darin zu suchen sei, weil >damals< nur halbe Arbeit geleistet worden war. Jetzt kannte ich die ganze Geschichte und wußte, wovon die Rede gewesen war. Der Wunsch nach einer raschen Abhilfe war laut geworden . . . und der Bürgermeister, der Magister, Jochgraben und Köhler mußten dann beschlossen haben, sich heute abend be; Dr. Lauriel zu treffen ... 124
Es war mit dem Verstand nicht zu fassen, aber alles deutete darauf hin, daß eine kleine verschworene Gruppe dieser abergläubischen Gemeinde vor hatte, nun >ganze Arbeit< zu leisten. »Adalethe, aufstehen«, drängte ich. »Wir müssen sofort weg von hier.« »Komm und küsse mich. Lange und heiß!« Ich spürte, wie sich ihr heißer Atem auf mein Gesicht legte. In dem Kochtopf begann es zu brodeln, und die Luft wurde immer stickiger. Ich versuchte. Adalethe auf die Arme zu nehmen, aber sie war zu schwer. Ich hatte keine Kraft mehr. »Sie können jeden Augenblick kommen, und du weißt, daß sie vor nichts zurückschrecken.« »Hole den Liebestrank.« »Adalethe!« ». . . den Liebestrank ... Er ist bereits gar . . . « Ihre Augen waren halb geschlossen das war das letzte, das ich von ihr wahrnahm. Plötzlich bekam ich einen harten Schlag gegen den Hinterkopf und fiel schwer auf Adalethe. Ich hatte nicht vollkommen die Besinnung verloren, denn ich konnte alles wie aus weiter Ferne hören, nur sehen konnte ich nichts; vor meinen Augen tanzten bunte Kreise, die nur einmal von einer blendenden Helle verdrängt wurden.
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Ich hörte Stimmen, konnte verstehen, was sie sagten; jemand schrie die ganze Zeit über markerschütternd. Adalethe? »Bindet sie am Kamin fest.« »Wie es einst Papst Innozem der Achte in seiner Bulle niederlegte . . .« »Schütte das Benzin nicht beim Feuer aus!«
» . . . so wirst du angeklagt. Und wie die beiden Inquisitoren . . .« »Wo ist die Fackel?« »... Institoris und Sperger die Hinrichtung in ihrem Hexenhammer
festgelegt haben, wird es geschehen, Adalethe Grön . . .«
»Nehmt den jungen Doktor bei den Beinen, und schaffen wir ihn hinaus.« Ich glaubte, einen vermummten Mann zu sehen, der sich mit der einen Hand auf einen Stock stützte und mit der anderen eine Packe] schwang.
».. . Brennen sollst du Hexe, brennen.« Der Chor rief: »Brenne, brenne, brenne!« Dann schien die ganze Welt in Flammen aufzugehen ... und ich lief um mein Leben . . . Niemand wollte meine Geschichte glauben. Der Krankenhausarzt behauptete, es handle sich um Wahnvorstellungen, die der Schock ausgelöst hatte. Eine Hexenverbrennung im
20. Jahrhundert wies er strikt von sich. Als ich die Schuldigen beim Namen nannte, erfuhr ich, daß sie alle beim großen Waldbrand ums Leben gekommen waren. Es gab keine Zeugen mehr, die meine Aussagen bestätigen konnten. Dr. Lauriel, der Bürgermeister, der Magister, Köhler und Jochgraben waren verbrannt - sie hatten ihre Schuld gesühnt. Ich hätte mich damit zufriedengeben können, aber andererseits wollte ich Gewißheit über die Ereignisse am Strigenberg erhalten. Gedächtnisschwund und Wahnvorstellung waren keine zufriedenstellende Erklärung für mich. Und schließlich wollte ich beweisen, daß ein unschuldiges Mädchen als Hexe verbrannt worden war. Als meine Verbrennungen geheilt waren, fuhr ich nach Striga. Bei meiner Ankunft empfing mich das schüchterne Geläute der Kirchenglocke, und augenblicklich erinnerte ich mich daran, daß der Pfarrer von den Hexenaustreibungen gewußt hatte. Aber zu diesem Zeitpunkt wollte ich die näheren Umstände von Adalethes Tod nicht mehr aufdecken. Als ich mich in Striga umblickte, kam mir der Verdacht, daß sie vielleicht doch eine Hexe gewesen war. Denn das Dorf war nach ihrem Tod aufgeblüht, die Geschäfte hatten geöffnet, der Hauptplatz war von lebensprühenden Menschen bevölkert - es 125
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herrschte ein Trubel, wie er vor einigen Wochen noch undenkbar gewesen wäre. Dr. Lauriel hatte nicht recht gehandelt, obwohl er den Menschen von Striga zu einem glücklicheren Leben
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verholten. Da er aber seine Strafe schon bekommen hatte, war es besser die Vergangenheit ruhen zu lassen. So ging ich fort und kam nie wieder nach Striga zurück
Das Amulett von Gordon R. Dickson
Er hatte den Jungen da hinten am Geräteschuppen zu fest geschlagen das war es. Er hatte etwas früher von ihm ablassen sollen, aber es hatte Spaß bereitet, den kleinen Anfänger in die Mache zu nehmen. Zuviel Spaß; der Kleine hatte sich so richtig zart und weich angefühlt - es war wie eine Katzenbalgerei gewesen, und er hatte sich so hineingesteigert, und dann war es zu spät gewesen. Es war nur ein rotznasiger Bengel von fünfzehn gewesen, der den Ausreißer gespielt hatte, aber die Eisenbahnerbullen würden das, was von ihm übrig war, noch vor Morgengrauen dort hinter dem Geräteschuppen finden. Deshalb hatte Clint den erstbesten ausfahrenden Güterzug am Rangierbahnhot geschnappt, anstatt die Bahn nach Norden abzuwarten. Nun, da sich der Güterzug im Hinterland des Ozark-Gebietes verlor, sprang er in einer langsamen Kurve aus dem Wagen. Das wirre, wilde Gras des heißen Missouri-Sommers fing den Aufprall seines Körpers ab, als er die Böschung hinunterrollte.
Er kam unten an und setzte sich auf. Der Güterzug ratterte über ihm vorbei und verschwand. Er war ein wenig durchgeschüttelt, mehr nicht. Er grinste in die Stille des Spätnachmittags, in der nur das Surren der Insekten zu hören war. Man mußte schon ein junger, kräftiger Kerl sein, um von einem fahrenden Güterzug zu springen. Hinauf kam jeder alte Stromer. Er betrachtete seine klotzigen Oberarme, braungebrannt, glatt und muskulös wie sie waren, mit denen er sich mühelos von der weichen, krümeligen Erde abstützen konnte; und er lachte laut auf, wie er so auf dem warmen Gras saß. Er fühlte sich plötzlich zum Schnurren wohl. Zum Schnurren wohl. Das war sein Spezialausdruck, wenn alles gut gelaufen war. Er, die Katze, war wieder mal auf den Pfoten gelandet und konnte sich im nächsten Hinterhof umsehen. Wie würden die Angeführten diesmal aussehen? Er stand auf, streckte sich grinsend und warf einen Blick auf das kleine Tal vor ihm.
GORDON R. OICKSON
Am Fuß des Bergrückens war es mehr eine kleine Höhlung als ein echtes Tal. Der Hang, mit Zwergkiefern bedeckt, rührte steil nach unten und lief ganz plötzlich in ein flaches Stück gepflügten Ackerbodens aus, in dem sich harte kurze Getreidehalme zeigten. Eine kleine braune Hütte stand an einem Ende des Feldes, von seinem Platz aus schäbig anzusehen, und im Hof hackte eine alte Frau mit knöchellangem, schwarzem Rock und brauner Strickweste Holz. Er konnte das Blitzen ihrer Axt in der klaren Luft erkennen, auch wenn sie weit entfernt war, und gleich danach kam das >Hack<. Und einen Moment streifte ihn ohne ersichtlichen Grund ein sonderbares Gefühl des Unbehagens, wie ein dunkler Mottenflügel der Angst, der eine Sekunde lang tief in seinem Gehirn flatterte. Dann grinste er wieder und nahm sein zerknittertes Jackett auf. »Madam«, sagte er leise und schüchtern, »Madam, könnten Sie mir wohl einen Schluck Wasser geben?« Er kicherte Jnd ging mit leichten, ausholenden Schritten den Hang hinab auf das Feld zu. Sie hackte immer noch Holz, als er in den Hof kam. Die langstielige Axt blitzte mit geübtem Schwung am Ende ihrer dürren, heuschreckenartigen Arme, welche die Sonne noch tiefer gebräunt hatte als seine eigenen. Die Axt traf jedesmal, wenn sie niedersauste, und •128
die Scheite fielen säuberlich in der Mitte gespalten zu Boden. »Madam . . .«, sagte er und blieb ein paar Schritte seitlich von ihr stehen. Sie spaltete in aller Ruhe noch ein Scheit, dann lehnte sie die Axt gegen den Hackstock und drehte sich zu ihm herum. Ihr Gesicht war so alt wie die Geschichte selbst und runzelig wie der gepflügte Ackerboden. Man konnte ihr Alter nicht schätzen, aber eine seltsame Vitalität schien durch die äußere Hülle zu glimmen, wie ein Feuer unter der Asche, das immer noch von einer versteckten Kohle genährt wird. »Was kann ich für Sie tun?« fragte sie. Ihre Stimme war spröde, aber kräftig, und sie hatte eine lässige Aussprache. Dennoch schienen die dunklen, ruhigen Augen unter den faltigen Lidern ihn spöttisch anzusehen. »Könnte ich wohl einen Schluck Wasser haben, Madam?« »Die Pumpe ist da drüben.« Er drehte sich um. Er hatte die Pumpe auf dem Herweg gesehen und war absichtlich von der anderen Seite in den Hof gekommen. Er ging hinüber und trank, indem er die Hand an den Wasserstrahl dicht unter dem Ausflußrohr hielt. Während er trank, spürte er die ganze Zeit ihren Blick; und als er sich umdrehte, sah sie ihn immer noch an.
DAS AMULETT
»Danke, Madam.« Er lächelte ihr zu. »Ich würde gern - ich weiß, es ist eine dämliche Frage, Madam, aber könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich bin?« »Spiney Holler«, sagte sie. »Ach, du liebe Güte«, sagte er. »Dachte mir doch, daß die Richtung nicht stimmte.« »Wo wollten Sie hin?« erkundigte sie sich. »Hm - ich war auf dem Heimweg nach lowa, Madam.« Sein schüchternes Grinsen war eine Antwort auf ihr Lachen. »Ich weiß, es klingt verrückt. Aber ich dachte, ich wäre auf einem Güterzug nach lowa. Ich wollte heim.« »Sie leben in lowa?« »Ganz in der Nähe von Des Moines.« Er seufzte und ließ die Schultern hängen. »Kann - kann ich mich setzen, Madam? Ich bin einfach erledigt - weiß nicht, was ich tun soll.« »Ein Brocken wie Sie? Setzen Sie sich, Junge —« Ihr hagerer Finger deutete auf den Hackstock, und er kam gehorsam wie ein Kind durch den Hof und setzte sich darauf. »Wie sind Sie hierhergekommen?« »Hm -« Er ließ den Kopf hängen. »Ich getrau mich's fast nicht zu sagen. Meine Leute werden es mir nie verzeihen. Ich sage Ihnen, Madam, es war wegen dieses Stechens in der
Seite.«
Er spürte mehr, als er es .sah, daß ein Funke von Interesse in ihr erwacht war, aber als er aufschaute, war ihr Gesicht gelassen. »- dieses Stechen, Madam. Ich hatte es schon, seit ich ein kleiner Pimpf war. Die Ärzte konnten nichts dagegen tun. Und dann schrieb mein Vetter Lee - er ist Handelsvertreter und kommt überall herum -, mein Vetter Lee schrieb also von diesem Doktor in St. Louis. Nun, meine Leute gaben mir das Fahrgeld und schickten mich nach unten. Ich kam an einem Samstag an, und der Doktor, der war nicht in seiner Praxis. Also ging ich in dieses Hotel.« Er sah sie an. Sie wartete, und die leichte Brise schlug ihr den Rock um den Körper. »Hm, Madam -« Er stockte. »Ich weiß, daß ich gescheiter hätte sein können. Aber ich konnte dieses kleine Hotelzimmer nicht mehr sehen, und da ging ich am Samstagabend aus, um dieses St. Louis mal kennenzulernen und - na ja, Madam, ich kam in Schwierigkeiten. Der Alkohol war schuld dran - außer, sie haben mir sonstwas in den Drink geschüttet - jedenfalls wachte ich am Montagmorgen auf und fühlte mich gottsjämmerlich, und das Geld meiner Leute war futsch.« Er seufzte stöhnend. »Und Sie werden es auch nie wieder tun.« 129
GORDON R. DICKSON
Der offene Spott in ihrer Stimme ließ seinen Kopf herumrucken. Sie stand da, die Hände auf den Hüften, dicht über dem eng gerafften Rock, und grinste auf ihn herunter. Zorn und Furcht Hammten mit einemmal in ihm auf, aber mit dem Geschick langer Übung verbarg er beides. »Junge«, sagte sie. »Sie sind mit Ihrem Märchen an die falsche Tür gekommen - setzen Sie sich!« sagte sie scharf, als er mit gekränktem Gesichtsausdruck aufstehen wollte. »Sie glauben wohl, ich würde einen Stromer nicht erkennen, wenn ich ihn vor mir habe? Ich - ausgerechnet ich! So, möchten Sie nun einen Drink?« »Einen Drink?« fragte er. Sie drehte sich um, ging zu der halboffenen Tür des Hauses hinüber und kam mit einem Einmachglas wieder, das nicht mehr ganz voll war. Sie reichte es ihm. Er zögerte, dann trank er. Seine Kehle brannte wie Feuer. Sie lachte über die Tränen, die ihm in die Augen traten, und nahm ihm das Glas ab. Dann trank sie, ohne jede sichtbare Reaktion, so, als sei die Flüssigkeit in dem Glas lediglich Milch. Danach stellte sie es auf dem Boden ab und kramte eine Zigarettenschachtel aus ihrer Tasche. Sie zündete sich eine an, ohne ihm das Paket anzubieten, und stand rauchend da, während sie über seinen Kopf hinweg auf die Felder hinausstarrte. 150
»Ich habe letzten Dienstag nach jemandem geschickt, als mein Charon draufging«, sagte sie nachdenklich. »Sie müssen dieser Jemand sein.« Er starrte zu ihr auf und hatte ein Gefühl, als stünde er plötzlich nackt
da. »Sie haben wohl'n Knacks?« fragte er grob, um wieder etwas zu sich zu finden, »'n Knacks oder sonstwas?« Sie drehte sich um und grinste ihn an. »Na, mein Junge«, sagte sie, »Sie sehen so aus, als könnten Sie für ein einsames altes Weib in den langen Winternächten, wenn's nichts zu tun gibt, ein großer Trost sein. Still!« fauchte sie scharf, als er den Mund wieder aufmachen wollte. »Kommen Sie mit mir in die Hütte«, sagte sie. »Ich muß drüber nachdenken.« Argwöhnisch, verwirrt durch die verschiedensten Gefühle in seinem Innern, aber doch neugierig, erhob er sich und folgte ihr nach drinnen. Das Innere der kleinen Hütte war trüb und düster und bestand aus einer einzigen Stube. Ein paar Stühle mit geraden Lehnen standen auf einem blitzblanken, mit Flickenteppichen belegten Holzboden. Er sah einen Kamin und einen runden Tisch mit vier Beinen. In den Ecken stand allerlei, aber das Dunkel war für seine sonnengeblendeten Augen zu stark, als daß er etwas erkennen konnte. Er meinte, daß es nach Katze roch, aber er sah nirgends eine Kat-
DAS AMULETT
ze; nur eine Eule - vermutlich aus- te, daß in dem Häufchen zweidreihundert Dollar sein mußten. gestopft - auf dem Sims über dem ne Hand zuckte darauf zu; und Kamin. sah die alte Frau an. Sie beugte sich vor. Ein Streichholz »Sehen Sie es sich an. Junge«, sa wurde angerieben, und eine Kerze sie. »Los. Sehen Sie es an.« flammte knisternd auf. Sie beleuchEr packte das Bündel und blätt tete die Tischplatte und das Gesicht es durch. Es waren vierzehn Zw der Alten, ließ aber den übrigen zigerscheine. Über den Tisch hinw Raum noch dunkler erscheinen. Ein trafen sich ihre Blicke. Er bemer ^.sonderbares Kribbeln kroch über seiwie dünn sie war, wie alt, wie nen Rücken. Er starrte die Kerze an. brechlich. War sie wirklich gebre Es war nur eine Kerze. Er starrte lich? ihr ins Gesicht - trotz aller Eigen»Nur Geld, Junge?« sagte sie s tümlichkeit war es nur ein Gesicht. »Geld«, sagte sie. »Sie glauben, daß tend zu ihm. »Nur Geld? Na, d Sie nur das brauchen, was, mein haben Sie es nicht schwer. Sie ledigen einen Botengang für m Junge?« und es gehört alles Ihnen »Was gäbe es sonst noch?« erwinochmal soviel, wenn Sie wie derte er, aber seine laute Stimme kommen.« klang am Ende recht dünn. Sie brach Immer noch stand er da und sah plötzlich in ein mißtönendes Gelächan. ter aus. »Sie wollen mehr wissen?« fr »Was es sonst noch gäbe, fragt er!« sie. »Ich sage Ihnen, was Sie für rief sie in das Zimmer, das sie umGeld tun müssen. Sie holen mir gab. »Was sonst?« Die Kerze flakfach mein Kochbuch von me kerte plötzlich heller auf und blenNachbarin Marie-Elaine.« dete ihn einen Augenblick. Als er Seine Stimme kam krächzend wieder sehen konnte, entdeckte er fremd aus seiner Kehle. zwei Dinge vor sich auf dem Tisch. »Was ist der Trick dabei?« Das eine war eine Lederschnur - wie »Aber, Junge, es ist kein Trick ein Schuhband mit einem kleinen bei«, sagte sie. »Ich habe M Säckchen daran - und das andere war ein dünnes Bündel mit Zwanzig- Elaine das Kochbuch geliehen, ist alles, und ich möchte, daß Si dollarnoten, raschelnd und neu, von mir holen.« einem Gummiring zusammengehalEr überlegte, und seine Geda l^ten. Er sah das Geld an, und sein 8 Gaumen wurde trocken, als er schätz- flitzten hierhin und dorthin wie
GORDON R. DICKSON
Wiesel auf der Jagd. Aber wohin er auch blickte, er sah Dunkelheit und Unbekanntes. »Wo wohnt sie?« fragte er. »Sie? Jenseits des Berges.« Sie sah ihn an und beugte sich über den Tisch und die Kerze zu ihm hinüber. »Geld, was mein Junge? Nur Geld?« »Ich meine -«, keuchte er, denn der Rauch der Kerze drang direkt auf ihn ein und erstickte ihn fast. »Was ist sonst noch dabei?« »Nur eine einzige Sache, Junge.« Ihre Augen hielten ihn fest. Sie waren alles, was er sehen konnte, und sie schillerten im Dunkel. »Etwas ganz Besonderes für Sie, mein Junge, wenn Sie es wollen. Sie haben letzte Nacht ein feines dunkles Ding gedreht; aber das reicht noch nicht.« »Wovon sprechen Sie?« »Ich spreche über Sie. Marie-Elaine hat sich mein Buch und meinen Charon ausgeliehen. Aber sie hat meinen Charon draufgehen lassen. Jetzt muß sie mir einen anderen besorgen, oder ich nehme ihren Azael weg Sie wissen nicht, wovon ich spreche, was. Junge?« »Nein -«, keuchte er. »Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Das gehört zu den Regeln. Sie nehmen also das Amulett, das da vor Ihnen liegt, und tragen es. Mich geht's nichts an, wenn Marie-Flame es schafft. Ihnen das Ding abzunehmen. 152
Und ich kann auch nichts dafür, wenn Sie das Buch öffnen.« Seine Hand streckte sich aus, als hätte sie einen eigenen Willen, und nahm das Säckchen an der Schnur. Ein sonderbarer, säuerlicher Geruch strömte davon aus und drang ihm in die Nase. »Weshalb sollte ich Ihr" Buch öffnen wollen?« stieß er hervor. »Wegen der Pracht und der Macht, Junge, wegen der Pracht und der Macht.« Die Flamme züngelte zwischen ihnen hoch und blendete ihn. Er hörte, wie sie murmelte: »Dreimal wird sie es versuchen. Junge einmal durch das Fleisch - einmal durch Feuer und Grind - einmal durch die Dunkelheit. Aber tragen Sie das Amulett zum Schütze gegen sie und mich, und das Buch wird Sie nicht in Versuchung führen. So, ich habe Sie gewarnt, .vie es sich gehört.« Die Kerzenflamme sank auf eine normale Größe zusammen. Die Stube kam ihm wieder ins Bewußtsein. Die Alte beobachtete ihn, ein leichtes Grinsen auf den Zügen. Er stand zögernd da, die schlappe, ölige Lederschnur in der Hand. Er hatte ein warnendes Gefühl, wenn er an gefährliche Orte geriet schließlich hatte er schon einige davon erlebt. Wie eine Katze, so war er nun mal. Und irgend etwas hier flüsterte ihm zu, daß er verschwin-
DAS AMULETT
den sollte. Oder war es nur der Mottenflügel der Angst, der ihn gestreift hatte, als er über dieses Tal blickte? Er glaubte an nichts, nicht einmal an Hexen; aber - all das Geld für ein Buch - und nicht glauben hieß nicht unbelehrbar sein . . . und das machte alles möglich. Wenn Hexen so waren . . . Ein Schauer lief ihm über den Rücken; aber gleich danach kam heiß der Trotz und der Zorn über diese alte Oma, die glaubte, sie könnte ihn ausnützen - ihn! Ich werde es ihr zeigen, dachte er, und das Blut pochte heiß in seinen Schläfen. Er schob die Scheine in seine Taschen, hob das Amulett auf, hängte es sich um den Hals und verbarg es unter seinem Hemd. »Ja«, sagte er. »Lassen Sie mich nur machen!« Die Alte lachte. »Braver Junge!« sagte sie mit spröder Stimme. »Sie ' können es nicht verwechseln, wenn Sie es sehen. Ein schwarzes Buch mit einer goldenen Kette und einem goldenen Schloß daran. Sie werden es sehen, wie es ist. Sie kann Sie nicht verblenden.« »Sicher«, sagte er. »Ich hole es.« Er trat zurück, drehte sich um und ging aus der Tür. Er kam hinaus in die goldene Abendsonne. Sie lag prall auf den Feldern, und obwohl der Sonnenuntergang nahe war, mußte er nach der Dunkelheit drinnen einen Moment lang die Augen gegen die Helligkeit schließen.
Er wandte sich dem Berg zu, der mit seinen Zwergkiefern schwarz vor ihm aufragte. Ein staubiger Fußweg zweigte von der Hütte ab und schlängelte sich auf den Berg zu, wo er sich verlor. Er merkte, daß die alte Frau ihn von der Hüttentür aus beobachtete. »Bis später«, sagte er und winkte ihr kurz zum Abschied zu. Aber sie gab keine Antwort; und er wandte sich trotzig ab. In seinem Innern brannte heftiger Unmut. Der erste kühle Hauch des zur Neige gehenden Tages erfüllte seine Lungen, als er den Berg hinaufstieg. Er spürte, wie schön es war, am Leben zu sein; und das Geld drückte angenehm gegen seine Hüfte - er konnte es bei jedem Schritt den Hang hinauf durch die Tasche spüren. Aber das unangenehme Gefühl, das ihn bei der Begegnung mit der alten Hexe erfaßt hatte, ließ ihn nicht los. Der Pfad wand sich steil nach oben. Hin und wieder bildeten halbverborgene Felsbrocken eine Art Steintreppe. Der Berg hatte nicht sehr hoch ausgesehen, aber die Sonne war kaum noch am Horizont zu sehen, als er den Grat erreichte. Er blieb stehen, um Atem zu schöpfen und um zu überlegen, ob er weitergehen oder das Geld nehmen und zurück zu den Schienen gehen sollte. Unten, da wo er hergekommen war, legten sich lan133
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ge Schatten auf die Felder der alten Frau und auf die Eisenbahnkurve zur Rechten. Vor ihm lag das zweite Tal halb im Schatten des Berges, und nur ein kleines Haus, ähnlich wie das der Alten, nur etwas schmucker und mit etwas Buntem an den Fenstern, war noch nicht vom Dunkel erfaßt. Ein plötzlicher Schauer, der Angst und doch wieder keine Angst war, lief ihm über den Rücken, als er so über dem Flachland stand und vom letzten Dämmerlicht verschlungen wurde. Das hier war Hexenland. Er konnte spüren, wie der Glaube aus dem Boden unter seinen Armeestiefeln drang und ihn erfüllte. Etwas Unheilvolles brannte in der fernen Röte der untergehenden Sonne, und die aufkommende Nachtbrise strich aus dem Schatten der Kiefern hervor und streichelte seine Wange mit den kühlen, erregenden Fingern der Dunkelheit. Er stolperte mit einem sonderbaren Eifer den Pfad auf der anderen Seite des Berges hinunter. Er schien schnell vorwärtszukommen, aber das Tal lag ganz im Dämmerlicht, als er von den Kiefern ins offene Weideland hinaustrat. Der Himmel über ihm war blutrot vom Sonnenuntergang, und das Dach des Hauses wurde von dem Widerschein rötlichbraun getönt. Hinter den Fenstern schimmerte ein kleines gelbes Licht. 154
Er überquerte die Wiese und stolperte unversehens in einen kleinen Bach. Er durchwatete ihn, kletterte eine niedrige Böschung hinauf und kam in den Hof. Er war noch ein gutes Dutzend Schritte von der Tür entfernt, als sie sich öffnete. Eine Frau stand plötzlich im Eingang, nur als Silhouette sichtbar. Das Dämmerlicht war zu schwach, um ihr Gesicht zu zeigen, und hinter ihr drang der starke Schein einer Lampe ins Freie. Er kam an die Stufen, und im gleichen Moment flitzte etwas Großes, Graues an ihm vorbei und verschwand in der offenen Tür. Es hatte fast wie eine Eule ausgesehen, aber die junge Frau schien es nicht zu beachten. Er warf einen Blick auf die Stufen. Es waren drei, und da die Frau oben stand, war sie einen guten Kopf größer als er. Sie war noch ziemlich jung. Das dünne Sommerkleid schmiegte sich eng an ihre Formen und enthüllte einen schlanken, straffen Körper. Er blieb stehen und sah zu ihr auf. »Hallo«, sagte er. »Ich -« Eine plötzliche Schläue hielt seine Zunge davon ab, zu erwähnen, daß er wegen des Buches gekommen war. »Wissen Sie, ich glaube, ich habe mich verlaufen. Wo bin ich?« »Nicht weit von Peterborough«, sagte sie. Sie hatte eine tiefe, rauhmelodische Stimme. »Kommen Sie herein.«
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ging die Stufen nach oben, und sie trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Der schwache Duft eines sinnlichen Parfüms stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn ganz plötzlich daran, daß er ein Mann und sie eine Frau war. Wie im Haus der Alten blendete ihn das Lampenlicht einen Moment lang. Aber er faßte sich schnell; und als er aufsah, stand sie hinter einein Tischchen, nicht unähnlich jenem anderen, wenn auch kleiner, und betrachtete ihn. Eine Eule war nirgends zu sehen. Die Stube, wie im Haus der alten Frau, war voll von Schatten und unterschied sich von der anderen hauptsächlich durch eine große gelbe Katze, die vor einem Kamin saß. Ein kleines Feuer brannte und vertrieb die schnell zunehmende Nachtkühle. Auf dem Sims darüber stand ein großes schwarzes Buch, verschlossen mit einer goldenen Kette und einem goldenen Schloß. All das nahm er mit einem einzigen Blick wahr, aber es war völlig unwichtig neben dem Anblick der jungen Frau im Lampenlicht. Er hatte niemals erwartet, daß sie so schön sein würde. Sie war groß für eine Frau, und vollkommen graue Augen sahen unter feinen dunklen Brauen hervor, Ihr Haar hatte die Farbe der tiefsten Schatten und fiel in einer dichweichen Welle um die schlanken
Schultern. Ihre Lippen waren a ohne Schminke leuchtendrot, und Kinnlinie stieg zart aus dem sch ken Hals. Ihr Körper war run so, wie ihn Männer erträumen. »Sie sind Marie-Elaine«, sagte ohne zu denken. »Man nennt mich Marie-Elai nickte sie. »Sie haben eine verrückte Nachb über dem Berg«, sagte er. »Si Vorsicht bannte plötzlich seine ge. »Sie hat mir Ihren Namen nannt, aber sonst hat sie mir n von Ihnen erzählt.« Seine Sti klang ein wenig belegt bei dem sturm von Gefühlen. Sie lachte - nicht wie die alte gelacht hatte, sondern weich warm. »Sie ist alt«, sagte Marie Elaine. ist sehr alt.« »Zum Teufel, ja!« sagte er und te sie immer noch an. Und dann, langsam, wiederholte er es. » Teufel . . . ja . . .« »Sie sind ein Fremder«, meinte »Nennen Sie mich Bill.« Er sa über den Tisch hinweg an. »Ich auf einem Güterzug mit, und Bremser sah mich. Ich mußte be Haus der alten Dame abspri Ich bekam einen Schluck Wasse ihr. Sie sagte, hier entlang gin zur Stadt.« »Sie müssen müde sein.« Ihre me war weich wie Seide.
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»Ich bin vollkommen fertig.« »Setzen Sie sich«, sagte sie. »Ich mache uns Kaffee.« »Vielen Dank.« Er sah sich um und entdeckte einen Stuhl auf zwei schlanken Schaukelkufen, mit einer gedrechselten Lehne und einem dünnen dunklen Kissen auf der Sitzfläche. Er ging hinüber und setzte sich vorsichtig — das Ding hielt. Wasser plätscherte, und MarieElaine kam mit einem Kessel durch das Zimmer. Sie beugte sich über das Feuer, drehte einen Eisenstab mit Haken über die Flamme und hängte den Kessel daran. Das rote, flackernde Licht umspielte die glatte Linie ihres Körpers von der weichen Krümmung ihres Rückens bis zur Hüfte und das wilde Blut in ihm begann zu sieden. »Wie sieht es in Peterborough aus?« fragte er, nur um etwas zu sagen. »Es ist eine Stadt«, erwiderte sie. Sie stand auf, drehte den Kopf zu ihm herum und lächelte ihm zu, ein Lächeln, so heiß wie die Flammen des Feuers. »Eine kleine Stadt. Fremde kommen nicht oft hin.« »Und gefällt Ihnen das?« fragte er kühn. »Nein«, sagte sie sanft und sah ihn an. »Ich mag Fremde.« Er spürte, wie sein Herz langsam und schwerfällig pochte. »Was hat sie von mir erzählt?« »Wer?« Er sah sie verwundert an. 156
»Ach, die alte Vettel? Nicht viel.« Er hielt die Hände über die wärmenden Flammen. »Aber ich hatte nicht den Eindruck, daß sie besonders viel von Ihnen hielt.« »Das tut sie auch nicht«, sagte Marie-Elaine. »Sie haßt mich. Und sie hat ihren Charon verloren.« »Manche dieser alten Schrullen sind nun mal so.« Es war eine verrückte Unterhaltung. Er unterdrückte den Impuls, den Kopf zu schütteln, bis er wieder klar war. Er konnte doch mit Frauen sonst besser umgehen. Das Klirren von Metall drang ihm ans Ohr. Sie nahm den Kessel vom Feuer. Hatte das Wasser schon gekocht? Sie trug ihn in den Schatten. Er spürte, daß ihn Augen anstarrten; und als er nach unten sah, bemerkte er, daß es die Katze war. Groß und sandfarben saß sie aufrecht vor dem Feuer und fixierte ihn. Ihre halbgeschlossenen Augen schienen ihn verträumt zu beurteilen. »Sie leben hier ganz allein?« fragte er. »Ganz allein.« Ihre Stimme erreichte ihn, und er blinzelte in das Dunkel, um zu sehen, wo sie stand. »Hat sie Ihnen keine Warnung vor mir erteilt?« »Warnung?« fragte er. Die Katze bewegte sich plötzlich. Er hörte das leise Tappen von Pfoten auf dem Boden, und dann sprang sie auf seinen
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"6ß. Er zuckte bei dem Gewicht zusammen, doch dann hob er die Hand, um sie zu streicheln. Aber sie •ümpfte plötzlich die Nase, fauchte tnd sprang wieder auf den Boden. »Warnung?« fragte er. »Nein. Weshalb?« Marie-Elaine lachte. »Nur so«, sagte sie. Sie kam aus den Schatten ins Licht des Feuers, eine sonderbar aussehende irdene Kaffeekanne in einer Hand und zwei schwarze Porzellantassen in der anderen. Sie nahm auf der Sitzbank ihm gegenüber Platz, füllte beide Tassen und reichte ihm eine davon. Er nahm sie, und sie lag ihm heiß in der Hand. »Warum hat sie es auf Sie abgesehen?« fragte er. »Oh, das ist rein geschäftlich.« Sie warf ihm über die kleine, flammenerhellte Entfernung ein sattes Katzenlächeln zu. »Wir verkaufen unsere Waren den gleichen Leuten.« »Ja«, sagte er. »Ihr gutes Aussehen hat wohl gar nichts damit zu tun?« Er beobachtete sie, um zu sehen, wie das Kompliment einschlug. Sie neigte das von dunklem Haar eingerahmte Gesicht ein wenig zur Seite, und ihre umschatteten Augen erwärmten sein Blut. »Mein Aussehen?« »Sie sind eine Puppe«, • sagte er, in der plötzlich rauhen Stimme, die gewöhnlich bei Frauen so gut wirkte.
Ihr Lächeln wurde etwas tiefer. war alles. Es genügte. »Noch etwas Kaffee?« fragte sie. »Ja, bitte.« Er hielt ihr die Tasse Ihre Finger berührten seine Hand brannten sie, während sie die bra Flüssigkeit in seine Tasse goß. »Milch und Zucker?« fragte sie. »Schwarz.« Er schüttelte den K und trank. Der Kaffee schmeckte ders als alles, was er bisher get ken hatte. Köstlich. Als er den krümmten Boden anstarrte, me er, daß er ihn ausgetrunken h ohne die Tasse ein einziges Mal den Lippen zu nehmen. »Noch etwas?« Er nickte, und schenkte wieder nach. Diesmal er die Tasse fest, ohne zu trin und wärmte sich die Hände da Über den Rand hinweg sah er Frau an. Mit dem Kaffee im Inn erschien ihm das Feuer heller und - sie stand vor ihm und hatte nicht bewegt, aber als er sie nun obachtete, schien sie, ohne einen M kel zu rühren, näher und näher schweben und alle seine Sinne zu fen. Sein Kopf schwirrte. Er den wilden, schwachen Duft i Parfüms; und ebenso wie die K im Haus der alten Frau, drängte alles andere in den Schatten. »Sagen Sie -« Es war ihre Stim die heiser zu ihm herüberklang. »Was?« fragte er und starrte sie blendet an.
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»Würden Sie etwas für mich tun?« »Etwas? Was denn?« Er wäre aufgestanden und zu ihr hingegangen, aber das Amulett hielt ihn fest, als sei es ein schweres Gewicht um den Hals. »Sie sollten nicht fragen«, hauchte sie. »Einfach irgend etwas.« Sein Kopf drehte sich. Er spürte, daß er dahintrieb, als sei er vollkommen betrunken. »Sie müssen mir erst sagen -«, keuchte er. Plötzlich war die Verzauberung vorbei. Das Zimmer wirkte wieder normal, und sie wandte sich mit der Kaffeekanne von ihm ab. Er beugte sich in seinem Sessel ein wenig zu ihr hinüber, aber etwas hatte sich zwischen sie gestellt. »Gibt es in Peterborough ein Hotel?« fragte er. »Kein Hotel«, erwiderte sie achselzuckend und stellte die Kaffeekanne zurück an ihren Platz. »Schlafen Sie hier«, sagte sie gleichgültig. Seine Brust juckte mit einemmal, und als er die Stelle kratzen wollte, schlössen sich seine Finger durch das Hemd um das Amulett. Hastig senkte er die Hand. »Oh, das ist nett von Ihnen«, sagte er. »Ich finde es wirklich großartig.« Die Worte kamen plump heraus, und er trank seine zweite Tasse Kaffee in großen Schlucken, um seine Erregung und Verwirrung zu verbergen. Nun, da er auf das Amulett 138
aufmerksam geworden war, juckte und brannte es wie ein lebendiges Ding. Es mußte irgend etwas enthalten, wogegen er eine Allergie besaß. Einmal bei einem Picknick war er von Gifteiche ganz aufgeschwollen gewesen. Als er von seinem Kaffee aufschaute, bemerkte er, daß sie aufgestanden war. »Hier«, sagte sie. Sie nahm die Lampe vom Tisch, und ihr Schein erhellte ein Bett an der Wand hinter ihr. »Hier schlafe ich. Aber ich habe noch eines - da drüben.« Als sie durch das Zimmer ging, teilten sich die Schatten vor ihr, und er sah an der gegenüberliegenden Wand eine schmale Pritsche aus schwerem Holz mit einem Gitterrost, der unter einer alten Matratze vorstand. »Ich hole Ihnen etwas Bettzeug.« Sie drehte sich um und ging auf eine dunkle Türöffnung in der hinteren Wand der Stube zu. Der Kater miaute plötzlich an der Vordertür, und sie sagte über die Schulter: »Lassen Sie ihn bitte hinaus!« Dann war sie durch das dunkle Viereck verschwunden. Er stand auf und spürte die Erleichterung, als das Amulett von seiner Haut wegpendelte. Er ging an die Tür und öffnete sie. »Da, Mieze«, sagte er. Sie kam nicht sofort. Als er durch das Halbdunkel starrte, entdeckte er plötzlich, daß grüne Augen ihn reg-
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los ansahen. »Komm schon! MieDie kühle Nachtluft blies ihm durch die offene Tür ins Gesicht, frostig und antiseptisch. Den Rücken dem Zimmer zugewandt, nestelte er die obersten Knöpfe seines Hemdes auf und holte das Amulett mit seinem kleinen Gewicht heraus. Einen Moment lang flackerte das Feuer hinli&.ter ihm hoch auf, färbte die halboffene Tür vor ihm und beleuchtete auch ihn. Er sah an sich herunter und entdeckte einen großen häßlichen Fleck auf der Haut, da wo das Amulett gewesen war. In Gedanken hörte er wieder das Murmeln der alten Hexe - einmal durch das Fleisch - einmal durch ; Feuer und Grind - Wut schoß mit einemmal in ihm hoch. Glaubte sie etwa, daß sie ihm mit diesem Zeug Angst einjagen konnte? Glaubte sie, er würde es nicht wagen -? Er ruckte mit einem Knurren an dem Amulett. Die Schnur riß, und er warf das Ding in die Dunkelheit hinaus. Plötzliche Erleichterung überkam ihn - und zugleich erwachte die Nacht draußen zu Leben. Mit tausend wis; pernden Stimmen drang ihr Ruf auf ' ihn ein, erteilte ihm Ratschläge, belehrte ihn, verlockte ihn. Aber er war jetzt zu sehr auf der Hut, um sich hereinlegen zu lassen, zu schlau, um überlistet zu werden. Klug, ganz
klug drehte und wand und ring sich sein Verstand um die eige Achse wie eine Schlange, die hu rig inmitten von Leckerbissen und nur wartete, weil sie noch n wußte, was sie nehmen sollte. Hitze seines Körpers war jetzt v bei, ebenso die Lust seines Fleisc nach Marie-Elaine, und nur sein rissener Verstand arbeitete. Er w de es ihnen zeigen. Er würde es nen beiden zeigen. Plötzlich kam ihm zu Bewußts daß er immer noch in der offe Tür stand. »Mieze?« rief er. Die grünen Au waren verschwunden. Er ging der ins Haus und schloß die Tür ter sich. Die Frau richtete sein B »Haben Sie Azael hinausgelasse fragte sie. »Ja«, sagte er. Etwas Besseres sie, dachte er, als er sie ansah was Besseres gibt es hier für m Ich werde dir zeigen, wer wen giert, dachte er. Sie lächelte ihm weshalb, das wußte er nicht. »Seien Sie nicht voreilig«, sagte und sah ihn an. »Wer ist denn voreilig?« erwiderte »Sie nicht«, sagte sie. Und sie plötzlich von ihm weg in die Sc ten bei ihrem Bett gehuscht. »Machen Sie das Licht aus«, d ihre Stimme zu ihm. Seine Fi fummelten an der heißen kle Metallschraube herum, und der h
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weißglühende Zylinder wurde dunkel. Er sah durch die Dunkelheit wieder zu ihrem Bett hinüber, aber das Licht des Feuers tanzte wie eine Schranke zwischen ihnen. Er trat an sein Bett und setzte sich auf die harte, gesteppte Unterlage. Er zog Schuhe und Socken aus und horchte, ob sie sich entkleidete — aber er hörte nichts. Er schlüpfte unter die Decken, immer noch mit Hemd und Hose bekleidet - aber nachdem er sich zugedeckt hatte, überlegte er es sich anders und zog das Hemd aus. Er ließ es einfach neben das Bett fallen und ließ den Oberkörper unbedeckt. Er lag auf dem Rücken und wartete auf den Schlaf. Aber er wollte nicht kommen. Das Feuer tanzte. Er fühlte sich mit einemmal von dem Kaffee wie berauscht und hellwach. Durch das Wegwerfen des Amuletts waren seine Gedanken unheimlich leicht und schnell geworden, und ein starkes Machtgefühl überkam ihn. Hexen oder Weiber, dachte er, sie konnten es nicht mit ihm aufnehmen. Weiber oder Hexen . . . beinahe hätte er in der Dunkelheit über den unwiderstehlichen Ansturm seiner dahinrasenden Gedanken laut aufgelacht. Die Ereignisse des Tages flirrten wie ein zu schnell ablaufender Film an seinen Augen vorbei. Er sah den Jungen, den Güterzug, die Alte am Fuß 140
des Berges. Wieder kletterte er den steinigen, bewaldeten Hang hinauf und spürte das Unheil im Sonnenuntergang. Aber er wunderte sich nicht mehr darüber. Er akzeptierte es und fühlte das Echo wie von einem übereifrigen Resonanzboden in seinem Innern ausstrahlen. Der dunkle Fisch seiner Gedanken schwamm in der schwarzen Flut des Schweigens, das ihn umgab. Sein heftiges Verlangen nach Marie-Elaine, nach ihrem weiblichen Körper, war vorbei. Jetzt lockte ihn etwas Tieferes, Größeres, Stärkeres an. Es war ein Geschmack, ein Gefühl, ein Hunger, eine Befriedigung - ganz genau die gleiche, die er gespürt hatte, als er den Kleinen zusammenschlug. Es war, als hätte sich plötzlich ein Mund in ihm geöffnet, von dessen Existenz er keine Ahnung gehabt hatte und der nun gefüttert werden wollte. Irgendwo in seiner Umgebung war die Nahrung, die ihn befriedigen würde, der Trank, der seinen Durst stillen würde. Er lag still in der Dunkelheit und horchte. Von der anderen Seite der Stube kam das weiche und gleichmäßige Atmen - eine schlafende Frau. Seine Augen waren weit offen und durchsuchten das Dunkel; und während er sich umsah, wurde es im Zimmer heller. Zuerst verstand er nicht, weshalb. Doch dann sah er, daß sich die bei-
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den Fenster des Raumes inmitten des Dunkels schwach und geisterhaft abzeichneten; und als er durch das nähere hinausstarrte, merkte er, daß der Mond über den Berg kam. Sein metallisch kalter Rand stand knapp über dem Grat aus Felsen und Büschen, und er sah, daß Licht wie Quecksilber von ihm ausströmte, den Hang herunterfloß und die Spitzen und Äste der dunklen Kiefern hervortreten ließ. ftEr starrte wieder in die Stube. Dunkel war sie immer noch, vollkommen in Undurchsichtigkeit getaucht. Aber durch irgendeine schwache Lichtspiegelung hob sich das Buch auf dem Kaminsims deutlich von der düsteren Wand dahinter ab. Die Goldkette schimmerte im Halbdunkel durch das Spiel eines merkwürdigen Lichtreflexes. Hunger und Durst würgten ihn. Er spürte den Drang, große Dinge zu tun, und ein Gefühl des Triumphes und der wilden Freude trieb ihn aus dem Bett. Er stand aufrecht im Zimmer, dann bückte er sich schnell, hob Socken, Schuhe, Hemd und Jackett |fAur und zog sie an. Als er zum Gehen fertig war, zog das Buch auf dem Kaminsims seine Blicke wieder wie ein Goldschatz an. Mit drei langen Schritten war er dort und klemmte es sich unter den Arm. Es war schwer - schwerer, als er gedacht hati^te; aber mit der wilden Energie, die
jetzt Besitz von ihm ergriffen hatte, hätte er auch ein Dutzend davon mit Leichtigkeit getragen. Er ging schnell an die Tür, öffnete sie einen Spalt und schlüpfte in die Nacht hinaus. Der Mond stand am Himmel, und man glaubte, in einen Tag hinauszutreten, der nur das Negativ eines Filmes darstellte. Die Sonne würde ihn kopieren, wenn die dunklen Stunden zu Ende gingen. Kaltes Licht überflutete Flachland und Berge, und noch bevor er ein Dutzend Schritte von der Hütte zurückgelegt hatte, waren seine Augen daran gewöhnt, und er fühlte sich in der Nacht zu Hause. Er ging schnell, schien sie auf Zehenspitzen mühelos zu durchschwimmen, und mit der scharfen, kalten Luft in den Lungen überkam ihn ein berauschendes Ungestüm. Das Buch fühlte sich durch die Schwere, mit der es ihm im Arm lag, kostbar an. Die Wärme, die von dem dicken Ledereinband ausstrahlte, schien durch das Hemd in seine Seite zu dringen und erfüllte ihn mit einer sonderbaren, fiebrigen Hitze. Er preßte es noch enger an sich, so daß der Schlag seines Herzens daran widerhallte. Im Laufschritt erreichte er den Berg zwischen den Mulden mit ihren beiden Hütten - aber er bewegte sich ganz mühelos, als handelte es sich nicht um einen steilen Hang, sondern um ebenes Land. Und am Berggipfel 141
GORDON R. DICKSON
blieb er stehen, nicht weil er außer Atem war, sondern weil er jetzt das Buch und das Geld hatte und weil die Bahnschienen vor ihm im Mondschein lagen und weil ein Güterzug kommen würde, noch bevor die Dunkelheit verflogen war. Er hatte gewonnen, aber gleichzeitig zerrte etwas an ihm, und er ging nur mehr zögernd weiter. Schließlich stand er unentschlossen am Gipfel. Der Nachtwind blies ihm kalt ins Gesicht; und plötzlich verlosch das Fieber, das ihn bis hierher gebracht hatte, und er stand mit einem Male kühl und klardenkend da, als sei er eben aus einem langen Nachtschlaf erwacht. Betäubt, bestürzt, beraubt stand er da und starrte um sich. Was war geschehen? Die nackte Erde, das nackte Mondlicht und der nackte Wind gaben ihm keine Antwort. Der dunkle Zauber, der in ihnen gewohnt hatte, war mit einemmal fort, ihm entrissen, als hätte er nie existiert. Und er stand mitten in der Nacht allein auf einem Berggipfel des Ozarkgebiets und hielt ein abgenutztes, altertümliches Buch in der Hand. Mit zitternden Fingern schob er das Buch unter einen Arm und griff in die Hüfttasche. Steifes Papier raschelte unter seinen Fingern, und er zog es heraus, um es im Mondlicht anzusehen — dünne Zwanzigdollarnoten. 142
»Geld!« murmelte er. Und dann, in einem Aufwallen wilder Enttäuschung und Wut, schrie er plötzlich: »Geld!« und warf es weit weg in den Nachtwind. Die Scheine flatterten, fielen dunkel ins Mondlicht, verloren sich in den Schatten der beiden Hänge. Er riß das Buch hervor und hielt es geschlossen mit beiden Händen vor sich. War es das? War das ein Weg zu ihrem reichen und geheimnisvollen Leben? Sein Herz klopfte. In den Tiefen der Mulde hinter ihm kräuselte sich Rauch aus dem Kamin von MarieElaines Hütte. Vor ihm lag die Hütte der älteren Hexe ebenso still und dunkel da. Unter dem Nachthimmel schienen sie und die ganze Landschaft im Rhythmus seines Herzens zu pochen und zu schimmern — und zum Nachhall einer mächtigen, lautlosen Trommel, die weit weg war, aber wartete. Das Buch verbrannte ihm die Finger. »Weshalb nicht«, murmelte er. »Weshalb nicht?« Langsam schloß sich eine Hand um den Deckelrand des Buches. Der Geschmack, den er im Mund gehabt hatte, als er den Kleinen hinter dem Werkzeugschuppen zusammengeschlagen hatte, war jetzt wieder da. Das rote Herdfeuer spielte noch einmal um die Linien der gebückten Marie-Elaine. Sie warteten hinter dem Buchdeckel auf ihn. Er riß es auf.
DAS AMULETT
iwarzer Blitz sprang aus der Seite vor ihm auf und blendete ihn. Er stolperte zurück, ließ das Buch fallen und schrie doch in Ekstase auf. Geblendet tastete er auf allen vieren danach und miaute. Das ferne Trommeln wurde lauter. Der Trommler kam näher. Die Landschaft verschmolz im Mondlicht und ischwamm um ihn. Er bemerkte (fremdartige Gerüche und große Dinge, die sich bewegten. Er kroch in den Schatten eines Umhangs, und die beiden Hexen waren irgendwie da und Ijtanden im Hintergrund. Aber die Blindheit verbarg das Buch wie ein Vorhang der Dunkelheit vor ihm, und b>us diesem Vorhang kam eine Frage. »Ja!« rief er eifrig, sehnsüchtig. Und die Frage wurde ihm noch ein|mal gestellt. »Ja, ja!« rief er. »Alles! Macht mich so klein und winzig, wie ihr wollt, aber macht mich zu einem von euch.« Und wieder die Frage ... »Ich will es!« rief er. »Ich werde es tun! Für immer und ewig ...« Dann teilte sich die Dunkelheit und nahm ihn auf. Und noch während j.er den Anfang seiner Straße vor sich
sah, spürte er, daß er kleiner wu zusammenschrumpfte. Einen le Augenblick sah er ihn vor sich, stolzen, geschmeidigen und saub Körper mit den muskulösen, son gebräunten Armen, mit seiner K und seiner Freiheit; und dann ren seine Glieder zu Knochen Sehnen zusammengeschrumpft, dichtem Pelz. Sein Bauch verschw seine Schenkel streckten sich, und wuchs ein langer Schwanz. Und die beiden Hexen kreis und heulten vor Gelächter. Sie den wie Schwestern Arm in Arm wie Schwestern des Bösen, und füllten den Nachthimmel mit i rauhen, unmäßigen Gelächter. »Narr«, kreischte die Alte, ließ Junge los und rannte zu ihm, ihm ein Halsband mit Leine um pelzigen Katzennacken zu stre »Ein Narr, der sich einbilde könnte seinen Verstand mit uns vergleichen! Jetzt bist du mein ron, mein Knecht und Bote,, Meßdiener! Narr, der du einst Mensch warst, glaubst du, du k test essen, bevor du bei Tische dient hast?«
Das Hexend von Fritz Leiber
"Als Giles Wardwell am Samstagmorgen aurwachte und Joan nicht neben ihm lag, als er sie nirgends im Haus fand und auch keine Nachricht auf dem Küchenblock entdeckte, als auf sein Klopfen an der Labortür keine Antwort kam und ein Blick aus dem Fenster zeigte, daß der blaue Wagen vor dem Haus stand, da war sein erster Impuls, die Sache sofort der CAMZ zu berichten. Der finstere alte Mister Copps hatte persönlich die ganze CAMZ-Belegschaft darauf aufmerksam gemacht, daß ihrer aller Leben wie auch das Leben ihrer Lieben von Seiten der amerikanischen Feinde zwar nicht ernstghaft, aber doch immerhin bedroht ' war, nun da Copps, Arbuthnot, Mather und Zim Public-Relations-Dienste für das Secondman-Raketen-Projekt leisteten. Mister Zim, der trotz seiner türkischen Herkunft wie ein gestrenger alter Puritaner aussah, hatte ihnen aus direkter Quelle ein paar schaurige Einzelheiten über russische Spionagemethoden erzählt. , Kurz bevor sie gestern zu Bett ge-
gangen waren, hatte Joan Giles gefragt: »Besitzen die Russen Hypnose-Strahlen? Ich habe das Gefühl, jemand versucht, meine Gedanken zu kontrollieren.« Wenn er jetzt an seine Antworten dachte, wurde ihm ganz schlecht. »Höchstens in ScienceFiction-Zeitschriften«, hatte er scherzhaft auf ihre erste Frage gesagt. Und auf die zweite: »Gott steh uns bei, wahrscheinlich deine Schwiegermutter.« Giles beschloß, die Brille aufzusetzen und sich noch einmal genauer umzusehen, bevor er die CAMZ anrief. Er konnte das rote Nachthemd, das Joan trug, nicht finden, aber er fand die kleine Notiz, die sie verfaßt und auf den Nachttisch gelegt hatte. »Lieber Giles« (so lautete sie), »Ich mache Ferien von unserer Ehe, vielleicht einen Monat lang, vielleicht für immer. Falls es das letztere ist, sage ich dir noch Bescheid. Du weißt, daß ich nicht zu euch passe. Auf alle Fälle kann ich deinen langweiligen Konformismus — und den deiner Mutter! — nicht mehr ertragen. Vielleicht 145
FRITZ LEIBER
öffnet mir das Zusammensein mit anderen Menschen die Augen. Du kannst ehrbar bis auf die Knochen bleiben und den Leuten erzählen, ich würde Mable in Wisconsin besuchen, aber dort bin ich nicht. Alles Gute, Joan.« Als Giles das gelsen hatte, wurde Rußland zu einem Namen in den Geographiebüchern und die CAMZ rückte weit in die Ferne. Dafür war eine alte Furcht zur quälenden Wirklichkeit geworden: das Wissen, daß er fünfzehn Jahre älter als Joan und ein echter Bostoner war und daß eine Vollglatze vom fünfunddreißigsten Lebensjahr an nicht das gleiche war wie der romantisch glattrasierte Schädel eines Yul Brynner. Er hatte schon hin und wieder zuvor befürchtet, daß Joan unglücklich war, obwohl das keineswegs seine schlimmste Furcht war. Er hatte gewußt, daß sie seine Mutter nicht ausstehen konnte, obwohl sie die alte Dame nur zwei- bis dreimal in der Woche sahen. Er hatte das Gefühl gehabt, daß Joan in letzter Zeit trotz ihrer Bridgespiele und ihres Kosmetik-Hobbys rastlos war. Und daß sie nicht zu ihnen paßte, stimmte genau — sie hatte um Boston keine richtigen Freundinnen bis auf die drei amüsanten, aber gesellschaftlich unmöglichen Frauen, mit denen sie Bridge spielte. 146
Er fragte sich, wohin sie gegangen sein mochte. Mister und Mrs. Bishop — Joans Eltern — waren beide tot, und es waren weder Onkel, Tanten oder enger verwandte Vettern und Kusinen da. Mable war nur ihre Zimmerkollegin vom College, und sie erwähnte sie selten. Joan hatte ein eigenes kleines Bankkonto. Während er über diese Dinge nachdachte, ging er ganz automatisch, immer noch mit seinem olivgrünen Schlafanzug bekleidet, in einen anderen Teil des Hauses, bis er vor der Tür zu Joans Labor stand. Er zögerte. Er hatte immer gespürt (auch wenn Joan nie einen Ton gesagt hatte), daß sie es nicht gern hatte, wenn er in ihre Parfum-Destillerie eindrang, und er hatte besonders darauf geachtet, nicht gegen ihren Wunsch zu verstoßen. Außerdem verband sich der Raum in seinem Innern mit einer tiefen Furcht vor ihr. Dann öffnete er die Tür und ging hinein. Sein erster Eindruck war Düsterkeit — die Jalousien waren dicht geschlossen — und unnatürliche Wärme. Die kleinen Kolben und Gläser, der elektrische Mixer für die Cold Cream und die genau ausgeklügelten Destillieranordnungen schienen alle auf dem gleichen Platz wie sonst zu stehen. Er schaltete das Deckenlicht ein.
DAS HEXENEI
Dann sah er es: eine Plattform mit silbrigen Seiten, von der dicke Kabel ausgingen und auf der ein riesiges weißes Ei von der Größe seines Kopfes lag — ja, sein erster phantastischer Gedanke war, daß diese schreckliche Anordnung dazu diente, seine Kahlheit lächerlich zu machen. Er trat näher. Die Hitze strahlte direkt von der Plattform aus — der bucklige, weiche rötliche Stoff, auf dem das Ei lag, war so heiß, daß man ihn fast nicht berühren konnte. Und es schien eine leichte Vibration von ihm auszugehen, die schwach an den Fingerspitzen spürbar war. Das Ei sah erstaunlich echt aus. Winzige Poren saßen in seiner Oberfläche. Aber es war viel zu groß für ein Straußenei oder sonst etwas, das Giles sich vorstellen konnte. Und er war überzeugt davon, daß die Temperatur sehr viel höher war als bei normalen Brutvorgängen. Er wollte sie verringern, überlegte, wie sich das wohl bewerkstelligen ließ, und beschloß dann, es lieber nicht zu versuchen. Er legte das Ohr an die Schale, konnte jedoch im Innern keine Bewegungen wahrnehmen. Neben der Plattform stand eine hohe Pappdeckelschachtel, die groß genug war, um das Ei aufzunehmen. Sie war außen silbern, zur Hälfte mit Holzwolle gefüllt, und ringsum la;en Silberschleifen.
Giles erkannte die Schachtel. hatte sie von ihrem letzten Br Mittwoch mitgebracht und ihm klärt, daß es sich um ein Nipp getüm handelte, das sie nie w ansehen wollte und das sie w scheinlich seiner Mutter zum Geb tag schenken würde. Reichlich verwirrt, klammerte Giles an zwei Gedanken, die einigermaßen vernünftig erschie erstens — eine Frau, in deren L ein Wunderei ausgebrütet w ging kaum freiwillig einen Tag daheim weg, geschweige einen ga Monat oder gar für immer, egal, sehr sie ihren Ehemann verabsc te; zweitens — wenn jemand e über Joan oder das Ei wußte, eine oder mehrere ihrer drei Br partnerinnen: Mary Nurse, M Cory und Alice Irgendwie — Gre Nein.Redd!
Eine halbe Stunde später hatte Giles in aller Hast angezogen, f tig rasiert, eine Tasse Kaffee ge ken — wobei er einen guten Eßl Kaffeepulver aufgebrüht hatte — sich mit dem blauen, nüchtern ch losen Wagen von seiner Woh »hinter Back Bay<, wie er sich a drücken pflegte, zu Margo Corys möglicher Adresse in der P Street auf den Weg gemacht. war in Bostons überfüllten-!, anr gem North End.
FRITZ LEIBER
Keine der drei Frauen stand im Telefonverzeichnis, und Joan schien kein Adreßbuch zu führen. Margo Corys Adresse hatte er auf einem leeren Umschlag entdeckt, der hinter Joans Schreibtisch gerutscht war. Giles fuhr nie sehr gern ins North End, und er wollte auch nicht an das Ei denken, denn es war, milde ausgedrückt, einfach unmöglich. So überlegte er sich während der Fahrt, für wie langweilig und konformistisch man ihn halten konnte. Er entschied, daß er dem Durchschnitt von Boston angehörte. Zum Beispiel hatte er kürzlich das Schachspielen aufgegeben und sich statt dessen der Vogelkunde gewidmet, weil Mister Mather festgestellt hatte, daß zu viele slawische und baltische Typen Schach spielten. »Semiten natürlich auch«, hatte Mather seinen Vortrag tadelnd beendet. »Ich glaube, wir können es als ein rein russisches Spiel betrachten.« Konnten seine sonntäglichen Vogelbeobachtungen etwas mit dem Ei zu tun haben? Noch etwas, womit sie ihn lächerlich machen wollte? Giles glaubte nicht, daß er seinen Feldstecher je auf einen Vogel gerichtet hatte, dessen Eier größer als eine Kaugummiblase waren. Margo Corys Wohnung befand sich in einem ganz neuen, schmalen, hohen Mietshaus mit Glaswänden. Als er mit dem neumodischen, mit einer / 148
Glasrückwand versehenen Aufzug in den zwölften Stock fuhr, wurde die alte Nordkirche und dann der grüne Fleck des Copps-Hill-Friedhofs sichtbar. Margo Corys Wohnung war mit hellen Schwedenholzmöbeln eingerichtet, die in sonderbarem Kontrast zu dem dunklen Ton des Glases standen. Margo selbst war barfüßig, hatte einen grauen Leinenmorgenmantel um sich gewickelt, und ihr kurzes Haar war zerzaust wie bei einem Jungen. Giles zuckte zusammen, als er sah, wie jung sie war, und daran dachte, daß Joan auch nicht älter sein konnte. Er sagte sich vor, daß er ihnen wie ein alter Tattergreis vorkommen mußte. Erst dachte er, daß sie ein regloses, hellbraunes Kätzchen an die Brust drückte, doch dann sah er, daß es seltsam große Schultern und spitze, dolchartige Zähne hatte, während die Vorderpfoten an Hände erinnerten. Margo bemerkte seinen Blick und kicherte. »Kitty ist nur ein Steifftier und besteht ganz aus Plüsch«, sagte sie. »Wußten Sie, daß Teddybären Steifftiere sind, die nach Teddy Roosevelt benannt wurden? Das hier ist eine Art Säbeltiger. Hier, sehen Sie!« Sie hielt ihm das Tier kurz hin. Bei dieser Bewegung öffnete sich das Oberteil ihres Morgenmantels und enthüllte, daß sie in dieser Gegend alles andere als jungenhaft war und
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Er hätte normalerweise viellei lußerdem vermutlich die Absicht muffig auf diese Ehrlichkeit reagi hatte, eine Brause zu nehmen. Sie Statt dessen spürte er, daß sich schien die Blöße gar nicht zu beseinem Inneren etwas öffnete, das merken. den ganzen Tag trotz des Eies u »Nein, ich habe Joan seit Mittwoch der anderen Schocks sorgfältig v nicht gesehen«, erklärte sie Giles auf schlossen gehalten hatte. seine Frage. Sie ging nervös auf die Iplaswand zu. »Weshalb kommen Sie ' »Miß Cory«, sagte er, »glauben S daß meine Frau mit Zauberei heru nicht hier neben mich«, sagte sie mit stümpert?« einem merkwürdigen Lachen, »und »Herumstümpert?« rief das M genießen meine Aussicht?« chen schrill. »Also, das ist eine me Ein anderes Mal wäre Giles vielleicht in Versuchung geraten, ob nun ech- würdige Frage. So etwas wie Hex gibt es doch nicht.« ter Bostoner oder nicht, jetzt aber »Ich weiß«, sagte Giles und spr sagte er nur: »Miß Cory, ich bin sich alles vom Herzen. »Aber sie auf der Suche nach meiner Frau.« dieses Labor, in dem sie alles m Sie sah ihn an. »Sie machen sich tatliche zusammenbraut, und ich h sächlich Sorgen um Joan?« sie unsinniges Zeug murmeln hör »Natürlich.« Er schnitt ein Gesicht das vielleicht Zauberformeln o und überkreuzte mit einer schnellen Beschwörungen sein könnten, und Bewegung die Finger in Brusthöhe. Sie sah ihn stirnrunzelnd an und zog hat eine sehr verbitterte Lebense stellung, und dann könnte sie schließlich den Morgenmantel enger der ersten Hexe abstammen, die 1 um sich. »Ich bin Exhibitionistin, Mister in Salem gehängt wurde — auch w Wardwell, und Nymphomanin«, er- man nicht weiß, ob Bridget Bis Kinder hatte. Und dann haben klärte sie trotzig. »Es ist eine rare die Tradition der Hexenkunst üb Kombination.« all hier in Neuengland und Bos »Wirklich, Miß Cory, Sie müssen und ganz besonders im North En mir diese Dinge nicht erzählen«, erEr deutete durch das Rauchglasf widerte er. ster. »Gleich da drüben auf d »Ich tue es aber«, entgegnete sie. Copps-Hill-Friedhof sind die »Wenn ich davon spreche, kann ich thers begraben, die so sehr dage mich besser beherrschen. Überlegen ankämpften, und —« Sie, was ich Ihnen erspare. Aber »Entschuldigen Sie, Mister Wardw wenn ich mich schon beherrsche, muß ich kann Ihnen nicht länger zu wenigstens davon reden.«
FRITZ LEIBER
ren«, unterbrach ihn das Mädchen. »Ich habe eine leichte Psychose, wie ich Ihnen schon sagte, und an manchen Tagen ist sie stärker als an anderen. Heute ist es besonders schlimm — ich würde platzen, wenn ich nicht Kitty hätte.« Sie preßte den PlüschSäbeltiger an sich. »Ich gebe Ihnen Alice Redds Adresse — vielleicht kann Sie Ihnen etwas über Joan sagen.« Sie rief ihm fröhlich in den Korridor nach und ließ dabei zufällig ihren Morgenmantel wieder aufgehen: »Denken Sie daran, Mister Wardwell, so etwas wie Hexen gibt es nicht!« Alice Redd lebte in einer würdigen alten Wohnung am Louisburg Square, und sie schien auch auf andere Weise ganz das Gegenteil von Margo Cory zu sein — eine porzellanzarte junge Frau mit blaßrötlichem Haar, die einen Morgenmantel aus dicker weißer Brokatseide trug und ihn betont von oben bis unten zugeknöpft hatte. Sie verdarb den guten Eindruck ein wenig, indem sie sofort losstöhnte. »Kommen Sie schnell herein, Mister Wardwell, damit ich wieder zusammenbrechen kann. Ooh, was für ein pelziges Gefühl ich heute im Kopf habe. Ich weiß, daß man Schlafmittel nicht zusammen mit Alkohol nehmen soll, aber es muß noch etwas anderes als das sein.«
Sie deutete flatterig auf einen Sessel und legte skh selbst auf eine Couch mit zerbrechlich wirkenden Beinen, an deren Kopfende sich ein kleiner, steifer brauner Affe klammerte. Giles hatte den Eindruck, daß er fein geflochten war — man hatte fast das Gefühl, winzige Schuppen zu sehen. Alice Redd streckte schwach die Hand aus und legte einen Finger in die Pfote. »Pongo ist eine solche Hilfe, wenn ich mich nicht wohlfühle«, erklärte sie Giles. »Ich weiß nicht, was ich ohne ihn anfangen sollte. Er vertreibt mir die Melancholie und ähnliches. Er soll von Hongkong oder vielleicht auch von Maläya kommen. Ja, ja, Mister Wardwell, ich habe großen Spaß an den Bridgenachmittagen mit Joan und den anderen Mädchen. Wissen Sie, wir hoffen, daß wir später drei Tische zusammenbekommen, dann wären wir zwölf und könnten Doppelturniere veranstalten. Und dann könnten wir auch einen Turnierleiter brauchen, denn eine Frau wäre zu schusselig. Hat Joan Ihnen schon erzählt, daß — ooh, mein Kopf! Nein, ich habe Joan seit Mittwoch nicht mehr gesehen. Mary Nurse könnte Ihnen vielleicht etwas sagen, ich gebe Ihnen ihre Adresse, aber sie hat seit zwei Tagen Grippe. Irgend etwas scheint mit uns allen nicht zu stimmen, finden Sie nicht auch? Ooh!
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»lein, ich glaube nicht, daß Joan unglücklich war, Mister Wardwell. Aber ich kann Ihnen eines verraten — sie konnte diese CAMZ-Leute nicht leiden, für die Sie arbeiten, sie fand, daß sie zu viele Einschränkungen machten und überall umherschnüffel•Kttn und diktatorisch handelten. Geyßg^ '• wiß müssen wir uns Sorgen wegen der Russen machen, aber Joan sagt, Bäaß es diesen CAMZ-Leuten Spaß pSK--;-. ' macht, sich zu sorgen, und daß sie in rabenschwarzen Gedanken schwelgen. Ich weiß, es sind feine alte Bostoner, die meisten wenigstens, aber hat Mister Arbuthnot nicht für Senator MC Carthy gearbeitet', und stammt Mister Mather nicht von den Hexenjägern Mather ab — ooh! Pongo, komm her und tröste Mammi!« »Da wir schon von Hexen sprechen, Miß Redd«, sagte Giles spontan, »mir ist da ein amüsanter Gedanke «.gekommen. Sie wissen, daß man von p^der Hexe annahm, sie hätte einen Vertrauten — ein kleines Tier, das ihr Satan verehrt hatte, um sie zu schützen und ihr einen Helfer beim Hexen zu geben. Nun, wenn der alte Mather mich heute morgen begleitet ttatte und Mary Cory mit Kitty und "'Sie mit Pongo gesehen hätte —« »Haha, sehr komisch. Und Mary Nurse mit Purzel. Er hätte sie Puppen genannt, weil sie nicht leben, aber er hätte behauptet, daß sie zu Leben erwachten, sobald ihnen an-
dere Leute den Rücken zukehrt'n. Ooh! Pongo, laß es aufhören! Aber, Mister Wardwell, wenn 5ie ernsthaft an Hexen gedacht hätten, so hätten Sie doch sicher Joan darüber befragt — nein, ich sehe scron, Sie sind der typische Bostoner, ler entscheidende Fragen immer erst stellt, wenn es längst zu spät ist oier —Ooh!« »Ich möchte nur wissen«, sagte ^iles leise, »in welcher Form Satan .einen Hexen die Schutzgeister zukommen läßt. Bestimmt überreicht er sie ihnen nicht in einer braunen Pap ertüte oder am Schlafittchen. Man könnte sich denken, daß eine \rt Zeremonie dabei ist.« »Hahaha — ooh! Mister Wardwell, es tut mir leid, aber Pongo und ich müssen uns jetzt einfach zusammenrollen und schlafen, das ist die dnzige Möglichkeit, die Kopfschmerzen loszuwerden. Aber erst schreibe ich Ihnen noch Mary Nurses Adnsse auf.« Giles sah das Papier erst an, al' er draußen war und neben den schvarzen Eisenpfählen stand, welche ien Privatpark am Louisburg Sqiare einzäunten. Es stellte sich heraus, iaß sie in der Salem Street wohnte, ir>d er sträubte sich dagegen, noch einmal ins North End zu fahren. Deslalb machte er sich auf den Heimweg, ind, er war erleichtert, daß sein Haus in-
FRITZ LEIBER
zwischen nicht in Brand geraten war. kam am Paul-Revere-Haus mit seiEr setzte sich hin und beobachtete ner nägelbeschlagenen Tür vorbei, das Ei, und dabei kamen ihm eine die genauso aussah wie die Tür im ganze Anzahl verrückter und beunHause der gehenkten Salem-Hexe ruhigender Gedanken. Rebecca Nurse. Er las Joans Notiz noch ein paarNurse. mal durch. Soweit er das feststellen Karren und lärmende Menschen verkonnte, war es ihre Handschrift oder stopften die Salem Street, und man eine gute Imitation, aber jetzt fiel hörte ebensoviele englische, wie itaihm auf, daß sie drei Ausdrücke entlienische Laute. hielt, welche Joan verabscheute: >das Mary Nurse war über eine düstere letzteres >auf alle Fälle« und >Leu- Außentreppe zu erreichen, die in den te<. Wenn jemand die Absicht ge- ersten Stock über einen Fischladen habt hätte, ihm vorzutäuschen, daß führte. An den Schaufenstern zeigJoan davongelaufen war, und die- ten sich glitschige Flecken, die von ser Jemand verhindern wollte, daß lebenden Schnecken und hochkleter Nachforschungen anstellte, dann ternden Tintenfischen verursacht wurlag nichts näher, als eine Notiz wie den. Er erinnerte sich, daß Joan ihm diese zu fingieren. erzählt hatte, Mary Nurse sei KünstEr nahm einen kleinen Hammer und lerin und fühle sich nur inmitten des hielt ihn über das Ei . . . doch nach Volkes wohl. ein paar Sekunden trug er ihn wie- Aber sie hatte für ein paar Verändeder in die Küche. rungen gesorgt. Ihre Tür am Ende Und auf einmal hatte er das Gefühl, des Korridors war nicht wie die andaß sich im Innern des Eies etwas deren, sondern bestand aus blanker regte. Er beugte sich dicht darüber, Eiche, in der ganze Reihen von Nabis seine Wange glühendheiß war, gelköpfen steckten. aber er hörte nichts mehr. Auf sein Klopfen rief ihn eine tiefe Nach drei Stunden, die er unschlüsStimme herein. Das Zimmer war sig verbrachte, fuhr er zurück zum schlecht gelüftet und überfüllt, StafNorth End. Er passierte das CAMZfeleien drängten sich zwischen StühHauptquartier, das sich in dem neu- len und Buchregalen — Atelier und en Gebäude am SewaII Court beWohnzimmer in einem. fand, und erinnerte sich daran, daß Und Schlafzimmer dazu. Im Licht der Platz nach Richter Sam Sewall von zwei dicken Kerzen sah er, daß benannt war, der die HexenverhandMary Nurse auf einer breiten Couch lungen in Salem geleitet hatte. Er lag, zugedeckt mit einer Decke aus 152
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P" zusammengesetzten Karos. Sie war groß — mindestens einsfünfundsiebzig, schätzte er — aber nun lag sie wie ein Holzklotz da. Sie sah wirklich krank und blaß aus, und ihr dichtes blondes Haar ßoß weich über das Kissen. Aber ihre tiefe Stimme war vollkommen ruhig. »Ich habe Sie erwartet, Giles Wardwell. Margo Cory kam am Nachmittag vorbei.« »Es tut mir leid, daß Sie Grippe haben«, meinte Giles. »Es ist keine Grippe«, sagte Mary Nurse mit einem tiefen, trockenen Lachen. »Jemand hat mich mit einem Fluch belegt. Uns alle, würde ich sagen. Was suchen Sie?« »Purzel«, gestand Giles. Wieder lachte die große Blondine. Sie winkte Giles heran und hob den Deckenzipfel. Giles sah hin — und wäre beinahe rückwärts aus dem Zimmer gerannt. Auf dem Leintuch neben ihr, direkt unter ihrem Arm, saß eine pechschwarze Spinne mit einem Körper so groß wie eine flachgedrückte Orange und haarigen schwarzen Beinen, die einen Riesenteller umspannt hätten. Rund um den Körper liefen hellgrüne Keile, und zwei rubinrote Augen starrten ihn an. Das konnte nicht wahr sein, sagte sich Giles vor. Es mußte — »Schwarzer Samt.« Zum drittenmal lachte Mary Nurse. Sie ließ den Dek-
kenzipfel wieder fallen. »Dennoch, ohne Purzel wäre ich bestimmt schon tot. Sie haben sicher schon bemerkt, daß wir in einer neurotischen Abhängigkeit zu unseren kleinen — Spielzeugen leben. Deshalb ist Joan in Schwierigkeiten. Sie hat keines — noch nicht.« Giles starrte ein Bücherregal an, das halb im Schatten stand. Er entdeckte ein Ei, das ebensogroß war wie das in Joans Labor. »Sicher sind Ihnen noch ein paar andere Dinge an uns aufgefallen«, sagte Mary Nurse. »Ihre Tür, Ihr Name«, erwiderte Giles und zwängte sich zwischen einer Staffelei und einem Stuhl durch, um näher an das Büchergestell heranzukommen. »Alle unsere Namen sind Hexennamen. Sogar Ihr Name, Giles Wardwell. Samuel Wardwell war einer der fünf Hexenmeister, die in Salem gehenkt wurden. Giles Cory wurde mit Felsblöcken erdrückt, weil er sich weigerte auszusagen.« Giles sah, daß das Ei eine leere Hülle war. Es hatte einen großen Sprung und ein Loch an einer Seite. »Was ist das?« fragte er scharf. »Das ist das Ei einer Spinne — ich meine, eines Dinosauriers ...« Mary Nurse unterbrach sich und sah ihn mit brennenden Augen an. »Ich glaube nicht, daß wir noch länger um den heißen Brei herumschleichen 155
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sollten, Giles Wardwell. Sie haben Joans Ei gefunden? Unzerbrochen?« »Ja. Ja.« »Dann warten Sie ab, bis es ausgebrütet wird — wenn Sie Ihre Frau lieben. Ich glaube, es ist an der Zeit. Ich würde selbst hingehen, aber ich bin verhext und kann mich nicht bewegen. Ich würde den Schwarzen Mann hinschicken, aber wir haben noch keinen. Joans einzige Hoffnung und Sicherheit liegen in dem Ei. Folgen Sie den Zeichen. Nennen Sie es Lurchi. Stellen Sie keine Fragen. Beeilen Sie sich!« »Gut.« »Der Gehörnte beschütze Sie, Giles Wardwell.« Das Labor erschien heißer als vorher, aber vielleicht kam es auch daher, daß Giles schwitzte. Auf den ersten Blick schien das Ei unverletzt zu sein, doch dann sah er, daß von einem Punkt nahe der Spitze ein winziger dreifacher Sprung ausstrahlte. Während er ihn beobachtete, verlängerte sich einer der Sprünge abrupt um eine ganze Fingerspanne. Im Innern hörte man ein schwaches Kratzen und Scharren. Er setzte sich hin und beobachtete den Punkt, wobei er die Hände fest auf die Knie legte. Die Hitze schwächte ihn. Er zog Jacke und Hemd aus und stellte ohne allzu große Überraschung fest, daß er un154
ter dem Hemd noch die SAlafanzugjacke trug. Die Sprünge verlängerten sich; andere erschienen. Plötzlich wurden kleine Schalenstückchen abgesprengt, und ein winziger blauer Arm mit einem Zackenkamm wie bei einer Eidechse schoß heraus, tastete wild umher, und wurde wieder ins .Innere gezogen. Zitternd ging Giles um das Ei herum und versuchte ins Innere zu sehen. Aber er hielt eine Armlänge Abstand ein. Zwei winzige blaue Hände brachen methodisch kleine Schalenteile ab und vergrößerten damit das Loch. Er konnte nicht mehr von dem Geschöpf erkennen, da es im Innern dunkel war. Der Raum verschwamm vor ihm. Giles zerrte am Kragen seiner Schlafanzugjacke, dann stolperte er ans Fenster und riß es auf, sog ein paarmal tief die kühle Luft ein. Der Raum beruhigte sich wieder. Er sah, daß das Loch im Ei jetzt so groß wie eine ausgebreitete Hand war. Er hatte den halben Weg zu der Plattform zurückgelegt, als etwas Blaues herausschoß, dreimal im Kreis über den Boden jagte, zu schnell, als daß man es genau sehen konnte, und dann durch das offene Fenster flitzte. Giles packte seine Jacke, ging an die Vordertür und sah in der Dunkelheit um sich. Er konnte weder auf
DAS HEXENEI
Rasen noch an der Auffahrt etwas sehen. Er ging um seinen Wagen herum und blieb wie erstarrt stehen. Eine kräftige, schillerndblaue Eidechse hatte sich auf seine Kühlerhaube gesetzt, gerade so, als halte sie ^_^, sich für eine Kühlerfigur. Sie schien HHJIpt mit den hinteren Klauen und 3er linken Vorderpfote in dem Metall festzuklammern. Der rechte Arm BEfo. •B war neben dem Gesicht mit dem scheußlichen Kamm ausgestreckt und deutete geradeaus. Bf »Lurchi!« rief Giles. Das blaue Geschöpf zitterte und streckte den Arm noch weiter aus. g;; Giles kletterte in den Wagen und 8 ließ ihn an, die Blicke auf Lurchi gerichtet. Als er an die Straße kam, fjf. zeigte der Arm abrupt nach rechts. wy Giles gehorchte mit klopfendem Herzen. Nach einiger Zeit begann Giles zu erraten, wohin sie fuhren. Als sie sich Sewall Court näherten, hob Lurchi die Pfote, als wollte er sagen: , »Langsam jetzt«, und dann deutete p1, er nach unten. »Stop.« Fred, der Parkwächter und Liftboy der CAMZ, kam ans Fenster. Er j||' warf einen Blick auf die Kühlerhaube. Dann sagte er: »Ich bringe ihn schon hinein, Mister Wardwell.« Sie tausch|H, ten Plätze. Als Wardwell ging, rief ihm Fred aufgeregt nach: »Mister Wardwell!« Giles drehte sich um. ^Ich hätte schwören mögen«, sagte
Fred hinter dem Steuerrad, »d Sie eine blaue Kühlerfigur am W gen hatten — eine Art wilder Din saurier. Aber jetzt ist er fort.« Giles sagte ein wenig steif: »Bla Wild? Aber, Fred, wer würde si in Boston so etwas an den Wag tun?« In der Vorhalle spielte Lurchi u die Füße von George, dem Nac wächter, Versteck. Giles vermied den kleinen Schutzgeist anzusehen. »Fünfter Stock, Mister Wardwell fragte Geroge. »Alle unsere hoh Tiere sind schon oben.« Er warf nen Blick auf Giles' Pyjamajacke, unter dem Jackett hervorkam. »M hat Sie sicher direkt aus dem B geholt, Mister Wardwell. Muß wo ein Notfall sein, obwohl ich no keine Armeeleute nach oben gebrac habe.« Giles hüllte sich in ein würdevoll geheimnisvolle Schweigen. Im fünften Stock waren die V hänge hinter der dicken Glaswa des Hauptbüros fest zugezogen. N ein Streifen Licht schimmerte an nem Ende durch. Als sich die A zugstür schloß, eilte Giles durch d Korridor zu seinem Büro, aber was zupfte ihn an der Hose. Lur führte ihn in Mister Arbuthnots B ro, das dem Hauptbüro am nächs war. Arbuthnots Büro war leer und d kel,. aber die Tür zum Hauptbü
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FRITZ LEIBER
stand offen. Giles ging auf sie zu und hielt abrupt an. Mister Copps, Mister Arbuthnot, Mister Mather und Mister Zim standen alle am anderen Ende des Hauptbüros. Sie sahen sehr ernst und würdevoll in ihren dunklen Anzügen drein, nur hielt Mister Zim einen kleinen goldenen Stab in der Hand und hatte einen spitzen, hohen schwarzen Hut mit goldenen Sternen und Monden aufgesetzt, während Mister Arbuthnot eine Maschinenpistole im Arm hielt. Und Joan war auch da. Sie starrte in Giles' Richtung, und die einzige Lampe schien ihr direkt ins Gesicht. Sie saß aufrecht und mit trotziger Miene auf einem Hocker, und ihre Arme waren seitlich ausgestreckt und mit dünnen Seilen an Aktenschränke gefesselt. Sie trug ihr rotes Nachthemd. Ein Teil von Giles' Gehirn jagte zurück in das Salem von 1692, wo Bridget Bishopf >ein rotes Schnürleibchen< vor ihren grimmigen, nüchternen Richtern getragen hatte. Joan warf mit einer Kopfbewegung eine schwarze Haarsträhne aus den Augen und sagte laut: »Aber ich sage Ihnen doch immer wieder, das ist lächerlich. Mein Mann hat mir nie auch nur ein Wort von dem Secondman-Raketen-Projekt gesagt. Ich habe keine kommunistischen Beziehungen. Vermutlich wurde ich zur glei156
chen Zeit vom FBI für harmlos erklärt wie Giles. Der Rest ist Unsinn — oder Wahnsinn.« »Muß ich das alles noch einmal mit Ihnen durchexerzieren?« fragte Mister Mather mit seiner leisen Stimme, die so deutlich und weittragend war. »Mrs. Wardwell, Amerika hat ältere und schlimmere Feinde als den Kommunismus. Leider untersucht der FBI nicht, ob jemand Beziehungen zum Hexentum hat oder nicht. Aber die CAMZ, welche die schönste Tradition unseres Neuenglands verkörpert, kümmert sich darum. Und irgendwie kommen Werbeleute leichter mit dem Okkulten zusammen als das Militär.« Er deutete auf ein Bündel Blätter in seiner Hand. »Gestehen Sie, daß Sie eine Hexe sind, Joan Wardwell, sagen Sie uns, wo und wie Sie sich dem Satan verpflichtet haben, verraten Sie uns Ihre Bannsprüche und Zaubergeheimnisse, und, vor allem, nennen Sie uns die anderen Hexen, die bei Ihrem Sabbat mitmachen — oder Sie zwingen uns, diese Tatsachen an Ihrem Körper zu beweisen. Mister Copps, ist die Nadel bereit?« »Ihr könnt mich nicht zwingen, gegen mich selbst auszusagen«, entgegnete Joan. »Ich berufe mich auf den fünften Zusatzartikel.« • »Wir in Massachusetts haben ihn nie ratifiziert«, erklärte ihr Mister Mather. »Erinnern Sie sich, was mit
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l'Giles Cory geschah, Mister Copps?« Giles wollte vorwärtsstürmen, aber dann blieb er stehen. Vier Männer und eine Maschinenpistole! Seine Hände wurden eiskalt. Dann strich etwas Heißes über seine Wange, sein Gesicht wurde kalt, als hätte jemand eine Eismaske darübergestülpt, und „Jaeinahe hätte er laut aufgeschrien. 'IHfechi war an seinem Jackett hochgeklettert, klammerte sich an sein Re^vers wie ein Seemann an ein Segel 1-und leckte ihm die Wange mit seiner langen, schwarzen Zunge. Mister Arbuthnot drehte sich um und |starrte direkt zu seiner Bürotür, wobei er die Maschinenpistole hob. Giles erstarrte. Er hoffte nur, daß das i?.' |Dämmerlicht ihn verbarg, wenn auch seine blassen Hände und das Gesicht gegen den Hintergrund abstechen mußten. Aber nach einem suchenden Blick wandte sich Mister Arbuthnot wieder an Joan. Mister Mather sagte: »Joan Bishop »Wardwell, bedenken Sie die HilfloKsigkeit Ihrer Lage. Ihr armer, dummer Mann, genarrt durch die Notiz, „.die- Sie ihm auf unseren hypnotijpälen Befehl schrieben, als wir Sie riefen, muß glauben, daß Sie ihn verlassen haben. Ihre Mithexen, wer und wo sie auch immer sein mögen, werden durch Mister Zims nützliche kleine Beschwörungen in Bann ge| halten. Gestehen Sie, bereuen Sie Ihr | gottloses Tun, retten Sie, was noch
von dem braven amerikanisch Mädchen zu retten ist, das sich d Verblendung Satans ergab.« »Nein!« schrie Joan, daß es we hin hallte. »Verglichen mit dem, w ihr angeblich für Amerika tut, das Hexentum die Anständigke selbst!« »Die Nadel!« Lurchi, der sich immer noch mit d Hinterpfoten und einer Vorderpfo an ihm festklammerte, zwickte Gil mit der freien Pfote schmerzhaft den Arm und deutete befehlend a Arbuthnot.
Mister Copps trat hinter Joan, r ihr von hinten das Nachthemd a und hielt etwas Glitzerndes, Lang und abscheulich Dünnes hoch. Giles ging ins Hauptbüro, hob d rechte Hand und deutete steif a Mister Arbuthnot — obwohl er s beinahe vor Schreck gesenkt hätte, a er sah, daß sie kohlschwarz war. Arbuthnot erstartte mitten in d Bewegung. Seine Haut wurde gra Die Maschinenpistole schlug auf d dicken Teppich. Der Finger, mit dem Giles auf ihn g deutet hatte, war wieder fleischfa ben, und seine restliche Hand ha eine graue Färbung angenommen. Nacheinander kopierte Giles Lurch Bewegungen. Er streckte Mittelfing Rir gfinger und Daumen nach Mis
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FRITZ LEIBER
Zim, Mister Copps und Mister Mather aus. Mit jedem Deuten erstarrte einer der Männer und wurde grau, während sich Giles' Haut in Stufen heller tönte. Zum erstenmal im Leben kochte Giles Wardwell vor Wut. »Ihr hinterhältigen, glatten, selbstzufriedenen, heuchlerischen Kerle!« rief er. »Ihr seid schlimmer als die Russen mit eurer Gehirnwäsche! Und jetzt hört mir zu: Ich befehle euch, daß ihr diesen Hexenverfolgungswahn für immer vergeßt. Silentium, Silentium, mutus, mutus, mutus. Ihr kommt noch billig davon — wenn ihr meine Frau verletzt hättet, wäre euch Schlimmeres zugestoßen. Aber das eine könnt ihr mir glauben: Ab heute lasse ich mich von keinem von euch mehr maßregeln. Ab heute spiele ich wieder Schach und besuche meine Mutter nicht öfter, als es mir paßt!« Er unterbrach sich, weil Joan entzückt auflachte. »Liebling, sie können dich nicht hören«, rief sie ihm glücklich zu. »Der Bann des Schwarzen Mannes wirkt schneller als Schlafmittel. Sie werden jetzt stundenlang wie Tote schlafen. Und jetzt schneide mich los, damit wir von hier verschwinden können. Ich bin zwar überzeugt davon, daß dein Zauber wirkt, aber zur Sicherheit nehmen wir Mister Mathers Papiere mit,' dazu Mister Zims Zauber158
stab und Hut und Mister Arbuthnots Maschinenpistole. Wir werfen sie in den Fluß. Du hast immer noch deinen kleinen Finger, um den Nachtwächter in Schlaf zu versetzen, und deine linke Hand für Notfälle. Ist das Lurchi? Ein süßer Kerl!« Eine halbe Stunde später fuhren sie durch die Back Bay langsam nach Hause. Joan saß dicht bei Giles, und ihr Kopf lag auf seiner Schulter. Lurchi hatte sich auf Joans Schulter zusammengeringelt und hielt mit seinen Hinterpfoten das zerrissene Nachthemd zusammen. Die Wagenheizung umgab sie mit wohliger Wärme. »Giles«, sagte Joan schläfrig, »ich wollte dich noch etwas fragen. Wie hast du Margo, Alice und Mary gefunden, als du sie besuchtest ...? Attraktiv?« »Ziemlich«, gab er zu. »Ich muß sagen, daß es recht unheimliche Frauen sind, aber es sieht so aus, als müßte ich mich noch an viele sehr ungewöhnliche Dinge gewöhnen. An Purzel zum Beispiel. Ja, um die Wahrheit zu sagen, ich fand alle drei Mädchen sehr hübsch.« Joan nickte, ohne die Augen zu öffnen. »Das hatte ich gefürchtet«, sagte sie. »Siehst du, als Schwarzer Mann unseres kleinen Hexensabbats wirst du gewisse Pflichten und Rech-
DAS HEXENEI
^e haben. Nun ja, ich denke, ich werde mich daran gewöhnen.« pann fügte sie mit einem schläfrigen
Kirchern hinzu: »Aber vergiß nic Giles Wardwell, nie und nimmer, d ich deine Erste Hexe bin.«
Die Galgenpuppe von Hubert Straßl
Wills Anruf kam kurz vor Mitternacht. »Harry?« »Ja«, murmelte ich schlaftrunken. »Gott sei Dank, du bist da . . . « »Natürlich. Gute Nacht!« »Harry! Harry!« (g-Ich hatte den Hörer bereits wieder f ü b e r der Gabel. Die Stimme klang laut und blechern. »Harry, häng nicht auf . ..!« Verärgert hielt ich inne und preßte den Hörer erneut ans Ohr. »Will?« fragte ich. »Ja, Harry ...« Es klang erleichtert. »Hör mich ...« »Bist du sicher«, unterbrach ich ihn, »daß, was du mir sagen willst, für ' mich um diese Zeit von Wichtigkeit ist?« »Allerdings«, versicherte er, und er mußte es schließlich wissen. »Also gut. Was ist los. Will?« »Madalyn ist verschwunden.« Ich überlegte. Ich sagte: »Sei nicht albern, Will. Es ist noch nicht einmal Mitternacht. Leg dich schlafen!« »Sie wollte am Mittag zurück sein.« Vo war sie?«
»Bei ihrerh Bruder.-Er wohnt etwa achtzig Kilometer von hier.« »Dann hat sie sicherlich den Zug verpaßt, Will.« »Ihr Kriminalisten seid einfallslos!« Will Olsen lachte, aber es klang nicht sehr überzeugend. Jedenfalls aber schien es ihn zu erleichtern, daß er mit mir sprechen konnte. »Aber dein Tip ist falsch, Harry. Sie ist mit dem Wagen unterwegs . . .« »Dann hat sie eine Panne gehabt!« »Zugegeben, alles möglich«, sagte Will. »Aber daß sie sich zwölf Stunden verspätet und nicht anruft . . .« »Will«, sagte ich belehrend, »warst du den ganzen Tag zu Hause?« »Fast . . . « Ich ließ ihn nicht ausreden, »Dann hätte sie also anrufen können, während du weg warst. Und später hatte sie vielleicht keine Gelegenheit mehr, an ein Telefon zu kommen. Leg dich schlafen. Will. Bestimmt kann sie jeden Augenblick auftauchen. Du machst dich nur verrückt.« »Wahrscheinlich hast du recht«, gab er zu. Es klang halb erleichtert. 161
HUBERT STRASSL
»Natürlich habe ich recht. Will!« Eine Weile dachte ich über das Gespräch nach, und ich ahnte, daß ich nicht recht hatte. Ich kletterte aus dem Bett und blieb unschlüssig stehen. Will Olsen war ein Narr. Er hätte auf mich hören sollen. Seit seine Artikelserie über HEXENWAHN IN UNSERER ZEIT in der Abendpresse lief, hatten viele seiner Freunde ihm den Rücken gewandt. Zwar schöpfte er den Großteil seines Wissens aus einer Reihe von Büchern, aber mir war wohl klar, daß dies nur die Ouvertüre zum eigentlichen Schauspiel sein konnte. Ich wußte, daß Madalyn, bevor sie Will geheiratet hatte, einem geheimen spiritistischen Zirkel unserer Stadt angehört hatte. Deshalb hatte ich Will geraten, die Finger von einem solchen Unterfangen zu lassen. Er tat es nicht! Und er setzte damit seine Frau einer Gefahr aus, die er ganz offensichtlich nicht sehen wollte. Seine Ansicht, daß das Übernatürliche, das übernatürlich Erscheinende, immer nur aus Zufällen und einer Reihe von Tricks, meist psychologischer Art, resultierte, kam in seiner Artikelserie sehr deutlich zum Ausdruck. Zu deutlich vielleicht für verschiedene Leute. Natürlich kannte Madalyn nicht alle Mitglieder der Hexenzirkel dieser Stadt. Sie kannte bestenfalls zwölf Leute. Aber wer immer diesem einen 162
Zirkel vorstand, mußte nun um sich und seine Schäfchen bangen. Der Fall Miretti lag ähnlich. Er war ein Heilkünstler, der durch Handauflegen einer Reihe von Leuten half, die fest genug an ihn glaubten. Seine Frau Rosi sprach viel und wußte der erstaunten Nachbarschaft von seltsamen Dingen zu berichten. Bis sie eines Tages an Herzschlag starb. Miretti aber dachte anders darüber. Für ihn war es kein Herzschlag. Er ahnte einiges und wußte einiges. Und er wollte auspacken. Aber die Polizei gelangte nie in den Besitz solch interessanter Informationen. Bevor Miretti zur Polizei gehen konnte, erhängte er sich in der Dachkammer. Das lag sechs Monate zurück und hatte viel Staub aufgewirbelt. Olsen würde ein neuer Fall Miretti sein, wenn Madalyn ihm tatsächlich Namen verraten hatte, und er vorhatte, in seinem nächsten Artikel groß auszupacken. Fluchend verließ ich das Zimmer und trat in Marthas Schlafzimmer. Sie war wach. »Wer hat angerufen?« Ich sagte es ihr. Und ich sagte ihr auch warum. »Sie schlagen also schon zu«, flüsterte sie. »Ich fürchte, ja.« »Arme Madalyn«, murmelte sie. »Sie konnte wenig dafür.« »Armer Will«, brummte ich.
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Er ist ein Narr.« Sie legte ihre Hand ''auf meinen Arm. »Was wirst du tun?« »Ich werde zwei Streifenwagen schikken, die die Strecke nach Berghaus überprüfen und bei ihrem Bruder nachforschen. Die Landpolizei wird sich einschalten müssen.« Sie nickte. »Fahr morgen zu Will. Sprich mit ihm. Versuche herauszufinden, was er weiß .. .« ^^H^-^-- seufzte ich. »Wenn ich es ihm ^^~~nur ausreden könnte . . . « Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt nach Madalyns Tod wird der Haß zu groß sein.« »Vielleicht ist sie nicht tot«, widersprach ich wenig überzeugt. »Vielleicht ist es blinder Alarm. Schließlich hat Will noch nichts getan oder geschrieben, das wirklich gefahrlich wäre . . . « »Denk an Rosie Miretti.« »Ja«, sagte ich und küßte sie flüchtig ^^ auf die Wange. »Du hast recht. Es ist ^B| unwahrscheinlich.« ^•1 »Gute Nacht, Harry.« ^•t »Ja, gute Nacht, Martha.« Ich rief das Dezernat an und schickte zwei Streifenwagen los. Dann versuchte ich zu schlafen. Drei unruhige Stunden voll quälender Gedanken vergingen; voll Erinne"ingen an die jahrelange Bekanntschaft mit Will und Madalyn; voll verzweifelter Pläne, wie ich ihn von seinem Vorhaben abbringen könnte. Dann läutete das Telefon.
Inspektor Ferssen vom Dezernat. »Wir haben sie gefunden«, Fer war aufgeregt. Ich atmete scharf ein. »Wo und wi »Etwa fünf Kilometer außerhalb Stadt, in einem roten Volkswa ...« »Das ist ihr Wagen«, warf ich »Ja, das haben wir bereits festgest Sie ist tot . . . « Als ich keine Antwort gab, fuh fort: »Eine seltsame Sache, Chef. Wagen stand am Straßenrand. beschädigt. Auch das Mädchen völlig unverletzt. Sie lehnte wie sc fend am Steuer. N u r . . . sie tot. . .« »Was hat der Arzt festgestellt?« »Herzschlag.« »Wie war der Ausdruck ihres Ges tes, Ferssen?« Die Stimme zögerte. »Sie muß vor was Angst gehabt haben, Chef. Doktor meint, das wäre auch die sache für den Herzschlag gewesen . Martha hatte also recht. Und Will fand sich nun selbst in größter fahr. Selbst wenn es mir gelang, zu überreden. Selbst wenn er ni wußte! Verschiedene Leute wür kein Risiko eingehen wollen. »Wie lange ist sie schon tot?« »Etwa sechs Stunden.« »Hat man ihren Mann bereits ständigt?« »Ja, Chef. Wir erwarten ihn je Augenblick hier im Büro.«
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»Er soll auf mich warten. Ich komme rüber«, sagte ich und legte auf. Will trug es gefaßter, als ich erwartet hatte. Aber seine ungebrochene Haltung vermochte nicht über den Schmerz hinwegzutäuschen, den er empfand. Er erledigte die Formalitäten mit kalter Sorgfalt und beantwortete die Fragen des Inspektors und des Arztes präzise und gelassen. Aber ich wußte, daß diese schützende Fassade früher oder später zusammenbrechen würde, daher war ich sehr froh über seine Bitte, ihn nach Hause zu bringen. Seine Fassade brach nicht. Aber es kam eine Flut von bitteren Selbstvorwürfen. Er hatte Madalyn schließlich doch überreden können, ihm Namen und Adressen der Leute zu verraten, die in jenem Zirkel waren, dem auch sie einst angehört hatte. Damit hatte sie nach den Gesetzen der Hexen eine ungeheure Schuld auf sich geladen. Und sie hatte Angst. Auch Will wußte das. Und er fühlte sich nun schuldig an Madalyns Tod. Zwar glaubte er keinen Augenblick an einen tatsächlichen Einfluß der Hexen in Beziehung zu Madalyns Tod - er lehnte jede reale Auswirkung des Übernatürlichen ab, wenn er auch eine begrenzte psychologische Wirkung an einem sensiblen Gemüt nicht abstritt -, doch konnte er nicht leugnen, daß diese dunkle Vergangenheit seiner Frau 164
die Ursache ihrer Angst war. Er hätte früher an diese . Auswirkungen der Angst denken müssen. Viel früher — als er seine Artikelserie begann. Diese Erkenntnis kam nun zu spät. Für mich waren indes seine Ausführungen von großem Interesse. Ich versuchte ein paarmal, das Gespräch auf die Namen hinzuleiten. Aber Will wich direkten Antworten aus, und ich fühlte, daß er Schluß machen wollte mit allem, was damit zusammenhing. Ich atmete innerlich auf. Das war genau das, wozu ich ihn zu überreden gedachte. Fünfzehn Minuten später, als wir seine Wohnung betraten, begann ich erneut um Wills Leben zu bangen. Auf seinem Schreibtisch lag ein Päckchen. Es war ohne Absender, und auf der Frontseite stand groß mit Fettstift WILL OLSEN! Er sah es zuerst gar nicht, aber mir fiel es sofort auf. Vertraut mit solchen Dingen, ahnte ich ungefähr, was es enthalten würde. Ich verhielt mich unbefangen. Ich wollte seine Aufmerksamkeit nicht darauf richten. Aber er entdeckte es doch nach einer Weile und begann es verwundert zu öffnen. Ich versuchte gleichgültig das große ölporträt von Madalyn an der Wand zu betrachten. Ich hörte Wills zischenden Atem, als er sah, was in dem Paket war. Und in der Lautlosigkeit, die folgte, hörte ich, so deutlich wie noch nie zuvor, mein Herz pochen.
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irry«, sagte er schließlich, »sieh es dir an!« Ich erhob mich und trat zu ihm. Ein wenig bleich hob er den Inhalt des Päckchens hoch. Es war ein rotes Spielzeugauto. Ein Volkswagenmodell mit Schwüngradantrieb, wie man es auf jedem Jahrmarkt und in jedem Spielwarengeschäft kaufen konnte. Aber ein paar Kleinigkeiten unterschieden es von einem Spielzeug. An der Vorder- und Rückseite befand sich ein winziges Nummernschild mit der Nummer von Wills Wagen. Und dann fehlte das Zelluloidfenster an der linken Tür. Und an dem winzigen Volant saß deutlich sichtbar eine kleine Puppe aus knetbarem Material. Den winzigen Kopf krönte ein Büschel von Haaren, blond, wie Madalyns Haar. Zwischen den roh gekneteten Brüsten ragte der Schaft einer Nadel hervor. Mehrere Minuten starrten wir schweigend auf dieses seltsame Spielzeug, das dem rationalistischen Geist lächerlich erscheinen mußte, und das dennoch eine unbestimmte Drohung ausstrahlte. »Es ist albern«, sagte Will schließlich. Ich gab keine Antwort. »Es besteht doch kein Zweifel«, fuhr er nach einer Weile fort, »daß dieses lächerliche Ding nach ihrem Tod angefertigt wurde?« »Du mußt es wissen. Will«, antworte-
te ich ihm. »Deine Artikel sagen sehr deutlich.« Er schien mich nicht gehört zu ha Abwesend sprach er jene Worte, den ersten Zweifel in seine Seele ten: »Aber woher wußten sie es rasch?« Ich verschwieg Martha, daß Will Namen wußte. Es war kein Ris denn so wie die Dinge standen, w er schweigen. Nach Madalyns Bee gung hörte ich drei Tage nichts ihm. Am vierten kam er überrasch zu Besuch. Er hatte sich veränd Der große Schmerz schien überw den, wenn man ihn oberflächlich trachtete. Er gab sich leger und lächelnd wie früher, nur in seinen gen konnte ich den Schleier Schmerzes entdecken. Aber auch seine Absichten ha sich geändert. »Ich werde auspacken, Harry!« klärte er. »Bereits in meinern näch Artikel!« Unbehaglich blickte ich Martha an »Du mußt dich sehr sicher fü Will«, sagte sie. »Sicher!« Er lachte. »Wovor sollt Angst haben? Vor lächerlichen pen, denen erwachsene Menschen deln hineinstechen, um ihre pe sen Gefühle abzureagieren, und d glauben, daß damit übernatür Dinge in die Wege geleitet we können? Damit erschreckt man
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Weiber, die an Teufelswerk glauben, wenn ihre Ziegen plötzlich keine Milch mehr geben!« Er ließ sich in einen Stuhl fallen und sah uns erstaunt an, »Ich dachte nicht, daß ihr so ängstlich seid. Was ist los mit euch?« »Will«, sagte Martha fest, »Harry hat mir von dem Paket erzählt, das auf deinem Schreibtisch stand. Gibt es dir nicht ... zu denken?« »Ja«, antwortete er heftig, »es gibt mir zu denken. Es gab mir die ganze Zeit über zu denken. Ich habe noch nie so viel nachgedacht wie in den letzten Tagen. Und es gibt nur eine Erklärung dafür: Sie entdeckten Madalyn, bevor die Polizei sie fand. Und sie ließen sie da draußen auf der Straße stehen. Einfach stehen! Versteht ihr das? Stunden. Vielleicht den ganzen Tag. Vielleicht sahen sie sogar zu, wie sie starb! Vielleicht...« »Du redest dir jetzt Dinge ein. Will«, sagte ich. »Deine Fantasie ist einfach überreizt .. .« »Nein, Harry. So scheinbar primitiv und lächerlich sich diese Leute auch benehmen, dürfen wir dabei nicht übersehen, daß ihr Idealismus einer des Teufels ist. Satan ist die treibende Kraft für ihr Tun. Sie kennen keine Gnade und kein Erbarmen, nur Rache und Haß und eine Bibel blutiger Gesetze.« Er lachte. »Meine augenblicklichen Gefühle sind sehr ähnlich. Ich werde diese Brut aufdecken. Ihre Namen werden in fetten Lettern 166
in der Abendpresse stehen, und die Öffentlichkeit wird entscheiden, was geschehen soll. . .« Martha unterbrach ihn. »Siehst du die Gefahr nicht, in die du dich begibst, Will?« »Gefahr?« fragte er erstaunt, »Welche Gefahr? Ich habe keine Angst, die mich zu ihrem willigen Opfer machen könnte. Und einen Mord wagen sie nicht. Das wäre in meinem Falle zu offensichtlich . . .« »Du verstehst mich nicht. Will«, meinte Martha. »Ich dachte mehr an die Gefahr einer Blamage. Bist du denn sicher, daß Madalyn dir die richtigen Namen gesagt hat? Absolut sicher?« Will zögerte. Ich bewunderte Marthas Umsicht. Gleichzeitig sah ich eine Möglichkeit, die Situation vorerst zu entschärfen. »Gib mir die Namen, Will«, sagte ich eindringlich. »Ich werde sie überwachen lassen. Früher oder später begeht einer einen Fehler. Und haben wir erst einen, sind uns auch die anderen gewiß!« Er zögerte noch immer. Er war sehr nachdenklich geworden. Rasch fuhr ich fort: »Es ist doch gleichgültig, ob du jetzt oder in einigen Wochen darüber schreibst. Und dann haben wir eine Reihe zusätzlicher Beweise und Argumente, die es dir leichter machen werden, die Öffentlichkeit zu überzeugen ...«
DIE GALGENPUl'PE
iwieg eine ganze Weile. Dann er. »Das ist ein guter Vor, Harry.« Und er gab mir die atmeten auf. Während der nächsten Tage geschah nichts. Ich vermochte nicht. Will von seinem Vorhaben abzubringen, und hatte alle Mühe, ihn zur Geduld anzuhalten, was meine Nachforschungen über die Namen betraf. Und dann begannen sich die Ereignisse plötzlich zu überstürzen. Will hielt einen Vortrag über Hexenkulte im Auditorium Maximum der Universität. Bei der anschließenden Diskussion in einem nahen Gasthof kam es zu heftigen Debatten mit einigen Mitgliedern des Stadtrates, in deren Verlauf Will zugab, eine Reihe von Namen zu kennen. Es war reiner Zufall, daß er während des Essens nicht nur eine Reihe von Antworten, sondern auch einen Bissen in die falsche Kehle bekam und vielleicht erstickt wäre, wenn nicht ein Arzt zuSGgen gewesen wäre, dessen rasches Eingreifen es verhinderte. Doch Will war zum erstenmal unsiwet geworden, vor allem durch eine "emerkung eines seiner Freunde, als er sich mit dem Arzt allein in einem Nebenzimmer befand. Dieser glaubte "änüich beobachtet zu haben, daß ••"l schon den ganzen Abend wähTend der Diskussion den Eindruck ge-
macht habe, als schnürte etwas sei Kehle zu, als bekäme er zuwen Luft und wäre am Ersticken. W war sicher, daß dies nicht der Fall w - er hatte sich den ganzen Abe über wohlgefühlt. Aber ein paar Leu bestätigten später die Aussage sein Freundes. Und das machte i schließlich unsicher. Als er mich besuchte, war er nerv etwas, das ich nie an ihm gekan hatte. Hatte er Angst bekommen Er berichtete mir von diesem Vorf und fragte mich, ob ich irgend etw Ungewöhnliches an ihm bemerke. sah nicht so frisch aus wie sonst, u das sagte ich ihm. Ich riet ihm, we ger zu arbeiten und bei Gelegenh einen Arzt aufzusuchen. Ich frag ihn auch, ob er etwa Angst beko men habe, worauf er lachte. Aber ein paar Tage später suchte mich erneut auf. Seine Nervosität w schlimmer geworden. Er wirkte un cher, unruhig. »Harry«, sagte er, »mit mir stim etwas nicht. Ist es möglich, daß i krank bin, ohne daß ich es weiß? Ich sah ihn genauer an. »Ich glau nicht«, sagte ich dann, »aber es g viele Dinge, die man sich einbild kann. Hast du Beschwerden?« Er zögerte. »Nein«, meinte er dan »aber...« »Aber?« Er zögerte wieder. »Einige meiner B kannten scheinen der Ansicht zu se
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daß ich welche haben müßte .. .« Ich horchte auf. War es schon soweit? Nun selbst etwas zögernd, fragte ich ihn: »Welche Art von Beschwerden?« Er zuckte die Achseln. »Weiß der Teufel, irgendwas, das mit Atemnot zusammenhängt . . .« »Mit Atemnot?« »Ja. Anfangs hielt ich es für Unsinn, dann begann ich mich für Hals- und Lungenkrankheiten zu interessieren . . . « »Damit machst du dich nur verrückt, Will! Warum suchst du nicht einfach einen Arzt auf?« »Das habe ich getan!« »Und?« fragte ich interessiert. »Nichts. Gar nichts . ..« »Dann bist du auch gesund«, sagte ich mit Nachdruck. Nur halb überzeugt, schüttelte er den Kopf. »Es gibt Krankheiten, die der Arzt nicht sofort feststellen kann, die man nicht sofort selbst spürt . . .« »Du bist nicht krank, solange du dich nicht krank fühlst. Und du siehst nicht krank aus, wenn man von deiner Nervosität absieht. Was du brauchst, ist Ruhe und andere Gedanken und andere Gesichter. Warum machst du nicht Urlaub und fährst ein paar Tage weg?« Es gelang mir schließlich doch, ihn zu überzeugen, und er versprach auch, meine Ratschläge zu befolgen. 168
Aber bereits am Abend war das Geschehen in die entscheidende Phase getreten. Als der Anruf kam, lag die alte Nervosität in seiner Stimme^ und eine deutlich spürbare Angst. »Harry, jetzt bin ich dran«, sagte er aufgeregt. Ich wußte augenblicklich, was er meinte. Ich stellte mich unwissend. »Was ist geschehen?« »Ein Brief lag eben vor meiner Tür . . .« »Ein Brief? Von wem?« »Er ist ohne Absender, Harry. Er ist unterschrieben mit >ein Freund Madalyns<. Aber Madalyn hatte eine Menge Freunde, besonders früher, als sie noch . . . « »Jetzt halt die Luft an«, unterbrach ich ihn, »und sag mir erst einmal, was in dem Brief steht.« Er las vor, und seine Stimme klang etwas heiser: >»Will Olsen, ich will dir helfen. Ich kenne ein schreckliches Geheimnis. Die Hexen warten nicht, bis du auspackst. Ihr Werk ist bereits begonnen. In einem Kellerraum steht ein Galgen und in der seidenen Schlinge baumelt eine Puppe, die dein Haar trägt. Dein Haar, Will Olsen! An den Beinen der Puppe hängen kleine Gewichte, die die Schlinge langsam festerziehen ... bis du erstickst. Es fehlen noch zwei Gewichte, Will Olsen. Nur zwei. Noch ist es Zeit! Verbrenne die Namen und geh fort von hier. Um Madalyns willen,
DIE GALGENPUPPE
geh fort von hier. Ein Freund Madalyns !<« Er lachte unsicher. »Was halst du davon, alter Freund?« teDu hast doch nicht etwa Angst bekommen, Will?« forschte ich. »Natürlich nic^t!« Es klang nicht |>ehr echt. »Glaubst du, daß dieser heimliche Warner recht hat? Daß es diesen Galgen wirklich gibt?« fragte ich ihn. »»Davon bin ich überzeugt. Irgendwo Hhängt man einer Puppe in höchst lägcherlicher Weise Gewichte an die Bei[|ne und reagierte damit seine sadistigschen Komplexe ab.« Er lachte, diesBjmal schon freier. »Wie verrückt kön||nen erwachsene Menschen sein, Har-
Ry?« »Ich bin froh, daß du dich davon nicht beeindrucken läßt. Will«, antwortete ich. »Dennoch würde ich den Rat beherzigen und wegfahren. Deine Nerven sind nicht in bester ...« '»Mit meinen Nerven ist nichts los. Zum Teufel, beinahe hätte ich mich unterkriegen lassen! Nein, Harry«, j^r lachte, »ich fahre nicht weg. Jetzt erst recht nicht. Ich werde diesen Satansschülern beweisen, daß nichts dran ist an ihren geheimen Machenschaften und ihrem Formelgeflüster in finsteren Kellergewölben, das bestenfalls die Asseln vertreibt. Mein nächster Artikel wird die große Sensation, Harry. Ich packe endgültig Mus!«
»Wie du meinst. Will«, sagte ich tonlos. »Aber denke an deine Atembeschwerden!« Damit legte ich auf. Sekundenlang stand ich bewegungslos neben dem Apparat. Will Olsen, du bist ein Narr, dachte ich. Die Angst ist bereits in dir, und sie geht ihren eigenen Weg. Unbewußt. Sie ist letzten Endes doch stärker. Sie ist immer stärker. Der Teufel weiß sie wie niemand sonst zu nützen. Der nächste Tag war heiß — einer der heißesten dieses Sommers. Er war ein Teil jenes Gewebes von Zufällen, das in seinem Ganzen im komplexen Geist des Menschen schließlich den Eindruck des Übernatürlichen erweckt. Dennoch hatte ich nicht erwartet, daß es so rasch gehen würde. Um 14 Uhr läutete das Telefon. Unbewußt hatte ich Will erwartet, aber es war ein Doktor Wenzel von der Unfallstation des Städtischen Krankenhauses. Wie elektrisiert lauschte ich seinen Worten. Und plötzlich stand auch Martha neben mir. Ich beantwortete ihren fragenden Blick 'mit einem Nicken. Ein feines Lächeln erschien auf ihren Lippen. Nach einer Weile, als der Arzt geendet hatte, legte ich müde den Hörer auf. »Will Olsen«, sagte ich langsam, »liegt im Krankenhaus. Er hat einen Hitzschlag erlitten.« Ich hielt inne l6o
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und fuhr dann fort: »Aber daran ist nichts seltsam. Er ist der sechste, der heute mit Hitzschlag eingeliefert wurde. Nur seine Symptome sind den Ärzten unverständlich. Es handelt sich um eine unnatürliche Verkrampfung der Halsmuskeln, die seinen Erstikkungstod herbeiführen können. Seine Lage ist sehr ernst . . . « »Behandeln sie ihn?« fragte Martha. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. In seinem augenblicklichen Zustand würde jeder Eingriff den sicheren Tod bedeuten. Sie können nur warten. »So wird es allen Zweiflern gehen«, sagte Martha fest. »Ich werde zu ihm gehen ...« »Erst wollen wir Ihm danken«, wandte Martha ein. Sie hatte recht. Aber das Würgen in der Kehle schwand nicht, während wir in den Keller schritten. In dem
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kleinen Raum kam die Ruhe über mich, wie immer in Seiner Gegenwart. Martha entzündete die beiden Kerzen an dem kunstvoll geschnitzten Holzaltar. Der Schein enthüllte flackernd die metallene Statue des wahren Herrn über diese Welt und ihre Menschen, einzig wahr, weil seine Macht sich manifestierte. Satan! Schweigend knieten wir nieder. Dann sprach ich das uralte Gebet. Nach einer Weile nahm Martha das letzte der kleinen goldenen Gewichte vom Fuß des Miniaturgalgens auf und befestigte es am rechten Fuß der hängenden Puppe. Es gab einen kleinen Ruck, und der Kopf sank nach vorn. Danach küßte Martha, wie es das Ritual vorschrieb, die Kehrseite der Statue. Oben begann das Telefon zu läu-
h4eine Hekate von Wyman Guin
Einmal, als meine Frau und ich noch Kinder waren, machte ich draußen auf der Treppe der Volksschule in Clearview einen harten, eisigen Schneeball und warf ihn ihr nach. Einen Moment, bevor er traf, kurvte oder hüpfte er über sie hinweg. Danach nahm er seine vorige ballistische Bahn wieder ein und ging direkt durch ein Schulfenster. Der Sheriff war auch da — ich meine, damals war er ein kleiner Junge -, und er sah mich strafend an. »Wenn du schon auf Mädchen schmeißen mußt, warum triffst du sie dann nicht? Ich kann dich dafür betrafen.« Ich beachtete ihn nicht. Es machte mir auch nichts aus, daß ich wegen des zerbrochenen Fensters eine Strafpredigt hören würde. Ich glaubte eine Entdeckung gemacht zu haben—mein gutes Ich hatte meinem Arm diesen wunderbaren Schwung gegeben, um mein böses Ich daran zu hindern, das hübsche kleine Mädchen zu treffen. Als der Rektor mich gehen ließ, lief ich heim und holte meinen Baseball. »außen im Hinterhof stellte ich mir
vor, daß sie drei Meter von der Garage entfernt war. Ihr hübsches rotes Haar kam unter der Schneemütze vor, und ihr süßes kleines Gesicht lächelte mich an. Dann begann ich mit jedem Griff und jeder Verrenkung, die mil nur einfielen, nach ihr zu werfen. Obwohl ich sie mir als mein Ziel ebenso deutlich wie ein Bild vorstellen konnte, brachte ich nicht einmal mit einem Löftler unter dem Arm durch diesen Aufwärtsschwung fertig. Schließlich schmerzte mein Arm so, daß ich ihn kaum noch rühren konnte, und ich war zu müde und entmutigt, um weiterzumachen. Genau da marschierte sie ganz unschuldig mit ihrem kleinen grünen Schneeanzug in unseren Hof. Nun, ich ließ mein böses Ich direkt nach ihr zielen. Der Ball vollführte eine Sinuskurve wie der Schneeball, und ich gab meinen Traum auf, für die Yanks ins Mittelfeld zu gehen. Ich dachte immer noch egozentrisch, daß die Kraft, die dem Ball diese Kurve gegeben hatte, aus meinem 171
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Arm kam, und im Laufe der Jahre gab es noch eine Menge dieser Dinge, die ich falsch auslegte. Zum Beispiel ließ sie mich bei einer Verabredung nie warten. Ich konnte sie anrufen, wann es mir gerade einfiel, und sie erwiderte: »Ich bin in zehn Minuten fertig.« Nicht eine Viertelstunde oder eine Stunde. Zehn Minuten. Ich betrachtete es als selbstverständlich, daß sie immer so schnell fertig wurde, weil eine Verabredung mit mir so wichtig für sie war. Ich schätze, ihr Vater sah die Sache ähnlich an. Er machte mir immer die schwere Vordertür auf, und dann pflegte sich die Haut um seine blaßblauen Augen in Fältchen zu legen. Er streckte die Hand aus, fuhr mir durchs Haar, wie er es seit meiner Kindheit gemacht hatte, und sagte: »Junge, du mußt etwas haben, das mir fehlte. Ihre Mutter, Gott hab sie selig, vertrödelte den ganzen Nachmittag, um sich für eine Verabredung fertig zu machen, und wenn ich hinkam, ließ sie mich noch eine Stunde warten. Geh nur hinein. Sie ist im Wohnzimmer.« Und da war sie auch gewöhnlich, kühl und schön, gekleidet wie eine Göttin. Ihr Vater folgte mir, blieb neben mir stehen und schüttelte den hageren Kopf. »Vor zehn Minuten hatte sie noch Bluejeans an.« Daraufhin warf sie meist schwungvoll das kupferne Haar zurück. »Vater, wenn man es eilig hat, muß man 172
sich nur auf das konzentrieren, was man tut. Dann geht alles von selbst.« Sie konnte das in einem Ton sagen, daß man das Gefühl bekam, es sei fundamentaler als Newtons Gravitationsgesetz. Und so blieb es auch, nachdem wir geheiratet hatten. Sie konzentrierte sich einfach auf das, was sie tat, und alle unsere Freunde wunderten sich, wie leicht es ihr fiel, einen tadellosen Haushalt zu führen und dabei all die Dinge zu erledigen, die sie sich noch nebenbei vornahm. Meine Frau konnte nie verstehen, weshalb andere Frauen Haushaltshilfen brauchten. Selbst bei den mysteriösen Dingen, die hin und wieder geschahen, kam ich nie mit. Wie damals, als wir eine Spätnachmittags-Cocktailparty hatten, die unsere Wohnung in ein Schlachtfeld verwandelte . . . eben als der letzte Gast zu seinem Wagen und seiner wartenden Gattin hinunterstolperte, klingelte das Telefon. Freunde aus der Stadt meldeten sich zu einem Abendessen auf dem Lande an. Meine Frau sah so frisch und hübsch aus wie vor dem Zeitpunkt, als die Jungens zu ausgelassen wurden. »Aber, Liebling, es ist nicht schlimm, wen wir uns auf das, was wir tun, konzentrieren. Du holst die Cocktailgläser und Tablette mit den restlichen Brötchen aus dem Wohnzimmer, und ich kümmere mich um die Küche.«
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Nun, ich marschierte ins • Wohnzimmer und ging umher, und es waren weder Gläser noch Tablette da. Es lag Zigarettenasche auf dem Teppich, die Möbel hatten feuchte Gläserspuren abbekommen, aber der schlimmste Schmutz war verschwunden. Ich ging zurück in die Küche, aber meine Frau war nicht da. Doch der Geschirrspülautomat arbeitete. Ich ging in den Salon, und da fand ich meine Frau. Sie zupfte hier und dort etwas zurecht und summte glücklich vor sich hin. »Es sind gar keine Gläser im Wohnzimmer.« Sie sah mich ein wenig komisch an. Dann lachte sie leichthin. »Oh, ich habe sie wohl weggeräumt, als die anderen ihre Mäntel anzogen.« »Du hast ihnen beim Anziehen geholfen.« »Tatsächlich? Nun, wahrscheinlich nicht die ganze Zeit.« Ich ging in die Putzkammer, holte den Staubsauger und ein feuchtes Tuch und betrat wieder das Wohnzimmer. Der Teppich war gar nicht so schmutzig, wie ich gedacht hatte, als ich ihn das erste Mal ansah. Im Gegenteil, er war überhaupt nicht schmutzig. Die feuchten Ringe auf den Möbeln waren getrocknet und vollkommen verschwunden. Ich sah mich im Zimmer um, und es war alles in Ordnung. Es roch nicht einmal nach Rauch.
Ich trug den Staubsauger und Tuch zurück in die Putzkammer ging in den Salon, um ihr zu he Das Zimmer sah tadellos aus, meine Frau war nicht zu fin Schließlich entdeckte ich sie in Küche. »Mit dir kann man kaum Schritt ten«, beschwerte ich mich. »Liebling, das mit den Gläsern Wohnzimmer tut mir leid. Manch wenn ich so etwas getan habe, ko es mir so vor, als hätte ich nur die sicht gehabt, es zu tun. Verstehs was ich meine?« »Nein, diese Probleme hatte ich nie.« »Nun, des öfteren kann ich mich fach nicht daran erinnern, ob ich was getan habe oder ob ich nur d gedacht hatte. Ich muß nachse um es herauszubringen. Natürlic und sie lachte verlegen über ihre telkeit -, »bin ich eine so gute H frau, daß ich es in den meisten Fä tatsächlich schon erledigt habe.« Während sie sprach, waren ihre H de dauernd an der Küchenanri beschäftigt. »Willst du unseren Gästen San ches mit Huhn anbieten?« »Nein, die sind für uns. Das Ab essen ist da drüben.« Sie hatte Steaks und Gemüse aus Gefriertruhe geholt und orden auf den Arbeitstisch ihrer blitzb ken Küche gelegt.
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»Wann hast du die Zeit gefunden, in den Keller zu gehen?« »Oh, ich weiß nicht mehr. Wahrscheinlich, als du im Wohnzimmer warst. Hier ist dein Sandwich, Liebling. Ich dachte, es wäre besser, wenn wir kurz etwas essen, bevor sie kommen. Sie wollen wahrscheinlich ein' paar Cocktails vor dem Abendessen.« Sie sehen, wie es stand. Sie konzentrierte sich einfach, und alles ging ihr von der Hand. Aber als ganz Clearview über mich und dieses Mädchen zu klatschen begann, da konnte man sagen, daß sich meine Frau zum ersten Mal im Leben richtig wild auf etwas konzentrierte. Ich glaube, ich hatte ein ziemliches Interesse für dieses Mädchen entwickelt. Sie wohnte in Clearview, wo meine Frau und ich in die Volksschule gingen. Es ist ein kleines Dorf, etwa drei Meilen von unserem Landhaus entfernt. Auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz in die Stadt mußte ich durch Clearview, und es begann damit, daß ich das Mädchen abends aus der Stadt mitnahm. Morgens mußte sie früher zur Arbeit als ich und fuhr mit dem Bus. Aber abends — und das war die vertrauensvolle Idee meiner Frau — sollte ich sie von der Arbeit in der Stadt zurück nach Clearview bringen. Was ich immer tat.
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Vielleicht fuhr ich an diesen Abenden langsamer heim. Sie liebte Musik und die neuesten Bücher, und man konnte sich gut mit ihr unterhalten. Sie hatte die Angewohnheit, sich seitlich in ihrem Sitz herumzudrehen, sich gegen die Wagentür zu lehnen und mir beim Fahren zuzusehen. »Wissen Sie,, es gibt in Clearview nicht viele Leute, mit denen ich über solche Dinge reden kann«, sagte sie. »Es war wirklich großartig von Ihrer Frau, daß sie mir zu diesen Fahrten verholten hat.« »Oh, sie tut so etwas gern.« »Finden Sie nicht auch, daß solche Dinge oft das ganze Leben verändern? Ich meine, man lernt jemanden kennen, der interessant und erwachsen ist, und wenn man sich länger mit ihm unterhält, dann bekommt man eine ganz andere Lebensauffassung.« ^ Ich jagte den Wagen in die Kurve und lenkte ihn auf dem zwitschernden Pflaster wieder aus. »Ja, das finde ich auch.« Sie seufzte und lehnte den hübschen blonden Kopf so gegen das Fenster, daß ihr zarter Hals und die Kinnlinie zur Geltung kamen, als ich zu ihr hinsah. Sie hatte Augen wie Ingrid Bergmann, und sie starrte jetzt verträumt in die Dämmerung, die sich über dem Highway ausbreitete. »Ich möchte viele wunderbare Leute kennenlernen, und ich möchte mich
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eng mit ihnen befreunden, damit ich mich später, wenn ich alt bin, an all die schönen Augenblicke erinnern kann.« Natürlich hielten wir hin und wieder auf einen oder zwei Cocktails an. Und natürlich, als wir an Sylvester aus der kleinen Bar kamen, warf ich eine Münze recht lässig hoch. Und sie fiel auf die falsche Seite. Also küßte ich sie ein paarmal. Aber das war immer noch keine Berechtigung dafür, das alle in Clearview zu klatschen begannen. Insbesondere, wenn meine Frau dabei war. Meine Frau hat ein ruhiges Temperament, außer sie explodiert einmal, und sie ließ den Dingen bis zum Frühjahr ihren Lauf, was sie wohl als gefährliche Zeit betrachtete, denn sie mußte an junge Böcke denken. Sie war nett zu mir. Aber wenn sie nicht direkt mit mir sprach, war ihre Miene düster. Ich trank keine Cocktails mehr mit dem Mädchen, aber ich hätte es ebensogut tun können, denn das Gerede in Clearview hörte nicht auf. So trank eines Abends meine Frau selbst ein paar Cocktails und knallte anschließend die Karten so hart auf den Tisch, daß ich das ganze Herzsolo ins Auge bekam. Jetzt, da ich zurückdenke, sah sie aus wie Göttin Hekate, die auf der Jagd nach treulosen Liebhabern über das wilde Hochland von Griechenland stürmte. Damals war ich nur entsetzt darüber,
daß die Göttin wie ein Fischweib keifte. »So, ich habe es jetzt von allen anderen gehört. Nun möchte ich es von dir selbst hören. Was gibt es zwischen dir und diesem Mädchen?« Also manchmal wundere ich mich über mich selbst. Was glauben Sie wohl, was ich erwiderte? »Welches Mädchen?« Sie war ruhig wie eine Ozeanwoge, die auf mich zukam. »Du Bock«, sagte sie. Sehen Sie, ich hatte erraten, weshalb sie die Sache bis aufs Frühjahr verschoben hatte, und diese Voraussicht, dieses Durschauen ihrer Denkweise brachte mich auf die Beine. »Ich habe absolut nichts Unrechtes getan«, versicherte ich ruhig. Das Feuerwerk stieg, als wir zu Einzelheiten kamen, die unser Zusammenleben betrafen. Sie ließ sich über gewisse schmerzhafte Faktoren aus und schloß, daß ich gar nicht fähig sei, etwas Unrechtes zu tun. Schließlich entschuldigte sie sogar noch die Kleine, daß sie sich in mich vergafft hatte. »Siehst du, Liebling, ich habe dich schließlich selbst geheiratet«, erklärte sie. »Ich kann es mir nicht leisten, sie deshalb schief anzusehen.« Was ihre Wangen so rötete und den neuen Glanz in ihre schönen Augen brachte, war die Tatsache, daß ihr 175
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Stolz durch die Klatschzungen der Stadt gewaltigen Schaden erlitten hatte. Unser Streit war vorbei, und er war nichts gewesen im Vergleich zu dem, was jetzt kam. Ich hatte meine Frau noch nie so erlebt. Fasziniert hörte ich zu, wie sie die Frauen von Clearview mit spitzen Worten aufspießte. Sie schoß sie ab wie die Tonfüßchen in Jahrmarktbuden und riß ihnen das Stroh aus den Köpfen, bevor sie sie in einem wilden Giftmeer ersäufte. Ich schwamm wie ein Halm obenauf und wurde mit einem unglücklichen Häufchen von Klatschbasen wieder an Land gespült. »Wenn ihre eigenen Ehen nicht so hoffnungslos vermurkst wären, hätten sie deine Eskapaden mit der kleinen dummen Gans ebenso übersehen wie ich.« Ich schwebte verloren da herum, wo ich an Land gekommen war. Weit weg konnte ich ihre herrliche kleine Figur sehen, mal gestikulierend, mal angespannt, während sich die Wortbrandung zurückzog, neue Kraft sammelte und verstärkt gegen mich prallte. Am schwankenden Ufer drehte sie alle durch den Fleischwolf. Sie hatte etwas gegen ihren Geschmack. In Kleidern. In Kunstgegenständen. In der Einrichtung. Ich schwebte in ihrer Nähe, um ihr ein tröstendes Wort zu sagen und die Tränen zu trocknen, denn sie hatten 176
auch etwas gegen ihren Geschmack in puncto Ehemännern. Aber diesen kleinen Punkt hatte sie vergessen. Sie hörte auch nicht auf, als wir ins Bett gingen. Ich machte die Lichter aus. Während einer Pause in ihrer Wut döste ich ein. Ich riß schreckgeweitet die Augen auf, als ich meine Frau im Bett sitzen und konzentriert vor sich hinmurmeln sah. »Ich rotte die Stadt aus. Ich rotte die ganze Stadt aus!« Es ertönte ein grollender Donner, der doch kein Donner war. Man spürte kurz, wie das Fundament des Universums verrutschte, und einen betäubenden Augenblick lang war um uns alles von innen her beleuchtet. Wir starrten einander in dem verstohlenen Schimmer an, und abrupt wurde es wieder dunkel. Ich lag da und fragte mich, was um Himmels willen geschehen sein mochte. Nach langer Zeit hörte ich ihre unterdrückte, zitternde Stimme. »Liebling?« »Ja, Herzchen?« »W—äs — was war das wohl?« »Wahrscheinlich eine Explosion irgendwo. Sieh mal, Herzchen, die ganze Sache tut mir entsetzlich leid. Wir sind jetzt beide müde, deshalb ist es am besten, wenn wir schlafen, aber vielleicht können wir morgen alles ausbügeln.« »Oh, wir könnten es auch gleich ausbügeln.«
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Mein Eifer war einmalig. Ihr Gesicht brannte immer noch, und das machte ihre Lippen heiß und nachgiebig. Sie flüsterte mir wunderbare Dinge zu, und ich flüsterte ihr Dinge zu, an die ich bisher überhaupt noch nicht gedacht hatte. Wir gaben einander einen Gutenachtkuß, und ich ging wieder in mein Bett. Wo ich lange Zeit wach lag und mich fragte, was zum Teufel da passiert sein mochte. Am nächsten Morgen waren der finstere Fluch und das laute Dröhnen nur noch ein Teil eines bösen Traumes, den ich glücklich vergessen hatte. Wir frühstückten großartig und sagten einander noch mehr wunderbare Dinge, und als ich zur Arbeit fuhr, staunte ich darüber, daß sie mich so sehr liebte, um einen solchen Krach zu schlagen. Ich fuhr den Highway 55 entlang, pfiff die Melodien, die ich kannte, vor mich hin und dachte darüber nach, welches Glück meine Frau und ich hatten, daß wir miteinander verheiratet waren. Ich fuhr dahin und achtete auf nichts als die hypnotische Straße, und dann hörte ich mit einem Mal zu pfeifen auf und brach in Schweiß aus. Ich fuhr an den Straßenrand. Eine Feldlerche sang zu meiner Linken. Von vorne hörte ich einen Wagen mit sanftem Schnurren näher kommen. Ich kannte diese Stel-
le am Highway 55. Ich war sie Tausende von Malen gefahren. Etwa eine Meile dahinter mußte Clearview liegen. Aber an diesem Morgen war ich nicht durch das Dorf gefahren. Der entgegenkommende Wagen fuhr an mir vorbei, ein Packard, in dem ein einsamer Fahrer saß. Ich ließ den Motor an, kehrte um und folgte ihm. Als er die Überführung der NorthCentral-Bahn überquert hatte, war ich etwa hundert Meter hinter ihm. Ich sah seine Bremslichter aufleuchten, und er steuerte den Straßenrand an. Statt der scharfen S-Kurve durch Clearview und der südlichen Umgehung des Dorfplatzes erstreckte sich der Highway 55 vor uns, eine glatte, breite Strecke, die nach Süden durch die Felder führte. Da, wo er aus dem Nordwesten vom Highway 17 geschnitten wurde, standen eine Tankstelle, ein Laden und ein paar Häuser, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Und am näheren Ufer des Shadow Lake erstreckten sich zwei große Höfe mit hübschen Stallungen. Normalerweise sah man hier nur verstreute Sommerhäuschen. Man hätte die Straßen und Häuser von Clearview halbverborgen zwischen den Bäumen sehen müssen, die sich etwa bis zu dem Platz erstreckten, wo der Packard parkte. Der Fahrer weiter vorn war ausgestiegen und winkte mir. Ich blieb stehen, 177
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nahm den Gang heraus, schaltete den Motor aber nicht aus. Er kam auf mich zu. Er sah mich an, als hätte ihm eben jemand einen falschen Dollar angedreht. »Sagen Sie, ich fahre die Strecke nicht oft, aber hier in der Nähe müßte doch Clearview sein.« Ich nickte und starrte den Hang hinunter auf die Tankstelle. Es war nur logisch, sich dort zu erkundigen, aber er schien ebensowenig Lust wie ich dazu zu haben. »Waren Sie nicht der Mann, der eine Meile weiter hinten am Straßenrand parkte?« Ich nickte wieder. Ich fühlte mich zu sprechen oder meine Gedanken zu elend und entsetzt, um mit ihm zu sammeln. »Na, und weshalb sind Sie zurückgekommen?« »Hören Sie«, fauchte ich, »wenn Sie sich verirrt haben, dann fragen Sie doch den Mann da unten.« Ich deutete auf die Tankstelle, aus der eben der Tankwart getreten war. Er sprach mit dem Fahrer eines großen Fannlieferwagens. Der Fremde drehte sich wortlos um und stieg in seinen Wagen. Nach einer Weile legte ich den Gang wieder ein und rollte langsam hinter ihm die weitgezogene Kurve hinunter. Ober den sonderbar leeren Feldern zogen weißgeflügelte Möwen eine 178
Schleife und flogen auf den Shadow Lake zu. Es bestand kein scharfer Bruch zwischen dem Altvertrauten und dem Neuen. Es fehlten einfach einige Dinge. Man sah kein Zeichen von Gewalteinwirkung. Nur ein paar Telefonleitungen hingen herunter. Entlang der North-Central-Bahn sah ich einen Ort, wo die Schienen endeten und einen Meter weiter im Osten wieder begannen, um in meine Richtung zu laufen. Das schäbige kleine Bahnhofsgebäude war auch verschwunden. Ich fuhr hinter dem Packard in die Tankstelle und stieg aus. Während ich das tat, ging der Fahrer des Farmlieferwagens zum Highway 17 hinüber. Er war noch sehr jung, und als er an mir vorbeikam, konnte ich sehen, daß er blaß war. Um Mund und Wangen wirkte er ganz gelblich. Der Tankwart rief ihm nach: »He, nimm gefälligst deinen Wagen mit!« Der Junge ging weiter auf den Highway 17 zu, ohne sich umzudrehen. Der Tankwart wandte sich verwirrt und ärgerlich uns zu. »Der Kerl macht mich seit fünf Uhr früh verrückt. Sagt, er kann den Hof seines Vaters nicht mehr finden, wo er Nahrungsmittel abliefern sollte. Fährt rund um den Shadow Lake, kommt nach einer Viertelstunde händeringend zurück und flucht. Und nun läßt er seinen Wagen glatt in
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meiner Einfahrt stehen und verschwindet.« Wir standen einen Moment lang da und sahen dem verrückten Jungen nach, der zum Highway 17 hinaufging. »Na, das sind seine Sorgen, schätze ich«, unterbrach der Tankwart das Schweigen. »Was kann ich für Sie tun, meine Herren?« Der Fahrer des Packards kam wieder zu sich. »Ja«, sagte er mit geschäftiger Eile. »Ich suche Clearview.« Der Tankwart vergaß sein Lächeln wieder. Seine blaßblauen Augen verengten sich zu Schlitzen und funkelten uns aus einem wettergegerbten Gesicht an. »Also jetzt reicht es«, flüsterte er leise. »Was soll das? Ein Massenausbruch aus der Klapsmühle? Sie sind schon der neunte heute morgen, einschließlich eines verrückt gewordenen Busfahrers.« Er ging mit steifen Schritten ins Innere der Tankstelle und kam mit einer Straßenkarte heraus. »Sie wollen also nach Clearview? Na, dann sehen Sie sich selbst an, daß es das Kaff in unserem Staat nicht gibt.« Er stach mit dem Finger beinahe durch die Karte. Ich studierte den Fleck, auf dem es sich befunden hatte, aber Clearview war nicht eingezeichnet. Sonst schien die Karte in Ordnung zu sein. Der Fahrer des Packards bekam es jetzt mit der Angst zu tun. »Ich wollte ja nicht nach Clearview selbst.«
Der Tankwart sah den Mann lange Zeit an. Dann begann er ums Kinn zu zittern. Schließlich fragte er ruhig: »Wohin wollten Sie denn, Mister?« »Nach Oaktown.« »Ich verstehe. Nun, steigen Sie ruhig in Ihren Wagen und fahren Sie etwa sechs Meilen die Straße entlang, dann sind Sie in Oaktown.« »Vielen Dank. Hoffentlich haben Sie recht.« Als der Packard losfuhr, verlangsamte ein großer Wagen auf dem Highway die Geschwindigkeit. Der Fahrer beugte sich aus dem Führerhaus und schrie uns zu: »He, Leute, bin ich immer noch auf dem Highway 55?« Der Tankwart nickte und winkte ihn weiter. Er war eindeutig mißtrauisch, als er sich mir zuwandte. »Und Sie?« »Ich komme von der Darrow-Chemie«, log ich. »Wir haben einen neuen Artikel, den wir hier gerne einführen würden.« »Kommen Sie herein. Wir können uns bei einer Zigarette unterhalten.« Ich folgte ihm und sagte: »Wie kam er wohl auf die Idee, daß es hier einen Ort namens Clearview gibt?« »Das ist seine Sache, Mister. Ich weiß nur, daß es so was hier nicht gibt.« Er gab mir Feuer. Er hatte etwas sonderbar Vertrautes an sich. Ich suchte in meinem Gedächtnis, aber ich konnte ihn nir179
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gends einordnen. Vielleicht verwirrte mich das gegerbte Gesicht und seine Kleider. Ein kleines Mädchen mit leuchtendrotem Haar kam aus den Wohnräumen im Hintergrund der Tankstelle, lehnte sich gegen den Türpfosten und starrte mich an. Der Tankwart grinste. »Meine Tochter. Niedlich, nicht wahr?« »Hallo? Wie heißt du?« Sie unterhielt sich nicht mit jedem. »Hekate«, half der Tankwart aus. »Komischer Name, aber bei uns recht gebräuchlich.« »Wie lange wohnen Sie schon hier?« fragte ich ihn. »Hm, also das ist gar nicht so leicht zu beantworten, junger Mann.« Einen Moment lang suchte er verzweifelt etwas in meinen Augen, was er nicht zu begreifen schien. »Mein ganzes Leben, schätze ich.« Ich starrte ihn an. Er schüttelte verlegen den Kopf, doch dann grinste er vertrauensvoll. »Eine ganze Menge geheimnisvoller Dinge, was? Wenn man der Typ dazu wäre, könnte man sich schon Sorgen machen.« »Wie meinen Sie das — geheimnisvoll?« »Ach, ich weiß auch nicht. Wie meine Frau zum Beispiel. Sind Sie verheiratet?« Ich nickte. Über seine Schulter hinweg konnte ich durch das Fenster sehen. iso
Ein Mann im dunklen Anzug 'wanderte ziellos durch ein Feld, das sich in Richtung des Shadow Lake erstreckte. Ich erkannte ihn. Er wohnte auf dem Land draußen, aber er hatte einen Laden in Clearview besessen. Der Tankwart fragte mich mit ganz ernster Stimme: »Wie alt ist Ihre Frau?« »Zwei Jahre jünger als ich. Ungefähr achtundzwanzig.« Er sprach langsam und bedächtig, als hätte er ein Problem, das er nicht lösen konnte. »Ich dachte mir auch, daß es so richtig sein müßte. Sehen Sie, meine Frau ist siebenundachtzig.« Ich konnte ihn nur mit offenem Mund anstarren. Er selbst war nicht älter als sechsunddreißig. Dann dachte ich an das kleine rothaarige Mädchen, sah sie an und warf ihm wieder einen Blick zu. Er seufzte tief. »Sie ist die Tochter meiner Frau.« Da? Kind drehte sich langsam um, sah mich nachdenklich an und lief dann wieder in die Wohnung. Wir hörten gleichzeitig die Sirenen, die sich von der Stadt her näherten. Zwei Polizisten fuhren auf Motorrädern vor einem Polizeiwagen her. Sie kamen über den Hügel und hielten auf die Tankstelle zu. Dann stellten sie die Maschinen ab und blieben ruhig daneben stehen, während drei Männer in Zivil und ein Uniformier-
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ter aus dem Wagen kletterten. Die Sirenen erstarben mit einem melancholischen Laut in der ruhigen Frühlingsluft. Einer der Männer in Zivilkleidern führte die Gruppe vom Wagen zur Tankstelle. ' »Was geht hier vor?« fragte er, als wollte er dem Treiben in den nächsten zehn Minuten ein Ende bereiten. »Nichts geht hier vor.« Der Tankwart zeigte sich unberührt und gar nicht unterwürfig. »Wo ist Clearview?« Ich sah, wie der Tankwart zusammenzuckte. Zum ersten Mal zweifelte er an sich selbst. Sein einsames Selbstvertrauen brach zusammen. •»Ich sage Ihnen, den Ort gibt es nicht. Es hat ihn nie gegeben. Ich bin ein Einheimischer und habe noch kein Wort davon gehört.« Er begann zu flennen und setzte sich auf die Treppe, wo er in ein Taschentuch schluchzte. Die Polizisten waren bei ihren Maschinen geblieben. Sie unterhielten sich miteinander, und über das Heulen des Tankwarts konnte ich die ungerührte Stimme des einen hören: »Ich war noch nie in der Gegend. Hat sie sich wirklich verändert?« »Klar. Ich kann es mir nicht vorstellen. Soweit ich sehe, ist nichts geschehen, nur daß die Ortschaft fehlt.« Die Zivilbeamten wandten sich mir zu. »Was machen Sie hier?«
»Ich wohne da drüben.« »Was heißt >da drüben« »Blue Lake. Ich wohne am See.« »Hatten Sie heute morgen hier zu tun?« »Ich war auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz in die Stadt. Ich — Clearview ist verschwunden.« »Das sehe ich selbst. Was hatten Sie damit zu tun?« »Ich besprach mich mit meinem Partner östlich von Tucumcari in Neumexico. Wir brachten die ganze Sippschaft — Männer, Frauen und Kinder — an einen Ort in West-Oregan, den ich eigens dafür ausgewählt hatte. Wir wurden erst bei Morgengrauen fertig, und ich bin hundemüde.« Ich ging auf meinen Wagen zu, aber einer der Männer packte mich am Arm. »Einen Augenblick, Mister. Sie sind vielleicht genauso ehrlich verblüfft wie jeder andere amerikanische Staatsbürger hier. Andererseits könnte es sich um einen Anschlag der Kommunisten handeln, und wir dürfen kein Risiko eingehen.« »Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte ich. »Ich kam zu dem Schluß, daß sie es nicht nötig hätten, Spione einzuschleusen, wenn sie mit solchen netten Tricks zu arbeiten vermögen. Könnte es nicht sein, daß heute morgen in Washington einige Leute geschlafen haben?« »Unsere Aufgabe ist es, nur nach 181
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Clearview zu sehen«, sagte er mürrisch. Mein Ärger war verraucht. Der Scherz, daß mein Partner und ich erst bei Morgengrauen fertig geworden waren, hatte eine Klingel in meinem Innern ausgelöst. Sie wurde immer lauter, bis sie schließlich durch mein gequältes Hirn gellte. Denn zum ersten Mal an diesem Vormittag erinnerte ich mich an den fürchterlichen Fluch, den meine Frau in der Nacht zuvor ausgestoßen hatte, an das laute Dröhnen und das Schimmern, das alles durchdrang. Ich sah wohl schuldbewußt und ängstlich drein, aber ich schätze, daß mich meine Schnoddrigkeit von vorher deckte. Die Beamten ließen mich gehen, nachdem sie meinen Namen von meinem Ausweis abgeschrieben und mir einige Fragen darüber gestellt hatten, wie die Landschaft ausgesehen hatte, als ich zum ersten Mal vorbeigekommen war. Wagen stauten sich an der Kreuzung, und die beiden Polizisten mit den Motorrädern schrieben Namen auf und dirigierten den Verkehr mit der gleichen Geschäftigkeit wie immer. Als ich wegfuhr, konnte ich im Rückspiegel das Blinklicht des Polizeiwagens sehen. Das rote Zyklopenauge schwang immer noch sinnlos über der neuen Landschaft. An der Ab182
zweigung zögerte ich, doch dann gab ich den Gedanken auf, gleich nach Mexico weiterzufahren. Meine Frau saß auf der Terrasse und trug einen hübschen kleinen Sonnenanzug, als ich heimkam. Sie drückte eine Schale an die Brust und warf daraus den Tauben Maisbrotbrösel zu. Die Vögel flatterten ihr um die langen schönen Beine. Die Katze saß auf ihrem Schoß, und die Frühlingsbrise zupfte an dem schwarzen Pelz. Die Katze verachtete die Tauben. Sie saß da, wo sie hingehörte, und ihre grünen Augen folgten mir aufmerksam. Ihre lächelnden blauen Augen folgten mir ebenfalls, und das prachtvolle rote Haar hob sich im Wind, ein frevelhafter Heiligenschein. Ihre schmerzhaft netten Worte hingen unbeantwortet über der stillen Terrasse. »Liebling, ich habe mir so gewünscht, daß du bald zurückkommst. Ich habe mir den ganzen Vormittag wunderbare Dinge über uns beide ausgedacht. Jetzt können wir den ganzen schönen Tag miteinander verbringen, nicht wahr?« Ich ging in die Küche und mixte mir einen doppelten Scotch mit Soda. Ich kehrte auf die Terrasse zurück, ließ mich in meinem Liegestuhl nieder und sah der Katze vernichtend in die starren grünen Augen. »Du trinkst am Vormittag?« fragte sie freundlich.
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»Am Vormittag. Den ganzen Vormittag.« »Liebling, du bist so nett und großartig, du solltest immer trinken, wenn es dir Spaß macht.« Ich beobachtete ihr Gesicht, das schöne Gesicht mit den offenen blauen Augen, und ich fragte: »Was glaubst du wohl, was passiert ist?« Sie hatte nur etwas trotzige Mundwinkel, weil ich ihre Frage nicht beantwortet hatte. »Das weiß ich natürlich nicht.« Ich sah sie scharf an. »Clearview ist verschwunden.« Die Katze sprang von ihrem Schoß, und die Tauben schössen in einer wirbelnden Wolke auseinander. Jetzt, da die Katze die Neuigkeit gehört hatte, ging sie zu Beelzebub, um sich mit ihm zu beraten. »Das verstehe ich nicht«, sagte meine Frau verwirrt. »Clearview ist verschwunden. Fort. Es ist ein anderer Ort mit anderen Menschen dort.« Zuerst veränderte sich ihr Gesichtsausdruck nicht. Dann sah sie langsam ehrlich erfreut aus. Ich konnte sehen, daß sie mir nicht wirklich glaubte. Aber der Gedanke machte ihr Spaß. »Du glaubst wohl, du brauchst für deine Sünden nicht zu büßen, was?« fragte ich wütend. »Einfach hochgehen wie ein Dampfkessel, weil ein nettes kleines Mädchen mit Augen
wie Ingrid Bergmann in mich ve schossen ist.« Ich war so wütend, daß ich die Tr nen in meinen Augen spüren konnt »Sie war ein nettes Mädchen. Au wenn sie Absichten hatte. Du weiß daß das ziemlich harmlos ist. Zumi dest saß sie nicht in ihrem Bett un ließ ganze Ortschaften verschwi den.«
Meine Frau hob das Kinn und starr mich trotzig an. Ich fuhr einfach fort: »Hör mir jet zu! Du setzt dich in den Wagen un fährst nach Clearview. Versuch es n zu finden. Entschuldige dich b einigen der armen Frauen, die d gestern nacht so verdammt hast.« »Ich werde nichts dergleichen tun sagte sie ruhig. Ich setzte mein Glas ab, stand a und ging zu ihr hinüber. Ich nahm s mit festem Griff am Arm und führ sie über die Terrasse. Sie stand v Wut kochend neben dem Buick un versuchte mich mit ihren Blicken vernichten. Dann war sie mit eine Sprung im Wagen und raste die Au fahrt entlang. Der Kies spritzte m entgegen. Ich ging zurück in die Küche und pfi eine kleine Melodie vor mich hi während ich mir -noch einen Scot mixte. Am Institut für Höheres W sen würde man ein paar neue Probl me durchzukauen haben. Vielleic
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mußte man im Interesse der Wissenschaft meine Frau auch ausstopfen und sie in Princeton in einem Glaskasten aufbewahren. Sie war zurück, noch bevor sie richtig gestartet war. Jetzt, da ich wußte, was sie war, überraschte mich das nicht im geringsten. Es war vermutlich eine ihrer kleinsten Begabungen. Ich hörte, wie sie abbremste, wie der Wagen die halbe Auffahrt entlangschlitterte, und dann stand sie in der Küche. Sie stand da, und ihre Unterlippe zitterte. Wissen Sie, was sie sagte? »Oh, Liebling! Clearview ist verschwunden!« Ich zuckte mit den Schultern. »Das habe ich selbst gesehen. Was hattest du damit zu tun?« »Glaubst du wirklich, daß das, was ich letzte Nacht sagte ... ist es möglich, daß ich . . . ? « »Du bist eine Hexe«, sagte ich. Das Telefon klingelte, und ich ging durch die Küche und hob ab. Es war der Sheriff. »Oh, hallo!« sagte ich. »Ich sagte Ihnen doch, daß ich Sie wiederwählen würde. Außerdem ist es ein toller Job. Das County ist so ruhig, daß es einfach zu verschwinden scheint.« »Lassen Sie die Witze. Es handelt sich um einen nationalen Notstand. Der FBI kommt in ganzen Scharen.« »Hat dieser Tankwart geschworen, daß ,er weder jetzt noch je zuvor existiert hat?« 184
»Es tut mir leid, daß wir so einen klugen Knaben unter den Zeugen haben. Ich hatte gehofft, der FBI würde einen besseren Eindruck von den Leuten hier bekommen. Haben Sie den Streit mit Ihrer Frau schon hinter sich?« »Wie meinen Sie das?« »Das wissen Sie ganz genau. Jeder in Oaktown wußte, daß sie gestern abend hochgehen würde.« »In Oaktown auch? Die sollten lieber aufpassen, was sie sagen. Meine Frau ...« »Sie haben einen richtigen Goldschatz. Ich verstehe gar nicht, daß Sie mit anderen herumalbern müssen.« Ich grinste meine Frau quer durch die Küche an. »Der Sheriff sagt, du seiest ein richtiger Goldschatz. Ein makabrer Scherz.« »Sie müssen sie übrigens mitbringen«, sagte der Sheriff, »damit sie Ihre Aussagen bei der Untersuchung bestätigt.« »Wo Clearview war?« »Nein. Darum geht es nicht. Wir bringen nur diese Fremden zur Untersuchung nach Oaktown. Dazu alle anderen, die morgens unterwegs waren — also auch Sie.« »Wann?« »Jetzt.« »Ich habe getrunken.« »Sie wollen wohl zum Teufel gehen, was?«
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»Ich will?« fragte ich. »Sie wissen wohl nicht, daß ich schon bei ihm bin?« Ich legte den Hörer auf und wandte mich meiner Frau zu. Sie stand da, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und weinte still vor sich hin, wobei sie mühsam das Schluchzen unterdückte. Ich ging zu ihr und legte die Arme um sie, und sie blieb einfach so stehen und vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter. »Du weinst eigentlich gar nicht wie eine Hexe«, sagte ich. »Vielleicht stimmt es gar nicht. Keiner von uns hat etwas von deinen Kräften geahnt, und die Wissenschaftler sind diesem Phänomen noch nicht auf der Spur.« Sie hob den Kopf. »Oh, Liebling, ich hoffe, sie schaffen es nie. Sie dürfen es nicht herausbringen.« Ich strich beruhigend über ihr schönes Kupferhaar. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Wir gehen zu diesem Verhör und erzählen ihnen, daß ganz Clearview kommunistenfreundlich war. Das wird sie glatt auf die falsche Spur bringen.« Ich brauchte ihnen nichts Derartiges zu erzählen. Man hatte an die vierzig Leute, darunter den Tankwart mit seiner senilen Frau und seiner kleinen Tochter, aus dem Gebiet zusammengetrommelt, in dem sich früher Clearview befunden hatte. Und nun waren alle im Gerichtsgebäude von
Oaktown versammelt und hatten stur eine Tatsache im Kopf — es gab keine Ortschaft namens Clearview, und es hatte nie eine gegeben. Nachdem ich mich eine Zeitlang mit im Saal befand, fielen mir einige Besonderheiten an der Gruppe auf, die verhört werden sollte. Die Männer standen in den verschiedensten Altersstufen. Frauen gab es jedoch nur zweierlei Sorten — ganz alte Weiber, von denen einige mit Zwanzigjährigen verheiratet waren, und kleine Mädchen, die nicht älter als acht waren. Es waren neun kleine Mädchen dieses Alters da, und jedes hatte einen anderen Daddy, der es auf dem Schoß hielt oder ihm über das rote Haar strich, wenn es neben ihm stand. Dann waren acht kleine Jungen da, die feierlich für sich allein dasaßen. Ich spürte den Schatten Siegmund Freuds schwer und bedrückend im Saal. Plötzlich verstand ich, weshalb mir der Tankwart so bekannt vorgekommen war. Er war ein genaues Abbild meines Schwiegervaters — bis auf die ledrige Haut. Alle Männer im Saal stellten meinen Schwiegervater in verschiedenen Altersstufen dar. Alle kleinen Mädchen waren meine Frau. Die feierlichen kleinen Jungen hatten Ähnlichkeit mit mir.
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Als ich meine Frau ansah, die neben mir saß, war sie sehr blaß. Als sie meinen Blick bemerkte, errötete sie jedoch. Die Röte wurde immer tiefer. Sie stieg vom Hals auf und kroch bis zu Jen Wangenknochen. Sie schluckte und wandte sich von mir ab. »Du solltest dich wirklich schämen«, flüsterte ich. »Hättest du mich nicht wenigstens zu einem der Daddys machen können? Hättest du mir nicht eine hübsche junge Brünette zur Frau geben können, damit wir deinen kleinen achtjährigen Hintern versohlt hätten?« Sie zitterte, packte mich am Arm und flüsterte mit angstvoll zu: »Darling, das dürfen sie nicht herausfinden. Bitte — bitte — sorg dafür, daß sie es nicht merken.« Das war eine Untersuchung! Sie war außerdem kurz. Die Beamten wollten zumindest einen kommunistischen Anschlag sehen und die Verdächtigen, die Sü ernsthaft bemüht waren, überhaupt Antworten zu finden, wurden zu unwirklichen Geschöpfen. Schließlich, als die FBI-Männer ihre Angriffe und Verdachtsmomente in etwa erschöpft hatten, erhob sich eine kleine alte Dame auf zittrigen Beinen. Sie deutete mit knochigem Finger auf einen gut aussehenden Zwanzigjährigen, der ebenfalls meinen Schwiegervater darstellte. So blieb sie stehen und deutete mit 186
ihrem Krallenfinger. Mir kam der Gedanke, daß ihre erloschenen Augen früher einmal Ähnlichkeit mit den Augen der Bergmann gehabt haben könnten, und ich sah meine Frau entrüstet an. Im ganzen Saal wurde es still bei dem schrecklichen Anblick der alten Dame, die auf den jungen Mann deutete. Meine Frau sah mich nicht an. Sie vergrub ihr erschüttertes Gesicht in den Händen. Der leitende Untersuchungsbeamte war selbst von dem verrückten Schweigen der Alten beunruhigt. »Madam, wünschen Sie das Wort?« Die alten Stimmbänder sammelten sich um ein geballtes Häufchen Zorn und zischelten: »Der da ist einer. Er ist ein Kommunist.« Jetzt, da die Anschuldigung endlich ausgesprochen war, glaubte der Beamte sie nicht. »Wie kommen Sie darauf?« »Er ist untreu, und er plädiert für die freie Liebe. Er hat heute morgen gedroht, daß er mich verlassen wolle. Er will in die Stadt und jungen Mädchen nachstellen.« Ich mußte den Arm um meine Frau legen und sie an mich ziehen, weil sie so sehr zitterte. Eben als die lähmende Stille im Saal zur Qual geworden war, platzte einer der FBI-Leute heraus: »Ich glaube nicht, daß das ein Fall für uns ist.« Er sagte es kläglich.
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Mit bewundernswerter Schnelligkeit wurde beschlossen, die vierzig Leute wieder in ihr komisches Gebiet zurückzubringen. Wir anderen wurden entlassen. Vor dem Gerichtsgebäude ging der Frühlingstag in zittrigem rotem Licht unter. Unser Freund, der Sheriff, gesellte sich zu uns und tippte beim Anblick meiner Frau mit der Hand an den Hutrand. Zu mir sagte er: »Trins Jken Sie immer noch?« »Natürlich«, sagte ich. »Es ist die einzige Möglichkeit, hier nüchtern zu bleiben.« »Dann kommen Sie mit zum Flamingo, und ich stifte zwei Martinis.« Meine Frau packte den Martini, als sei er die schützende Hand einer Mutter. Der Sheriff war ein großer, trauriger Mann, und er sah sie traurig an. Mich sah er streng an. »Ich habe bemerkt, wie blaß die kleine Frau bei der Untersuchung war«, sagte er. »Es ist eine Schande, wenn so ein Holzklotz wie Sie ihr das Leben so schwer macht. Weshalb bringen Sie die Sache nicht in Ordnung, damit die Weiber bei ihrem Mittwochs-Bridge nichts mehr über sie zu klatschen haben?« »Ich habe die feste Absicht«, versicherte ich ihm. »Die ganz feste Absicht. In meinem jungen Leben wird es fortan keine Seitensprünge mehr geben.«
Der Sheriff wandte sich entschuldigend an meine Frau. »Ich glaube, er meint es ernst.« »Oh, sie weiß, daß ich es ernst meine. Wenn ich mit so einem Gedanken nur spielen würde, hielte ich das Schicksal von Hunderten von Menschen in der Hand. Das macht ihr keine Sorgen. Sie versucht nur, ein braves Kind zu sein und zu beichten, daß sie die Sache angestellt hat.« Meine Frau sah mich an, als hätte ich ihr einen Dolchstoß versetzt. »Was angestellt?« fragte der Sheriff ruhig. »Clearview ausgerottet.« Meine Frau zuckte bei der Feststellung zusammen und schluckte den restlichen Martini. Dann, wie die Verdammte, die ihrem Ankläger verzeiht, streckte sie die Haus aus und drückte die meine. »Liebling, kann ich noch einen Martini haben?« Ich holte einen Schein aus meiner Tasche und gab ihn dem Sheriff. »Ich möchte mich kurz mit der Gefangenen unterhalten. Seien Sie so nett, gehen Sie an die Bar und bestellen Sie uns drei Martinis.« Er ging, ohne sich in seiner Würde gekränkt zu sehen, und ich nahm ihre beiden Hände. »Liebling, du wirst sehen, er glaubt es nicht. Kein Mensch, der davon hört, wird es glauben. Und selbst wenn wir den Sheriff überzeugen könnten, würde er es keinem seiner Kollegen weitersagen, aus
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Angst, sie könnten sich an die Stirn tippen. Natürlich, wenn du es zur Gewohnheit werden läßt, muß der Sheriff seine und ich meine Pflicht tun.« »Oh, Liebling, ich werde es nie wieder tun! Ich werde nie wieder die Beherrschung verlieren, und ich werde mich nicht mehr auf das, was ich tue, konzentrieren. Liebling, wenn du mit anderen Mädchen ausgehen willst, werde ich glücklich darüber sein und —« »Langsam, langsam! Raufen wir uns nicht gleich die Haare und streuen wir uns nicht Asche aufs Haupt. Wir erzählen einfach dem Sheriff, was geschehen ist, und dann gehen wir heim und leben ein friedliches Leben mit unserer Liebe und unserer Schuld.« Der Sheriff kam zurück und stellte die Drinks mit Hausfrauenschwung vor uns hin. Er setzte sich und sah mich streng an. »So, was sagten Sie da von Ihrer kleinen Frau?« »Sie hat Clearview verflucht. Natürlich, ich nehme an, daß jede Stadt im Lande von irgendeiner Frau zu nächtlicher Stunde verflucht wird. Und ab und zu wirkt so ein Fluch eben. Dann erwacht eine Frau und merkt, daß sie eine Hexe ist.« Der Sheriff sah mich mit Abscheu an, aber ich fuhr einfach fort: »Es ist eine gute Theorie, die Sie um unserer Schulfreundschaft willen akzeptieren könnten. Für Ihre alleinige Informa188
tion habe ich noch weitere Einzelheiten. Die Leute, die Sie in diesem Gebiet aufgelesen haben, sind nicht echt. Es sind Schatten oder irgend etwas, das sie geschaffen hat. Diese alten Vetteln sind gealterte Abbilder der Frauen, die ihre Freundinnen waren.« Dem Sheriff reichte es. »Genug mit diesem Unsinn! Ich kenne diese kleine Frau, seit sie ein kleines Mädchen war, und selbst wenn so etwas möglich wäre, ist sie nicht der Typ, der es fertigbringt.« »Sie hat in der Volksschule eine Stinkbombe ins Lüftungssystem geworfen«, erinnerte ich ihn. »Vergessen wir nicht, wer der Schuldige hier am Tisch ist. Die kleine Frau hier hat genug Grund zum Ärger über diese Klatschbase von Clearview gehabt, aber dahinter steckt, daß Sie sich wie ein junger Bock aufgeführt haben.« Wir drehten uns beide in männlicher Panik um, denn meine Frau schluchzte. Die Augen waren geschlossen, und der Mund in dem blassen Gesicht wirkte zusammengepreßt. Sie sah aus wie eine gemarterte Heilige. »Ich habe es getan! Ich habe all die guten Leute zum Untergang verurteilt.« Ihre Tränen rollten ihr über die Wangen und fielen in das leere Glas. *0h, Liebling, ich wünsche mir so sehr, daß ich all diese guten Leute wieder zurückholen könnte.«
MEINE HEKATE
[an hörte einen grollenden Donner, der kein Donner war. Man spürte kurz, wie das Fundament des Universums verrutschte, und einen betäubenden Augenblick lang war um uns alles von innen her beleuchtet. Der Barkeeper, der seine Gläser poliert hatte, sah auf. »Was um Himmels willen war das?« Wir saßen im Flamingo, und meine Frau und ich sahen einander an. Sie rieb mit den Fäusten an den Augen wie ein kleines Mädchen, das die letzten Tränenspuren verwischen will. Ich lächelte, und sie lächelte. »War es das?« fragte der Sheriff. Meine Frau sah mich immer noch lächelnd an und nickte, und er stand auf und ging. Meine Frau beugte sich vor und küßte mich. »Weißt du, ich werde unseren Kin-
dern beibringen müssen, daß sie beherrschen«, sagte sie schließ »Und vielleicht können wir sie so ziehen, daß sie sich nicht so s konzentrieren. Wenigstens nicht' stark.« »Gut«, sagte ich. »Allerdings h ich ganz gern, daß einer der Jun zu den Yanks geht - als Feldspiel Ich traf dieses Mädchen von Cl view kurz danach auf der Str Nach ihrem kurzen Aufenthalt unbekanntem Ort hatte sie sich Heilsarmee angeschlossen. Sie erz te mir, daß sie es als ein tiefgreifen und reiches Erlebnis empfinde. wünschte ihr alles Gute und schwand schnell. Sie hat wirklich Augen wie Ing Bergman, aber kein Mensch w mich dazu bringen, das vor me Frau einzugestehen.
Nichts ist umsonst von Fletcher Pratt
| Dick Bentress band sich die Krawatte | und faßte den vor ihm liegenden Tag |mit gedämpfter Befriedigung ins AuIjfee. Das, was direkt vor ihm lag, in|teressierte ihn nur schwach; nicht daß |er etwas dagegen hatte, in der Einyaufs-Abteilung der Import-Exportinternational zu arbeiten, aber die Durchführung von Routineaufgaben langweilte ihn, nachdem er soviel Zeit — und eine beträchtliche Menge Geld — dafür verwendet hatte, alles zu lernen, was ihm ein gutes Abend-Kolleg über die Prüfung von Patentbeschreibungen und Werkstoffen beibringen konnte. Ein zweiter Grund für die Gedämpftheit seiner Befriedigung lag in der Tatsache, daß er den Grund für seine Bestrebungen, in eine höhere Einkommensklasse zu kommen, erst morgen sehen sollte. Der Grund hieß Candy Evans. Sie war eine Brünette, aber — leider — Geigerin und hatte an diesem Abend Probe. Dick Bentress korrigierte den Sitz seines Jacketts, setzte den Homburg auf, sah in den Spiegel und stellte fest, daß er gut gekleidet war.
Die Tatsache, daß er eine Stelle hatte, die ihn eines Tages irgendwohin bringen würde, plus der Tatsache, daß er gleichermaßen mit einer Freundin und einem Hobby bestückt war, ließ die Gedämpftheit etwas verschwinden, und er ging auf die Straße hinaus. Das Rührei mit Wurst war genau richtig, wodurch die Gedämpftheit weiter schwand. Der Bus kam rechtzeitig und hatte noch leere Sitzplätze. Die Sonne schien, und die Cincinnati-Rotsocken hatten wieder mal gewonnen. Deshalb war die Welt ein recht angenehmes Plätzchen geworden, als der Bus die Ecke zwischen der Dritten und der Grand Avenue erreichte. Als er vom Bus auf den Randstein sprang, spitzte er die Lippen und pfiff die Anfangsmelodie des Triumphmarsches aus der Aida vor sich hin Dann geschah es. Als er einen langen Schritt machte, kam ein fremder Knöchel mit dem seinen in Konflikt. Er segelte durch die Luft und landete bäuchlings auf dem Bürgersleig, das Gerräusch von zerreißendem Stoff in den Ohren. Er 191
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sprang wütend hoch, vergewisserte sich, daß das hübsche Jackett nie wieder hübsch sein würde, und wirbelte herum. »Verdammt noch mal, können Sie nicht — « Er unterbrach sich. Die gegnerische Partei des Unfalls wurde gerade von einem alten Herrn mit Aktentasche auf die Beine gestellt, und sie war genau der Typ, mit dem man liebend gern zusammenstieß. Das Haar, das unter dem leicht lädierten Hut hervorquoll, war rot; das Gesicht hätte jedem Filmstar zur Ehre gereicht, und, soweit er es beurteilen konnte, war ihre Figur strip-teasegerecht. »Ich bitte um Vergebung«, sagte Dick Bentress. »Ich paßte nicht auf, wohin ich ging. Hoffentlich haben Sie sich nicht verletzt?« Er bückte sich und hob ihre Handtasche auf, die neben seinem neuen Homburg lag. »Es war meine Schuld«, sagte sie. »Nein, mir fehlt gar nichts. Aber Sie haben Ihr Jackett zerrissen. Du liebe Güte!« »Nicht der Rede wert«, meinte Dick. »Ich habe noch eines.« Sie trug keinen Ring. »Nein, hören Sie«, sagte sie. »Es war wirklich meine Schuld, und ich werde selbstverständlich die Reparatur bezahlen. Sind Sie nicht Mister Bentress?« »Mein Ruhm ist mir vorangeeilt. Wo192
her kennen Sie mich? Und ich lasse es keineswegs zu, daß Sie irgend etwas bezahlen.« »Ich sah Sie, als Sie vor vierzehn Tagen den Zauberabend in Cliffside veranstalteten. Sie waren großartig. Übrigens, mein Name ist Marion Saxon.« , , Er nahm die entgegengestreckte Hand. »Das freut uns, wenn wir unser Publikum zufriedenstellen, aber weshalb wurden Sie mir damals nicht vorgestellt? Und was suchen Sie bei einer Vorführung für den Elternbeirat? Haben Sie Kinder?« »Noch nicht. Ich interessiere mich nur schrecklich für Zaubertricks aller Art.« Leute, die zur Arbeit hasteten, stießen sie an, und Dick Bentress hatte eine Eingebung. »Wissen Sie was?« sagte er. »Wenn Sie heute abend frei haben, könnten wir doch zusammen essen, und ich erzähle Ihnen mehr darüber. Das heißt, wenn .. .« Sie senkte den Blick. »Also gut. Wo - « »Kann ich Sie abholen?« »Wenn Sie wollen. Ich wohne in der Summit Avenue, 521, im zweiten Stock. Apartment 2B. Gegen sechs.« Er schrieb alles auf und pflückte eine winzige Taubenfeder von seinem Hut, die sich während des Aufenthalts auf dem Gehsteig dort niedergelassen hatte. »Bis heute abend also. Und es tut mir schrecklich leid, daß ich Sie umgestoßen habe.«
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Er pfiff wieder, als er ins Büro kam. Vom Schreibtisch nebenan sagte Walter Oldman: »Woher die gute Laune? Du siehst aus, als wärst du mit einem Wirbelsturm zusammengestoßen.« Dick grinste, streckte die Hand aus und holte einen halben Dollar aus äden Haaren einer vorbeigehenden '•Schreibkraft, dann sagte er: »Vielleicht. Sie kommt übrigens aus dei;ner Zone. Erinnerst du dich an die [Vorführung, die ich für deine Cliff[side-Eltern Vereinigung gab? Sie war |äa, aber du hast gar nicht daran gedacht, sie mir vorzustellen. Wolltest du sie für dich selbst einpökeln?« »Wen meinst du eigentlich?« fragte Oldman. »Ein gnädiges Fräulein namens Marion Saxon. Sie wohnt in der Summit Avenue — nahe genug, daß du sie kennen müßtest.« |»0h, ich kenne sie nicht persönlich, tber ich weiß einiges über sie. War jar nicht anders möglich — alle alten (latschweiber von Cliffside haben sie zum Ziel Nummer Eins für ihre Zungen gewählt. Sie ist unser Lokalgeheimnis. Zog vor etwa einem Monat ein, hat offensichtlich genug Geld und keinen Kummer, zieht sich schön an und kümmert sich nicht um andere Leute. Das ist einer der Gründe für die Klatscherei. Die Saxon tauchte bei der Vorführung für die Lehrervereinigung auf und hat ihre Spende für den Gesundheitshilfsfond gelei-
stet, aber als sich die Leute vom B geklub und ähnlichen Institutio anbiedern wollten, war es schon a Und die einheimischen jungen M ner machen auch keinen Eindr auf sie. Einfach unnahbar, das ist e »Das ist verdammt komisch«, mei Dick und setzte sich auf den Schr tischrand, damit seine Stimme n durchs ganze Büro schallte. »V dammt komisch.« »Wie meinst du das?« »Nun, ich traf sie eben an der E zwischen der Dritten und der Gra Avenue. Unsere Bekanntschaft k zustande, als wir übereinander s perten, nachdem ich den Bus ver sen hatte. Nur, ich könnte schwö — so wie ich stolperte, war es A sicht von ihr. Und als ich sie um e Verabredung für heute abend hat sie nicht einmal so lange ge gert, daß ich es mir anders überle konnte.« Walter Oldman grinste. »Das ist ne Unwiderstehlichkeit. Aber Candy lieber nicht erfahren, daß mit ihr ausgehst. Die Saxon ist gen der Typ, bei dem jede Freundin ho geht.« »Es ist nichts weiter dabei«, sa Dick. »Sie interessiert sich für Z bertricks und hat vielleicht ein p gute Einfälle. Ich muß mir für Rummel der Amateurzauberer-V einigung, der nächsten Monat st findet, noch eine neue Nummer
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fallen lassen, sonst verliere ich meine Lizenz. Und bis jetzt ist mir noch nichts Vernünftiges eingefallen.« Er rutschte von der Schreibtischkante. »Oh, übrigens«, sagte Oldman. »Carver hat gestern abend von Pittsburgh angerufen, nachdem du schon fort warst. Ich habe die Nachricht aufgenommen. Er sagte, der Chemie-Boß bei Murphy überläßt uns die Formel des neuen Reinigungsmittels Murphylen für Laborversuche, will uns aber verpflichten, sie nicht weiterzugeben. Möchte nicht, daß sie der Konkurrenz in die Hände fällt.« »Verdammt«, sagte Dick. »Und der Fünftonnenauftrag von Brasilien baut auf der Klausel auf, daß wir die Formel mitliefern. Wir können es uns nicht leisten, Sabaudo e Companha vor den Kopf zu stoßen. Als er sie an der Tür küssen wollte, hob sie die Hand und sagte: »Nein. Nicht heute abend.« Dann zögerte sie, als wüßte sie nicht recht, wie er es aufnehmen würde. »Aber Sie können zu einem ganz zwanglosen Drink heraufkommen, wenn Sie wollen. Ich bin allein.« Er folgte ihr durch den schmalen Gang in ein Wohnzimmer, das mit Geschmack, wenn nicht gar mit Vornehmheit eingerichtet war — mit der Ausnahme, daß unter einem der Fenster eine Art Vogelbad mit dem Durchmesser von einem halben Meter hing. 194
Es schien aus Alabaster geschnitzt zu sein, und um die Schale zog sich ein sonderbares Muster aus Löwen in Lilienfeldern. Dick legte den Hut ab und ging näher, um es anzusehen. »Das ist ein interessantes Stück«, sagte er. »Woher haben Sie es?« »Ich brachte es von meiner früheren Heimat mit«, sagte Marion und gab Eis in die Drinks. »Woher kommen Sie übrigens? Ich kann nicht erkennen, was für eine Art von Arbeit das ist.« »Geheim«, sagte sie und lächelte, um zu zeigen, daß das ein kleiner Scherz war. Sie nahm einen Schluck. »Ich möchte doch wissen — « »Was möchten Sie wissen?« »Ich möchte wissen, ob Sie schon einmal daran gedacht haben, die Dinge zu bekommen, die Sie sich wünschen.« »Das tun die meisten Leute«, sagte Dick. »Wenn man es genau nimmt, besteht das ganze Leben daraus — daß man sich Dinge wünscht und versucht, sie zu bekommen.« »Was machen Sie, wenn Sie sich etwas sehnlichst wünschen und es nicht bekommen können? Zum Beispiel, was wünschen Sie sich im Augenblick vergebens?« Dick zog die Brauen hoch. »Wenn Sie es ernsthaft betrachten — ich glaube, ich hätte gern eine Versetzung und Beförderung in meinem Laden. Ich
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habe viel Chemie und Physik studiert, dazu einiges über Werkstorfe und Patentbeschreibungen, und ich wäre vollkommen in der Lage, die Versuchsabteilung zu übernehmen, aber ich schaffe es einfach nicht.« »Weshalb nicht?« Ihre Stimme war küh) und ganz ernst, »Vorurteil, schätze ich. Es gibt in der ganzen Abteilung keinen richtigen Verbindungsmann, jemanden, der mehr als nur einen Teil des großen Bildes kennt. Aber der Boß will keinen; er sagt, es sei die Politik unserer Firma, daß jede Abteilung für sich arbeitet — Sie verstehen, das Büro, das die Maschinen unter sich hat, bearbeitet alles, was mit Maschinen zu tun hat, und so fort. Ich finde, es hält uns auf.« Ihre hübschen Augen sahen ihn unter gewölbten Brauen an. »Haben Sie schon daran gedacht, sich Ihre Wünsche durch Zauberei zu erfüllen?« Er lachte, nahm das weiße Taschentuch aus seiner Brusttasche und warf es ihr zu. »Sehen Sie es sich an«, sagte er und trat zu ihr hinüber. Als sie es ihm zurückgab, rollte er es zu einem Knäuel zusammen und öffnete dann die Hand. Er enthüllte ein grellrot und purpurn gemustertes Halstuch. »Können Sie sich nun vorstellen, daß ich das dem Boß vorführe u-iu dann sage: >Weil ich so gut zaubern kann, möchte ich gern Chef der neuen Patentabteilung werden.<«
»Aber das ist ja gar kein Zauber«, sagte sie. »Das ist Illusion. Ich habe Sie auf der Bühne beobachtet, und die meisten anderen Ihrer Tricks waren auch Illusion. Aber ich glaube, daß Sie ein oder zwei Stücke echten Zaubers vorführten.« Sie war offenkundig so ernst, daß er sein Glas hob, um sein Lachen zu verbergen. »Es tut mir leid«, meinte er, »aber es war wohl alles Illusion. Ich bin zudem Mitglied der Amateurzauberer-Vereinigung, und ich kenne keinen einzigen Trick bei den anderen, der nicht auf Illusion beruhen würde. Der Spaß dabei ist, daß man herauszufinden versucht, wie diese Illusion erreicht wurde.« »Oh.« Sie beugte sich so vor, daß ihre Nackenlinie angespannt wirkte, und ihr Gesicht war ganz ernst. »Ich dachte — manchmal ist es so schwer zu unterscheiden. Aber gab es früher einmal nicht echte Zauberer?« »Vielleicht waren unter den Alchimisten des Mittelalters tatsächlich Leute, die sich für Zauberer hielten«, sagte Dick einsichtig. »Aber mehr gestehe ich ihnen keinesfalls ein. Hin und wieder stieß mal einer auf etwas, das die Naturwissenschaft jener Zeit nicht erklären konnte, und dann glaubte er, ein Zaubermittel entdeckt zu haben. Heutzutage löst man solche Fälle mit dem Reagenzglas.« »Und die Medizinmänner? Und die Wudu-Zauberer?« 195
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»Pah! Sie erzielten ihre Wirkung durch die Leichtgläubigkeit ihrer Opfer. Seabrook hat darüber Nachforschungen angestellt. Ein wesentliches Element beim Verzaubern eines Menschen besteht darin, daß man dem Opfer vorher Bescheid sagt.« »Sie sind schwer zu überzeugen, nicht wahr?« fragte sie. »Wie steht es mit Hexen?« »Es hat nie welche gegeben. Wenigstens keine echten. Die Urteile von Salem beweisen es. Aber wiederum will ich zugeben, daß es vielleicht einige unter ihnen gab, die an sich selbst glaubten. So wie manche Zigeunerinnen an das Glück glaubten, das sie prophezeiten, oder wie es Leute gibt, die das Horoskop und sogenannte Glückstage ernst nehmen.« »Sind Sie nicht etwas zu streng? Die Menschen waren tief in diesen Dingen verwurzelt.« Dick machte eine ausholende Geste. »Sehen Sie, es gibt nirgends und zu keiner Zeit auch nur die Spur eines Beweises, daß natürliche Ereignisse von übernatürlichen Kräften kontrolliert werden können, und darauf läuft im Grunde alles hinaus. Außerdem, betrachten Sie die Sache einmal logisch: alle Hexen, von denen man je gehört hat, waren schreckliche alte Vetteln. Wenn sie wirklich zaubern konnten, weshalb putzten sie sich dann nicht ein wenig heraus? Oder weshalb vermittelten sie den Men196
schen nicht zumindest die ^llusion, daß sie hübsch waren?« Nun lächelte sie zu seiner Überraschung. »Könnte es dafür nicht eine andere Erklärung geben?« »Und welche?« Sie legte eine Hand an die Wange. »Nun, angenommen, nur angenommen, daß es bei der Hexerei wie bei anderen Dingen eine Art Gesetz gibt, daß man für alles seinen Preis bezahlen muß. Wie bezahlt man seinen Erfolg als Hexe und in welcher Form? Oder lassen Sie es mich anders ausdrücken: ein echter Zauberspruch müßte etwas Starkes sein, eine Kraft, die man anwendet. Worin könnte sie bestehen?« Dick lachte. »Machen Sie weiter. Ich glaube, ich weiß, worauf Sie hinauswollen, aber ich bin noch nicht sicher.« »Nun, gehen wir einen Schritt weiter. Angenommen, daß die Kraft aus dem Körper oder der Persönlichkeit des betreffenden Menschen käme — daß man jedesmal, wenn man einen Zauber ausspricht, dafür bezahlen muß, indem man irgend etwas verliert, hier ein wenig und dort ein wenig. Würde da nicht letzten Endes eine Hexe, die eine Menge Zauberdinge vollbracht hat, als eine ziemlich scheußliche Vtttel dastehen, wie Sie es ausdrücken? Und käme es nicht sogar so weit, daß Leute, die zaubern können, es vermeiden und den anderen nichts davon verraten?«
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Diesmal mußte Dick lachen. »Das ist ein neuer Gedanke. Ein Bannspruch als persönlicher Kapitalaufwand. Wenn ich das, was Sie einen echten Zauberer nennen, wäre, würde ich mich ziemlich genau vergewissern wollen, daß ich den vollen Gegenwert bekäme, bevor- ich drauflos zauberte.« Marion Saxon warf ihm einen langen, forschenden Blick zu. Sie war wirklich beunruhigend schön, und nicht einmal der Gedanke an Candy konnte es verhindern, daß sein Puls schneller ging — und der Gedanke an Candy blieb nicht allzu lange. »Würden Sie es gern ausprobieren?« Sie meinte es ernst. Dick sagte: »Wenn Sie überlegen — « »Würden Sie es gern?« »Wenn Sie bei einer Art Experiment mitmachen wollen, bin ich ebenfalls bereit.« »Also gut.« Sie erhob sich schnell und graziös und ging auf die Küche zu, wobei sie über die Schulter hinweg sprach. »Ich glaube zufällig an das, was ich gesagt habe, und ich glaube, daß ich Sie überzeugen kann.« Einen Augenblick später kam sie mit einem Krug Wasser zurück, welches sie in das vogelbadähnliche Ding goß. Dann ging sie ins Bad und kehrte mit einer Flasche zurück, die er als Murphylen erkannte, und schüttete ein wenig davon ins Wasser.
»Sie sehen, es handelt sich keineswegs um einen Teufelssud«, sagte sie. »Es ist in Wirklichkeit alles ganz einfach, vorausgesetzt, man weiß Bescheid und gibt seine Zeit und Mühe und noch einiges andere dafür her — so wie Sie es bei Ihren Zaubertricks tun.« Sie setzte sich und zog die Schuhe aus. »Oh, könnten Sie den Teppich da drüben zurückschlagen?« Alles, was Dick vielleicht denken mochte, wurde von einer überwältigenden Neugicr erstickt. Er mußte sehen, wie die Sache ausging. »Weshalb ziehen Sie die Schuhe aus?« fragte er. »Um die Erdströme auszunützen. Die Schuhe haben Nägel.« »Das Gebäude ebenfalls.« »Ja, aber es ist geerdet, und ich bin es nicht.« Sie ging an den kleinen Schreibtisch in der Ecke, holte eine viereckige Schachtel heraus und legte sie auf den Rand des Vogelbads, dann drehte sie sich um. »Jetzt werde ich etwas unternehmen, damit Sie Chef dieser Abteilung werden können, wie Sie es sich wünschen. Aber es ist so, wie Sie gesagt haben—es erfordert einen persönlichen Kapitalaufwand. Und ich möchte dafür etwas.« »Was denn?« »Das sage ich Ihnen hinterher.« »Oh«, sagte Dick. »Dann hat die Sache also einen Haken?« 197
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Sie schüttelte den hübschen Kopf. »Nein. Ich verspreche Ihnen, daß es etwas sein wird, daß Sie leicht beschaffen können, aber wenn ich es Ihnen gleich sage, erhöht es den Preis, den ich zahlen muß.« »Der Handel gilt.« Er nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und ihm kam der Gedanke, daß das der verrückteste Handel war, in den er sich je eingelassen hatte. Sie sagte: »Macht es Ihnen etwas aus, wenn Sie ins Schlafzimmer gehen und die Tür hinter sich schließen? Es tut mir schrecklich leid, aber ich kann das Risiko nicht eingehen, daß Sie zusehen.« Mit der Überlegung, daß es gewisse Ähnlichkeiten zwischen >echten< Zauberern und Medien gab, tat Dick, was ihm befohlen worden war. Das Schlafzimmer war klein und unbehaglich weiblich, und die Bücher auf dem Nachttisch hatten keine überwältigenden Titel. Er ließ sich in einem der weichen Sessel nieder und zündete sich eine Zigarette an in der Erwartung, eine beträchtliche Weile hier verbringen zu müssen, aber er hatte kaum ein Stückchen geraucht, als sich die Tür öffnete und Marion Saxon, immer noch barfuß, im Eingang stand. »Alles fertig«, sagte sie, »und vielen Dank, daß Sie gewartet haben.« Dick folgte ihr ins Wohnzimmer. »Und jetzt, glauben Sie, wird der Boß 198
seine Meinung ändern und mir die Abteilung geben?« »Ja, wenn Sie meine Richtlinien befolgen«, sagte sie zuversichtlich. »Hier.« Sie gab ihm eine kleine Flasche, und als er sie unters Licht hielt, sah er, daß sie eine kleine feuchte Feder enthielt. »Sie müssen es irgendwie fertigbringen, daß die Feder ihn oder seine Kleider oder etwas, daß er häufig benützt, berührt, und dann etwas sagen, das seine Gedanken auf die Abteilung lenkt. Sie müssen sie nicht einmal direkt erwähnen.« Dick starrte die Flasche an. »Und was mußten Sie dafür bezahlen? Ich meine, wieviel Ihres persönlichen Kapitals ging dabei verloren, als Sie mir hairen?« »Das weiß ich noch nicht«, sagte Marion Saxon. »Bis jetzt ist es nur ein potentieller Zauber; er hat mich noch keine Lebenskraft gekostet. Aber wenn es nur ein Vorurteil ist, das er gegen Ihre Ernennung zum Abteilungsleiter hat, dann ist es vielleicht nicht so schlimm. Ich werde eine Weile lahm sein oder mich vor Hunden fürchten oder einen Zehennagel verlieren — irgend etwas dieser Art. Es ist nur schlimm, wenn man jemand zu etwas überreden will, das er nicht tun will, oder wenn man gegen den Zauber eines anderen ankämpfen muß.« »Also gut«, sagte Dick, »und nun die Preisfrage. Was wollen Sie für Ihren Dienst?«
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Sie hielt die Flasche mit dem Murphylen hoch. »Ich möchte die Formel für das da. Ich weiß, daß sie geheimgehalten wird, aber Sie müßten an sie herankommen, besonders, wenn Ihre Abteilung eingerichtet ist.« Dick erlebte einen heftigen Schreck. »Aber was würde sie Ihnen denn nützen? Sie können von dem Zeug kaufen, soviel Sie wollen, und es ist nicht einmal teuer.« »Sie erinnern sich daran, wovon wir sprachen? Daß ein Zauber einen persönlichen Kapitalaufwand erfordert. Nun, Sie könnten das hier ein kapitalsparendes Mittel nennen, ebenso wie Sie arbeitssparende Mittel haben. Nein, ich werde jetzt keine Fragen mehr beantworten, bis Sie Ihre Abteilung haben. Dann können Sie mich wiedersehen. Gute Nacht.« Dick sagte ebenfalls gute Nacht und ging. Er wußte nicht, ob er die Sache amüsiert oder tolerant betrachten sollte. Es war ein angenehmer Abend mit einem ziemlich überraschenden Ende gewesen. Als er auf die Straße kam, nahm er die Flasche heraus und starrte sie wieder an. Ihm war plötzlich eingefallen, daß er heute morgen, nachdem ihn das Mädchen zu Fall gebracht hatte, eine nasse Feder von seinem Hut geholt hatte. Und es hatte seit zwei Tagen nicht mehr geregnet.
Das Problem, wie es funktionieren sollte, wenn es funktionierte, beschäftigte Dicks Gedanken, als er am nächsten Morgen seinen Hut auf den Kleiderständer im Büro hängte. Zugleich quälte ihn die Frage, wie er diese Feder dem Elefanten andrehen sollte. Elefant war der Büroname für den Boß, der normalerweise E.L. Oliphant hieß. Nun, er war schon so weit gegangen, und da wollte er die Sache auch zu Ende führen. Man gab einen Taschenspielertrick auch nicht gleich auf, weil man das Gefühl hatte, er könnte beim ersten Mal nicht klappen. So wartete er bis halb elf, gewöhnlich die Ankunftszeit des Elefanten, nahm die Korrespondenz von Sabaudo e Companha und machte sich auf den Weg zu dem Büro, in dem Miß Christie den Elefantenstall bewachte. »Hallo, schönes Kind«, sagte er. »Wie stehen die Dinge?« Miß Christie, die sich der Beschreibung eines schönen Kindes nur asymptotisch näherte, nieste und tupfte sich die Nase mit einem Kleenex ab. »Schrecklich stehen die Dinge«, sagte sie. »Ehrlich gesagt. Dick, ich glaube, ich muß mir einen anderen Posten suchen.« »Beileid«, sagte er. »Was paßt dir ari diesem hier nicht?« »Oh, der Posten wäre schon in Ordnung. Es ist nur so, daß ich die Klimaanlage nicht ausstehen kann. Ich 199
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bekomme dauernd Sommererkältungen.« »Doppeltes Beileid. Weshalb versuchst du es nicht mal mit diesen Grippeinjektionen? Übrigens, kann ich ihn sprechen?« Sie warf einen Blick auf den Besprechungskalender. »Wenn du nicht zu lange bleibst. Mister Cooper kommt um viertel nach elf, um wegen der Hoenisch-Sache mit ihm zu verhandeln, und ihm liegt viel daran, sie abzuschließen.« Dick griff in die Tasche und umkrampfte die feuchte Feder, wobei er sich immer noch fragte, wie er sie anbringen sollte. Er ging an Miß Christies Schreibtisch vorbei. Als er vor der inneren Bürotür stand, sagte sie: »Oh, einen Augenblick. Könntest du ihm das hier gleich mitbringen? Es wurde eben von der Reparaturwerkstätte geschickt.« Sie streckte ihm einen goldenen Füllfederhalter entgegen. Innerlich schluckte Dick. Er erinnerte sich an Marions Worte: » — etwas, das er häufig benutzt.« Offensichtlich wirkte der Zauber auch dahingehend, daß ihm günstige Gelegenheiten zugespielt wurden. Äußerlich nahm er den Füllfederhalter ruhig mit der Hand entgegen, in der sich bereits die nasse Feder befand, schraubte mit einer raschen, verstohlenen Bewegung die Kappe ab, legte das winzige Flaumstückchen hinein und drehte die zoo
Kappe wieder an ihren Platz. Dann öffnete er die Tür. Der Elefant, der alles andere als ein elefantenhaftes Aussehen hatte, sah über seine Brillengläser hinweg. »Danke«, sagte er, als Dick ihm die Feder überreichte, und schob sie ein, »Nun, was gibt es?« »Es geht um diesen Sabaudo-Auftrag für Murphylen«, sagte Dick. »Sie haben es zur Auftragsbedingung gemacht, daß wir ihnen die Formel mitliefern, damit sie bei jeder hereinkommenden Lieferung Tests durchführen können. Aber die MurphyLeute wollen nur uns die Formel überlassen, damit wir unsere eigenen Tests machen können. Sie stellen die Bedingung, daß wir sie nicht Weitergeben.« Oliphant sagte: »Ich kann es ihnen nicht verübeln. Sie wollen nicht, daß ihr Produkt in Brasilien schwarz hergestellt wird.« »Es geht noch um andere Dinge, Sir«, sagte Dick. »Ich weiß nicht, ob Sabaudo das Zeug selbst herstellen will oder nicht, aber die Leute haben eine gewisse Berechtigung für ihre Forderung. Murphylen ist heutzutage zweifellos eines der besten Reinigungsmittel der Welt, wenn nicht das beste, aber die Lieferposten sind nicht alle gleich, und eine schlechte Lieferung verdirbt bei dem heißen Klima. Eine Sendung, die Sabaudo von uns bekam, wurde unbrauchbar. Und wir
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wollen die Leute natürlich auch nicht verärgern.« Oliphant trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. »Ohne die Formel kann es nicht getestet werden? Ich könnte mir denken, daß ein guter Chemiker — « »Ich habe mich selbst viel mit Chemie befaßt«, erwiderte Dick. »Ich würde es nicht gern tun. Man kann es analysieren und die Grundbestandteile bekommen. Das hat vermutlich die Murphy-Konkurrenz bereits getan. Aber das verrät uns nicht, wie die Komponenten zusammengesetzt werden, ob beispielsweise ein gegebenes Kohlenstoffatom mit einem gegebenen Wasserstoffatom gebunden wird. Wenn man weiß, wie das Zeug ursprünglich zusammengesetzt war, weiß man auch, wo man nach Schwierigkeiten suchen muß.« »Ich verstehe.« Der Elefant lehnte sich in seinem Sessel zurück — es war komisch, daß Vorgesetztensessel nie quietschten -, preßte die Fingerspitzen gegeneinander und sah wieder über seine Brille. »Der Vorschlag ist schon des öfteren gemacht worden, und jetzt, da das Geschäft größer wird, finde ich es an der Zeit, einen Wechsel vorzunehmen. Ich habe mich in Anbetracht solcher Vorkommnisse entschlossen, eine eigene Versuchsabteilung einzurichten, und ich bin der Meinung, daß Sie sie leiten sollten. Wären Sie bereit dazu?«
Dick spürte, wie er in seinem Sessel schwankte. »Ich wüßte nichts, was ich lieber täte«, würgte er hervor. »Gut. Begeisterung für die Arbeit ist die beste Garantie dafür, daß Sie für die Stelle geeignet sind. Ich gebe Ihnen für den Anfang einen Assistenten, aber Sie können sich ruhig an mich wenden, wenn die Arbeit zuviel wird. Damit will ich sagen, machen Sie nicht alles persönlich, um zu beweisen, wie gut Sie sind. Und nun zu dieser Murphylen-Geschichte. Ich glaube nicht, daß Sie Ihr Labor rechtzeitig fertig haben, um die Tests selbst vorzunehmen, deshalb schlage ich vor, daß Sie es folgendermaßen machen: Schreiben Sie an Sabaudo und fragen Sie die Leute, ob Ihnen unsere Tests und Garantien genügen. Erklären Sie, daß das Produkt in einem geheimen Prozeß hergestellt wird, der geheim bleiben soll. Dann holen Sie sich die Formel von Murphy und mieten eine Zeitlang ein Labor, um die Tests durchzuführen. Nur seien Sie vorsichtig, damit die Formel nicht durchsickert.« Dick stand auf. »Vielen Dank«, sagte er. Der Elefant winkte ab. »Sie können sich mit Stein darüber unterhalten, welche Ausrüstung und wieviel Platz Sie brauchen. Um die Gehaltsfrage kümmere ich mich.« Er schob die Sabaudo-Papiere über den Tisch. Es hatte funktioniert. Es hatte zwei201
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fellos funktioniert. Er schwebte auf Wolken, als er auf den Telefonapparat zusteuerte, um Candy die gute Nachricht mitzuteilen. Unterwegs blieb er nur bei Miß Christie stehen und riet ihr: »Verlangen Sie heute von ihm, was Sie wollen, er ist gut gelaunt.« Erst nachdem er sich mit Stein, dem Rechnungsführer, über die Errichtung des neuen Labors beraten hatte, kam ihm der nüchterne Gedanke, daß seine plötzliche Glückssträhne vielleicht nicht auf das Wirken eines Bannspruches zurückzuführen war. Zugleich tauchte ein Gedanke an die Oberfläche, der bisher nur verborgen in seinem Innern genagt hatte: Marion Saxon hatte von »Ihrer neuen Abteilung< gesprochen, als wüßte sie genau darüber Bescheid, obwohl er die Angelegenheit kaum erwähnt hatte. Und sie hatte ihn mit Sicherheit angerempelt, um seine Bekanntschaft zu schließen. Sie wohnte allein und hatte genug Geld, soviel man an der Einrichtung erkennen konnte. Und ihr lag sehr viel an der Murphylen-Formel, für die jemand wie Atlas-Seifen bestimmt eine runde Summe zahlen würde. Dick war nicht der Typ, der sich selbst oder seine Umgebung dramatisierte, aber der Ausdruck >Industriespionage< drängte sich ihm nun auf. Walter Oldman kannte sie zumindest 202
aus der Ferne, also war es nicht unmöglich, daß sie eine Verbindung zur Umgebung des Elefanten besaß. Sie könnte von seiner Absicht erfahren haben, bevor er Dick davon verständigte, daß er eine neue Abteilung bekommen sollte. Vierundzwanzig — nein, etwa sechsunddreißig Stunden würden reichen ... Nein, verdammt, die Ehrlichkeit, ja sogar die Ernsthaftigkeit, mit der sie über echte Zauberkunst gesprochen hatte, konnte keine Illusion gewesen sein ... Am Schreibtisch nebenan rief ihn die plötzlich lauter werdende Stimme Walter Oldmans in die Wirklichkeit zurück. » — Dun- und Bradstreet-Tarife!« sagte er. Es entstand eine Pause. Oldman sagte ins Telefon: »Warum lassen Sie mich nicht wenigstens mit jemandem von der Regierung Verbindung aufnehmen? Wir könnten die Sache aufhalten — « Er unterbrach sich, legte auf und wandte sich Dick zu. »Ich bin verdammt in alle Ewigkeit!« »Wahrscheinlich«, sagte Dick, »und mit gutem Grund. Aber weshalb kommst du gerade jetzt darauf?« »Cooper!« sagte Oldman aufbrausend. »Weißt du etwas von dieser Kugellager-Sache? Hundert Tonnen Kugellager!« »Ich hatte nichts damit zu tun, aber ich hätte ein natürliches Mißtrauen gegen alles, was irgendwie mit Cooper zusammenhängt. Er hat eine
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Menge guter Verbindungen in Europa, aber sie sind so gut, daß er wie ein europäischer Geschäftsmann denkt — das heißt, er schwindelt so viel, wie er es sich eben noch leisten kann, ohne erwischt zu werden. Was hat denn Cooper jetzt gemacht?« »Die Sache ist schlimmer als gewöhnlich«, sagte Oldman. »Er hat den Verkauf von hundert Tonnen Kugellagern an Hönisch in Zürich arrangiert — nur zu Spitzenpreisen. Das allein müßte einen stutzig machen, denn weshalb sollte Hönisch amerikanische Spitzenpreise zahlen, wenn die europäischen Spitzenpreise unter den amerikanischen Normalpreisen liegen?« »Also ein Schwarzmarktgeschäft?« »Ja. Kugellager haben strategischen Wert, und Zürich ist ein freier Umschlagplatz. Diese Kugellager werden direkt durch den Eisernen Vorhang gehen. Es ist illegal und gefährlich für uns und außerdem ein dreckiges Geschäft. Ich brauchte keine zehn Minuten, um es vor ein paar Tagen dem Boß zu erklären. Nun, das am Telefon war er. Cooper war eben bei ihm, und er hat sich anders entschlossen. Die Kugellager werden ausgeliefert. Ich soll die Manifeste ausschreiben, und er will nichts anderes hören.« »Das ist wirklich merkwürdig«, sagte Dick und sah ihn an. »Du hast verdammt recht, Es ist
mehr als merkwürdig, es ist verrückt. Besonders, wenn man bedenkt, wie der Elefant sonst eisern zu seinen Beschlüssen steht. Mist!« Er beschäftigte sich wütend mit den Papieren auf seinem Schreibtisch, während sich ein Gedankenfaden durch Dicks Gehirn schlängelte. Auch er hatte von einem unerwarteten Gesinnungswechsel des Elefanten profitiert. Was geschah, wenn — « »Tschuldigung, Mister Bentress.« Es war der Bürohausmeister mit einem Schraubenzieher. Dick stand auf, um ihn vorbeizulassen. »Was ist los, Arthur?« »Muß an das Fenster ran. Der Boß will^s offen haben.« »Will es offen haben! Du kannst doch die Fenster nicht Öffnen, wenn eine Klimaanlage in Betrieb ist! Da könntest du gleich versuchen, die ganze Ostküste zu belüften.« Arthur drehte sich um und schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht«, sagte er. »Schätze, der Boß hat es sich mit der Klimaanlage anders überlegt. Hat mich hereingerufen und gesagt, er brauchte sie nicht mehr, und ich sollte sie ausschalten und herumgehen, um überall die Fenster zu öffnen.« »Aber wozu denn nur?« »Scheint ein paar Leute hier krank zu machen.« Der Gedankenfaden in Dicks Gehirn wurde zu einem reißenden Strom. 205
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Miß Christie! Hatte sie dem Elefanten etwas gesagt? Er mußte es wissen, und er nahm das Telefon in die Hand. »Miß Christie bitte.« Das Mädchen an der Vermittlung sagte: »Eben kam ein Anruf für Sie herein, Mister Bentress. Möchten Sie ihn zuerst entgegennehmen?« »Geben Sie her. Hallo, hier Bentress.« Die Stimme, die durch die Leitung kam, war so leise, daß er sie kaum hören konnte. Er verstand die Worte nicht. »Hallo«, sagte er, »hallo. Körinten Sie bitte etwas lauter sprechen?« Sie war immer noch leise, aber unterstrichen von einer drängenden Verzweiflung, und er erkannte sie. »Mister Bentress - Dick! Holen Sie sie zurück. Sie saugt mich aus.« »Ich versuche es. Wann kann ich Sie sehen?« »Nicht — in nächster Zeit. Ich rufe Sie an. Sie saugt — mich — aus.« Die Leitung war tot. Er meldete sich bei der Vermittlung. »Warten Sie noch? Oder sind Sie fertig?« fragte sie. »Möchten Sie jetzt Miß Christie sprechen?« »Lassen Sie nur. Ich gehe selbst zu ihr.« Dick nahm einen Stoß Papiere und machte sich auf den Weg zum Büro des Elefanten. Er hatte Glück. Der Boß stand neben Miß Christies Schreibtisch, den Hut in der Hand, offensichtlich in der Absicht, das Haus zu verlassen. 204
»Verzeihung, Mister Oliphant«, sagte Dick, »da ist noch eine Kleinigkeit wegen der Murphy- « Der Boß machte eine abwehrende Geste. »Kommen Sie später damit, ja, Bentress? Ich treffe mich mit meiner Frau zum Lunch. Ich habe den Verdacht, daß es das Vorspiel zu einem Einkaufsrundgang wird, aber man kann einer Frau schließlich nicht alles verweigern, nicht wahr?« Er lächelte. Dick spürte, wie sich kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn sammelten und hinunterrieselten. »Oh«, sagte er. »Ich sehe, daß ich die veränderte Klausel in dem Vertrag nicht unterschrieben habe. Können Sie mir einen Augenblick Ihren Füllfederhalter leihen? Ich habe meinen vergessen.« Oliphant gab ihm wortlos den Füllfederhalter, und als Dick die Kappe abschraubte, holte er mit seinen flinken Zaubererfingern das Stückchen Flaum heraus. Er kritzelte eine bedeutungslose Unterschrift und gab die Feder zurück. »Danke.« Als der Boß gegangen war, hielt Miß Christie Dick mit einer Handbewegung zurück. »Haben Sie das gehört?« fragte sie leise. »Ja«, sagte Dick. »Was ist los?« »Er haßt es, mit seiner Frau Lunch zu essen, und er haßt einen Einkaufsbummel. Solange ich bei der Firma bin, hat er es noch nie getan. Und er hat heute morgen noch einige Dinge getan, die er sonst haßt, wenn einige
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davon auch recht gut für mich waren.« Ihr schmales, ordentliches Sekretärinnengesicht war angespannt. »Ich mache mir Sorgen, daß er einen Nervenzusammenbruch oder sonst etwas bekommt.« »Seien Sie vorsichtig«, meinte Dick. »Höchstwahrscheinlich ist er am Nachmittag wieder ganz der Alte.« Auf seinen Anruf meldete sich niemand. Er hatte an diesem Abend eine Verabredung mit Candy und konnte nicht persönlich in Cliffside nachsehen, was zu schade war, da seine Gedanken dauernd umherstreiften. Die Verabredung endete mit einem ziemlichen Mißklang. Am nächsten Tag war Freitag, und er hatte gehofft, ein wenig früher verschwinden zu können, aber die Hoffnung zerschlug sich, als Stein und der Vertragslieferant um genau halb fünf auftauchten, um mit ihm die Anordnung des neuen Testlabors zu besprechen. Sie hielten ihn so lange auf, daß er nicht einmal mehr eine Dusche nehmen konnte, bevor er sich etwas zu essen holte und zu Candys Konzert hastete. So war es Samstagvormittag, als ihn ein Taxi an der Summit Avenue 321 absetzte. Auf sein Klingeln rührte sich auch niemand. Dick drückte auf die Klingel mit der Aufschrift >Hausmeister<, und nach geraumer Zeit erschien ein ziemlich
kleiner Mann, der dringend eine Rasur nötig hatte. »Ich suche Miß Saxon«, sagte er. »Zwei B. Steht auf der Liste«, sagte der Hausmeister und sah unfreundlich drein. »Sie rührt sich nicht.« »Vielleicht ist sie nicht daheim.« Damit kam er nicht weiter. Dick holte einen Dollar aus der Tasche. »Hören Sie«, sagte er. »Ich bin keiner von denen, die anderen Leuten nachschnüffeln. Ich bin ein Freund von Miß Saxon und versuche sie seit drei Tagen zu erreichen, aber sie antwortet weder auf einen Anruf noch auf sonst etwas. Haben Sie sie in letzter Zeit gesehen?« Der Hausmeister kratzte sich am Hinterkopf. »Jetzt, wo Sie's sagen - eigentlich nicht.« Er schien zu überlegen. »Ich habe auch niemand zu ihr kommen gesehen, aber darum kümmere ich mich im allgemeinen auch nicht.« Dick fuhr fort: »Ich mache mir Sorgen um sie. Als ich mich zum letzten Mal am Telefon mit ihr unterhielt, schien sie sich nicht wohlzufühlen, und da sie so ganz allein wohnt . ..« Der Dollar wechselte den Besitzer. »Ich verstehe«, sagte der Hausmeister. »Sie wollen nachsehen. Wer sind Sie übrigens, Mister?« Dick holte seinen Führerschein, die Klubmitgliedskarte und verschiedene andere Dokumente heraus, die vom 205
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Hausmeister mit offenem Mund bestaunt wurden. »Ich schätze, es geht in Ordnung«, sagte er. »Kommen Sie.« Er ging zum Lift voraus und dann durch den Korridor zu zB, wo er auf die Klingel drückte, mehrere Male klopfte und schließlich den Schlüssel zu Hilfe nahm. »Ist jemand hier?« rief er, als die Tür offenstand. Keine Antwort. Der Hausmeister schob sich hinein, gefolgt von Dick, und knipste das Licht an. Das Apartment wirkte bewohnt, aber nicht im geringsten unordentlich. Das Vogelbad stand immer noch unter dem Fenster. Die Couch, auf der sie gesessen hatte, war von einer offenen Zeitschrift bedeckt. Wie Dick feststellte, mußte sie mitten im Lesen einer Geschichte gegangen sein. »Niemand hier«, sagte der Hausmeister von der Badtür her. Dick ging ins Schlafzimmer, wo er auf sie gewartet hatte. Auch dort befand sich niemand, und das Bett war gemacht. Aber Moment mal — auf dem Frisiertisch stand eines dieser kleinen Köfferchen mit Make-upSpiegel, wie sie Frauen gern für einen kurzen Hotelaufenthalt benutzten. Es war offen. Im Innern befanden sich säuberlich eingeräumt ein paar Kosmetika, aber darüber angeworfen . war ein hauchdünnes Nachthemd. Eines der Fläschchen aus dem Makeup-Fach lag neben dem Köfferchen. 206
Sie hatte also die Wohnung verlassen wollen, war aber dann noch schneller gegangen, als es ihre Absicht gewesen war, denn sie hatte Dinge dagelassen, die eine Frau normalerweise mitnahm. Keine Geldbörse, aber die würde sie auf jeden Fall einstecken. Wie lange nach ihrem Anruf war sie noch hier gewesen? Und weshalb die Flucht? Und wohin? »Sie ist nicht hier. Zufrieden, Mister?« fragte der Hausmeister. Dick überlegte, daß er keineswegs zufrieden war, wenn er sich die Wahrheit eingestand. Sie war nicht sein Mädchen, er konnte nicht für sie oder das, was mit ihr geschah, verantwortlich gemacht werden. Was sie auch getan hatte, es war freiwillig geschehen, und es war absurd, an die Echtheit ihres Zaubers zu glauben. Aber dennoch — es war etwas Drängendes in ihrem: »Sie — saugt — mich —.aus!« gewesen, und irgendwie war es seine Schuld. Vielleicht weil er sie in dem Glauben gelassen hatte, er akzeptiere ihren Zauber. Für Anhänger des Wudu-Kultes war das Akzeptieren der Realität ebenso wirksam wie die Realität selbst. Sie hatte eine Macht ausgeübt, und Keine Antwort. Es kam sechs Wochen lang keine Antwort, sechs Wochen, in denen Dick und Candy das Thema des Hochzeitstermins anschnitten und in denen man
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im Büro überlegte, wann der Elefant explodieren würde. Dick selbst befand sich in fieberhafter Aktivität, als seine Abteilung allmählich Gestalt annahm. Der Elefant besah sich den Ort, runzelte die Stirn und nahm den großen Tag mit keinem Wort zur Kenntnis. Die Klimaanlage blieb ausgeschaltet, und die Fenster blieben offen, und es war Sommer und sehr heiß. Miß Christie war glücklich, und die Kugellagersendung wurde zu Hönisch nach Zürich abgeschickt. Als die sechs Wochen um waren, ging Dicks Puls schneller, als er auf dem Stapel geöffneter Korrespondenz einen handbeschriebenen Umschlag mit der deutlich markierten Bemerkung PERSÖNLICH vorfand. Das mußte es sein. Lieber Mister Bentress, es tut mir leid, daß ich seit jenem interessanten Abend, den wir miteinander verbracht haben, nichts mehr von mir hören ließ, aber ich war etwas in Schwierigkeiten, und ich kann mich auch jetzt noch nicht sehen lassen. Liefen die Dinge nicht so, wie ich sagte? Wenn ja und wenn Sie bereit sind. Ihren Teil des Handels zu erfüllen, dann schicken Sie mir die Formel bitte an untenstehende Adresse. Ich hoffe, daß ich Sie bald wiedersehen kann. Mit freundlichen Grüßen Marion Saxon
Die angegebene Adressse war in der Jefferson Avenue, einem Bezirk, in dem sich hauptsächlich Büros befanden. Dick sah sie stirnrunzelnd an, drehte den Brief herum, traf blitzschnell eine Entscheidung, rief das Archiv an und bat um die Murphylen-Formel. Als sie kam, ließ er sie von einer Stenotypistin abschreiben, verschloß die Kopie in einem Umschlag, schrieb »Miß Marion Saxon« darauf und steckte ihn in die Tasche. Er wollte sich die ganze Sache gründlich ansehen, verflixt nochmal. Er mußte Marion Saxon sehen und erfahren, was nun wirklich geschehen war. In den sechs Wochen seit dem Besuch in ihrer leeren Wohnung war er zu dem klaren Schluß gekommen, daß Zufall nicht alles erklären konnte, und da er auch sonst keine Erklärung wußte, blieb der unbekannte Faktor X. Es war wie bei einem Zaubertrick, den man durch normale Manipulationen 'licht erreichan konnte — man suchte automatisch nach dem Kniff. Und nur Marion Saxon hatte den Schlüssel zu diesem Faktor X. Bei Büroschluß nahm er ein Taxi und fuhr zu der angegebenen Adresse. Es war ein seriöses altes Haus mit sechs Stockwerken. Im Erdgeschoß befand sich ein Tabak- und Zeitschriftenladen, und die Aufschrift an den Fenstern im zweiten Stock besagte, daß hier die >0riginal Doralene-Hutmo207
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den< untergebracht waren. Der träge Liftboy sagte ihm, daß hier niemand namens Saxon wohne und daß er es einmal im Tabakladen versuchen sollte. Der Mann hinter der Theke des Ladens erklärte ebenfalls, daß es hier keine Miß Saxon gäbe, gestand aber ein, daß sie manchmal Post hierher bekam. Eine Gefälligkeitsadresse. Nein, sie kam ganz unregelmäßig her. Ende. Und damit war es für diesmal auch zu Ende. Die Einzelheiten paßten zueinander. Sie wollte ihre Formel und keinen weiteren Kontakt mit ihm - quid pro quo. Sie hatte etwas für ihn getan und damit Schluß. Vielleicht arbeitete sie für Atlas-Seifen oder sonst jemand, er konnte es nicht ändern. Er beschloß sogar, Candy davon zu erzählen - etwas, was er bisher vermieden hatte, denn selbst, wenn man die Absicht hat, ein Mädchen zu heiraten, ruft es meist einigen Ärger hervor, wenn man von einem spektakulären Abend (mit spektakulären Folgen) mit einem anderen Mädchen erzählt. Er bedachte die Frage beim Abendessen im Montmartre, und da Candy ein Konzert in Boston hatte, bedachte er sie auch noch um elf bei einem Scotch mit Soda, als das Telefon klingelte. »Hier Bentress.« Er hatte ein gutes Ohr für Stimmen. Er hörte einen leichten Unterschied, aber es war die gleiche Stimme. »Vie208
len Dank für den Brief. Sie haben Ihr Versprechen gehalten.« Er wollte Candy Evans heiraten, und es gab keinerlei Grund für das plötzliche Prickeln, das ihn durchlief, »Also gut«, sagte er. »Nun sind wir quitt.« »Glauben Sie?« In ihrer Stimme war ein kiemer Trailer. »Würden Sie nicht gern noch mehr erfahren?« »Worüber?« »Über Zauberei.« Er hatte beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. »Ja. Gern. Können Sie mir mehr darüber zeigen — ohne mich aus dem Zimmer zu schikken?« »Ja.« »Wann kann ich Sie sehen?« »Jetzt noch, wenn Sie wollen.« »Wo?« »In meiner Wohnung. Summit Avenue 321.« »Aber - aber -«, stammelte Dick. »Ich weiß. Es ist spät, und mit dem Taxi dauert es bestimmt eine Stunde bis nach Cliffside. Haben Sie Angst vor der Dunkelheit?« Wieder eine blitzschnelle Entscheidung. »Ich komme.« »Bis später also.« Der Hörer wurde aufgelegt, Das Kribbeln hatte er wegen einer bevorstehenden Gefahr, sagte er sich, als das Taxi über die Haffa-StreetBrücke fuhr. Aber er konnte nicht genau sagen, worin die Gefahr bestand.
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'ar es die Gefährdung seiner Verbindung mit Candy durch diese Frau oder etwas Tieferes, Dunkleres? Seine ganze Erfahrung, seine ganze 'Denkart rief ihm zu, daß es das letztere nicht sein konnte -- und doch ... Er gab dem Fahrer einen Vierteldollar Trinkgeld und ging auf das Haus zu. Sie reichte ihm an der Tür ihre kühle Hand. »Hallo, ich bin froh, daß Sie gekommen sind.« Ihr Haar war hochgesteckt, und irgend etwas in ihrem Gesicht hatte sich verändert. »Einen Drink?« »Ja, bitte. Kann ich ihn holen?« »Sie wissen nicht, wo die Sachen sind. Machen Sie es sich bequem.« Er nahm das Buch auf, das neben ihrem Sessel auf dem kleinen Tischchen lag, und stellte mit einem leisen Schock fest, das es sich um Burtons s >Handbuch der Anorganischen Chemie< handelte. Sie kam nach kurzer Zeit mit den Gläsern zurück und nahm ihm gegenüber Platz. Er konnte ebensogut die Offensive ergreifen. Er sagte: »Weshalb haben Sie sich versteckt und mir dann geschrieben?« »Seien Sie nicht so feindselig«, sagte sie. »Ich werde Ihnen sagen, soviel ich kann. Ich mußte eine Handelsba• sis zwischen uns herstellen, bevor ich weitergehen konnte.« »Weshalb?« »Weil Zauber nun mal so ist. Ich sag-
te Ihnen, daß es sich immer um einen Austausch handelt.« Er konnte kaum seine Blicke von ihrem Gesicht losreißen. »Also gut, fahren Sie fort. Es gibt eine Menge Dinge, die ich wissen möchte — zum Beispiel, weshalb Sie mich damals im Büro anriefen.« »Lassen Sie mir Zeit.« Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas und sah ihn über den Rand hinweg an. »Ich werde versuchen, die Dinge der Reihe nach zu bringen. Ich komme von einer anderen Welt.« »Von wo?« »Sie können sie Skoa nennen. Ich kann sie Ihnen nicht beschreiben, ich kann lediglich sagen, daß es dort weiße Türme und Musik und Schnitzereien und Menschen gibt und daß wir alle zaubern können.« »Das klingt faszinierend«, meinte Dick, »auch wenn ich noch nie von dem Ort gehört habe.« Sie schien die Unterbrechung als eine Art Applaus aufzufassen. »Ich wußte, daß es Sie interessieren würde. Das war einer der Gründe, weshalb ich Sie auswählte — weil Sie einen aktiven Geist haben. Erinnern Sie sich, als Sie das letzte Mal hier waren, erzählte ich Ihnen, daß jeder kleine Zauber den Menschen etwas kostet? Nun, die Verluste sind einfach entsetzlich, uad so müssen wir Mittel finden, um sie zu verringern. Und ihr habt eine Menge Dinge, mit denen 209
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man sie verringern kann, wie zum Beispiel Murphylen.« »Ich akzeptiere Ihre These für den Augenblick«, sagte Dick. »Inwiefern hilft Murphylen?« »Habe ich Ihnen nicht eine nasse Feder gegeben? Es ist sehr schwer, eine Feder wirklich naß zu machen, und es erfordert sehr viel Kraft, wenn man kein Hilfsmittel hat. Und wir brauchen es, um in den Teich sehen zu können.« »Das verstehe ich nicht.« Sie lächelte. »Ich kann es Ihnen nicht ganz erklären — noch nicht. Aber Sie verstehen die Sache mit der Feder. Die Person, bei der der Zauber wirken soll, muß mit der Feder in Berührung kommen.« Sie gab ihm jede Möglichkeit zu Einwänden, das erkannte er. Ihr schien wirklich viel an einer Zusammenarbeit zu liegen. »Weiter«, sagte er. »Wir haben diese schrecklichen Verluste an persönlichem Kapital — « Er hob hob die Hand hoch. »Einen Augenblick. Ich habe eine Frage. Sie erklärten mir, daß es Sie etwas kosten würde, wenn Sie mir die Abteilung verschafften, und dann riefen Sie an, daß irgend etwas Sie aussaugen würde. Erzählen Sie mir mehr darüber.« Marion Saxon zuckte leicht zusammen. »Ich wußte es nicht. Es war ein Zauber, bei dem die betroffene Person genau das tat, was die anderen wollten, aber die Wirkung dauerte länger oder war stärker als bei uns — 210
ich weiß auch nicht recht. Als Sie Ihre Abteilung bekamen, merkte ich es sofort. Ich konnte den Schock spüren, und mir war lediglich übel. Ich begann an Eier zu denken, und ich wußte, daß ich nie wieder im Leben Eier essen würde, doch das war schon in Ordnung, und ich hatte etwas ahn» liches erwartet. Da der Zauber auch für Ihren Chef positiv war, wußte ich, daß ich sonst nichts verlieren würde. Doch ein paar Minuten später erlebte ich einen schrecklichen Schock, und ich merkte, daß der Zauber wieder wirkte. Diesmal war es etwas, das ihm schadete, und deshalb war mir klar, daß ich es teuer bezahlen mußte. Und nicht sehr lange danach spürte ich es wieder, und es war wieder etwas Negatives. Da rief ich Sie an, und schon in diesem Moment wußte ich, daß ich Hilfe brauchen würde. Als der nächste Schock kam, lief ich schnell aus dem Haus und ins Krankenhaus. Das ist alles.« »Es tut mir wirklich leid«, sagte Dick. »Ich wußte nicht — « »Bei uns ist es anders«, erklärte sie. »Dieser Zauber wirkte, bis Sie die Feder zurückholten. Ich war im Krankenhaus, und man sagte mir, daß ich Bauchfellentzündung und etwas namens Plaut-Vincentsche Angina hätte, beides zugleich, und obendrein fielen mir die meisten Zähne aus. Das ist einer der Gründe, weshalb ich Sie nicht vorher sehen konnte.«
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Dick sagte: »Ich kann immer nur wiederholen, wie leid es mir tut. Aber sehen Sie, wenn der Zauber Sie so hernimmt, weshalb müssen Sie ihn dann anwenden?« Sie sah ihn an, als fände sie die Frage kindisch. »Aber das tut doch jeder. Und ich möchte einen ersten Platz in Musik, und wie soll ich ihn erreichen, wenn alle anderen zaubern und ich nicht?« »Aber wenn das Murphylen Ihnen einen Vorteil über die anderen gibt, weshalb brauchen Sie dann die Formel? Weshalb kaufen Sie nicht einfach eine Flasche, wenn Sie eine brauchen?« »Verstehen Sie denn nicht? Ich kam durch Zauber her, und wenn ich zurückkehre, werde ich eine zweite Reise nicht schaffen. Außer ich finde eine Möglichkeit, meinen Kapitalverlust einzudämmen. Vielleicht kann ich auch einen Tauschhandel abschließen.« »Und Ihre eigenen Chemiker?« »Wir haben keine, jedenfallls keine, wie es sie hier gibt. Wo es Zauberei gibt, können sich solche Techniken nicht entwickeln. Bei uns war es zumindest nicht der Fall. Deshalb bin ich hergekommen.« Dick trank das Glas leer und stellte es ab. »Ja, ich verstehe. Sie sagten vor ein paar Minuten, daß Sie sich an mich wandten, weil ich einen aktiven Geist hätte. Nun möchte ich wissen,
wie Sie gerade auf mich verfielen. Es gibt ein paar tausend andere Leute mit besseren technischen Kenntnissen — besonders was Murphylen betrifft.« Sie beugte sich vor, und ihr Seidenkleid betonte die Tatsache, daß sie zur Säugetierrasse gehörte. »Wirklich, ich meine es ernst und möchte Sie nicht betrügen. Ich habe Sie ausgewählt, weil Sie zu dieser internationalen Import- und Exportfirma gehören und an eine Menge verschiedenartiger Artikel herankommen. Und weil Sie Zauberer sind und mein Angebot Sie vielleicht verlocken konnte. Sehen Sie, ich habe etwas für Sie getan, und Sie haben etwas für mich getan. Nun kann ich Ihnen das echte Zaubern beibringen, und ich möchte wieder etwas dafür. Nicht nur Murphylen.« Dick überlegte und beschloß, die Sache zu Ende zu spielen. Wenn er bei der Amateurzauberer-Vereinigung wirklich mit einem verblüffenden Trick aufwarten konnte, dann ließ er sich die Sache schon eine Kleinigkeit kosten. Sie durchschauten die Tricks meist schneller als die berufsmäßigen Zauberer. »Also gut«, sagte er. »Angenommen, Sie bringen mir das Zaubern bei. Was wollen Sie dafür? Oder dürfen Sie mir das wie beim letzten Mal nicht verraten?« »Ich kann es Ihnen verraten. Das hier 211
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ist kein Zauberspruch, sondern ein Handel, und wird nicht gezählt. Ich brauche zwei Dinge — einen RandaliGeigerzähler und die Formel für Combarone.« Dick spürte, wie sich seine Gesichtsmuskeln anspannten. Wenn sie die ganze Liste von Handelsgütern, die durch seine Firma gingen, durchgesehen hätte, so wäre ihr nichts Heikleres begegnet. Der Randall-Geigerzähler war das neueste Hochleistungsgerät in Taschenformat, das die AEG herstellte und das auf Lizenz nur an die vertrauenswürdigsten Leute der vertrauenswürdigsten Regierungen exportiert wurde. Und Combarone war das neue Schmiermittel, das Flugzeuge bei Überschallgeschwindigkeiten, in stratosphärischen Höhen und bei Temperaturen unter Null reibungslos funktionieren ließ. »Woher wissen Sie über diese Dinge Bescheid?« fragte er. Sie lachte ein wenig. »Sie vergessen, daß ich zaubern kann. So habe ich Sie auch ausgewählt — von Skoa aus.« »Und wozu brauchen sie die Dinge?« »Das ist ganz einfach. Es sind, wie Sie sagen würden, kapitalsparende Mittel. Ein Geigerzähler wird bei Ihnen für ganz andere Zwecke als bei uns verwendet. Er warnt uns rechtzeitig, wenn uns jemand verzaubern will. Und wenn man sich die Füße mit Combarone umstreicht, kann man die Erdströme besser ausnützen 212
und mit weniger Mühe und Anstrengung zaubern.« »Nein.« Dick erhob sich. »Meine Arbeit wäre keinen Pfennig wert, wenn ich Ihnen geheime Regierungsprojekte einfach so ausliefern würde. Sie können mich nicht um alles Geld auf der Erde dazu bringen. Meine Antwort ist Nein und nochmals Nein.« Sie hatte sich ebenfalls erhoben und stützte bich mit den Händen am Rand des Vogelbades ab. Jetzt seufzte sie. »Es tut mir leid, daß es auf diese Weise gehen muß«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, es würde anders funktionieren. Nun — « Sie kam auf ihn zu und streckte die Hand zum Abschied aus. Ihre Handflächen berührten sich, und ein heftiger elektrischer Schlag jagte plötzlich durch jeden Nerv seiries Körpers. Entweder er schwankte, oder der Raum drehte sich um ihn; in einem Aufblitzen furchtbarer und doch herrlicher Erleuchtung und Sehnsucht wußte er, daß er alles tun würde, um diese Frau festzuhalten. Er preßte sie in einem langen, atemlosen Kuß an sich, und eine feuchte Feder flatterte zu Boden. Als er sie ins Schlafzimmer trug, merkte er, daß ihre Ohren spitz waren. Sie waren es vorher nicht gewesen, aber das hatte jetzt keine Bedeutung.
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Die letzten Klänge von Beethovens Tripel-Konzert erreichten ihren harmonischen Höhepunkt und erstarben in einem Meer von Applaus. Candy Evans, lächelnd und ein wenig erhitzt, stand zwischen den anderen Solisten, nickte dem einen und dann dem anderen zu, während im Hintergrund die Mitglieder des Orchesters ihre Instrumente zusammenräumten. Als die Sitze hochzuklappen begannen, legte sie ebenfalls ihre Geige in den Kasten. Der alte Käkay, ihr Dirigent, stand neben ihr. »Sie waren sehr gut. Miß«, sagte er, »aber der Vortrag kam nicht von einer glücklichen Frau. Wollen Sie Papa Käkay nicht sagen, was los ist?« Sie schüttelte den Kopf, schnappte die Verschlüsse des Geigenkastens zu und preßte die Lippen zusammen. »Es ist schon gut«, sagte sie. »Nur eine Stimmung. Das passiert jedem von uns. Aber vielen Dank.« Sie rannte beinahe von der Bühne zur Garderobe. So war es also zu sehen, man hatte es gesehen. Sie hoffte, daß Walter Oldman, der am Bühnenausgang auf sie wartete, es nicht auch sehen würde. Wenn man ihm nur eine kleine Möglichkeit dazu gab, würde er Schwierigkeiten machen, aber er war der beste Ersatz für Dick zu einer kleinen Plauderei und einem Drink, den sie nach einem Konzert unbedingt brauchte, um ihre Nerven zu beruhigen.
Er wartete, ein sicherer, ruhiger Mann mit Bürstenhaarschnitt. »Gib mir den kostbaren Kasten«, sagte er. »Du warst heute abend großartig. Wohin gehen wir — zum Montmartre?« Ins Montmartre ging sie immer mit Dick. Sie zuckte ein wenig zusammen. »Nein — gehen wir heute lieber anderswo hin.« »Gut. Ich kenne ein kleines italienisches Lokal.« Keiner von ihnen sprach, bis sie einander gegenübersaßen und die Drinks auf dem blau-weiß karierten Tischtuch standen. Walter ergriff zuerst das Wort. »Candy, ich wollte dir etwas sagen, und ich kann es jetzt ebensogut wie ein anderes Mal tun. Ich mache mir Sorgen um Dick.« »In welcher Hinsicht?« Ihre Finger zeichneten Muster auf das Tischtuch. »Er hat ein paar — sonderbare Dinge getan, und ich dachte, du könntest vielleicht herausfinden, was dahintersteckt, und die Sache — hm, ausbügeln.« »Was meinst du? Macht er seine Arbeit in der Versuchsabteilung nicht richtig?« »Oh doch. Das ist es nicht.« Er zögerte einen Moment und zog die Augenbrauen hoch. »Ich erzähle dir am besten die ganze Geschichte. Es gibt ein Reinigungsmittel namens Murphylen, das in Pittsburgh in einem geheimen Prozeß hergestellt wird. Wir bekamen einen Auftrag dafür 213
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von einer brasilianischen Firma, allerdings unter der Bedingung, daß wir die Formel mitheferten, da die Qualität der Sendungen unterschiedlich war. Nun, die Murphy-Leute wollten nicht so weit gehen, aber sie erklärten sich bereit, uns die Formel für eigene Tests zu überlassen, damit wir jede Sendung garantieren könnten. Sie schickten uns die Formel. Ganz durch Zufall entdeckte ich, daß Dick sich von einem-der Mädchen eine Extrakopie von der Formel anfertigen ließ.« »Darin sehe ich nichts Beunruhigendes«, meinte Candy. »Vielleicht brauchte er sie in seiner Versuchsabteilung.« »In welcher Weise? Ich hätte mir übrigens selbst nichts dabei gedacht, wenn nicht noch ein paar andere Dinge vorgefallen wären. Folgendes: Einer unserer europäischen Repräsentanten bekam von einer Firma in der Schweiz einen Auftrag für Kugellager. Nun bin ich vollkommen sicher, daß diese Firma einen Schwarzhandel in den Osten betreibt, und Kugellager gehören zu den gefragten Artikeln. Mister Oliphant war der gleichen Meinung wie ich, daß wir den Auftrag nicht annehmen sollten. Ein paar Tage später überlegte er es Sich, nahm den Auftrag an und ließ die Kugellager ausliefern. Und an diesem Vormittag war Dick lange bei Mister Oliphant.« 214
»Das ist doch lächerlich«, sagte Candy. »Was willst du damit sagen?« »Es ist nicht lächerlich. Ich wäre auch nicht mißtrauisch geworden, wenn nicht die Sache mit dem Murphylen gewesen wäre. Und noch eines: Wir exportieren ein Produkt namens Combarone, ein ganz besonderes Schmiermittel für die Luftwaffe, das streng geheimgehalten wird. Natürlich muß Dick es testen. Nun, ich fand heraus, daß Dick sich die Formel kürzlich von einer Schreibkraft abziehen ließ, ebenso den Herstellungsprozeß.« »Aber keiner dieser Fälle ist wichtig«, protestierte Candy. »Woher weißt du, daß er etwas mit den Kugellagern zu tun hatte? Und die Kopien hat er vermutlich nur für seine Abteilung gebraucht.« »Ich weiß«, sagte Walter. »Es klingt unwichtig. Aber es ist wie bei einer Geheimschrift. Eine Obereinstimmung bedeutet überhaupt nichts, aber wenn man gleich drei identische Punkte hat, glaubt man, einer Sache auf der Spur zu sein.« Candy sagte langsam: »Was für eine Spur glaubst du gefunden zu haben? Und was soll ich dabei tun?« »Du kennst Tim Hurst, nicht wahr? Warum bittest du ihn nicht, sich einmal unauffällig umzusehen? Mit seinen FBI-Verbindungen könnte er — sich eben umsehen, ohne etwas Offizielles zu tun. Ich möchte nichts Offi-
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zielles einleiten, solange die Möglichkeit besteht, daß ich mich täusche.« »Ich verstehe.« Candy senkte den Kopf einen Moment, dann hob sie ihn und sah Oldman an. »Hör mal«, sagte sie, »das kann nicht alles sein. Es ist irgendwie ein anderes Mädchen mit im Spiel, nicht wahr? Ich weiß es, auch wenn die Betroffenen es meist zuletzt erfahren. Ich weiß, daß etwas nicht stimmt, und das wäre die einzige Möglichkeit. Er benimmt sich in letzter Zeit, als stünde er in irgendeinem Bann. Er sitzt da und starrt mich eine Zeitlang an und sagt überhaupt nichts. Und wenn ich mich über einiges mit ihm unterhalten möchte — « »Worüber?« fragte Walter. »Wir können es ruhig besprechen. Wir sind beide Dicks Freunde.« »Also gut. Er wechselt das Thema, wenn ich von unseren Heiratsplänen anfange. Und am Sonntag, als wir uns Wohnungen ansehen wollten, sagte er, daß er im Büro etwas erledigen müßte, und — ich fürchte, ich habe es ihm nicht geglaubt. Und er behandelt mich irgendwie — kühl. Und heute abend ist es zum ersten Mal vorgekommen, daß er mein Konzert nicht besucht hat und daß er mir nicht mal Blumen geschickt hat.« Sie war den Tränen nahe, und Walter legte eine seiner Hände auf die ihre. Candy schluckte und fuhr fort: »Ich weiß es. Ich bin nicht blind. Du
kennst Tim Hurst fast ebenso gut wie ich, und du könntest ihn selbst fragen, ob er sich die Sache ansehen will. Aber du hast wahrscheinlich Angst, daß Dick in eine scheußliche Sache verwickelt ist, vielleicht mit diesem anderen Mädchen, wer sie auch sein mag, und du willst, daß ich es von Tim erfahre. Stimmt es?« »So ungefähr, Candy«, sagte Walter Oldman. »Leider. Ich wollte, es wäre nicht so. Verstehst du — « »Du kannst es mir ruhig sagen. Ich bin erwachsen.« »Am Sonntag hat kein Mensch im Büro gearbeitet. Aber das ist noch nicht alles. Du mußt wissen, ich wohne in Cliffside. Es ist wie die meisten Vororte ein Klatschparadies, und bei zwei Schwestern bekomme ich immer die Volltreffer mit ab. Nun möchte ich nicht zuviel auf Klatsch geben, denn wenn er nicht absichtlich bösartig ist, dann stimmt er meist nicht ganz. Aber was ich in diesem Fall mitbekommen habe, so scheint festzustehen, daß Dick viel Zeit bei unserer geheimnisvollen Vorortschönheit verbracht hat.« »Wie sieht sie aus? Ist sie hübscher
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woher sie kommt oder was sie macht.« Candy legte beide Hände vors Gesicht. »Nun weiß ich endlich Bescheid. Ich habe mich oft gefragt, was ein Mädchen tun würde, wenn sie sich in so einer Lage sähe, und jetzt passiert es mir selbst. Nun, ich weiß, was ich tun werde.« Sie lachte kurz und bitter auf. »Ich lasse es ihr nicht einfach durchgehen. Ich werde dafür sorgen, daß sie ihn mir zurückgibt.« »Es gibt noch eine andere Lösung. Du könntest immer noch mit mir flirten. Vielleicht macht es ihn eifersüchtig.« »Nein«, sagte Candy. »Ich werde ihm nichts vortäuschen, Walter. Ich muß das ganz allein in die Hände nehmen und durchführen, und ich möchte nicht, daß Tim Hurst oder sonst jemand hineingezogen wird.« Sie stand auf. »Besteh bitte nicht darauf, mich heimzubringen. Ich muß über einiges nachdenken. Und vielen Dank für den Drink.« Sie streckte ihm die Hand entgegen und ging. Er starrte noch eine Zeitlang zur Tür, nachdem sie gegangen war. Dann ging er zur Telefonzelle, warf seine Münze ein und wählte eine Nummer. Als sich jemand meldete, sagte er: »Verbinden Sie mich bitte mit Tim Hursts Wohnung.« Das Wohnzimmer in Candys Apartment war winzig, aber sie hatte es mit Geschick, und Geschmack einge216
richtet. Jetzt saß sie in dem großen Holzsessel unter der Lampe, gleich neben dem Fenster. Ihr gegenüber auf dem Sofa saßen Walter Oldman und ein ziemlich unscheinbar aussehender, dunkler junger Mann, Tim Hurst. Zu Candys Linker an dem kleinen Tischchen, das sie von der anderer Gruppe trennte, saß Dick Bentress. Von der Straße her drang die Vielfalt der Geräusche herein, die das Nachtleben einer Großstadt ausmachen, und es war heiß. Ein paar Sekunden sagte keiner etwas, und man konnte die wachsende Spanrung, die in der Luft lag, fast spüren. Dann fuhr sich Candy mit der Hand durchs Haar und sagte: »Dick, ich bat Walter, heute abend Tim herzubringsn, weil — nun, weil er ein paar merkwürdigen Dingen nachgeforscht hat, und - und wir dachten, du konntest ihm vielleicht dabei helfen.« Dick kramte in seiner Tasche nach einer Zigarette und Streichhölzern. Sie konnte sehen, daß er ein wenig blaß um die Lippen war. »Wird hier eine Erklärung von mir verlangt?« fragte er und blies den Rauch durch die Nase. Candy meinte: »Ich möchte gern, daß du es nicht so auffaßt. Dick. Ich mache mir wirklich Sorgen um dich, ebenso wie Walter. Bitte, glaub mir doch.« »Also gut«, sagte Dick, »was wollen die Inquisitoren wissen?«
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»Es handelt sich um kein Verhör, und du kannst es beenden, sobald du willst, indem du einfach keine Antworten gibst«, sagte Walter. »Schließlich sind wir hier nicht bei Gericht. Wir brauchen nur deine Hilfe bei der Ermittlung der Verantwortlichen von einigen Vorfällen. Das ist alles. Erstens — was ist aus der Kopie der Murphylen-Formel geworden? Sie scheint in keiner der Büroakten zu sein.« »Ach das«, sagte Dick. Er nahm einen halben Dollar aus der Tasche, warf ihn in die Luft, fing ihn wieder auf, ließ ihn über seinen Handrücken laufen und dann verschwinden. »Ja, das«, sagte Walter. »Zweitens weißt du etwas über den Verbleib der Kopie, die von der Combarone-Formel und ihrem Herstellungsprozeß angefertigt wurde? Sie ist ebenfalls nirgends aufzufinden.« »Weiter«, sagte Dick. Er ließ den halben Dollar allerlei Tricks vollführen. »Und wer hat den Elefanten dazu überredet, die Kugellager-Sendung zu Hönisch zu schicken? Und weshalb hast du einen der Randali-Geigerzähler aus der Sendung genommen, die gestern ankam, und ihn in deinen Schreibtisch gelegt, bevor du hierherkamst?« »Habe ich das getan?« fragte Dick. »Ja. Ich habe ihn selbst herausgeholt, und ich habe ihn hier.« Er nahm das Instrument hoch.
Candy sah, wie' Dick flüchtig die Stirn runzelte und dann seinen Gesichtsausdruck änderte. »Alle diese Dinge haben vollkommen normale Erklärungen, und ich werde sie euch gleich geben«, sagte er. »Aber ich möchte genau wissen, was man mir vorwirft und weshalb.« Er sah von Walter zu Candy und wieder zu Walter. »Man wirft Ihnen überhaupt nichts vor«, sagte Tim Hurst. »Und die nächste Frage stelle ich. Mein Büro interessiert sich für ein Mädchen namens Marion Saxon. Wir können nichts über sie in Erfahrung bringen, nicht einmal, woher sie kommt, und da wir hören, daß Sie sie des öfteren sehen, dachten wir. Sie könnten uns vielleicht helfen.« Diesmal sah Candy, wie ihm langsam die Röte ins Gesicht stieg. Er sagte vorsichtig: »Weshalb interessiert sich Ihr Büro für sie?« »Ich möchte das im Moment nicht beantworten«, meinte Hurst. »Aber vielleicht können Sie es erraten, wenn Sie sich vorsagen, daß Combarone und der Randall-Geigerzähler streng geheim sind, daß Murphylen in einem Prozeß hergestellt wird, der nur wenigen bekannt ist, und daß die Kugellager ohne jede Frage in Länder des Eisernen Vorhangs geliefert wurden.« Dick lachte. »Ein dicker Fall, nicht wahr? Sie glauben also, daß Miß Sa217
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xon eine schöne Spionin ist, die mir Kugellager und Reinigungsmittel für die Russen entlockt? Lassen Sie mich eines klarstellen — Sie können keinen größeren Irrweg einschlagen. Ja, es gibt eine Erklärung für all diese Dinge, oder besser gesagt, für jedes davon, und ich werde sie Ihnen geben. Aber zuerst entschuldigen Sie mich bitte einen Moment. Candy, darf ich dein Bad benützen?« Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, wandte sich Oldman an Hurst. »Was halten Sie davon?« fragte er. Hurst holte ein Taschentuch heraus und tupfte sich die feuchte Stirn ab. »Nach meiner Erfahrung bei Verhören", sagte er, »sind wir einer Sache auf der Spur, aber es scheint etwas anderes zu sein, als wir glauben. So benimmt sich kein in die Enge getriebener Mann.« Candy sagte aus ihrer Ecke: »Oh, ich hoffe doch nicht — « und unterbrach sich. »Zigarette?« fragte Walter. »Ich nicht«, erwiderte Hurst. »Mir ist ohnehin zu warm.« Die Badezimmertür Öffnete sich, und Dick kam mit einem Glas Wasser heraus. Als er durch das Zimmer ging, stolperte er, machte einen unsicheren Schritt und. stürzte, wobei sich das Wasser über Hurst und Walter ergoß. »Oh, verflixt«, sagte er. »Das tut mir aber sehr leid.« 218
Candy war aufgesprungen, lief in die Küche und kam mit Handtüchern zurück. »Nichts passiert«, meinte Walter. »In so einei warmen Nacht ist das sogar eine Erfrischung.« »Ich hole dir ein anderes Glas«, sagte Candy. »Das ist sicherer.« Dick setzte sich wieder an seinen Platz. Plötzlich fuhr er sich mit der Hand an die linke Wange. »Au!« sagte er. »Was ist los?« .'Die Strafe folgte auf dem Fuß«, erwiderte er. »Ich habe mir bei dem Sturz ein paar Zähne ausgeschlagen . . . « Er machte eine Pause. »Und nun können wir uns den Punkten wid'men, über die ihr Bescheid wissen wolltet. Es war Cooper, der den Boß dazu überredete, die Kugellager zu verschicken, erinnerst du dich nicht mehr daran, Walter? Du hast es mir selbst gesagt. Ich hatte überhaupt nichts damit zu tun. Du vergißt alles!« »Ich - «, begann Walter. Er zögerte einen Moment lang, dann sagte er: »Natürlich hast du recht. Ich hatte es tatsächlich vergessen.« Dick fuhr leichthin fort: »Und nun zur Kopie dieser Murphylen-Formel. Natürlich ist sie nicht in den Akten. Was hätte sie dort zu suchen? Es ist ein geheimer Herstellungsprozeß. Aber erinnerst du dich nicht an den Aktenschrank mit dem Kombina-
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tionsschloß im Büro des Versuchslabois? Als du vorvorgestern in diesem Büro warst, habe ich dir die Einrichtung gezeigt, unter anderem diesen Schrank. Das hättest du nicht vergessen dürfen.« Walter schlug sich aufs Knie. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Du hast davon gesprochen, aber ich dachte nicht mehr daran.« »Die Combarone-Formel mußte für die Sendung nach dem LuftwaffenStützpunkt auf Grönland herausgeschrieben werden. Du weißt, wie kleinlich die Leute von der Luftwaffe mit diesen Dingen sind.« »Das stimmt. Mir wäre nie der Gedanke gekommen, daß es sich um etwas Offizielles handeln könnte.« »Und der Randall-Geigerzähler — könntest du ihn mir mal herüberreichen?« Walter nahm den Apparat aus der Tasche, als Dick auf ihn zutrat. »Nanu, er tickt ja«,, sagte er. »Ich muß radioaktiv sein.« Dick nahm ihn entgegen. »Das ist komisch«, sagte er. »Aber es ist nicht sein normales Geräusch - es klingt eher wie ein Schnurren oder wie das Aufziehen einer Uhr. Wenn du radioaktiv bist, bin ich es übrigens auch. Ich glaube nicht, daß es gefährlich ist. Auf alle Fälle, wenn du hierhersiehst, kannst du feststellen, daß die Schraube an dieser Seite defekt ist. Nun weißt du, was los ist. Ich habe
den Geigerzähler aus der Sendung genommen, um ihn zu richten, bevor wir ihn weiterschicken. Es ist eine so winzige Reparatur, daß ich dachte, wir könnten sie gleich im Labor erledigen.« »Darf ich ihn sehen?« fragte Candy plötzlich. Dick reichte ihr das Instrument. Das sonderbare Schnurren verstummte. »Ich sehe nichts -«, sagte sie, und dann: »Ach, da.« Er nahm den Geigerzähler wieder entgegen, steckte ihn in die Tasche und setzte sich. »Und was -Marion Saxon betrifft, so habe ich sie durch Zufall kennengelernt - was ist los?« Er hatte sich Tim Hurst zugewandt, der mit halbgeöffnetem Mund dasaß und ins Leere starrte. Nun schluckte er und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich kann mich — an nichts —erinnern«, sagte er langsam. »Schätze, die Hitze — macht mir — zu schaffen.« »Möchten Sie sich hinlegen?« fragte Candy. »Nein — schon wieder gut.« Er kam langsam auf die Beine. Walter erhob sich ebenfalls. »Ich sorge dafür, daß er gut heimkommt«,' sagte er. »Und vielen Dank, daß du die Sache nicht krumm genommen hast. Dick. Ich war ziemlich zudringlich.« »Schon gut«, meinte Dick. »Mißverständnisse sind unangenehm, wenn 219
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man sie nicht aufklärt. Einen Moment mal — du hast eine kleine Feder am Ärmel. Da.« Er half ihm. Hurst an die Tür zu bringen, der sich so weit erholt hatte, daß er aufrecht gehen konnte. Candy stand hinter ihm und sagte: »Geh noch nicht.« Dick zuckte leicht zusammen und ging zurück zu seinem Platz. Als sie hörten, daß sich die Aufzugstür draußen schloß, sagte das Mädchen: »Du hast sie an der Nase herumgeführt, wenn ich auch nicht weiß, wie, aber ich habe dich schon so oft zaubern gesehen, daß ich dein Schema durchschaue. Mich kannst du nicht anführen.« »Glaub mir, ich versuche es auch gar nicht, Candy«, sagte Dick. Sie fand, daß seine Stimme eine Spur von Traurigkeit enthielt. »Dann — nein, ich werde dir keine Fragen stellen.« »Über Marion Saxon, meinst du? Sie — nun, sie interessiert sich einfach für Zauberei und — « Er war rot geworden. »Hör auf. Ich werde dir im Moment weder Fragen stellen, noch werde ich mir deine Erklärungen anhören. Ich wollte dir nur klarmachen, daß du bei mir nicht Versteckspielen mußt. Das ist alles.« Sie kämpfte immer noch gegen die Tränen an, als sie hinausging.
Candy löste ihre Frisur und setzte sich an den Bettrand. Es war schon gut, wenn man sagte, man sollte nicht sämtliche Versöhnungswege versperren, und es war auch gut, wenn man es tat. Aber es hinterließ ein Gefühl der Kränkung. Außerdem konnte sie im Moment einfach nichts gegen diese Kränkung tun. Der Gedanke, sich direkt an dieses — andere Mädchen zu wenden, behagte ihr nicht. Ebensowenig wollte sie aber die Hände in den Schoß legen. Dick hatte nun seit zwei Tagen nicht mehr angerufen, seit dem Abend, an dem Tim Hurst auf ihrer Couch einen Anfall von Gedächtnisschwund erlitten hatte. Das Telefon klingelte. Candy sprang auf und rannte an den Apparat, aber es war nicht Dick, jemand mit einem starken deutschen Akzent fragte: »Spreche ich mit der Geigerin Miß Evans?« »Ja.« ' »Mein Name ist Paul Schmitz. Ich habe ein Angebot, das Sie interessieren dürfte.« »Ich fürchte, ich habe im Moment genügend Engagements.« »Es ist kein Engagement-Angebot. Es bezieht sich auf ein ganz anderes Tätigkeitsfeld. Bitte, seien Sie so freundlich und hören Sie mir für ein paar Minuten zu.« »Also gut, ich höre.« »Ich möchte Sie gern persönlich sprechen.«
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»Hm — meinetwegen. Wo sind Sie im habe. Mister Bentress lebt unter eiMoment?« nem echten und starken Zauberbann, »Ich kann in zehn Minuten bei Ihnen und wenn er nicht davon befreit wird, sein.« sind die Folgen für ihn unangenehm. »Sagen wir fünfzehn, ja? Ich muß Mister Hurst leidet bereits an Gemich erst herrichten.« dächtnisschwund, was auf diesen Musiker bekamen alle möglichen An- Bann zurückzuführen ist.« gebote. Kürzlich war man mit der Candy spürte einen leichten Schock. Bitte an sie herangetreten, Leiterin »Sie scheinen ziemlich viel zu wissen. eines Damenorchesters in Havanna Gut, Sie haben mein Interesse gezu werden — aber nein, er sagte, daß wonnen. Fahren Sie fort.« es mit einem Engagement nichts zu »Ich bin ein Lehrer der Magie.« tun hätte. So rätselte sie immer noch, Aut dem Unterhaltungssektor traf als er an der Tür stand, ein kleiner man auf alle möglichen Scharlatane, Mann mit einem schmalen Gesicht, aber auch auf alle möglichen Verrückdas nicht zu seinem Akzent passen ten, die ihre Beute wurden. Candy wollte. überlegte, daß sie sich meistens ge»Paul Schmitz«, sagte er und ver- nau erkundigten, bevor sie sich an beugte sich. Er sah nicht schlecht ein Opfer heranpirschten. »Ich versteaus. he«, sagte sie. »Und Sie möchten nun »Kommen Sie herein.« ' vermutlich den Bann von ihm nehEr nahm auf der Couch Platz und saß men. Für wieviel? Nein, ich fürchte, ziemlich steif da, die Hände auf die aus dem Handel wird nichts.« Knie gelegt. Candy wartete. Die Stimme von Paul Schmitz blieb »Sie sind die Miß Evans, die mit Ri- geduldig. »Sie verstehen nicht«, sagte chard Bentress verlobt ist?« er. »Ich verlange natürlich Bezahlung, Das tat weh. »Ich — ich glaube — , ja. da es zu den Regeln gehört, aber Ihr Hat das etwas mit dem Angebot zu Geld würde wenig nützen. Auch tun, das Sie erwähnten?« möchte ich keinen Gegenzauber aus»Sie sind die einzige, die ihm helfen sprechen, sondern Ihnen beibringen, 'kann. Er steht unter einem Bann.« wie Sie diesen Mann wieder für Sie lächelte schwach. »Ja, ich glaube, sich gewinnen können. Wie kann ich man könnte es so nennen. Aber ich Sie nur davon überzeugen, daß ich es spreche nicht sehr gern über dieses ehrlich meine?« Er sah sich um. »Ah! Thema.« Geben Sie mir Ihr Musikinstru»Miß Evans, ich möchte Ihnen klarment?« machen, daß ich das wörtlich gemeint Candy holte ihre Geige aus dem Ka221
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sten. Paul Sdimitz nahm sie vorsichtig, aber seine Bewegungen zeigten, daß er mit dem Instrument vertraut war. Er schob es sich unter das Kinn, fuhr mit dem Bogen einmal über die Saiten, verstellte eine davon und sagte: »Ich werde Ihnen zeigen, daß mein Inneres gut ist.« Dann begann er zu spielen. Es war mit nichts vergleichbar, das Candy bis dahin gehört hatte, und nach den ersten Noten war sie überzeugt davon, daß es etwas vollkommen Neues war; es begann mit einer langsamen, beinahe getragenen Passage, dann schloß sich ein schnelleres Thema an und noch eines, und die drei Melodien wurden auf wunderbare Weise miteinander verwebt, so daß sie jubelten ur.d über alles hinaufstiegen. Musik, wie sie Schubert hätte komponieren können, wenn er noch am Leben gewesen wäre. Musik, die keine Worte brauchte, um die Gefühle anzurühren. Und großartig gespielt. Sie hatte Helfetz und Elman gehört, aber dieser Mann war besser als jede'" der beiden zu seiner Glanzzeit. Sie c.itspannte sich und ließ sich von der Musik einhüllen. Die Melodien versuchten ihr ganz persönlich etwas zu sagen. Sie spürte Trauer über etwas Verlorenes in den Kristallklängen, aber dahinter sang das dritte Thema beharrlich, daß der Verlust nicht für immer sein mußte, daß die Trauer enden würde. Und dann, mit 222
einem plötzlichen warnenden Klang, der Gefahr — Gefahr — Gefahr! hervorschrillte, ging die Weise in einen triumphierenden Höhepunkt über und schwieg. Candy klatschte. »Das war wirklich wundervoll«, sagte sie. »Aber was war es?« Paul Schmilz gab ihr die Geige zurück. »Mit meinem eigenen Instrument hätte ich es noch besser gekonnt«, sagte er. »Ich habe das Thema erfunden, um auszudrücken, wie es mit Ihnen und Ihrem Verlobten steht. Und auch, um zu sagen, daß Sie etwas für ihn tun können und daß es gute Folgen haben wird.« Candy kam zu dem Schluß, daß sie ihm jedes Wort glauben konnte, wenn er eine solche Komposition aus dem Stegreif erfand. »Es war etwas dabei, das von Gefahr sprach, oder tausche ich mich?« fragte sie. Paul Schmitz hatte wieder Platz genommen. Jetzt verneigte er sich wieder ein wenig. »Sie haben vollkommen recht. Miß Evans. Es ist sowohl gefährlich wie auch kostspielig, den Willen eines anderen Menschen zu beeinflussen, insbesondere, wenn man einen anderen, sehr starken Bannspruch überwinden will. Deshalb komme ich zu Ihnen. Ich könnte es selbst tun, aber ich habe schon so viel gezaubert, daß ich nicht sicher bin, ob ich es mir noch Isisten kann.« »Ich verstehe nicht ganz.«
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Er überlegte einen Moment, dann sprang er auf. »Warten Sie! Ich werde es Ihnen zeigen. Wo ist Ihr Bad?« »Da drüben, die erste Tür.« Er verschwand dahinter, und sie hörte, wie er Wasser ins Becken laufen ließ. Dann herrschte für zwei oder drei Minuten Schweigen, und schließlich hörte sie ein schwaches Klingeln [•wie von weit entfernten Glocken. j Paul Schmitz stand in der Tür. f »Kommen Sie«, sagte er. Sie ging ins Bad. »Da, sehen Sie!« sagte er und deutete ins Becken. Es war angefüllt mit einer Flüssigkeit, die nicht ganz Wasser war, sondern einen milchigen Schimmer hatte. Es wirbelte schnell herum, jedoch ohne Strudel, mit einer vollkommen glatten Oberfläche. Es schien noch etwas anderes darin zu sein; sie beugte sich darüber und erhaschte ein undeutliches Bild von Straßen und weißen Türmen und Menschen, die hin und her gingen. »Haben Sie eine dieser kräftigen flüssigen Seifen?« fragte Paul Schmitz. »Genügt das?« Sie reichte ihm ihr Haarwaschmittel von der Konsole. »Ich könnte das Bild auch ohne die Seife klar machen, aber der Zauber bereitet mir Kopfschmerzen, obwohl er nur klein und unpersönlich ist.« Er schüttete etwas von dem Haarwaschmittel in das Becken. Das Wirbeln hörte auf, und Candy stieß ei-
nen kleinen Schrei aus, als sich das Bild verdeutlichte und sie wie durch einen silbernen Spiegel das Bild einer Stadt sah, ganz aus weißem Stein gebaut, mit Türmen und zierlichen Säulengängen und Bäumen mit leuchtendgrünen Blättern, welche die Häuser umgaben. Paul Schmitz fuhr mit der Hand darüber, und das Bild rückte noch näher heran. Es war, als stünde sie neben einem Gebäude, dessen Wand elegante Reliefs von Löwen in Lilienfeldern aufwies. Auf der anderen Straßenseite gingen Männer mit Umhängen und Frauen in langen Kleidern vorbei. Die meisten von ihnen trugen langes Haar, aber sie sah auch einen total kahlen Mann und eine Frau, die an einer Hand keine Finger hatte. »Das kommt von zu starken Zaubersprüchen«, sagte Paul Schmitz neben ihr. Er tauchte die Hand in das hinreißende Bild, das sofort wieder zu einem Becken mit ziemlich seifigem Wasser wurde. Dann trocknete er sie an einem Handtuch ab und ging zurück ins Wohnzimmer. »Jetzt können wir reden«, sagte er. »Das ist Skoa, von wo ich herkomme.« »Es ist wundervoll«, sagte Candy. »Aber wo liegt es?« »Es ist kein Ort in dieser Welt, sondern er liegt parallel zu ihr.« Er seufzte. »Ich werde Ihnen mehr davon erzählen. Vor vielen Jahren hatte unser 225
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Volk wie das Ihre ein paar Hexen und Zauberer, aber während sie hier bekämpft wurden, ehrte man sie bei uns und ließ sie studieren, bis sie die Gesetze des Zauberns kannten, wie man in dieser Welt die Gesetze der Naturwissenschaft erforschte. Für uns war das nicht nötig, da viele Dinge durch Zauberei erreicht wurden.« »Ich verstehe«, sagte Candy. »So wurden wir durch die Magie auf andere Welten aufmerksam. Wir konnten sie sehen und auch erreichen, wenn wir bereit waren, dafür zu bezahlen, aber das ist schwer, denn für jeden Zauber muß man etwas von sich selbst hergeben, und man ist bald tot. Wenn ich jetzt zurückgehe, verliere ich vielleicht ein Bein oder etwas anderes, und das gleiche geschieht, wenn ich den Bann von Ihrem Verlobten nehme.« Candy runzelte die Stirn. »Wenn es so schlimm ist, verstehe ich nicht, weshalb Sie überhaupt hergekommen sind. Oder weshalb Sie mir Ihre Magie beibringen wollen.« Er hob einen Finger. »Oh, es gibt Zeiten, in denen man auf Sicherheit keine Rücksicht nehmen kann. Bei uns in Skoa ist alles Musik. Wir machen Tag und Nacht Musik, und diejenigen, die die beste Musik machen, werden geehrt, so wie bei euch die Kinohelden oder der Präsident. Gut. Nun gibt es bei uns ein Mädchen namens Rualla von Liphor — das ist ihr 224
Name in Skoa'-, die sehr ehrgeizig in Musik ist, aber nicht so talentiert, daß sie alles erreichen kann, was sie sich wünscht, und deshalb kann sie einen hohen Rang in Musik nur durch Zauberei erlangen.« »Aber das klingt doch sehr nach Betrug«, meinte Candy. »Keineswegs. Wenn die Musik schön ist, dann ist es unwichtig, wie sie gemacht wird. Außerdem ist diese Rualla noch auf anderen Gebieten ehrgeizig. Sie würde gern viele Dinge erreichen, wofür sie natürlich zahlen müßte, aber nicht mit Geld, denn das wird auf Skoa nur für unbedeutende Dinge benutzt. Gut. Aber wenn sie einen Zauber ausspricht, der stark genug ist, um ihr großen musikalischen Erfolg zu geben, wird es sie viel kosten, da auch andere die Magie benutzen und sie deshalb einen machtvollen Bann braucht. Nun weiß sie durch die Bilder, die ich Ihnen vorgeführt habe, daß diese Welt existiert und daß es hier Dinge gibt, die wir nicht besitzen und die ihre Magie stärker machen oder ihr selbst weniger abfordern. Sie wählt sich also einen jungen Mann aus, der diese Dinge beschaffen kann und dem Zauberei so viel bedeutet, daß er tun wird, was sie will, weil er die Gesetze der Magie kennenlernen möchte. Es handelt sich dabei um Ihren Verlobten.« Er lächelte. »Ich verstehe nicht -«, sagte Candy.
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»Weshalb haben sie dann die Güter nicht einfach getauscht? Weshalb mußte sie ihn mir wegnehmen?« »Ach! Ich glaube, daß er sich aus irgendeinem Grund weigerte, eines der Dinge zu besorgen, und da mußte sie ihn bannen, um ihn dazu zu zwingen. Er wurde von den Bildern beobachtet, als er mit den beiden anderen hierherkam, und er hatte in seiner Tasche eine Maschine, die anzeigte, daß er unter dem Einfluß eines Zaubers stand. Auch bannte er sofort die beiden anderen, und das steht im Widerspruch zu den Regeln. Es ist zweifelhaft, ob dieser Hurst sich je von seinem Gedächtnisschwund erholen wird.« »Und Sie — ?« »Ich gehöre zu unserer Polizei. Rualla hat nicht das Recht, in anderen Welten solchen Schaden anzurichten. Aber er ist jetzt durch diesen Bann an sie gebunden, und wenn sie nach Skoa zurückkehrt, nimmt sie ihn mit.« »Sie wollen also meine Hilfe?« |t »Das stimmt. Aber Sie müssen mir etwas dafür geben, wenn ich Ihnen die Zauberkunst beibringe.« »Was wollen Sie?« »Fünfzig Meter besonders dehnbaren Stahldraht.« Die Antwort war so völlig unerwartet, daß Candy lachte. »Wozu in aller Welt?« »Wenn ich zurückgehe — und das ist
noch keine sichere Sache — soll dieser Draht bei meinem Musikinstrument verwendet werden. Wir haben solche Materialien nicht in Skoa, und es gibt niemand, der sie herstellen kann. Der Draht wird meinem Instrument einen solch reinen Klang geben, daß ich bestimmt einen ersten Platz erringe. Aber wenn ich nicht zurückkehre, lasse ich mir ein Skoa-Instrument herstellen und spiele es. Es wird auch schön klingen.« Candy stützte das Kinn in die Hand und überlegte. Dann siegte der absurde Vorschlag. »Also gut«, sagte sie. »Ich mache mit. Was muß ich tun?« Das Mädchen kam an die Werkbank, an der Dick mit der Papierprüfmaschine arbeitete. »Ein Mister Schmitz möchte Sie sprechen.« »Was will er?« fragte Dick, ohne den Blick von den Meßgeräten zu wenden. »Er sagte, es sei etwas Persönliches. Er sieht eigentlich nicht wie ein Handelsvertreter oder Versicherungsagent aus.« »Also gut.« Dick schaltete die Maschine ab und folgte ihr. Wahrscheinlich der Vertreter irgendeiner Firma, der ihn bat, seine Produkte auf diese oder jene Spezialmethode zu prüfen, weil dann ihre Vorzüge am besten zur Geltung kamen. Das versuchten sie immer. Der einzige Wartende in dem winzi22?
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gen Empfangszimmer war ein junger Mann, der auf seine teutonische Art ganz hübsch aussah. Er bestätigte seine Herkunft durch einen starken Akzent. »Mister Bentress? Ich habe den Auftrag, mit Ihnen zu verhandeln.« »Also gut, fangen Sie an.« »Setzen wir uns. Ich möchte Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen — « Er setzte sich, und Dick hatte keine andere Wahl, als seinem Beispiel zu folgen. Der Fremde betrachtete ihn ruhig. »Ich bin ein Bekannter von Miß Evans«, sagte er. Dick hatte ein würgendes Gefühl. Irgendwann mußte es kommen, das hatte er erkannt, denn so konnte es nicht weitergehen. Aber er hatte die Absicht gehabt, zu ihr zu gehen und ihr ehrlich auseinanderzulegen, daß es nicht mehr Sinn hatte, diese Sache rückgängig zu machen, als wenn man versuchte, die Sonne im Osten untergehen zu lassen. Sie war ihm nun zuvorgekommen, und er fühlte sich beschämt. »Ja?« fragte er. »Sie schickt Ihnen etwas.« Er griff in seine Tasche, holte einen Umschlag heraus, griff in die andere Tasche und holte eine Pinzette heraus. Noch bevor Dick den Gedanken zu Ende führen konnte, daß das eine komische Art war, jemandem den Verlobungsring zurückzuschicken, holte er eine nasse kleine Feder heraus und legte sie ihm auf die Hand. 226
Eine atemlose Sekunde lang spürte Dick nur die Berührung des winzigen Flaumstückchens; dann traf ihn der Gegenbann wie ein Hammerschlag. Er keuchte. Der Raum schien sich um ihn zu drehen, so daß er nach der Sessellehne faßte. Schmitz betrachtete ihn freundlich. »Es ist immer so«, sagte er. »Es dauert nicht lange.« Er stand ruhig auf, ging zu den Aufzügen hinüber und drückte auf einen Knopf. »Warten Sie«, wollte Dick ihm nachrufen, aber als er den Mund öffnete, kam nur eine Art Blöken heraus. Das Mädchen am Empfang, das durch eine Glasscheibe von ihm getrennt war, starrte ihn neugierig an. Die Lifttür öffnete sich. »Leben Sie wohl, Mister Bentress«, sagte Schmitz. »Und glauben Sie mir, es ist besser so.« Er war verschwunden. Dick sammelte sich und stand mit ungeheurer Anstrengung auf. Der Boden um ihn schien immer noch leicht zu schwanken. Er stolperte und dachte, daß es kein Wunder war, wenn die Leute von Skoa so selten ihre stärksten Bannsprüche anwandten. Die Wirkung war verheerend. Dann kam ihm der Gedanke, daß Candy irgendwie diese Kunst erlernt haben mußte. Und dann wußte er, daß das, was er für eine plötzliche und überwältigende Leidenschaft zu Marion gehalten hatte, nichts anderes als ein Bann gewesen war. Er konnte nicht
NICHTS IST UMSONST
sagen, daß er sie dafür haßte, aber et wollte sie jetzt auch nicht sehen. Und was Candy betraf »Ein Anruf auf Apparat sechs«, sagte das Mädchen am Empfang zu ihm. »Schalten Sie ihn auf mein Büro um.« Candys vertraute Stimme kam durch den Hörer. »Hallo — Dick?« »Ich bin es, glaube ich. Sieh mal — « »Ja, ich weiß. Du fühlst dich jetzt besser, und ich kenne auch den Grund dafür.« In ihrer Stimme schwang leichte Bitterkeit mit. »Lassen wir das jetzt. Ich möchte, daß du etwas für mich tust.« »Gut. Was denn?« »Ich möchte, daß du mir fünfzig Meter besonders dehnbaren Stahldraht besorgst.« »Was?« »Genau das, was ich sagte. Kannst du das?« »Natürlich, aber— « »Ich brauche ihn für etwas. Ich erzähle es dir — irgendwann.« In ihrer Stimme war immer noch diese Bitterkeit, Fremdheit oder sonst etwas, das er nicht analysieren konnte. »Candy, ich möchte dich heute abend besuchen.« »Nicht heute abend. Dick. Bitte.« »Weshalb? Du hast keine Probe, das weiß ich. Ist es wegen — « »Nein, ich trage dir nichts nach. Es ist nur so, daß ich einen — kleinen Unfall hatte. Ich möchte eine Zeitlang niemanden sehen.«
Er erinnerte sich mit einem Angstschauer, daß vermutlich jemand für den Gegenbann dieser Stärke schwer bezahlen mußte und daß dieser Jemand Candy sein würde. »Hör zu«, rief er, »was ist los? Was ist geschehen?« »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich brauche den Draht bald. Wiedersehen, Dick.« Der Hörer wurde aufgelegt. Dick Bentress legte ebenfalls a u f . Er hatte böse Vorahnungen. Der Rückstoß des Zaubers, der ihn befreit hatte, mußte sie stark getroffen haben. Es war seine Schuld — nein, er hatte selbst unter einem Bann gestanden. Und so fort; so sehr er mit sich kämpfte, er wurde das Gerühl nicht los, daß er auf irgendeine Weise die Verantwortung für irgend etwas Unangenehmes trug, das Candy zugestoßen war. Wenn es so war, mußte er etwas unternehmen. Und der erste Schritt in dieser Richtung war, daß er herausfand, was er unternehmen mußte. Dick rief die Auftragsabteilung an, bestellte fünfzig Meter dehnbaren Stahldraht für sein Büro und ließ sich mit dem Taxi zu Candys Wohnung fahren, sobald die Sendung angekommen war. Die Haustüre öffnete sich auf sein Klingeln, aber die Wohnungstür ging nur einen Spalt auf. »Wer ist da?« Ihre Stimme war so kühl wie am Telefon. 227
PLETCHER PRATT
»Ich bin es. Dick. Ich habe die Papiere für den Draht.« Die Tür rührte sich nicht, und einen Moment lang entstand Schweigen. »Ich möchte im Moment niemanden sehen.« »Candy, laß mich herein«, sagte Dick. »Irgend etwas stimmt nicht, und ich mochte dir doch helfen.« »Ich — ach, du kannst es auch gleich erfahren.« Die Tür wurde mit einem Mal aurgerissen, und Dick stand ihr gegenüber. Aber es war eine Candy, die sich im Vergleich zu früher auf schockierende und entsetzliche Weise verändert hatte. Ein riesiges, scharlachrotes Mal bedeckte ihre linke Gesichtshälfte vom Haaransatz bis zum Kinn. Es wirkte wie eine offene Wunde. Er keuchte. »Jetzt weißt du es«, sagte sie leise. »Das hat es mich gekostet, und du — du wirst mich nicht mehr wollen.« Er nahm sie an den Schultern. »Selbst wenn du dir die Sache nicht bei dem Versuch geholt hättest, mir zu helfen, würde ich dich nicht im Stich lassen. Das müßtest du wissen, Candy. Kann man denn nichts dagegen tun?« Sie schüttelte den Kopf und sah zu Boden. »Ich war heute nachmittag bei einem Arzt. Er sagte, man könnte nur versuchen» es mit Make-up zu verdecken.« Dick ging ins Wohnzimmer voraus, setzte sich neben sie auf die 228
Couch, schlang ihr den Arm um die Schulter und küßte sie. »Keine Sorge«, sagte er. »Ich glaube, ich weiß, wie wir das Ding beseitigen.« »Wenn du an Magie denkst. Dick, dann lieber nicht. Paul Schmitz hat sie mir beigebracht. Er gehört der Polizei von Skoa an, welche dafür sorgt, daß die Regeln eingeholten werden. Er sagt, daß die Wirkung des Zaubers bei uns verdoppelt wird, weil wir so lange überhaupt keinen Zauber kannten. Ganz gleich, was du erreichen willst, es kostet dich mehr, als es wert ist. Du weißt ja, was mit dem armen Tim Hurst geschehen ist. Du wolltest, daß er vergißt, nicht wahr?« Dick zuckte leicht zusammen. »Es tut mir leid. Aber sie glauben, daß es ihm jetzt wieder besser geht. Ich rief heute nachmittag an, nachdem ich - von dem Zauber befreit war.« »Dann wirst du auch verstehen, weshalb wir in Zukunft nichts mehr damit zu tun haben dürfen. Wir kennen die Gesetze nicht. Und selbst die Bewohner von Skoa haben Angst, hier ihre Magie anzuwenden. Laß die Finger davon.« »Hör zu«, sagte Dick. »Ich — « Das Telefon klingelte. Candy machte sich frei und ging hinüber, um den Hörer abzunehmen. Dick erhob sich ebenfalls und ging ins Bad. Das Becken füllte sich gurgelnd. Er hatte keine Feder mitgebracht, aber der Staubwisch in der
FLETCHER PRATT
Ecke bestand aus Federn, und das mußte eigentlich genügen. Er bereitete die Reaktion für den Bannspruch vor, der ein Verschwinden verursachte, riß ein kleines Stückchen Feder ab und schüttete ein wenig von Candys Haarwaschmittel in das Wasser, um es geschmeidig zu machen. Darüberstreichen — einmal, zweimal und dreimal. Die nächste Reaktion. Hinter ihm sagte Candy: »Nicht, Dick!« Er tauchte die Hand in das leicht rauchende Wasser und sah sie an. »Da ist deine Feder«, sagte er und schob sie ihr in die Hand. Candy sah sie mit entsetzengeweiteten Augen an. Einen Moment lang standen sie reglos da. Der Schock und der Gegenschock des Bannspruches erstarrte sie. Dann schrie Candy auf. Der Zauber hatte gewirkt, und der Fleck war verschwunden. Ebenso wie ihre Kleider ... Als wieder Ruhe eingekehrt war und Candy ihm in ihrem zweitbesten
Kleid gegenübersaß, sagte sie: »Du bist damit durchgekommen. Ich habe es nicht erwartet. Was hat es dich gekostet?« Dick befühlte sich von allen Seiten. »Soweit ich sehen kann - nichts. Ich scheine weder die Ohren noch sonst etwas verloren zu haben, und ich fühle mich vollkommen normal.« »Das kann nicht möglich sein«, sagte sie. »Vielleicht bist du zufällig auf einen Weg gestoßen, die Kosten in Schranken zu halten. Dann können wir uns als echte Zauberer niederlassen. Gehen wir zu Bergmans Speisehaus und besprechen wir die Sache bei einem Steak.« »Ulp!« machte Dick und legte eine Hand vor den Mund. »Das ist es. Du bekommst einen Mann, dem es schon beim Gedanken an Fleisch übel wird.« Er floh ins Bad. Candy horchte eine Zeitlang, dann griff sie nach einer Feder und einer Flasche mit Murphylen . . .
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Die Hexe von A. E. van Vogt
Von seinem Platz aus, halb verborgen hinter der dürren Buschreihe, beobachtete Marson die alte Frau. Er hatte schon seit einigen Augenblicken zu lesen aufgehört. Reglos umfing ihn die Nachmittagsluft. Selbst hier, nur eine Klippenhöhe von der glitzernden Zunge der See entfernt, die sich unten an den Felsen kräuselte, war die Hitze fast etwas Greifbares, und sie zehrte an seiner Kraft. Aber es war nicht die sengende Sonne, die auf Marsons Gedanken lastete, sondern der Brief in seiner Tasche. Zwei Tage war es nun her, seit dieser verwirrende Brief gekommen war, und er hatte immer noch nicht den nötigen Mut, um eine Erklärung zu fordern. Mit einem unsicheren, unbewußten, arglosen Stirnrunzeln beobachtete er sie. Die alte Frau sonnte sich. Ihr langer, hagerer, blasser Kopf hing im Schlaf vornüber. Sie saß eine Ewigkeit so da, unbewegt, eine beinahe formlose Gestalt in ihrem schwarzen, sackartigen Gewand.
Das angestrengte Hinsehen tat seinen Augen weh Sein lilick wanderte umher und umfaßte die langgestreckte, niedrige, im Schutz der Bäume stehende Hütte mit ihrer sauberen weißen Garage, wie sie so ganz allein auf dem hohen grünen Hügel stand und auf die weit hingebreitete Stadt hinuntersah. Marson hatte flüchtig ein wohliges Gefühl ungestörten Privatlebens — dann kehrten seine Blicke zu der alten Frau zurück. Eine ganze Weile starrte er ruhig auf den Fleck, wo sie gewesen war. Er war sich einer schwachen, intellektuellen Verwunderung bewußt, aber er hatte eigentlich keine Gedanken im Kopf. Nach einiger Zeit fiel ihm die Leere auf, und er dachte: Dreißig Schritt bis zur Vordertür von ihrem Ruheplatz aus; und sie hätte sein Sichtreld kreuzen müssen, um hinzugelangen. Eine alte Frau, vielleicht neunzig, vielleicht hundert oder noch mehr, eine unglaublich alte Frau, die sich sonderbar schnell fortbewegen konn251
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te - dreißig Schritte in der Sekunde. Marson stand auf. An der Schulter hatte ihn die Sonne erwischt, und er spürte einen brennenden Schmerz. Aber das verging. Von seiner aufrechten Stellung aus konnte er erkennen, daß sich keine Menschenseele auf dem steil ansteigenden Pfad zum Haus befand. Und nur das Rauschen der See gegen die Felsen weiter unten unterbrach die Stille dieses heißen Samstagnachmittags. Wohin war die armselige Alte verschwunden? Die Vordertür ging auf, und Joanna kam heraus. Sie rief ihm zu: »Ah, da bist du ja, Craig. Mutter Quigley hat eben nach dir gefragt.« Marson kam schweigend vom Rand der Klippe. Er wog die Worte seiner Frau fast zu genau ab, ließ sie, bildlich gesehen, noch einmal in seinen Gedanken abrollen und fand sie vollkommen unangemessen. Die alte Frau konnte nicht eben nach ihm gefragt haben, denn die alte Frau war nicht durch jene Tür gegangen und hatte demzufolge während der letzten zwanzig Minuten niemanden irgend etwas gefragt. Schließlich kam ihm ein Gedanke. Er sagte: »Wo ist denn Mutter Quigley jetzt?« »Drinnen.« Er sah, daß sich Joanna mit dem Blumenkasten des Fensters neben der Tür beschäftigte. »Sie sitzt 232
seit einer halben Stunde im Wohnzimmer und strickt.« Das Staunen in ihm wich heftiger Verärgerung. Seit dieser Brief vor weniger als achtundvierzig Stunden gekommen war, gingen ihm verdammt zu viele alte Frauen im Kopf herum. Er zog ihn heraus und starrte trübe auf den Umschlag mit seinem hingekritzelten Namen. Es war eigentlich ganz normal, daß dieser unglaubliche Brief zu ihm gekommen war. Seit der Ankunft der alten Frau vor fast einem Jahr — ein unerwarteter Schock — hatte er im Geiste alle möglichen Folgen untersucht, die durch ihre Gegenwart in seinem Haus entstehen konnten. Und der Gedanke war aufgetaucht, daß sie in dem kleinen Dorf, in dem sie gelebt hatte, vielleicht Schulden hinterlassen hatte, und daß es besser wäre, wenn er sie bezahlte. Ein junger Mann, dessen Ernennung zum Leiter einer technischen Schule aufgrund seiner Jugend hart kritisiert worden war, konnte es sich nicht leisten, irgendwelche Nachreden entstehen zu lassen. Und so hatte er vor einem Monat in aller Ruhe den Brief geschrieben, auf den diese Antwort gekommen war. Langsam holte er das Schreiben aus dem Umschlag und überlas noch einmal die alles ins Wanken bringenden Worte, die darin standen:
DIE HEXE
Sehr geehrter Herr Marson! Da ich der einzige Schuldner bin, hat mir der Postmeister Ihren Brief ausgehändigt. Und ich möchte anführen, daß ich Ihre Urgroßmutter, als sie letztes Jahr starb, selbst beerdigte und in meiner Eigenschaft als Steinmetz einen Stein f ü r ihr Grab richtete. Als gottesfürchtiger Mann habe ich das ohne Entgeld getan, aber wenn Verwandte da sind, finde ich, daß diese die Kosten übernehmen sollten, welche achtzehn (18) Dollar betragen. Ich hoffe, bald von Ihnen zu hören, da ich das Geld gerade jetzt gut brauchen kann. Pete Cole. Marson stand lange Zeit da, dann drehte er sich zu Joanna um — die im gleichen Moment im Haus verschwand. Wieder einmal unentschlossen, kletterte er zum Klippenrand und dachte: Diese niederträchtige Alte! Eine vollkommen fremde Frau, die die Frechheit besitzt, sich in einen Haushalt einzuschleichen und einen solchen Schwindel aufzuziehen! Wenn er seine Lage in der Öffentlichkeit bedachte, blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr ein Altersheim zu bezahlen; und selbst das wollte genau überlegt sein ... Mit einem finsteren Stirnrunzeln ließ er sich tiefer in seinen Stuhl am Rand der Klippe rutschen und vergrub sich
vorsätzlich in ein Buch. Erst sehr viel später kam ihm wieder die Erinnerung an die Art und Weise, wie die alte Frau vom Rasen verschwunden war. Komisch, dachte er danach, es war wirklich verdammt komisch. Die Erinnerung verließ ihn wieder . . . Ausdruckslos saß die alte Frau da. Das Abendessen war vorbei, und da seit Jahren schon keine Kraftreserven mehr in dem alten Korper steckten, war die Verdauung ein nahezu unglaublicher Prozeß, ein Vorgang, der sie ganz beschäftigte. Sie saß wie eine Tote da, ohne sichtbare Bewegung des Körpers, ohne Gedanken im Innern. Selbst der düstere, animalische Vorsatz, der sie in dieses Haus gebracht hatte, lag wie ein Stein am Grund des schwarzen Tümpels, der ihr Verstand war. Es war, als hätte sie immer in jenem Sessel am Fenster geruht und auf die See hinausgestarrt, wie ein lebloser Gegenstand, wie eine grausige Mumie, wie ein Rad, das sich nicht mehr bewegen konnte, nachdem man es einmal festgeklemmt hatte. Nach einer Stunde kroch das Bewußtsein langsam wieder in ihre Knochen. Ihr tierhafter Verstand, der fremde, nichtmenschliche Verstand hinter der pergamentartigen, hakennasigen Maske menschlichen Fleisches, erwachte zu Leben. Er beobachtete Marson am Wohnzim255
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mertisch, wie er den Kopf nachdenklich über den Stundenplan des nächsten Semesters beugte. Die zahnlosen Lippen kräuselten sich schließlich zu einem verächtlichen Grinsen. Der Spott verebbte, als Joanna leise ins Zimmer huschte. Halbgeschlossene gierige Augen starrten plötzlich mit geiler, tierischer Lust auf den schlanken, biegsamen, kräftigen Körper. Schöner, schöner Körper, den sie nun bald übernehmen würde. In der Dreitagesperiode des ersten Mondes nach der Sommersonnenwende — in genau neun Tagen . .. Neun Tage! Der alte Kadaver schauerte und zitterte ekstatisch bei der Freude der Kreatur. Neun kurze Tage noch, und wieder einmal würde der immerwährende Zyklus dynamischer Existenz beginnen. Dazu so ein schöner, junger Leib, zu pulsierendem, weltumfassendem Leben fähig . . . Der Gedanke verebbte, als Joanna zurück in die Küche ging. Langsam, zum ersten Mal, richtete sich ihr Bewußtsein der See zu. Zufrieden saß die alte Frau da. Schon bald würde die See keinen Schrecken mehr für sie haben, und man würde weder die Jalousien herunterlassen noch die Fenster schließen müssen. Sie würde sogar wie in alten Zeiten um Mitternacht am Ufer Spazierengehen. Und sie, denen sie schon vor so langer Zeit entflohen war, würden wieder einmal vor der unwiderstehli^
chen Ausstrahlung ihres neuen, jungen Leibes zurückschrecken. Das Rauschen der See erreichte sie, als sie so still dasaß; ein ruhiger Laut anfangs, beinahe sanft durch das leise Raunen jeder heranrollenden Welle. Weiter draußen waren die Stimmen des Wassers lauter, rauher, lärmend zuversichtlich, aber die Bedeutung ihrer Reden war durch die Entfernung verwischt, ein undeutliches, verwirrendes Toben, das mißklingend mit der näherkommenden Nacht heranzog. Nacht! Sie hätte den Einbruch der Nacht nicht bemerken können, wenn die Jalousien heruntergelassen wären! Mit einem kleinen Keuchen drehte sie sich dem Fenster zu, neben dem sie saß. Und im gleichen Momenl kam ein entsetzliches Angstgestammel von ihren Lippen. Das häßliche Geräusch drang krei sehend in Marsons Ohren und ließ ihi aufspringen. Es wütete durch die Tu bis in die Küche, und Joanna rannti herein wie von einer Schnur gezo gen. Die alte Frau kreischte weiter; und es war Marson, der schließlich das Verlangen der wahnsinnigen Angst entdeckte. »Du liebe Güte!« Er zuckte mit den Schultern. »Sie meint die Fenster und die Jalousien. Ich vergaß sie zu schlie-
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ßen, als die Dämmerung hereinbrach.« Er unterbrach sich verärgert und fuhr dann fort: »Verdammter Unsinn! Ich hätte gute Lust -« »Um Himmels willen!« drängte seine Frau. »Wir müssen dieses Geschrei abstellen. Ich übernehme diese Seite des Zimmers, und du schließt die Fenster neben ihr.« Marson zuckte wieder mit den Schultern, diesmal ergeben. Aber er dachte: Das kann man nicht mehr lange mitmachen. Sobald die Sommerferien da sind, sorge ich dafür, daß sie in ein Altersheim kommt. Schluß damit. Es waren noch zwei Wochen bis Semesterende. Die Stimme seiner Frau unterbrach beinahe hart die Stille, als Mutter Quigley sich in ihrem Sessel wieder beruhigt hatte. »Ich bin überrascht, daß du so etwas vergessen kannst. Du bist sonst so rücksichtsvoll.« »Es war so verdammt heiß«, beklagte sich Marson. Joanna sagte nichts mehr, und er ging zurück an seinen Platz. Aber er dachte plötzlich; Alte Frau, die das Meer und die Nacht fürchtet, weshalb bist du in dieses Haus am Meer gekommen, wo die Straßenlaternen weit voneinander entfernt sind und die Nacht nahezu vorgeschichtlich finster ist? Der düstere Gedanke verflog; er wandte sich mit gewissenhafter Auf-
merksamkeit der Vorbereitung des Stundenplans zu. Verblüfft saß die alte Frau da! Der ganze rasche Haß des Tieres brannte in ihr. Dieser verfluchte Mann, wie konnte er es wagen, so etwas zu vergessen. Und doch - »Du bist sonst so rücksichtsvoll!« hatte seine Frau gesagt. Es stimmte. Kein einziges Mal in elf Monaten hatte er vergessen, nach den Jalousien zu sehen — bis heute. War es möglich, daß er Verdacht geschöpft hatte? Daß irgendwie,' jetzt, da die Zeit der Umwandlung so nahe war, eine Andeutung ihres Vorhabens von ihrem angestrengten Gehirn gesickert war? Es war schon des öfteren geschehen. In der Vergangenheit hatte sie um ihre Körper gegen schreckliche, feindselige Männer kämpfen müssen, die nichts als einen furchbaren Verdacht hatten. Tiefschwarze Augen verengten sich zu Stecknadelgröße. So wie er war, praktisch, kühldenkend, skeptisch, würden ihn weder all die telepathischen Vibrationen noch die sonderbaren Gedankenstürme mit ihren abnormalen Begleiterscheinungen wenn er so etwas überhaupt kannte — berühren oder von selbst bei ihm bleiben. Nichts außer Tatsachen brachten diesen Mann zum Handeln. Welche Tntsaclien? War es möglich, daß sie bei ihren intensiven Gedan255
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kenkonzentrationen unbewußt Bilder hervorgerufen hatte? Oder hatte er Erkundigungen eingezogen? Ihr Körper zitterte, und dann reifte der Gedanke langsam heran: Sie durfte kein Risiko eingehen. Morgen war Sonntag, und der Mann würde zu Hause sein. Also' ließ sich nichts machen. Aber am Montag . . . Das war es. Am Montagmorgen, während Joanna schlief — und Joanna legte sich immer noch eine Stunde hin, wenn ihr Mann zur Arbeit gegangen war — am Montagmorgen würde sie sich hineinschleichen und den schlafenden Körper vorbereiten, so daß sieben Tage später der Eintritt leicht war. Keine Zeit mehr damit verschwenden, Joanna zum freiwilligen Einnehmen des Zeugs zu bringen! Diese einfältige Närrin mit ihrer Abneigung vor Hausmitteln! Sie brüstete sich damit, daß sie nur vom Arzt verschriebene Mittel nahm. Ein erzwungenes Eingeben war gefährlich — aber nicht halb so gefährlich wie die Aussicht, es noch ein Jahr lang in diesem armseligen Wrack eines Körpers aushalten zu müssen. Unbeweglich saß die alte Frau da. Unwillkürlich spürte sie die Anspannung der Wartezeit. Montags beim Frühstück sabberte sie vor innerer Erregung über das bevorstehende Ereignis. Die Haferflocken fielen ihr aus 236
dem Mund, Milch und Speichel tropften auf das Tischtuch - und sie konnte es nicht ändern. Alte Hände zitterten, alter Mund zuckte; in allem mußte sich ihr Sein vor diesem gebrechlichen Körper geschlagen geben. Es war besser, wenn sie ihr Zimmer aufsuchte, bevor ... Mit einem heftigen Erschrecken sah sie, daß der Mann den Stuhl vom Tisch wegschob, und sein Gesicht war so weiß, daß sie kaum seine Worte brauchte, als er sagte: »Ich hatte die Absicht, Mutter Quigley etwas zu sagen, und« - seine Stimme nahm einen rauhen Ton an -, »gerade jetzt, wo ich mich gründlich angeekelt fühle, ist es ein verdammt guter Moment dazu.« »Um Himmels willen, Craig« - unterbrach ihn Joanna scharf; und die alte Frau klammerte sich an die Unterbrechung und begann sich wacklig zu erheben -, »was macht dich denn in den letzten paar Tagen so reizbar? Jetzt sei bitte nett und fahre in die Schule. Ich selbst habe jedenfalls nicht vor, das Zeug hier sauberzumachen, bevor ich ausgeschlafen habe, und ich lasse mir auch bestimmt nicht die gute Laune davon verderben. Bis später.« Ein Kuß, und sie verschwand im Korridor, der zu den Schlafzimmern führte. Im nächsten Moment war sie im großen Schlafzimmer, und dann, noch während die alte Frau sich verzwei-
DIE HEXE
feit aus dem Stuhl kämpfte, wandte sich Marson mit harten, entschlossenen Augen ihr zu. Sie war in die Enge getrieben und starrte zu ihm auf wie ein Tier in der Falle, bestürzt über die Art und Weise, wie dieser teuflische Körper sie in einem Notfall im Stich gelassen und ihren Willen verzerrt hatte. Marson sagte: »Mutter Quigley - ich möchte Sie im Moment noch so nennen -, ich habe einen Brief von einem Mann erhalten, der behauptet, einen Stein f ü r Ihr Grab errichtet zu haben, nachdem er Sie eigenhändig beerdigte. Was ich nun gerne wissen möchte, ist folgendes: Wer liegt in diesem Grab? Ich - « Es war seine eigene Ausdrucksweise, die Marson zu einem verblüfften Schweigen brachte. Er stand sonderbar steif da, erstarrt durch ein merkwürdiges, fremdartiges Entsetzen, wie er es noch nie erlebt hatte. Einen schrecklichen Moment lang schien sein Gehirn nackt und entblößt vor dem Strahl eines eisigen inneren Windes dazuliegen, der aus einem tiefen Dunkel auf ihn losjagte. Gedanken kamen, ein Toben obszöner Hirngespinste, ungesund, schwarz vor alter, unglaublich alter Verderbtheit, eine einzige brodelnde Masse unvermuteter Greuel. Mit einem erschreckten Zusammenzucken verließ er diese gräßliche Welt
seiner Fantasie und bemerkte, daß die alte Vettel harte, beinahe eifrige Worte hervorstammelte. »Sie haben nicht mich begraben. Wir waren zwei Alte im Dorf; und als sie starb, ließ ich ihr Gesicht so aussehen wie meines und meines so wie das ihre, und ich nahm ihr Geld . . . wissen Sie, ich war früher Schauspielerin, und ich konnte mit Make-up umgehen. So war es, ja, ja, mit Make-up. Das ist die ganze Erklärung, und ich bin keineswegs das, was Sie denken, sondern nur eine alte Frau, die arm war. Das ist alles, nur eine alte Frau, mit der man Mitleid haben muß —« Sie hätte endlos so weitergemacht, wenn die animalische Logik in ihr sie nicht mit fürchterlicher Anstrengung zur Ruhe gezwungen hätte. Schließlich stand sie da, schweratmend, und war sich darüber im klaren, daß ihre Stimme zu schnell und erregt gewesen war, ihre Zunge zu lose wie bei allen alten Leuten und daß jede Silbe ihrer Worte sie verurteilen mußte. Es war der Mann, der ihre verzweifelte Furcht beendete; der Mann sagte heftig: »Du liebe Güte, Frau, Sie wollen mir doch nicht ins Gesicht hinein erklären, daß S.e so etwas getan haben —« Marson unterbrach sich. Er war überwältigt. Jedes Wort, das die alte Frau gesprochen hatte, zog ihn wei257
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ter fort aus dem seltsamen, beunruhi- von ihr dachte! Es waren nur noch genden Cedankenmorast, der kurz sieben Tage; und wenn sie die durchsein Inneres gestreift hatte, zurück in stand, war alles andere gleichgültig! die praktische Welt seiner eigenen , Die Gefahr bestand darin, daß ihre Logik •— und seiner eigenen Ethik. Es Stellung mit jedem Tag schwieriger war fast wie ein körperlicher Schlag werden würde. Das bedeutete — wenn für ihn, und er konnte erst nach einer die Zeit kam, war ein schnelles Eintregeraumen Weile fortfahren. Er sagte ten unbedingt nötig. Das bedeutete — schließlich langsam: der Körper der Frau mußte fetzt vor»Sie gestehen also tatsächlich, daß Sie bereitet werden. so makaber waren, das Gesicht einer Joanna, die kräftige Joanna, würde Toten zu verändern, um ihr Geld zu bereits schlafen. Sie mußte also nur stehlen. Also, das ist doch — « abwarten, bis dieser verflixte EheSeine Stimme versagte vor diesem mann aus dem Haus war. Sie warteAbgrund ungeahnter moralischer te . . . Niedrigkeit. Es war ein Verbrechen der Endlich klang der ersehnte Laut in der gemeinsten Sorte, ein abscheuliches, Nähe auf — die Vordertür wurde geekliges Ding, das, würde es )e ans öffnet und wieder geschlossen. Wie Tageslicht kommen, die Verurteilung ein in die Enge getriebenes Wild zitder ganzen Welt nach sich ziehen terte die alte Frau, sogar ihre Knowürde und jeden Schulvorstand ruichen erschauerten bei der plötzlichen, nieren mußte. krankhaften Erregung kurz vor der Er schauderte und sagte hastig. »Ich' Tat. Wenn sie versagte, war sie enthabe jetzt nicht die Zeit, näher darauf deckt einzugehen,aber — « Mit einem Zusammenzucken sah er, Einige Vorbereitungen hatte sie getrogen, um so eine Katastrophe wiedaß sie in den Korridor ging, der zu der auszugleichen, aber . . . ihrem Schlafzimmer führte. Mit feDer kurze Anfall von Furcht verging. sterer Stimme rief er: »Und noch eiMit einem letzten .vergewissernden nes. Am Samstagnachmittag saßen Blick in den flachen, schwarzen Busen Sie draußen auf dem Rasen — « ihres Kleides, wo der kleine Beutel mit Eine Tür schloß sich leise. Dahinter dem Pulver hing. glitt sie vorwärts. stand die alte Frau, keuchend von der Einen winzigen Moment lang blieb Anstrengung, aber mit einem wachsie in der offenen Tür zu Joannas senden Gefühl des Triumphes. Der Schlafzimmer stehen. Ihre grünen dumme, einfältige Mann hatte keine Augen ruhten mit einem Glitzern Ahnung. Wie egal es ihr war, was er 238
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der Befriedigung auf der schlafenden Gestalt. Und dann — Dann war sie im Zimmer. Die Morgenbrise vom Meer traf Marson wie ein Schlag, als er die Tür öffnete. Er schloß sie mit einem schnellen Ruck und blieb unentschlossen im schwach beleuchteten Korridor stehen. Er mußte natürlich hinaus — vor Ende des Schuljahres gab es einfach zuviel zu erledigen. Es war nur so, daß der abrupte Widerstand des Windes einen Gedanken in ihm geweckt hatte: Sollte er fortgehen, ohne Joanna von dem Brief des Steinmetzes zu erzählen? Schließlich wußte die alte Frau nun, daß er die Geschichte kannte. In ihrem schlauen Eifer, sich und die Sicherheit hier, die sie zweifellos bedroht sah, zu verteidigen, erwähnte sie die Sache vielleicht bei Joanna — und Joanna hatte keine Ahnung. Immer noch unentschlossen ging Marson ein paar Schritte und blieb dann im Wohnzimmer stehen. Verdammt, die Sache konnte vermutlich bis Mittag warten, besonders, da Joanna inzwischen sicher schlief. Schon jetzt mußte er den Wagen oder den Bus nehmen, wenn er noch zur gewohnt frühen Stunde die Schule erreichen wollte. Seine Gedanken drehten sich ver-
rückt, als er die schwarze Gestalt der alten Frau geisterhart durch den Schlafzimmerkorridor auf Joannas Raum zugleiten sah. Ganz sinnlos drängte sich ein Schrei auf Marsons Lippen - sinnlos, weil er das Fremdartige überhaupt nicht durchschaute. Der Laut erstickte, bevor er ausgestoßen wurde, denn abrupt blies wieder dieser eisige, unnatürliche Sturm aus dem Dunkel in seinem Innern. Abnormale Dinge aus einer Urzeit tobten und hallten in ihm . . . Er merkte nicht, daß er gelaufen war, aber plötzlich war die offene Schlafzimmertür da und die alte Frau — und in diesem letzten Moment spürte ihn das Geschöpf, obwohl er lautlos gekommen war. Sie zuckte in so reiner Bestürzung zusammen, daß es schrecklich anzusehen war. Ihre Finger, die über Joannas Mund geschwebt hatten, verkrampften sich, und ein grünliches Pulver wurde zum Teil auf das Bett, aber in der Hauptsache auf den kleinen Vorleger neben dem Bett verstreut. Und dann war Marson über ihr. Dieser ekelhafte Sturm in seinem Innern blies stärker und kälter; und in ihm war die feste, tödliche Überzeugung, daß dämonische Muskeln sich bis zum letzten gegen ihn wehren würden. Einen Moment lang überwog dies sogar die Realität. 259
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Denn er traf keinerlei Widerstand. Dünne, knochige Arme gaben seinem vernichtend harten Stoß sofort nach. Ein Körper, der wie altes, brüchiges Papier war, fiel von seinem mörderischen Ansturm am Boden in sich zusammen. Für einen kurzen Moment ließ dieser unwahrscheinlich leichte Sieg Marson eine Pause. Aber kein Erstaunen konnte im Ernst die Heftigkeit seiner Absicht zügeln oder dieses unnatürliche Gefühl, daß unmenschliche Dinge um ihn waren, aufheben. Kein noch so großer Zweifel konnte in diesem Augenblick seinen Zorn über das eben Erlebte bremsen. Die alte Frau lag in einem zusammengerollten, formlosen Häufchen zu seinen Füßen. Mit einer unbarmherzigen Wildheit, mit einem ungezügelten Vorsatz, der über alles hinausging, was er bisher an Gefühlsaufwallungen kannte, riß Marson sie vom Boden hoch. Leicht wie Holz, das schon lange dahinfault, kam sie in seinen Fingern hoch, ein baumelndes, menschenunähnliches, schwarzgekleidetes Ding. Er schüttelte es, wie er ein Ungeheuer geschüttelt hätte. Und im gleichen Augenblick, in dem sein Vernichtungsvorsatz geradezu eine Flamme von ungezügelter Heftigkeit war, geschah das Unglaubliche. Bilder der alten Frau überschwemmten das Zimmer. Sieben alte Frauen, 240
alle in einer Reihe, in allen Einzelheiten imitiert, von dem schwarzen, sackartigen Gewand bis zu dem Kopf mit dem schütteren Haar, rannten zur Tür. Drei exakte Kopien der alten Frau rüttelten in panischer Angst am nächstbesten Fenster. Das elfte Abbild war auf den Knien und versuchte verzweifelt, unter das Bett zu gelangen. Marson stockte der Atem vor Entsetzen, und seine Gedanken wirbelten wie wild. Er ließ das Ding in seinen Händen los. Es stürzte kreischend zu Boden, und abrupt verschwanden die elf Abbilder der alten Frau wie Schemen aus einem Alptraum. »Craig!« Joannas Stimme drang in sein Bewußtsein. Aber immer noch stand er da wie ein Holzklotz und achtete nicht darauf. Er dachte messerscharf: Das war auch am Samstag auf dem Rasen geschehen — ein Bild der alten Frau, unbewußt ausgesandt von ihrem heftig arbeitenden Verstand, während sie im Wohnzimmer saß und strickte. Unbewußte Bilder waren es auch jetzt gewesen, das wußte er bestimmt. Ausstrahlungen der alten Frau, die verzweifelt und angstvoll nach Fluchtwegen suchte. Gott, was dachte er da? Es war — es konnte nichts anderes als seine eigene verwirrte Fantasie sein. Das Ganze War unmöglich.
DIE HEXE »Craig, was soll das alles? Was ist geschehen?« Er hörte kaum hin; denn mit einem Mal, ganz deutlich, fast abgeklärt, konzentrierte sich sein Verstand auf einen einfachen, grundsätzlichen und grausigen Gedanken: Was tat man im Jahre 1942 mit einer Hexe? Der harte Gedanke verschwand, als er zum ersten Mal sah, daß Joanna in einer starren Stellung halb saß und halb kniete, so wie sie aus dem Schlaf hochgerissen worden war. Sie schwankte ein wenig, als hätte sie ihre Muskeln noch nicht ganz unter Kontrolle. In ihrem Gesicht zeigte sich der Schrecken jähen Erwachens. Er sah, daß ihre Augen groß und beinahe ausdruckslos waren; und sie starrten die alte Frau an. Mit einem schnellen Blick folgte er ihren starrenden Augen — und er erschrak. Joanna war erst erwacht, als die alte Frau zu schreien begonnen hatte. Sie hatte die Abbilder überhaupt nicht gesehen! Sie würde nur das Bild eines kräftigen, brutalen jungen Mannes vor sich haben, der drohend über der stöhnenden Gestalt einer alten Frau stand — und, bei Gott, er mußte schnell handeln. »Sieh mal!« sagte er knapp. »Ich habe sie dabei erwischt, als sie dir ein grünes Pulver auf die Lippen streute und — «
Er brachte es einfach nicht fertig, es in Worte zu fassen. Sein Verstand drehte sich bei der ungeheuerlichen Tatsache, daß eine Hexe versucht hatte, Joanna ein Mittel einzugeben - seiner Joanna! Auf irgendeine unverständliche Weise sollte Joanna zum Opfer werden — und er mußte sie jetzt zum Handeln überreden. Bei diesem Vorhaben verflog sein Zorn. Hastig ließ er sich auf das ßett neben Joanna sinken. Mit schnellen Worten erzählte er seine Geschichte. Er erwähnte weder die Bilder noch seinen eigenen gräßlichen Verdacht. Joanna war noch sachlicher veranlagt als er. Es würde nur den Ausgang in Frage stellen, wenn sie den Eindruck erhielt, er sei wahnsinnig geworden. Schließlich sagte er: »Ich will keine Argumente hören. Die Tatsachen sprechen für sich. Das Pulver allein verurteilt sie. Der Brief wirft genug Zweifel auf ihre Identität, daß wir sie ohne jede weitere Verpflichtung abschieben können. Und nun machen wir folgendes: Erstens rufe ich meinen Sekretär an, daß ich heute vielleicht erst später komme. Dann telefoniere ich mit dem Altersheim. Vermutlich gibt es im Normalfall längere Wartezeiten, aber mit Geld müßte man den Bürokratismus umgehen können. Wir schicken sie noch heute hin und — « Überraschenderweise unterbrach ihn Joannas Gelächter, eine Woge von 241
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Gelächter, die mit einem schrillen, abnormalen, hysterischen Ton endete. Marson schüttelte sie. »Liebling«, begann er ängstlich. Sie schob ihn weg, kletterte aus dem Bett und kniete in einer merkwürdigen Erregung neben der alten Frau nieder. »Mutter Quigley«, sagte sie, und ihre Stimme war so hoch, daß Marson sich halb aufrichtete. Er setzte sich wieder aufs Bett, als sie fortfuhr: »Mutter Quigley, beantworten Sie mir eine Frage: Das Pulver, das Sie mir in den Mund streuen wollten — war es dieses gemahlene Algenzeug, das Sie mir schon öfters gegen meine Kopfschmerzen geben wollten?« Der Hoffnungsstrahl, der die alte Frau durchdrang, zerstörte fast ihr Gehirn. Wie hatte sie ihre langen Bemühungen vergessen können, Joanna zur freiwilligen Einnahme des Pulvers zu bringen! Sie flüsterte: »Bring mich in mein Bett, Liebste. Ich glaube nicht, daß ich etwas gebrochen habe, aber ich muß mich hinlegen .. .ja, ja. Liebes, es war das Pulver. Weißt du, wir Frauen mit unseren Kopfschmerzen müssen zusammenhalten. Ich hätte es natürlich nicht tun sollen, aber — « Ein Gedanke, heiß und angstvoll, stieg in ihr auf. Sie wimmerte: »Du läßt doch nicht zu, daß er mich wegschickt, nicht wahr? Ich weiß, daß ich 242
euch viele Schwierigkeiten mache und — « Sie unterbrach sich, weil sie einen merkwürdigen Blick in Joannas Gesicht sah; und was genug war, war genug. Der Sieg konnte überzogen werden. Sie hörte mit kaum verhehlter Befriedigung zu, als Joanna schnell sagte: »Craig, ii>t es nicht besser, wenn du gehst? Du wirst zu spät kommen.« Marson sagte scharf: »Ich möchte das restliche Algenpulver. Ich werde das Zeug analysieren lassen.« Aber er wich dem Bli.ck seiner Frau aus; und er dachte wie betäubt: Ich bin verrückt. Ich war so benommen vor Wut, daß ich Halluzinationen erlebte. Hatte nicht Dr. Lycoming gesagt, daß der menschliche Geist ein Rassengedächtnis besitzen muß, das sich zurück zu den namenlosen Seen erstreckt, in denen die Vorfahren des Menschen zum Leben erwacht waren? Und daß bei übermäßiger Belastung die Erinnerung an diese Schrecken wiederkehren würde? Seine Scham wuchs, als die alte Frau mit zitternden Fingern ein kleines Leinensäckchen hervorholte. Wortlos nahm er den Behälter und verließ das Zimmer. Minuten später, als das sanfte Schnurren seines Wagens ihm in den Ohren dröhnte und er dre Blicke auf-
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merksam auf den Verkehr richtete, kam ihm die ganze Angelegenheit so fern und unwirklich wie ein Traum vor. Er dachte: Und was nun? Es paßt mir immer noch nicht, daß sie bei uns ist, aber — Er war sonderbar bestürzt, als er erkannte, daß er keinen Plan hatte. Dienstag — die alte Frau erwachte mit einem erschreckten Zusammenfahren und lag dann ganz still da. Hunger stellte sich ein, aber sie war fest entschlossen. Sie würde sich erst anziehen und essen, wenn der Mann zur Arbeit gegangen war, und sie würde auch mittags und nach den Schulstunden nicht herauskommen, sondern , in ihrem Zimmer bleiben und die Tür verschließen, wenn er in der, Nähe war. Sechs Tage, bevor sie handeln konnte, sechs Tage mit Minuten, die sich dahinschleppten, mit Zweifeln und Ängsten. Am Mittwoch um halb fünf ließ Mar&on den glänzenden Drücker der Vordertür los, als das Kichern von Frauen herausdrang. Und er erinnerte sich, daß er vor dem bevorstehenden Kränzchen gewarnt worden war. Wie ein unwillkommener Eindringling schlich er auf die Straße und es war sieben, als er aus dem Kino kam und schweigend heimging. Er dachte zum hundertsten Mal: Ich
habe die Abbilder der alten Frau gesehen. Ich weiß, daß ich sie sali. Es ist mein Kulturinstinkt, der mich zum Zweifeln bringt und mich untätig sein läßt. Die Abendzeitung lag auf der Türschwelle. Er nahm sie auf, und später, nach einem Abendessen aus übriggebliebenen belegten Broten und heißem Kaffee, mindestens zwei Stunden später, fiel ihm zum ersten Mal ein Abschnitt eines Kriegsberichtes ins Auge. Noch später nahm er ihn bewußt wahr. Der Feind hat uns eigentlich nicht getäuscht. Wir wissen, daß all sein Handeln direkt oder indirekt gegen uns gerichtet war. Das Unglaubliche und Fantastische dabei ist, daß wir es alle wußten und keiner etwas dagegen unternahm. Wenn ein Einzelner so viele Verdachtmomente und Beweise hätte, daß ihm jemand bei der ' erstbesten Gelegenheit umbringen wollte, dann würde er versuchen, dem entgegenzuarbeiten; er würde nicht darauf warten, bis der andere zur blutigen Tat schreiten könnte. Das Schlimmste daran ist, daß eine Zeit kommen muß, in der alle Gegenmaßnahmen zu wenig sind und selbst drastische Bemii1iung,en zu spät kommen. 243
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Marson zuckte zusammen und ließ die Zeitung fallen. An das Kriegsthema dachte er schon nicht mehr. Zweimal hatte er sich der Stimme enthalten, als Umfragen über den Krieg abgehalten worden waren, und er hatte tatsächlich keine eigene Meinung zu dem Thema. Ein junger Mann, der sich erst in die Pflichten des Leiters einer großen Schule einarbeiten mußte, hatte keine Zeit für Krieg oder Politik. Später vielleicht . . . Aber das Thema, die tiefere Bedeutung dieses Leitartikels, galt ihm, galt seinem Problem. Er wußte Bescheid und unternahm nichts. Unbehaglich, aber mit plötzlicher Entschlossenheit, stand er auf. »Joanna -«, begann er und sah, daß er zu. einem leeren Raum sprach. Er warf einen Blick ins Schlafzimmer. Joanna lag voll angekleidet auf dem Bett und schlief fest. Marsons finstere Miene wich einem verständnisvollen Lächeln. Die Vorbereitung dieses ' Nachmittagstees hatte ihr allerhand abgefordert. Nach einer Stunde schlief sie immer noch, und so zog er sie ganz leise und vorsichtig aus und brachte sie ins Bett. Sie wachte nicht einmal auf, als er ihr einen Gutenachtkuß gab. Donnerstag: Mittags waren seine Gedanken mit einem kleinen Diebstahl beschäftigt, einer schmutzigen, widerlichen Sache. Ein hübsches junges 244
Mädchen war beim Stehlen ertappt worden. Er sah, wie Kemp, der Chemieassistent hereinkam; und dann zog er sich leise wieder zurück. In einer plötzlichen fieberhaften Erregung verschob er den unangenehmen Fall und hastete hinter Kemp her. Er fand ihn, als er gerade den Hut aufsetze, um zum Lunch zu gehen. Der Blick des jungen Chemielehrers leuchtete auf, als er Marson sah. Dann runzelte er die Stirn. »Das grüne Pulver, das Sie mir zur Analyse gaben, Mister Marson, war ein harter Brocken. Sie wissen, ich mache meine Arbeit gern gründlich.« Marson nickte. Er kannte den Eifer dieses Mannes, und deshalb hatte er auch ihn ausgewählt und nicht seinen ebenso gefälligen Chef. Kemp war jung und ehrgeizig; und er wußte auf seinem Gebiet Bescheid. »Ja?« fragte Marson. »Wie Sie vermuteten«, fuhr Kemp fort, »handelte es sich um gemahlene Algen. Ich nahm sie mit zu BioBill — Verzeihung, ich meine zu Mister Grainger.« Unwillkürlich lächelte Marson. Es hatte eine Zeit gegeben, wo auch ihm der Name >Bio-Bill< geläufig gewesen war. »Weiter«, sagte er jetzt nur. »Crainger identifizierte es als eine Seealgenart, die unter dem Namen Hydrodendon Barelia bekannt ist.«
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»Hat es auf den Menschen irgendwelche Wirkungen?« Marson war ganz Beiläufigkeit. »N — nein. Es ist ungefährlich, wenn Sie das meinen. Natürlich habe ich es ausprobiert — an mir selbst — und es ist ziemlich scheußlich. Nicht gerade bitter, aber scharf.« Marson schwieg. Er wußte nicht recht, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Oder was? Kemp sprach weiter: »Ich sah mir die Vorgeschichte des Pulvers an, und zu meiner Überraschung ist sie sogar recht berühmt. Sie müssen wissen, drüben in Europa lernt man eine Menge Zeug über diese alten Alchemisten und all das, damit man einen geschichtlichen Unterbau hat.« »Ja?« Kemp lachte. »Sie haben nicht zufällig eine Hexe in Ihrer Umgebung?« »Was?« Der Ausruf brannte Marson auf den Lippen. Er mußte hart kämpfen, um den gewaltigen Schock zu verbergen. Kemp lachte wieder. »Nach dem Österreicher Karl Gloeck und seinem Buch >Ceschichte der Zauberinnen< ist Hydrodendon Barelia der moderne Name für ein finsteres Hexenkraut der Vorzeit. Ich spreche nicht von den besonderen Hexen unseres christlichen Sagenguts mit all ihren Merkmalen kindlicher Fantasie, sondern von dem alten Stamm der Teufelsgeschöpfe, die
aus der Vorgeschichte kamen '— richtige Vollblut-Meereshexen. Offenbar wählen sie, wenn sie alt werden, den Körper einer jungen Frau aus und leben eine Zeitlang in der Nähe des Opfers, um sich an es anzupassen. Sie können ab Mitternacht der ersten Vollmondperiode nach dem 21. Juni jederzeit Besitz von dem Körper ergreifen. Hexenkraut soll den Eintritt erleichtern .. nanu, was ist denn los, Sir?« Er hatte den Impuls, den wilden, schrecklichen Impuls, Kemp die ganze Geschichte vorzuplappern. Mit größter Anstrengung hielt er sich zurück. Denn Kemp mochte zwar leichthin von Hexen sprechen, doch er war bis in die Tiefen seiner Seele Wissenschaftler. Und was er—Marson — vielleicht tun mußte, durfte nicht von dem Wissen in Gefahr gebracht werden, daß irgendein sachlicher, zweifelnder Mensch—irgendeiner — die Wahrheit ahnte. Das bloße Vorhandensein eiries Verdachts würde seinen Willen untergraben und schließlich seine Entschlossenheit zum Handeln lahmen. Er hörte, wie er einen Dank murmelte. Minuten später, auf dem Heim* weg, dächte er elend: Was konnte er sagen? Wie konnte er Joanna davon überzeugen, daß man die alte Frau loswerden mußte? Und er mußte noch eine Sache klären, bevor er es wagen konnte, durch 245
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die eine, einseitige Tat alles zu riskieren ! Eine Sache noch — Den ganzen Samstagvormittag schien strahlend die Sonne, aber am Nachmittag zogen dunkle Wolken über seinem Rennwagen dahin. Gegen sechs Uhr abends regnete es zehn Minuten lang in Strömen, und dann lockerte sich langsam die Bewölkung. Er konnte das Dorf zuerst von einem Hügel aus betrachten, und das, dachte er aufatmend, sollte die Sache leichter machen. Von einer Baumgruppe aus beobachtete er die kleine Ansammlung von Häusern und Gebäuden. Es war die Kirche, die ihn anfangs verwirrte. Er suchte ihre Umgebung eine Zeitlang mit seinem Feldstecher ab. Und es dauerte fast eine halbe Stunde, bis er davon überzeugt war, daß das, was er suchte, nicht dort war. Die Dämmerung hing jetzt dicht über dem Land, und das verstärkte sein Angstgefühl. Er konnte es nicht gut wagen, ins Dorf hinunterzugehen und sich zu erkundigen, wo der Friedhof war. Und doch — schnell, schnell! Er war jetzt allen Ernstes bestürzt und ging ein Stück tiefer in den Wald am Rand des Hügels. Weiter vorn befand sich ein vorspringendes Stück Land, von wo aus er die ganze Gegend überblicken konnte. Diese Dörfer hatten ihre Friedhöfe oft ein beträchtliches Stück entfernt und — 246
Der kleine Weg befand sich mit einem Mal direkt vor ihm, und er trat aus dem Unterholz. Ein paar Schritte weiter vorn war das Gittertor. Dahinter schimmerten im wachsenden Dunkel einfache Kreuze. Ein Engel stand da, weiß, steif, die Flügel ausgebreitet, und einige große, helle Granitsteine erhoben sich starr aus einer dunklen, stillen Erde. Die Nacht lag schwarz und unbeweglich über dem Friedhof', als seine vorsichtig benutzte Taschenlampe den Stein fand, nach dem er gesucht hatte. Die Inschrift war schlicht: MRS. QUIGLEY GEST. AM 7. JULI 1941 ÜBER üo JAHRE ALT Er ging zurück zum Wagen und holte 'den Spaten; und dann begann er zu graben. Die Erde war zäh, und er war das Graben nicht gewöhnt. Nach einer Stunde war er nahezu anderthalb Fuß vorgedrungen. Atemlos ließ er sich auf den Boden sinken, und eine Zeitlang lag er unter dem Nachthimmel da, an dem die Wolken beständig wechselten. Eine sonderbare intellektuelle Feststellung fiel ihm ein - daß das Durchschnittsgewicht von Universitätsrektoren und College-Leitern nach Young um die hundertachtzig Pfund betrug. Was zum Teufel nützte es, dachte er grimmig, wenn es nur Gewicht und
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und keine Ausdauer war. Dennoch, er mußte weitermachen, und wenn es die ganze Nacht dauern sollte. Zumindest wußte er eines sicher — Joanna war nicht daheim. Es war eine harte Arbeit gewesen, bis er sie so weit hatte, daß sie die Wochenendeinladung allein annahm. Noch härter war es gewesen, ihr etwas von den Pflichten vorzulügen, die ihn bis Sonntagvormittag von der Stadt fernhalten würden. Er hatte ihr fest versprechen müssen, sie am Sonntag abzuholen. Am schnellsten hatten sie noch das junge Mädchen bekommen, das übers Wochenende die alte Frau versorgen wollte Das Geräusch eines vorbeifahrenden Wagens ließ ihn aufspringen. Er runzelte die Stirn. Es war nicht so, daß er sich ängstlich oder auch nur beunruhigt fühlte. Sein Inneres war felsenfest. Seine Entschlossenheit ließ sich durch nichts erschüttern. Hier in dieser dunklen, friedvollen Umgebung war eine Störung so unwahrscheinlich wie sein eigenes gespenstisches Eindringen. Menschen gingen nun mal nachts nicht auf Friedhöfe. Die Nacht raste dahin, während er immer weitergrub, tiefer, näher an das Geheimnis, das er ergründen mußte, bevor er die tödliche Tat beging, die die Logik ihm schon jetzt befahl. Und er kam sich nicht wie ein Unhold vor — Er hatte überhaupt keine Gefühle,
nur seinen Vorsatz, seinen finsteren, unabänderlichen Vorsatz; und da war die dunkle Nacht und die Stille, unterbrochen nur von dem Fallen der Erdbrocken, die er aus dem Grab warf. Sein Leben, seine Kraft floß hier in diesem kleinen baumbestandenen Totenfeld weiter. Und seine Uhr zeigte fünf vor halb zwei, als der Spaten endlich auf Holz traf. Es war nach zwei, als seine Taschenlampe gespenstisch in den leeren Holzsarg leuchtete. Lange Zeit starrte er hinein. Jetzt, da er die Tatsache vor sich hatte, wußte er nicht, was er erwartet hatte. Offensichtlich, nur zu offensichtlich, war hier ein Abbild begraben worden — und fröhlich verschwunden, als die Erde ins Grab geworfen wurde. Aber weshalb überhaupt eine Beerdigung? Wen wollte sie täuschen? Was? Er spannte sich an. Gründe waren jetzt unwichtig. Er wußte Bescheid, das allein zählte. Und sein Handeln mußte so kalt und tödlich sein wie das Handeln der Kreatur, die sich in seinem Haushalt eingenistet hatte. Sein Wagen glitt auf dem zur frühen Morgenstunde verlassenen Highway dahin. Die graue Dämmerung kam ihm vom Osten entgegen, während er dahinfuhr. Nur sein finsterer Vorsatz, fester, eisiger mit jeder Minute, ein vergeistigtes Ding, so unlöschbar wie -'47
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das Feuer der Sonne, leistete ihm Gesellschaft. Es war Spätnachmittag, als seine Maschine mit ihrem kratzigen zweiten Gang den steilen Berg hinaufsurrte und in die Auffahrt zur Garage einbog. Er ging ins Haus und setzte sich eine Zeitlang hin. Das Mädchen, das Joanna als Aursicht hergeholt hatte, war ein hübsches, rothaariges Ding namens Heien. Sie war, wie er mit grimmiger Genugtuung feststellte, sehr zart gebaut. Er hatte sie eben wegen ihrer Zartheit für das Wochenende vorgeschlagen. Nein, es würde ihr nichts ausmachen, noch eine Nacht hierzubleiben, wenn sie nicht heimkamen. Und wann wollte er seine Frau abholen? »Oh, ich lege mich zuerst ein wenig hin«, erwiderte Marson. »Ich hatte eine reichlich anstrengende Fahrt. Und Sie - was machen Sie, während ich schlafe?« »Ich habe ein paar Zeitschriften entdeckt«, sagte das Mädchen. »Ich setze mich einfach her und lese. Ich versichere Ihnen, daß ich ganz leise sein werde.« »Danke«, sagte Marson. »Es ist ja nur für'ein paar Stunden.« Er lächelte düster vor sich hin, als er ins Schlafzimmer ging, und schloß die Tür. Männer mit verzweifelten Plänen mußten kühn sein, mußten sich auf die einfachsten, unkomplizierte248
sten Realitäten des Lebens verlassen — wie auf die Tatsache, daß die Menschen normalerweise nachts keine Grabstätten aufsuchten. Oder, daß junge Mädchen nicht durch Herumschnüffeln zur Last fielen, wenn sie versprochen hatten, es nicht zu tun. Er zog die Schuhe aus, schlüpfte in die Hausschuhe, und dann - Fünf lange Minuten wartete er, um ihr Zeit zu lassen. Schließlich ging er leise durch die Badtür, die in den Gang zwischen Küche und Schlafzimmern führte. Die Küchentür quietschte, als er hinausging, aber er gestattete sich keine Skrupel. Keine Spur von Furcht ließ sich in der eiskalten Zone nieder, die sein Verstand war. Weshalb sollte ein Mädchen, das sich bequem hingesetzt hatte, eine spannende Geschichte las und versprochen hatte, leise zu sein - weshalb sollte so ein Mädchen einem so gewöhn}ilichen Geräusch nachgehen? Selbst neue Häuser hatten eine Menge ganz eigener Geräusche. Der Wagen stand an der Seite des Hauses, ,die nur ein Fenster hatte. Er nahm den Fünf-Gallonen-Benzinkanister vom Rücksitz, trug ihn durch die Küche, hinunter in den Keller. Er bedeckte ihn schnell mit ein paar alten Lumpen, dann war er wieder oben, durch die Küche Er erreichte das Schlafzimmer und dachte angespannt nach: Es waren diese Einzelheiten, die die meisten
DIE HEXE Leute lahmten, wenn sie einen Mord planten. Wenn er heute abend zurückkam, konnte er den Wagen nicht den Berg hinauffahren, denn es sollte ein ganz besonderer, unbeobachteter, geisterhafter Ausflug sein. Der Wagen würde zumindest eine Meile entfernt stehen. Und es war ganz offensichtlich ungeheuer risikoreich und ermüdend, einen Fünf-Gallonen-Kanister durch Hintergäßchen zu schleppen. Und was für ein Alptraum es sein würde, mit so einem Kanister bei Mitternacht durch die Küche und in den Keller zu stolpern. Unmöglich auch, wie er entdeckt hatte, ihn an Joanna vorbeizuschmuggeln, ohne daß sie es sah. Mord hatte seine Schwierigkeiten; und ganz selbstverständlich mußte es Mord sein. Durch Feuer. Alles, was er je von Hexen gehört hatte, zeigte seiner Erinnerung nach die überwältigende Bedeutung des Feuers. Und sollte die zart gebaute Heien nur versuchen, die Tür zum Zimmer der alten Frau aufzubrechen, nachdem das Feuer aufgeflackert war und er die Tür von außen abgeschlossen hatte! Er lag eine Zeitlang ruhig auf dem Bett. Der Gedanke kam ihm, daß kein Mensch als größerer Schurke dastehen würde, wenn das, was er getan hatte und zu tun beabsichtigte, je entdeckt wurde. In diesem Moment erfaßte ihn für kurze Zeit abgrundtiefe Furcht.. Und
als wäre das Bild direkt vor seinen Augen, sah er die große Schule seinen Händen entgleiten, das College, das er anstrebte, dahinschwinden, dahinschwinden in den Nebeln, die eine Gefängniszelle umgaben. Er dachte: Es wäre so leicht, halbe Maßnahmen zu ergreifen, die ihn und Joanna von dem schrecklichen Problem befreiten. Er brauchte sie nur am nächsten Tag, während Joanna noch fort war, ins Altersheim zu bringen — und rücksichtslos alle Einwände übergehen. Sie würde vielleicht entfliehen, aber nie mehr zu ihnen zurückkommen. Er konnte sich dann in seine Welt zurückziehen, die aus der Schule und Joanna bestand. Das Leben würde in der großzügigen amerikanischen Weise weitergehen - und irgendwo würde es bald eine junge Hexe geben, strahlend in der Kraft des erneuerten bösen Lebens. Und zugleich würde irgendwo eine menschliche Seele aus dem Körper gerissen, der ihr zustand — in einem Haus, in das sich eine unverschämte Alte eingenistet hatte. Wenn er bei seinem Wissen nichts unternahm . .. Er mußte bei diesem Gedanken eingeschlafen sein. Es war der fordernde Schlaf der vollkommen erschöpften Nerven, die es nicht gewohnt waren, ihrer Ruhe beraubt zu werden. Er erwachte erschrocken. Er sah, daß es stockdunkel war und —
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Die Schlafzimmertür öffnete sich leise. Joanna kam auf Zehenspitzen herein. Sie sah ihn im Licht, das vom Gang ins Zimmer strömte. Sie blieb stehen und lächelte. Dann kam sie zu ihm herüber und küßte ihn. »Liebling«, sagte sie, »ich bin so froh, daß du noch nicht losgefahren bist, um mich abzuholen. Ein nettes Paar bot mir an, mich mitzunehmen, und ich dachte, wenn wir uns unterwegs träfen, hätte ich dir wenigstens ein Stück Weg erspart — nach deinem anstrengenden Wochenende. Ich habe Heien heimgeschickt. Es ist jetzt nach elf, du kannst dich also ausziehen und gleich ins Bett legen. Ich selbst trinke noch eine Tasse Tee. Vielleicht magst du auch eine.« Ihre Stimme drang kaum durch das Dröhnen in seinem Gehirn, durch die qualvolle Erkenntnis. Nach elf - keine Stunde mehr bis zu jener Mitternacht, an der einmal jährlich die schicksalhafte Periode des Hexenmonds begann. Der ganze Aufbau seiner Pläne stürzte ihm über dem Kopf zusammen. Er blieb in ihrer Nähe, als sie den Kessel aufsetzte. Es war halb zwölf, als sie mit dem Teetrinken fertig waren, und immer noch konnte er nicht sprechen, konnte er keinen Beginn für all die Dinge finden, die gesagt werden mußten. Deprimiert bemerkte er, daß ihre Augen ihn beobachte250
ten, während sie eine Zigarrette rauchte. Er stand auf und ging auf und ab. Und nun zeigte sich dunkle Verwirrung in ihren femgeschnittenen braunen Augen. Zweimal setzte sie zum Sprechen an, aber jedes Mal unterbrach sie sich wieder. Und wartete. Er konnte beinahe spüren, wie sie in ihrer ruhigen, ernsten Art wartete — darauf wartete, daß er zuerst sprach. Unmöglich, dachte er, völlig unmöglich, diese ruhige, sachliche, weichherzige Frau zu überzeugen. Und doch, es mußte geschehen, jetzt, bevor es zu spät war, bevor auch drastische Maßnahmen zu wenig waren. Die Erinnerung an den Satz aus dem Zeitungsartikel brachte kalten Schweiß auf sein Gesicht. Er blieb ruckartig stehen, stellte sich vor sie. Seine Augen waren wohl glühende Steine, seine steife Haltung ein erschreckender Anblick; denn sie zuckte unmerklich zurück. »Craig — « »Joanna, ich möchte, daß du Hut und Mantel nimmst und in ein Hotel gehst.« Man brauchte keine große Fantasie, um zu erkennen, daß seine Worte verrückt klingen mußten. Er haspelte weiter mit dem Redeschwall eines Kindes, das eine aufregende Geschichte erzählt. Und genauso fühlte er sich—wie ein Kind, das sich mit ei-
DIE HEXE nem toleranten Erwachsenen unterhielt. Aber er konnte nicht aufhören. Er ließ nur seinen düsteren Mordvorsatz weg. Sie mußte den Schock dieser Einzelheit später verdauen, wenn alles vorbei war. Als er zu Ende war, sah er, daß ihr Blick zärtlich war. »Armer Liebling«, sagte sie, »das hat dich also gequält. Du hast dir meinetwegen Sorgen gemacht. Ich kann mir genau vorstellen, wie das alles auf dich gewirkt haben muß. Ich hätte genauso reagiert, wenn du scheinbar in Gefahr gewesen wärst.« Marson stöhnte. Diesen Standpunkt nahm sie also ein —sanftes Verständnis. Sie duldete seine natürliche Beunruhigung und glaubte kein Wort. Er brachte sein Inneres einigermaßen zur Ruhe und sagte mit einer sonderbaren, zitterigen Stimme: »Joanna, denk daran, daß Kemp es eindeutig als Hexenkraut analysiert hat und daß ihre Leiche nicht in dem Grab liegt — « Immer noch war kein Feuer in ihren Augen, keine Flamme von aufsteigender Furcht. Sie hatte die Stirn in Falten gezogen, als sie sagte: »Aber weshalb sollte sie sich all der Mühe unterziehen, eines ihrer Abbilder zu begraben, wenn sie sich lediglich in den Zug zu setzen und herzukommen brauchte? Sie hat es ja auch getan. Weshalb diese enorme Farce der Beerdigung?«
Marson brauste auf: »Weshalb die Lüge, daß sie eine andere, die begraben wurde, mit Make-up zurechtschminkte? Oh, Liebling, verstehst du denn nicht — « Langsam, logisch, sprach sie weiter: »Craig, vielleicht bestand ein Obereinkommen zwischen diesem Pete Cole, der dir den Brief schrieb, und Mutter Quigley. Hast du daran schon gedacht?« Wenn sie nur bei ihm gewesen wäre, dachte er, als er jenes dunkle Grab geöffnet hatte. Wenn sie das unglaubliche Abbild gesehen hätte — wenn, .wenn, wenn . . . Er warf einen verstohlenen Blick auf die Wanduhr. Es war siebzehn Minuten vor zwölf, und das verwirrte ihm fast den Verstand. Er zitterte — und versuchte mühsam seine Stimme zu beherrschen. Ihm fielen Argumente ein, aber die Zeit zum Reden war vorbei—längst vorbei. Nur eines war wichtig. »Joanna«, sagte er, und seine Stimme klang so heftig, daß er selbst entsetzt war, »du wirst um meinetwillen drei Tage lang ins Hotel gehen, ja?« »Aber natürlich, Liebling.« Sie sah gelassen aus, als sie sich erhob. »Meine Sachen für die Nacht sind noch gepackt. Ich nehme einfach den Wagen und — « Ein Gedanke schien ihr mit einem 251
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Mal zu kommen. Ihre feinen, glatten Brauen zogen sich hoch. »Und was ist mit dir?« »Ich bleibe natürlich hier«, sagte er, »um darüber zu wachen, daß sie das Haus nicht verläßt. Du kannst mich morgen in der Schule anrufen. Beeil dich, um Himmels willen.« Ein Frösteln überkam ihn bei ihrem prüfenden Blick. »Einen Augenblick«, sagte sie, und ihre Stimme war langsam, angespannt. »Ursprünglich wolltest du mich nur bis morgen aus dem Haus haben. Was - hast du - für heute nacht - vor?« Sein Inneres war mit einem Mal trotzig, rebellisch. Seine Lippen bewegten sich plump, als könnten sie nur die Wahrheit leicht aussprechen. Lügen waren noch nie etwas für ihn gewesen. Aber jetzt machte er einen armseligen Versuch. »Ich wollte dich nur aus dem Wege haben, solange ich dem Grab einen Besuch abstattete. An das Später dachte ich gar nicht.« Ihre Augen glaubten ihm nicht; ihre Stimme sagte es, aber die Worte, die sie benutzte, drangen irgendwie nicht bis zu ihm durch. Denn eine sonderbare Ruhe überkam ihn, die Erkenntnis, daß die Zeit nur noch Minuten entfernt war und daß all dieses Gerede wertlos war. Nur sein unerbitterlicher Vorsatz zählte. Er sagte einfach, fast, als spräche er zu sich selbst: »Ich wollte ihre Tür von außen zu252
sperren und das Haus abbrennen, aber ich sehe jetzt, daß das nicht notwendig ist. Du gehst jetzt besser, Liebling, denn es wird eine scheußliche Sache, die du nicht sehen sollst. Weißt du, ich bringe sie hinaus an den Rand der Klippe und werfe sie in das nächtliche Meer, das sie so sehr fürchtet.« Er schwieg, weil die Uhr unglaublicherweise acht Minuten vor zwölf anzeigte. Wortlos, ohne die Antwort abzuwarten, die ihr auf den Lippen zu zittern schien, wirbelte er herum und rannte in den Schlafzimmerkorridor. Er wollte die Tür der alten Frau öffnen. Sie war versperrt. Die reine Wut der Verzweiflung würgte ihn. »Aufmachen!« schrie er. Drinnen herrschte Schweigen; er spürte, wie Joannas Finger vergeblich an seinem Ärmel zupften. Und dann warf er sein volles Gewicht von hundertachtzig Pfund gegen die Tür. Zwei Stöße, daß ihm alle Knochen wehtaten — und die Tür gab mit einem ohrenbetäubenden Krachen nach. Seine Finger tasteten nach dem Lichtschalter. Ein Klicken, und dann — Er blieb stehen, fröstelnd, halb gelähmt von dem Anblick, der sich ihm im Licht bot: Zwölf alte Frauen, zwölf Kreaturen, die ihn aus allen Ecken des Zimmers anrauchten. Die Hexe verbarg sich nicht mehr — und sie war bereit.
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Das Allermerkwürdigste in diesem fürchterlichen Augenblick war der reine, echte Triumph, der in ihm aufflammte—der Triumph eines Mannes, der eindeutig eine Auseinandersetzung mit seiner Frau gewonnen hatte. Er spürte eine verrückte, unglaubliche Freude; er wollte losrufen: »Siehst du! Siehst du! Hatte ich nicht recht? War es nicht ganz genauso, wie ich gesagt hatte?« Mühsam faßte er seine wirbelnden Gedanken zusammen; und ihm kam die zitternde Erkenntnis, daß er allen Ernstes am Rande des Wahnsinns stand. Er sagte unsicher: »Das wird eine Zeitlang dauern. Ich werde sie nacheinander zur Klippe tragen müssen; aber das Gesetz des Durchschnitts besagt, daß ich früher oder später die richtige erwische. Wir brauchen uns nicht zu ängstigen, daß sie in der Zwischenzeit flieht, denn wir kennen ihre entsetzliche Furcht vor der Nacht. Es ist lediglich eine Sache der Ausdauer ...« Seine Stimme schwankte um eine Spur, denn plötzlich drang die grausige Realität dieses Anblicks bis in sein innerstes Bewußtsein vor. Einige der Kreaturen saßen auf dem Bett, einige auf dem Boden. Zwei standen da, die Arme umeinander geklammert; und die Hälfte von ihnen plapperte jetzt in einer fantastischen Karikatur von Entsetzen vor sich hin. Er zuckte zu-
sammen, als ihm zu Bewußtsein kam, daß Joanna hinter ihm stand. Sie war blaß, unheimlich blaß. Als sie sprach, zitterte ihre Stimme. »Das Schlimmste an dir, Craig, ist, daß du so unpraktisch denkst. Du möchtest Kraftakte vollführen, wie sie auf die Felsen am Grund der Klippe zu stoßen oder sie zu verbrennen. Es beweist, daß selbst jetzt dein Verstand im Grunde nicht an sie glaubt. Sonst würdest du wissen, was zu tun ist.« Sie hatte sich an ihn gedrückt und mit großen Augen über seine Schulter hinweg die wimmernde, entsetzte Schar angesehen. Jetzt, bevor er ihre Absicht erkennen konnte, schlüpfte sich unter seinem Arm durch und war im Zimmer. Ihre Schulter streifte ihn leicht, als sie vorbeihuschte, und nahm ihm das Gleichgewicht. Es dauerte nur einen Moment, aber als er wieder hinsah, war Joanna von acht kreischenden Vetteln umringt. Er bemerkte einen Moment lang ihr verzerrtes Gesicht Sechs runzlige Hände versuchten ihr den Mund aufzuspreizen. Ein Knäuel verzweifelter Altweiberhände umklammerten ihre Arme und Beine und versuchten die wütend um sich Schlagende testzuhalten. And es gelang ihnen! Das war die erschreckende Tatsache, die ihn mit
A. E. VAN VOGT
geballten Fäusten mitten in das Gewimmel alter Frauen eindringen ließ — und er zerrte Joanna los. Eine ungeheure Wut entwuchs seiner Angst. »Du Idiotin!« fauchte er. »Merkst du denn nicht, daß Mitternacht schon längst vorbei sein muß? Dann, in der abrupten, tieferen Erkenntnis, daß sie ja angegriffen worden war, fragte er durchdringend: »Ist alles in Ordnung?« »Ja.« Das kam zitternd. »Ja.« Aber sie hätte das auch gesagt. Er starrte sie mit wütenden Augen an, als könnte er mit seinem durchdringenden Blick an ihrem Gesicht vorbei in ihre Gedanken sehen. Sie hatte wohl den schrecklichen Gedanken in seinen verzerrten Zügen gelesen, denn sie rief: »Verstehst du denn nicht, Liebling? Die Jalousien, die Fenster — mach sie auf! Das wollte ich tun. Laß die Nacht herein! Laß die Dinge herein, die sie fürchtet. Wenn sie existiert, müssen diese Dinge auch existieren. Verstehst du nicht?« Er nahm Joanna mit sich, stieß mit Fäusten und Füßen, mit grimmiger, unerbittlicher Wildheit, gegen die Kreaturen. Er riß die Jalousie hoch. Ein Fußtritt zerschmetterte die untere Fensterscheibe. Und dann, an die Tür gelehnt, warteten sie. Auf dem Fenstersims flüsterte und tropfte Wasser. Eine formlose Gestalt hob sich mißgestaltet gegen den 354
blauschwarzen Himmel jenseits Fensters ab. Und dann war Wa auf dem Boden; es tropfte von e nebligen Form, die sich zu bew schien. Eine Stimme seufzte war es ein Gedanke? »Beinahe hättest du uns mit die falschen Begräbnis getäuscht, N ha. Wir verloren dich monatelang den Augen. Aber wir wußten, nur an der See und von der See alter Leib die Kraft für die Umw lung holen konnte. Wir waren der Lauer, wie bei so vielen Ve terinnen. Und so wirst du dich lich vor den alten Wassern rech tigen müssen.« Man hörte keinen Laut, außer Flüstern des rieselnden Wassers. alten Frauen waren wie zu Stein starrt. Sie saßen da wie Vögel b AnbHck einer Schlange. Und p lich waren die Bilder fort, ausge sen. Eine zerbrechliche, einsam sehende alte Frau saß auf dem Bo direkt im Wege des Nebeldings. Der Nebel umhüllte ihre Gestalt wurde in ihm hochgehoben und fort wieder fallengelassen. Sch zog sich der Nebel zum Fenster rück. Schon war er verschwun Die alte Frau lag flach auf dem R ken, die Augen starr geöffnet. A der Mund stand auf häßliche W offen. Das war der letzte Eindruck ein soluter Mangel an Schönheit.
HEYNE-ANTHOLOG1EN* DM 5.80
derbestell Hexensiories« Zusammengestellt und herausgegeben von Gunter M» Schelwokat;
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Bund mit dem Satan
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Die krumme Janet
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