Ursula K. Le Guin
ERDSEE Fantasy-Zyklus
INHALT
Der Magier der Erdsee (A Wizard Of Earthsea)
4
Die Gräber von Atua...
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Ursula K. Le Guin
ERDSEE Fantasy-Zyklus
INHALT
Der Magier der Erdsee (A Wizard Of Earthsea)
4
Die Gräber von Atuan (The Tombs Of Atuan)
197
Das ferne Ufer (The Farthest Shore)
351
Anhang (Karten)
568
DER MAGIER DER ERDSEE Fantasy-Roman 1. Band des Erdsee-Zyklus
INHALT
Krieger im Nebel
8
Die Schatten
23
Die Zaubererschule
41
Das Freisetzen des Schattens
61
Der Drache von Pendor
85
Gejagt
104
Der Falkenflug
120
Die Jagd
142
Iffisch
162
Auf hoher See
179
Nur aus dem Schweigen ward das Wort, Nur aus dem Dunkel ward das Licht, Nur aus dem Tod ward das Leben: Hell ist der Flug des Falken, In der Weite des Himmels. aus: Die Erschaffung von Éa
Für Clifton, Ted und Karl, meine Brüder
KRIEGER IM NEBEL
DIE INSEL GONT, ein einziger Berg, dessen Gipfel eine Meile hoch über die sturmgepeitschte Nordostsee ragt, ist als Land der Zauberer bekannt. Nicht wenige der in Gont wohnenden Männer verließen die Städte der oberen Täler und die schmalen, dunklen Buchten, um den Fürsten des Inselreiches in ihren Städten als Zauberer und Magier zu dienen, oder, getrieben von Abenteuerlust, von Insel zu Insel zu wandern und ihre Magie überall im Bereich der Erdsee auszuüben. Unter diesen allen, so wird von manchen behauptet, war derjenige, den sie »Sperber« nannten, der größte; er war unbestreitbar am weitesten herumgekommen, und es war ihm vergönnt, Drachenfürst zu werden und später in seinem Leben zum Erzmagier gewählt zu werden. Im Gedlied und in zahlreichen anderen Liedern werden seine Taten besungen. Diese Erzählung aber reicht zurück in die Zeit, als er noch unbekannt war und es noch keine Lieder über ihn gab. Er wurde in Zehnellern, einem einsamen, hoch am Berg gelegenen Dorf an der Spitze des Nordtales, geboren. Unterhalb des Dorfes zieht sich Gras- und Ackerland hin, das Stufe um Stufe gegen die See abfällt, und an den Flußkrümmungen der Ar breiten sich Städte aus. Hinter dem Dorf wächst nur Wald, der steil, Kamm auf Kamm folgend, bis an die Felsen und den Schnee der Höhe reicht. Die Mutter gab dem Kind den Namen Duny. Es war das einzige, was sie ihm, außer seinem Leben, geben konnte, denn sie starb, noch ehe er ein Jahr alt war. Der Vater, ein finsterblickender, wortkarger
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Mann, war der Bronzeschmied des Dorfes. Da Dunys sechs Brüder erheblich älter waren als er und nacheinander das Haus verließen, um das Land zu bebauen oder zur See zu fahren oder als Schmiede in anderen Dörfern zu arbeiten, war niemand da, der das Kind mit Liebe aufziehen konnte. So wuchs er wild auf, schnellwachsendem Unkraut gleich, ein stolzer, aufgeweckter Junge, der nicht mit seiner Meinung zurückhielt und schnell bei der Hand war, wenn ihm jemand zu nahe treten wollte. Zusammen mit den wenigen anderen Kindern des Dorfes hütete er die Ziegen an den steilen Hängen hinter den Quellen des Flusses, und als er groß und kräftig genug war, um den Blasebalg zu bedienen, mußte er seinem Vater helfen und wurde ein Schmiedejunge, der viel Schläge und Hiebe einsteckte. Eine große Hilfe war Duny nämlich nicht; immer zog es ihn fort, tief in die Wälder drang er, in dem Flußbecken der Ar, die wie alle Flüsse in Gont eiskalt und reißend war, schwamm er, oder er kletterte an Felsgraten entlang und über Halden bis in die steinerne Gipfelwelt, die sich oberhalb der Wälder erstreckte. Von dort oben erblickte er das Meer, diesen endlosen, nördlichen Ozean, in dem es, hinter Perregal, keine Inseln mehr gab. Die Schwester seiner Mutter wohnte im Dorf. Sie sorgte für Duny, als er noch klein war, aber sie hatte ihren eigenen Haushalt, und sobald Duny groß genug war, um für sich selbst zu sorgen, kümmerte sie sich nicht mehr um ihn. Eines Tages jedoch, als Duny sieben Jahre alt war und noch nichts wußte von den geheimnisvollen Beziehungen und Kräften, die es in dieser Welt gibt, hörte er, wie seine Tante einer Ziege, die auf ein Strohdach hinauf gesprungen war und sich weigerte herunterzukommen, gewisse Worte zurief; sobald sie einen bestimmten Reim zufügte, sprang das Tier herunter. Am nächsten Tag, als Duny die langhaarigen Ziegen auf den Matten des Hohen Falles hütete, rief er ihnen die gleichen Worte zu, deren Sinn und Bedeutung ihm ganz fremd waren: Noth hierth malk man Hiolk han merth han! Er schrie, so laut er konnte, und die Ziegen begannen auf ihn zuzulaufen, lautlos und hurtig, und starrten ihn aus den gelben Schlitzen
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ihrer schwarzen Augen an. Duny lachte. Es gefiel ihm, Macht über die Ziegen zu haben, und er wiederholte den Spruch in voller Lautstärke. Die Ziegen kamen daraufhin näher und begannen, ihn enger und enger zu umringen. Ganz plötzlich bekam er Angst vor ihren starken, gebogenen Hörnern, ihren seltsamen Augen und der ungewohnten Stille. Er versuchte aus dem Kreis auszubrechen und davonzurennen, aber die Ziegen verließen ihn nicht, sie rannten mit. So gelangten sie schließlich, ein dichtes Knäuel formend, ins Dorf. Es sah aus, als seien die Ziegen mit einem Seil zusammengebunden, in ihrer Mitte der schluchzende, heulende Junge. Die Dorfbewohner, vom Geräusch angezogen, traten aus ihren Häusern und riefen den Ziegen Flüche zu, während sie über den kleinen Jungen lachten. Die Tante trat unter sie, lachte aber nicht. Sie sprach ein Wort zu den Ziegen, und die Tiere, endlich vom Bann befreit, begannen zu meckern, Gras zu rupfen und sich allmählich zu zerstreuen. »Folge mir«, sagte sie zu Duny. Sie nahm ihn in ihre Hütte, in der sie allein wohnte. Kinder durften hier gewöhnlich nicht eintreten, sie hatten sowieso Angst vor dieser Behausung. Es war niedrig drinnen und sah düster aus, denn es gab keine Fenster. Der Raum war voll vom Duft verschiedener Krauter: Pfefferminz, wilder Knoblauch, Binsenkraut, Thymian, Schafgarbe, Rainfarn, Lorbeer, Trollblumen und Teufelsklaue, die zum Trocknen am Querbalken hingen. Die Tante saß neben der Feuerstelle mit überkreuzten Beinen, und während sie ihn von der Seite durch ihre langen schwarzen Haarsträhnen beobachtete, fragte sie ihn, was er zu den Ziegen gesagt habe und ob er wisse, was es bedeute. Als sie herausfand, daß er nichts wußte und doch in der Lage war, die Ziegen in den Bann zu schlagen und sie zu zwingen, ihm zu folgen, ahnte sie, daß große Macht in ihm schlummerte. Als Sohn der Schwester bedeutete er ihr nichts, nun aber sah sie ihn in einem neuen Licht. Sie lobte ihn und sagte, daß sie ihn andere Sprüche lehren könne, die ihm bestimmt besser gefielen, wie zum Beispiel Worte, die eine Schnecke aus ihrem Gehäuse herauslocken, oder den Namen, der den Falken aus den Wolken riefe.
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»O ja, sag mir den Namen!« rief er, der Schrecken mit den Ziegen war schon vergessen, und er setzte sich ganz aufrecht hin, denn es gefiel ihm, daß sie seine Klugheit lobte. Das Zauberweib fragte ihn: »Wirst du dieses Wort nie anderen Kindern sagen, wenn ichʹs dich lehre?« »Nie, ich verspreche es.« Sie lächelte über seine offensichtliche Naivität. »Nun gut, aber ich werde dein Versprechen sichern. Du wirst nicht reden können, bis ich dich aus dem Bann löse. Dann kannst du zwar wieder sprechen, aber das Wort, das ich dich lehre, kannst du nur aussprechen, wenn niemand sonst mithören kann. Wir müssen die Geheimnisse unseres Gewerbes unter uns behalten.« »In Ordnung«, sagte der Junge, denn er hatte nicht die Absicht, das Geheimnis an Freunde zu verraten, im Gegenteil, es gefiel ihm ganz gut, mehr zu wissen und mehr zu können als sie. Er muckste sich nicht, während seine Tante ihr ungekämmtes Haar hinten zusammenband, ihren Gürtel fester knüpfte und sich niederließ, wiederum mit überkreuzten Beinen. Sie warf einige Hände voll Blätter ins Feuer, so daß sich der Rauch überall ausbreitete und die Hütte füllte. Dann begann sie zu singen. Manchmal änderte sie ihre Stimme, die einmal hoch, einmal tief klang, so als ob ein anderer aus ihr sänge, und der Gesang fand kein Ende, bis der Junge nicht mehr wußte, ob er schlief oder wachte. Während der ganzen Zeit saß der alte schwarze Hund des Zauberweibes, der nie bellte, neben ihm mit Augen, die rot waren vom Rauch. Dann sprach das Zauberweib mit Duny in einer Sprache, die er nicht verstand, und er mußte Sprüche und Worte nachsprechen, bis der Zauber über ihn kam und ihn festhielt. »Rede!« gebot sie ihm, um den Bann auszuprobieren. Der Junge konnte nicht sprechen, aber er lachte. Da bekam die Tante etwas Angst vor der in ihm ruhenden Macht. Sie hatte ihren stärksten Zauberspruch gewählt und versucht, sein Reden und sein Schweigen zu beherrschen und ihn gleichzeitig an sich und in den Dienst ihres Zaubergewerbes zu binden. Doch während er unter dem Bann stand, konnte er lachen. Sie sagte kein Wort, sondern schüttete fri-
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sches Wasser ins Feuer, bis der Rauch sich verzogen hatte, dann gab sie dem Jungen Wasser zu trinken, und als die Luft wieder sauber war und er wieder reden konnte, lehrte sie ihn den wahren Namen des Falken, dem der Falke gehorchen mußte. Das war Dunys erster Schritt auf dem Pfad, dem er den Rest seines Lebens folgen sollte, der Pfad der Magie, der Pfad, der ihn schließlich dazu führte, einem Schatten über Land und Meer nachzujagen, bis an die finstere Küste des Totenreiches. Aber als er die ersten Schritte tat, schien der Pfad weit und breit zu sein. Als Duny erlebte, wie der wilde Falke pfeilschnell aus den Wolken zu ihm herunterstieß, wenn er ihn bei seinem eigentlichen Namen rief, und sich wie der Edelfalke eines Prinzen mit rauschenden Flügeln auf seinem Handgelenk niederließ, trieb ihn die Begierde, noch andere Namen zu lernen, und er ging zu seiner Tante und bat sie, ihn den Namen des Sperbers, des Reihers und des Adlers zu lehren. Um sich diese Worte, die ihm soviel Macht gaben, anzueignen, tat er alles, was die Tante von ihm verlangte, lernte alles, was sie ihm beibringen wollte, obwohl manches Wissen und manche Verrichtung abstoßend waren. Die Redensarten »so schwächlich wie die Zauberei einer Frau« oder »so gemein wie die Zauberei einer Frau« waren allgemein bekannt in Gont. Zwar gehörte das Zauberweib von Gont keineswegs zu den Hexen der Schwarzen Künste, sie mischte sich auch nicht in die Hohen Künste oder in den Umgang mit Urkräften, aber da sie ein unwissendes Weib war, das unter unwissendem Volk hauste, lag ihren Bemühungen oft eine ganz primitive und zweifelhafte Absicht zu Grunde. Sie wußte nichts vom Gleichgewicht und von der Formgebung, die der wahre Zauberer kennt, denen er dient und die ihn lehren, Magie nur im äußersten Notfall auszuüben. Sie hatte für jede Gelegenheit einen Spruch bereit und beschäftigte sich praktisch dauernd damit, irgendeinen Zauber zu bewerkstelligen. Viel davon war Humbug und nutzlos, denn sie konnte die wahren von den falschen Zaubersprüchen nicht unterscheiden. Aber ihre Verwünschungen waren fast immer erfolgreich, ja man konnte fast sagen, daß sie eher eine Krankheit verursachen als heilen konnte. Wie jedes in einem Dorf ansässige Zauberweib war sie geschickt im
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Mischen von Liebestränken, aber es gab auch andere, schlimmere Tränke, die sie auf Wunsch braute, um Eifersucht und Haß zu stillen. Dieses Wissen verbarg sie vor ihrem jungen Lehrling, und soweit es in ihrer Macht lag, lehrte sie ihn ein ehrliches Gewerbe. Duny hatte seine kindliche Freude daran, die magische Kunst zu erlernen. Sie machte ihn zum Meister über alles Getier, das fliegende und das kriechende, und zeigte ihm das wahre Wesen ihrer Natur. Diese Freude blieb ihm den Rest seines Lebens. Oft, wenn die Kinder ihn auf den hohen Almen sahen, war er von einem Raubvogel umschwirrt, und sie begannen, ihn den »Sperber« zu nennen. Dieser Name blieb ihm und wurde von all denen gebraucht, die seinen wahren Namen nicht kannten. Da das Zauberweib ihm oft vom Ruhm und Reichtum und von der großen Macht erzählte, die ein Zauberer über die Menschen erringen konnte, nahm sich Duny vor, mehr von der Zauberkunde zu erlernen. Das Lernen fiel ihm leicht. Das Zauberweib lobte ihn oft, und die Kinder begannen ihn zu fürchten. Er selbst wußte, daß er bald berühmt werden würde unter den Menschen. So verging die Zeit, und er lernte nacheinander Worte und Beschwörungsformeln von dem Zauberweib. Als er zwölf Jahre alt war, kannte er einen großen Teil ihres Wissens. Es war nicht allzuviel, aber für das Zauberweib eines kleinen Dorfes genügte es, und für einen zwölfjährigen Knaben war es mehr als genug. Sie lehrte ihn alles, was sie von Kräutern und vom Heilen wußte, und was ihr bekannt war von den Künsten des Findens, des Fesselns, des Zusammenfügens, des Öffnens und des Schließens. All die Lieder der Sänger, die sie kannte, sang sie ihm vor, die von den Taten vergangener Helden handelten, und die Worte der wahren Sprache, die sie von dem Zauberer, bei dem sie in die Schule gegangen war, gelernt hatte, gab sie an Duny weiter. Von den Wettermachern und den Spielleuten, die von Stadt zu Stadt durch das Nordtal und den Ostwald zogen, lernte er verschiedene Tricks und interessante Spielereien, meist Schein- und Illusionszauber. Einer dieser Tricks, ein Illusionszauber, offenbarte zum ersten Mal die Macht, die in Duny steckte. Zur damaligen Zeit war Kargad ein mächtiges Reich. Es bestand aus vier großen Ländern, die zwischen dem Nord- und Ostbereich lagen: Ka-
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rego-At, Atuan, Hur-at-Hur und Atnini. Die Sprache, die dort gesprochen wurde, war anders als die der Bewohner des Inselreiches und der anderen Landstriche. Es war ein barbarisches Volk, das dort wohnte, weißhäutig, blondhaarig und wild, das gerne Blut sah und gerne brennende Städte roch. Im Jahr zuvor hatten sie die Inselgruppe der Torikien und die stark befestigte Insel Torheven angegriffen und verschiedene Raubzüge gegen sie unternommen mit ihren großen Flottillen wehrhafter Schiffe unter roten Segeln. Die Nachrichten erreichten das nördliche Gont, aber die Fürsten in Gont waren zu sehr mit ihrer eigenen Seeräuberei beschäftigt und kümmerten sich wenig um die Bedrängnisse anderer Länder. Dann aber fiel Spevy unter den Angriffen der Kargs und wurde geplündert und in Asche gelegt und die Bewohner als Sklaven verschleppt und die Insel derart zerstört, daß sie heute noch in Ruinen liegt. Danach, von Siegeslust beflügelt, fuhren die Kargs nach Gont mit einer Flotte von dreißig schnellen, langen Segelbooten und legten im Osthafen an. Sie kämpften sich durch die Stadt, eroberten sie und setzten sie in Brand. Dann ließen sie ihre Schiffe unter Bewachung an der Mündung der Ar zurück und drangen aufwärts ins Tal vor, raubend, plündernd und mordend, Mensch und Tier. Im weiteren Vordrängen teilten sie sich in Rotten, und jede dieser Rotten nahm und zerstörte, was den Männern gefiel. Flüchtlinge kamen und warnten die Dorfbewohner der Höhe. Bald darauf sahen die Bewohner von Zehnellern im Osten Rauch aufsteigen, der den Himmel verdunkelte. Wer hinaufstieg auf den Hohen Fall, konnte den Rauch sehen, der über dem Tal lag, und die rote Glut wahrnehmen, die vom Brand der erntereifen Felder herrührte oder von den Obstbäumen, an deren Zweige die Früchte verkohlten, oder von den Höfen und Scheunen, die loderten und zu Asche zerfielen. Einige der Dorfbewohner flüchteten sich hinauf in die Schluchten und versteckten sich im Wald, andere bereiteten sich zur Verteidigung vor, und manche taten überhaupt nichts, sondern standen nur herum und jammerten. Das Zauberweib war unter den Flüchtenden. Sie versteckte sich allein in einer Höhle am Kapperding Kamm und verschloß die Öffnung der Höhle mit Zauberworten. Dunys Vater, der Bronzeschmied, ge-
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hörte zu denen, die blieben. Er wollte seine Schmiedegrube und seinen Amboß, die ihm fünfzig Jahre lang treu gedient hatten, nicht im Stich lassen. Er schaffte die ganze Nacht durch, schmolz alles verfügbare Metall zu Speerklingen, die er, unter Mithilfe der anderen, an die Schäfte von Hacken und Rechen band, denn die Zeit war zu kurz, um regelrechte Fassungen herzustellen. Im ganzen Dorf gab es außer Pfeilen, Bogen und Jagdmessern keine Waffen, denn die Bergbewohner von Gont waren nicht als Krieger, wohl aber als Ziegendiebe, Piraten und Zauberer bekannt. Der Sonnenaufgang brachte dichten, weißen Nebel, nicht ungewöhnlich im Herbst hier oben auf der Insel. Die Dorfbewohner standen zwischen ihren Hütten und Häusern entlang der krummen Straße von Zehnellern. In ihren ungeübten Händen hielten sie Pfeil und Bogen und die neugeschmiedeten Speere, aber sie wußten nicht, ob die Kargs noch weit weg oder schon ganz nahe waren. Unbeweglich und still standen sie und starrten in den Nebel, der alle Umrisse, Entfernungen und Gefahren vor ihren Augen verbarg. Unter ihnen stand Duny. Er hatte die ganze Nacht am Blasebalg geschuftet. Ohne auszusetzen hatte er die beiden langen Bälge aus Ziegenleder gezogen und geschoben, um den Luftstrom zum Anfachen des Feuers zu erzeugen. Jetzt taten ihm seine Arme weh und zitterten derart, daß er Mühe hatte, den Speer, den er selbst gewählt hatte, zu halten. Er wußte nicht, was er tun konnte, um dem Dorf zu helfen, denn zum Kämpfen taugte er bestimmt nicht. Schwer lag der Gedanke auf ihm, daß er nun wohl sterben mußte, aufgespießt auf einer kargischen Lanze, obwohl er doch nur ein Junge war, und daß er das ewig dunkle Land betreten sollte, ohne je seinen wahren Namen, seinen Mannesnamen, erfahren zu haben. Er betrachtete seine dünnen Arme, feucht vom Nebeltau, und war wütend auf seine Schwäche, denn er wußte um seine Stärke. Er fühlte die in ihm schlummernde Macht, aber wenn er nur wüßte, wie sie zu gebrauchen sei. Er ging alle Zaubersprüche durch, die ihm helfen oder zumindestens eine Chance geben würden. Aber die Not allein löst keine Macht aus: Wissen ist vonnöten.
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Unter den wärmenden Strahlen der Sonne, die sich rund über den Gipfel in einen klaren Himmel erhob, verzog sich allmählich der Nebel. In den sich teilenden, schwebenden Nebelfetzen gewahrten die Dorfbewohner eine Schar von Kriegern, die den Berg heraufstiegen. Sie trugen Bronzehelme, Beinschienen und Brustpanzer aus schwerem Leder, Schilde aus Holz und Bronze; in ihren Händen hielten sie Schwerter und die langen kargischen Lanzen. Sie folgten der steilen Böschung der Ar, ein federgeschmückter, klirrender, ungleichmäßiger Zug, so nahe bereits, daß man ihre weißhäutigen Gesichter deutlich wahrnehmen und die Worte, die sie sich in ihrem Jargon zuwarfen, hören konnte. Die Schar war verhältnismäßig klein, sie bestand aus ungefähr hundert Männern; im Dorf aber gab es nur achtzehn Männer und Knaben zusammen. Die große Not, in der Duny sich und die Seinen sah, rief ein Wissen in ihm wach: Er sah, wie der sich lichtende Nebel den Pfad freilegte, und erinnerte sich an eine Beschwörungsformel, die vielleicht von Nutzen sein konnte. Ein alter Wettermacher, der darauf aus war, den Jungen als Lehrling zu gewinnen, hatte ihn einige Wetterformeln gelehrt. Darunter war ein Trick, den der Wettermacher das Nebelweben nannte. Es war eine sogenannte Bindeformel, die einzelne Nebelfetzen zu einem Ganzen zusammenzog, aus dem geschickte Illusionskünstler geisterhafte Gestalten formten, die sich eine Weile schwebend bewegten und sich allmählich wieder auflösten. Dazu fehlte Duny die Geschicklichkeit, aber seine Absicht war sowieso eine andere, und die Macht, die er in sich fühlte, war groß genug, um die Beschwörungsformel seinen eigenen Zwecken anzupassen. Laut und schnell nannte er die verschiedenen Örtlichkeiten und Grenzen des Dorfes und sprach dann die Formel des Nebelwebens, aber in die Worte flocht er eine andere magische Formel, die bewirkt, daß alles verhüllt wird. Und zuletzt rief er laut ein Wort, das die Magie auslösen sollte. Während er noch damit beschäftigt war, näherte sich sein Vater von hinten und versetzte ihm einen harten Schlag gegen den Kopf, der ihn zu Boden warf: »Sei ruhig, du Narr! Hör auf mit deinem Gewäsch und versteck dich lieber, wenn du nicht kämpfen kannst!«
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Duny stand auf. Er konnte die Kargs hören, die bereits am Ende des Dorfes waren, fast schon an der großen Eibe im Hof des Gerbermeisters. Ihre Stimmen drangen klar zu ihnen herauf, auch das Rasseln ihrer Waffen und das Quietschen ihrer Rüstungen, aber sie selbst waren unsichtbar. Ein dichter weißer Nebel hatte sich im ganzen Dorf verbreitet, der alles Licht dämpfte und die ganze Welt verschwimmen ließ, fast konnte man seine eigene Hand vor dem Gesicht nicht mehr sehen. »Ich habe uns alle versteckt«, sagte Duny mit verdrossener Stimme, denn sein Kopf schmerzte ihn von dem Schlag, den ihm sein Vater versetzt hatte, und die doppelte Beschwörungsformel hatte ihn seine ganze Kraft gekostet. »Ich werde versuchen, den Nebel zu halten, solange ich kann. Geh du zu den andern und mach, daß sie die Kargs auf den Hohen Fall führen.« Der Schmied starrte seinen Sohn an, der wie ein Spuk in dem unerklärlichen, feuchten Nebel vor ihm stand. Es dauerte einige Minuten, bis er Dunys Absicht begriffen hatte, dann aber rannte er fort, lautlos, denn er kannte jeden Zaun und jede Ecke im Dorf; er verständigte die andern, was zu tun sei. Durch das Grau des Nebels drang ein rötlicher Schein. Die Kargs hatten ein Haus in Brand gesteckt, und man hörte das Knistern eines brennenden Strohdaches. Sie befanden sich noch immer am unteren Ende des Dorfes und warteten darauf, daß der Nebel sich lichte, damit sie ihre Beute klar vor sich sehen konnten. Der Gerbermeister, dessen Haus in Brand stand, suchte ein paar Jungen aus und befahl ihnen, schreiend und spottend unter den Nasen der Kargs hin und her zu rennen und dann wieder im Nebel zu verschwinden. Indessen schlichen sich die Männer hinter den Zäunen von Haus zu Haus, bis sie am anderen Ende des Dorfes herauskamen, und schleuderten eine Ladung von Pfeilen und Speeren mitten in die Kargs, die zusammengepfercht auf einer Stelle standen. Einer der Kargs fiel, getroffen von einem noch vom Schmieden warmen Speer, und wand sich schreiend am Boden. Die anderen wurden von den Pfeilen gespickt und gebärdeten sich wie rasend. Sie stürzten vorwärts und warfen sich auf ihre kümmerlichen Angreifer, aber sie bekamen nur Nebel zu fassen, der mit Stimmen angefüllt schien. Sie folgten den
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Stimmen und stachen mit ihren federgeschmückten, blutigen Lanzen in den Nebel hinein. Bergauf, entlang der Straße, stürmten sie, Schreie ausstoßend, und wußten nicht, daß sie bereits durch das Dorf gerannt waren, dessen leere Häuser und Hütten im grauen, wogenden Nebel auftauchten und wieder verschwanden. Die Dorfleute liefen in alle Richtungen auseinander, die meisten jedoch hielten ihren Abstand vor den Kargs ein, denn sie waren mit dem Terrain wohl vertraut; einige, meist alte Männer und jüngere Knaben, fielen zurück. Die Kargs, die über sie stolperten, stachen zu mit ihren Lanzen und hauten um sich mit ihren Schwertern und stießen ihren Schlachtruf aus, die Namen der weißen Brudergötter von Atuan: »Wuluah! Atwah!« Einige in der Schar blieben stehen, als sie fühlten, wie das Land unter ihren Sohlen uneben wurde, andere drängten weiter auf der Suche nach dem Phantomdorf und folgten den fliehenden Schatten, die zum Greifen nahe vor ihnen huschten. Der Nebel schien, als sei er lebendig: er wallte und wogte, Schatten näherten sich, flohen und verschwanden darin. Eine Gruppe von Kargs jagte den geisterhaften Spukgestalten nach, bis sie zum Hohen Fall, der Felswand hoch über den Quellen der Ar, kamen, wo die vor ihnen huschenden Gestalten sich in der Luft aufzulösen schienen. Die vordringenden Kargs fühlten plötzlich keinen Boden mehr unter den Füßen, und schreiend stürzten sie hundert Meter tief ab, durch den Nebel hindurch in die Sonne, steil abwärts, und zerschellten in dem flachen Becken des Flusses zwischen den Felsblökken. Die Nachdrängenden hielten bei der Felswand inne und lauschten. Ein Grauen schlich sich in die Herzen der Kargs. Sie begannen, sich in dem unheimlichen Nebel zu suchen, und ließen ab von der Verfolgung der Dorfbewohner. Am Berghang fanden sie sich, aber die Spukgestalten schlichen sich unter sie und drangen von hinten auf sie ein mit Speeren und Messern und verschwanden sofort wieder. Da begannen die Kargs den Berg hinunterzulaufen, alle zusammen, von Furcht getrieben, ohne anzuhalten, bis sie sich plötzlich außerhalb des Nebels wiederfanden und der Fluß und die Schluchten unterhalb des Dorfes klar und
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deutlich in der hellen Morgensonne vor ihnen lagen. Hinter ihnen, quer über dem Pfad, lag eine graue Wand, in der es quirlte und quellte, und die alles Darunterliegende verbarg. Aus ihr brachen noch zwei oder drei Nachzügler hervor, die sich eilends vorwärts schleppten und ihre langen, wippenden Lanzen fest umklammert hielten. Keiner blickte sich mehr um. Alle strebten sie dem Tal zu, so schnell sie konnten, hinweg aus dieser verhexten Gegend. Weiter unten im Nordtal kam es zu erbitterten Kämpfen. Die Städte des Ostwaldes, von Ovark bis an die Küste, hatten ihre waffenfähigen Männer aufgerufen, die jetzt gegen die Angreifer von Gont zogen. Ein Trupp nach dem andern kam von den Hängen herab, und den ganzen Tag bis tief in die Nacht hinein griffen sie die Kargs an und setzten ihnen hart zu. Sie drängten sie zurück bis zur Küste oberhalb des Osthafens, und dort, wo die Kargs ihre Schiffe vom Brand zerstört vorfanden, verteidigten sie sich mit dem Rücken gegen das Meer bis zum letzten Mann. Der Strand an der Armündung war braun von vergossenem Blut, und erst die zurückkehrende Flut spülte ihn wieder rein. Oben in Zehnellern blieb der Nebel noch eine Weile liegen; dann aber bewegte er sich und begann nach oben zu schweben und sich allmählich aufzulösen. Vereinzelt sah man Männer sich erheben und im hellen Licht der Morgensonne umschauen. Hier lag ein Karg mit langem, blutigen Blondhaar, dort lag der Gerbermeister, der wie ein König in der Schlacht gefallen war. Am Dorfende brannte noch immer das Haus. Man eilte, es zu löschen, denn der Angriff war siegreich zurückgeschlagen. In der Nähe der großen Eibe fand man Duny, den Sohn des Bronzeschmieds. Ganz allein stand er da, unversehrt, aber stumm und wie benommen, so als ob ihm jemand einen schweren Schlag versetzt hätte. Sie wußten wohl, was er für sie getan hatte, und führten ihn zurück ins Haus seines Vaters und gingen, das Zauberweib aus ihrer Höhle zu holen, damit sie den Jungen heile, der ihr Leben und ihren Besitz geschützt hatte. Sie hatten nur vier Tote zu beklagen, und nur ein Haus war zerstört. Man konnte keine Waffenwunde an Duny finden, und doch wollte er weder sprechen noch essen, noch schlafen, und wenn man mit ihm
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sprach, so schien er nicht zu hören, und diejenigen, die zu ihm kamen, schien er nicht zu erkennen. Niemand in der Gegend war der Zauberei so kundig, daß er Duny von seinem Übel hätte befreien und ihm helfen können. Die Tante sagte: »Er hat seine ganze Kraft verausgabt«, aber es lag nicht in ihrer Macht, ihm zu helfen. Während Duny in der Dunkelheit lag und nicht wußte, was um ihn herum vorging, verbreitete sich die Kunde von dem Jungen, der Nebel wob und den kargischen Kriegern mit ein paar gruseligen Schatten Angst einjagte, bis hinunter ins Nordtal und hinüber in den Ostwald und hinauf auf den Berg und die andere Seite wieder hinunter bis zum großen Hafen von Gont. So kam es, daß fünf Tage nach dem Gemetzel an der Armündung ein Fremder nach Zehnellern kam, der weder jung noch alt war, einen langen Umhang trug, barhäuptig ging, und einen Eichenstab, so groß wie er selbst, leicht in der Hand hielt. Er kam nicht von unten herauf, entlang der Ar, wie die meisten Leute, sondern er kam aus den Wäldern des oberen Berghanges. Den Dorfbewohnern blieb nicht verborgen, daß er ein Zauberer war, und als er ihnen sagte, daß er alles heilen könne, führten sie ihn sofort zum Haus des Schmieds. Nachdem er alle hinausgeschickt hatte, nur der Vater Dunys und die Tante durften dableiben, beugte er sich über den Jungen, der wie bewußtlos dalag und ins Dunkle starrte. Er legte seine Hand auf die Stirn des Knaben und berührte ganz kurz seine Lippen. Duny richtete sich langsam auf und schaute sich um. Nach einer kleinen Weile begann er zu sprechen, und seine Kräfte und sein Hunger kehrten zurück. Sie gaben ihm ein wenig zu trinken, und er legte sich wieder zurück, ohne seine dunklen, fragenden Augen von dem Fremden zu wenden. Der Bronzeschmied wandte sich zu dem Fremden: »Sie sind kein gewöhnlicher Mann.« »Noch wird Ihr Junge ein gewöhnlicher Mann sein«, sprach der Fremde. »Die Geschichte mit dem Nebel drang bis nach Re Albi, wo ich wohne. Ich kam hierher, um ihm seinen Namen zu geben, falls er, wie man mir berichtete, noch nicht das Fest der Namensgebung begangen hat.«
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Das Zauberweib flüsterte ihrem Bruder zu: »Bruder, das muß Ogion der Schweigsame sein, der Magier von Re Albi, der, der damals das Erdbeben bezwungen...« »Mein Herr«, sagte der Bronzeschmied, der sich von großen Namen nicht einschüchtern ließ, »mein Sohn wird nächsten Monat 13 Jahre alt, und wir planten, seine Aufnahme in die Gemeinschaft der Erwachsenen am Fest der Wintersonnenwende abzuhalten.« »Gebt ihm seinen Namen, so bald es geht«, antwortete der zauberkundige Mann, »denn er wird ihn bald nötig brauchen. Ich habe jetzt anderes zu tun, aber ich komme zurück an dem Tag, den ihr gewählt habt. Und wenn es euch recht ist, nehme ich ihn mit mir, wenn ich wieder fortgehe. Und wenn er sich bewährt, werde ich ihn als meinen Lehrling behalten und werde dafür sorgen, daß er richtig ausgebildet wird, wie es seinen Gaben entspricht. Denn es ist gefährlich, den Geist eines zur Magie Geborenen im Dunkeln zu lassen.« Ogion sprach ruhig und freundlich, aber mit Überzeugung, so daß selbst der eigensinnige Schmied mit allem einverstanden war. An Dunys 13. Geburtstag, einem sonnigen Tag im frühen Herbst, als die Bäume noch im Schmuck ihrer bunten Blätter standen, kehrte Ogion von seinen Wanderungen über den Berg Gont ins Dorf zurück. Das Zeremoniell von Dunys Aufnahme fand an diesem Tage statt. Das Zauberweib nahm ihm seinen Namen Duny, den er von seiner Mutter erhalten hatte. Namenlos und nackt schritt er in die kalten Quellen der Ar, dort, wo sie zwischen den Felsen, unter der hohen Felswand, hochsteigen. Als er ins Wasser stieg, schwammen Wolken über das Antlitz der Sonne, und riesige Schatten glitten und schwebten über das Flußbecken und hüllten ihn ein. Er durchquerte das Wasser bis ans entfernte Ufer, zitternd vor Kälte, aber langsamen Schrittes und aufrecht, wie es verlangt wurde, während um ihn das eisige, wildbewegte Wasser tobte. Auf der anderen Seite streckte ihm Ogion, der auf ihn gewartet hatte, die Hand entgegen und faßte ihn am Arm, während er ihm seinen wahren Namen zuflüsterte: Ged. Und so begab es sich, daß ihm sein Name von einem, der in den Künsten der Magie weise und bewandert war, zuteil wurde.
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Das Fest war noch lange nicht zu Ende für die Dorfbewohner, die sich gütlich taten am Essen, das in Hülle und Fülle vor ihnen stand, und am Bier, das reichlich floß, und dem Sänger zuhörten, der vom Tal heraufgekommen war und das Lied von den Taten der Drachenfürsten sang, als der Magier in seiner ruhigen Stimme zu Ged sprach: »Komm, laß uns gehen. Verabschiede dich und laß sie beim Fest verweilen!« Ged lief, um seine Sachen zu holen: das Bronzemesser, das ihm sein Vater geschmiedet hatte, ein Ledermantel, den ihm die Frau des Gerbermeisters gerichtet hatte, und einen Stock aus Erlenholz, dem die Tante magische Kräfte verliehen hatte. Das war sein ganzer Besitz, außer seinem Hemd und seiner Hose. Dann nahm er Abschied von allen Leuten, den einzigen, die er in der ganzen Welt kannte. Er blickte noch einmal aufs Dorf zurück, das sich oberhalb der Flußquellen hinzog und von der Felswand dahinter geschützt wurde. Dann folgte er seinem neuen Meister durch den steil ansteigenden Wald der Berginsel, durch die bunten Blätter und Schatten eines strahlenden Herbsttages.
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DIE SCHATTEN
GED HATTE GEHOFFT, daß er als Lehrling eines großen Magiers sofort in die Künste und Geheimnisse der Magie eingeweiht werden würde. Er hatte sich ausgemalt, wie er die Sprache der Tiere und der Blätter verstehen würde, wie er dem Wind mit Worten gebieten würde und wie er selbst nach Belieben eine andere Gestalt annehmen könnte; oder er und sein Begleiter würden als Hirsche durch den Wald jagen oder auf den Schwingen des Adlers nach Re Albi fliegen. Aber es kam ganz anders. Zunächst wanderten sie hinunter ins Tal. Dann schlugen sie eine südliche und später eine westliche Richtung ein, die um den Berg herumführte. Sie fanden zumeist Unterkunft in den kleinen Dörfern, die an ihrem Wege lagen, manchmal übernachteten sie aber auch im Freien wie arme wandernde Zaubergesellen oder wie Trödler und Hausierer. Keine magische Welt tat sich vor ihnen auf, nichts Außergewöhnliches ereignete sich. Der eichene Stab des Magiers, vor dem Ged zuerst etwas Angst gehabt hatte, war nichts weiter als ein kräftiger Wanderstab. Drei Tage waren vergangen, dann vier, und noch immer hatte Ogion kein Zauberwort in Geds Gegenwart gesprochen und ihm noch keine Rune, keinen Namen und keinen neuen Spruch beigebracht. Obgleich Ogion sehr schweigsam war, strahlte er solch eine Ruhe und Milde aus, daß Ged bald alle Scheu vor ihm überwand, und nach ein paar Tagen war er mutig genug, um zu fragen: »Wann wird meine Lehre beginnen, Meister?« »Sie begann bereits«, antwortete Ogion. Eine Stille trat ein, und man spürte, wie Ged mit sich kämpfte. Schließlich sagte er: »Aber ich habe doch noch nichts gelernt!«
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»Weil du noch nicht herausgefunden hast, was ich dich lehre«, erwiderte der Magier, und ging, ohne seine großen, gleichmäßigen Schritte zu verlangsamen, weiter auf ihrem Weg, der jetzt über die hohe Paßstraße zwischen Ovark und Wiss führte. Seine Haut war kupferbraun wie die der meisten Männer in Gont; sein Haar war grau und sein Körper hager und sehnig; er redete selten, aß wenig und schlief noch weniger; seine Augen waren scharf, sein Gehör ausgezeichnet, und oft lag auf seinem Gesicht ein lauschender Zug. Ged gab keine Antwort. Es ist nicht immer leicht, einem Magier zu antworten. »Du willst zaubern können«, sagte Ogion nach einer Weile, als sie nebeneinander hergingen. »Du hast aber schon zuviel Wasser aus diesem Brunnen geschöpft. Warte jetzt. Ein Mann zu sein, bedeutet Geduld zu haben. Meisterschaft besteht zu neun Teilen aus Geduld. Wie heißt dieses Kraut dort drüben?« »Strohblume.« »Und dieses hier?« »Ich weiß nicht.« »Das ist vierblättriger Klee.« Ogion berührte das Unkraut mit der Spitze seines kupferbeschlagenen Stabes. Ged sah sich die Pflanze genau an und zupfte eine Fruchthülse ab. Da Ogion nichts weiter sagte, fragte er ihn: »Wozu ist es gut, Meister?« »Ich habe keine Ahnung.« Ged behielt die Fruchthülse eine Weile in der Hand, dann warf er sie weg. »Wenn du Klee in jeder Jahreszeit, entweder an der Wurzel, am Blatt oder an der Blüte, ja selbst am Samen oder am Geruch erkennen kannst, dann wirst du seinen wahren Namen erfahren, und dann erst wirst du sein Wesen erkennen können — und das ist viel mehr, als nur zu wissen, wozu es gut ist. Denn, letzten Endes, wozu bist du gut? Oder ich? Ist der Berg Gont zu etwas gut? Oder das Meer?« Ogion marschierte weiter, eine halbe Meile waren sie schon gegangen, als er hinzufügte: »Wer hören will, muß schweigen können.«
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Der Junge runzelte die Stirn. Es paßte ihm nicht, wie ein Einfaltspinsel behandelt zu werden, aber er schluckte seinen Ärger und seine Ungeduld hinunter und versuchte zu gehorchen, darauf hoffend, daß Ogion sich schließlich doch herablassen werde und ihn etwas lehre, denn er fühlte einen Hunger nach Wissen und Macht in sich. Es schien ihm jedoch, als sie so dahinschritten, daß ihm jedes Kräuterweib und jeder Dorfzauberer auf dieser Wanderung mehr hätte beibringen können. Als sie den Berg umgangen und den einsamen Wald oberhalb Wiss erreicht hatten, fragte er sich immer häufiger, worin eigentlich Ogions große Kunst und sein Ruhm begründet seien. Regnete es nämlich, so sprach Ogion keine der Zauberformeln, die jedem Wettermacher geläufig waren, um den Regen abzuwenden. In Gont und in der Inselgruppe der Enladen, wo es haufenweise Zauberer gibt, kann es vorkommen, daß eine dicke, dunkle Regenwolke hin und her torkelt, von einer Gegend in die andere, von diesem oder jenem Wettermacher herumgeschubst, bis sie schließlich hinausgestoßen wird über die See, wo sie sich in Ruhe entleeren kann. Ogion ließ den Regen kommen, wann er wollte. Er suchte dann eine dichtgewachsene Tanne und legte sich darunter, während Ged unter den tropfenden Büschen herumkroch, naß und mißmutig, und sich fragte, wozu nun eigentlich Zauberkraft gut sei, wenn man sie nicht gebrauche, und er wünschte, er wäre als Lehrling zu dem alten Wettermacher gegangen, dort hätte er zumindest im Trockenen schlafen können. Er sprach nicht aus, was er dachte. Er redete überhaupt nicht. Sein Meister aber lächelte und schlief ein an seinem trockenen Plätzchen auf Tannennadeln vom letzten Jahr, und der Regen rauschte. Als die Zeit näherrückte, in der die Tage immer kürzer wurden, und die ersten Schneefälle die Höhe von Gont bedeckten, erreichten sie Re Albi, Ogions Heimatstadt. Sie liegt hoch oben in den Felsen von Oberfell, und ihr Name bedeutet Falkenhorst. Von hier kann man hinunterblikken auf das tiefe Hafenbecken und die Türme von Gont und die Schiffe beobachten, die durch das große Tor zwischen den Festungsklippen in die Bucht gleiten und sie wieder verlassen, und ganz weit im Westen, am
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Horizont, kann man gerade noch die blauen Berge von Oranea, der östlichsten der inneren Inseln, wahrnehmen. Das Haus des Magiers glich den Häusern in Zehnellern, obwohl es groß und gut gebaut war und einen Herd mit Kamin statt einer einfachen Feuerstelle hatte. Es bestand aus einem großen Raum, mit einem angebauten Ziegenstall; an der westlichen Seite befand sich eine kleine Kammer, in der Ged schlief. Über seiner Strohmatratze war ein Fenster, durch das man weit übers Meer blicken konnte, aber meist mußten die Läden gegen die heftigen Winterstürme geschlossen bleiben, die vom Westen und Norden her bliesen. In der dunklen Wärme dieses Hauses verbrachte Ged den Winter. Während es draußen regnete und stürmte oder der Schnee in lautlosen Flocken niederfiel, lernte er die sechshundert hardischen Runen schreiben und lesen. Er war mit Leib und Seele bei der Sache, denn ohne dieses Wissen, nur durch Auswendiglernen von Sprüchen und Formeln, wurde noch keiner ein wahrer Meister. Hardisch, eine Sprache, die sowenig Zauberkraft besitzt wie jede andere, geht auf die Ursprache zurück, die alle Dinge bei ihrem wahren Namen nennt. Um diese Ursprache zu verstehen, müssen die Runen gelernt werden, die niedergeschrieben wurden, als die ersten Inseln dieser Welt in der Weite des Meeres erschienen. Noch immer geschahen keine Wunder, noch wurde Zauberei geübt. Den ganzen Winter über saß Ged beim Studium, Seite um Seite im schweren Runenbuch wendend, während draußen Regen und Schnee vom Himmel fielen und Ogion von einem Gang durch den vereisten Wald oder von den Ziegen, die er versorgte, zurückkehrte. Wenn er den Schnee von seinen Stiefeln abgeklopft hatte, setzte er sich ans Feuer und schwieg. Und das lange, fast hörbare Schweigen des Magiers füllte den Raum und Geds Gedanken, bis es ihm manchmal vorkam, als hätte er vergessen, wie Worte klingen; und wenn Ogion schließlich sprach, schien es Ged, als hätte er in diesem Augenblick gerade das Sprechen erfunden, obwohl die Worte, die er sagte, sich auf nichts Außergewöhnliches bezogen, sondern von alltäglichen Dingen, vom Brot und Wasser, vom Wetter und vom Schlafen handelten.
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Der Frühling kam strahlend und hell, und Ogion schickte Ged oft hinaus auf die Wiesen oberhalb von Re Albi zum Kräutersammeln. Er hieß ihn draußen bleiben, so lange es ihm gefiele, den ganzen Tag gab er ihm frei, und Ged lief hinaus, durch die vom Regen und Schmelzwasser geschwollenen Bäche, durch Wälder und über nasse, grünende, von der Sonne beschienene Felder. Ged freute sich jedesmal riesig, hinauszukommen, und er blieb immer bis spät abends, aber die Krauter vergaß er nie ganz, und während des Kletterns und Umherschweifens, während des Auskundschaften und des Watens in den Bächen hielt er nach ihnen Ausschau und brachte immer einige nach Hause. Eines Tages fand er auf einer sumpfigen Wiese zwischen zwei Bächen viele der weißblühenden Kelchblumen, deren Blüten von Heilkundigen sehr geschätzt werden, und er beschloß, am nächsten Tag zurückzukehren. Aber jemand war ihm zuvorgekommen, ein Mädchen, das er vom Sehen her kannte, die Tochter des alten Fürsten von Re Albi. Er hatte sie noch nie angesprochen, aber nun kam sie auf ihn zu und begrüßte ihn freundlich. »Ich kenne dich. Du bist der Sperber, der Lehrling unseres Zauberers. Ich wollte, du könntest mir ein bißchen von der Zauberkunst erzählen.« Er hielt seine Augen gesenkt und schaute auf die weißen Blumen, die ihren weißen Rock berührten, und antwortete kaum, denn er war schüchtern und befangen. Aber sie hörte nicht auf zu schwätzen, und ihre offene, sorglose und eigenwillige Art des Redens half ihm, seine Scheu zu überwinden. Sie war groß, fast so groß wie er, und hatte eine gelbliche, nahezu weiße Haut; man sagte, daß ihre Mutter von Osskil oder aus einem anderen fremden Land gekommen sei. Das Haar des Mädchens war lang und glatt und fiel wie eine Kaskade schwarzen Wassers über ihre Schultern. Ged fand sie ziemlich häßlich, aber es drängte ihn doch, ihr ein Vergnügen zu machen und ihre Bewunderung zu erlangen, ein Gefühl, das immer stärker in ihm wurde, je länger sie redete. Sie brachte ihn dazu, ihr die ganze Geschichte mit dem Nebel und den Kargs zu erzählen, und sie hörte ihm zu, als ob sie ihn bewundere, und sie tat, als sei sie beeindruckt, aber sie lobte ihn mit keinem Wort. Und bald
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ließ sie auch das Thema fallen und schlug ein anderes an. »Kannst du Vögel und Tiere zu dir rufen?« fragte sie. »Ja, das kann ich«, sagte Ged. Er wußte, daß in den hohen Felsen über der Wiese ein Falkennest war, und er rief den Namen des Vogels, dem der Falke folgen muß. Er kam, aber er setzte sich nicht auf Geds Handgelenk, wahrscheinlich störte ihn die Gegenwart des Mädchens. Schreie ausstoßend, schlug er die Luft mit seinen mächtigen, ausgebreiteten Schwingen und erhob sich wieder in den Wind. »Wie heißt die Zauberformel, die macht, daß ein Falke zu dir kommt?« »Es ist eine Formel des Gebietens.« »Kannst du auch machen, daß die Toten zu dir kommen?« Er dachte, daß sie ihn mit dieser Frage zum Narren hielt, vielleicht weil der Falke ihm nicht ganz gehorcht hatte. Er konnte es nicht ertragen, verspottet zu werden. »Vielleicht könnte ich es, wenn ich wollte«, sagte er mit ganz ruhiger Stimme. »Ist das nicht arg schwierig, arg gefährlich, einen Geist heraufzurufen?« »Schwierig, bestimmt. Gefährlich?« Er zuckte die Achseln. In diesem Augenblick war er fast sicher, Bewunderung in ihrem Blick zu lesen. »Kannst du auch Liebestränke machen?« »Das ist keine Kunst.« »Stimmt«, sagte sie, »jede Dorfhexe kann das. Kannst du auch eine andere Gestalt annehmen, so wie man sagt, daß dies richtige Zauberer tun können?« Er hatte wiederum das Gefühl, daß sie ihn verspottete, und er wiederholte: »Vielleicht könnte ich, wenn ich wollte.« Jetzt begann sie, ihn zu plagen, sich doch in irgend etwas, was ihm gefiele, zu verwandeln, vielleicht in einen Falken oder in einen Stier oder in Feuer oder in einen Baum. Er versuchte, sie mit den kurzen, geheimnisvollen Worten, die sein Meister manchmal gebrauchte, hinzuhalten, aber sie hörte nicht auf, ihm zuzusetzen, und er wußte nicht, wie er sie loswerden konnte. Außerdem war er selbst nicht sicher, ob er seinen
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großen Reden glauben solle oder nicht. Er gab vor, daß sein Meister ihn zu Hause erwarte, und verließ sie, und am nächsten Tag vermied er die Wiese. Aber am übernächsten Tag, nachdem er sich eingeredet hatte, daß er mehr von den Blüten pflücken wolle, solange sie blühten, fand er sich wieder auf der Wiese. Das Mädchen war schon da. Barfuß wateten sie im sumpfigen Gras, und gemeinsam zupften sie die Blüten der Kelchblume ab. Die Frühlingssonne schien, und das Mädchen plapperte lustig drauflos, genau wie die Mädchen von seinem Dorf, mit denen er Ziegen gehütet hatte. Wieder fragte sie ihn alles mögliche über die Zauberei aus und machte große Augen zu allem, was er vorbrachte, so daß er schließlich wiederum anfing, anzugeben... Dann wiederholte sie ihre Bitte, daß er sich in etwas verwandeln solle, und als er versuchte, sie hinzuhalten, blickte sie ihn herausfordernd an und strich ihre schwarzen Haare aus dem Gesicht: »Hast du etwa Angst davor?« »Nein, ich habe keine Angst davor.« Sie lächelte etwas herablassend und meinte: »Vielleicht bist du zu jung.« Das war zuviel. Er redete nicht mehr viel, aber er faßte den Entschluß, sich vor ihr zu beweisen. Er sagte ihr, sie solle am nächsten Tag wieder zur Wiese kommen, wenn sie Lust dazu hätte, und verabschiedete sich von ihr. Er kehrte nach Hause zurück, als sein Meister noch fort war. Er ging stracks auf das Bücherbrett zu und nahm die beiden Bände der Magierkunde herunter, die Ogion noch nie in seiner Gegenwart geöffnet hatte. Er suchte nach einer Formel der Selbstverwandlung, aber weil er noch sehr langsam im Runenlesen war und überhaupt nur wenig von dem verstand, was er las, so fand er nicht, was er suchte. Diese Bücher waren uralt, Ogion hatte sie von seinem eigenen Meister Heleth Weitblick bekommen, und der wiederum hatte sie von seinem Meister, dem Magier von Perregal, und so weiter und so weiter bis zurück in mythologische Zeiten. Die Schrift war klein und seltsam, es war darüber- und dazwischengeschrieben, und man konnte sehen, daß es das Werk vieler Hände war, Hände, die schon lange zu Staub und Asche zerfallen waren.
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Ab und zu verstand er etwas von dem, was er las, aber es war hauptsächlich der Spott und die Fragen des Mädchens, die ihn weitersuchen und schließlich stutzen ließen, als von einer Beschwörungsformel der Toten die Rede war. Während er las, langsam, denn er mußte an jeder Rune und an jedem Zeichen herumraten, fühlte er ein Grauen in sich aufsteigen. Seine Augen wurden starr, und er konnte den Blick nicht von der Seite heben, bis er mit der ganzen Beschwörungsformel fertig war. Als er endlich den Kopf hob, bemerkte er, wie dunkel es im Hause war. Er hatte ohne Licht in der Dunkelheit gelesen. Jetzt konnte er die Runen, die vor ihm aufgeschlagen waren, nicht mehr entziffern. Doch das Grauen, das er in sich fühlte, wuchs und hielt ihn an seinen Stuhl gefesselt. Er fröstelte. Als er einen Blick über die Schulter warf, sah er dort, neben der Tür, einen formlosen, schattenhaften Klumpen, schwärzer als die tiefste Dunkelheit, hocken. Es schien, als strecke sich dieses namenlose Etwas nach ihm aus, es schien zu flüstern, ihm leise zuzurufen, aber er konnte die Worte nicht verstehen. Die Tür flog auf. Ein Mann, umflammt von weißem Licht, betrat den Raum, eine hohe, helle Gestalt, die plötzlich laut und drohend sprach. Das dunkle Etwas verschwand, das Flüstern hörte auf, der Bann war gebrochen. Das Grauen wurde zwar schwächer in Ged, doch eine tödliche Angst blieb zurück, denn dort unter der Tür stand Ogion der Magier, umstrahlt von hellem Licht, den eichenen Stab in der Hand haltend, der weiß leuchtete. Ohne ein Wort zu sagen, ging Ogion an Ged vorbei, zündete die Lampe an und legte die Bücher zurück auf das Bord. Dann wandte er sich zu dem Jungen und sagte: »Nie wirst du diese Formel benutzen können, ohne Furcht um deine Macht und um dein Leben zu haben. Hast du um dieser Formel willen die Bücher geöffnet?« »Nein, Meister«, murmelte er und schämte sich, während er Ogion alles erzählte, was sich zugetragen hatte, was er suchte und warum er es tat.
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»Hast du vergessen, daß die Mutter des Mädchens, die Frau des Fürsten, eine Zauberin ist?« Ged erinnerte sich wieder. Ogion hatte einmal davon gesprochen, aber Ged hatte nicht viel acht darauf gegeben, obwohl er in der Zwischenzeit gelernt hatte, daß alles, was ihm Ogion sagte, von Bedeutung war. »Das Mädchen selbst ist fast schon eine halbe Zauberin. Es kann gut sein, daß die Mutter das Mädchen hergeschickt hatte, damit sie mit dir rede. Vielleicht war sie es, die das Buch auf der Seite aufschlug, auf der du gelesen hast. Den Mächten, denen sie dient, diene ich nicht. Ihre Absicht ist mir unbekannt, aber das weiß ich: mir wünscht sie nichts Gutes. Hör mir gut zu, Ged! Hast du noch nie daran gedacht, daß Macht die Gefahr an sich lockt wie Licht den Schatten? Zauberei ist kein Spiel, das wir zum Vergnügen oder um des Ruhmes willen treiben. Und auch daran denke: Jedes Wort, das wir aussprechen, und jede Handlung, die wir als Zauberer vollbringen, wird entweder um des Guten oder um des Bösen willen getan. Daher mußt du, bevor du sprichst oder handelst, wissen, welchen Preis du dafür zahlen mußt.« Die Reue quälte Ged, und er rief aus: »Aber wie soll ich denn das alles wissen, wenn Ihr mir nichts sagt? Seit ich hier bei Euch wohne, habe ich nichts getan, nichts gesehen...« »Vorhin hast du etwas gesehen«, sagte der Magier. »Dort neben der Tür, in der Dunkelheit, als ich hereinkam.« Ged sagte nichts mehr. Ogion kniete am Herd nieder und richtete das Feuer, bevor er es anzündete, denn das Haus war kalt. Während er noch beim Feuer kniete, sagte er in seiner ruhigen Stimme: »Ged, mein junger Falke, du bist nicht an mich oder an meinen Dienst gebunden. Du kamst nicht zu mir, sondern ich zu dir. Du bist noch sehr jung für diese Entscheidung, aber ich kann sie nicht für dich treffen. Wenn du willst, schicke ich dich auf die Insel Rok, wo die Hohen Künste gelehrt werden. Jede Kunst, die du lernen willst, wirst du meistern, denn deine Macht ist groß. Größer als dein Stolz, so hoffe ich. Gerne würde ich dich bei mir behalten, denn was
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ich habe, das fehlt dir, aber ich will dich nicht gegen deinen Willen hier behalten. So wähle denn zwischen Re Albi und Rok.« Ged fand keine Worte, sein Herz war in Aufruhr. Er fühlte eine tiefe Zuneigung für Ogion, der zu ihm gekommen war und ihn durch seine Berührung geheilt hatte und dem Zorn fremd war. Er liebte ihn, und erst jetzt wußte er es. Er schaute den eichenen Stab an, der in der Ecke beim Kamin lehnte, und sah wieder das Leuchten, das alles Böse aus der Dunkelheit vertrieben hatte, und er fühlte ein Verlangen in sich, mit Ogion durch den Wald zu streifen, weit und lang, und von ihm Ruhe und Stille zu lernen. Doch er fühlte auch, daß in ihm andere Begierden wach waren, die er nicht unterdrücken konnte, ein Streben nach Ruhm, ein Drang nach Taten. Ogions Weg würde ihn nicht direkt zum Wissen und zur Meisterschaft führen, gemächlich, auf Umwegen, würde er sein Ziel erreichen, während ihm hier die Gelegenheit geboten wurde, mit vollen Segeln in die innerste See zu gelangen und die Insel der Weisen zu erreichen, dort, wo die Zauberkräfte in der Luft lagen und der Erzmagier weilte, der alle Künste der Magie meisterte. »Meister«, sagte er, »ich möchte nach Rok gehen.« Und so kam es, daß einige Tage später, an einem sonnigen Frühlingsmorgen, Ged an der Seite Ogions den steilen Pfad von Oberfell zum Hafen nach Gont hinunter stieg. Nach fünfzehn Meilen erreichten sie das Stadttor mit den geschnitzten Drachen, wo die Posten, als sie den Magier erkannten, mit gezogenen Schwertern niederknieten und ihn willkommen hießen. Sie erwiesen ihm diese vom Fürsten angeordnete Ehre, taten es aber auch aus eigenem freien Willen, denn vor zehn Jahren hatte Ogion die Stadt vor einem Erdbeben bewahrt, das die Türme der Reichen bis auf den Boden zerstört und den Kanal zwischen den Festungsklippen mit einem Erdrutsch zugeschüttet hätte. Er sprach zum Berg und beschwichtigte die schwankenden Felsüberhänge, wie man ein scheuendes Tier beruhigt. Ged hatte davon erzählen hören, und als er die Posten vor seinem schweigsamen Meister knien sah, erinnerte er sich wieder daran. Fast ängstlich blickte er auf Ogion, der die Macht besaß, ein Erdbeben zu bändigen, aber seine Züge waren, wie immer, unverändert ruhig.
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Sie schritten hinab zu den Piers, wo der Hafenmeister eilends auf sie zugelaufen kam, um Ogion zu begrüßen und nach seinen Wünschen zu fragen. Ogion nannte ihm sein Begehr, und der Hafenmeister wußte von einem Schiff, das abfahrbereit im Hafen lag und in die Innensee segeln wollte, auf dem Ged als Passagier mitfahren konnte. »Oder sie nehmen ihn als einen Windbringer an Bord, wenn er was davon versteht«, sagte er, »denn sie haben keinen Wettermacher an Bord.« »Er hat etwas Erfahrung mit Nebel, aber nicht mit Meereswinden«, sagte der Magier und legte seine Hand leicht auf Geds Schulter. »Versuch nicht, mit dem Meer und den Winden des Meeres dein Spiel zu treiben, Sperber. Du bist noch immer eine Landratte. Hafenmeister, wie heißt das Schiff?« »Schatten, und es kommt von den Andraden und segelt nach Hort mit Fellen und Elfenbein. Es ist ein gutes Schiff, Meister Ogion.« Das Gesicht des Magiers hatte sich beim Namen des Schiffes verdüstert, aber er sagte: »So sei es denn. Gib diesen Brief dem Hüter der Schule von Rok, Sperber. Mögen günstige Winde dich begleiten. Lebewohl!« Das war der ganze Abschied. Er wandte sich zum Gehen und ging mit seinen langen Schritten die vom Kai führende Straße hinauf. Ged stand verloren da und sah ihn entschwinden. »Komm mit mir, Junge«, sagte der Hafenmeister und führte ihn zur Anlegestelle, wo die Schatten lag und die letzten Vorbereitungen zum Auslaufen getroffen wurden. Es mag manchen wundern, daß es auf einer fünfzig Meilen breiten Insel, in einem hoch in den Felsen liegenden, tagaus tagein unverändert aufs Meer blickenden Dorf vorkommen kann, daß ein Mensch heranwächst und alt wird, ohne je in ein Boot gestiegen zu sein oder je seine Hand ins Salzwasser getaucht zu haben, aber das war nichts Ungewöhnliches. Ob Bauer, Ziegen- oder Kuhhirt, Jäger oder Handwerker, für die Landratte ist das Meer ein salziges, unbeständiges Element, das ihm fremd ist. Und das Dorf, das zwei Tagesreisen entfernt liegt, ist für den Dorfbewohner Ausland, und die Insel, zu der man in einem Tag segeln kann, nichts
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weiter als ein Gerücht, ein verschwommener Hügel am Horizont, aber keinesfalls fester Grund wie der, auf dem man steht. So ungefähr hatte es sich auch mit Ged verhalten, der noch nie von den Höhen des Berges heruntergekommen war und für den der Hafen von Gont ein gar wundersames, erstaunliches Ereignis war: Die großen Häuser und Türme aus gefügtem Stein, das Ufer mit den Anlege- und Verladerampen, den verschiedenen Becken und Molen des Hafens, in dem über fünfzig Schiffe und Galeeren am Pier schaukelten oder am Ufer kieloben zur Reparatur bereit lagen oder mit eingerollten Segeln und geschlossenen Luken weit draußen vor Anker lagen, wo Matrosen sich in allen möglichen Dialekten zuriefen und schwerbeladene Hafenarbeiter zwischen Fässern und Kisten, zwischen aufgerollten Seilen und gebündelten Rudern hin- und herrannten, während bärtige Kaufleute in pelzgefütterten Umhängen gelassen miteinander verhandelten und vorsichtig über die glitschigen Steine am Ufer schritten, wo Küfer klopften und Zimmerleute hämmerten, Muschelverkäufer singend ihre Ware anpriesen, Bootsmänner Befehle brüllten und im Hintergrund das ruhige Wasser der Bucht schimmerte. Geds Augen und Ohren, alle seine Sinne schwirrten, während er dem Hafenmeister folgte, der einem breiten Landesteg zustrebte, an dem das Schiff Schatten vertäut lag, und wo er den Kapitän fand, dem er Geds Anliegen vorbrachte. Wenige Worte nur wurden gewechselt, und der Kapitän erklärte sich bereit, Ged als Passagier nach Rok an Bord zu nehmen, denn einem Magier schlägt man keine Bitte ab. Der Hafenmeister verließ ihn. Der Schiffer war ein großer, beleibter Mann mit einem roten Umhang, der mit Pellawipelz verbrämt war, wie ihn die Kaufleute von Andrad tragen. Er schaute Ged überhaupt nicht an, fragte ihn aber in seiner dröhnenden Stimme: »Kannst du mit dem Wetter arbeiten, Junge?« »Ja, ich kann.« »Kannst du Wind beibringen?« Er mußte zugeben, daß er das nicht konnte, und der Schiffer verlor das Interesse an ihm. Er hieß ihn einen Platz suchen, wo er niemandem im Wege war, und dort zu bleiben.
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Die Ruderer kamen jetzt an Bord, denn das Schiff sollte noch in der gleichen Nacht hinaus auf die Reede gerudert werden und in den ersten Morgenstunden mit der Ebbe hinaussegeln. Auf dem Schiff gab es keinen Platz, wo er nicht im Wege war, und Ged kletterte daher auf das Frachtgut, das verpackt, verschnürt und mit Lederplanen bedeckt auf dem Achterdeck gestapelt lag. Während er dort mehr hing als saß, konnte er alles beobachten, was vor sich ging. Die Ruderer sprangen mit einem Satz ins Boot, kräftige Männer mit starken Armen; Hafenarbeiter rollten donnernd Wasserfässer über die Pier und verstauten sie unter den Bänken; das gut gebaute, aber schwerbeladene Schiff lag tief im Wasser, und doch tänzelte es ein wenig auf den kleinen Wellen, die unaufhörlich an die Bordwand schlugen, als sei es ungeduldig und dränge zur Abfahrt. Der Steuermann nahm seinen Platz rechts auf dem Achterdeck ein und schaute auf den Kapitän, der auf der geschnitzten Brücke stand, die aussah wie der alte Drache von Andrad und sich an der Stelle befand, wo sich Hauptmast und Kiel trafen. Der Kapitän rief seine Befehle mit mächtiger Stimme, die Schatten wurde losgebunden und von zwei mit kräftigen Ruderschlägen angetriebenen Booten von der Pier weg hinausgeschleppt. Dann konnte man den Kapitän brüllen hören: »Luken auf!«, und die Ruder schossen donnernd hinaus, an jeder Seite fünfzehn. Die Ruderer beugten ihre kräftigen Rücken nach vorne und zogen gleichmäßig an den Rudern, während ein Junge neben dem Kapitän den Takt auf einer Trommel schlug. Wie eine Möwe auf ihren Schwingen pfeilschnell durch die Luft gleitet, so flog die Schatten durchs Wasser, und im Nu war das laute Treiben der Stadt hinter ihnen verklungen. Sie fuhren hinaus in die Stille der Bucht, und über ihnen erhob sich der weiße Gipfel des Berges, als hinge er über dem Meer. In einem seichten Gewässer im Schütze der südlichen Festungsklippe warfen sie Anker und verbrachten die Nacht. Unter den siebzig Schiffsleuten gab es einige, die nicht älter als Ged waren, doch alle hatten schon ihre Namengebung hinter sich und waren in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen. Diese Burschen riefen ihn zu sich und teilten Speis und Trank mit ihm; sie waren freundlich, aber ungehobelt und immer zu Spott und Streichen aufgelegt. Natürlich nannten sie ihn sofort Geißenhirten, weil er
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von Gont kam, aber dabei blieb es. Er war so groß und kräftig wie die anderen Fünfzehnjährigen an Bord, und er war gewandt und schlagfertig, so daß er keinem eine Antwort schuldig blieb. Es dauerte nicht lange, und sie begannen ihn als einen der ihrigen zu betrachten. Schon in der ersten Nacht war er mit ihnen beisammen und lernte von ihnen. Das war dem Kapitän und den anderen Schiffsleuten ganz recht, denn für untätige Passagiere war sowieso kein Platz an Bord. Platz gab es nicht viel, auch nicht für die Mannschaft, und von Bequemlichkeit konnte in einem offenen Ruderboot, in dem Männer, ihre Habe und ihre Werkzeuge, Fracht und alles mögliche zusammengepfercht war, überhaupt nicht die Rede sein. Aber wozu brauchte Ged Bequemlichkeit? Die Nacht verbrachte er auf einem Stapel gerollter Felle, die von den nördlichen Inseln kamen, und betrachtete die Sterne am Frühlingshimmel und die winzigen gelben Lichter der Stadt, die hinter ihnen lag, und schlief ein und wachte wieder auf und war glückselig. Noch vor dem Morgengrauen begann die Flut anzulaufen, und sie lichteten Anker und ruderten, ohne viel Geräusch zu machen, zwischen den Festungsklippen hinaus ins offene Meer. Als die Morgensonne den Gipfel des Berges Gont rötlich erglühen ließ, setzten sie das Hauptsegel und segelten in südwestlicher Richtung über die See von Gont. Zwischen Barnisk und Torheven segelten sie begünstigt von einem leichten Wind, und am zweiten Tag sichteten sie die große Insel Havnor, das Herz und Heim des Inselreiches. Drei Tage lang konnten sie die grünen Hügel von Havnor sehen, während sie die Ostküste entlang kreuzten, aber nie gingen sie an Land. Viele Jahre später erst betrat Ged diese Insel und sah die weißen Türme des Großhafens von Havnor, die im Zentrum der Welt stehen. Sie verbrachten eine Nacht in Kembermünde, dem Nordhafen der Insel Weg, und die nächste Nacht in einer kleinen Stadt nahe an der Einfahrt zur Felkwegbucht. Am nächsten Tag passierten sie das O-Kap und kamen in die Meerenge von Ebavnor. Hier strichen sie die Segel und ruderten, Land lag zu beiden Seiten, und sie befanden sich immer in Rufweite von anderen Schiffen, großen und kleinen, Last- und Handels-
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schiffen; manche kehrten, schwerbeladen und exotische Fracht führend, von jahrelangen Fahrten in den äußeren Bereichen zurück, andere flatterten, Sperlingen gleich, von Insel zu Insel der Innensee. Bald verließen sie die befahrene Meeresstraße und wandten sich gen Süden. Havnor verschwand hinter ihnen, und sie segelten zwischen den lieblichen Inseln Ark und Ilien, deren Städte terrassenförmig, mit vielen Türmen, angelegt waren, dann aber mußten sie sich ihren Weg durch Regen und immer stärkeren Wind über die Innensee zur Insel Rok erkämpfen. In der Nacht steigerte sich der Wind zu einem Sturm, alle Segel mußten heruntergeholt und der Mast umgelegt werden. Am folgenden Tag mußten sie ununterbrochen rudern, vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein. Sicher und fest ritt das Schiff auf den Wellen, mutig durchschnitt es die anstürmenden Wogen, aber der Steuermann, das lange Ruder in der Hand haltend, sah nichts als Regen, der unaufhörlich aufs Wasser klatschte. Sie fuhren in südwestlicher Richtung, die Magnetnadel zeigte ihnen den Kurs, aber sie wußten nicht, in welchen Gewässern sie sich befanden. Ged hörte, wie die Männer von den Untiefen nördlich von Rok sprachen und von dem Borilousfelsen im Osten der Insel. Manche meinten, daß sie schon längst weit vom Kurs abgekommen seien und sich wahrscheinlich in den einsamen Gewässern südlich von Kamery befänden. Aber noch immer nahm der Wind zu. Schaumfetzen von den Spitzen der anstürmenden Wogen flogen in die Höhe, und die Wellen zwangen sie weiterhin, südwestlichen Kurs einzuhalten. Die Ruderer wurden jetzt schneller abgelöst, die Anstrengungen in diesem Wetter waren gewaltig; wo vorher einer der jüngeren Burschen genügte, da saßen jetzt zwei; Ged, der seit Gont seinen Platz ausgefüllt hatte, war genauso dran wie jeder andere. Wer nicht ruderte, schöpfte Wasser, denn die Wellen schlugen immer häufiger ins offene Boot. So mühten sie sich zwischen den schäumenden, vom Wind getriebenen Wellenbergen, während der Regen auf ihre Rücken prasselte und die Trommel im Donner des Sturmes wie ein Herzschlag dröhnte. Ein Mann kam und übernahm Geds Platz und schickte den Jungen zum Kapitän, der im Bug des Schiffes stand. Regenwasser strömte vom
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Saum seines Umhangs, aber wie ein Weinfaß, rund und fest, stand er auf seinem winzigen Deck. Auf Ged herabschauend, fragte er: »Kannst du diesen Wind stillen, Junge?« »Nein.« »Hast du Macht über Eisen?« Was er damit meinte, war Ged klar. Er wollte, daß die Nadel im Kompaß sich nach ihm, nicht nach dem Norden richte, und ihnen den Weg nach Rok zeige. Diese Kunst war ein Geheimnis der Seemeister, und wiederum mußte er verneinen. »Dann bleibt uns nichts übrig«, die mächtige Stimme des Schiffers übertönte Wind und Wellen, »und du mußt in Hort ein Schiff finden, das dich nach Rok zurückbringt. Rok muß westlich von uns liegen, und nur Zauberei kann uns dorthin, durch dieses Wetter, bringen. Wir sind gezwungen, uns südlich zu halten.« Das gefiel Ged ganz und gar nicht. Viel Übles hatte er von Matrosen über diese Stadt gehört: von der rohen Gewalt, die dort herrschte, von dem verbotenen Handel, der dort getrieben wurde, vom Menschenhandel und von den Sklaven, die in den Südbereichen verkauft wurden. Er kehrte zurück auf seinen Platz und zog wieder, so fest er konnte, am Ruder, zusammen mit seinem Genossen, einem kräftigen Burschen aus Andrad. Er hörte die Trommel den Takt schlagen und sah, wie die Laterne vom Wind hin- und hergerissen wurde, ein winziger Lichtfleck in der regennassen Dunkelheit. Sooft er zwischendurch konnte, schaute er nach Westen; und einmal, als sie hoch auf einem Wellenkamm ritten, sah er einen kurzen Augenblick lang ein Licht zwischen den Wolken, wie es die letzten Strahlen der untergehenden Sonne hervorbringen, aber dieses Licht war nicht rot, sondern weiß. Sein Rudergefährte hatte es nicht gesehen, aber Ged rief es den anderen zu. Der Steuermann paßte auf und schaute jedesmal, wenn sie auf eine Welle gehoben wurden, danach aus, und als Ged es wiedersah, sah auch er das Licht, aber er rief, daß es das Licht der untergehenden Sonne sei. Daraufhin rief Ged einen der wasserschöpfenden Burschen zu sich und bat ihn, eine kurze Weile seinen Platz zu übernehmen, während er sich zwischen den Ruderbänken durchschlängelte, an den ge-
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schnitzten Bug klammerte, denn die rollende See warf das Boot von einer Seite auf die andere, und zum Kapitän hinauf rief: »Das Licht dort drüben ist Rok!« »Ich habʹ kein Licht gesehen«, brüllte der Kapitän, aber noch während er sprach, deutete Ged nach Westen, und alle konnten jetzt deutlich ein helles Glimmen wahrnehmen, das sich über den stürmenden, tobenden Schaum des Meeres erhob. Nicht seinem Passagier zuliebe, sondern um sein Schiff der Gefahr des Sturmes zu entheben, rief der Kapitän seinem Steuermann zu, den Kurs zu ändern und auf das Licht zuzusteuern. Zu Ged aber sagte er: »Junge, du redest wie ein Seemeister; aber das kann ich dir sagen, wenn du uns in diesem Wetter irreführst, werfe ich dich über Bord, und du kannst nach Rok schwimmen!« Jetzt mußten sie gegen den Wind rudern, während sie vorher mit dem Wind liefen, und ihre Mühsal verdoppelte sich. Die gegen das Boot schlagenden Wellen versuchten, das Schiff vom Kurs ab nach Süden zu drängen, es rollte und schlingerte und füllte sich so schnell mit Wasser, daß das Schöpfen keinen Augenblick lang ausgesetzt werden konnte; die Ruderer mußten doppelt aufpassen, denn im rollenden Schiff bestand die Gefahr, daß die schweren Ruder während des Ziehens aus dem Wasser gehoben und die Ruderer unter den Bänken landen würden. Es war fast ganz dunkel unter den Wetterwolken, aber ab und zu konnten sie das Licht im Westen sehen, oft genug, um den Kurs nicht zu verlieren, und sie mühten sich weiter ab. Endlich ließ der Sturm etwas nach, und das Licht über ihnen wurde heller. Sie ruderten weiter, und, als hätten sie einen Vorhang durchbrochen, fanden sie sich plötzlich, von einem Ruderschlag zum andern, in einer ruhigen See und unter einem klaren Himmel, auf denen noch das späte Licht eines Sonnenuntergangs lag. Über dem hellen Wellenschaum sahen sie einen hohen, grünen runden Berg und an dessen Fuß eine Stadt, die eine kleine Bucht umschloß, in der Schiffe ankerten, ein Bild der Ruhe und des Friedens. Der Steuermann lehnte sich auf sein langes Ruder und wandte sich gegen den Kapitän: »Ist das nun richtiges Land oder Hexerei?«
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»Paß auf und halte deinen Kurs, du Schafskopf! Rudert, ihr kraftlosen Sklavensöhne! Das ist die Bucht von Thwil und der Kogel von Rok, jeder Narr kann das sehen! Rudert!« Dem Takt der Trommel gehorchend, ruderten sie erschöpft in die Bucht. Dort war es so ruhig, daß sie die Stimmen der Menschen oben in der Stadt und das Läuten einer Glocke vernehmen konnten, und nur ganz in der Ferne hörten sie das Zischen und Wüten des Sturmes. Dunkle Wolken erhoben sich nördlich, östlich und südlich eine Meile entfernt von der Insel, aber über Rok erschien ein Stern nach dem andern im klaren, stillen, ruhigen Himmel.
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DIE ZAUBERERSCHULE
GED VERBRACHTE DIE NACHT auf der Schatten und verabschiedete sich früh am nächsten Morgen von seinen Schiffsgefährten, die ihm muntere Worte nachriefen und alles Gute wünschten, während er die Verladerampen hinauflief. Die Stadt Thwil ist nicht groß, die wenigen Häuser sind hoch und schmal und drängen sich über engen, steil ansteigenden Gassen zusammen. Aber für Ged war es eine Stadt, und da er sich nicht auskannte, fragte er den ersten Einwohner, auf den er stieß, wo er den Hüter der Schule von Rok finden könne. Der Mann sah ihn eine Weile von der Seite her an und sagte dann: »Die Weisen brauchen nicht zu fragen, der Narr fragt vergeblich«, und ging seines Weges. Ged folgte der engen, ansteigenden Gasse, bis er an einen kleinen Platz kam, der an drei Seiten von Häusern mit steilen Schieferdächern eingefaßt und an der vierten Seite von der Mauer eines Gebäudes begrenzt war, dessen kleine Fenster höher lagen als die Schornsteine der Wohnhäuser. Die Mauer war aus mächtigen, grauen Steinblöcken gefügt und sah aus, als gehöre sie zu einer Burg oder einer Feste. Auf dem Platz war ein Markt im Gange, Leute liefen geschäftig hin und her. Ged brachte sein Anliegen bei einer alten, hinter einem Korb voll Miesmuscheln sitzenden Frau vor, und sie antwortete: »Manchmal findet man den Hüter, wo er ist, und manchmal findet man ihn, wo er nicht ist«, und sie fuhr fort, ihre Miesmuscheln laut anzupreisen. In einer Ecke des großen Gebäudes war eine unscheinbare Holztür. Ged ging dahin und klopfte laut an. Zu dem alten Mann, der die Tür öffnete, sagte er: »Ich habe einen Brief von Meister Ogion für den Hüter der Schule auf dieser Insel. Ich möchte gern zu ihm, aber ich habe es satt, verspottet zu werden und mir Rätsel anhören zu müssen.«
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»Dies ist die Schule«, sprach der alte Mann mit sanfter Stimme, »und ich bin der Pförtner. Tritt ein, wenn du kannst.« Ged ging auf die Tür zu. Es schien ihm, als sei er über die Schwelle getreten, aber in Wirklichkeit befand er sich noch auf dem Straßenpflaster, auf dem er vorher stand. Er versuchte es noch einmal, aber wiederum blieb er draußen stehen. Der Pförtner stand drinnen im Gang und sah ihn mit gütigen Augen an. Ged war eher ärgerlich als verdutzt, denn er fühlte sich wiederum genasführt. Mit Wort und Hand vollführte er die Beschwörungsformel des Öffnens, die ihn seine Tante vor so langer Zeit gelehrt hatte; sie hatte diese Formel immer als ihre Spitzenleistung betrachtet, und Ged führte sie gut aus. Aber letzten Endes war es doch nur der Trick eines einfachen Zauberweibes, und die Kraft, die diese Tür in ihrem Bann hielt, blieb davon unberührt. Als ihm auch das mißlang, blieb Ged eine lange Zeit auf dem Straßenpflaster stehen. Schließlich schaute er auf und blickte den alten Mann an, der wartend innen stand. »Ich kann nicht eintreten«, sagte er unwillig, »es sei denn, Sie helfen mir.« Der Pförtner antwortete: »Sag deinen Namen.« Wiederum blieb Ged eine lange Weile unbeweglich stehen, denn ein Mann nennt seinen Namen nur dann laut, wenn mehr als sein Leben auf dem Spiel steht. »Ich heiße Ged«, sagte er laut. Er schritt vorwärts, und nun konnte er durch die Tür gehen, aber noch während er die Schwelle überschritt, schien es ihm, als schlüpfe ein Schatten an seiner Ferse vorbei durch die Tür, obwohl er das Licht im Rücken hatte. Als er sich umdrehte, bemerkte er auch, daß der Türrahmen, den er gerade durchschritten hatte, keineswegs aus Holz war, wie er ursprünglich angenommen hatte, sondern aus einem einzigen Stück Elfenbein, denn er sah weder Fuge noch Ritze; später erfuhr er, daß er aus einem Zahn des großen Drachens geschnitzt war. Die Tür, die der alte Mann hinter ihm schloß, war aus poliertem Horn, das vom Tageslicht matt durchleuchtet war, und auf der Rückseite der Tür war der tausendblättrige Baum eingeschnitzt.
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»Sei willkommen in diesem Haus, mein Junge«, sagte der Pförtner und führte ihn, ohne weiter mit ihm zu reden, durch Räume und Gänge zu einem Innenhof, der weit innerhalb des Gebäudekomplexes lag. Kein Dach wölbte sich über den Hof, der teils mit Steinplatten, teils mit Rasen bedeckt war, und ein Springbrunnen plätscherte unter jungen Bäumen in der Sonne. Ged stand eine Weile allein hier und wartete. Er rührte sich nicht, aber er hörte sein Herz schlagen, denn es war ihm, als sei er von unsichtbaren Wesen und Mächten umgeben; er wußte, daß die Mauern hier nicht nur mit Stein, sondern mit einer Magie, weit stärker als Stein, gebaut waren; und über diesem Raum, dem innersten im Hause der Weisen, wölbte sich kein Dach, sondern der offene Himmel. Plötzlich gewahrte er einen weißgekleideten Mann, der ihn durch das fallende Wasser des Brunnens ansah. Als sich ihre Augen trafen, zwitscherte ein Vogel in den Zweigen des Baumes. In diesem Augenblick verstand Ged das Singen des Vogels und die Sprache des sich ins Becken ergießenden Wassers, er begriff die Form der Wolken und den Anfang und das Ende des Windes, der durch die Blätter rauschte; er selbst schien ein vom Sonnenlicht gesprochenes Wort zu sein. Der Augenblick ging vorbei, und alles um ihn war wieder wie zuvor, oder doch fast wie zuvor. Er näherte sich dem Erzmagier und kniete vor ihm nieder, während er ihm Ogions Brief übergab. Der Erzmagier Nemmerle, der Hüter von Rok, war alt. Man sagte, daß er der älteste noch lebende Mann seiner Zeit war. Seine Stimme war dünn und gebrechlich, sie klang wie Vogelgezwitscher, als er Ged mit gütigen Worten willkommen hieß. Sein Haar, sein Bart und sein Umhang waren weiß, alles Dunkle und Schwere hatten die langen Jahre seines Lebens gelichtet, und er glich Treibholz, das ein Jahrhundert lang von den Stürmen des Meeres herumgeworfen wurde und nun leicht und silberweiß war. »Meine Augen sind zu alt, ich kann nicht lesen, was mir der Meister schreibt«, sagte er mit seiner zittrigen Stimme. »Lies mir den Brief vor, mein Junge!«
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Ged entzifferte die paar Zeilen des Briefes, der in hardischen Runen geschrieben war, und las laut vor: »Ehrwürdiger Hüter Nemmerle! Ich schicke Ihnen einen, der unter den Zauberern von Gont der größte sein wird, wenn der Wind die Wahrheit spricht.« Unterschrieben war es nicht mit Ogions wahrem Namen, den Ged nicht kannte, sondern mit Ogions Rune, dem Zeichen des geschlossenen Mundes. »Derjenige, der das Erdbeben im Zaum hält, hat dich geschickt. Sei mir deshalb doppelt willkommen. Der junge Ogion stand meinem Herzen nahe, als er hierher kam von Gont. Jetzt erzähl mir von der See und wie deine Überfahrt verlaufen ist, mein Junge.« »Wir segelten mit günstigem Wind, gnädiger Herr, bis auf den gestrigen Sturm.« »Mit welchem Schiff bist du gekommen?« »Mit der Schatten, einem Handelsschiff von den Andraden.« »Und wer will, daß du hierher kommst?« »Ich will es selbst.« Der Erzmagier blickte auf Ged und schaute dann in die Ferne und begann in einer Sprache zu reden, die Ged nicht kannte. Er wisperte vor sich hin, wie es alten Menschen eigen ist, die ihre Gedanken über Jahre und Inseln schweifen lassen. Aber zwischen dem Gemurmel hörte Ged die Worte, die der Vogel gesungen und das fallende Wasser geflüstert hatten. Der Hüter von Rok schlug Ged in keinen Bann, und doch war die Macht in seiner Stimme so groß, daß sich Geds Sinne vorübergehend verwirrten und er sich allein in einer riesigen Wüste zwischen Schatten stehen sah. Gleichzeitig wußte er aber auch, daß er in dem sonnigen Hof stand, in dem der Brunnen lustig plätscherte. Ein großer schwarzer Vogel, ein Rabe von Osskil, schritt gravitätisch über die Steinplatten und den Rasen der Terrasse. Er steuerte auf Nemmerle zu und blieb neben dem Saum seines Gewandes stehen. Dort hockte er, bewegungslos, in seiner ganzen Schwärze, mit seinem schwertähnlichen Schnabel und seinen blanken Knopfaugen, mit denen er Ged von der Seite her musterte. Er pickte dreimal an den weißen Stab, auf den sich Nemmerle stützte, und der alte Zauberer hörte auf zu murmeln und lächelte. »Geh jetzt und spiel, mein Kind«, sagte er, als sei Ged
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noch ein kleiner Junge. Ged ließ sich wieder vor ihm auf seinem Knie nieder, und als er aufblickte, war der Erzmagier verschwunden. Nur der Rabe hockte noch da und starrte ihn mit vorgestrecktem Schnabel an, als wolle er noch einmal am Stab picken. Dann redete er in einer Sprache, die Ged für die Osskilsche hielt, und krächzte: »Terrenon-Ussbuk!« und stolzierte wieder fort, genau wie er gekommen war. Ged wandte sich zum Gehen, aber er war unschlüssig, welche Richtung er nun einzuschlagen hatte. Unter dem Torbogen traf er auf einen hochgewachsenen Jungen, der ihn sehr höflich begrüßte und sich leicht vor ihm verbeugte, während er sich vorstellte: »Ich bin Jasper, mein Vater ist Enwid, vom Hause der Eolg auf der Insel Havnor. Ich stehe Ihnen zu Diensten, um Ihnen die Räumlichkeiten des Großhauses zu zeigen und Ihre Fragen, so gut ich kann, zu beantworten. Wie ist Ihr Name?« Ged, ein Dorfjunge aus den Bergen, der noch nie unter den Söhnen reicher Edelleute und Kaufleute geweilt hatte, empfand Jaspers Benehmen, sein »Ich stehe Ihnen zu Diensten«, das formelle »Sie« und sein Verbeugen, als herablassend und lächerlich. Er antwortete brüsk: »Ich werde Sperber genannt.« Der andere wartete einen Augenblick lang; vielleicht auf eine höflichere Antwort, aber als nichts weiter kam, richtete er sich auf und wandte sich ein wenig zur Seite. Er war zwei oder drei Jahre älter als Ged, sehr groß, und bewegte sich mit einer gewissen steifen Grazie, fast wie ein Tänzer — in Geds Augen wenigstens. Er trug einen grauen Umhang mit zurückgeworfener Kapuze. Als erstes führte er Ged in die Gewandstube, wo jeder Schüler mit einem derartigen Umhang und allen sonst nötigen Kleidern ausgestattet wurde. Ged hängte sich den dunkelgrauen Umhang um die Schultern, und Jasper sagte: »Jetzt sind Sie einer von uns.« Jasper hatte die Angewohnheit, leicht zu lächeln, wenn er sprach. Ged vermutete versteckten Spott dahinter, und er antwortete barsch: »Machen Kleider den Magier?« »Nein«, sagte der ältere Junge, »aber ich habe gehört, daß Manieren die Kinderstube verraten. Wohin jetzt?«
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»Wohin Sie wollen. Ich kenne mich ja nicht aus.« Jasper führte ihn durch zahlreiche Gänge und zeigte ihm die Innenhöfe unter offenem Himmel und die überdachten Räume des Großhauses, den Raum der Regale, wo sich die Werke der Magie und Runenkunde befanden, den großen Festsaal, in dem sich die Schüler an Feiertagen versammelten, vor einem mächtigen offenen Kamin, und in den oberen Stockwerken, in den Türmen und unter den Dächern zeigte er ihm die Zellen, wo Schüler und Meister schliefen. Geds Zelle befand sich im Südturm und hatte ein Fenster, das über die steilen Dächer von Thwil aufs Meer blickte. Gleich den anderen Schlafzellen gab es darin außer der mit Stroh gefüllten Matratze keine Möbel. »Wir wohnen hier sehr einfach«, sagte Jasper, »aber ich nehme an, daß Ihnen das nichts ausmacht.« »Ich bin daran gewöhnt.« Dann aber, um diesem eingebildeten Gecken zu zeigen, daß auch er Schliff besaß, fügte Ged hinzu: »Ich nehme an, daß Sie nicht daran gewöhnt waren, als Sie hierherkamen.« Jasper schaute ihn an mit einem Blick, der ohne Worte auszudrükken schien: »Was weißt du schon, woran ich, der Sohn des Fürsten von Eolg, von der Insel Havnor, gewöhnt bin oder nicht?« Laut sagte er: »Wir gehen hier entlang.« Während sie noch oben waren, tönte der Gong, und sie gingen hinunter in den Speisesaal, um am Langtisch zusammen mit ungefähr hundert anderen Jungen und jungen Männern das Mittagsmahl einzunehmen. Jeder bediente sich selbst aus großen Schüsseln, die an der Durchreiche standen, und viele scherzten mit den Köchen, die dahinter sichtbar waren. Jeder saß am Langtisch, wo es ihm gefiel. Jasper wandte sich zu Ged: »Man sagt, daß es immer noch Platz gibt an diesem Tisch, gleichgültig wie viele zu Tisch kommen.« Es war gewiß genug Platz da, sowohl für die zahlreichen Gruppen von laut schwatzenden, herzhaft essenden Jungen, als auch für die älteren Schüler, die vereinzelt oder in Paaren beisammen saßen, ernsthaft dreinblickten und tief nachdenklich dreinschauten und deren graue Umhänge am Hals mit Silberbroschen geschlossen waren. Jasper führte Ged zu einem Platz neben einem kräftigen Jungen, der fest zulangte und unbeirrt weiteraß. Er sprach wie die Leute
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vom Ostbereich, und seine Haut war nicht rotbraun, wie die von Jasper und Ged und den meisten Leuten des Inselreiches, sondern schwarzbraun. Er hieß Vetsch und machte einen einfachen, ungekünstelten Eindruck, sein Benehmen jedenfalls war ungeziert. Als er fertig war, brummte er etwas über die Güte des Essens vor sich hin, wandte sich dann zu Ged und sagte: »Es ist wenigstens keine Illusion. Man setzt an dabei.« Ged wußte nicht, was er damit meinte, aber der Junge gefiel ihm, und er war froh, daß er auch nach der Mahlzeit bei ihnen blieb. Später gingen die beiden mit Ged den Berg hinunter und zeigten ihm die Stadt. Die Straßen von Thwil, die zwar kurz und nicht sehr zahlreich waren, wandten und drehten sich so kurios, daß man sich zwischen den schmalen, hohen Häusern leicht verirren konnte. Es war eine wunderliche Stadt mit wunderlichen Einwohnern. Zwar gab es Fischer, gelernte Handwerker und einfache Arbeiter wie in jeder anderen Stadt, aber auf der Insel der Weisen ist die Zauberei so alltäglich, daß die Leute von Thwil selbst halbe Zauberer sind. Sie antworten nie direkt, sondern reden in Rätseln (wie Ged selbst erfahren mußte); ohne mit der Wimper zu zucken schauen sie zu, wie ein Junge sich in einen Fisch verwandelt oder ein Haus sich in die Lüfte erhebt, denn sie wissen, daß es nur Lausbubenstreiche sind, und ohne sich stören zu lassen, fahren sie fort, Schuhe zu besohlen oder Hammelfleisch zu metzgern. Die Jungen, die von der Stadt wieder hinauf zur Schule gestiegen waren, gingen an einer Hintertür vorbei, durch die Gärten des Großhauses und überquerten eine Holzbrücke, die über den klaren Thwilbach führte. Der Weg führte nach Norden, durch Weiden und Wälder und wand sich steil bergauf. Sie gingen an Gruppen von Eichen vorbei, unter denen, trotz der nachmittäglichen Helle, dunkle Schatten lagerten. Links von ihnen, ziemlich nahe, war ein solcher Hain, den Ged nur ganz unbestimmt wahrnehmen konnte; der Weg schien dahinzuführen, erreichte ihn aber nie ganz. Vetsch sah, wie Ged darauf starrte, und sagte leise: »Das ist der Immanente Hain. Wir dürfen da noch nicht hin, noch nicht...« Gelbe Blumen blühten auf den sonnigen Halden. »Funkenkraut«, sagte Jasper. »Das wächst überall dort, wo der Wind die Asche des bren-
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nenden Ilion hingetragen hat, damals, als Erreth-Akbe die Innersten Inseln gegen den Feuerfürsten verteidigte.« Er pustete in eine der abgeblühten Dolden, und der Wind trug den befreiten Samen gleich vielen feurigen Funken gegen die Sonne. Der Weg führte weiter bergauf und wand sich um den Fuß eines großen grünen Hügels, der rund und baumlos in die Höhe ragte. Es war der Kogel, den Ged vom Schiff aus gesehen hatte, als sie in die verzauberten Gewässer von Rok kamen. An der Seite des Kogels blieb Jasper stehen. »Daheim in Havnor habe ich viel von der Zauberkunst auf Gont gehört, immer nur Gutes, und schon lange wollte ich selbst einmal sehen, welche Bewandtnis es damit hat. Jetzt haben wir ja einen von Gont hier, und wir stehen auf dem Rokkogel, dessen Wurzeln bis ins Erdinnere reichen. Hier wirken alle Künste besonders stark. Machen Sie uns einen Trick vor, zeigen Sie uns Ihre Kunst, Sperber!« Ged fühlte sich überrumpelt und verwirrt und sagte nichts. »Später, Jasper«, meinte Vetsch auf seine einfache, natürliche Art. »Laß ihn erst mal eine Weile hier sein.« »Entweder hat er Erfahrung, oder er besitzt Macht. Sonst hätte ihn der Türhüter nicht reingelassen. Warum kann er das nicht jetzt genauso gut zeigen wie später? Stimmtʹs, Sperber?« »Ich habe Erfahrung und Macht«, antwortete Ged. »Zeigen Sie mir, was Sie meinen.« »Oh, Illusionen, und natürlich Tricks, Erscheinungsspielereien, so wie das!« Jasper zeigte mit dem Finger auf den Hang und sprach ein paar seltsame Worte. Dort, wo er hindeutete, sah man plötzlich ein kleines Rinnsal zwischen dem grünen Gras, das sich allmählich vergrößerte, bis schließlich Quellwasser hervorbrach und den Hügel hinabfloß. Ged tauchte seine Hand ins Wasser, und sie fühlte sich naß an; er trank davon, und es war erfrischend kühl. Aber trotzdem stillte es nicht seinen Durst, denn es war nur Illusion. Mit einem Wort brachte Jasper das Wasser zum Versiegen, und die Grashalme bewegten sich trocken in der Sonne. »Jetzt kommst du dran, Vetsch«, sagte er mit einem kühlen Lächeln.
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Vetsch kratzte sich am Kopf und schaute etwas unglücklich drein. Schließlich scharrte er etwas Erde zusammen mit seiner Hand und sang ziemlich unmelodisch vor sich hin, während er der Erde mit seinen dunklen Fingern Form gab, sie zusammendrückte und streichelte. Plötzlich erhob sich ein kleines Etwas aus seiner Hand, einer Hummel oder einem behaarten Käfer ähnlich, und flog summend über den Rokkogel davon und verschwand. Ged stand verloren da und starrte vor sich hin. Was konnte er schon tun? Seine Zauberkünste waren anderer Art, Ziegen herbeilocken, Warzen verschwinden lassen, Lasten bewegen, Töpfe flicken — primitiver Dorfzauber war alles, was er konnte. »Solche Tricks mache ich nicht«, sagte er. Das genügte Vetsch, und er wollte aufbrechen, aber Jasper sagte: »Warum nicht?« »Zauberei ist kein Spiel. Wir in Gont zaubern nicht aus Vergnügen oder um unser Ansehen zu steigern«, antwortete Ged hochmütig. »Worum gehtʹs Ihnen denn dann?« fragte Jasper, »... Geld?« »Nein!« — Aber es fiel ihm nichts ein, was er hinzufügen könnte, ohne seine Unwissenheit zu zeigen und seinem Stolz weh zu tun. Jasper lachte ohne Bosheit und ging weiter und führte sie um den Rokkogel herum. Ged trottete hinterher, verstimmt und mit wundem Herzen, denn er wußte, daß er sich blöd benommen hatte, und er gab Jasper die Schuld daran. In der Nacht lag er, eingehüllt in seinen Umhang, in seiner kalten, unbeleuchteten, ganz aus Stein gebauten Zelle, in der völligen Stille des Großhauses von Rok, und der Gedanke an all die Zaubereien und Beschwörungen, die hier geübt und gewirkt wurden, bedrückte sein Herz. Dunkelheit umgab ihn, Furcht schlich sich in sein Herz. Er wünschte sich weit weg von Rok. Aber plötzlich stand Vetsch unter der Tür, auf seinem Kopf eine kleine, schwankende, bläulich schimmernde Werlichtkugel, die ihm den Weg wies. Er fragte, ob er ein bißchen hereinkommen und reden könne. Dann wollte er, daß ihm Ged von Gont erzähle, und er selbst sprach mit viel Liebe von seiner Heimatinsel im Ostbereich und beschrieb Ged, wie abends der Rauch von den vielen Herd-
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feuern über das ruhige Meer und zwischen den vielen Inseln wehte, die so wunderliche Namen haben wie Korp, Kopp und Holp, Venweg und Vemisch, Iffisch, Koppisch und Sneg. Mit dem Finger zeichnete er auf die Steinplatten und zeigte Ged, wie sie aussahen und wo sie lagen. Die Linien schimmerten eine Weile, als seien sie mit einem Silberstift gezogen, bevor sie wieder verblaßten. Vetsch war schon drei Jahre auf der Schule in Rok, und bald würde er Zauberer werden. Die kleineren Kunststücke waren so selbstverständlich für ihn wie für den Vogel das Fliegen. Aber er besaß eine Gabe, die ihn niemand gelehrt hatte, die größer war als seine Kunst: er hatte ein warmherziges Verständnis für andere. In dieser Nacht und in all den kommenden Tagen bot er Ged seine Freundschaft an, eine ehrliche, offene Freundschaft, die niemand zurückweisen konnte und die Ged gern erwiderte. Doch Vetsch war auch Jaspers Freund, der sich an diesem ersten Tag auf dem Rokkogel über Ged lustig gemacht hatte. Ged kam über diesen Vorfall nicht hinweg, und es schien ihm, daß sich auch Jasper daran erinnere. Wenn er die Rede an Ged richtete, so war seine Stimme zwar höflich, aber seine Lippen umspielte ein spöttisches Lächeln. Geds Stolz ertrug weder Herablassung noch Spott. Er schwor sich insgeheim, daß er eines Tages Jasper und all denen, die Jasper als ihr Vorbild betrachteten, beweisen werde, wie groß seine Macht war — eines Tages. Denn keiner von ihnen, trotz ihrer gescheiten Kunststücke, hatte ein Dorf durch Zauberei gerettet, und von keinem schrieb Ogion, daß er eines Tages der größte Zauberer von Gont werden würde. Solche und ähnliche Gedanken halfen Ged, seinen Stolz zu bewahren. Er setzte alles daran, die Aufgaben, die ihm gestellt wurden, gut zu meistern: den theoretischen und praktischen Unterricht, das Geschichtelernen, die verschiedenen Übungen, kurzum alles, was von den graubetuchten Meistern, genannt die Neun, gelehrt wurde. Jeden Tag verbrachte er eine bestimmte Zeit mit dem Meister der Lieder. Von ihm lernte er die Helden-, Spruch- und Lehrdichtung, und er begann mit dem ältesten aller Lieder, der Erschaffung von Éa. Mit einem Dutzend anderer Jungen zusammen übte er bei Meister Windschlüssel die Kunst des Wind- und Wettermachens. Im Frühling und Frühsom-
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mer verbrachten sie bei schönem Wetter oft ganze Tage draußen in der Bucht in leichten Kuttern und versuchten, mit Worten zu steuern, die Wellen zu stillen, Wolken zu lenken und aufzulösen, mit dem Wind der Welt umzugehen und einen Zauberwind aufzubringen. Diese Künste waren ziemlich kompliziert, und mehr als einmal bekam Ged die Großrah an den Kopf, wenn das Boot im plötzlich umspringenden Wind herumschlug, oder zwei Boote stießen zusammen, obwohl sie die ganze Bucht für sich hatten; es kam auch vor, daß die drei Jungen in einem Boot ein unerwartetes Bad nahmen, wenn eine unbeabsichtigte Riesenwelle über ihnen zusammenschlug. Die Ausflüge über Land mit dem Meister der Kräuterkunde verliefen ruhiger; von ihm lernten sie die Eigenschaften und Eigenheiten aller wachsenden Dinge. Meister Hand lehrte sie Kunststücke und Gaukeleien und die einfacheren Arten der Verwandlung. Ged war sehr gelehrig, und innerhalb eines Monats übertraf er manche Burschen, die schon ein Jahr lang auf Rok waren. Die Illusionstricks fielen ihm besonders leicht, manchmal schien es, als sei er mit diesem Wissen geboren und müßte nur wieder daran erinnert werden. Meister Hand war ein sanfter, heiterer alter Herr, dem seine spielerische Kunst endlose Freude bereitete, und Ged verlor bald alle Scheu vor ihm. Er fragte ihn nach dieser oder jener Formel, und der Meister lächelte und zeigte ihm jedesmal, was er wissen wollte. Eines Tages jedoch, als sie sich im Hof der Illusionen befanden, sagte Ged, getrieben von dem heimlichen Wunsch, Jasper endlich auszustechen: »Sehen Sie, alle diese Kunststücke sind sich ähnlich. Wenn man eines kann, dann kann man die anderen auch. Aber sobald man mit dem Kunststück aufhört, verschwindet die Illusion. Wenn ich jetzt aus diesem Steinchen einen Brillanten mache« — was er bewerkstelligte mit einem Wort und einer kurzen Bewegung seines Handgelenkes —, »was muß ich tun, damit dieser Brillant ein Brillant bleibt? Wie hält man eine Verwandlung fest, damit sie dauert?« Meister Hand schaute auf den Brillanten, der in Geds Hand glitzerte wie das schönste Schmuckstück aus einem Drachenschatz. Er murmelte das Wort »Tolk«,und kein Juwel, sondern ein einfacher, rauher, grauer
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Stein lag wieder da. Er nahm ihn und legte ihn auf seine geöffnete Hand. »Das ist ein Stein, Tolk in der Ursprache«, sagte er und schaute Ged gütig an. »Es ist ein kleines Stückchen Fels, aus dem Rok besteht, ein bißchen von dem Land, auf dem die Menschen wohnen. Das ist sein Wesen, er ist ein ganz kleiner Teil der Welt. Durch den Illusionstrick kannst du verursachen, daß er wie ein Brillant aussieht — oder wie eine Blume, eine Mükke, ein Auge oder eine Flamme.« Während er die Namen sprach, flakkerte der Stein von einer Gestalt zur andern und wurde dann wieder Stein. »Aber all das ist nur Schein. Die Illusion spielt mit den Sinnen des Beschauers; er sieht, hört und fühlt, wie sich das Ding geändert hat. Aber das Ding selbst bleibt sich gleich. Um diesen Stein in ein Juwel zu verwandeln, mein Junge, dazu mußt du seinen wahren Namen ändern. Und das bedeutet, selbst bei einem so winzig kleinen Teil der Welt, daß die Welt geändert wird. Man kann es tun. O ja, es ist möglich. Das ist die Kunst des Meisters der Verwandlungen, und du wirst es auch lernen, wenn du soweit bist. Aber du darfst nichts endgültig verwandeln, ob Stein oder nur ein Sandkorn, bevor du weißt, welche Folgen, gute und schlechte, diese Verwandlung nach sich zieht. Siehst du, die Welt ist im Gleichgewicht, im Equilibrium. Die Macht eines Zauberers, der verwandeln und gebieten kann, könnte das Gleichgewicht dieser Welt stören. Diese Kunst ist sehr gefährlich. Weisheit muß sie begleiten, und nur der Not kann sie dienen. Wenn du eine Kerze anzündest, mußt du mit dem Schatten rechnen...« Er schaute wieder auf den Stein: »Weißt du, ein Stein ist auch ganz gut«, sagte er, weniger ernsthaft. »Wenn die Inseln der Erdsee aus Diamant wären, wahrlich, wir Menschen würden ein hartes Leben führen! Junge, hab deinen Spaß an den Illusionen, und laß Stein Stein sein.« Er lächelte, aber Ged war nicht zufrieden, als er wegging. Wenn man versucht, einem Zauberer seine Geheimnisse zu entlocken, bekommt man immer nur vom Gleichgewicht, von der Gefahr und von den dunklen Mächten zu hören, bei Ogion war es ja nicht anders gewesen. Ganz bestimmt war ein Zauberer, der die kindischen Illusionstricks hinter sich hatte und zur wahren Kunst des Verwandelns und Gebietens gelangt war, mächtig genug, das zu tun, was ihm gefiel, und die Welt trotzdem
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nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, und er konnte ja mit seinem eigenen Licht die Dunkelheit vertreiben. Im Gang stieß er auf Jasper, der viel freundlicher tat, seit sich Geds Leistungen in der Schule herumgesprochen hatten, in Wirklichkeit aber nur noch verletzender auf Ged wirkte. »Sie sehen so finster drein, Sperber, ging etwas schief mit ihren Gaukeleien?« Ged, der immer darauf aus war, sich mit Jasper auf gleiche Höhe zu stellen, ignorierte die in der Frage enthaltene Ironie und sagte: »Ich habe die Nase voll von Gaukeleien und Illusionstricks, die nur dazu da sind, Fürsten zu amüsieren, die nichts weiter tun, als auf ihren Landsitzen und Schlössern zu hocken. Die einzig wahre Magie, die sie mir hier auf Rok beigebracht haben, ist der Werlichtzauber und etwas vom Wettermachen. Der Rest ist Narretei.« »Selbst Narretei kann gefährlich sein«, sagte Jasper, »wenn sie gehandhabt wird von Narren.« Ged zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag erhalten, und er trat auf Jasper zu, aber der ältere Junge lächelte nur, als hätte er keine Beleidigung beabsichtigt, neigte den Kopf leicht in seiner gezierten und doch graziösen Art und ging weiter. Wut brannte in Geds Herzen, als er ihm nachblickte, und er schwor sich, diesen Rivalen auszustechen; nicht in einem bloßen Illusionswettspiel, sondern in einer wirklichen Machtprobe. Er, Ged, würde triumphieren, und Jasper mußte klein beigeben. Er konnte nicht zulassen, daß dieser Schnösel auf ihn herunterschaute, so freundlich, so manierlich und so widerlich. Es fiel Ged nicht ein, darüber nachzudenken, warum Jasper ihn hassen könnte. Er wußte nur, warum er ihn haßte. Die anderen Schüler hatten längst gelernt, daß sie sich weder im Ernst noch im Spiel mit Ged messen konnten, und sagten, manche neidisch, andere respektvoll: »Der ist ein geborener Zauberer, den kann man nicht schlagen.« Nur Jasper lobte ihn nicht und ging ihm auch nicht aus dem Weg; er lächelte nur und schaute auf ihn herab. Und deswegen konnte ihn Ged nicht ertragen; er sah in ihm einen Rivalen, über den er triumphieren mußte.
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Ged merkte nicht, daß in dieser Rivalität, an der er sich festklammerte und in die er seinen Stolz setzte, etwas von der Gefahr und Dunkelheit war, vor der ihn Meister Hand so gütig gewarnt hatte. Wenn der Zorn nicht in ihm brannte, dann wußte Ged sehr wohl, daß er sich nicht mit Jasper oder den anderen älteren Jungen messen konnte, und er widmete sich ganz seinen Studien und ging seiner Arbeit nach wie gewöhnlich. Gegen Ende des Sommers ließ der Druck etwas nach, und es blieb mehr Zeit übrig für Sport und Spiel. Unten im Hafen fanden Regatten mit magisch angetriebenen Booten statt, in den Innenhöfen des Großhauses wurden Kunststücke und Illusionstricks vorgeführt, und während der langen Sommerabende veranstalteten sie wilde Versteckspiele in den Wäldern und Anlagen, bei denen die Suchenden und die sich Versteckenden unsichtbar waren. Man hörte nur lachende, rufende Stimmen zwischen den Bäumen schallen, die den flinken, flackernden Werlichtern nachjagten. Als dann der Herbst kam, fing das ernsthafte Studium der Magie von neuem an. So vergingen Geds erste Monate auf Rok. Sie waren angefüllt mit viel Neuem und Wunderbaren, versetzten ihn selbst aber oft in heftige innere Bewegungen. Der Winter gestaltete sich ganz anders. Ged wurde, zusammen mit sieben anderen Jungen, ans andere Ende der Insel, ins nördlichste Vorgebirge, geschickt, dort, wo der uralte Einsame Turm steht. Der Meister Namengeber, den sie Kurremkarmerruk nannten, was in keiner Sprache etwas bedeutet, wohnte dort ganz allein. Meilenweit um den Turm herum gab es weder Bauernhöfe noch Wohnhäuser. Grimmig blickte der Turm über einsame Felsen, grau hingen die Wolken über der winterlichen See, und endlos waren die Tabellen, Listen und Reihen von Namen, die von den Schülern auswendig gelernt werden mußten. Hoch oben im Turmzimmer saß Kurremkarmerruk an seinem hohen Pult, von seinen acht Schülern umgeben. Er schrieb lange Reihen von Namen auf, die noch vor Mitternacht auswendig gelernt werden mußten, denn dann verblaßte die Tinte wieder, und nur das leere Pergament blieb zurück. Es war kalt, halbdunkel und immer ruhig in diesem Raum, nur das Kratzen von des Meisters Feder war zu hören und ab und zu das Seufzen eines Schülers, der noch vor Mitternacht die Na-
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men aller Vorgebirge, Orte, Buchten, Meerengen, Hafen, Untiefen, Riffe und Felsen der Küste Lossows, einer kleinen Insel im peinischen Meer, lernen mußte. Wenn ein Schüler sich beklagte, konnte es vorkommen, daß der Meister, ohne zu antworten, die Liste verlängerte oder sagte: »Wer Seemeister werden will, muß den Namen jedes Wassertropfens im Meer kennen.« Ged seufzte manchmal auch, aber er beklagte sich nie. Er wußte, daß hinter dieser öden, endlosen Namenlernerei jedes Ortes, Dinges und Wesens die Macht lag, die er begehrte, er sah sie wie ein Juwel auf dem Grund eines tiefen trockenen Brunnens funkeln. Denn die Essenz der Magie lag hier, im Wissen um den wahren Namen eines Dinges. Kurremkarmerruk sprach ein einziges Mal darüber, damals, als sie ihre erste Nacht im Turm verbrachten; nie wieder hatte er es seither erwähnt. Ged hatte seine Worte nicht vergessen. »Mancher Magier verbrachte sein ganzes Leben damit, den wahren Namen eines einzigen Dinges herauszufinden — einen einzigen Namen, der verlorenging oder verborgen war. Trotzdem sind die Namenreihen noch nicht zu Ende, und sie werden es auch nicht sein, solange die Erde besteht. Hört zu, und dann werdet ihr verstehen, warum das so ist: Auf dieser Welt und in der Welt, wohin kein Sonnenstrahl fällt, gibt es viele Dinge, die weder mit Menschen noch mit der menschlichen Sprache etwas zu tun haben, und es gibt Dinge, die außerhalb unserer Machtsphäre liegen. Aber Magie, wahre Magie, wird nur von denen ausgeübt, die das Hardisch der Erdsee sprechen oder die Ursprache, aus der es stammt. Das ist die Sprache der Drachen und die Sprache von Segoy, der die Inseln dieser Welt schuf, und es ist auch die Sprache unserer Lieder und Epen und unserer Zauber- und Bannsprüche. Die Worte dieser Sprache sind versteckt in unserem Hardisch. Den Wellenschaum zum Beispiel nennen wir Sukien; das Wort besteht aus zwei Wörtern der Ursprache, aus ›Suk‹, die Feder und aus ›Inien‹, die See; zusammengesetzt gibt das ›Feder der See‹, und das ist nichts anderes als Wellenschaum. Aber Wellenschaum bleibt Wellenschaum, wenn man ihn Sukien nennt; um ihn zu verändern, muß man seinen wahren Namen in der Ursprache kennen und der ist Essa. Jedes Zauberweib kennt ein paar von diesen Worten, ein Magier
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kennt viele Namen. Aber es gibt viel mehr. Manche gingen verloren im Laufe der Zeit, andere sind irgendwo versteckt; manche sind nur den Drachen und den Urmächten der Erde bekannt, und es gibt auch welche, die keinem Lebewesen bekannt sind. Niemand kennt sie alle, denn diese Sprache ist ohne Ende. Und das ist der Grund dafür: Der Name des Meeres ist Inien, stimmtʹs? Na gut! Aber was wir hier das Innenmeer nennen, hat seinen eigenen Namen in der Ursprache. Da aber kein Ding zwei Namen haben kann, bedeutet Inien die ganze See — außer dem Innenmeer. Und natürlich stimmt das auch nicht, denn es gibt unzählige Gewässer, Buchten, Meerengen und so weiter, die alle ihre eigenen Namen haben. Ist nun ein Magier verrückt genug, um einen Sturm oder eine Stille im ganzen Ozean wirken zu wollen, dann muß er nicht nur den Namen Inien aussprechen, sondern den Namen von jedem Stückchen und jedem Teilchen im ganzen Inselmeer und in den äußeren Bereichen bis dorthin, wo es gar keine Namen mehr gibt. Und so kann man wohl sagen, daß uns zwar die Macht verliehen ist, Magie zu wirken, daß dieser Macht aber Grenzen gesetzt sind. Nur das Naheliegende, nur das Gutbekannte kann von einem Magier beeinflußt werden. Und das ist auch gut so, denn die Bosheit des Mächtigen und die Einfalt des Weisen hätten schon längst versucht das zu ändern, was nicht verändert werden soll, und das Gleichgewicht wäre gestört... Eine aus dem Gleichgewicht geratene See aber würde die Inseln überschwemmen, auf denen wir so schutzlos leben, und in abgrundtiefer Stille würden alle Stimmen und Namen untergehen.« Ged dachte lange nach über diese Worte, und sie prägten sich ihm tief ein. Aber das darin enthaltene Große und Erhabene machten das Lernen, das in diesem langen Jahr im Turm auf ihn wartete, nicht weniger mühselig. Am Ende des Jahres sagte Kurremkarmerruk zu ihm: »Du hast einen guten Anfang gemacht.« Mehr sagte er nicht. Zauberer sprechen immer die Wahrheit, und Ged wußte, daß das Beherrschen der Namen, um das er sich ein Jahr lang so schwer plagte, nur der Anfang war. Er wußte, daß er sein ganzes Leben würde lernen müssen. Er durfte früher als die anderen den Turm verlassen, denn er hatte schneller als sie
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gelernt. Darin bestand seine ganze Belohnung, ein anderes Lob bekam er nicht. Es war früh im Winter, als er allein über die leeren, windgefegten Straßen nach Süden über die Insel pilgerte. Als es dunkel wurde, begann es zu regnen. Keine Zauberformel stand ihm zur Verfügung, die diesen Regen hätte abwenden können, denn das Wetter auf Rok war in den Händen von Meister Windschlüssel, und es war verboten, sich einzumischen. So wickelte er sich in seinen Umhang und suchte Schutz unter einem Perdickbaum nahebei und dachte an Ogion, seinen Meister, der vielleicht noch auf seinen Herbstwanderungen durch die Höhen von Gont streifte und unter einem Dach von dichtverwobenen Ästen, zwischen Wänden fallenden Regens schlief. Darüber mußte er lächeln. Der Gedanke an Ogion war immer tröstlich, und mit friedlichem Herzen schlief er in der kalten Finsternis im unaufhörlich wispernden Wasser ein. Im Morgengrauen wachte er auf und sah ein kleines, zusammengerolltes Tierchen in den Falten seines Mantels schlafen. Es mußte sich in der Nacht, Wärme und Schutz suchend, zu ihm geschlichen haben. Er war überrascht, als er es näher betrachtete, denn es war ein Otak, ein seltenes und seltsames Tier. Diese kleinen Tiere gab es nur auf den vier südlichen Inseln: Rok, Ensmer, Pody und Wathort. Sie sind klein und glatt, mit runden Gesichtern, dunkelbraunem oder gestreiftem Fell und großen blanken Augen; ihre Zähne sind scharf und grausam, ihr Wesen unberechenbar, so daß sie selten als Haustiere gewählt werden; sie geben keinen Laut von sich, denn sie haben keine Stimme. Ged streichelte das kleine Ding, und es erwachte und gähnte, streckte seine kleine braune Zunge heraus und zeigte seine weißen Zähne, aber es war nicht scheu. »Otak«, sagte er und dann fielen ihm die Hunderte von Tiernamen ein, die er im Turm gelernt hatte, und er redete es mit seinem wahren Namen in der Ursprache an: »Hög! Willst du mit mir kommen?« Der Otak setzte sich auf Geds Hand und begann mit der Zunge sein Fell zu säubern. Ged hob ihn hoch, und der Otak kuschelte sich in die Falten seiner Kapuze, und auf Geds Schulter reitend, begleitete er ihn. Manchmal
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sprang er herunter und verschwand im Wald, aber er kam immer wieder zurück, einmal mit einer Feldmaus, die er gefangen hatte. Ged lachte und ermunterte ihn, die Maus zu essen, denn er selbst fastete, da es die Nacht der Sonnenwende war. In der feuchten Dämmerung erreichte er den Rokkogel, und endlich sah er durch den Regen die hell brennenden Werlichter über den Dächern des Großhauses flackern, und er betrat den großen, warmen, hellerleuchteten Saal, in dessen Kamin ein großes Feuer knisterte, wo ihn seine Meister und Studienkollegen willkommen hießen. Es war wie eine Heimkehr für Ged, der kein Heim hatte, zu dem er hätte zurückkehren können. Er freute sich, die vielen bekannten Gesichter wieder um sich zu haben, am meisten aber freute er sich, Vetsch wiederzusehen, der über sein ganzes dunkles Gesicht strahlte, als er ihn begrüßte. Wie sehr ihm diese Freundschaft im vergangenen Jahr gefehlt hatte, merkte er erst jetzt. Vetsch war in der Zwischenzeit vom Lehrling zum Zauberer aufgerückt, aber das tat ihrer Freundschaft keinen Abbruch, sie wurden nicht fertig mit Erzählen. Es kam Ged vor, als redete er in dieser ersten Stunde mehr mit Vetsch als während des ganzen verflossenen Jahres im Einsamen Turm. Der Otak hockte noch auf seiner Schulter, versteckt in den Falten seiner Kapuze, als sie das Abendessen an den langen Tischen einnahmen, die für das Fest in dem großen Festsaal aufgestellt waren. Vetsch bewunderte das kleine Geschöpf und versuchte es zu streicheln, aber der Otak fletschte stumm die Zähne. Vetsch lachte: »Weißt du, Sperber, man sagt, daß der, zu dem ein wildes Tier ungerufen kommt, mit den Urmächten in Fels und Quell reden kann.« »Man sagt auch, daß gontische Zauberer oft einen Vertrauten halten«, sagte Jasper, der auf der anderen Seite von Vetsch saß. »Unser Herr Nemmerle hat einen Raben, und die alten Lieder sagen, daß der rote Magier von Ark einen wilden Eber an einer goldenen Kette mit sich führte. Aber ich habe noch von keinem Zauberer gehört, der eine Ratte in der Kapuze hält.« Alle lachten, auch Ged lachte mit. Es ging lustig zu, und er war froh, mit seinen Freunden zusammen im warmen, hellen Saal zu feiern. Aber
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wie alle Späße Jaspers traf ihn auch dieser, und er knirschte heimlich mit den Zähnen. Der Fürst von O, der sich auch als Zauberer einen Namen gemacht hatte, war Gast der Schule an diesem Abend. Er war ein ehemaliger Schüler des Erzmagiers und kehrte manchmal zum Winterfest oder zum Langen Tanz im Sommer nach Rok zurück. An diesem Abend hatte er seine junge, schlanke Gemahlin dabei, die wie neues Kupfer strahlte und eine Krone von Opalen in ihrem schwarzen Haar trug. Es kam selten vor, daß eine Frau in den Sälen des Großhauses weilte, und einige der alten Meister warfen etwas mißbilligende Seitenblicke auf sie, aber die jungen Männer konnten kaum ihre Augen von ihr abwenden. »Für so eine«, sagte Vetsch zu Ged, »könnte ich unglaubliche Zaubereien produzieren...« Er seufzte und lachte. »Sie ist doch nur eine Frau«, erwiderte Ged. »Die Prinzessin Elfarran war auch nur eine Frau«, sagte Vetsch, »und um ihretwillen wurde ganz Enlad zerstört, und der Zauberheld von Havnor fiel, und die ganze Insel Solea ging unter.« »Alte Märchen«, sagte Ged. Aber dann begann er doch, die Fürstin von O näher anzuschauen, und fragte sich, ob sie genauso schön war wie die irdischen Schönheiten, von denen die alten Geschichten erzählten. Der Meister der Lieder war fertig mit den Taten des jungen Königs, und alle stimmten in den Winterchoral ein, und als er zu Ende gesungen war, trat eine kleine Pause ein. Vor dem allgemeinen Aufbruch erhob sich Jasper und trat zu dem Tisch, der dem Feuer am nächsten stand, an dem der Erzmagier, seine Gäste und die Meister saßen, und wandte sich zur Fürstin von O. Er war kein Knabe mehr, sondern ein großer, gut aussehender junger Mann, dessen Umhang am Hals mit einer Silberbrosche geschlossen war, denn auch er war im vergangenen Jahr Zauberer geworden und die Silberbrosche war Ausdruck dieser Beförderung. Die Fürstin lächelte zu seinen Worten, und die Opale in ihrem schwarzen Haar schimmerten verführerisch. Nachdem die Meister gnädig nikkend ihre Zustimmung erteilt hatten, wirkte Jasper einen Illusionszauber für sie. Ein weißer Baum wuchs plötzlich aus dem Steinboden empor. Seine Zweige berührten die Dachbalken des hohen Saales, und an je-
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dem Zweig glänzte ein goldener Apfel, jeder eine Sonne darstellend, denn es war der Jahresbaum. Plötzlich flatterte ein weißer Vogel zwischen den Ästen, mit einem Schweif wie fallender Schnee, und die goldenen Äpfel verblaßten. An ihre Stelle traten Samen, wie Kristalltropfen geformt. Die fielen von den Zweigen wie rauschender Regen, und die Luft war erfüllt von einem süßen Duft und umgab den sich leise bewegenden Baum, der feurige, zartrosa schimmernde Blätter und weiße Sternblüten hervorbrachte. Langsam verblaßte die Illusion. Der Fürstin von O entschlüpften Laute des Entzückens. Sie neigte ihr strahlendes Haupt gegen den jungen Zauberer, seine Kunst würdigend: »Oh, kommen Sie doch zu uns nach O-Tokne — kann er bitte kommen, mein Fürst?« Wie ein Kind bittend, wandte sie sich an ihren gestrengen Gemahl. »Wenn meine Kunst meinen Meistern hier Ehre macht und wert ist, von Ihnen geschätzt zu werden, dann komme ich und stehe Ihnen zu Diensten.« Diese Worte gefielen allen — außer Ged. Er stimmte zwar in das Lob ein, das sich ringsum erhob, aber in seinem Herzen sprach er voll Neid: Ich hätte es besser machen können, und die Freude des schönen Abends war für ihn getrübt.
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DAS FREISETZEN DES SCHATTENS
WÄHREND DES FRÜHLINGS sah Ged wenig von Vetsch und Jasper, denn als Zauberer durften sie mit dem Meister der Formgebung in der Abgeschlossenheit des Immanenten Haines studieren. Kein Lehrling durfte seinen Fuß dorthin setzen. Ged blieb im Großhaus bei den anderen Meistern und lernte die verschiedenen Künste der Zauberei, die von denen ausgeübt werden, die Magie wirken, aber keinen Stab tragen: das Wind- und Wettermachen, das Finden und Binden, die Künste der Wahrsager, Sänger, Heil- und Kräuterkundigen. Des Nachts in seiner Zelle, mit einem Buch und einem Werlicht, das ihm als Lampe oder Kerze diente, studierte er die Sonderrunen und die Runen von Éa, die für die Hauptzauberformeln benutzt werden. All diese Künste fielen ihm leicht, und unter den Schülern wurde gemunkelt, daß der eine oder andere Meister den Jungen aus Gont für den begabtesten hielt, der je in Rok gewesen war. Gerüchte gingen auch um, die den Otak für einen verwunschenen Geist hielten, der Ged seine Geheimnisse zuflüsterte, und es gab auch welche, die behaupteten, daß der Rabe des Erzmagiers Ged als den »zukünftigen Erzmagier« willkommen geheißen hätte. Aber ganz gleich, ob sie nun an diese Gerüchte glaubten oder nicht, ob sie Ged mochten oder nicht, die meisten Mitschüler bewunderten ihn und warteten nur darauf, mit ihm zu spielen, wenn ihn, was selten vorkam, die Lust dazu packte und er sich als Anführer zu ihnen gesellte und in wildem Spiel während der immer länger werdenden Frühlingsabende mit ihnen herumtobte. Die meiste Zeit jedoch kannte er nur seine Arbeit, und sein Stolz und sein leicht aufbrausendes Wesen sonderten ihn ab. Keiner unter ihnen stand ihm nahe. Vetsch war abwesend, und er wußte nicht, daß er sich nach einem Freund sehnte.
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Ged war erst fünfzehn Jahre alt und für einen, der bereits in die Künste der stabtragenden Zauberer und Magier eingeweiht wurde, sehr jung; aber er lernte die Illusionskünste so rasch, daß der Meister der Verwandlungen, der selbst noch ziemlich jung war, bald anfing, Ged gesondert von den anderen Schülern zu unterrichten. Er erzählte ihm von der wahren Verwandlungskunst, wie bei jeder Verwandlung das Ding, das verwandelt wird, erst umbenannt werden und diesen neuen Namen behalten muß, solange die Verwandlung anhält. Er stellte ihm vor, welchen Einfluß dieses verwandelte Etwas auf die Namen und Wesen der ihn umgebenden Dinge ausübt. Er sprach von den Gefahren, die bei einer Verwandlung bestehen, vor allem, wenn ein Zauberer sich selbst verwandelt und Gefahr läuft, in seinem eigenen Bann gefangen zu werden. Und nach und nach begann er — gewiß, daß der Knabe ihm folgen konnte — mehr zu tun, als nur von den Mysterien der Verwandlungen zu reden. Er lehrte ihn zunächst die eine, dann die andere Verwandlungsformel und gab ihm das Buch der Verwandlungen zu lesen und zu studieren. Dies alles geschah ohne Wissen des Erzmagiers, und es war nicht weise gehandelt, aber die Absichten des Meisters waren lauter. Es war Ged nun auch vergönnt, mit dem Meister des Gebietens zu arbeiten, aber dieser Meister war gestreng. Die ernste und gefährliche Zauberkunst, die er lehrte, hatte ihn rasch altern lassen und zu einem harten Mann gemacht. Er hatte nichts mit Illusionen zu tun, seine Kunst war die der wahren Magie. Er gebot den Energiequellen, wie dem Licht, der Wärme und der Kraft, die eine Magnetnadel zu sich dreht, und all den Kräften, die der Mensch als Gewicht, Gestalt, Farbe und Ton wahrnimmt. Es waren Kräfte, die aus dem unendlichen, grenzenlosen Weltall stammen, die keines Magiers Sprüche weder erschöpfen noch aus dem Gleichgewicht zu bringen vermögen. Die Künste des Wettermachers und Seemeisters, die den Winden und dem Wasser gebieten, waren den Schülern nicht neu, aber von diesem Meister lernten sie, warum der wahre Zauberer die Künste nur dann wirkt, wenn die Not ihn dazu zwingt, denn das Herbeirufen dieser elementaren Kräfte verändert die Erde, von der sie schließlich selbst ein Teil sind. »Regen in Rok kann Dürre
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in Osskil bedeuten«, sagte er. »Und eine Meeresstille in den Ostbereichen kann zu Sturm und Zerstörung im Westen führen, falls ihr nicht genau wißt, was ihr tut.« Über die Kunst, die ein Zauberer und Magier als das Höchste betrachtet und die seine ganze Macht unter Beweis stellt, das Herbeirufen lebendiger Wesen und Menschen, das Erwecken der Toten und das Sichtbarmachen des Unsichtbaren, darüber sprach der Meister des Gebietens kaum. Ged versuchte ein- oder zweimal ihn zu veranlassen, mehr über diese tiefsten Geheimnisse seiner Kunst zu sagen, aber er schaute ihn nur lange und durchdringend an, worauf Ged unruhig wurde und nicht weiter fragte. Manchmal stahl sich diese Unruhe auch in sein Herz, wenn er mit den niedrigeren Formeln des Gebietens arbeitete. Bestimmte Runen auf bestimmten Seiten des Runenbuches kamen ihm bekannt vor, obwohl er sich nicht erinnerte, in welchem Buch er sie schon gesehen hatte. Es gab auch bestimmte Sätze, die bei gewissen Beschwörungsformeln ausgesprochen werden mußten, die ihm nicht leicht über die Lippen flossen. Es war ihm dann, nur einen kurzen Augenblick lang, als sähe er Schatten in einem dunklen Raum, als stünde er hinter einer geschlossenen Tür, und ein Schatten an der Türecke versuche, nach ihm zu greifen. Er bemühte sich dann immer sofort, diese Gedanken und Erinnerungen zu verscheuchen, und versuchte sich einzureden, daß diese Momente voll Furcht und Dunkelheit nur die Schatten seiner Unwissenheit waren. Je mehr er lernte, desto weniger würde er sie zu fürchten haben, bis er schließlich, nachdem er alle Künste des Zauberwesens gemeistert hatte, gar nichts mehr auf dieser Welt zu fürchten hatte. Im zweiten Sommermonat versammelte sich die ganze Schule im Großhaus, um das Mondfest und den Langtanz zu feiern. Beide Feste fielen dieses Jahr zusammen, was nur alle zweiundfünfzig Jahre einmal vorkam. Es wurden Festlichkeiten geplant, die sich über zwei Nächte erstreckten. In der ersten Nacht, der kürzesten des Jahres, spielten die Flöten draußen auf dem Feld, während die Straßen von Thwil vom Trommelschlag widerhallten und von Fackeln erleuchtet wurden; über die mondhelle Bucht klang der Gesang vieler Stimmen. Bei Sonnenaufgang
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stimmte der Meister der Lieder den großen Gesang von den Taten von Erreth-Akbe an, der beschreibt, wie die weißen Türme von Havnor errichtet wurden, wie Erreth-Akbe von der Urinsel Éa aus durch das ganze Inselreich und die Außenbereiche bis ans äußerste Ende des Westens fuhr und wie er dort, am Ende des offenen Meeres, auf den Drachen Orm stieß; er sang von Erreth-Akbe, dessen Gebeine unter zertrümmerter Rüstung dort an der einsamen Küste von Selidor zwischen den Überresten des Drachen liegen, dessen Schwert aber den höchsten Turm von Havnor krönt, und das rot glüht, wenn die Sonne im Innenmeer untergeht. Als der Gesang zu Ende war, begann der Langtanz. Städter und Meister, Schüler und Bauern, Männer und Frauen, alle tanzten in der Dämmerung und Dunkelheit draußen auf den Straßen von Thwil hinunter zum Strand, begleitet von den Schlägen der Trommel und dem Trillern der Flöten und Pfeifen. Sie tanzten immer geradeaus, hinaus aufs Meer unter dem Mond, der nur einen Tag älter als der Vollmond war. Die Musik verlor sich allmählich im Getöse der Brandung. Als der Himmel sich im Osten zu lichten begann, kehrten sie wieder zurück zum Strand und bewegten sich die Straßen aufwärts. Die Trommeln waren verstummt, nur die Flöten tönten leise und schrill. Auf jeder Insel im Inselreich wurde in dieser Nacht das gleiche Zeremoniell abgehalten, derselbe Tanz, dieselbe Musik verbanden die vom Meer getrennten Länder. Erschöpft vom Langtanz, schliefen die meisten Leute den Tag über und trafen sich erst abends wieder, um Speis und Trank gemeinsam einzunehmen. Im Großhaus hatte sich eine Gruppe von Lehrlingen und Zauberern zusammengetan, die ihre Abendmahlzeit vom Refektorium hinaus in den Innenhof trugen, um unter sich zu sein. Unter ihnen befanden sich auch Vetsch, Jasper und Ged, sowie einige vom Einsamen Turm, die man für die Festlichkeiten kurz entlassen hatte. Die ungefähr fünfzehn Burschen aßen und lachten und amüsierten sich großartig. An ausgefallenen Ideen fehlte es nicht, sie übertrafen einander an Einfallen und zauberten Kunststücke, die einem Königshof Ehre gemacht hätten. Einer der Jungen sorgte für die Beleuchtung des Hofes: über hundert Werlichtsterne, wie Schmuckstücke schillernd, formten ein Netz zwi-
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schen ihnen und den Sternen des Himmels; zwei andere Jungen kegelten mit grünen Lichtkugeln und verzauberten Kegeln, die wegsprangen, wenn sich die Kugel näherte; Vetsch saß mit überkreuzten Beinen über ihnen in der Luft und aß gebratene Hähnchen; einer der Jungen versuchte, ihn herunterzuziehen, aber Vetsch lächelte nur überlegen und schwebte etwas höher, außer Reichweite; ab und zu warf er Hühnerbeine in die Luft, die sich in Eulen verwandelten und schreiend durch das Netz der Sternlichter davonflatterten; Ged schoß sie ab mit Brotkrümeln, die sich in Pfeile verwandelten, und sie fielen herunter und lagen als Krume und Knochen auf der Erde; er versuchte auch, wie Vetsch in der Luft zu schweben, aber da er den Schlüssel zu dieser Formel nicht kannte, mußte er heftig mit seinen Armen rudern, um in der Luft zu bleiben, und alle lachten über sein holpriges Fliegen und Flattern. Er selbst lachte so herzhaft mit, daß er nicht aufhören konnte, um sich zu schlagen, und je mehr er schlug, desto lauter lachten sie alle zusammen. Ged war übermütig und ausgelassen nach den zwei langen Nächten voll Mondschein und Tanz, Musik und Zauberei, und er war bereit, es mit jedem aufzunehmen. Endlich kam er wieder herunter und landete federnd neben Jasper, der nie laut lachte und jetzt — etwas von Ged abrückend — sagte: »Sieh da, der Sperber, der nicht fliegen kann...« »Ist Jasper-Jaspis nicht ein Edelstein?« erwiderte Ged lachend. »Oh, du Juwel unter uns Zauberern, oh, du Schmuckstück von Havnor, strahle für uns!« Der Junge, der die Werlichtsterne über ihnen tanzen ließ, brachte einen davon herunter und ließ ihn Jaspers Kopf umkreisen. Jasper verlor etwas von seiner gewohnten Selbstsicherheit. Er verscheuchte das Licht ärgerlich und brachte es mit einer Handbewegung zum Erlöschen. »Ich habe genug von Kindern, Krach und Dummheiten«, grollte er. »Du wirst eben alt, mein Junge«, meinte Vetsch von oben herab. »Für den, der die Stille und Trübsal liebt, bleibt ja noch immer der Turm«, schlug einer der jüngeren Burschen vor. Ged fragte Jasper: »Was wollen Sie denn dann?«
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»Ich suche den Umgang mit Ebenbürtigen«, erwiderte Jasper. »Komm, Vetsch, überlassen wir die Kinder ihren Kindereien.« Ged wandte sich ihm zu: »Was hat denn ein Zauberer einem Lehrling voraus?« fragte er. Seine Stimme war ruhig, doch plötzlich verstummte alles. In seinem Ton und in Jaspers Stimme lag so viel Schärfe, daß die Feindschaft zwischen ihnen offenbar wurde wie ein aus der Scheide gezogenes blankes Schwert. »Macht«, sagte Jasper. »Meine Macht ist so groß wie die Ihre, in jeder Kunstart.« »Fordern Sie mich heraus?« »Ich fordere Sie heraus.« Vetsch war auf den Boden geplumpst und schob sich nun mit entschlossener Miene zwischen beide. »Ihr wißt genau, daß es uns untersagt ist, Zauberduelle abzuhalten. Hört auf!« Aber Ged und Jasper schwiegen. Natürlich kannten sie das Gesetz von Rok, und sie wußten auch, daß es nur Güte war, die Vetsch zum Einschreiten trieb, während in ihnen der Haß brannte. Trotzdem schürten seine Worte nur das Feuer, anstatt es zu lindern. Sekunden vergingen. Dann trat Jasper etwas zur Seite, als ob er nur mit Vetsch sprechen wollte, und sagte mit überlegenem Lächeln: »Es wäre vielleicht gut, wenn du den Geißenhirten noch einmal an das Gesetz erinnertest, das ihn beschützt. Er sieht verstimmt aus. Ich möchte wissen, ob er wirklich erwartet hat, daß ich mich von ihm fordern ließe, einem Hirtenbuben, der nach Ziegen stinkt und noch nicht einmal etwas von der Erstverwandlung weiß.« »Jasper«, sagte Ged, »was wissen Sie denn von dem, was ich weiß?« Einen kurzen Augenblick lang war Ged vor ihren Augen verschwunden, ohne daß sie ihn ein Wort hätten sprechen hören. Dort, wo er gestanden hatte, flatterte ein mächtiger Falke, seinen gekrümmten Schnabel zum Schrei geöffnet. Der Augenblick verging. Ged stand wieder vor ihnen im Licht der flackernden Fackeln, und sein dunkler Blick war auf Jasper geheftet. Jasper war erstaunt zurückgewichen, aber jetzt zuckte er nur die Achseln und sagte: »Eine Illusion.«
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Die anderen flüsterten untereinander. Vetsch sagte: »Das war keine Illusion. Das war eine richtige Verwandlung. Und damit seiʹs genug. Jasper, hör zu...« »Damit hat er nur bewiesen, daß er heimlich, hinter dem Rücken des Meisters, im Buch der Verwandlungen las. Was hat er denn noch gemacht? Verraten Sieʹs uns doch, Ziegenhirte! Es macht mir Spaß, zuzuschauen, wie Sie Ihre eigene Grube graben. Je mehr Sie versuchen, mir ebenbürtig zu sein, desto besser sieht man, wer Sie sind.« Das war zuviel für Vetsch, und er wandte sich von Jasper ab und sagte leise zu Ged: »Sperber, bitte sei ein Mann, und mach nicht weiter... Komm, laß uns gehen...« Ged schaute seinen Freund lächelnd an und sagte: »Kannst du Hög eine Weile halten für mich, bitte?« Er nahm den kleinen Otak herunter, der wie gewöhnlich auf seiner Schulter ritt, und setzte ihn in Vetschens Hände. Noch nie hatte sich der Otak von einem anderen berühren lassen, aber nun blieb er bei Vetsch, und seinen Arm hinaufkletternd kauerte er sich auf dessen Schulter. Seine großen, glänzenden Augen ließen aber keinen Augenblick lang ab von seinem Herrn. »Nun, Jasper«, Geds Stimme war genauso gelassen wie zuvor, »was werden Sie tun, um Ihre Überlegenheit zu beweisen?« »Ich müßte gar nichts tun, Ziegenhirte, aber ich werde etwas tun. Ich gebe Ihnen nämlich eine Gelegenheit — eine gute Gelegenheit. Der Neid frißt an Ihnen wie der Wurm am Apfel. Nun ja, lassen wir doch den Wurm herauskommen. Damals am Rokkogel brüsteten Sie sich, daß sich gontische Zauberer in keine Spielereien einlassen. Nun, gehen Sie jetzt zum Rokkogel, und zeigen Sie uns, was man sonst in Gont macht. Und danach zeige ich Ihnen vielleicht etwas, was man wirklich Zauberei nennen kann.« »Ja, das würde ich mir ganz gerne anschauen«, antwortete Ged. Die jüngeren Burschen, die daran gewöhnt waren, Ged beim kleinsten Verdacht einer Beleidigung aufbrausen zu sehen, staunten nun über seine Gelassenheit. Vetsch aber betrachtete ihn nicht mit Erstaunen, sondern mit Besorgnis. Noch einmal versuchte er, sich einzuschalten, aber Jasper sagte: »Misch dich nicht ein, Vetsch! Wie werden Sie denn die Gele-
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genheit nutzen, Ziegenhirte, die ich Ihnen gegeben habe? Werden Sie uns eine Illusion vorspiegeln, einen Feuerball vielleicht, oder haben Sie einen Heilsegen für die Krätze Ihrer Ziegen zur Verfügung?« »Was würden Sie denn gerne sehen, Jasper?« Der Ältere hob die Schultern. »Rufen Sie doch einen Geist aus dem Totenreich herbei, mir ist alles recht!« »Gut, das werde ich tun.« »Nein, das werden Sie nicht tun«, Jasper starrte ihn an. Wut flammte in seinen Augen, seine Arroganz war erschüttert. »Das werden Sie nicht tun. Sie können es nicht tun. Sie spielen sich auf...« »Bei meinem wahren Namen, ich tue es.« Alle standen wie vom Donner gerührt. Ged machte sich los von Vetsch, der ihn mit schierer Körperkraft zurückhalten wollte. Dann verließ er den Innenhof, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Die tanzenden Werlichtsterne sanken langsam zur Erde. Jasper zögerte eine kurze Weile, dann folgte er Ged; und die übrigen folgten zögernd, ohne miteinander zu reden, neugierig und furchtsam. Die Hänge des Rokkogels streckten sich schwarz in die Dunkelheit einer Sommernacht kurz vor Mondaufgang. Die Nähe des Berges, wo so viele Wunder gewirkt wurden, bedrängte sie, und es war ihnen, als laste selbst die Luft auf ihnen. Als sie auf der Berghalde standen, mußten sie an die Wurzeln dieses Hügels denken, die tief, tiefer als das Meer, hinunterreichten bis zu den uralten, blinden und geheimnisvollen Feuern, die in der Erdmitte lodern. Am Osthang blieben sie stehen. Die Sterne erhoben sich funkelnd über dem schwarzen Gras des Bergrückens. Ged stieg etwas höher hinauf als die anderen und drehte sich nach ihnen um, während er mit klarer Stimme fragte: »Jasper! Wessen Geist soll ich rufen?« »Rufen Sie, wen Sie wollen. Es wird Ihnen ja doch niemand folgen.« Jasper verschluckte sich beim Sprechen, vielleicht ärgerte er sich. Geds Stimme dagegen klang milde und spöttisch: »Haben Sie etwa Angst?« Er wartete Jaspers Antwort nicht ab, vielleicht gab er gar keine. Ganz plötzlich war ihm Jasper egal. Hier auf dem Rokkogel spürte er weder
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Haß noch Zorn, nur eine tiefe Gewißheit erfüllte ihn. Er brauchte keinen zu beneiden. Seine Macht, das fühlte er, war hier auf diesem dunklen Boden voll magischer Kräfte größer denn je. Sie erfüllte und drängte ihn, und er erbebte vor ihrer Gewalt. Jetzt wußte er, daß Jasper weit unter ihm stand, daß er vielleicht nur gesandt war, um ihn heute nacht hierher zu locken, daß er bestimmt kein Rivale, sondern wahrscheinlich nur ein Mittel war, das der Erfüllung seines, Geds, Schicksals diente. Unter seinen Sohlen spürte er, wie das Wurzelwerk des Berges sich immer tiefer in die Dunkelheit streckte, und über seinem Haupt sah er das ferne, funkelnde Feuer der Sterne. Dazwischen stand er, und alles, was ihn umgab, war ihm Untertan. Er befand sich im Zentrum des Seins. »Haben Sie nur keine Angst«, sprach er lächelnd. »Ich rufe den Geist einer Frau. Elfarran, die edle Frau aus dem Enladlied, werde ich rufen.« »Die starb vor tausend Jahren, ihre Gebeine sollen auf dem Meeresboden bei Éa liegen, aber vielleicht gab es sie überhaupt nicht.« »Was bedeuten Ort und Zeit für die Toten? Lügen die alten Lieder?« erwiderte Ged sanft, aber mit leichtem Spott in der Stimme. Dann sagte er: »Beobachten Sie die Luft zwischen meinen Händen«, drehte sich etwas zur Seite und stand still. Langsam öffnete er seine Arme weit zur Willkommensgeste, womit jede Invokation beginnt. Er begann zu reden. Vor mehr als zwei Jahren hatte er diese Zauberformel des Gebietens in Ogions Buch gelesen. Nie mehr seither hatte er sie gesehen. Dunkel war es damals gewesen, als er sie las. Und wieder umgab ihn Dunkelheit, aber es war ihm, als läge das Buch aufgeschlagen vor ihm, und langsam las er den Spruch ab. Jetzt verstand er ihn. Er las laut, Wort für Wort. Auch die Zeichen waren ihm jetzt klar, die andeuteten, wie die Stimme moduliert werden mußte und welche Körperbewegungen ausgeführt werden mußten. Die anderen Jungen standen reglos und schauten auf Ged. Manche erschauerten, denn der große Bannspruch begann zu wirken. Noch immer sprach Ged mit ruhiger Stimme, aber sie klang verändert, ein tiefes Singen war jetzt darin zu hören. Die Worte, die er sprach, waren ihnen unbekannt. Ged verstummte. Ganz allmählich erhob sich ein Wind im
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Gras. Ged fiel auf die Knie und rief laut. Dann fiel er mit ausgestreckten Armen vornüber, als wolle er die Erde umfassen, und als er sich erhob, hielt er etwas Dunkles in seinen angespannten Armen, so schwer, daß er vor Anstrengung zitterte, bis er endlich auf seinen Füßen stand. Der warme Wind wimmerte im schwarzen, wehenden Gras des Hügels. Keiner sah, ob die Sterne noch funkelten, denn keiner blickte nach oben. Die Worte der Zauberformel kamen zittrig und halb flüsternd über Geds Lippen, dann aber schrie er laut und klar: »Elfarran!« Und noch einmal wiederholte er den Namen: »Elfarran!« Die formlose dunkle Masse in seinen Armen spaltete sich in zwei Teile. Ein fahles, schmales Licht glomm zwischen seinen ausgestreckten Armen, ein schwach leuchtendes Oval, das sich vom Boden bis zu seinen ausgestreckten Armen dehnte. Einen kurzen Augenblick lang sah man in dem Licht die Umrisse einer menschlichen Gestalt: eine große Frau, die über die Schulter zurückblickte. Das Gesicht war bildschön, aber ihre Züge spiegelten Leid und Furcht wider. Nur ganz kurz war das Glimmen des Geistes zu sehen. Dann weitete sich das fahle Oval zwischen Geds Armen und wurde immer heller. Es dehnte sich aus, es spaltete die Dunkelheit der Erde und der Nacht, es riß am Gewebe der Welt. Das Licht steigerte sich zu furchtbarer Helle. Und aus diesem unerträglich hellen, formlosen Spalt kletterte ein unförmiger schwarzer Schatten, blitzschnell und abscheulich, und sprang mit einem Satz in Geds Gesicht. Vom Anprall und Gewicht dieses Dinges getroffen, taumelte Ged rückwärts und stieß einen kurzen, heiseren Schrei aus. Der kleine Otak, der auf Vetschens Schulter saß und alles beobachtete, das Tier ohne Stimme, schrie mit einemmal ebenfalls und setzte zum Sprung an, um den Angreifer zu packen. Ged fiel zu Boden, sich krümmend und wehrend, während über ihm der blendendweiße Riß inmitten der Schwärze der Nacht wuchs und breiter wurde. Die Jungen, die gekommen waren, um zuzuschauen, waren schon davongerannt. Jasper kauerte am Boden und bedeckte seine Augen vor dem schrecklichen Licht. Nur Vetsch rannte, eilte seinem Freund zu Hilfe. Er allein sah den unförmigen, schattenhaften Klum-
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pen, der sich in Geds Gesicht verkrallt hatte. Wie ein schwarzes Ungeheuer sah es aus, so groß wie ein Kind, aber es schien zu schwellen und zu schrumpfen; es hatte weder Kopf noch Gesicht, nur vier Klauen, mit denen es Ged packte und an ihm riß. Vetsch schluchzte vor Grauen. Trotzdem streckte er die Hände aus, um das Ding von Ged wegzuziehen. Aber noch bevor er es berührte, fühlte er sich gebannt und konnte sich nicht mehr bewegen. Die unerträgliche Helle begann zu verblassen. Ganz langsam schlossen sich die zerrissenen Ränder der Erde. In der Nähe flüsterte eine Stimme, so sanft und leise wie das Rauschen eines Baumes oder das Rieseln eines Brunnens. Das Licht der Sterne begann wieder zu schimmern, das Gras an der Berghalde schien weiß im Licht des aufgehenden Mondes. Die Nacht war geheilt. Das Gleichgewicht zwischen Hell und Dunkel war wieder hergestellt. Das Schattenungeheuer war verschwunden. Ged lag auf dem Rücken, seine Arme waren ausgestreckt in der Geste des Willkommens und der Invokation. Sein Gesicht blutete, und sein Hemd hatte große, dunkle Flecken. Der kleine Otak kauerte zitternd an seiner Schulter. Über ihnen stand ein Mann, dessen Umhang weiß im Mondlicht leuchtete: der Erzmagier Nemmerle. Silbrig bewegte sich das Ende von Nemmerles Stab über Geds Oberkörper. Sachte berührte es die Stelle, unter der Geds Herz lag, und darauf Geds Lippen, während Nemmerle leise murmelte. Ged begann sich zu regen, seine Lippen öffneten sich zum Atmen. Dann hob der Erzmagier den Stab, setzte ihn auf die Erde und lehnte sich mit gebeugtem Haupt schwer darauf, als fehle es ihm an Kraft zum Stehen. Vetsch fühlte sich von dem Bann befreit und schaute sich um. Er sah, daß sie nicht allein waren, der Meister des Gebietens und der Meister der Verwandlungen standen nun bei Ged. Keine große Zauberhandlung konnte gewirkt werden ohne das Wissen dieser Männer. War es nötig, so konnten sie mit Windeseile kommen, aber keiner war so schnell wie der Erzmagier.
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Jetzt ließen sie Hilfe kommen, und einige gingen mit dem Erzmagier, während andere, darunter auch Vetsch, Ged in die Räume des Meisters der Kräuterkunde trugen. Der Meister des Gebietens jedoch blieb die ganze Nacht über auf dem Rokkogel. Nichts bewegte sich dort am Berg, wo die Welt selbst aufgerissen worden war. Kein Schatten kam zurückgekrochen im Mondlicht und suchte nach dem Riß, durch den er in sein Reich zurückkehren konnte. Er floh vor Nemmerle und vor den mächtigen, von Zauberkraft errichteten unsichtbaren Wällen, die Rok beschützten, aber jetzt befand er sich irgendwo auf der Welt und versteckte sich. Wäre Ged in dieser Nacht gestorben, dann hätte der Schatten versucht, die Tür zu finden, die Ged geöffnet hatte, und wäre ihm ins Totenreich gefolgt oder dorthin, wo er ursprünglich herkam; und darum wartete der Gebieter am Rokkogel. Aber Ged lebte. Er wurde in der Heilklinik zu Bett getragen, und dort sah der Meister der Kräuterkunde nach seinen Verletzungen an Gesicht, Hals und Schultern. Es waren tiefe, schwere und bösartige Wunden. Schwarzes Blut quoll aus ihnen, und kein Bannspruch konnte es stillen, selbst durch die in Spinnweben gehüllten Perriotblätter sickerte es. Blind und stumm lag Ged auf seinem Lager, er glühte im Fieber und lag wie ein Stock in langsam brennendem Feuer. Kein Zauberspruch konnte das, was in ihm brannte, kühlen. Nicht weit von ihm, im offenen Innenhof, wo der Brunnen plätscherte, lag der Erzmagier. Auch er regte kein Glied, aber nicht Hitze, sondern Kälte durchzog seine Glieder. Nur seine Augen bewegten sich und sahen das im Mond glitzernde Wasser und die hellbeschienenen, leise rauschenden Blätter des Baumes. Die ihn Umstehenden sagten keine magischen Formeln und wirkten keine heilenden Zauber. Ab und zu sprachen sie leise untereinander und wandten sich dann wieder ihrem Herrn zu und schauten ihn an. Ruhig lag er vor ihnen, seine gebogene Nase, seine hohe Stirn und sein weißes Haar nahmen im bleichen Mondlicht die Farbe von Bein an. Um der ungezügelten Zauberformel Einhalt zu gebieten und um den Schatten von Ged wegzutreiben, hatte Nemmerle seine ganze Macht aufbieten müssen, und mit ihr verließen ihn seine
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körperlichen Kräfte. Er lag im Sterben. Aber das Sterben eines großen Magiers, der oft in seinem Leben am dürren, steilen Abhang des Totenreiches entlanggehen mußte, war eine seltsame Sache: der Sterbende beschreitet diesen Weg nicht blind, sondern er geht sicheren Fußes, denn er kennt sich aus. Und als Nemmerle hinaufschaute in die Blätter des Baumes, wußten die, die ihn umstanden, nicht, ob er die im Morgengrauen verblassenden Sterne der Sommernacht sah, oder ob er die anderen Sterne sah, die ewiglich hinter den Hügeln bleiben, die keine Morgenröte kennen. Der Rabe von Osskil, sein Freund seit dreißig Jahren, war verschwunden. Niemand hatte gesehen, wohin er geflogen war. »Er fliegt ihm voraus«, sagte der Meister der Formgebung leise zu denen, die mit ihm wachten. Der kommende Tag war warm und klar. Stille lag über dem Großhaus und den Straßen von Thwil. Niemand sprach laut. Gegen Mittag begannen die Glocken im Turm, in dem der Meister der Lieder wohnte, dunkel und schwer zu läuten. Am nächsten Tag versammelten sich die neun Meister von Rok im dunklen Schatten des Immanenten Haines. Selbst dort umgaben sie sich noch mit neun unsichtbaren Wällen, damit kein Mensch und keine Macht zu ihnen sprechen oder sie hören konnte, während sie unter all den Magiern, die im Erdseegebiet tätig waren, denjenigen erwählten, der ihr neuer Erzmagier werden würde. Genscher von Weg wurde gewählt. Ein Schiff wurde bestellt, das sofort über die Innensee zur Insel Weg segelte, um den neuen Erzmagier nach Rok zu bringen. Meister Windschlüssel stand im Heck des Schiffes. Er rief einen Zauberwind herbei, der die Segel rasch füllte und das Boot über die Wellen dahinjagte. Von alldem wußte Ged nichts. Vier heiße Sommerwochen lang lag er blind, taub und stumm auf seinem Krankenlager, nur manchmal stöhnte er und schrie wie ein Tier. Aber schließlich, unter der geduldigen Pflege des Kräuterkundigen, begannen sich seine Wunden zu schließen, und das Fieber ließ nach. Und ganz allmählich schien es auch, als höre er wieder, nur reden tat er nicht. An einem sonnigen Herbsttag öffnete der Meister die Läden des Raumes, in dem Ged lag. Seit der Finsternis auf
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dem Rokkogel war er von Dunkelheit umgeben gewesen. Jetzt fiel Tageslicht in sein Zimmer, und er sah die Sonne scheinen. Er barg sein verletztes Gesicht in den Händen und weinte. Selbst als der Winter kam, konnte er nur unter Stammeln reden. Der Meister behielt ihn bei sich in der Heilklinik und versuchte, Geds Körper und Geist langsam wieder erstarken zu lassen. Erst im Frühjahr darauf entließ er ihn und trug ihm auf, zuallererst zu dem Erzmagier zu gehen und ihm den Treueeid zu leisten. Dieser Pflicht hatte er nicht mit den andern nachkommen können, damals, als Genscher nach Rok kam. Keiner seiner Mitschüler hatte ihn während der langen Monate seiner Krankheit besuchen dürfen. Als er jetzt an einigen Schülern vorbeikam, tuschelten sie sich gegenseitig zu: »Wer ist das?« Er war behende, gewandt und stark gewesen, jetzt ging er gekrümmt vor Schmerzen, zögernd und langsam und hielt sein Gesicht, das auf der linken Seite von tiefen weißen Narben bedeckt war, gesenkt. Er vermied die, die ihn kannten, und die, die ihn nicht kannten, und ging geradewegs zum Erzmagier. Dort, wo ihn einst Nemmerle erwartet hatte, stand nun Genscher und wartete auf ihn. Wie der frühere Erzmagier, so trug auch Genscher einen weißen Umhang; aber wie bei den meisten Leute auf Weg und in den Ostbereichen war seine Haut schwarzbraun, und er blickte Ged unter dunklen, dichten Brauen hervor an. Ged kniete vor ihm nieder, bereit, ihm Gehorsam und Treue zu schwören. Genscher stand eine Weile, ohne zu reden. »Ich weiß, was du getan hast«, sagte er schließlich, »aber dich selbst kenne ich nicht. Ich kann deinen Eid nicht annehmen.« Ged stand wieder auf und hielt sich am Stamm des jungen Baumes fest, um nicht umzufallen. Er suchte lange nach Worten: »Muß ich Rok verlassen?« »Willst du Rok verlassen?« »Nein.« »Was willst du?« »Hierbleiben... lernen... das Böse zu entkräften...«
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»Selbst Nemmerle konnte das nicht tun. Nein, ich hätte dich nicht weggehen lassen. Schutzlos wärest du, denn nur die Macht der Meister und die Befestigungen dieser Insel hier, die jeder Ausgeburt des Bösen den Zutritt verweigern, gewähren dir Sicherheit. Würdest du uns jetzt verlassen, das Ding, das du freigesetzt hast, würde dich finden und sich in dir festsetzen und dich besitzen. Kein Mensch wärest du mehr, sondern ein Cebbeth, eine Marionette, die williges Werkzeug des Bösen wäre, das du ans Licht des Tages gebracht hast. Hier mußt du bleiben, bis du stark und weise genug bist, dich selbst dagegen zu wehren — wenn es je sein muß. Selbst jetzt wartet es auf dich. Ich bin ganz sicher, daß es auf dich wartet. Hast du es seit jener Nacht wiedergesehen?« »In Träumen nur.« Ged verstummte. Dann, mit Schmerz und Scham in seiner Stimme, fügte er hinzu: »Ehrwürdiger Herr Genscher, ich weiß nicht, was es war — das Ding, das der Bann freigesetzt hat und das mich packte.« »Auch ich weiß es nicht. Es hat keinen Namen. Eine große Macht liegt in dir. Sie ist dir angeboren. Diese Macht hast du mißbraucht, du hast einen Zauber gewirkt, für den du noch nicht reif genug warst, denn du hast noch nicht begriffen, wie dieser Zauber das Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkel, zwischen Leben und Tod, zwischen Gut und Böse stören kann. Und du hast es getan, weil dich Stolz und Haß dazu trieben. Wunderst du dich über das Unheil, das es nach sich zog? Du hast den Geist einer Toten zu dir gerufen, und mit ihm kam ein Etwas von den Mächten, die außerhalb des Lebens bestehen. Es kam ungerufen von dort her, wo die Dinge keinen Namen haben. Aus Bösem bestehend, ist sein Ziel, Böses durch dich zu wirken. Die Macht, die du besitzt, es zu dir zu rufen, gibt ihm gleichzeitig Macht über dich! Du bist mit ihm verbunden. Es ist der Schatten deiner Arroganz, deiner Unwissenheit, der Schatten, den du wirfst. Besitzt ein Schatten einen Namen?« Ged fühlte sich elend und erschöpft. Endlich sagte er: »Es wäre besser gewesen, ich wäre gestorben.« »Wer gibt dir das Recht, darüber zu urteilen, du, für den Nemmerle sein Leben ließ? — Hier bist du sicher. Hier kannst du wohnen und
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deine Studien fortsetzen. Ich habe gehört, daß du ein guter Schüler warst. Geh und tu deine Arbeit. Tu sie gut. Mehr kannst du nicht verlangen.« Genscher verstummte und war plötzlich verschwunden, wie es unter Magiern üblich ist. Ged sah dem Wasserstrahl des Brunnens zu, wie er im Sonnenschein aufstieg und wieder hinunterfiel, und er lauschte seinen Worten. Er dachte an Nemmerle. Hier hatte er einst gestanden, und es war ihm gewesen, als sei er ein von der Sonne gesprochenes Wort. Jetzt hatte die Dunkelheit zu ihm gesprochen, ein Wort, das nie mehr rückgängig gemacht werden konnte. Er verließ den Hof und kehrte in sein altes Zimmer im Südturm zurück, das sie ihm freigelassen hatten. Dort blieb er allein. Als der Gong zum Essen rief, ging er hinunter und setzte sich ganz unten an den Langtisch. Er sprach kaum zu den andern und hielt sein Gesicht gesenkt, selbst die Jungen, die ihn freundlichst begrüßten, blickte er kaum an. Nach ein paar Tagen ließ man ihn in Ruhe. Er wollte allein sein, denn er fürchtete das Unheil, das er durch Wort oder Tat anrichten konnte. Vetsch und Jasper waren beide nicht anwesend, und er fragte nicht nach ihnen. Die Jungen, die er früher angeführt hatte und auf die er herabgeblickt hatte, waren ihm jetzt voraus wegen der Monate, die er auf dem Krankenlager verloren hatte. Er mußte jetzt mit Burschen zusammen lernen, die jünger waren als er. Seine Leistungen waren auch nicht mehr hervorragend, denn die Worte der Sprüche und Formeln, selbst die des einfachsten Illusionszaubers, kamen nur stockend über seine Lippen, und seine Hände waren ungeschickt. Im Herbst mußte er wieder zum Einsamen Turm gehen und mit dem Meister Namengeber studieren. Das Studium, dem er einst mit Widerwillen entgegengesehen hatte, begrüßte er jetzt. Dort würde er die Einsamkeit und Stille finden, nach der ihn jetzt verlangte. Auch das endlose Auswendiglernen war ihm nun recht, es war ihm jedenfalls lieber als das Wirken von Zaubereien, welche die Macht, die er noch in sich schlummern fühlte, wieder wachrufen könnten. Am Abend vor seinem Abmarsch zum Turm kam ein Besucher in braunem Reiseumhang mit eisenbeschlagenem Eichenstab zu ihm. Ged erhob sich vor dem Abzeichen des Zauberers.
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»Sperber...« Beim Klang der Stimme hob Ged den Blick. Vetsch stand vor ihm, kräftig und solid wie eh, sein dunkles, offenes Gesicht sah gereifter aus, aber sein Lachen war unverändert. Auf seiner Schulter hockte ein kleines Tier mit getigertem Fell und blanken Augen. »Ich behielt ihn, während du krank warst, und jetzt tutʹs mir leid, mich von ihm zu trennen. Aber es tut mir noch mehr leid, dich zu verlassen, Sperber. Ich gehe nach Hause. Hier, Hög! Geh wieder zu deinem wahren Herrn!« Vetsch streichelte den Otak und setzte ihn auf den Boden. Dieser sprang auf Geds Matratze und begann, sich mit seiner trockenen, braunen Zunge, die wie ein kleines Blatt aussah, zu putzen. Vetsch lachte, aber Ged konnte nicht mit einstimmen. Er beugte sich hinunter, um sein Gesicht zu verbergen, und streichelte den Otak. »Ich habe geglaubt, du würdest nie mehr zu mir kommen, Vetsch«, sagte er. Er hatte keinen Vorwurf beabsichtigt, aber Vetsch antwortete: »Ich konnte nicht kommen. Der Kräutermeister hat mich nicht zu dir gelassen, und den Winter über war ich selbst eingeschlossen beim Meister vom Immanenten Hain. Er ließ mich erst wieder heraus, nachdem ich mir den Stab verdient hatte. Hör zu: Wenn du hier fertig bist und frei wirst, dann komm in den Osten. Ich warte auf dich. In den kleinen Städten dort läßt sichʹs gut sein. Zauberer genießen ein hohes Ansehen.« »Frei...«, sagte Ged leise und versuchte zu lächeln, während er leicht die Achseln zuckte. Vetsch schaute ihn an. Sein Blick war nicht mehr ganz so wie früher, er war bestimmt nicht weniger liebevoll, aber jetzt lag etwas Zauberisches darin. Seine Stimme klang herzlich: »Du wirst nicht dein ganzes Leben lang an Rok gebunden sein.« »Weißt du... ich habe gedacht, daß ich vielleicht bei dem Meister im Turm Forschung treiben sollte, wie die, die in den Büchern und Sternen nach verlorenen Namen suchen. Wenn ich das tue, weißt du, dann... dann kann ich keinen Schaden mehr anrichten, viel Gutes natürlich auch nicht...« »Vielleicht hast du recht«, sagte Vetsch. »Ich bin kein Prophet, aber ich sehe in deiner Zukunft keine Zimmer voll von Büchern, wohl aber das
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weite Meer und feuerspeiende Drachen und die Türme vieler Städte, so wie es nur ein Falke sieht, der hoch und weit fliegt.« »Und hinter mir — sag, was siehst du hinter mir?« fragte Ged und erhob sich bei diesen Worten, worauf das Werlicht, das zwischen ihnen über ihren Köpfen schwebte, seinen Schatten gegen Boden und Wand warf. Dann wandte er sich zur Seite und stammelte: »Erzähl mir von dir, wohin du gehst und was du vorhast.« »Ich gehe heim zu meinen Brüdern und zu meiner Schwester, von der ich dir erzählte. Als ich fortging, war sie noch ein kleines Kind, jetzt wird man ihr bald ihren Namen geben — ich kann es kaum glauben! Irgendwo auf einer der kleinen Inseln werde ich dann als Zauberer arbeiten. Oh, Ged, ich würde gerne hierbleiben und mit dir schwätzen, aber ich kann nicht, mein Schiff segelt heute abend, und die Ebbe hat schon begonnen. Sperber, wenn du je in den Osten kommst, besuche mich. Und wenn du je in Bedrängnis gerätst, laß es mich wissen, ruf mich bei meinem Namen: Estarriol.« Bei diesen Worten hob Ged sein vernarbtes Gesicht, und ihre Augen trafen sich. »Estarriol«, sagte er, »ich heiße Ged.« Dann verabschiedeten sie sich voneinander, und Vetsch ging den steinernen Gang hinunter und verließ Rok. Ged blieb eine Weile bewegungslos sitzen, wie einer, der eine Botschaft empfing, die so überwältigend war, daß er sie nicht auf einmal fassen konnte. Das Wissen von Vetschens wahrem Namen war ein großes Geschenk. Der wahre Name eines Menschen ist nur ihm und seinem Namengeber bekannt. Später vielleicht sagt er ihn seinem Bruder, seiner Frau oder einem Freund, aber selbst diese wenigen werden nie seinen wahren Namen nennen, wenn ein Dritter anwesend ist. Sind andere zugegen, so werden sie, wie alle Welt es tut, ihn bei seinem Ruf- oder Spitznamen nennen — Namen wie Sperber, Vetsch oder Ogion, was übrigens »Tannenzapfen« bedeutet. Wenn der einfache Mensch vorsichtig sein muß und seinen Namen nur wenigen Vertrauten mitteilen kann, um wieviel vorsichtiger muß der Zauberkundige sein, der viel gefährlicher und selbst viel gefährdeter ist. Derjenige, der den wahren Namen eines Men-
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schen kennt, hält dessen Leben in seiner Hand. Daher empfing Ged, der den Glauben an sich selbst verloren hatte, von Vetsch eine Gabe, die nur ein Freund geben konnte: den Beweis unerschütterlichen und nicht zu erschütternden Vertrauens. Ged setzte sich auf seine Matratze und ließ die Werlichtkugel verglimmen, die im letzten Verzischen einen schwachen Geruch von Sumpfgas von sich gab. Er streichelte den Otak, der sich gemütlich räkelte und auf seinen Knien so selbstverständlich einschlief, als wäre er nie woanders gewesen. Im Großhaus war es ruhig. Es fiel Ged ein, daß heute der Vorabend seiner eigenen Aufnahme war. Vier Jahre waren verstrichen, seit Ogion ihm seinen Namen gegeben hatte. Er erinnerte sich an das eiskalte Bergquellwasser, durch das er damals nackt und namenlos gewatet war. Auch die anderen, hellschimmernden Flußbecken der Ar, in denen er so oft geschwommen war, fielen ihm wieder ein; er dachte an Zehnellern, das Dorf, das im Schatten des mächtigen, steilansteigenden Bergwaldes lag, an die morgendlichen Schatten auf der staubigen Dorfstraße, an das Schmiedefeuer an einem Winternachmittag, das vom Blasebalg angetrieben aus der Schmelzgrube in die Höhe loderte, an die von Kräutern duftende Hütte des Zauberweibes, in der die Luft schwer war von Rauch und Hexereien. Er hatte schon lange nicht mehr an diese Dinge gedacht. Jetzt fielen sie ihm wieder ein, heute, am Vorabend seines siebzehnten Geburtstages. In Gedanken durchmaß er die Jahre und Orte seines kurzen, gebrochenen Lebens, und sie formten eine Einheit. Endlich, nach all diesen langen, bitteren, verschwendeten Jahren wußte er, was er schon einmal gewußt hatte — wer er war und wo er war. Aber wohin er zu gehen hatte in den Jahren, die vor ihm lagen, das konnte er nicht ermessen; und er fürchtete sich, es zu sehen. Am nächsten Morgen begann er seine Wanderung über die Insel. Der Otak ritt auf seiner Schulter wie damals, als er vom Turm zurückkam. Dieses Mal dauerte es nicht zwei, sondern drei Tage, bis er den Einsamen Turm erreichte. Er war todmüde, als er ihn endlich erblickte, dort über der zischenden, Gischt speienden Brandung des nördlichen Vorgebirges.
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Innen war er so dunkel und kalt, wie er es in Erinnerung hatte. Kurremkarmerruk saß an seinem hohen Pult und schrieb an langen Namenslisten. Als Ged eintrat, blickte er kurz auf, und ohne Willkommensgruß, so als wäre Ged nie fortgewesen, sagte er: »Geh ins Bett. Müde Leute sind dumme Leute. Morgen kannst du mit dem Buch von den Handlungen der Urheber anfangen und die Namen darin lernen.« Als der Winter vorbei war, kehrte er ins Großhaus zurück. Er wurde nun zum Zauberer befördert, und danach nahm der Erzmagier Genscher seinen Treueeid entgegen. Jetzt durfte er die hohen Künste und Zaubereien lernen, die über Illusionen hinaus in die Welt der wahren Magie einführen. Er lernte, was davon nötig war, um sich seinen Zauberstab zu verdienen. Die Schwierigkeiten, die er anfänglich im Sprechen von Zaubersprüchen gehabt hatte, ließen in den kommenden Monaten nach, auch seine Hände wurden wieder beweglicher beim Wirken von Sprüchen und Formeln. Aber seine ursprüngliche Schnelligkeit beim Lernen kehrte nie wieder zurück. Der Schrecken hatte ihm eine harte, nachhaltige Lektion erteilt. Selbst den mächtigen und höchst gefährlichen Formeln des Gestaltens und Fertigens jedoch folgten keine bedenklichen Zeichen oder Begegnungen. Manchmal wiegte er sich in der Hoffnung, daß der Schatten, den er freigesetzt hatte, geschwächt war oder irgendwie aus der Welt geflohen sei, denn er ließ ihn ganz in Ruhe, selbst seine Träume waren nicht gestört. Tief im Herzen jedoch wußte er, daß dies falsche Hoffnungen waren. Ged fragte die Meister aus und forschte in den alten Büchern der Zauberkunde nach einem Wesen wie diesem Schatten, den er freigesetzt hatte, aber er fand sehr wenig darüber. Nirgends fand er eine Beschreibung eines solchen Dinges, nirgends wurde es direkt erwähnt. Hie und da fand er in den alten Büchern Andeutungen von Wesen, die dem Schattenungeheuer ähnlich sein konnten. Es handelte sich nicht um den Geist eines Verstorbenen, und es gehörte auch nicht zu den Urmächten der Erde, aber irgendwie schien es doch mit ihnen verbunden zu sein. In den Drachengeschichten, die Ged sehr sorgfältig las, stieß er auf eine Erzählung über einen uralten Drachenfürsten, der unter den Einfluß einer der Urmächte kam, eines spre-
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chenden Steines, der sich hoch oben im Norden befand. »Der Stein gebot ihm«, so hieß es im Buch, »den Geist eines Toten aus dem Totenreich zu rufen. Seine Zauberkraft aber war nicht mehr lauter, denn er war dem Steine hörig, und mit dem Geiste des Toten erhob sich ein anderes, das nicht gerufen wurde, und dies andere zerstörte sein Wesen und behielt seine Gestalt, und über die Menschen brachte es großes Unheil und Leid.« Aber das Buch beschrieb nicht, was für ein Ding es war, noch wie die Geschichte endete. Auch den Meistern war unbekannt, woher solch ein Ding kommen konnte. Von Bereichen außerhalb des Lebens, hatte der Erzmagier gesagt; von der falschen Seite der Welt, sagte der Meister der Verwandlungen; und der Meister des Gebietens sagte: »Ich weiß es nicht.« Er war oft zu Ged gekommen und saß an seinem Krankenlager. Sein Blick war ernst und streng wie immer, aber Ged wußte nun, daß eine tiefe Anteilnahme dahinter verborgen war, und er war diesem Meister sehr zugetan. »Ich weiß es nicht. Das aber kann ich über dieses Ding sagen: nur eine große Macht konnte es rufen, vielleicht nur eine Macht — nur eine Stimme — deine Stimme. Was dies wiederum bedeutet, das weiß ich auch nicht. Du wirst es herausfinden. Du mußt es herausfinden oder sterben, oder noch schlimmer als sterben...« Seine Stimme war gütig, und seine Augen ruhten ernst auf Ged. »Als du jung warst, da dachtest du, daß ein Magier alles tun kann. Auch ich dachte einmal so. Wir alle dachten einmal so. Die Wahrheit sieht aber ganz anders aus. Je mehr die Macht eines Menschen wächst, je weiter sein Wissen reicht, desto enger wird der Pfad, auf dem er wandeln kann. Bis er schließlich nichts mehr wählt, sondern ausschließlich das tut, was er tun muß ...« Nach seinem achtzehnten Geburtstag wurde Ged vom Erzmagier zu dem Meister der Formgebung gesandt. Was dort im Immanenten Hain gelehrt wird, bleibt meist verborgen. Zauber wird dort nicht gewirkt, der Ort selbst ist verzaubert. Manchmal sind die Bäume sichtbar, manchmal sind sie unsichtbar. Sie befinden sich auch nicht immer an der gleichen Stelle. Es wird behauptet, daß die Bäume des Haines selbst weise sind und daß der Meister des Gestaltens seine hohe Magie dort inmitten des Haines lernt. Sollten die Bäume je sterben, so würde auch seine Weisheit ver-
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kümmern. Dann würde das Meer wieder aufsteigen und die Inseln der Erdsee verschlingen, die Segoy in vormythischen Zeiten aus der Tiefe hatte aufsteigen lassen, den Menschen und Drachen zur Wohnstätte. Aber all dies sind Gerüchte, und kein Zauberer wird darüber sprechen. So vergingen die Monate, und endlich, an einem Frühlingstag, kehrte Ged zum Großhaus zurück. Er hatte keine Ahnung, was nun von ihm verlangt werden würde. An der Tür, die sich auf den Pfad öffnet, der über die Felder zum Rokkogel führt, traf er auf einen alten Mann, der dort auf ihn gewartet hatte. Ged erkannte ihn zunächst nicht, aber nachdem er sich etwas besonnen hatte, fiel ihm ein, daß ihn der alte Mann damals vor fünf Jahren in die Schule eingelassen hatte. Der alte Mann begrüßte ihn freundlich lächelnd mit seinem Namen und fragte: »Kennst du mich?« Ged fiel ein, wie er schon öfters über die Meister nachgegrübelt hatte, die man die Neun nennt, von denen er aber nur acht kannte: Windschlüssel, Hand, Sänger, Gebieter, Formgeber, Verwandler und Kräutermeister. Er hatte angenommen, daß der Erzmagier der neunte war, aber wenn ein neuer Erzmagier gewählt wird, dann treten neun Meister zusammen, um zu beraten. »Ich glaube, Sie sind der Meister Türhüter«, sagte Ged. »Ja, der bin ich. Ged, du wurdest in Rok eingelassen, weil du deinen Namen genannt hast. Nenne nun meinen, und du wirst von der Schule entlassen werden.« So sprach der alte Mann und lächelte. Ged starrte ihn sprachlos an. Selbstverständlich kannte er Hunderte von Mitteln und Wegen, um die Namen von Menschen und Dingen herauszufinden. Dies Wissen war ein Grundbestandteil seines Studiums gewesen, denn wenig Magie käme zustande, wenn es daran mangeln würde. Aber den Namen eines Magiers oder Meisters herauszufinden, war wieder eine ganz andere Sache. Er war schwerer herauszufinden als ein Hering im Meer und besser beschützt als die Höhle eines Drachen. Der Versuch, den Namen durch einen Trick herauszufinden, würde durch einen stärkeren Trick
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zunichte gemacht werden, verblümte Anfragen würden genauso verblümt abgebogen werden, und der listige Gebrauch magischer Formeln würde sich katastrophal auf den Handhabenden auswirken. »Meister, Ihre Tür ist sehr schmal«, sagte Ged schließlich. »Ich glaube, ich muß hier draußen auf dem Acker sitzen und fasten, bis ich dünn genug bin, um durch die Tür zu schlüpfen.« »Setz dich hin, so lang du willst«, antwortete der Türhüter lächelnd. Ged entfernte sich ein paar Schritte und setzte sich unter eine Erle am Thwilbach. Er ließ seinen Otak im Wasser planschen und im Schlamm des Ufers nach Flußkrebsen jagen. Die Sonne strahlte hell und ging spät unter, denn der Frühling war schon weit fortgeschritten. Laternen und Werlichter brannten hinter den Fenstern des Großhauses, unten am Berg füllten sich die Straßen von Thwil mit Dunkelheit. Eulen stießen ihre heiseren Schreie über den Dächern aus. Fledermäuse flitzten über den Fluß, und noch immer saß Ged da und zerbrach sich den Kopf, wie er den Namen des Türhüters herausfinden könne. Er erwog Gewalt, List und Zauberei. Aber je länger er grübelte, desto sicherer wurde er, daß es unter all den Künsten, die er in den vergangenen fünf Jahren auf Rok gelernt hatte, keine gab, die einem so mächtigen Magier solch ein Geheimnis entreißen konnte. Er streckte sich auf der Wiese aus und schlief unter den Sternen ein, während der Otak es sich in seiner Tasche gemütlich machte. Nach Sonnenaufgang, immer noch fastend, ging er zur Tür des Hauses und klopfte an. Der Türhüter öffnete. »Meister«, sagte Ged, »ich kann Ihren Namen nicht mit Gewalt herausfinden, denn ich bin zu schwach dazu, ich kann ihn auch nicht mit Zauberei herausfinden, denn ich bin nicht weise genug. Ich bin daher gewillt, hierzubleiben, um zu lernen oder Ihnen zu dienen, wie Sie wünschen; außer Sie sind bereit, mir eine Frage zu beantworten.« »Frage!« »Meister, wie heißen Sie?« Der Türhüter lächelte und nannte seinen Namen, und ihn wiederholend betrat Ged zum letzten Mal das Großhaus.
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Als er es verließ, trug er einen schweren, dunkelblauen Umhang, die Gabe des Stadtkreises von Untertorning, seines Reiseziels, denn dort brauchte man einen Zauberer. In der Hand hielt er einen bronzebeschlagenen Stab aus Eibenholz, so groß wie er selbst. Der Türhüter bot ihm den Abschiedsgruß und öffnete die Hintertür des Großhauses für ihn. Es war die Tür aus poliertem Horn und Elfenbein, und Ged schritt die Straße von Thwil hinunter zu dem Schiff, das in der hellen Morgensonne im Hafen auf ihn wartete.
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DER DRACHE VON PENDOR
WESTLICH VON ROK, zwischen Holsk und Ensmer, den zwei großen Ländern, liegen die Neunzig Inseln. Von Rok kommend, stößt man zuerst auf Serd, während Seppisch, am weitesten von Rok entfernt, fast schon im peinischen Meer liegt. Ob es wirklich neunzig Inseln sind, blieb bis heute eine Streitfrage. Zählt man nur die Inseln mit Süßwasserquellen, dann kommt man nur auf siebzig; zählt man aber jeden Fels, der übers Wasser ragt, dann kommt man auf weit über hundert. Rechnet man mit der Ebbe und Flut, dann ändert sich die Zahl wiederum, denn schmal sind die Wasserstraßen zwischen den Inseln, und der Gezeitenwechsel, der sich im Innenmeer nur schwach auswirkt, ist hier draußen viel ungezügelter und mächtiger, so daß es Stellen gibt, wo bei Flut drei Inseln liegen, während bei Ebbe eine große Insel sichtbar wird. Aber trotz all der Gefahren, die der Gezeitenwechsel in sich birgt, hat jedes Kind, das Laufen kann, sein eigenes kleines Ruderboot. Hausfrauen paddeln zur Nachbarin auf der anderen Insel, um eine Tasse Kräutertee mit ihr zu trinken, und Hausierer preisen ihre Ware im Rhythmus des Ruderschlags an. Alle Straßen dort bestehen aus Salzwasser, und ab und zu wird die Durchfahrt von Netzen blockiert, die von Haus zu Haus gespannt sind, um die kleinen Fische, die sie Turbies nennen, zu fangen. Das aus den Turbies gewonnene Öl stellt den Reichtum der Neunzig Inseln dar. Brücken gibt es wenige und große Städte überhaupt nicht. Auf jeder Insel drängen sich Bauernhäuser und Häuser, die den Fischern gehören. Zehn bis zwanzig Inseln sind jeweils zu Inselkreisstädten zusammengeschlossen. Unter diesen ist Untertorning die westlichste. Von dort aus sieht man nicht das Innenmeer, sondern den weiten Ozean,
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den einsamsten Teil des Inselreiches, in dem nur Pendor, die Dracheninsel, liegt; und dahinter erstreckt sich das endlose, öde Meer des Westens. Das Haus für den neuen Zauberer der Kreisstadt war gerichtet. Es stand auf einem Hügel, inmitten grüner Gerstenfelder, und eine Gruppe von Perdickbäumen, die im Schmuck ihrer roten Blüten standen, schützte es vor dem Westwind. Unter der Tür stehend, sah man die Strohdächer anderer Häuser, Gärten und Lauben und andere Inseln, wo es wiederum Häuser mit Strohdächern, Felder und Hügel gab. Dazwischen wanden sich zahlreiche helle Meeresstraßen. Das Haus selbst war ganz einfach, ohne Fenster, mit einem Lehmboden, aber besser als das Haus, in dem Ged geboren war. Die Inselleute von Torning schauten ehrfürchtig auf den Zauberer von Rok und entschuldigten sich für die Armseligkeit der Behausung. »Bei uns gibt es keine Steine zum Bauen«, sagte der eine. »Keiner ist reich, aber verhungern tut niemand«, sagte ein anderer, und ein dritter fügte hinzu: »Es ist wenigstens trocken, denn ich habe selbst für das Strohdach gesorgt, Herr.« Kein Palast hätte Ged besser gefallen können. Er dankte den Vertretern der Gemeinde für das Haus so offen und ehrlich, daß die achtzehn Männer, als sie in ihren eigenen Booten nach Hause ruderten, den Fischern und Hausfrauen erzählten, wie der neue Zauberer ein gar ungewöhnlicher junger Mann sei, wortkarg, mit verschlossenen Zügen, aber daß er das Herz auf dem rechten Fleck habe. Es mag manchem scheinen, daß wenig Grund vorlag, auf diese erste offizielle Stelle stolz zu sein. Gewöhnlich gingen die Zauberer, die auf der Schule in Rok studiert hatten, in die Städte oder auf die Schlösser, um den Fürsten dort zu dienen, die sie sehr schätzten. Wäre alles normal gewesen, dann hätte man in Untertorning auch nur ein Zauberweib oder einen einfachen Zauberer gehabt, die auch völlig genügt hätten, um Fischnetze zu besprechen und neue Boote gegen Unheil zu feien, oder Tiere zu heilen und Menschen von ihren Gebrechen zu befreien. Während der letzten Jahre jedoch hatte ein Drache Junge geworfen, man sprach von neun kleinen Drachen, die in den Türmen der ehemaligen Seefürsten von Pendor hausten und auf ihren schuppigen Bäuchen die Marmortreppen auf und ab rutschten und sich durch die Portale
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zwängten. Es war zu erwarten, daß sie eines Tages, wenn sie voll ausgewachsen waren, auf Nahrungssuche fliegen würden, denn die verwüstete Insel bot wenig Futter. Vier von ihnen, so hörte man bereits, wurden über der südwestlichen Küste von Hosk gesichtet. Sie landeten zwar nirgends, aber man war sicher, daß sie Schafherden, Scheunen und Dörfer ausspionierten. Der Hunger eines Drachen ist langsam im Kommen, aber wenn er geweckt ist, dann nimmt er selten ab. Aus diesem Grund baten die Inselleute von Untertorning, daß man ihnen einen Zauberer von Rok schicke, der sie vor dem Unheil, das ihnen hinter dem westlichen Horizont drohte, schützen konnte. Der Erzmagier hatte ihre Bitte erwogen und entschieden, daß ihre Furcht nicht grundlos war. »Bequemlichkeit findest du dort nicht«, hatte er zu Ged gesagt, als er ihn zum Zauberer machte, »auch keinen Ruhm und keinen Reichtum, vielleicht nicht einmal Gefahr. Willst du trotzdem gehen?« »Ja, ich will gehen«, hatte Ged geantwortet, und nicht nur der Gehorsam bewog ihn dazu. Seit der schicksalhaften Nacht auf dem Rokkogel stieß ihn alles, was mit Ruhm oder Schaustücken zu tun hatte, genauso stark ab, wie es ihn früher angezogen hatte. Immerfort begleiteten ihn Zweifel an seiner Stärke, und er fürchtete sich vor einer Probe seiner Macht. Doch die Gerüchte über Drachen übten eine eigenartige Anziehungskraft auf ihn aus. Auf Gont gab es seit Hunderten von Jahren keine Drachen mehr, und keinem Drachen würde es einfallen, in Riech-, Sicht- oder Bannweite von Rok zu fliegen, so daß man sie selbst dort nur aus Büchern kennt. Kurzum, es waren Wesen, über die es viele Lieder gab, aber die keiner je gesehen hatte. Alles, was er in der Schule über Drachen finden konnte, hatte Ged zusammengetragen, aber es ist doch ein Unterschied, ob man über Drachen liest oder ob man sie wirklich sieht. Die Gelegenheit lag nun zum Greifen nahe vor ihm, und er antwortete mit Überzeugung: »Ja, ich will gehen.« Der Erzmagier hatte genickt, aber sein Blick war umwölkt. »Sag mir«, sagte er schließlich, »hast du Angst, Rok zu verlassen? Oder freust du dich aufs Fortgehen?« »Beides, ehrwürdiger Herr.«
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Wiederum nickte Genscher. »Ich weiß nicht, ob ich richtig handle, wenn ich dich aus der Sicherheit hier fortlasse«, sagte er mit kaum hörbarer Stimme. »Ich kann deinen Weg nicht erkennen. Alles ist in Dunkelheit gehüllt. Und im Norden ist eine Macht, die es darauf abgesehen hat, dich zu zerstören, aber was es ist und ob es in deiner Vergangenheit oder in deiner Zukunft liegt, kann ich nicht sagen. Alles liegt unter einem Schatten. Als die Leute von Untertorning mit ihrer Bitte zu mir kamen, dachte ich sofort an dich, denn dort, so schien mir, an diesem entlegenen Ort, würdest du sicher sein und Kräfte sammeln können. Aber ich weiß im Grunde genommen nicht, ob du überhaupt irgendwo Sicherheit finden kannst. Ich weiß auch nicht, wohin dich dein Weg führen wird. Ich will dich nicht hinaus in die Dunkelheit schicken...« Kein Schatten schien auf dem kleinen Haus unter den blühenden Bäumen zu liegen, als Ged es zum ersten Mal wahrnahm. Friedlich lebte er dort, oft ließ er seinen Blick über den westlichen Horizont schweifen, und seine Zaubererohren lauschten angestrengt auf das Rauschen schuppiger Flügel. Aber alles blieb ruhig, kein Drache ließ sich sehen. Manchmal angelte Ged von seiner Anlegestelle aus, oder er arbeitete in seinem kleinen Gemüsegarten. Manchmal brütete er über einer Seite oder einer Zeile oder einem einzigen Wort in den alten Sagen- und Legendenbüchern, die er von Rok mitgebracht hatte. Er saß dann gewöhnlich im Schatten der Perdickbäume und las, während der Otak neben ihm döste oder in dem hohen Gras zwischen Butterblumen und Margeriten auf Mäusejagd ging. Wenn es die Einwohner von Untertorning wünschten, so half er ihnen als Heilkundiger oder als Wettermacher. Nie fiel es ihm ein, daß es unter der Würde eines Zauberers sein könnte, solch einfache Künste zu wirken, denn er war als Kind eines Zauberweibes unter ärmeren Leuten als diesen aufgewachsen. Es kam nicht häufig vor, daß sie ihn um Hilfe baten, denn teilweise hielt sie die Ehrfurcht vor dem Zauberer von der Insel der Weisen zurück, teilweise war es Furcht vor seinem wortkargen Wesen und seinem vernarbten Gesicht. Es umgab ihn ein gewisses Etwas, das den Menschen Scheu einflößte. Dennoch fand er einen Freund unter ihnen, und zwar einen Schiffsbauer, der auf dem benachbarten Eiland, östlich von Ged, wohnte.
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Er hieß Peckvarry. Sie lernten sich kennen, als Ged an Peckvarrys Landesteg anhielt und ihm zuschaute, wie er den Mast an einem kleinen Segelboot festmachte. Peckvarry lachte und sagte zu dem Zauberer: »Ein Monat ist vorbei, und meine Arbeit ist fast fertig. Sie hätten dies wahrscheinlich in einer Minute und mit einem Wort geschafft, nicht wahr?« »Schon möglich«, meinte Ged. »Aber es würde in der nächsten Minute wieder sinken, außer ich würde die Illusion dauern lassen. Aber wenn Sie wollen...« Er verstummte. »Ja, mein Herr?« »Das Boot, das Sie da haben, sieht wirklich gut aus. Nichts fehlt daran. Aber wenn Sie wollen, dann könnte ich es mit einem Bindespruch gegen Unheil feien, oder ich könnte es mit einem Findespruch festigen, das würde ihm helfen, den Weg wieder zurück nach Hause zu finden« Er sprach zögernd, denn er wollte den Schiffsbauer nicht beleidigen. Peckvarry aber strahlte: »Das kleine Schiff hier ist für meinen Sohn, mein Herr, und wenn Sie so gütig wären und es mit solchen Sprüchen festigen könnten, ich wäre Ihnen von Herzen dankbar und würde es Ihnen hoch anrechnen.« Und er kletterte hinauf auf den Landesteg und ergriff Geds Hand, um ihm zu danken. So begann ihre Zusammenarbeit, aus der beide Nutzen zogen. Ged wob seine Zaubersprüche über die Boote, die Peckvarry fertigte oder reparierte, und lernte dabei, wie Boote gebaut werden und wie man ohne magische Hilfe segelt, denn auf Rok kam das Üben in einfachem, gewöhnlichem Segeln etwas zu kurz. Häufig fuhren sie alle zusammen, Ged, Peckvarry und sein kleiner Sohn Joheth, hinaus aufs Meer, den Meeresstraßen entlang und in die Lagunen hinein, rudernd oder segelnd, jetzt mit diesem, dann mit jenem Boot. Mit der Zeit wurde Ged ein ganz tüchtiger Seemann, und die Freundschaft zwischen ihm und Peckvarry war eine ausgemachte Sache ... Im Spätherbst wurde der kleine Sohn des Schiffsbauers krank. Die Mutter ließ das Zauberweib von der Insel Task kommen, das ziemlich erfolgreich war im Heilen von Krankheiten. Ein oder zwei Tage lang schien auch alles gut zu gehen. Dann aber, mitten in einer stürmischen Nacht,
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klopfte Peckvarry heftig an Geds Tür und flehte ihn an, zu kommen und das Kind zu retten. Ged rannte mit ihm hinunter zum Boot, und sie ruderten mit Windeseile durch die Finsternis und den Regen zum Haus des Schiffsbauers. Dort sah Ged das Kind auf seiner Strohmatratze liegen und die Mutter schweigend neben ihm kauern, während das Zauberweib im Rauch der Korlywurzel den magischen Gesang angestimmt hatte, was wahrscheinlich ihr stärkster Heilzauber war. Sie flüsterte Ged zu: »Mein Herr, ich glaube, er hat Rotfieber und wird diese Nacht nicht mehr überstehen.« Als Ged sich neben das Kind kniete und es mit seinen Händen berührte, durchfuhr ihn der gleiche Gedanke, und er schreckte zurück. Während der letzten Monate in der Heilklinik hatte ihn der Kräutermeister viel Heilkunde gelehrt, aber nie hatte er versäumt, ihm zu Beginn und Ende jeder Unterweisung einzuschärfen: Heile die Wunde, mache den Kranken wieder gesund, aber versuche nie, den Geist eines Sterbenden zurückzuhalten. Die Mutter hatte seine Bewegung wahrgenommen und ihre Bedeutung erkannt. Sie schrie auf voll Verzweiflung. Peckvarry beugte sich über sie und versuchte, sie zu beruhigen: »Frau, unser Herr Sperber wird ihm helfen. Weine nicht mehr! Hier steht er ja. Er wird es schaffen.« Ged sah die Tränen der Mutter und hörte das Vertrauen, das in Peckvarrys Worten lag. Er brachte es nicht über sich, sie zu enttäuschen. Vielleicht hatte er sich geirrt, vielleicht konnte das Kind gerettet werden, er mußte versuchen, das Fieber herunterzubekommen. Er sagte: »Ich will alles versuchen, Peckvarry!« Ged begann den kleinen Joheth in frischem, kaltem Regenwasser, das sie draußen aufgefangen hatten, zu baden, dann versuchte er, das Fieber durch einen Zauberspruch aufzuhalten und zu lindern. Der Spruch schlug nicht an und schloß sich nicht zu einem Ganzen, plötzlich war es ihm, als stürbe das Kind in seinen Armen. Ohne Rücksicht auf sich selbst sammelte er seine ganze Macht und sandte seinen Geist dem enteilenden Geist des Kindes nach, um ihn zurückzuholen. Er rief den Namen des Kindes: »Joheth!« Sein inneres Gehör glaubte eine schwache Antwort zu vernehmen, und er folgte ihr, noch
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einmal seinen Namen rufend. Plötzlich konnte er den Knaben sehen, der ihm weit voraus war und einen dunklen, weiten Abhang hinunterrannte. Kein Laut war vernehmbar. Die Sterne über dem Hügel waren seinen Augen unbekannt, doch er kannte die Namen der Sternbilder: die Garbe, die Tür, der Sich-Drehende, der Baum. Er erblickte die Sterne, die nie untergehen und nie vor dem Kommen eines neuen Tages verblassen. Er erkannte, daß er dem Kind zu weit gefolgt war. Plötzlich stand er allein und einsam an dem dunklen Abhang. Schwer war es, zurückzugehen, sehr schwer. Langsam drehte er sich um. Mühsam setzte er einen Fuß vor den andern und bewegte sich den Berg hinan. Schritt folgte Schritt, jede Bewegung war eine Willensanstrengung, und mit jedem Schritt wurde es schwerer. Die Sterne standen regungslos. Kein Wind wehte über den trockenen, steilen Grund des Abhangs. In dem weiten Reich der Finsternis war er das einzige, das sich bewegte, langsam, mühselig. Er erreichte den Kamm des Hügels und erblickte eine niedrige, aus Steinen errichtete Mauer. Auf der anderen Seite, ihm zugewandt, stand ein Schatten. Der Schatten besaß weder menschliche noch tierische Gestalt. Er war formlos, kaum wahrnehmbar, und er flüsterte ihm zu, aber keine Worte waren zu vernehmen. Er streckte sich nach ihm aus und er stand auf der Seite der Lebenden, während Ged auf der Seite der Toten stand. Ged mußte sich entscheiden. Er konnte den Hügel hinuntergehen in die unfruchtbaren Gefilde und düsteren Städte der Toten oder über die niedere Mauer zurück ins Leben steigen, wo das unförmige, ungeheuerliche Unding auf ihn wartete. Der Zauberstab lag schwer in seiner Hand, und er hob ihn hoch. Diese Bewegung brachte Stärke zurück in seine Glieder. Als er sich zusammenraffte, um über die niedere Mauer auf den Schatten zuzuspringen, glühte der Stab plötzlich weiß auf, eine blendende Helle an diesem schattenhaften Ort. Er setzte zum Sprung an, fühlte wie er hinfiel, und seine Sinne schwanden ihm. Vor Peckvarry, seiner Frau und dem Zauberweib spielte sich folgendes ab: Der junge Zauberer hörte mitten im Zauberspruch zu reden auf
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und hielt das Kind in seinen Armen, ohne sich zu bewegen. Dann legte er Joheth sachte auf seine Matratze zurück, richtete sich hoch auf und stand schweigend, den Stab in der Hand haltend. Plötzlich hob er den Stab in die Höhe, der in weißem Feuer leuchtete, so daß es schien, als halte er den Blitz in seiner geballten Faust. Die Gegenstände in der Hütte sprangen in diesem momentanen, grellen Licht seltsam eindringlich ins Auge. Vorübergehend geblendet, dauerte es eine kurze Weile, bis sie wieder sehen konnten, dann aber erblickten sie den jungen Mann, der vornüber gefallen auf dem Boden lag, neben der Matratze, auf der das tote Kind lag. Peckvarry schien es, als sei der Zauberer ebenfalls tot. Seine Frau heulte, er selbst war ganz verstört. Aber das Zauberweib hatte eine Ahnung von Magie und wußte etwas vom Hinscheiden eines wahren Zauberers. Sie veranlaßte, daß Ged, der kalt und reglos dalag, nicht wie ein Toter behandelt wurde, sondern wie ein Kranker oder wie einer, der sich in einem Trancezustand befindet. Er wurde nach Hause getragen, und eine alte Frau wurde zu ihm gesetzt, die darauf achten mußte, ob er aus dem Schlaf erwachen würde oder nicht. Der kleine Otak hatte sich in den Dachbalken des Hauses versteckt, was er immer tat, wenn Fremde eintraten. Dort oben hockte er, während draußen der Regen gegen die Hauswände schlug und drinnen das Feuer langsam erlosch. In den Morgenstunden nickte die alte Frau neben der Feuerstelle ein. Dann kletterte der Otak herunter und rannte lautlos zu Ged, der steif und still auf seinem Bett lag. Er fing an, ihm geduldig und ohne Unterlaß Hände und Handgelenke mit seiner trokkenen, braunen Zunge zu lecken, und sich neben Geds Kopf hinkauernd, begann er seine Schläfen, seine vernarbte Wange und ganz sachte seine geschlossenen Augen zu lecken. Und ganz allmählich, unter der leichten Berührung, regte sich Ged. Er wachte auf und wußte nicht, wo er gewesen war und wo er sich befand. Er sah ein schwaches Licht und ahnte nicht, daß es einen neuen Tag verkündete. Der Otak beobachtete Ged, rollte sich darauf an seiner Schulter zusammen, wie er es immer tat, und schlief friedlich ein.
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Später, als Ged über die Ereignisse dieser Nacht nachdachte, wurde ihm bewußt, daß er nicht mehr unter den Lebenden weilen würde, wenn ihn nicht jemand berührt und auf irgendeine Weise zurückgerufen hätte, als er, von den Lebensgeistern verlassen, auf seinem Lager gelegen hatte. Nur das blinde, instinktive Wissen eines Tieres, das seinen verletzten Gefährten leckt, um ihm Erleichterung zu verschaffen, hatte ihn zurückgerufen, und Ged spürte in diesem Wissen etwas, das seiner eigenen Macht ähnlich war, etwas, das so tief reichte wie die Zauberkunst. Und seither war er überzeugt, daß der Weise sich nie von anderen lebenden Wesen absondert, ganz gleich, ob sie reden können oder nicht, und in späteren Jahren bemühte er sich oft darum, das zu lernen, was in der Stille von den Augen der Tiere, vom Flug der Vögel und von der langsamen majestätischen Bewegung der Bäume gelernt werden kann. Zum ersten Mal hatte er die Welt der Lebenden verlassen und war unverletzt aus dem Land zurückgekehrt, das nur ein Zauberer mit offenen Augen betreten, was aber selbst der größte Magier nie ohne Gefahr unternehmen kann. Wohl war er unversehrt, aber Trauer und Furcht erwarteten ihn. Trauer erfüllte ihn für seinen Freund Peckvarry und den Verlust, den er erlitten hatte, Furcht hatte er um sich selbst. Jetzt wußte er, warum der Erzmagier ihn nicht wegschicken wollte und warum seine Zukunft dunkel und bewölkt vor den Augen des Magiers gelegen hatte. Die Dunkelheit selbst war es, die auf ihn gewartet hatte, dieses namenlose Ding, dieses Wesen, das nicht von dieser Welt stammte, dieser Schatten, den er freigesetzt oder geschaffen hatte. Als Geist hatte es auf ihn während all der Jahre gewartet, dort, an der Schwelle zwischen Leben und Tod. Und dort endlich hatte es ihn gefunden. Jetzt würde es sich an seine Fersen heften, jetzt würde es versuchen, ihn an sich zu ziehen, um ihm seine Stärke zu entwenden und sein Leben auszusaugen und sich mit seiner Gestalt zu umgeben. Bald begann er von diesem Ding als einem Bären ohne Kopf und Gesicht zu träumen. Er glaubte, es zu hören, wie es unbeholfen die Wände seines Hauses abtastete, um die Tür zu finden. Solche Träume hatten ihn verschont, seit die Wunden geheilt waren, die er von die-
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sem Wesen empfangen hatte. Erwachte er, so fühlte er sich schwach und kalt, und seine Narben an Gesicht und Schultern schmerzten. Eine schlimme Zeit begann nun. Immer, wenn er von dem Schatten träumte oder nur an ihn dachte, überkam ihn die gleiche klamme Furcht. Sein Verstand und seine Macht ließen nach, und er fühlte sich blöde und verwirrt. Er war wütend auf seine Feigheit, aber das half ihm nicht weiter, er suchte Schutz, aber es gab keinen. Dieses Ding war weder Fleisch noch Geist, noch hatte es Leben in irgendeiner Form, namenlos war es, keine Gestalt besaß es außer der, die er ihm gegeben hatte — eine furchtbare Macht außerhalb der Gesetze dieser sonnenhellen Welt. Das nur wußte er: Es wurde von ihm angezogen, und es würde versuchen, ihm seinen Willen aufzuzwingen und durch ihn zu leben, denn es war seine Kreatur. Aber in welcher Form es sich ihm nähern würde, da es bis jetzt noch keine feste Gestalt hatte, und wie und wann es zu ihm kommen würde, das wußte er nicht. So gut er vermochte, schützte er sich, indem er magische Wälle um sein Haus und um die Insel herum errichtete. Solche Wälle mußten dauernd durch Zaubersprüche erneuert werden, und es wurde ihm bald klar, daß er, wenn er seine ganze Macht für seine eigene Sicherheit aufwenden mußte, den Inselbewohnern wenig nutzen würde. Gesetzt den Fall, ein Drache von Pendor würde die Insel heimsuchen: Was könnte er, von zwei Feinden bedroht, ausrichten? Wiederum träumte er, doch dieses Mal war der Schatten im Haus drinnen neben der Tür, und in der Dunkelheit fühlte er, wie er sich nach ihm ausstreckte, und er hörte ihn Worte flüstern, die er nicht verstand. Von Entsetzen geschüttelt, wachte er auf und sandte ein Werlicht durch die Luft, das jede Ecke des Raumes erhellte, bis es keinen Schatten mehr gab im Zimmer. Dann legte er Holz auf die glühende Asche des Herdes, setzte sich neben das Feuer und hörte dem Herbstwind zu, wie er im Stroh des Daches spielte und durch die kahlen Äste der großen Bäume pfiff, die über das Haus ragten. Ged saß und grübelte. Eine lang unterdrückte Wut flammte in ihm auf. Nein, er konnte es nicht ertragen, tatenlos auf dieser kleinen Insel wie in einer Falle herumzusitzen und sich mit zwecklosen Wehr- und Schutzsprüchen hinzuhalten. Aber er
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konnte auch nicht so einfach auf und davon gehen: Das käme den Inselbewohnern gegenüber einem Vertrauensbruch gleich und würde sie den drohenden Drachen schutzlos preisgeben. Nur einen Ausweg sah er vor sich. Am nächsten Morgen ging er zu den Fischern hinunter, die sich am Hauptanlegeplatz von Untertorning sammelten, und suchte den Stadtältesten auf. Zu ihm sprach er: »Ich muß diese Gegend verlassen. Ich bin in Gefahr und bringe diese Gefahr hierher. Ich muß weggehen. Daher bitte ich Sie, mir Erlaubnis zu geben, nach Pendor zu segeln und die Angelegenheit mit den Drachen zu erledigen. Damit komme ich meiner Verpflichtung Ihnen gegenüber nach und bin dann frei, wieder zu gehen. Sollte mein Unternehmen fehlschlagen, dann würde dies nur bedeuten, daß es auch fehlgeschlagen wäre, wenn der Drache hierher gekommen wäre. Es ist besser, dies jetzt herauszufinden, als länger zu warten.« Der Insulaner starrte ihn mit offenem Mund an: »Ehrwürdiger Herr Sperber«, sagte er, »dort gibt es neun Drachen!« »Acht davon sollen noch ziemlich jung sein.« »Aber der alte...« »Ich habe Ihnen klargemacht, daß ich von hier fort muß. Ich bitte Sie nur um Erlaubnis, Sie alle zuvor von der Drachengefahr zu befreien, wenn ich es kann.« »Wie Sie wünschen«, antwortete der Älteste, düster blickend. Die Umstehenden hielten ihren jungen Zauberer für übergeschnappt oder tollkühn und blickten ihm wortlos nach. Keiner erwartete, ihn je wieder zu sehen oder von ihm zu hören. Einige gaben zu verstehen, daß er wahrscheinlich über Hosk zurück zum Innenmeer segeln werde und sie hier in der Patsche sitzenließ, andere glaubten, unter ihnen auch Peckvarry, daß er den Verstand verloren habe und seinen eigenen Tod herbeiwünsche. Vier Generationen waren herangewachsen, und während dieser Zeit wurden alle Schiffe so gesteuert, daß ihr Kurs weit an Pendor vorbeiführte. Noch kein Magier hatte es mit dem Drachen dort aufgenommen, denn die Insel lag an keiner der bekannten Seerouten. Ihre Herrscher wa-
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ren Piraten, Sklavenhändler und mordlustige Krieger gewesen, gehaßt von allen Bewohnern im südwestlichen Teil der Erdsee. Aus diesem Grunde war es keinem eingefallen, Rache zu suchen für den Herrscher von Pendor, als der Drache plötzlich aus dem Westen gekommen war und ihn und seine Mannen beim Mahle im Turm überrascht, mit den Flammen aus seinem Schlund erstickt und die schreienden Stadtbewohner ins Meer getrieben hatte. Ungerächt blieb Pendor bis heute, und der Drache hauste dort zwischen den Gebeinen, Türmen und Juwelen, die einst den Fürsten und Prinzen der Küstenländer Paln und Hosk gehört hatten. All dies war Ged bekannt, denn seit seiner Ankunft in Untertorning hatte er sich alles, was er je über Drachen gehört und gelernt hatte, durch den Kopf gehen lassen und dachte darüber nach. Als er jetzt sein kleines Schiff nach Westen steuerte — er ruderte nicht und machte auch nicht von den Segelkünsten Gebrauch, die ihn Peckvarry gelehrt hatte, sondern zauberte einen magischen Wind herbei und hatte seinen Bug und Kiel mit einem Bannspruch auf den Kurs eingestellt —, beobachtete er, wie die Insel sich langsam über den Rand des Meeres hob. Eile trieb ihn, darum segelte er mit magischem Wind. Was hinter ihm lag, fürchtete er mehr als das, was vor ihm lag. Aber im Lauf des Tages verlor er seine Furcht allmählich und wurde von einer wilden Freude auf den bevorstehenden Kampf erfüllt. Er hatte sich entschieden und war ausgezogen, die Gefahr zu suchen, und je mehr er sich ihr näherte, desto gewisser wurde er, daß er jetzt, vielleicht nur auf Stunden, bevor ihn der Tod ereilte, frei war. Denn der Schatten wagte es nicht, ihm in den Rachen des Drachen zu folgen. Weiße Schaumkronen stoben über das graue Wasser des Meeres, dunkle Wolken, vom Nordwind gejagt, stürmten gegen Süden. Er hielt sich westlich, und mit dem hurtigen Zauberwind in den Segeln erblickte er bald die Felsen von Pendor, die erstorbenen Straßen der Stadt und die staubbedeckten Turmruinen. An der Einfahrt zum Hafen, in einer sichelförmigen, seichten Bucht brachte Ged den Wind zum Erschlaffen, und sein kleines Boot lag still, nur die Wellen schaukelten es leicht.
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Dann erhob er seine Stimme und gebot dem Drachen: »Usurpator von Pendor, erscheine und verteidige deine Haut!« Seine Stimme wurde von den Brandungswellen erstickt, die an die aschgraue Küste schlugen; aber Drachen haben feine Ohren. Es dauerte nicht lange, und aus einer der Ruinen erhob sich eine riesige schwarze Fledermaus mit durchsichtigen Flügeln und spindeldürr, kreiste und flog gegen den Nordwind direkt auf Ged zu. Sein Herz schwoll beim Anblick dieses Geschöpfes, das seinen Landsleuten nur aus Legenden und Mythen bekannt war, und er lachte und rief: »Geh und sag dem Alten, daß er kommen soll, du Windwurm!« Denn dies hier war einer der jungen Drachen, einer aus der Brut des weiblichen Drachen aus dem Westbereich, die, wie es die Art weiblicher Drachen ist, ein Nest voll großer, zählederner Eier in einem der sonnigen, zerstörten Räume des Turmes hinterlassen hatte und wieder davongeflogen war. Dem alten Drachen von Pendor fiel anheim, auf die Jungen aufzupassen, die wie unheilbringende Eidechsen aus ihren Schalen krabbelten. Der junge Drache antwortete nicht. Zog man seine Gattung in Betracht, so war er nicht groß; er hatte ungefähr die Länge eines Schiffes mit vierzig Rudern, und trotz der immensen Spannweite seiner hauchdünnen Flügel war er so dünn wie ein Wurm. Er war noch nicht ausgewachsen, hatte auch noch keine Stimme, und an Drachenlist fehlte es ihm ebenfalls. Er wich nicht von seinem Kurs ab und brachte Geds Boot heftig ins Schwanken, sein Rachen voll scharfer Zähne war weit aufgerissen, als er pfeilschnell aus der Luft auf Ged herabstieß: ein scharfer Bannspruch machte seine Glieder steif, er verpaßte sein Ziel und fiel wie ein Stein ins Meer. Das graue Wasser schloß sich über ihm. Zwei andere Drachen verließen das Fundament des höchsten Turmes. Wie der erste, so flogen auch sie direkt auf Ged zu, und wie er wurden sie von ihm gefangen und ertränkt. Ged hatte all dies vollbracht, ohne seinen Zauberstab in die Höhe heben zu müssen. Minuten verstrichen, dann erhoben sich drei Drachen von der Insel und flogen ihn an. Einer davon war wesentlich größer als die vorherigen, er spie schon eine rollende Flamme aus seinem Schlund. Zwei ka-
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men flügelschlagend direkt auf ihn zu, während der große einen weiten Kreis zog und von hinten auf ihn herabstieß, um ihn und sein Boot mit seinem feurigen Atem zu verbrennen. Keinen Bannspruch gab es, der alle drei auf einmal hätte fassen können, denn zwei kamen aus dem Norden, einer aus dem Süden. Sofort, als er dies erkannt hatte, wirkte Ged einen Verwandlungszauber, und aus seinem Boot erhob sich ein vierter Drache. Mit weit ausgebreiteten Flügeln und scharf ausgestreckten Krallen griff der Drache Ged die beiden kleineren Drachen von vorne an und vernichtete sie mit seinem Feuer, dann wandte er sich dem dritten zu, der größer war als er und ebenfalls Feuer spie. Vom Winde getragen, flogen sie über die grauen Wellen aufeinander zu, schnappten, spien und prallten aufeinander, flogen über-, unter- und nebeneinander vorbei, bis der vom Feuer ihrer offenen Rachen rötliche Rauch sie dicht umgab. Dann stieg Ged plötzlich hoch, der andere folgte sofort nach, aber mitten im Flug hielt Ged inne, und wie es den Falken eigen ist, stieß er mit ausgestreckten Krallen herab und packte den anderen beim Genick und an der Flanke und zog ihn abwärts. Die dunklen Schwingen flatterten, und dickes, schwarzes Blut tropfte ins Meer. Der Drache von Pendor riß sich los und flog lahm und mühsam zurück auf die Insel, wo er sich in irgendeinem Schacht oder Verschlag in den Ruinen versteckte. Sofort schlüpfte Ged wieder zurück in seine eigene Gestalt und ließ sich auf sein Boot nieder, denn es ist höchst gefährlich, die Drachengestalt länger als nötig zu behalten. Seine Hände waren schwarz vom heißen Blut des Wurmes, und er hatte Verbrennungen am Kopf, doch das galt ihm wenig jetzt. Er wartete nur ab, bis er nicht mehr außer Atem war, dann rief er laut: »Sechs sah ich, fünf schlug ich, neun soll es geben: Zeigt euch, ihr Riesenwürmer!« Lange Zeit blieb alles ruhig. Keine Kreatur bewegte sich, keine Stimme erhob sich, nur die Wellen schlugen gleichmäßig ans Ufer. Dann wurde Ged gewahr, wie der höchste Turm auf der Insel langsam seine Form veränderte, ein Auswuchs erschien und vergrößerte sich an der Seite, als wüchse ihm dort ein Arm. Er fürchtete, daß Drachenmagie am Werke war, denn Drachen sind sehr mächtig und tückisch
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und in einer Art Zauberei bewandert, die der menschlichen ähnlich und doch wieder nicht ähnlich ist. Es dauerte nur einen Augenblick, dann sah er, daß es kein Trick des Drachen, wohl aber ein Trick war, den ihm seine Augen spielten. Was er als einen Teil des Turmes angesehen hatte, war in Wirklichkeit die Schulter des Drachen von Pendor, der langsam seine Glieder ausstreckte und sich gemächlich erhob. Als er sich endlich zu seiner vollen Größe ausgestreckt hatte, ragte sein schuppiger, spitz zulaufender Kopf mit der dreifach gespaltenen Zunge über die Turmspitze hinaus, und die Krallen seiner Vorderfüße ruhten auf den Trümmern der Stadt unter ihm. Seine Schuppen waren schwarzgrau, im Tageslicht stumpf schimmernd wie bröckelndes Gestein. Er war sehnig wie ein Jagdhund und so groß wie ein Berg. Ged starrte staunend. Keine Geschichte und kein Gesang konnte diesem überwältigenden Eindruck gerecht werden. So beeindruckt war er, daß er beinahe in die Augen des Drachen geschaut hätte. In letzter Minute ertappte er sich, denn in die Augen eines Drachen kann man nicht ungestraft blicken. Er kehrte seine Augen ab von dem öligen grünen Blick, der unverwandt auf ihm ruhte, und hob seinen Stab vor sich in die Höhe, der ihm jetzt nicht viel größer als ein Zweiglein oder ein Holzspan erschien. »Acht Söhne hatte ich, kleiner Zauberer«, sprach der Drache mit mächtiger, trockener Stimme. »Fünf sind tot, der sechste stirbt. Das genügt. Du wirst meinen Hort nicht gewinnen, indem du sie tötest.« »Ich begehre deinen Hort nicht.« Gelber Rauch stieg auf aus den Nasenlöchern des Drachen: Das war seine Art zu lachen. »Möchtest du nicht trotzdem ans Land kommen und ihn in Augenschein nehmen? Es lohnt sich, glaube mir!« »Nein, Drache.« Verwandtschaftliche Bande bestehen zwischen den Drachen, dem Wind und dem Feuer; ungern kämpfen sie über Wasser. Ged nutzte dies zu seinem Vorteil aus und war nicht gewillt, ihn aufzugeben. Doch der schmale Streif Meereswasser, der ihn von den grauen Riesenkrallen trennte, schien kein allzu großer Vorteil mehr zu sein.
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Schwer war es, den grünen, wachsamen Blick zu vermeiden. »Du bist noch jung für einen Zauberer«, sagte der Drache. »Ich wußte nicht, daß die Menschen so jung in den Besitz ihrer Macht kommen.« Er unterhielt sich mit Ged in der Ursprache, denn das ist noch immer die Umgangssprache der Drachen. Benutzt ein Mensch die Ursprache, so ist er zu unbedingter Wahrheit verpflichtet; ein Drache ist nicht an dieses Gesetz gebunden, denn es ist ihre ureigene Sprache, und sie können darin lügen und Worte herumdrehen, wie es ihnen gefällt, sie können den Zuhörer mit Worten blenden und in ein Labyrinth leiten, in dem jedes Wort die Wahrheit widerspiegelt und doch keines zum Ziel führt. Oft wurde Ged davor gewarnt, und als der Drache redete, spitzte er die Ohren, jedes Wort auf seine Wahrheit wägend. Doch die Worte, die er vernahm, schienen einfach und klar. »Bist du hierher gekommen, um mich um Hilfe zu bitten, kleiner Zauberer?« »Nein, Drache.« »Und doch könnte ich dir helfen. Bald wirst du nämlich Hilfe brauchen gegen das, was dich im Dunkeln heimsucht.« Ged stand wie vor den Kopf geschlagen und fand keine Antwort. »Was sucht dich heim? Nenne seinen Namen!« »Wenn ich seinen Namen wüßte ...« Ged sprach nicht weiter. Gelber Rauch stieg aus den Nasenlöchern des Drachen, die wie zwei runde Feuergruben aussahen, und umzingelte den langen Kopf. »Wenn du es beim Namen nennen könntest, kleiner Zauberer, ja, dann könntest du es vielleicht beherrschen. Es ist möglich, daß ich dir seinen Namen sagen könnte, wenn ich es in der Nähe sehen würde. Und es wird näher kommen, wenn du eine Weile hier auf der Insel bleibst. Wo du bist, dahin wird es auch hinkommen. Wenn du es nicht nahe bei dir haben willst, dann mußt du weglaufen, weit weglaufen und immer weiter weglaufen ... Und trotzdem wird es dir folgen. Möchtest du seinen Namen wissen?« Ged stand schweigend. Woher der Drache von dem Schatten wußte, den er, Ged, freigesetzt hatte, das konnte er nur ahnen. Auch woher er dessen Namen kannte, war ihm ein Rätsel. Der Erzmagier hatte gesagt, daß der Schatten keinen Namen hätte. Drachen jedoch haben ihr eigenes
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Wissen. Sie sind nämlich sehr viel älter als die Menschen. Wenige Menschen nur können ahnen, was ein Drache weiß und wie er dieses Wissen erwarb. Diese wenigen sind die Drachenfürsten. Eines nur war sicher, und davon war Ged überzeugt: Wenn der Drache die Wahrheit sprach und ihm den Namen seines schattenhaften Peinigers nennen konnte, damit er, Ged, Macht über dieses Unding bekäme, so würde der Drache nur dann bereit dazu sein, dies zu tun, wenn es seinen eigenen Zwecken diente. »Selten kommt es vor«, sagte der junge Mann endlich, »daß Drachen gewillt sind, den Menschen eine Gunst zu erweisen.« »Aber es ist allgemein üblich«, antwortete der Drache, »daß Katzen mit Mäusen spielen, bevor sie sie töten.« »Ich kam nicht hierher, um zu spielen, oder um als Spielzeug zu dienen, sondern um zu verhandeln.« Wie ein blankes Schwert, nur fünfmal länger als ein Schwert, hob sich der Schwanz des Drachen in die Höhe, und mit der Spitze, die den Turm überragte, beschrieb er einen weiten Bogen und legte ihn zurück auf seinen gepanzerten Rücken, eine Bewegung, die auch Skorpionen eigen ist. Trocken war seine Stimme: »Ich verhandle nicht. Ich nehme nur. Was glaubst du denn zu besitzen, das ich, wenn es mir gefällt, nicht wegnehmen könnte?« »Sicherheit. Und zwar deine Sicherheit. Schwöre, daß du von Pendor aus nie östlich fliegen wirst, und ich werde schwören, daß ich dir keinen Schaden mehr zufügen werde.« Aus dem Rachen des Drachen kam ein prasselndes Geräusch. Wie eine weit entfernte Steinlawine klang es, wenn bröckelndes Felsgestein den Berg hinunterfällt. Das Feuer tanzte auf seiner dreifach gespaltenen Zunge. Er reckte sich noch höher, eine drohende Gestalt über den Ruinen. »Du bietest mir Sicherheit an! Du wagst mir zu drohen! Womit?« »Mit deinem Namen, Yevaud.« Geds Stimme zitterte, als er den Namen sagte, aber er sprach laut und klar. Beim Klang des Namens erstarrte der Drache. Eine Minute verstrich, dann noch eine. Ged, in seinem lächerlich kleinen Boot stehend, lächel-
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te. Sein Leben und den Erfolg seines Unternehmens hatte er aufs Spiel gesetzt um einer Vermutung willen, die er den alten Geschichtsbüchern und den Drachenkunden auf Rok entnommen hatte, daß nämlich der Drache auf Pendor derselbe war, der zu Zeiten Elfarrans und Morreds den Westen Osskils verwüstete, bis der in der Namenskunde erfahrene Zauberer Elt ihn aus Osskil vertrieben hatte. Ged hatte mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen. »Wir können uns miteinander messen, Yevaud. Du hast die Stärke, ich habe deinen Namen. Können wir uns jetzt einigen?« Noch immer schwieg der Drache. Ungezählte Jahre lang hatte er hier auf der Insel gehaust, wo Edelsteine und goldene Harnische zwischen Staub, Steinen und Gebeinen verstreut lagen. Er hatte zugeschaut, wie seine schwarze Eidechsenbrut in den Hausruinen spielte und wie seine Jungen versuchten, von den Klippen herunterzufliegen. Lange, zu lange hatte er in der Sonne gelegen und geschlafen. Keine Stimme und kein Segel hatten ihn gestört. Yevaud war alt geworden. Nun fiel es ihm schwer, sich aufzuraffen und sich diesem Zauberknaben, diesem geringen, schwächlichen Feind zu stellen, vor dessen Stab er, der alte Drache, erzitterte. »Neun Steine kannst du dir wählen aus meinem Schatz«, sagte er schließlich, und seine Stimme kam zischend und züngelnd aus seinem langen Rachen. »Die besten kannst du dir nehmen. Wähle! Und dann geh fort!« »Ich will deine Steine nicht, Yevaud.« »Was ist aus der Gier des Menschen geworden? Früher, im Norden, begehrte man über die Maßen das funkelnde Gestein. Ich weiß, was du begehrst, Zauberer. Auch ich kann dir Sicherheit bieten, denn ich weiß, was dich retten kann. Ich allein weiß, was dich retten kann. Ein Ungeheuer folgt dir. Ich kann dir seinen Namen nennen.« Ged hörte sein Herz klopfen. Er umklammerte seinen Stab und verharrte reglos wie der Drache. Er bezwang eine plötzliche, unerwartete Hoffnung.
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Er war nicht ausgezogen, um Rettung für sich selbst zu suchen. Und nur einen einzigen Trumpf hielt er in seiner Hand. Er gab die flüchtige Hoffnung auf und tat das, was er tun mußte. »Nicht darum bitte ich, Yevaud.« Als er den Namen aussprach, war es ihm, als halte er das mächtige Tier an einer feinen, dünnen Leine, die seinen Hals eng umschloß. Im Blick des Drachen, der auf ihm ruhte, spürte Ged die uralte Tücke und das auf so reichlicher Erfahrung beruhende Wissen des Drachen. Vor seinen Augen sah er die stählernen Krallen, jede so lang wie eines Mannes Unterarm, und den steinharten Panzer, und er wußte um das vernichtende Feuer, das im Rachen des Drachen verborgen war; doch er spürte, wie sich die Leine immer enger zusammenzog. Er sprach noch einmal: »Yevaud! Schwöre bei deinem Namen, daß du und deine Söhne nie ins Inselreich kommen werden.« Flammen schlugen plötzlich hell und laut aus dem Schlund des Drachen: »Ich schwöre es bei meinem Namen.« Die Ruhe kehrte zurück zur Insel, und Yevaud senkte sein mächtiges Haupt. Als er wieder aufblickte, war der Zauberer bereits verschwunden. Sein Segel sah aus wie ein kleiner Fleck, der nach Osten über die Wellen flog, dahin, wo die üppigen, mit Schmuckstücken beladenen Inseln des Innenmeeres lagen. Vor Wut kochend erhob sich der alte Drache von Pendor und krümmte so ungestüm seinen mächtigen Leib, daß der Turm zerbrach. Heftig schlug er mit seinen ausgebreiteten Schwingen, die von einem Ende der zerstörten Stadt bis ans andere Ende reichten. Aber sein Schwur hielt ihn gebannt, und er flog weder damals noch je in der Zukunft hinüber zum Inselreich.
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GEJAGT
ALS PENDOR HINTER DEM RAND des Meeres verschwunden war, fühlte Ged, nach Osten schauend, wie der Schatten sich wieder in sein Herz schlich. Es war schwer, nach der handgreiflichen Gefahr, die der Drache dargestellt hatte, wieder diesem hoffnungslosen, körperlosen Grauen ausgeliefert zu sein. Er ließ den magischen Wind erschlaffen und segelte mit dem gewöhnlichen Wind weiter, denn nichts drängte ihn vorwärts. Was er nun tun sollte, wußte er nicht. Er mußte fliehen, wie der Drache gesagt hatte, aber wohin? Nach Rok? Dort wäre er jedenfalls geschützt, und vielleicht konnten ihm die Weisen einen Rat erteilen. Zunächst aber mußte er zurück nach Untertorning und den Leuten der Insel berichten, was sich zugetragen hatte. Als bekannt wurde, daß er wieder zurückgekehrt sei, schon fünf Tage nach seiner Abfahrt kamen alle Männer und die halbe Stadt angerudert oder herbeigelaufen und standen und starrten, während sie ihm zuhörten. Er erzählte alles, genau wie es sich zugetragen hatte, und ein Mann meinte: »Aber wer kann uns denn bezeugen, daß dieses Wunder wirklich geschehen ist, daß Drachen wirklich getötet und ihre Pläne vereitelt wurden? Was machen wir, wenn...?« »Sei still!« befahl ihm der Stadtälteste barsch, denn er und die meisten Leute dort wußten, daß ein Zauberer zwar auf listige Art wahr sprechen und doch die Wahrheit für sich behalten kann. Wenn aber ein Zauberer etwas behauptet, so ist es immer wahr. Zauberer besitzen diese Fertigkeit. Die Leute standen und staunten, und allmählich begriffen sie, daß sie nichts mehr zu fürchten hatten, und eine große Freude erfüllte sie. Sie umringten ihren jungen Zauberer und wollten alles noch einmal
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hören. Mehr Inselleute kamen herbeigelaufen, und Ged mußte alles noch einmal wiederholen. Aber als es Abend wurde, mußte er seine Geschichte nicht mehr erzählen. Sie konnten das jetzt viel besser als er. Der alte Liedermacher sang bereits das Sperberlied zu einer altbekannten Melodie. Freudenfeuer erhellten die Nacht, nicht nur in Untertorning, sondern auch in den Städten östlich und südlich davon. Fischer riefen sich die Neuigkeit von Boot zu Boot zu, und von Insel zu Insel hörte man es schallen: Kein Unheil droht mehr, nie wieder werden die Drachen von Pendor kommen! Während dieser Nacht, dieser einzigen Nacht, war Ged glücklich. Kein Schatten würde es heute wagen, sich ihm zu nähern durch das Licht der hellen Dankesfeuer, die auf jedem Hügel und am Strand unten brannten, durch den Kreis der frohen und glücklichen Tänzer, die ihn umringten und sein Lob sangen und ihre Fackeln in der windigen Herbstnacht hin- und herschwangen, daß die Funken bündelweise aufstoben und vom Wind erfaßt kurz aufglühten. Am nächsten Tag traf er Peckvarry, der sagte: »Ich wußte nicht, mein Herr, daß Sie solch große Macht haben.« Furcht lag in diesen Worten, daß er, Peckvarry, es gewagt hatte, sich mit Ged zu befreunden, aber auch ein leiser Vorwurf war darin enthalten. Ged, der Drachen töten konnte, hatte nicht vermocht, ein kleines Kind vor dem Tod zu bewahren. Nach diesem Zusammentreffen fühlte Ged wieder das Unbehagen und die Ungeduld, die ihn nach Pendor getrieben hatten und die ihn jetzt von Untertorning wegdrängten. Am nächsten Morgen verließ er sein Haus auf dem Hügel, obwohl man ihn in Untertorning gern bis an sein Lebensende behalten hätte, um ihn zu loben und zu preisen, aber auch, um ein bißchen mit ihm zu prahlen. Sein Gepäck bestand nur aus seinen Büchern, seinem Stab und dem Otak, der auf seiner Schulter ritt. Einige junge Fischer von Untertorning rechneten es sich als Ehre an, seine Ruderer zu sein. Wo immer sie sich befanden, in den engen Kanälen im Osten der Neunzig Inseln, unter den Fenstern und Balkonen der Häuser, die über den Wasserstraßen fast zusammenstießen, entlang den Lagerhallen von Neschun, den stinkenden Ölschuppen von Geath oder den regennassen Weiden von Dromgau, die Kunde seiner Tat eilte ihm voraus.
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Sie pfiffen das Sperberlied, als er vorbeikam, und sie rissen sich darum, ihn als Gast über Nacht zu behalten, damit er ihnen seine Drachengeschichte erzähle. Aber schließlich gelangten sie doch nach Serd, und Ged bat einen Kapitän dort, ihn nach Rok mitzunehmen. Der verbeugte sich vor ihm und antwortete: »Es ist mir ein Vergnügen, mein Herr Zauberer, Sie mitzunehmen, und meinem Schiff widerfährt eine große Ehre!« So geschah es, daß Ged den Neunzig Inseln den Rücken kehrte, aber bereits im Hafen von Serd, nachdem sie den Anker gelichtet und Segel gesetzt hatten, kam ein scharfer Ostwind auf und griff in die Takelung des Schiffes. Man war überrascht, denn der winterliche Himmel war klar, und die Wettervorhersage hatte auf »mäßig warm mit leichtem Wind« gelautet. Man störte sich nicht weiter daran, denn die Strecke zwischen Serd und Rok betrug nur etwa dreißig Meilen. Auch als der Wind an Stärke zunahm, wurde die Fahrt nicht unterbrochen. Wie die meisten Schiffe im Innenmeer, so hatte auch dieses kleine Schiff ein Toppsegel, das den Gegenwind auffangen konnte, und sein Kapitän war ein erfahrener Seemann, stolz auf sein Können im Segeln. Sie kreuzten hart am Wind und bewegten sich langsam, aber stetig in östlicher Richtung vorwärts. Bald fing es an zu regnen, und dunkle Wolken bedeckten den Himmel. Der Wind blies von der Seite und kam in so heftigen Böen, daß Gefahr bestand, das Boot könnte kentern. »Herr Sperber«, sagte der Kapitän zu dem jungen Mann, der neben ihm auf dem Ehrenplatz auf dem Vorderdeck stand, obwohl von würdigem Aussehen in diesem Wind und Regen, der sie durch ihre tropfnassen Umhänge bis auf die Haut durchnäßte, nicht die Rede sein konnte, »wäre es nicht möglich, daß Sie diesem Wind Einhalt gebieten?« »Wie weit ist es noch bis Rok?« »Wir haben noch nicht die Hälfte zurückgelegt, während der letzten Stunde kamen wir überhaupt nicht vom Fleck, mein Herr.« Ged sprach zu dem Wind, und seine Stärke ließ nach, worauf sie eine ganze Weile recht gut vom Fleck kamen. Plötzlich aber erhoben sich heftige Windböen aus dem Süden, die sich kreischend gegen das Boot warfen und es zurück gegen Westen trieben. Die Wolken öffneten sich von neuem und ballten sich unheildrohend über ihnen zusammen. Der Kapi-
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tän rief voll Zorn: »Dieser idiotische Sturm bläst aus allen Ecken gleichzeitig. Nur ein magischer Wind kann uns jetzt noch weiterhelfen, mein Herr.« Ged war nicht begeistert, aber er sah ein, daß Schiff und Besatzung sich seinetwegen in Gefahr begaben, und er füllte die Segel mit magischem Wind. Sofort begann das Schiff geradeaus nach Osten zu segeln, und die Miene des Kapitäns hellte sich zusehends auf. Aber der Wind begann abzunehmen, und obwohl Ged den Windbann aufrecht hielt, wurden die Segel allmählich schlaff. Das Schiff bewegte sich immer langsamer und blieb endlich einen Augenblick lang regungslos auf den Wellen liegen. Regen und Wind nahmen an Stärke zu, und plötzlich, wie ein Donnerschlag, schwang der Großbaum herum, und das Schiff sauste mit Blitzesschnelle nach Norden. Ged hielt sich an der Reling fest, denn das Schiff lag fast auf dem Wasser, und rief: »Wenden Sie, zurück nach Serd, Kapitän!« Der aber fluchte und brüllte, daß ihm das nicht einfiele. »Was, ein Zauberer an Bord, und ich soll umkehren, ich, der beste Seemann in der ganzen Zunft, und das hier das tüchtigste Schiff, mit dem ich je gesegelt bin — ich soll umkehren?« Aber wieder wurde das Schiff gepackt und herumgeworfen, und der Kapitän selbst mußte sich am Mast festklammern, um nicht über Bord gefegt zu werden. Ged sagte zu ihm: »Setzen Sie mich in Serd ab, und dann können Sie segeln, wohin Sie wollen. Dieser Wind bläst nicht gegen Ihr Schiff, sondern gegen mich.« »Gegen einen Zauberer von Rok?« »Haben Sie noch nie vom Rokwind gehört, Kapitän?« »Doch, natürlich; das ist der Wind, der alles Böse von der Insel der Weisen fernhält, aber was hat denn der Wind mit Ihnen, einem Drachenbezwinger, zu tun?« »Das geht nur mich und meinen Schatten etwas an«, erwiderte Ged kurz, wie es Zauberer manchmal tun. Er sprach kein Wort mehr, als sie geschwind, mit anhaltendem Wind und unter einem sich aufhellenden Himmel nach Serd segelten.
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Schwer war Geds Herz und mit heimlichem Grauen erfüllt, als er an den Lagerschuppen vorbei hinauf in die Stadt ging. Die Tage waren schon winterlich kurz, und Dämmerung umgab ihn bald. Mit dem Einbruch der Dunkelheit wuchs seine Bedrückung. Jedesmal, wenn die Straße eine Biegung machte, fühlte er sich bedroht, und er mußte seinen ganzen Willen aufbieten, um nicht zurückzuschauen, ob ihm etwas folge. Er ging zum Seeheim von Serd, wo Reisende und Kaufleute auf Kosten der Stadt ein Mahl erhalten und in dem großen Saal mit den mächtigen Dachbalken frei übernachten konnten. Ähnlich gastfreundliche Heime findet man auf all den blühenden Inseln im Innenmeer. Ged hob ein bißchen von seinem Fleisch auf, und später, als er am Feuer saß, redete er seinem Otak zu, aus den Falten seiner Kapuze herauszukommen, in denen er sich den ganzen Tag lang versteckt hatte. Er versuchte ihn dazu zu bringen, etwas zu essen. Er flüsterte ihm zu: »Hög, Hög, mein kleiner, schweigsamer Gefährte ...«, aber seine Bemühungen waren umsonst. Der Otak schlich zurück und verkroch sich in seiner Tasche. Das Verhalten des Tieres, seine eigene dumpfe Unsicherheit und die Schwärze in den Ecken des großen Saales bestätigten ihm, was er befürchtet hatte: der Schatten hielt sich irgendwo in der Nähe auf. Hier kannte ihn niemand. Die Gäste waren meist Durchreisende, die von anderen Inseln kamen, auf denen das Sperberlied noch nicht gesungen wurde. Keiner sprach ihn an. Schließlich erhob er sich und suchte eine Strohmatratze aus, auf die er sich niederlegte; aber die ganze Nacht über lag er mit offenen Augen unter den mächtigen Dachbalken zwischen all den Fremden. Er versuchte Pläne zu schmieden, wo er hingehen solle, was er unternehmen könne. Aber jeden Plan, jede Wahl verwarf er wieder, überall sah er nur Unheil drohen. Auf jedem Weg, den er erwog, lag ein dunkler Schatten. Nur Rok war frei davon. Aber nach Rok konnte er nicht gehen, die starken, dichtgewobenen, uralten Wälle, die das gefährdete Eiland von allem Bösen beschützten, ließen ihn nicht nahe kommen. Daß der Rokwind sich gegen ihn erhoben hatte, war Beweis dafür, daß sein Verfolger nicht mehr weit von ihm entfernt war. Körperlos war dieses Wesen, blind bewegte es sich im Sonnenlicht. Es kam aus einer Tiefe, wo Zeit und Raum aufgehoben sind, wo ewige Finster-
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nis herrscht. Unbeholfen quälte es sich durch die Tage und über die Meere dieser sonnenhellen Welt. Nur in Träumen und in der Dunkelheit war es als Schatten erkennbar. Noch hatte es keinen Körper, noch war es kein Wesen, das vom Licht der Sonne erfaßt werden konnte; wie es im Hodlied geschrieben steht: »Der Tag begann und schuf Land und Meer, aus der Schattenwelt löste er Wesen und Dinge, Träume trieb er zurück in das Reich der Finsternis.« Aber sollte es dem Schatten gelingen, ihn einzuholen, dann konnte er ihm seine Macht entwinden, dann konnte er ihm Wärme und Leben aus seinem Körper saugen und ihn zum willenlosen Werkzeug machen. Am Ende jedes Pfades, den er einzuschlagen erwog, drohte ihm dieses Unheil, und Ged wußte auch, daß er in sein Verderben gelockt werden konnte; denn der Schatten wurde immer mächtiger, je mehr er sich ihm näherte, und war vielleicht jetzt schon stark genug, um unheilbringende Mächte oder böse Menschen in seine Dienste zu zwingen — indem er ihnen Falsches vorspiegelte oder durch die Stimme eines Freundes zu ihnen sprach. Es konnte sein, daß er schon jetzt, in diesem Augenblick, von einem der Männer Besitz ergriffen hatte, die in dem großen dunklen Saal des Seeheims schliefen; und dort, in irgendeiner finsteren Seele, wartete das Unding und beobachtete Ged und genoß seine Schwäche, seine Unsicherheit, seine Furcht. Er konnte es nicht mehr aushalten. Er mußte dem Zufall vertrauen und fliehen, wohin er ihn auch treiben möge. Im ersten Morgengrauen erhob er sich und ging unter den verblassenden Sternen hinunter zum Anlegeplatz von Serd, entschlossen, mit dem ersten besten Schiff, das ihn aufnahm, abzufahren. Eine Galeere wurde gerade mit Turbieöl beladen und sollte bei Sonnenaufgang nach Havnor ablegen. Ged fragte den Kapitän, ob er ihn mitnehmen könne. Ein Zauberer ist auf den meisten Schiffen willkommen und erhält freie Fahrt. Gern nahm man Ged an Bord, und kurz darauf stach das Schiff in See. Beim ersten Heben der Ruder fühlte sich Ged schon erleichtert, und die Trommelschläge, die den Ruderrhythmus bestimmten, waren Musik in seinen Ohren und füllten sein Herz mit neuem Mut.
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Doch was er in Havnor tun und wohin er von dort aus fliehen sollte, das wußte er nicht. Sich nördlich zu halten, schien ihm nicht das schlechteste zu sein. Er war selbst vom Norden, und vielleicht fand er ein Schiff, das nach Gont segelte, und er konnte Ogion besuchen. Vielleicht fand er auch ein Schiff, das in die Außenbereiche fuhr, so weit hinaus, daß der Schatten ihn verlieren würde und die Jagd aufsteckte. Außer diesen vagen Ideen hatte er keine Pläne, auch sah er keinen bestimmten Weg vor sich liegen. Er wußte nur, daß er fliehen mußte. Vor Sonnenuntergang des nächsten Tages hatte das von vierzig Rudern getriebene Schiff hundertfünfzig Meilen über die winterliche See zurückgelegt. Im Hafen von Orrimy an der Ostküste von Hosk legten sie an, denn diese Handelsschiffe des Innenmeers bleiben in Küstennähe und legen gern, wenn es sich einrichten läßt, über Nacht in Häfen an. Ged ging an Land, und er wanderte ziellos und in Gedanken verloren durch die engen steilen Gassen der Hafenstadt. Orrimy ist eine sehr alte Stadt mit wuchtigen, aus Stein und Backstein gebauten Häusern. Sie ist mit einer Stadtmauer umgeben, die Schutz gegen die raubgierigen Fürsten des Inlandes bietet. Die Lagerschuppen glichen Festungen, und die Häuser der Kaufleute haben ebenfalls Türme und Mauern. Für Ged jedoch, der planlos durch die Straßen wanderte, waren die monströsen Villen nur Schleier, hinter denen leeres Dunkel gähnte, und die geschäftigen Menschen, die ihm begegneten, schienen nicht aus Fleisch und Blut zu sein, sondern nur stumme Schatten in menschlicher Gestalt. Als die Sonne untergegangen war, kehrte er zum Schiff zurück, und selbst dort, im roten Abendlicht und in der frischen abendlichen Brise, schien die Welt trübe und von dumpfer Lautlosigkeit zu sein. »Wohin gehen Sie, Herr Zauberer?« Die Worte wurden plötzlich von hinten an ihn gerichtet. Ged drehte sich um und sah einen graugekleideten Mann vor sich stehen, der einen Stab trug, aber es war kein Zauberstab. Das Gesicht des Fremden war gegen das rote Abendlicht mit der Kapuze bedeckt, aber Ged spürte, wie er in die unsichtbaren Augen des Fremden blickte. Er trat einen
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Schritt zurück und hob seinen Stab zwischen sich und dem Fremden hoch. Der Mann fragte gütig: »Wovor fürchten Sie sich?« »Vor dem, das mich verfolgt.« »O ja? Aber ich bin nicht Ihr Schatten.« Ged gab keine Antwort. Er wußte, daß dieser Mann bestimmt nicht das war, was er fürchtete. Er war weder ein Schatten noch ein Geist, noch ein Gebbethgeschöpf. Inmitten dieser Welt, die Ged lautlos und trübe umgab, hatte dieser Mann seine Stimme behalten, auch seine Gestalt schien feste Umrisse zu haben. Nun schlug er seine Kapuze zurück. Sein Haupt war seltsam kahl und zerfurcht, und sein Gesicht trug verwitterte Züge. Obgleich seine Stimme nicht alt geklungen hatte, sah er aus wie ein alter Mann. »Ich kenne Sie nicht«, sprach der Mann in Grau, »doch vielleicht ist es kein Zufall, der uns zusammenführt. Ich hörte einst vom Schicksal eines jungen Mannes mit vernarbtem Gesicht, der durch die Dunkelheit gehen mußte, um ein großes Reich zu gewinnen, hoch ist er gestiegen. Ob es Ihre Geschichte ist, das weiß ich nicht. Aber das will ich Ihnen sagen: Gehen Sie an den Hof von Terrenon, wenn Sie ein Schwert brauchen, mit dem Sie gegen Schatten kämpfen können. Ein Stab aus Eibenholz wird Ihnen wenig nutzen.« Hoffnung und Mißtrauen kämpften in Geds Seele, als er den Worten lauschte. Ein Zauberer lernt bald, daß er nur selten Leute aus Zufall trifft. Ein gutes oder böses Geschick hat meist die Hand im Spiel dabei. »In welchem Land befindet sich der Hof von Terrenon?« »In Osskil.« Beim Klang dieses Namens sah Ged einen kurzen Augenblick lang vor seines Geistes Auge einen schwarzen Raben auf grünem Rasen hokken, der ihn aus blanken Augen von der Seite her ansah und zu ihm sprach. Die Worte jedoch konnte er nicht hören. »Dies Land hat einen unheilvollen Namen«, sagte Ged, und den Mann unverwandt im Auge behaltend, versuchte er, ihn abzuschätzen. Es umgab ihn etwas, das auf einen Zauberer, selbst auf einen stabtragenden Zauberer, schließen ließ. Er sprach mit sicherer, fester Stimme, und
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doch lag etwas Gedrücktes, Unbestimmtes in seinem Wesen, fast wie ein Kranker sah er aus, oder wie ein Gefangener oder Sklave. »Sie sind von Rok«, antwortete er. »Die Zauberer dort nennen alle Zaubereien, die nicht von ihnen kommen, unheilvoll.« »Wer sind Sie?« »Ein Reisender, ein Handelsvertreter aus Osskil. Ich bin geschäftlich hier«, sagte der Mann in Grau. Als Ged keine weiteren Fragen an ihn richtete, wünschte er ihm freundlich eine gute Nacht und stieg die Stufen der engen Gasse oberhalb der Piers hinauf. Ged wandte sich um, unentschlossen, ob er dem Ratschlag folgen solle oder nicht. Er blickte nach Norden. Das rote Licht auf den Bergen und über der windigen See war erloschen. Graue Dämmerung hüllte alles ein, und die Nacht folgte ihr auf den Fersen. Plötzlich entschlossen, lief Ged am Ufer entlang zu einem Fischer, der in seinem kleinen Boot stehend Netze zusammenlegte, und rief ihm zu: »Wissen Sie, ob hier im Hafen ein Schiff liegt, das nach Norden fahrt — nach Semel oder in die Enladen?« »Das Langschiff dort drüben ist von Osskil, vielleicht hält es irgendwo in den Enladen an.« Ged eilte weiter. Er rannte auf das Schiff zu, auf das der Fischer gezeigt hatte. Es war ein Langschiff mit sechzig Rudern und lag wie eine Schlange auf dem Wasser. Der hohe Bug war mit Schnitzereien und eingelegten Lotosmuscheln verziert; die Ruderluken waren rot gestrichen, und auf jeder war die Rune Sifl schwarz eingeritzt. Gefährlich und schnell sah es aus, abfahrbereit lag es am Kai, und die Mannschaft war schon an Bord. Ged suchte den Kapitän auf und fragte ihn, ob er nach Osskil mitfahren könne. »Haben Sie Geld?« »Ich bin im Wind- und Wettermachen bewandert.« »Ich bin selbst Wettermacher. Haben Sie nichts? Kein Geld?« Die Inselleute von Untertorning zahlten Ged, so gut sie es vermochten, mit den Elfenbeinmarken, die unter den Händlern des Inselreichs in Umlauf waren. Er hatte nur zehn davon genommen, obwohl sie ihm mehr geben wollten. Diese bot er nun dem Mann von Osskil an, aber der
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schüttelte den Kopf. »Diese Marken benutzen wir nicht. Wenn Sie nichts anderes zu zahlen haben, kann ich Sie nicht mitnehmen.« »Brauchen Sie noch Ruderer? Ich habe Erfahrung, ich habe schon auf einem Schiff gerudert.« »Ja, das ginge. Uns fehlen zwei Leute. Suchen Sie sich Ihren Platz auf der Bank«, sagte der Kapitän und kümmerte sich nicht weiter um Ged. So kam es, daß Ged, nachdem er seinen Stab und seine Bücher unter dem Sitz verstaut hatte, zehn bittere Wintertage lang Ruderer auf diesem Schiff des Nordens wurde. Bei Tagesanbruch verließen sie Orrimy, und an diesem ersten Tag war Ged fast sicher, daß er den Anstrengungen nicht gewachsen sein würde. Sein linker Arm war von den alten Wunden in seiner Schulter noch etwas gelähmt, und obwohl er viel in den Kanälen von Untertorning herumgerudert war, so konnte m an dieses Vergnügungsrudern doch kaum vergleichen mit dem anstrengenden, unaufhörlichen Ziehen an der langen Ruderstange zum gleichmäßigen Takt der Trommel. Alle zwei bis drei Stunden wurden sie von einer neuen Schicht abgelöst, aber das Ausruhen schien Ged gerade lang genug zu sein, um seine Muskeln völlig erstarren zu lassen, bevor es ans Weiterrudern ging. Der zweite Tag war fast noch schlimmer als der erste, aber dann gewöhnte er sich an die harte Arbeit, und sie fiel ihm etwas leichter. Die Geselligkeit, die auf der Schatten die Fahrt nach Rok damals so unterhaltend gemacht hatte, fehlte auf diesem Schiff. Die Männer, die auf gontischen oder andradischen Schiffen arbeiten, sind am Gewinn beteiligt und arbeiten auf einen gemeinsamen Gewinn hin. Die Handelsschiffe von Osskil dagegen verwenden Sklaven oder Lehnsleute oder sie stellen Leute ein, denen sie ihre Löhne in kleinen Goldstücken auszahlen. Gold gilt nämlich als etwas ganz Besonderes in Osskil. Aber das Gold macht sie nicht froh, und es kommt nie eine Kameradschaftlichkeit unter ihnen auf, genausowenig wie unter den Drachen, die ja ebenso goldgierig sind. Da die Hälfte der Mannschaft aus Unfreien bestand, die zur Arbeit gezwungen wurden, waren die Vorgesetzten meist nichts anderes als Sklaventreiber, die sich keineswegs durch Milde auszeichneten. Ihre Peitschen vermieden zwar die Rücken der Leute, die für Besoldung ruderten, aber zwischen Menschen, die ausgepeitscht und solchen,
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die davor verschont werden, kann keine Freundschaft aufkommen. Sie redeten nur sehr wenig untereinander, und zu Ged sprachen sie überhaupt nicht. Die meisten kamen aus Osskil und sprachen kein reines Hardisch wie am Innenmeer, sondern hatten ihren eigenen Dialekt. Es waren meist mürrische Gesellen mit bleichen Gesichtern, dünnen, schwarzen Schnurrbärten und fettigem Haar. Ged nannten sie Kelub, übersetzt heißt das »der Rote«. Obwohl sie wußten, daß er ein Zauberer war, erwiesen sie ihm keinerlei Respekt, sondern waren eher auf eine heimtückische Weise gehässig. Ihm selbst lag nichts daran, Freunde zu gewinnen. Selbst wenn er auf der Bank saß und an dem gewaltigen Rhythmus des Ruderns teilnahm, einer unter sechzig, die das Schiff pfeilschnell über das öde graue Meer dahinjagten, selbst dann fühlte er sich seinem Schicksal schutzlos preisgegeben. Kamen sie abends in einen fremden Hafen, so wickelte er sich todmüde in seinen Umhang und versuchte zu schlafen, aber gequält von Träumen wachte er immer wieder auf. Es waren schlimme Träume, an die er sich, wenn er wach wurde, nicht mehr erinnern konnte, aber sie schienen mit dem Schiff und den Menschen auf dem Schiff zusammenzuhängen, so daß er jedermann gegenüber mißtrauisch war. Die Freien auf Osskil trugen lange Messer an der Seite, und eines Tages, als Ged mit seiner Schicht zu Mittag aß, fragte ihn einer: »Was bist du, Sklave oder Eidbrüchiger?« »Keines von beiden.« »Warum hast du dann kein Messer? Bist du zu feige zum Kämpfen?« höhnte der Mann, der Skihor hieß. »Nein.« »Kämpft dein kleiner Hund für dich?« »Otak«, sagte einer der Zuhörer, »ist nicht Hund, ist Otak.« Und er fügte etwas auf Osskilisch hinzu, worauf sich Skihors Gesicht verdunkelte und er sich zur Seite drehte. Als er sich abwandte, glaubte Ged in seinem Gesicht eine Veränderung wahrzunehmen, ein Verzerren und Verziehen der Miene, als ob etwas in ihm vor sich ginge, ihn lenke und aus seinen Augen Ged von der Seite her musterte. Aber gleich darauf sah Ged ihn wieder von vorne, und er sah genauso aus, wie er immer ausgesehen hat-
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te, so daß Ged glaubte, seine eigene Furcht und sein eigenes Grauen in den Augen des andern gesehen zu haben. Aber in der folgenden Nacht träumte Ged wieder, und Skihor kam in diesen Träumen vor. Von nun an versuchte er, Skihor zu meiden, und es schien, als ob der sich um das Gleiche bemühte. Es kam zu keinem Wortwechsel mehr zwischen ihnen. Die schneebedeckten, im Nebel des frühen Winters leicht verschwommenen Berge von Havnor versanken am südlichen Himmel hinter ihnen. Sie ruderten an der Mündung der Éasee vorbei, dort, wo vor vielen, vielen Jahren Elfarran ertrunken war, und sie passierten die enladische Inselgruppe. Zwei Tage verbrachten sie in Berila, der Elfenbeinstadt, die sich im Westen der sagenumwobenen Insel Enlad weißschimmernd über die Bucht erhebt. Die Mannschaft durfte in keinem der Häfen, an denen sie anlegten, an Land gehen. Als sich die rote Morgensonne erhob, ruderten sie hinaus auf das osskilische Meer gegen die Nordwinde, die, von keiner Insel behindert, ungestüm aus der endlosen Weite des Nordbereiches blasen. Aber sie brachten ihre Fracht unbeschädigt durch die stürmische See, und sie erreichten zwei Tage, nachdem sie Berila verlassen hatten, den Hafen von Neschun, der Handelsstadt von Ostosskil. Ein starker Wind trieb den kalten Regen über flaches Küstenland. Eine graue Stadt drängte sich hinter der niedrigen, aus Steinen gebauten Hafenmauer, und dahinter erhoben sich kahle, baumlose Berge unter dunklen, schneebeladenen Wolken. Die Sonne des Innenmeeres lag weit hinter ihnen. Die Hafenarbeiter der Schiffszunft von Neschun kamen an Bord und begannen die Ladung zu löschen. Sie bestand aus Gold, Silber, Geschmeide, wertvollen Seidenstoffen und Wandteppichen aus dem Süden, alles Dinge, die von den Fürsten auf Osskil gehortet werden. Die Freien unter der Mannschaft wurden entlassen. Ged hielt einen von ihnen an und fragte ihn nach dem Wege. Sein Mißtrauen gegenüber der Mannschaft war so groß gewesen, daß er bis jetzt noch keinem gesagt hatte, wo er hinwolle, aber jetzt, allein und auf fremdem Boden stehend, mußte er doch um Auskunft bitten. Der Mann aber zuckte nur ungeduldig die Achseln und sagte, ohne anzuhalten, daß er ihm nicht hel-
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fen könne, aber Skihor, der Geds Frage mitgehört hatte, antwortete: »Der Hof von Terrenon? Der liegt am Keksemtmoor, ich gehe auch in dieser Richtung.« Skihor wäre der letzte gewesen, den Ged als Gefährten gewählt hätte, aber da er weder der Sprache noch des Weges kundig war, blieb Ged keine andere Wahl, als mit ihm zu gehen. Im Grunde war es ja auch egal, dachte er, denn es war nicht sein Entschluß gewesen, hierherzukommen. Etwas hatte ihn hierhergetrieben und trieb ihn nun weiter. Er zog seine Kapuze über den Kopf, griff nach Stab und Bündel und folgte dem Mann von Osskil durch die Straßen der Stadt hinauf in die schneebedeckten Hügel. Der kleine Otak hockte nicht auf seiner Schulter, sondern hatte sich in die Tasche seines Schafspelzwamses unter seinem Umhang verkrochen, was er immer tat, wenn es kalt war. Die Hügel verloren sich in dem düster und dunkel verhangenen Moor, das sich vor ihnen erstreckte, so weit das Auge reichte. Schweigend gingen sie den Pfad entlang, und schweigend lag das Land unter dem winterlichen Himmel. »Wie weit ist es noch?« fragte Ged, nachdem sie einige Meilen zurückgelegt hatten, ohne ein Dorf oder ein Bauernhaus zu erblicken. Er war besorgt, denn sie hatten keine Nahrung bei sich. Skihor, seine Kapuze ebenfalls hochziehend, drehte sich kurz um und sagte: »Nicht weit.« Sein Gesicht war bleich und abstoßend häßlich, mit groben, rohen Zügen, aber Ged fürchtete sich vor keinem Menschen, höchstens vor dem Ort, an den ihn ein solcher Mensch führen konnte. Er nickte, und sie gingen weiter. Der Weg war wie eine Narbe in der dünnen Schneedecke zwischen den kahlen Büschen dieser Öde. Ab und zu sah man Spuren im Schnee, die ihren Pfad überquerten oder zur Seite abbogen. Da der aus den Schornsteinen von Neschun aufsteigende Rauch von den Hügeln verdeckt wurde, die im späten Licht des Nachmittags hinter ihnen verschwammen, gab es keinen Anhaltspunkt mehr, wohin der Weg führte und woher sie gekommen waren. Nur der Wind blies ständig aus dem Osten. Als sie mehrere Stunden gewandert waren, glaubte Ged weit in der Ferne auf den Hügeln, die gegen Nordwesten vor ihnen lagen, eine winzige Schramme, weiß wie ein Zahn, wahrzunehmen, die sich vom
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Himmel abhob. Aber die Tage waren schon kurz, und das Licht ließ rasch nach, und auf der nächsten Erhöhung sah Ged das Ding, ob Turm oder Baum oder sonstwas, nicht klarer als zuvor. »Gehen wir dorthin?« fragte er und deutete auf den fernen Punkt. Aber Skihor antwortete nicht, sondern trottete weiter in seinem grobgewebten Umhang mit der spitzen, pelzbesetzten, typisch osskilischen Kapuze. Ged schritt an seiner Seite. Weit waren sie schon gelaufen, und Müdigkeit durchzog seine Glieder von dem stetigen Gehen und von der harten Arbeit, die er während der vergangenen zehn Tage auf dem Schiff hatte verrichten müssen. Es kam ihm vor, als sei er schon ewig neben diesem schweigsamen Wesen hergelaufen und als müsse er in alle Ewigkeit so weitergehen, in einem lautlosen Land, über das die Dunkelheit sich senkte. Seine Wachsamkeit erlahmte, der Zweck seiner Reise wurde unklar. Er ging wie in einem endlosen Traum, ohne Ziel. Der Otak bewegte sich in seiner Tasche, und eine leichte, vage Furcht begann, sich in Ged zu regen. Er zwang sich zum Reden: »Dunkelheit kommt und Schnee. Wie weit noch, Skihor?« Minuten verstrichen, dann antwortete der andere, ohne sich umzuwenden: »Nicht weit.« Aber seine Stimme klang nicht menschlich, sondern wie die eines Tieres, das stimmlos und ohne Lippen versucht, Laute auszustoßen. Ged blieb stehen. Ringsum dehnten sich die kahlen Hügel im späten, dämmrigen Licht des Tages. Schnee fiel spärlich, lautlos. »Skihor!« sagte er, und der andere hielt an und wandte sich ihm zu. Unter der spitzen Kapuze war kein Gesicht. Bevor Ged ein Wort sprechen oder seine Macht sammeln konnte, sagte das Gebbeth in seiner tonlosen, rauhen, knurrenden Stimme: »Ged!« Nun konnte der junge Mann keinen Verwandlungszauber mehr wirken, sondern war in seinem eigensten Wesen gefangen und dem Gebbeth schutzlos preisgegeben. Auch Hilfe konnte er in diesem unbekannten Land, wo ihm alles und alle fremd waren, nicht herbeirufen, keiner würde zu ihm kommen. Hier stand er, allein, und nur der Stab aus Eibenholz, den seine rechte Hand umklammert hielt, war zwischen ihm und seinem Feind.
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Das Wesen, das Skihors Geist vernichtet und seinen Körper angenommen hatte, machte einen Schritt auf Ged zu; seine Arme streckten sich suchend nach ihm aus. Entsetzen und Wut füllten Ged, und er schwang seinen Stab in die Höhe und ließ ihn pfeifend auf die Kapuze, unter der das Schattenwesen verborgen war, heruntersausen. Kapuze und Umhang fielen unter diesem harten Schlag zusammen, als wären sie mit Wind gefüllt gewesen; sich krümmend und um sich schlagend, erhob es sich wieder. Der Körper eines Gebbeth besitzt keine greifbaren Substanzen, er ist nur eine Hülle oder ein Dunst in menschlicher Gestalt, ein unwirklicher Körper, der einen wirklichen Schatten umschließt. Ruckend und zuckend, wie vom Wind geschüttelt und aufgeblasen, breitete der Schatten seine Arme wieder aus und kam auf Ged zu, um ihn zu packen, wie er es damals auf dem Rokkogel getan hatte. Gelänge ihm das, dann würde er die Hülle von Skihor abwerfen und in Ged schlüpfen und ihn von innen heraus verschlingen, um ihn ganz zu besitzen, denn das war sein ausschließliches Trachten. Ged schlug wieder auf ihn ein mit dem schweren Stab, der Feuer gefangen hatte und glühte, und er trieb ihn zurück, aber er kam wieder vorwärts, und wiederum schlug ihn Ged, aber dann mußte er den lodernden, rauchenden Stab fallen lassen, denn seine Hand war durch Brandwunden verletzt. Ged trat zurück, dann drehte er sich blitzschnell um und rannte davon. Er rannte, und nur ein paar Schritte hinter ihm rannte das Gebbeth, das ihn zwar nicht einholen, dem er aber auch nicht entkommen konnte. Ged blickte nicht einmal zurück. Er rannte unentwegt weiter durch das weite dämmernde Land, in dem es kein Versteck gab. Einmal hörte er, wie das Gebbeth ihn mit krächzender Stimme beim Namen rief, und er wußte, daß er diesem Ding gegenüber keine Zauberkräfte besaß. Das Gebbeth aber hatte keine Macht über seine körperlichen Kräfte und konnte ihn nicht zwingen, einzuhalten. Er rannte und rannte, und die Lunge brannte ihm in der Brust bei jedem Atemzug. Die Nacht schloß sich um den Verfolgten und den Verfolger. Feiner Schnee deckte den Pfad zu, den Ged kaum mehr erkennen konnte. Sein Blut hämmerte hinter seinen Schläfen, sein Atem stach heiß in seiner Kehle, er konnte nicht mehr richtig laufen; er stolperte und strauchel-
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te, doch sein unermüdlicher Feind schien nicht in der Lage zu sein, ihn einzuholen, er folgte ihm nur hart auf den Fersen. Das Gebbeth hatte angefangen, ihm zuzuflüstern und zuzuraunen. Es rief ihn zu sich, und jetzt wußte er, daß diese Stimme sein ganzes Leben lang in seinen Ohren gewesen war, daß sie gerade unterhalb der Grenze des Hörbaren gelegen hatte, aber jetzt konnte er sie vernehmen, und er mußte nachgeben, er mußte auf sie hören, er mußte anhalten. Aber er quälte sich weiter, er schleppte sich einen langen, kaum sichtbaren Hang hinauf. Dort, irgendwo vor ihm, glaubte er ein Licht wahrzunehmen, und es schien ihm, als riefe ihm eine Stimme zu von dort vorne, irgendwo über ihm: »Komm, komm!« Er versuchte zu antworten, aber seine Stimme versagte ihm. Das schwache Licht wurde deutlicher, es fiel durch eine Toreinfahrt direkt vor ihm. Mauern konnte er nicht sehen, nur das Tor. Bei seinem Anblick hielt er an, und das Gebbeth riß seinen Umhang an sich und fingerte an seinen Seiten herum, um ihn von hinten zu packen. Ged raffte seine letzte Kraft zusammen und warf sich durch das schwach schimmernde Tor. Er versuchte noch, sich umzudrehen und das Tor hinter sich zuzuschlagen, damit das Gebbeth nicht hereinkomme, aber seine Kräfte verließen ihn. Er taumelte und griff nach einem Halt. Licht fiel auf ihn und verschwamm vor seinen Augen. Er fühlte, wie er hinfiel, und im Fallen merkte er noch, wie er aufgefangen wurde; aber er war völlig erschöpft, und seine Sinne schwanden ihm.
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DER FALKENFLUG
GED ERWACHTE und blieb eine Weile liegen, ohne sich zu regen. Er genoß es, überhaupt wieder zu erwachen, und er genoß das Licht, das ihn umgab, das helle, gewöhnliche Licht des Tages. Irgendwie hatte er das Gefühl, als schwebe er auf diesem Licht oder als treibe er in einem Boot auf stillen Gewässern. Endlich aber merkte er, daß er in einem Bett lag. Allerdings war es ein Bett, das ihm völlig fremd und ungewohnt war. Es lag auf einem Rahmen, der auf vier hohen, geschnitzten Beinen stand. Die seidenen Matratzen waren mit Daunen gefüllt, daher rührte wohl das Gefühl des Schwebens, und über allem breitete sich ein karminroter Baldachin, wohl um den Luftzug abzuhalten. Zu beiden Seiten des Bettes waren die Vorhänge zurückgebunden. Ged sah einen Raum, dessen Wände und Boden aus Stein waren. Durch drei hohe Fenster sah er das kahle, braune Moor, stellenweise schneebedeckt, im gedämpften Licht der Wintersonne liegen. Hoch mußte dieses Zimmer liegen, denn weit konnte er das Land überblicken. Eine damastbezogene Daunendecke rutschte herunter, als Ged sich aufsetzte und das fürstliche Gewand aus silberschimmernder Seide wahrnahm, das man ihm angezogen hatte. Auf einem Stuhl neben dem Bett lagen Stiefel aus feinem Handschuhleder und ein mit Pellawipelz gefütterter Umhang. Eine Weile blieb er regungslos sitzen. Er fühlte sich benommen, als wäre er in einem Bann gefangen. Dann stand er auf und langte nach seinem Stab, aber er hatte keinen Stab mehr. Seine rechte Hand, obwohl man sie mit Salbe bestrichen und verbunden hatte, war an der Innenfläche und an den Fingern verbrannt. Jetzt spürte er den Schmerz, und als er sich bewegte, kam ihm sein Körper wie gerädert vor.
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Er erhob sich und stand wiederum regungslos. Dann flüsterte er leise, und wenig Hoffnung lag in seiner Stimme: »Hög... Hög...«, denn auch das kleine, eigenwillige und treue Geschöpf war verschwunden, das schweigende Seelchen, das ihn damals aus dem Reich des Todes zurück ins Leben geführt hatte. War es noch bei ihm gewesen, als er gestern Nacht geflohen war? Er wußte es nicht. Verschwommen und dunkel nur konnte er sich an das Gebbeth, den flammenden Stab, das Rennen, das Flüstern und das Tor erinnern. Er versuchte, sich alles ins Gedächtnis zurückzurufen, aber es blieb verschwommen. Noch einmal flüsterte er den Namen seines Gefährten, aber er wußte, daß er keine Antwort darauf bekommen würde. Tränen traten ihm in die Augen. In der Ferne läutete eine Glocke. Eine zweite Glocke vor seiner Tür antwortete mit melodischem Geläut. Hinter ihm, am anderen Ende des Zimmers, öffnete sich eine Tür, und eine Frau trat ein: »Willkommen, Sperber«, sagte sie lächelnd. Sie war jung, groß und schlank, in Weiß und Silber gekleidet, und ein Silbernetz hielt ihr Haar oben zusammen, das wie eine schwarze Kaskade über ihre Schultern fiel. Ged verbeugte sich steif. »Ich glaube, Sie erinnern sich nicht mehr an mich.« »Ich... sollte ich mich an Sie erinnern?« Nur einmal in seinem Leben war ihm eine ähnlich schöne Frau in ebenso kostbaren Gewändern begegnet Die Herrin von O, die mit ihrem Gemahl zum Fest der Sonnenwende nach Rok gekommen und die ihm damals wie eine zarte, helle Kerzenflamme erschienen war; die Frau vor ihm war genauso schön, doch glich sie eher dem weißschimmernden Neumond. »Ich habe mir gedacht, daß Sie sich nicht mehr an mich erinnern«, sagte sie lächelnd. »Aber das macht nichts. Obwohl Sie vergeßlich sind, heiße ich Sie hier als einen alten Freund willkommen.« »Wo bin ich denn?« fragte Ged, der noch immer steif dastand und dem das Sprechen schwer fiel. Es war nicht so einfach, sie anzusprechen und den Blick wieder von ihr abzuwenden. Die fürstlichen Kleider, die er trug, waren ihm auch fremd, der Steinboden, auf dem er stand, war ihm ungewohnt, die ganze Atmosphäre hier war andersartig. Er war nicht sein altes Selbst, jedenfalls nicht derselbe, der er gewesen war.
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»Diese Feste hier ist der Hof von Terrenon. Mein Gemahl, Fürst Benderesk, herrscht über dieses Land, vom Keksemtmoor bis zu den Bergen von Os im Norden. Er ist der Besitzer des wertvollen Steines, der Terrenon genannt wird. Mich nennt man Serret hier, das ist osskilisch und heißt Silber; und ich weiß, daß man Sie manchmal Sperber nennt und daß Sie auf der Insel der Weisen zum Zauberer gemacht wurden.« Ged blickte auf seine verbrannte Hand und sagte nach einer Weile: »Ich weiß nicht, wer ich bin. Früher hatte ich Macht. Jetzt aber, glaube ich, habe ich sie verloren.« »Keineswegs! Sie haben sie nicht verloren, es sei denn nur, um sie in zehnfacher Stärke wiederzugewinnen. Hier, mein Freund, sind Sie sicher vor dem, was Sie hierhergetrieben hat. Die Mauern dieser Feste sind gar mächtig, und nicht alle bestehen nur aus Stein. Hier können Sie sich erholen und Kraft schöpfen. Hier, wenn Sie wollen, können Sie eine andere Stärke erwerben und einen Stab, der nicht zu Asche zerfällt in ihrer Hand. Manchmal nimmt das Böse auch ein gutes Ende. Aber kommen Sie jetzt mit mir, ich zeige Ihnen unseren Besitz.« So lieblich war ihre Stimme, daß Ged kaum auf ihre Worte hörte, sondern allem von ihrem betörenden Klang angezogen wurde und ihr folgte. Wie er vermutet hatte, lag sein Zimmer hoch in dem Turm, der sich wie ein scharfer Zahn auf dem Hügel erhob. Er folgte Serret die marmorne Wendeltreppe hinab, durch reich ausgestattete Säle und Räume hindurch, an hohen Fenstern vorbei, die südlich, östlich, nördlich und westlich den Blick freigaben über niedrige, braune Hügel, die sich in monotoner Gleichförmigkeit, ohne Haus und Baum, in weiter Ferne unter dem klaren, sonnigen Winterhimmel verloren. Nur im Norden sah man winzige, weiße Gipfel am blauen Horizont, und weit im Süden lag unsichtbar das schimmernde Meer. Bedienstete öffneten die Türen und traten zurück, um Ged und die Fürstin eintreten zu lassen. Es waren bleiche, grießgrämig aussehende Osskilianer. Auch Serret hatte eine helle Haut, doch im Gegensatz zu ihnen sprach sie fließend Hardisch, es schien Ged sogar, als habe sie manchmal den Akzent von Gont. Später am gleichen Tag führte sie ihn vor ihren
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Gemahl, Fürst Benderesk von Terrenon. Dieser war mindestens dreimal so alt wie seine Frau, knochendürr und knochenweiß. Er begrüßte Ged mit kalter, formeller Höflichkeit und schaute ihn durch halbgeschlossene Lider prüfend an. Er lud ihn ein, sein Gast zu sein, solang es ihm gefiele. Mehr sprach er nicht. Er fragte Ged weder über seine Reisen aus noch über den Feind, der ihn hierhergejagt hatte. Auch die Fürstin Serret berührte diese Dinge nicht. Dies war seltsam genug, doch verglichen mit der Fremdheit dieses ganzen Hofes, war es nicht erstaunlich. Geds Sinne waren immer irgendwie umnebelt, er konnte die Dinge um sich herum nicht klar erkennen. Der Zufall hatte ihn in diese Turmfeste geführt, doch dieser Zufall schien geplant, oder es war ein Plan, der ihn hierhergelockt hatte, und doch hatte auch hier der Zufall seine Hand im Spiel gehabt. Er hatte sich nach Norden gewandt, ein Fremder in Orrimy hatte ihn hierhergeschickt, um Hilfe in seinem Kampf gegen den Schatten zu finden; ein osskilisches Schiff hatte auf ihn gewartet; Skihor war sein Führer gewesen. Wieviel davon war das Werk des Schatten, der ihn verfolgte? Nichts davon? Wurden sie beide, er und der Schatten, von einer anderen Macht geleitet? Er, Ged, ging in eine Falle, und der Schatten folgte ihm nach und nahm Besitz von Skihor, als sich die Gelegenheit dazu bot? So mußte es sich verhalten haben, denn der Schatten durfte bestimmt den Hof von Terrenon nicht betreten, das hatte Serret selbst gesagt. Seit er im Turm erwacht war, hatte er auch die lauernde Nähe des Schattens nicht gespürt. Aber was brachte ihn hierher? Denn dies war ganz bestimmt kein Ort, der auf des Zufalls Wegen lag, selbst sein langsam arbeitendes Gehirn vermochte das zu erkennen. Kein anderer Fremder klopfte an dieses Tor. Der Turm stand abseits und abgelegen, kein direkter Weg führte von hier nach Naschun, der nächsten Stadt. Kein Mensch kam zu dieser Feste, kein Mensch verließ sie. Ihre Fenster blickten hinaus auf ödes, unbewohntes Land. Durch diese Fenster blickte Ged, der sich allein in sein Zimmer zurückgezogen hatte, und hier stand er nun tagaus, tagein, kalt, mit wundem Herzen und mit betäubten Sinnen. In diesem Gemäuer schien es immer kalt zu sein, trotz der Teppiche und der Wandbehänge, trotz
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der teuren Pelze und der wuchtigen Kamine aus Marmor. Die Kälte zog bis in die Knochen und setzte sich im Mark fest. Und in Geds Herz zog eine kalte Scham ein, die er nicht vertreiben konnte, denn immer wieder mußte er daran denken, wie er sich seinem Feind gestellt und wie er verloren hatte, denn er war vor ihm geflohen. Er bildete sich ein, daß alle Meister auf Rok versammelt waren, Genscher, der Erzmagier stand mit gerunzelter Stirn in ihrer Mitte, auch Nemmerle war dabei und Ogion und selbst das Zauberweib, das ihn seine ersten Zauberworte gelehrt hatte. Sie alle standen und starrten ihn vorwurfsvoll an, und er wußte, daß er ihren Erwartungen nicht entsprochen hatte. Dann begann er, sich mit Worten zu verteidigen: »Wenn ich nicht weggerannt wäre, hätte der Schatten von mir Besitz ergriffen; er hatte ja schon Skihors Stärke und einen Teil meiner Kraft, und ich konnte meine Macht nicht gegen ihn gebrauchen, denn er wußte ja meinen Namen. Ich mußte davonlaufen. Ein Gebbethzauberer wäre eine furchtbare Macht gewesen und hätte Schreckliches angerichtet. Ich mußte davonlaufen.« Aber alle, die ihn umstanden, blickten ihn nur weiterhin stumm an. Dann blickte er wieder hinaus und sah den feinen Schneeflocken zu, die unaufhörlich fielen und das leere Land zu seinen Füßen zudeckten, und in seinem Herzen wuchs eine bleierne Kälte, und eine dumpfe Erschöpfung bemächtigte sich seiner, bis er nichts mehr fühlte. So verbrachte er viele Tage elend und allein. Wenn er herunterkam von seinem Zimmer, war er schweigsam und förmlich. Die Schönheit der Fürstin verwirrte ihn, und an diesem vornehmen, geregelten, seltsamen Hof fühlte er sich wieder wie ein einfacher, ungehobelter Ziegenhirte. Sie ließen ihn in Ruhe, wenn er für sich sein wollte. Wenn er es nicht mehr aushielt, allein in seinem Zimmer zu grübeln und dem fallenden Schnee zuzuschauen, dann setzte er sich zu Serret in einem der halbrunden Säle weiter unten im Turm, die vom Kaminfeuer erhellt und mit Wandteppichen behangen waren, und unterhielt sich mit ihr. Ausgelassen fröhlich konnte die junge Fürstin nicht sein, noch nie hatte er sie laut lachen hören, aber lächeln sah er sie oft, und ein Lächeln genügte, um Geds Herz zu erwärmen... Wenn er mit ihr beisammen war, dann vergaß er seine Steifheit und seine Schmach. Es dauerte nicht lange, und
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sie trafen sich jeden Tag und plauderten lange und ausführlich, während sie am Kamin oder an einem der Fenster in den hohen Räumen des Turms saßen, etwas entfernt von den Dienerinnen, die Serret überallhin begleiteten. Der alte Fürst hielt sich meist in seinen Gemächern auf. Nur jeden Morgen konnte man ihn sehen, wie er im verschneiten Innenhof der Feste auf und ab ging. Er sah dann aus wie ein alter Zauberer, der die ganze Nacht damit verbracht hatte, Zaubereien zusammenzubrauen. Manchmal nahm er die Abendmahlzeit gemeinsam mit Ged und Serret ein, schweigend saß er dann an der Tafel, doch hin und wieder warf er einen harten, begehrlichen Blick auf seine junge Frau. Ged fühlte dann immer Mitleid in sich aufwallen. Serret kam ihm dann vor wie ein eingesperrtes weißes Reh, wie ein weißer Vogel, dem man die Flügel beschnitten hatte, oder wie ein wunderbarer silberner Reif am gichtigen Finger eines alten Mannes. Für Benderesk war sie nichts weiter als ein Bestandteil seines Schatzes. War der dann gegangen, so versuchte Ged, sie mit Worten zu unterhalten, ihre Einsamkeit erträglicher zu machen und ihr den gleichen Dienst zu erweisen, den sie auch ihm erwiesen hatte. »Was ist das für ein Edelstein, der diesem Turm den Namen gibt?« fragte er sie, als sie nach dem Mahle vor ihren leeren Goldtellern und Goldbechern im Kerzenlicht des riesigen Speisesaales plaudernd beisammen saßen. »Sie haben noch nie davon gehört? Er ist sehr bekannt.« »Nein. Ich weiß nur, daß die Fürsten von Osskil berühmt sind für ihre Schätze.« »O ja, das stimmt, aber dieser Stein übertrifft alle anderen. Möchten Sie ihn gerne sehen? Kommen Sie mit, ich zeige ihn Ihnen.« Sie schaute ihn an und versuchte mutig und herausfordernd zu lächeln, und es schien Ged, als hätte sie ein wenig Angst vor dem, was sie jetzt tat. Sie führte den jungen Mann aus dem Saal hinaus durch die engen Gänge des Erdgeschosses und weitere Treppen hinunter, die in unterirdische Gewölbe führten, bis vor eine verschlossene Tür, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Mit einem Silberschlüssel schloß sie die Tür auf und schaute wieder auf Ged mit dem gleichen Lächeln, ihn auffordernd, ihr zu
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folgen. Hinter der Tür lag ein kurzer Gang und eine zweite Tür, die sie mit einem Goldschlüssel aufschloß, und dahinter war eine dritte Tür, die sie mit einer der großen Öffnungsformeln aufmachte. Diese Tür öffnete sich in einen Raum, der so klein wie ein Verlies war: Wände, Decke und Boden waren aus roh zugehauenem Stein. Sonst war nichts darin zu sehen. »Sehen Sie ihn?« fragte Serret. Als Ged seine Augen durch das Verlies schweifen ließ, fiel sein Blick auf einen Stein, der zwischen die anderen Steinplatten eingelassen war. Er sah nicht anders aus als die übrigen Steine, er war genauso grob zugehauen und feuchtdunkel, doch Ged fühlte die Macht, die von ihm ausging, so intensiv, als spräche er zu ihm. Der Atem blieb in seiner Kehle stecken, und für einen Moment befiel ihn Übelkeit. Vor ihm lag der Grundstein des Turmes. Hier war der Mittelpunkt, und es war kalt, bitterkalt, nichts konnte diesen kleinen Raum erwärmen. Uralt war dieses Ding, ein alter, furchtbarer Geist war in diesem Steinblock gefangen. Ged gab Serret keine Antwort auf ihre Frage, sagte weder ja noch nein, sondern stand regungslos. Sie deutete auf den Stein, indem sie ihm einen raschen, seltsamen Blick zuwarf: »Das hier ist der Terrenon. Wundern Sie sich, weshalb wir einen so seltenen Stein in unserer tiefsten Schatzkammer aufbewahren?« Noch immer gab Ged keine Antwort, sondern stand stumm und abwägend. Es konnte sein, daß sie ihn nur prüfte, es konnte aber auch sein, daß sie keine Ahnung von dem wahren Wesen dieses Steines hatte, denn sie sprach so leichtfertig davon. Sie wußte wahrscheinlich nicht genug, um diesen Stein zu fürchten. »Erzählen Sie mir mehr von seiner Macht«, sagte er schließlich. »Der Stein entstand, noch bevor Segoy die Inseln dieser Welt aus dem Meer emporsteigen ließ. Er bestand schon, als die Welt geschaffen wurde, und er wird bis ans Ende dieser Welt bestehen. Zeit ist ohne Bedeutung für ihn. Wenn Sie Ihre Hand darauf legen und eine Frage an ihn richten, wird er Ihnen Antwort geben, gemäß der Macht, die Sie besitzen. Seine Stimme wird von denen vernommen, die ihn verstehen können. Er weiß um die Geschehnisse der Vergangenheit, der Gegenwart und der
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Zukunft. Er hat Ihr Kommen vorausgesagt, lange bevor Sie dieses Land betreten haben. Werden Sie ihn etwas fragen?« »Nein.« »Er wird Ihnen Antwort geben.« »Es gibt nichts, was ich ihn fragen wollte.« »Er könnte Ihnen zum Beispiel sagen«, sprach Serret mit melodischer Stimme, »wie Sie Ihren Feind besiegen können.« Ged gab keine Antwort. »Fürchten Sie sich vor dem Stein?« fragte sie und schien ungläubig. Er antwortete: »Ja.« In der tödlichen Kälte und Stille dieser Zelle, die von den stärksten magischen Wänden umgeben und von Steinmauern umschlossen war, hier, im Licht einer einzigen Kerze, ließ Serret erneut einen Blick ihrer funkelnden Augen über ihn gleiten: »Sperber«, sagte sie, »Sie haben doch keine Angst!« »Mit diesem Geist werde ich nicht sprechen«, sagte Ged. Dann faßte er Mut und blickte sie ernst und eindringlich an. »Fürstin, der Geist in diesem Stein ist eingeschlossen und gebunden in einem magischen Bann, der mit einem weiteren Bann verstärkt wurde. Er ist gebannt durch die großen Formeln des Verschließens und Verwahrens, er ist umgeben von dreifach verstärkten Festungswällen in einem leeren Land, nicht weil er wertlos ist, sondern weil er unsäglich Böses wirken kann. Ich weiß nicht, was man Ihnen sagte, als Sie hierherkamen. Aber Sie, die jung und weichherzig sind, sollten dieses Ding niemals berühren noch ihren Blick darauf ruhen lassen. Es kann Ihnen nichts Gutes bringen.« »Ich habe ihn berührt. Ich habe auch mit ihm gesprochen und habe ihn reden hören. Er tat mir nichts.« Sie wandte sich zum Gehen, und sie gingen zurück durch die Türen und Gänge, bis sie an die von Wandfackeln beleuchtete große Wendeltreppe des Turmes kamen. Hier blies Serret ihre Kerze aus, und sie trennten sich mit wenigen Worten. Ged schlief nicht viel in dieser Nacht. Nicht der Gedanke an den Schatten hielt ihn wach, diese Furcht war verdrängt von dem Bild des Steines. Immer wieder tauchte es vor seinen Augen auf, und er grübelte über
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diesen Stein nach, der Grundstein dieses Turmes war. Und dazwischen sah er Serrets Gesicht, das ihm zugewandt war, das im Licht der flakkernden Kerze abwechselnd hell und dunkel schien. Er spürte wiederum ihren seltsamen Blick auf sich ruhen, als er sich geweigert hatte, den Stein zu berühren. War es Verachtung, was er in ihrem Blick gelesen hatte, oder hatte er sie verletzt? Als er sich endgültig zum Schlafen umdrehte, schienen ihm die seidenen Bettbezüge noch kälter als gewöhnlich, und er wachte wiederholt in der Dunkelheit auf, von dem Bild des Steines und dem Ausdruck in Serrets Augen beunruhigt. Am nächsten Tag suchte er die Fürstin in dem halbrunden Saal aus grauem Marmor auf, in den das Licht der tief im Westen stehenden Sonne fiel. Hier hielt sie sich beim Spiel oder am Webrahmen gern mit ihren Dienerinnen auf. Er sprach sie an: »Frau Serret, ich habe Sie gestern beleidigt und möchte mich entschuldigen.« »Nein«, sagte sie nachdenklich, und wiederholte: »Nein...« Dann schickte sie ihre Dienerinnen fort, und als sie allein waren, wandte sie sich zu Ged: »Mein Gast, mein Freund«, sagte sie, »Sie schauen weiter und sehen mehr als andere Menschen, aber vielleicht erkennen Sie doch nicht alles, was gesehen werden kann. In Gont, in Rok, dort werden hohe Zauberkünste gelehrt. Hier aber befinden wir uns in Osskil, dem Land der Raben: dies ist kein hardisches Land. Magier haben hier wenig zu sagen, man kennt sie auch kaum. Und hier geschieht manches, worüber die Zaubermeister im Süden schweigen, und Dinge gibt es hier, die nicht auf der Liste des Meisters Namengeber stehen. Was man nicht kennt, fürchtet man gewöhnlich. Aber Sie haben hier, am Hof von Terrenon, nichts zu fürchten. Ein Mann mit geringerer Macht, der hätte wohl Grund zur Sorge. Sie nicht — Ihnen ist die Macht angeboren, mit der Sie das, was wir im verborgenen Raum hier halten, sich unterwerfen können. Dessen bin ich ganz gewiß. Darum sind Sie ja hier.« »Das verstehe ich nicht.« »Weil Fürst Benderesk, mein Gemahl, nicht ganz offen mit Ihnen sprach. Aber ich werde Ihnen alles sagen. Kommen Sie, setzen Sie sich her zu mir.«
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Er ließ sich neben ihr auf der niedrigen, gepolsterten Fensterbank nieder. Die untergehende Sonne warf ihre Strahlen schräg durchs Fenster, und alles war in einen goldenen Glanz getaucht, der keine Wärme verbreitete. Auf dem schon halb in den Schatten sinkenden Moor unten lag der ungeschmolzene Schnee der vergangenen Nacht und bedeckte wie ein stumpfweißes Leichentuch die Erde. Noch weicher als gewöhnlich war der Klang ihrer Stimme, als Serret jetzt zu ihm sprach: »Benderesk ist Herr und Erbe des Terrenon, aber er kann sich seiner nicht ganz bedienen, er kann ihn nicht ganz beherrschen. Auch ich kann es nicht, weder allein noch zusammen mit ihm. Ihm und mir, uns fehlt es an Geschick und an der Macht. Sie aber verfügen über beides.« »Woher wissen Sie das?« »Von dem Stein selbst natürlich! Ich habe Ihnen doch gesagt, daß er Ihr Kommen vorausgesagt hat. Er weiß, wer sein Meister ist. Er hat auf Ihr Kommen gewartet. Noch bevor Sie geboren wurden, hat er schon gewartet, weil Sie ihn beherrschen können. Und derjenige, dem der Terrenon antwortet, der wird zum Meister seines eigenen Schicksals. Er wird so stark sein, daß er jeden Feind, ob menschlich oder übermenschlich, überwinden kann. Wissen, Reichtum, Macht und die Gabe des Sehens wird er gewinnen und über eine Zauberkraft verfügen, die selbst die Kraft des Erzmagiers in den Schatten stellt. Sie können alles gewinnen oder nur ganz wenig davon nehmen, das liegt ganz in Ihrer Hand, Sie müssen nur danach fragen.« Sie hob ihre rätselhaften, funkelnden Augen und durchbohrte ihn mit einem Blick, der ihn innerlich zusammenschauern ließ, als ob ihm kalt sei. Doch Furcht lag auch in ihrem Blick, so als suche sie Hilfe bei ihm und sei zu stolz, ihn darum zu bitten. Sie hatte ihre Hand leicht auf die seine gelegt, er spürte sie kaum, schmal und hell lag sie auf seiner dunklen, starken Hand. Er blickte sie eindringlich an und sprach: »Serret! Solche Macht, wie Sie glauben, besitze ich nicht, was ich einmal besaß, habe ich weggeworfen. Ich kann Ihnen nicht helfen, ich nutze Ihnen nichts. Das aber kann ich Ihnen versichern: die uralten Mächte der Erde, die dürfen nicht von den Menschen gebraucht werden. Sie wurden uns
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niemals anvertraut, sie richten nur Unheil an in unseren Händen. Und wie Sie wissen: schlechte Mittel führen zu schlechtem Ende. Mich zog nichts hierher, ich wurde getrieben, und was mich trieb, will mich zerstören. Ich kann Ihnen nicht helfen.« »Derjenige, der seine Macht wegwirft, erlangt oft eine Macht, die weit stärker ist«, sagte sie lächelnd, als wäre seine Furcht und sein Bedenken kindisch. »Vielleicht weiß ich besser als Sie selbst, was Sie hierherbrachte. Sprach nicht ein Mann mit Ihnen in den Straßen von Orrimy? Er war ein Bote, gesandt vom Terrenon. Vor Zeiten war er selbst ein Zauberer, aber er warf seinen Stab fort, um einer Macht zu dienen, die weit größer ist als die eines Magiers; und als Sie nach Osskil kamen, versuchten Sie, mit Ihrem Stab aus Holz gegen einen Schatten zu kämpfen; und nur mit Mühe konnten wir Sie noch retten, denn das Ding, das Ihnen folgte, ist verschlagener, als wir dachten, und hatte Ihnen schon viel von Ihrer Stärke weggenommen... Mit Schatten nur kann man gegen Schatten kämpfen, mit der Dunkelheit nur kann man das Dunkle besiegen. Sperber, was brauchen Sie, um den Schatten zu bezwingen, der außerhalb dieser Mauern auf Sie lauert?« »Ich brauche das, was mir zu wissen versagt ist: seinen Namen.« »Der Terrenon, der jede Geburt und jedes Sterben, der alle Namen vor und nach dem Tode, das Ungeborene und Unsterbliche, die helle und die dunkle Welt kennt, der wird auch diesen Namen wissen.« »Und welchen Preis muß ich dafür bezahlen?« »Keinen Preis, glauben Sie mir. Er wird Ihnen gehorchen, er wird Ihnen als Ihr Sklave dienen.« Im Tiefsten erschüttert und gequält saß Ged und blieb stumm. Sie hatte seine Hand mit beiden Händen ergriffen und schaute ihm voll ins Gesicht. Die Sonne war hinter den grauen Nebeln am Horizont verschwunden, die Luft war trüb geworden, doch das Lob, das sie auf ihn häufte, und der Triumph, den sie in sich fühlte, als sie seinen Willen wanken sah, verliehen ihrem Gesicht einen hellen Glanz: »Der Mächtigste der Menschen werden Sie sein, ein König unter ihnen. Herrschen werden Sie — und ich mit Ihnen.«
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Plötzlich erhob sich Ged und tat einen Schritt vorwärts, so daß er um die Kurve der langen Wand blicken konnte. Dort, neben der Tür, stand der Fürst von Terrenon, der alles mit angehört hatte, und lächelte. Wie Schuppen fiel es Ged von den Augen. Er blickte auf Serret hinab: »Licht überwindet die Dunkelheit«, stammelte er, »... nur Licht...« Seine eigenen Worte leuchteten ihm wie ein Licht, und während er sprach, erkannte er, wie er hierhergezogen, hierhergelockt worden war, wie sie sich seine Furcht zunutze gemacht hatten, wie sie ihn, wenn er sich hätte fangen lassen, behalten hätten. Natürlich hatten sie ihn vor dem Schatten gerettet, denn sie wollten nicht, daß der Schatten von ihm Besitz ergriffe, bevor er Sklave des Steines geworden war. Wenn die Macht im Stein ihn aber gefangenhielte, dann würden sie den Schatten hereinlassen, denn ein Gebbeth war ein viel besserer Sklave als ein Mensch. Hätte er auch nur einmal den Stein berührt oder zu ihm gesprochen — er wäre unrettbar verloren gewesen. Doch — genau wie es dem Schatten nicht gelungen war, ihn ganz einzuholen, genausowenig war es dem Stein möglich gewesen, ihn an sich zu ziehen — nicht ganz jedenfalls. Fast hätte er nachgegeben — er war nahe daran gewesen. Seine Zustimmung hatte gefehlt. Und dem Bösen fällt es schwer, sich in einer Seele festzusetzen, die nicht mit ihm übereinstimmt. Er stand zwischen den beiden, die nachgegeben, die übereingestimmt hatten, und er schaute von einem zum anderen. Benderesk trat vor. »Ich habe es dir ja gesagt, Serret«, sagte der Fürst des Terrenon trocken zu seiner Frau, »daß er dir durch die Finger schlüpfen wird. Die Zauberer von Gont sind gewitzte Narren. Und du bist auch eine Närrin, du Weib von Gont. Du wolltest ihn und mich in deine Schlinge ziehen, uns beide wolltest du durch deine Schönheit blenden und beherrschen und dann den Terrenon für deine eigenen Zwecke nutzen. Doch ich, ich bin noch immer Herr des Steines, und das ist die Strafe, die ich über dich ungetreues Weib verhänge: Ekavror oe Oelwantar...« Er begann den Verwandlungszauber und hatte seine langen Hände erhoben, um die Frau, die angstvoll vor ihm kauerte, in irgendein Scheusal, ein Schwein oder einen Hund oder eine sabbernde alte Hexe zu verwandeln. Ged trat auf ihn zu und schlug seine ausgestreckten Hände mit seinen Händen nie-
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der. Er sprach ein kurzes Wort. Obwohl er keinen Stab besaß und auf fremdem, unheilvollen Boden stand, im Bereich einer finsteren Macht, trotzdem siegte sein Wille. Benderesk rührte sich nicht. Seine umwölkten, haßerfüllten Augen blickten unverwandt auf Serret. »Kommen Sie, Sperber«, sagte diese mit bebender Stimme, »kommen Sie, schnell, bevor er nach den Dienern des Steines ruft.« Doch wie ein Echo zu ihren Worten eilte ein Wimmern durch den Turm, durch die Steine des Bodens, an den Wänden entlang, ein trockenes, zitterndes Gemurmel, als ob die Erde selbst spräche. Serret ergriff Geds Hand und rannte mit ihm durch die Gänge und Säle, die lange Wendeltreppe hinunter, hinaus in den Burghof. Letztes, silbernes Tageslicht verflüchtigte sich über dem schmutzigen, zertretenen Schnee. Drei finster blickende Bedienstete des Schlosses verstellten ihnen den Weg, als ob sie diese beiden eines Anschlags auf ihren Herrn verdächtigten: »Es wird dunkel, Fürstin«, sagte der eine, und der andere fügte hinzu: »Sie können nicht mehr ausreiten.« »Geht mir aus dem Weg, Gesindel!« schrie Serret in der an Zischlauten reichen osskilischen Sprache. Die Männer wichen zurück und duckten sich, und sich zusammenkrümmend fielen sie auf den Boden, der eine schrie laut auf. »Wir müssen durch das Tor, einen anderen Weg gibt es nicht. Können Sie es erkennen, Sperber? Können Sie es finden?« Sie zupfte Ged am Ärmel, faßte ihn an der Hand und zog ihn mit sich, doch er zögerte: »Mit welchem Bann haben Sie die Männer geschlagen?« »Ich ließ heißes Blei in ihr Knochenmark rinnen, sie werden daran sterben. Beeilen Sie sich, ich sagte Ihnen doch, er wird die Diener des Steines auf uns loslassen, und ich kann das Tor nicht erkennen ... darauf liegt nämlich ein starker Zauberbann. Schnell!« Ged wußte nicht, was sie meinte, denn das verzauberte Tor lag so klar wie der Torbogen des Hofes, hinter dem es sich befand, vor seinen Augen. Er führte Serret erst durch den Torbogen, dann über den unberührten Schnee des Vorhofes ans Tor, dort sprach er ein Zauberwort des
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Öffnens und führte sie durch das Tor, das in die Zauberwälle eingelassen war. Serret verwandelte sich, als sie durch das Tor gingen und das silberne Dämmerlicht des Hofes von Terrenon hinter sich ließen. Sie war nicht weniger schön im trüben Abendlicht, das über dem Moor lag, doch etwas Wildes, Hexenhaftes hatte sich jetzt ihren Zügen beigemischt. Endlich erkannte Ged das Mädchen — es war die Tochter des Fürsten von Re Albi und der Zauberin von Osskil, die damals — es schien ihm schon ewig lange her zu sein — auf der grünen Wiese oberhalb Ogions Haus über ihn gespottet und ihn veranlaßt hatte, den Zauberspruch zu lesen, der den Schatten freisetzte. Aber er verweilte nicht lange bei diesen Gedanken, sondern schaute wachsam und mit angespannten Sinnen umher. Er suchte den Schatten, der irgendwo außerhalb der magischen Wälle auf ihn wartete. Vielleicht hatte er sich in die immer düsterer werdenden Schatten verzogen und wartete auf den Augenblick, da er seine Formlosigkeit mit Geds Leben vertauschen konnte. Ged spürte seine Nähe, doch konnte er ihn nicht sehen. Aber als er seine Blicke umherschweifen ließ, sah er ein kleines dunkles Ding, halb verdeckt vom Schnee, ein paar Schritte vom Tor entfernt liegen. Es war der Otak, dessen feines, kurzhaariges Fell mit Blut besudelt war und dessen kleiner, leichter Körper steif und kalt in seinen Händen lag. »Verwandeln Sie sich! Verwandeln Sie sich, sie kommen!« schrie Serret, und nach seinem Arm greifend, deutete sie auf den Turm, der sich wie ein großer, weißer Zahn in der Dämmerung hinter ihnen erhob. Aus den schmalen Mauerluken am Fundament krochen schwarze Geschöpfe und schüttelten ihre langen Fittiche: wuchtig mit ihren Flügeln schlagend, erhoben sie sich in die Luft, kreisten über den Wällen und segelten auf Ged und Serret zu, die ungeschützt am Hang standen. Das hohle Wimmern, das sie in der Feste gehört hatten, war lauter geworden, war angeschwollen zu einem Beben und Seufzen der Erde, auf der sie standen. In Ged stieg Wut hoch. Ein unbändiger Zorn packte ihn gegen das grausame, tödliche Getier, das ihn verführte, verfolgte und in Fallen lockte. »Verwandeln Sie sich!« Serret schrie ihm laut zu und haspelte selbst
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schnell eine Verwandlungsformel herunter: Sie erhob sich als eine graue Möwe und flog davon. Ged aber beugte sich zur Erde und riß einen Halm des wilden Grases aus, der trocken und zart aus dem Schnee ragte, dort, wo der tote Otak gelegen war. Diesen Halm hob er in die Höhe, und als er in der Ursprache zu ihm redete, wurde er immer länger und stärker. Als er geendet hatte, hielt er einen langen Stab, einen Zauber stab, in seiner Hand. Kein heiß loderndes rotes Feuer flackerte an diesem Stab entlang, als Ged auf das schwarze, flügelschlagende Getier vom Hof des Terrenon, das auf ihn niederstieß, einschlug: weiß brannte dieser Stab in kaltem magischem Feuer, das nicht verbrennt, sondern das Dunkle vertreibt. Das Getier setzte von neuem zum Angriff an: mißlungene Geschöpfe, aus einer Zeit stammend, die vor Drachen, Vögeln und Menschen lag, vom Tageslicht längst vergessen, doch nicht von der uralten, arglistigen, boshaften, allwissenden Macht im Stein. Sie drangen auf Ged ein, stießen auf ihn herab. Er fühlte ihre Krallen wie Sensen über seinem Kopf, und Übelkeit stieg in ihm hoch von ihrem Aasgestank. Grimmig parierte er ihre Stöße und schlug auf sie ein mit seinem erschreckenden Stab, der aus Zorn und einem Grashalm gewachsen war. Plötzlich, wie Raben, die von sich regendem Aas erschreckt wurden, stoben sie in die Höhe und wandten sich flügelschlagend in die Richtung, die Serret, in der Gestalt der Möwe, eingeschlagen hatte. Ihre Riesenflügel schienen sich gemächlich zu bewegen, doch das täuschte, mit jedem Schlag ihrer mächtigen Schwingen schossen sie gewaltig vorwärts. Keine Möwe konnte bei dieser Schnelligkeit mithalten. So schnell wie damals auf Rok nahm Ged die Gestalt eines mächtigen Falken an. Nicht den Sperber wählte er, dessen Namen er trug, sondern den Wanderfalken, der wie ein Pfeil, wie ein Gedanke dahinschießen kann. Mit gespreizten, scharfen und starken Schwingen flog er davon, die Verfolgenden verfolgend. Der Himmel verdunkelte sich, und Sterne begannen zwischen den Wolken zu funkeln. Vor sich sah er den schwarzen, mißlichen Haufen hinunterstoßen auf einen Punkt in der Luft. Jenseits des schwarzen Flecks sah er das Meer fahl im aschgrauen Licht des Tages liegen. Blitzschnell und pfeilgerade stieß der Falke Ged
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auf das Getier des Steines zu, und es zerstob wie Wassertropfen von einem geworfenen Stein. Doch es hatte schon seine Beute erreicht: Blutig war der scharfe Schnabel des einen, und weißgraue Federn waren in den Klauen eines andern. Keine Möwe war mehr zu sehen, die schwerelos Bahnen über der See zog. Die Untiere wandten sich gegen Ged. Schnell und unförmig kamen sie auf ihn zu, ihre scharfen Schnäbel geöffnet. Er aber schwang sich in Spiralen in die Höhe und stieß den wilden Kampfschrei des Falken aus, dann schoß er über den flachen Strand von Osskil, über die Brandung des Meeres davon. Das Getier vom Stein kreiste noch eine Weile krächzend, dann flog eins nach dem andern unbeholfen zurück über das Land. Die Urmächte überqueren nämlich keine Meere, sie sind an einen bestimmten Ort, eine Insel, Höhle, einen Stein oder sprudelnden Quell gebunden. Die schwarzen Mißgeburten flogen zurück zur Turmfeste, wo Benderesk, der Fürst des Terrenon, auf sie wartete. Vielleicht vergoß er Tränen bei ihrer Rückkehr, vielleicht auch lachte er. Ged flog weiter, falkenbeschwingt, falkenberauscht, wie ein Pfeil, der nicht herunterfällt, wie ein Gedanke, der nicht vergessen werden kann. Er flog über das Meer von Osskil, immer weiter nach Osten, dem Wind des Winters und der Nacht entgegen. Ogion der Schweigsame war spät im Jahr von seinen Herbstwanderungen nach Re Albi zurückgekehrt. Noch schweigsamer, noch einsamer war er in den vergangenen Jahren geworden. Dem neuen Fürsten, der in der Stadt unten wohnte, war es nicht gelungen, auch nur ein einziges Wort aus Ogion herauszubekommen, obgleich er bis zu dessen Falkennest hinaufgeklettert war, um ihn um Hilfe in einer Piraterei gegen die Andraden zu ersuchen. Ogion, der mit den Spinnen in ihren Netzen sprach, den man beobachten konnte, wie er die Bäume höflich grüßte, sprach kein einziges Wort zu dem Fürsten der Insel und ließ ihn unzufrieden wieder hinuntergehen. Vielleicht bedrückten Sorgen und Kummer sein Gemüt, denn Ogion verbrachte den ganzen Sommer lang bis spät in den Herbst hinein allein hoch oben in den Bergen, erst jetzt, zur
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Wintersonnenwende, kehrte er zum eigenen Herd zurück. Am Morgen nach seiner Rückkehr stand er spät auf und ging zur Quelle unterhalb seines Hauses, um Wasser für eine Tasse Kräutertee zu holen. Eine dünne Eisschicht bedeckte die Ränder des kleinen munteren Quells, und das zarte Moos zwischen den Felsen war eine Spitze aus Eisblumen. Der Tag war schon voll angebrochen, und doch würde es noch eine Stunde dauern, bis die Sonne sich über den mächtigen Berggipfel erhob. Auf dem gesamten westlichen Gont, vom Strand bis hinauf zum Gipfel, lag keine Sonne, schweigend und klar umrissen lag das Land im morgendlichen Licht des Winters vor ihm. Als der Magier an der Quelle stand und seinen Blick über das sich neigende Land, den Hafen und die graue Ferne des Meeres schweifen ließ, hörte er Flügelschlag über seinem Haupt. Er blickte auf und hob den Arm etwas in die Höhe. Ein mächtiger Falke, laut mit den Flügeln schlagend, kam herunter und ließ sich auf sein Handgelenk nieder. Dort klammerte er sich fest wie ein abgerichteter Edelfalke, doch trug er keine zerrissene Kette, keinen Reif, keine Glocke. Die Klauen preßten sich tiefer in Ogions Gelenk; die Federn der Flügel zitterten, das runde, goldene Auge blickte stumpf und wild. »Bist du ein Bote oder eine Botschaft?« fragte Ogion den Falken behutsam. »Komm mit mir...«, als er zu ihm redete, schaute ihn der Falke an. Ogion stand einen Augenblick, ohne zu reden. »Ich glaube, ich gab dir einst deinen Namen«, sagte er, schritt auf sein Haus zu und trat ein, den Vogel auf seinem Handgelenk mit sich tragend. Er setzte ihn in der Nähe des Herdes, in der Wärme des Feuers, ab und bot ihm Wasser zum Trinken an. Doch der Vogel wollte nicht trinken. Dann begann Ogion, ganz behutsam, eine magische Formel zu wirken. Er wob sie mehr mit seinen Händen, als mit Worten, und als der Bann geschlossen und gewoben war, sagte er sanft: »Ged...« ohne den Falken beim Feuer anzuschauen. Er wartete eine Weile, dann wandte er sich um, stand auf und ging auf den jungen Mann zu, der zitternd und stumpf blickend vor dem Feuer stand. Ged war in kostbare, fremdartige Gewänder gehüllt, in Pelz, Seide und Silber, doch die Kleider waren zerrissen und steif vom Salz des Mee-
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res. Er stand hager und gekrümmt, mit strähnigem Haar um sein vernarbtes Gesicht da. Ogion nahm ihm den königlichen Umhang von den Schultern und führte ihn in das kleine Gemach, in dem er als Lehrling geschlafen hatte; dort legte er ihn auf das Bett, und leise einen Schlafzauber murmelnd, verließ er ihn. Kein Wort hatte er zu ihm gesprochen, denn er wußte, daß er jetzt keine menschliche Sprache besaß. Als er ein Junge war, hatte Ogion, wie alle Jungen, geglaubt, daß es großartig wäre, sich durch die Kunst der Magie in jede Gestalt zu verwandeln, die einem gerade einfiel, Mensch, Tier, Baum oder Wolke, und ein Spiel der tausend Verwandlungen zu treiben. Aber als Zauberer kannte er den Preis dieses Spieles, nämlich die Gefahr, sich selbst zu verlieren, die Wahrheit zu verspielen. Je länger ein Mensch in einer anderen Gestalt bleibt, desto größer wird diese Gefahr. Jeder Zauberlehrling lernt die Geschichte des Zauberers Bordscher von Weg, dem es so großen Spaß gemacht hatte, sich in einen Bären zu verwandeln, daß er dies immer häufiger tat, bis der Bär in ihm so mächtig wurde, daß der Mensch in ihm abstarb. Als Bär im Wald tötete er seinen eigenen kleinen Sohn und wurde gejagt und schließlich erlegt. Und niemand weiß, wie viele Delphine, die sich im Innenmeer tummeln, einst weise Männer waren, die Weisheit und Namen über dem Spiel im ruhelosen Meer vergaßen. Ged schlüpfte in die Falkengestalt in letzter Not und in rasendem Zorn, und als er Osskil verließ, trieb ihn ein einziger Gedanke: dem Stein und Schatten zu entfliehen, die kalte, unheilvolle Gegend hinter sich zu lassen, den Weg nach Hause zu suchen. Das wilde, trotzige Wesen des Falken war wie sein eigenes und wurde sein eigenes, sein Wille fortzufliegen, wurde der Wille des Falken. So war er über Enlad geflogen, nur kurz ließ er sich an einem einsamen Weiher im Wald nieder, um zu trinken, aber getrieben von der Furcht vor dem Schatten, der ihm folgte, hob er sich sofort wieder in die Höhe. Über die große Meerenge, die man den Rachen von Enlad nennt, immer weiter und weiter war er geflogen, sich südöstlich haltend. Rechts sah er blau die Hügel von Oranea liegen und blasser links die Hügel von Andrad, vor ihm lag nur das Meer; bis schließlich aus den Wellen sich eine erhob, die sich nicht än-
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derte, die immer höher wuchs — der weiße Berggipfel von Gont. Im Sonnenlicht und in der Nacht, ununterbrochen hatte er auf diesem Flug die Schwingen des Falken getragen, durch die Augen des Falken geschaut, bis er schließlich keine eigenen Gedanken mehr hatte und nur noch die des Falken kannte: Hunger, Wind und Flugziel. Er flog zum richtigen Hafen. Nur wenige in Rok, nur einer in Gont konnte ihm helfen, wieder ein Mensch zu werden. Als er erwachte, war er benommen und redete nicht. Ogion sprach nicht mit ihm, sondern gab ihm Fleisch und Wasser und ließ ihn am Feuer sitzen, zusammengekrümmt, wie ein großer, grimmiger, trotziger Falke. Bei Nachteinbruch schlief er wieder. Am dritten Morgen kam er zur Herdstelle, wo Ogion saß und in die Flammen schaute, und sagte: »Meister ...« »Willkommen, Junge«, sagte Ogion. »Ich kam wieder als der gleiche zurück, als der ich ausgezogen bin: ein Tölpel«, sagte der junge Mann, und seine Stimme war rauh und zögernd. Der Magier lächelte ein wenig, deutete mit dem Kopf auf den Sitz gegenüber am Herd und begann Tee aufzugießen. Draußen fiel Schnee, der erste Schnee auf den unteren Hängen von Gont. Ogions Fensterläden waren fest geschlossen, aber man hörte den nassen Schnee aufs Dach fallen, und man fühlte die Stille des Schnees überall im Haus. Lange saßen sie am Feuer, und Ged erzählte Ogion alles, was sich seit seiner Abfahrt auf der Schatten zugetragen hatte. Ogion stellte keine Fragen, und als Ged fertig war, blieb er eine lange Weile nachdenklich sitzen. Dann erhob er sich, stellte Brot, Wein und Käse auf den Tisch, und sie aßen zusammen. Als sie gegessen und aufgeräumt hatten, sprach Ogion: »Bittere Narben trägst du, mein Junge«, sagte er. »Ich habe dem Ding gegenüber keine Macht«, antwortete Ged. Ogion schüttelte den Kopf und schwieg lange. Schließlich sagte er: »Seltsam, deine Macht war groß genug, einen Zauberer in seiner eigenen Domäne in Osskil zu übertreffen. Du warst mächtig genug, den Lokkungen und Angriffen einer Urmacht der Erde zu widerstehen. Und in Pendor hast du dich gegen einen Drachen behauptet.«
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»In Osskil hatte ich Glück, nicht Macht«, sagte Ged und schauderte beim Gedanken an die tödliche Kälte am Hof von Terrenon. »Was den Drachen anbelangt, so wußte ich seinen Namen. Das furchtbare Ding, das mich verfolgt, hat keinen Namen.« »Alles hat einen Namen«, sagte Ogion mit solcher Überzeugung, daß Ged nicht zu widersprechen wagte und die Worte des Erzmagiers Genscher nicht wiederholte, daß derartig unheimliche Wesen, wie das, welches Ged freigesetzt hatte, keinen Namen tragen. Der Drache von Pendor hatte zwar angeboten, ihm den Namen des Schattens zu sagen, aber er schenkte den Worten eines Drachen wenig Vertrauen; genausowenig hatte er Serrets Versprechungen geglaubt, daß ihm der Stein sagen könnte, was er wissen mußte. »Wenn der Schatten auch einen Namen hat«, sagte er endlich, »dann bedeutet das immer noch nicht, daß er anhält und ihn mir mitteilt.« »Nein«, sagte Ogion, »genausowenig wie du angehalten hast und ihm deinen Namen gesagt hast. Und doch kannte er ihn. Auf dem Moor in Osskil hat er dich bei deinem Namen gerufen, bei dem Namen, den ich dir gab. Es ist seltsam, seltsam.« Wiederum grübelte er lange. Ged sagte schließlich: »Ich kam hierher, um Rat zu suchen, nicht um eine Zuflucht zu finden, Meister. Ich will nicht, daß der Schatten diesen Ort heimsucht. Wenn ich hierbleibe, wird er bald wieder hier sein. Einmal haben Sie ihn aus diesem Raum hier vertrieben...« »Nein, das war nur die Vorahnung davon, der Schatten eines Schatten. Ich könnte ihn jetzt nicht mehr hervortreiben. Nur du kannst das tun.« »Aber vor ihm bin ich machtlos. Gibt es keinen Ort...?« Seine Stimme verlor sich, bevor er die Frage vollendet hatte. »Einen sicheren Ort gibt es nicht«, sagte Ogion gütig. »Verwandle dich nicht mehr, Ged. Der Schatten ist darauf aus, dein wahres Wesen zu zerstören. Fast wäre es ihm gelungen, als er dich dazu brachte, Falkengestalt anzunehmen. Nein, wohin du dich wenden sollst, weiß ich nicht. Doch habe ich eine Ahnung, was du tun sollst. Es ist schwer, dir das zu sagen.«
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Geds Schweigen forderte zur Wahrheit auf, und Ogion sprach schließlich: »Du mußt umkehren.« »Umkehren?« »Wenn du weiter vorwärts gehst, wenn du weiter fliegst, dann wird, wohin du dich auch wendest, Gefahr und Unheil auf dich warten, denn der Schatten treibt dich, er wählt den Weg, den du beschreitest. Du mußt den Jäger jagen.« Ged sagte nichts. »An der Quelle der Ar gab ich dir deinen Namen«, sagte der Magier, »an einem Fluß, der vom Berg herunter ins Meer fließt. Ein Mann sollte das Ziel kennen, dem er entgegengeht, das aber kann er nur, wenn er umkehrt und zurückgeht zum Anfang und diesen Anfang in seinem Wesen festhält. Wenn er nicht wie ein Ast sein will, der vom Strom gedreht und gewirbelt wird, dann muß er selbst Strom werden, und zwar der ganze Strom, von der Quelle bis zur Mündung ins Meer. Nach Gont kamst du zurück, zu mir kamst du zurück, Ged. Jetzt wende dich weiter um und geh zurück zum Ursprung und suche, was vor dem Ursprung liegen mag. Dort nur kannst du hoffen, Stärke zu finden.« »Dort, Meister?« fragte Ged, und seine Stimme bebte vor Furcht. »Wo?« Ogion antwortete nicht. »Wenn ich umkehre«, sagte Ged nach einer Weile, »wenn ich, wie Sie mir raten, den Jäger jage, dann, glaube ich, wird die Jagd nicht lange dauern. Sein ganzes Trachten ist ja nur, mich dazu zu bringen, daß ich mich ihm stelle. Zweimal gelang es ihm, und zweimal habe ich verloren.« »Auf aller Dinge Drittem liegt magisches Gelingen«, sagte Ogion. Ged ging ruhelos auf und ab, vom Herd zur Tür, von der Tür zum Herd. »Und wenn es mich ganz besiegt«, hielt er Ogion oder sich selbst vor, »dann nimmt es meine ganze Macht, mein ganzes Wissen und wird davon Gebrauch machen. Jetzt droht es nur mir. Aber wenn es in mich dringt und mich besitzt, dann wird es großes Unheil durch mich anrichten.« »Das stimmt. Wenn es dich besiegt.«
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»Doch wenn ich jetzt wieder davonlaufe, dann wird es mich ganz sicherlich wieder finden..., und ich verschwende meine ganze Kraft darauf, davonzulaufen.« Ged ging noch eine Weile im Zimmer auf und ab, dann wandte er sich plötzlich um, und sich vor dem Magier niederkniend, sagte er: »Große Zauberer habe ich kennengelernt, auf der Insel der Weisen habe ich geweilt. Sie aber, Ogion, sind mein wahrer Meister.« So sprach er, und Liebe und eine tiefe, ernste Freude lag in seinen Worten. »Gut«, sagte Ogion, »jetzt weißt du es. Besser jetzt als niemals. Aber am Ende wirst du mein Meister werden.« Er stand auf und schürte das Feuer, daß es hell aufglühte, und hängte den Kessel über die Flammen, damit das Wasser koche. Dann zog er seinen Schafspelz über und sagte: »Ich muß nach meinen Ziegen schauen. Paß auf den Kessel auf, Junge!« Als er zurückkam, bestäubt mit Schnee, und seine Stiefel aus Ziegenleder vom Schnee freistampfte, hielt er in seiner Hand einen langen, rauhen Stab aus Eibenholz. Den Rest des kurzen Nachmittags und nach dem Abendessen saß er beim Licht der Lampe und bearbeitete den Stab mit Messer und Bimsstein und Zauberworten. Wiederholt ließ er seine Hand den Stab entlanggleiten und suchte nach Unebenheiten. Manchmal sang er leise vor sich hin. Ged, der noch immer erschöpft war, hörte zu, und als er schläfrig wurde, kam es ihm vor, als sei er wieder ein Kind in der Hütte des Zauberweibes in Zehnellern. Draußen war alles verschneit, und drinnen brannte das Feuer in der Dunkelheit, die Luft war angefüllt vom Duft der Krauter und von Rauch. Die Träume kamen und gingen, als er den langen Gesängen von Zaubereien und den Taten der Helden zuhörte, die gegen dunkle Mächte kämpften und gewannen oder verloren, auf fernen Inseln vor unendlich langen Zeiten. »Nimm ...«, sagte Ogion, und gab ihm den fertigen Stab. »Der Erzmagier gab dir Eibenholz, das war eine gute Wahl, und ich blieb dabei. Aus dem Stab wollte ich erst einen Bogen machen, aber nun fand er bessere Verwendung. Schlaf gut, mein Sohn.« Als Ged, der keine Worte fand, um ihm zu danken, sich abwandte und in sein Schlaf gemach ging, sah Ogion ihm nach und sagte so leise, daß ihn Ged nicht hören konnte: »Oh, mein junger Falke, fliege wohl!«
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Im kalten Morgengrauen, als Ogion aufwachte, war Ged bereits verschwunden. In echt zauberischer Weise hatte er einige silberne Runen auf dem Stein beim Herd hinterlassen. Sie verblaßten, noch während Ogion sie las: »Meister, ich gehe auf die Jagd.«
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DIE JAGD
GED VERLIESS RE ALBI vor Sonnenaufgang, als die dunkle Winternacht noch über dem Land lag, und schlug den Weg ein, der hinunter zur Hafenstadt Gont führte, die er noch vor Mittag erreichte. Ogion hatte ihn mit praktischer gontischer Kleidung versehen, Gamaschen, Hemd und Weste aus Leder und Leinen, die er anstelle des Osskilischen Seidenzeugs trug, aber den fürstlichen, mit Pellawipelz gefütterten Umhang hatte er auf seine Winterreise mitgenommen. So bekleidet, mit leeren Händen, denn außer seinem dunklen Stab, der so groß wie er selbst war, führte er nichts mit sich, näherte er sich dem Landtor von Gont. Die Soldaten, die sich an die geschnitzten Drachen lehnten, erkannten ihn sofort als einen Zauberer und zogen ihre Lanzen zurück. Sie ließen ihn ungefragt eintreten und blickten ihm nach, als er die Straße von Gont hinunterschritt. An den Piers und bei der Seezunft erkundigte er sich nach Schiffen, die nördlich oder westlich nach Enlad, Andrad oder Oranea fuhren. Überall wurde ihm das gleiche mitgeteilt: kein Schiff verließ jetzt, so nahe der Wintersonnenwende, den Hafen von Gont, und bei der Seezunft sagte man ihm, daß selbst Fischkutter bei diesem unbeständigen Wetter nicht durch die Festungsklippen hinaus aufs offene Meer führen. In der Kantine der Seezunft lud man ihn zum Essen ein. Ein Zauberer muß selten um eine Mahlzeit bitten. Er setzte sich zu den Hafenarbeitern, Werftarbeitern und Wettermachern und hörte mit Vergnügen zu, wie sie sich bedächtig in langsam rollendem Gontisch miteinander unterhielten. Er fühlte ein großes Verlangen, hier auf Gont zu verweilen, alle Zauberei und Abenteuerlust an den Nagel zu hängen, seine Macht und all das Schreckliche zu vergessen und friedlich, wie andere
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Männer, hier auf dem Boden seiner geliebten Heimat zu leben. Das war sein Wunsch, sein Wille gebot ihm anders. Er hielt sich nicht lange im Haus der Seezunft und in der Stadt Gont auf, nachdem er herausgefunden hatte, daß keine Schiffe den Hafen in absehbarer Zeit verlassen würden. Sich nördlich haltend, folgte er dem Ufer der Bucht, bis er ins erste der kleinen Fischerdörfer kam, die sich der Küste entlang erstreckten. Er fragte herum, bis er einen Fischer fand, der ein Boot zu verkaufen hatte. Er war ein mürrischer, alter Mann. Sein Boot, das ungefähr drei Meter lang und in Klinkerbauweise gezimmert war, sah ganz verzogen aus und leckte, so daß es kaum als seetüchtig betrachtet werden konnte. Trotzdem wollte der Alte einen hohen Preis dafür: einen Bann, der sein eigenes Boot, ihn selbst und seinen Sohn ein Jahr lang gegen alle Unbill des Meeres feite, denn die Fischer hier fürchten nichts so sehr wie die Tücken des Meeres. Dieser gegen Stürme feiende Bann, auf den sie im nördlichen Inselreich so großen Wert legen, hat noch keinen Menschen vor Wind und Wellen des Sturmes gerettet, aber wenn er von einem Zauberer gewoben wird, der das Meer in der Gegend kennt und der über das Boot und die Geschicklichkeit des Schiffers Bescheid weiß, dann gewährt der Bann einen täglichen Schutz. Ged wirkte ihn sorgfältig und gewissenhaft, er arbeitete die ganze Nacht und den folgenden Tag daran, nichts ließ er aus, geduldig und sicher wob er ihn, obwohl seine von Furcht beschwerten Gedanken dunklen Pfaden folgten und ihm keine Ruhe ließen. Wiederholt versuchte er sich vorzustellen, welche Gestalt der Schatten jetzt angenommen haben mochte und wann und wo er auf ihn treffen würde. Als der Bann fertig und geschlossen war, fühlte sich Ged erschöpft. Die kommende Nacht schlief er in einer Hängematte aus Walfischdärmen und roch am nächsten Morgen wie ein getrockneter Hering. Er ging hinunter in die Bucht unterhalb des Katnordkliffs, wo sein neues Boot lag. Er schob das Boot ins ruhige Wasser des seichten Ufers, und sofort stieg das Wasser im Innern des Bootes höher. Wie eine Katze so leicht sprang Ged ins Boot und begann, die verzogenen Planken gerade-
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zuziehen und die verfaulten Holznägel zu erneuern. Er arbeitete mit Werkzeug und Zauberformel, wie er es damals bei Peckvarry in Untertorning getan hatte. Die Bewohner des Dorfes sammelten sich um ihn, nicht zu nahe, schauten schweigend auf seine flinken Hände und hörten seiner ruhigen Stimme zu. Auch diese Arbeit verrichtete er sorgfältig und gewissenhaft, bis alles fertig war und das Boot abgedichtet und fahrbereit auf dem Wasser lag. Dann setzte er den Stab, den Ogion für ihn gemacht hatte, als Mast und festigte ihn mit Zauberformeln. Quer dazu brachte er eine kräftige meterlange Holzstange an, von der aus er auf dem Webrahmen des Windes ein viereckiges Segel wob, das so weiß wie der Schnee auf dem Gipfel von Gont war. Die zuschauenden Frauen seufzten vor Neid. Dann stellte er sich neben den Mast und zauberte einen leichten magischen Wind herbei. Das Boot bewegte sich hinaus aufs Meer und hielt auf die beiden Festungsklippen am Ende der großen Bucht zu. Als die Fischer, die Ged schweigend bei der Arbeit zugeschaut hatten, sahen, wie das Boot sich so sicher und geschwind bewegte wie ein Strandvogel auf seinen Schwingen, klatschten sie stürmisch Beifall, lachten und stampften mit den Beinen im kalten Wind, der über den Strand blies. Ged blickte kurz zurück und sah, wie sie ihm unter dem dunklen, vorspringenden Katnordkliff zuwinkten, über dem sich die Schneefelder des Berges hoch in die Wolken erstreckten. Er segelte über die Bucht, durch die Festungskuppen, hinaus aufs gontische Meer. Er schlug einen nordwestlichen Kurs ein, der ihn an Oranea vorbeiführte und ihn zum Ausgangspunkt seiner letzten Reise zurückführte. Er folgte keinem Plan, er hatte kein festes Ziel, es sei denn, den Weg wiederzufinden, der ihn hierher geführt hatte. Wenn er seinen Falkenflug von Osskil zurückverfolgte, mußte er auf den Schatten stoßen, entweder direkt oder auf einem Umweg. Der Schatten konnte ihn, der so sichtbar übers offene Meer dahersegelte, nicht verpassen — außer er hatte sich wieder völlig ins Traumreich zurückgezogen. Auf der offenen See wäre Ged ein Zusammentreffen am liebsten gewesen — wenn es schon dazu kommen mußte. Er war nicht sicher, warum er das vorzog, aber jedesmal, wenn er sich ein Zusammentreffen auf trockenem Land vorstellte, erfaßte ihn ein noch größeres Grauen. Das
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Meer gebiert Stürme und Ungeheuer, aber keine bösen Mächte: Das Böse entspringt der Erde. Und in dem finsteren Land, das Ged einst betreten hatte, gab es weder einen See noch eilig fließende Flüsse oder sprudelnde Quellen. Trockenes Land verheißt den Tod. Obwohl das Meer in dieser stürmischen, bitteren Jahreszeit gefährlich war, betrachtete Ged diese Gefahren, den schnellen Wetterumschlag, die Unbeständigkeit, die Stürme, nicht als Drohung, sondern eher als einen Schutz. Und wenn er dann am Ende dieses ganzen unsinnigen Unternehmens mit dem Schatten zusammentreffen würde, dann, so malte Ged sich aus, würde er dieses Unding mit seinem Körpergewicht hinunter in die Finsternis des Meers ziehen und dort mit dem Gewicht seines Todes für immer festhalten, damit es nie wieder emporsteigen konnte. Dann würde er wenigstens im Tod dem Bösen, das er freigesetzt hatte, ein Ende bereiten. Ged segelte über das vom Sturm wildbewegte Wasser unter tiefhängenden, treibenden Wolken, die wie riesige Trauerschleier aussahen. Er hatte keinen magischen Wind gerufen, sondern segelte mit dem Wind der Welt, der kräftig aus dem Nordosten blies. Solange er sein magisches Segeltuch aufrecht hielt — ein geflüstertes Wort ab und zu genügte —, mußte er sich nicht weiter ums Segeln kümmern: das Segel wendete und drehte sich allein und fing den Wind auf. Hätte er keine Magie verwendet, so wäre ihm das Segeln in diesem störrischen kleinen Boot auf dieser stürmischen See schwergefallen. Immer weiter entfernte er sich von Gont, scharf spähte er nach allen Seiten aus. Die Frau des Fischers hatte ihm zwei Laibe Brot und einen Krug voll Wasser mitgegeben, und nach einigen Stunden Fahrt, als er Kameberfels, die einzige Insel zwischen Gont und Oranea sichtete, aß und trank er und gedachte dankbar der schweigsamen Frau von Gont, die ihn mit Nahrung versorgt hatte. Ganz in der Ferne sah er Land liegen, aber er hielt nicht darauf zu, sondern kreuzte in mehr westlicher Richtung. Ein feiner, alles durchdringender Regen begann zu fallen, der über dem Land sicher als Schnee herunterkam. Außer dem Quietschen des Bootes und den Wellen, die an den Bug des Bootes klatschten, war kein Geräusch zu vernehmen. Kein anderes Schiff, keine Vögel waren zu sehen, nichts
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Lebendiges, nur das ewig ruhelose Meer und die fliehenden Wolken, an die er sich dunkel erinnerte, wie sie um ihn gewogt hatten, als er sie im schnellen Falkenflug, auf der gleichen Bahn, durchstoßen hatte; damals war er in östlicher Richtung geflogen, jetzt hielt er gen Westen; damals hatte er hinuntergeblickt aufs graue Meer, jetzt schaute er hinauf in den grauen Himmel. Ged spähte scharf umher, doch die See um ihn herum war leer. Er stand auf, durchfroren und naß, er hatte das dauernde Starren ins leere, dunkle Nichts satt. »Dann komm doch her«, brummte er, »komm doch, worauf wartest du denn, Schatten?« Er erhielt keine Antwort, kein dunkleres Wesen hob sich von den dunklen Wellen im trüben Licht ab. Doch er spürte, daß das Unding nicht weit entfernt war, daß es sich blind an seiner kalten Fährte entlang bewegte. Plötzlich rief er laut: »Da bin ich, Ged, der Sperber, und ich gebiete meinem Schatten, zu erscheinen!« Das Boot quietschte, die Wellen lispelten, der Wind zischelte im weißen Segel. Die Minuten verstrichen. Ged wartete. Mit der Hand hielt er sich am Stab aus Eibenholz fest, seine Augen durchbohrten den eisigkalten Regen, der in verzerrten Bahnen vom Nordwind übers Meer gepeitscht wurde. Die Minuten verstrichen. Dann sah er, im Regen über dem Wasser, den Schatten von weitem auf sich zukommen. Er trug nicht mehr den Körper des osskilischen Ruderers Skihor, aber auch als Gebbeth war er Ged nicht durch Wind und Wetter gefolgt, auch nicht in der Tiergestalt, in der er auf dem Rokkogel erschienen war und Ged in seinen Träumen heimgesucht hatte, und doch hatte er eine Gestalt, er war jetzt selbst im Tageslicht sichtbar. Während der Verfolgung von Ged und im Kampf mit ihm hatte er ihm von seiner Macht entwendet und in sich aufgesogen; möglich ist auch, daß Geds lautes Gebieten im hellen Tageslicht ihm einen Körper, oder doch die Spur eines Körpers, verliehen oder aufgezwungen hatte. Nun war er unbestreitbar menschenähnlich, obwohl er, als Schatten, selbst keinen Schatten warf. Und so bewegte er sich übers Wasser, aus dem Rachen von Enlad kommend und auf Gont zustrebend, ein kaum sichtbares, ungefüges Wesen, das unsicher und halbblind über die Wellen tappte, das kein Hindernis für den Wind darstellte, der ungehindert durch dieses Wesen blies.
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Weil der Schatten vom Tageslicht geblendet war und weil er ihn gerufen hatte, sah ihn Ged zuerst. Er erkannte ihn, genau wie der Schatten Ged erkannte und wie sie sich beide immer erkennen würden, überall, unter lebendigen und schattenhaften Wesen. In der trostlosen Einsamkeit des winterlichen Meeres stand Ged und sah das, was er so sehr fürchtete. Der Wind schien es vom Boot wegzublasen, die Wellen eilten unter ihm dahin und verwirrten Geds Augen, doch stetig kam es übers Wasser näher. Ged konnte nicht feststellen, ob es stillstand oder sich bewegte. Jetzt hatte es ihn gesehen. Obgleich alle seine Sinne mit Entsetzen und Grauen vor einer Berührung erfüllt waren, obgleich er den kalten, schwarzen Schmerz wieder fühlte, der das Leben aus ihm sog, trotzdem stand Ged unbeweglich und wartete. Dann, plötzlich, rief er den magischen Wind herbei, der sofort seine Segel prall füllte, und sein Boot schoß über das bleierne Wasser direkt auf das Wesen zu, das schief im Wind hing. Der Schatten hing noch einen kurzen Augenblick da, dann — zögernd — drehte er sich um und floh. Gegen den Wind eilte er, in nördlicher Richtung. Gegen den Wind raste Geds Boot, Schattenhuschen gegen Magierkunst. Dem Regen waren beide ausgesetzt. Ged feuerte sein Boot, sein Segel, den Wind und die Wellen mit lauten Worten an wie ein Jäger, der seine Meute hetzt, wenn der Wolf in voller Sicht davonläuft. Er füllte seine Segel mit einem magischen Wind, der so stark war, daß er jedes von Menschenhand gewobene Segel zerrissen hätte, und der sein Boot wie einen Schaumfetzen übers Wasser jagte; er kam dem Gejagten immer näher. Jetzt wandte sich der Schatten um und beschrieb einen Halbkreis; er sah plötzlich unbestimmter und undeutlicher aus, weniger menschlich, mehr wie Rauch, der vom Wind zerblasen wurde und der mit dem Wind im Rücken auf Gont zutrieb. Mit Hand und Zauberwort drehte Ged sein Boot herum. Wie ein Delphin sprang es aus dem Wasser und rollte bei der schnellen Drehung. Schneller als zuvor jagte er dahin, aber der Schatten vor ihm wurde immer schwächer. Regen, Hagel und Schnee schlugen Ged auf den Rücken und auf seine linke Wange, er konnte keine hundert Meter weit sehen. Es
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dauerte nicht lange, und er verlor den Schatten aus den Augen. Doch Ged war seiner Fährte so gewiß, als folge er einer Tierspur im Schnee, anstatt einer Spukgestalt übers Wasser. Obwohl er den Wind im Rücken hatte, behielt Ged den magischen Wind im Segel, der Schaum sprühte vom stumpfen Bug, und das Schiff schoß pfeilschnell durch die Wellen. Lange hielten sie, Verfolger und Verfolgter, ihren spukhaften, rasenden Lauf durch. Der Tag war kurz, die Dunkelheit kam schnell. Ged vermutete, daß sie bereits südlich von Gont waren und sich jetzt auf Spevy oder Torheven zu bewegten, oder vielleicht schon an diesen Inseln vorbeigeeilt waren und sich im Außenbereich befanden. Er konnte nicht feststellen, wo sie waren. Es war ihm auch einerlei. Er jagte, er verfolgte, und die Furcht eilte ihm voraus. Doch plötzlich sah er den Schatten ganz kurz, und nicht weit entfernt, vor sich. Der Wind der Welt hatte nachgelassen, der Hagel hatte aufgehört, statt dessen kamen kalte, immer dichter werdende Nebelfetzen auf ihn zu. Dazwischen sah er ab und zu den Schatten, der rechts abgebogen war. Ged sprach zu dem Wind in seinem Segel, während er das Steuerruder herumdrehte, und folgte dem Fliehenden, aber es wurde eine blinde Jagd: der Nebel wurde immer dichter, er brodelte und wogte, und wenn er auf den magischen Wind traf, dann teilte er sich und schloß sich um so fester um das Boot, eine bleiche Masse ohne Anhaltspunkte, die Licht und Sicht ausschloß. Als Ged schon im Begriff war, Worte des Lösens und Teilens zu sprechen, sah er wieder den Schatten. Er war noch weiter nach rechts abgebogen und bewegte sich jetzt langsamer vorwärts. Der Nebel blies durch die gesichtslose, verschwommene Form seines Kopfes, doch war er jetzt gestaltet wie ein Mensch, nur änderte er sich stetig, wie es menschliche Schatten tun. Ohne die Geschwindigkeit seines Bootes zu verringern, drehte Ged auch weiter nach rechts, überzeugt, daß er nun seinen Feind in Grund und Boden gefahren habe, aber jählings spürte er, daß sein Boot auf Grund gelaufen war und an den flachen Felsen, die der Nebel verdeckt hatte, zerschellte. Ged wurde beinahe über Bord geworfen, aber er klammerte sich an seinen Mast, bevor die nächste Welle über ihm zusammenschlug. Sie war riesig; sie hob das kleine Boot aus dem Wasser empor und zertrümmerte es
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auf einem Felsen, wie ein Mensch ein Schneckenhaus hochhebt und zermalmt. Stark und zauberkräftig war der Stab, den Ogion geschnitzt hatte. Er brach nicht entzwei, sondern schwamm trocken und leicht auf den Wellen. Ged hielt sich daran fest und wurde von den Wellen, die vom flachen, felsigen Ufer zurückprallten, ins tiefe Wasser getragen und bis zur nächsten Welle vor dem Zerschellen an den Felsen bewahrt. Vom Salzwasser halb blind und erstickt, versuchte er, seinen Kopf übers Wasser zu halten und sich gegen den ungeheuren Sog des Meeres zu stemmen. Neben den Felsen hatte er ein kleines Stück sandiges Ufer erspäht und versuchte, sich vom Sog freizuschwimmen, während die nächste Welle sich erhob. Mit seiner ganzen Kraft und mit Hilfe des Stabes mühte er sich, das sandige Ufer zu erreichen. Aber es kam nicht näher. Die anund abschwellenden Wogen warfen ihn hin und her wie einen Lumpen. Die Kälte der Meerestiefe zog die Lebenswärme aus seinem Körper und schwächte ihn derart, daß er bald seine Arme nicht mehr bewegen konnte. Er sah weder Fels noch Strand und wußte nicht mehr, in welcher Richtung er trieb. Um ihn brandete das Wasser, es war unter und über ihm, es nahm ihm die Sicht, es würgte ihn, es zog ihn in die Tiefe. Unter den Nebelfetzen schwoll eine Woge an, die ihn packte, ein paarmal herumrollte und wie ein Stück Treibholz ans Ufer warf. Hier blieb er liegen. Mit beiden Händen hielt er den Stab aus Eibenholz umklammert. Kleinere Wellen spülten über ihn hin. Sie zogen und zupften und versuchten, ihn vom Sand herunter zurück ins Meer zu schwemmen. Über ihm teilte sich der Nebel und schloß sich wieder. Kurz darauf trommelte Hagel und Regen auf ihn nieder. Lange Zeit lag er so, dann begann er sich zu regen. Auf Händen und Füßen kroch er langsam den Strand hinauf, weg vom Wasser. Es war pechschwarz, doch er flüsterte zu seinem Stab, und ein kleines Werlicht flackerte auf an seinem Ende. Bei seinem Licht schleppte er sich mühsam vorwärts, die Düne hinauf. Er war so erschlagen, so erschöpft und so durchfroren, daß das Kriechen im nassen Sand, in der heulenden, vom Donner des Meeres erfüllten Dunkelheit das Aller-
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schwerste war, was er je in seinem Leben getan hatte. Ein- oder zweimal war es ihm, als sterbe der Wind ab, und der nasse Sand unter seinen Händen zerfiel zu trockenem Staub. Er fühlte fremde Sterne regungslos auf seinen Rücken starren: er aber hob seinen Kopf nicht, sondern kroch weiter, und nach einer Weile hörte er wieder seinen eigenen keuchenden Atem, und er spürte den eisigen Wind, der den Regen in sein Gesicht peitschte. Die Bewegung brachte etwas Wärme in seinen Körper, und als er zwischen den Dünen kroch, wo die Regenstöße weniger heftig waren, gelang es ihm, sich emporzuziehen und auf seinen Beinen zu stehen. Er sprach ein stärkeres Werlicht an seinen Stab, denn die Welt war stockfinster. Mit Hilfe seines Stabes, auf den er sich stützte, bewegte er sich langsam vorwärts, und stolpernd und strauchelnd, mit vielem Anhalten, legte er eine halbe Meile zurück. Schließlich stand er auf einer Düne und hörte das Meer so laut wie zuvor rauschen, aber nicht von hinten kam das Geräusch, sondern von vorne: die Düne neigte sich gegen einen anderen Strand. Er war auf keiner Insel gelandet, sondern auf einem Felsenriff, auf einer Handvoll Sand inmitten des weiten Ozeans. Er war zu erschöpft, um zu verzweifeln. Er schluchzte einmal kurz auf, dann stand er, auf seinen Stab gestützt, eine lange Zeit regungslos und verloren da. Schließlich wandte er sich nach links, damit er den Wind im Rücken habe, und setzte beharrlich einen Fuß vor den anderen. So bewegte er sich die Düne hinunter und hielt Ausschau nach einer kleinen Vertiefung im hohen, eisbehangenen Schilf, die ihm wenigstens etwas Schutz gewähren würde. Als er den Stab hochhielt, um besser zu sehen, fiel sein Auge auf etwas stumpf glänzendes am Rande des Lichtkreises: eine Wand aus regennassem Holz. Es war eine Hütte oder ein Verschlag, klein und wackelig, als ob es ein Kind gebaut hätte. Ged klopfte mit seinem Stab an die niedrige Tür. Sie wurde nicht geöffnet. Er stieß sie auf und trat ein. Er mußte sich tief bücken, und selbst drinnen konnte er nicht aufrecht stehen. Kohlen glühten rot im Feuer, und in ihrem schwachen Licht sah Ged einen alten Mann mit langem weißem Haar, der sich angstvoll zusammenkauerte und gegen die Wand preßte. Ein anderer, ob Mann oder Frau, konnte
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Ged nicht feststellen, spähte unter einem Haufen alter Lumpen und Felle auf dem Boden hervor. »Ich tu euch nichts«, flüsterte Ged. Doch sie antworteten nicht. Als er seinen Stab niederlegte, zog der unter den Lumpen seinen Kopf zurück und wimmerte. Ged streifte seinen vom Wasser und Eis schweren Umhang ab, zog sich nackt aus und setzte sich nahe ans Feuer. »Gebt mir etwas zu trinken«, bat er. Er war heiser und konnte kaum sprechen, seine Zähne klapperten, und lange Schauer schüttelten seinen Körper. Ob sie ihn verstanden hatten, wußte er nicht, keiner von beiden antwortete. Er streckte seine Hand aus und nahm einen Lumpen von der Bettstelle. Es mochte einmal ein Ziegenfell gewesen sein, vor vielen Jahren, jetzt war es zerrissen und starrte vor Schmutz. Der unter den Lumpen stöhnte vor Angst, doch Ged kümmerte sich nicht darum. Er rieb sich trocken und flüsterte dann: »Habt Ihr Holz? Schür das Feuer, Alter! Ich komme zu euch in großer Not. Ich tu euch nichts.« Der alte Mann rührte sich nicht. Die Angst hielt ihn gefesselt, stumm starrte er Ged an. »Verstehst du mich nicht? Sprecht ihr nicht hardisch?« Ged hielt inne, dann fragte er: »Kardisch?« Bei diesem Wort nickte der alte Mann sofort, einmal nur, wie eine traurige, alte Marionette. Da es das einzige Wort war, das Ged in dieser Sprache kannte, nahm die Konversation ein endgültiges Ende. Er fand Holz, das an einem Ende der Wand gestapelt war, und legte selbst Scheite auf das Feuer. Dann gestikulierte er und bat um Wasser, denn es war ihm schlecht geworden von dem vielen Salzwasser, das er geschluckt hatte, und jetzt war seine Kehle ausgetrocknet. Sich krümmend, deutete der Alte auf eine große Muschel, die Wasser enthielt, und schob Ged eine andere Muschel mit Streifen von geräuchertem Fisch zu. Ged aß und trank ein wenig, und als er etwas gestärkt war und wieder klar denken konnte, begann er zu überlegen, wo er sich befand. Selbst unter magischem Wind konnte er nicht bis in die Länder von Kargad gesegelt sein. Dieses Felsenriff mußte im Außenbereich liegen, östlich von Gont, aber immer noch westlich von Karego-At. Es war seltsam, daß Leute so weit
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draußen wohnten, so einsam, auf einem Streifen Sand nur, aber er war zu erschöpft, um weiter darüber nachzudenken. Ged hielt seinen Umhang von allen Seiten gegen das Feuer. Das silbrige Pellawifell trocknete rasch, und sobald der Wollstoff außen wenigstens warm — wenn auch nicht trocken — war, wickelte er sich in seinen Umhang und streckte sich beim Feuer aus. »Legt euch hin, ihr armen Leute«, sagte er zu seinen schweigsamen Gastgebern, und seinen Kopf auf den Sandboden legend, schlief er sofort ein. Drei Nächte verbrachte er auf diesem namenlosen Eiland, denn als er am ersten Morgen erwachte, tat ihm alles weh, und er hatte Schüttelfrost. Wie ein Klotz aus Treibholz lag er den ganzen Tag und die kommende Nacht neben der Feuerstelle. Am anderen Morgen wachte er auf, steif und mit schmerzenden Gliedern, aber er war wenigstens nicht mehr krank. Er zog seine vom Salz verkrusteten Kleider wieder an, denn es gab nicht genügend Wasser, um sie zu waschen, und er trat hinaus in den grauen, windigen Morgen und ließ seine Blicke über diesen Ort schweifen, an den ihn der Schatten gelenkt hatte. Die Insel war nichts weiter als ein halb mit Sand bedecktes Stück Fels, höchstens eine halbe Meile breit und nicht viel mehr in der Länge; sie war umgeben von Sandbänken und Felsenriffen. Die Hütte stand in einer Vertiefung zwischen den Dünen. Der alte Mann und die alte Frau lebten hier ganz allein in der erbarmungslosen Öde des weiten Meeres. Die Behausung war aus großen und kleinen Treibholzstücken gebaut oder vielmehr zusammengestapelt, eine spärliche Quelle neben der Hütte spendete Wasser, das salzig schmeckte. Sie ernährten sich von frischem und geräuchertem Fisch und Binsenkraut. Die zerrissenen Felle in der Hütte, die paar Nadeln und Angelhaken aus Bein und die Sehnen für Angel und Feuerbohrer stammten nicht von Ziegen, wie Ged ursprünglich angenommen hatte, sondern von Seehunden, denn dies war offensichtlich ein Ort, an dem Seehunde im Sommer ihre Jungen aufzogen. Sonst aber kam niemand hierher. Die beiden Alten fürchteten sich vor Ged, nicht weil sie glaubten, er sei ein Geist, oder weil er ein Zauberer war, sondern ganz einfach, weil er ein Mensch war. Sie hatten vergessen, daß es noch andere Menschen auf dieser Welt gab.
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Die dumpfe Furcht des alten Mannes blieb bestehen. Wenn Ged so nahe kam, daß er ihn berühren konnte, humpelte er davon, und unter seinem strähnigen, schmutzigweißen Haarschopf warf er böse Blicke auf Ged. Die alte Frau, die zuerst gewimmert und sich unter ihren Lumpen versteckt hatte, als Ged gekommen war, hockte sich dann neben ihn, als er im Fieberhalbschlaf in der Hütte lag, und warf ihm seltsame, sehnsüchtige Blicke zu. Etwas später brachte sie ihm Wasser in einer Muschel zum Trinken. Als er sich aber aufsetzte und das Wasser von ihr nehmen wollte, bekam sie Angst und verschüttete alles; dann begann sie zu weinen und wischte sich mit ihren langen, weißgrauen Haarsträhnen die Augen. Jetzt schaute sie ihm zu, wie er drunten am Strand Treibholz und Bretter von seinem angeschwemmten Boot mit der primitiven Steinaxt des Mannes und mit Zauberformeln zu einem neuen Boot formte. Was er hier machte, war weder eine Reparatur noch ein Bootbau, denn es fehlte ihm an richtigem Holz, und was er nötig hatte, mußte er durch Zauberkunst aufbringen. Doch die alte Frau blickte weniger auf seine Arbeit als auf ihn, mit dem gleichen sehnsüchtigen Ausdruck in ihren Augen. Nach einer Weile verschwand sie und kam mit einem Geschenk zurück: einer Handvoll Miesmuscheln, die sie an den Felsen gesammelt hatte. Ged aß sie so, wie die Alte sie ihm gab — roh und noch naß vom Meerwasser, und er dankte ihr für ihre Gabe. Das schien ihr Mut zu geben, und sie ging in die Hütte zurück und brachte ein Bündel, das in Lumpen gehüllt war. Ged nicht aus den Augen lassend, begann sie schüchtern das Ding auszuwickeln und hielt es in die Höhe. Es war ein Kinderkleid aus Seidenbrokat, ganz mit Perlen besetzt, befleckt vom Salz und vergilbt von den Jahren. Die Perlen des kleinen Oberteils waren in einem Muster gestickt, das Ged kannte: der Doppelpfeil der göttlichen Brüder des Kargadreiches, und darüber war eine Königskrone. Die alte Frau, die verrunzelt und schmutzig in einem schlecht genähten Seehundfell vor ihm stand, deutete auf das Kinderkleid, dann auf sich und lächelte, unschuldig und ohne Falsch, wie ein Kind. Aus einer geheimen Tasche, die in den Rock des Kleides eingenäht war, zog sie ei-
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nen kleinen Gegenstand hervor und hielt ihn Ged hin. Es war ein Stück dunkles Metall, ein Schmuckstück, die Hälfte eines zerbrochenen Ringes. Ged schaute es an, aber sie ließ ihm keine Ruhe und war erst befriedigt, als er es annahm, dann nickte sie und lächelte wieder: jetzt hatte sie ihm ein Geschenk gemacht. Doch das Kleid wickelte sie wieder sorgfältig in die Lumpenhülle und humpelte zur Hütte zurück, um das prächtige Gewand wieder zu verstecken. Ged steckte den zerbrochenen Ring mit der gleichen Sorgfalt in sein Wams. Sein Herz war voll Mitleid. Jetzt ahnte er, wer diese beiden sein konnten: Die Kinder irgendeines königlichen Hauses des Kargadreiches, die ein Tyrann oder ein Usurpator, der Angst gehabt hatte, königliches Blut zu vergießen, auf dieser winzigen Insel, die auf keiner Karte verzeichnet war, ausgesetzt und sie dort, weit weg von Karego-At, ihrem Schicksal überlassen hatte. Das eine war ein acht- oder zehnjähriger Junge, das andere ein rundliches Baby, eine kleine, in Seide und Perlen gehüllte Prinzessin gewesen, und sie waren nicht gestorben, sondern hatten weitergelebt, allein und einsam, vierzig oder fünfzig Jahre lang, auf einem Felsen mitten im weiten Ozean — ein Prinz und eine Prinzessin der Trostlosigkeit. Aber erst Jahre später, als Ged auf seiner Suche nach dem Ring von Erreth-Akbe in kargische Lande und zu den Gräbern von Atuan kam, wurde seine Vermutung bestätigt. Geds dritte Nacht auf der Insel lichtete sich zu einem ruhigen, bleichen Sonnenaufgang. Es war der Tag der Wintersonnenwende, der kürzeste Tag des Jahres. Sein kleines Boot aus Holz und Magie, aus Überresten und Zauberformeln, lag bereit. Er hatte versucht, die beiden Alten zu bewegen, mit ihm zu kommen. Er hätte sie gerne in ein anderes Land, nach Spevy, Gont oder den Torriklen mitgenommen, er hätte sie sogar an irgendeiner einsamen Küste von Karego-At abgesetzt, wenn sie ihn darum gebeten hätten, obwohl es für einen Bewohner des Inselreiches gefährlich war, sich in kargische Gewässer zu wagen. Aber sie wollten ihr unfruchtbares Inselchen nicht verlassen. Die alte Frau schien seine Gesten und seine ruhigen Worte nicht zu verstehen, der alte Mann verstand ihn und schüttelte hartnäckig den Kopf. Seine Erinne-
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rung an andere Länder und andere Menschen bestand aus den Angstträumen eines Kindes: Träumen aus Blut, Riesen und Angstschreien. Ged konnte es in seinem Gesicht, in seinen Augen lesen, als er sich beharrlich weigerte mitzukommen. So kam es, daß Ged an diesem Morgen, nachdem er seinen Behälter aus Seehundfell mit Wasser gefüllt hatte, allein das Felsriff verließ. Da er den Alten für Feuer und Nahrung nicht danken und der alten Frau — wie er es so gerne getan hätte — kein Geschenk geben konnte, sprach er ein Zauberwort über die salzige, unzuverlässige Quelle. Daraufhin sprudelte das Wasser so hell, klar und frisch aus dem Sand hervor wie ein Bergquell auf Gont und versiegte nie. Aus diesem Grund ist die Insel heute in den Karten eingetragen und hat einen Namen: die Seeleute nennen sie die Quelleninsel. Aber die Hütte steht nicht mehr, und die zahllosen Winterstürme hinterließen keine Spuren von den beiden, die einst hier wohnten und einsam und verlassen starben. Sie blieben in der Hütte und versteckten sich, als hätten sie Angst zuzuschauen, wie Ged sein Boot vom sandigen Südende der Insel aus ins Wasser schob und davonfuhr. Er ließ den Wind der Welt, der stetig aus dem Norden blies, seine Segel aus magischem Tuch füllen und segelte hurtig über die See davon. Diese Seefahrt Geds war eine kuriose Angelegenheit. Wohl wußte er, daß er Jäger war, aber er wußte nicht, was er jagte und wo in der Erdsee sich das, was er jagte, aufhielt. Er war gezwungen, sich auf sein Gefühl, sein Glück, seine Ahnung zu verlassen, auf die gleichen Eigenschaften, auf die sich auch das Wesen, das er verfolgte, verließ. Denn beide waren sie blind füreinander; Ged war unsicher, wenn er körperlose Schatten sah, der Schatten war verwirrt, wenn er im Tageslicht vor greifbaren Wesen und Dingen stand. Eine Gewißheit aber hatte Ged. Er war Jäger und nicht Gejagter, denn der Schatten, der ihn in die Felsen gelockt hatte, hätte ohne weiteres Besitz von ihm ergreifen können, als er bewußtlos und halbtot am Ufer lag und sich in der Dunkelheit im Sturm durch die Dünen schleppte, aber er hatte die Gelegenheit nicht wahrgenommen. Er hatte Ged ans Felsgestade gelockt und war dann geflohen; er hatte nicht gewagt, sich Ged zu stellen. Aus diesem Verhalten entnahm Ged,
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daß Ogion recht gehabt hatte: der Schatten konnte ihm nichts von seiner Macht wegnehmen, solange er, Ged, sich gegen ihn wandte. Und das mußte er auch weiterhin tun, nach ihm, hinter ihm her mußte er jagen, obwohl die Fährte, die über die weite See führte, jetzt kalt war und obwohl er keine Anhaltspunkte hatte, die ihm den Weg weisen konnten. Nichts hatte er, außer dem Wind der Welt, der ihn südwärts trieb, und einer dunklen Ahnung, daß er sich südlich oder östlich halten mußte. Vor Sonnenuntergang sah er linkerhand ganz schwach die Küste eines riesigen Landes liegen. Das mußte Karego-At sein. Er mußte sich mitten in den Seewegen dieser weißen Barbaren befinden. Scharf spähte er aus, ob sich kein Langschiff oder keine Galeere in der Nähe befand, und als er durch den roten Sonnenuntergang segelte, erinnerte er sich wieder an seine Jugend und den ereignisreichen Morgen in Zehnellern, an die federgeschmückten weißen Krieger, das Feuer und den Nebel. Und als die Erinnerung dieses Tages mächtig in ihm wurde, erkannte er mit Gewissensskrupeln, daß der Schatten ihn mit seinen eigenen Tricks hereingelegt hatte, als er auf dem Meer den Nebel um ihn wob. Der Schatten hatte ein Ereignis aus seiner Jugend wiederholt: er hatte die gefährlichen Felsen mit Nebel verdeckt, um ihn in den Tod zu locken. Er behielt weiterhin südöstlichen Kurs bei, und das Land versank am Horizont, als die Nacht sich über den Ostrand der Welt erhob. Die Wellentäler lagen im Schatten, während die Kämme im rötlichen Glanz des Westens schillerten. Ged sang laut die Winterhymne und alle Strophen, an die er sich erinnerte, von den Taten des jungen Königs, denn diese Lieder werden beim Fest der Wintersonnenwende gesungen. Seine Stimme war hell und klar, doch sie verlor sich in der Weite des schweigenden Meeres. Die Dunkelheit verbreitete sich rasch, und die Sterne begannen zu funkeln. Die ganze Nacht, die längste des Jahres, blieb er wach. Er sah die Sterne zu seiner Linken aufgehen, sich über ihn bewegen und im schwarzen Meer zu seiner Rechten wieder versinken, während die anhaltenden Winde des Winters ihn südlich über die unsichtbare See trieben. Nur ganz kurz nickte er ab und zu ein, wachte aber immer sofort wieder auf, denn das Boot, in dem er segelte, war eigentlich gar kein Boot, sondern
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ein Gebilde aus Zaubertricks und Zaubersprüchen mit einigen Brettern und Treibholz dazwischen, die sich schnell auflösen und als Strandgut auf dem Wasser davonschwimmen würden, wenn seine formgebenden Zauberworte nicht dauernd erneuert worden wären. Auch das Segel würde nicht lange Leinwand bleiben, wenn er einschliefe, sondern wie eine kleine Wolke vom Wind davongepustet werden. Geds Zauberworte waren gut gewählt und mächtig, aber wenn die Materie gering ist, dann muß die Macht, die sie zusammenhält, dauernd erneuert werden: und daher konnte er in der Nacht nicht schlafen. Es wäre einfacher gewesen, sich in einen Falken oder in einen Delphin zu verwandeln, und er wäre schneller vom Fleck gekommen, aber Ogion hatte ihn davor gewarnt, und er schätzte Ogions Rat. So segelte er südlich, unter den nach Westen ziehenden Sternen, und die lange Nacht verstrich langsam, bis endlich der erste Tag des neuen Jahres sein Licht übers Wasser ausbreitete. Bald nach Sonnenaufgang sah Ged Land vor sich liegen, aber er näherte sich ihm nur sehr langsam. Der Wind der Welt war fast abgestorben. Er rief einen leichten magischen Wind in sein Segel und ließ sich gegen das Land treiben. Beim Anblick des Landes hatte sich die Furcht wieder in sein Herz geschlichen, das wachsende Grauen, das ihn zum Fliehen, zum Weglaufen trieb. Aber er folgte diesem Grauen, wie der Jäger einer Spur folgt, der breiten, wuchtigen, klauenförmigen Spur eines Bären, der jeden Augenblick aus dem Dickicht brechen konnte. Er wußte, daß sein Feind nahe war: er spürte es. Das Land, das er immer deutlicher vor sich liegen sah, hatte seltsame Konturen. Was von der Ferne wie eine große, steile Felsküste ausgesehen hatte, entpuppte sich beim Näherkommen als eine Anzahl steiler Felsen, einzelne Inseln vielleicht, die durch schmale Meeresstraßen getrennt waren. Ged hatte im Einsamen Turm bei Meister Namengeber viele Landkarten und Seekarten studiert, aber sie waren meist vom Inselreich und Innenmeer gewesen. Jetzt befand er sich aber im Ostbereich, und diese Inseln waren ihm unbekannt. Doch das kümmerte ihn wenig. Das Fürchterliche versteckte sich dort, es wartete auf ihn, irgendwo an den Hängen und Wäldern der Insel, und er steuerte direkt darauf zu.
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Jetzt ragten die waldbedeckten Felskliffe hoch über ihm, und der Gischt der an den Felsen zersprühenden Wellen zerstob an seinem Segel, als ihn der magische Wind zwischen zwei Vorgebirgen hindurch in eine Art Bucht trieb, die sich lang und schmal, nicht breiter als zwei Galeeren, tief ins Innere des Landes erstreckte. Das Meer, beengt und bedrängt von den Klippen, schlug ungestüm gegen die steilen Felswände. Kein Strand war zu sehen, denn die Felsen fielen steil ab ins Meer, das im kalten Schatten der hohen Felsen schwarz vor Ged lag. Kein Wind regte sich, kein Laut war zu hören. Der Schatten hatte ihn in Osskil aufs Meer gelockt, im Nebel hatte er ihn zwischen die Felsen geführt, war dies hier der dritte Trick? Hatte er, Ged, den Schatten hierher getrieben, oder hatte der Schatten ihn in eine Falle gelockt? Ged wußte es nicht. Er litt nur unter dem Entsetzen und dem Grauen, das ihn folterte, und er wußte, daß er nicht aufgeben konnte, daß er vollenden mußte, was er angefangen hatte: dem Bösen mußte er nachjagen, dem Entsetzlichen mußte er bis zu seinem Ursprung folgen. Ganz vorsichtig steuerte er sein Boot, nach allen Richtungen hielt er Ausschau, seine Blicke glitten aufmerksam die Felswände auf und ab. Das Sonnenlicht des jungen Morgens lag hinter ihm auf der offenen See. Hier war alles dunkel. Die Öffnung zwischen den Vorgebirgen lag wie ein fernes, helles Tor weit hinter ihm. Die Felswände wurden höher, als er sich dem Berg näherte, von dem sie ihren Ursprung nahmen, und die Wasserstraße wurde schmaler und schmaler. Er spähte in die dunkle Kluft vor sich und blickte links und rechts auf die steilen, von Felsbrokken besäten und von Höhlen vernarbten Abhänge, an die sich knorrige Bäume klammerten, deren Wurzeln halb in der Luft hingen. Nichts rührte sich. Er hatte das Ende der Bucht erreicht. Das Meer, das hier nicht breiter als ein Bach war, schlug in kleinen, schwachen Wellen gegen eine hohe, leere, schrundige Felswand. Abgebrochene Felsstücke, verfaulte Baumstämme und die Wurzeln knorriger Bäume ließen nicht viel Raum zum Steuern. Es war eine Falle, eine dunkle Falle unter den Wurzeln des schweigsamen Berges, und er saß mittendrin. Nichts rührte sich vor ihm oder über ihm. Alles war totenstill. Er konnte nicht mehr weiter.
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Vorsichtig wandte er das Boot herum — mit Zauberspruch und Ruder arbeitend, damit es nicht an einem vom Wasser verdeckten Felsen zerschelle oder an einer der Wurzeln oder einem der Zweige hängenbliebe —, bis er wieder dorthin schaute, woher er gekommen war. Er war gerade im Begriff, einen magischen Wind in sein Segel zu rufen, als die Worte auf seinen Lippen erstarben und das Herz in seiner Brust eiskalt wurde. Er blickte über die Schulter: der Schatten stand hinter ihm im Boot. Hätte er eine Sekunde gezögert, so wäre er verloren gewesen. Aber er war bereit. Er warf sich auf das Wesen, das in Armeslänge unbestimmt vor ihm wankte, um es zu packen und festzuhalten. Keine Zauberkraft konnte ihm jetzt helfen, nur seine eigene Stärke, sein eigenes Leben gegen das Unlebendige. Er sprach kein Wort, sondern stürzte sich darauf, das Boot rollte und schlingerte unter der plötzlichen Bewegung. Ein stechender Schmerz durchlief seinen Arm, erfüllte seine Brust und benahm ihm den Atem. Eiseskälte durchrann seine Glieder, und er sah nichts mehr: doch seine Hände, die nach dem Schatten gegriffen hatten, hielten nichts — nur Dunkelheit, nur Luft. Er strauchelte und ergriff den Mast, um sich festzuhalten. Licht schoß zurück in seine Augen. Er sah, wie der Schatten vor ihm zurückschauderte und zusammenschrumpfte, dann wuchs er wieder an und streckte sich aus, riesig, über das Segel hinaus, aber nur einen Augenblick lang, dann ballte er sich wie schwarzer Rauch im Wind zusammen und floh, eine formlose Masse, übers Meer, auf die helle Spalte zwischen den Felsen zu. Ged fiel auf die Knie. Das kleine, aus Zauberworten geflickte Boot rollte noch einmal, dann schaukelte es sich allmählich aus, bis es still lag und auf den ruhelosen Wassern dahintrieb. Er sank in sich zusammen, betäubt, halb bewußtlos, nach Atem ringend, bis er kaltes Wasser unter seinen Händen spürte, das im Boot aufgestiegen war und ihn mahnte, seine inzwischen schwach gewordenen Zauberformeln zu erneuern. Er stand auf und hielt sich am Stab fest, er wirkte seine Bindeformeln, so gut er es vermochte. Er war durchfroren und todmüde, seine Hände und Arme schmerzten, und er fühlte, daß er keine Kraft mehr besaß. Er sehnte sich danach, sich niederzulegen, tief unten, wo sich Berg und
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Meer trafen und zu schlafen, immerfort zu schlafen, dort unten auf dem ewig schaukelnden Wasser. Es war ihm nicht möglich, festzustellen, ob seine Erschöpfung von dem vor ihm fliehenden Schatten ausging oder ob sie von der eisigen Berührung herrührte oder ob sie ganz einfach von Hunger, Schlaflosigkeit und Kräfteverlust kam, aber gleichgültig, woher sie stammte, er kämpfte dagegen an und zwang sich, einen leichten magischen Wind aufzubringen und dem Schatten über die schmale, dunkle Bucht zu folgen, durch die er geflohen war. Aller Schrecken war vorbei, alle Kampflust war vergangen. Die Jagd war vorüber. Er war kein Verfolger und kein Verfolgter mehr. Zum dritten Mal waren sie zusammengestoßen und hatten sich berührt. Er hatte sich aus eigenem Antrieb gegen den Schatten gewandt und versucht, ihn zu ergreifen und festzuhalten. Nun bestand zwischen ihnen ein unzerreißbares Band, eine Verbindung, die keine schwache Stelle besaß. Er brauchte dem Schatten nicht mehr nachzujagen, er mußte seine Fährte nicht mehr suchen, auch der Schatten konnte nicht mehr davoneilen. Keiner von beiden konnte entfliehen. Zeit und Ort ihres letzten Zusammentreffens waren bestimmt, und wenn sie wieder aufeinandertrafen, würde es zum letzten Kampf kommen. Aber bis zu dem Zeitpunkt gab es keinen Frieden für Ged, weder bei Tag noch bei Nacht, weder auf dem Land noch auf der See. Jetzt wußte er, und das Wissen war bitter, daß seine Aufgabe nicht darin bestand, das, was er getan hatte, wiedergutzumachen, sondern das, was er begonnen hatte, zu vollenden. Er segelte durch das dunkle Felsentor hinaus aufs Meer, auf dem der helle, weite Morgen lag. Ein mäßiger Wind blies aus dem Norden. Er trank das restliche Wasser, das noch im Seehundfell war, und steuerte um das westliche Vorgebirge herum und in eine breite Meeresstraße hinein, die das Vorgebirge von einer zweiten Insel weiter westlich trennte. Jetzt wußte er, wo er sich befand. Er erinnerte sich an die Seekarten des Ostbereiches. Dies hier waren die Hände, zwei Inseln, die ihre gebirgigen Finger nach Norden gegen Kargad streckten. Zwischen den beiden Inseln segelte er, und als sich gegen Nachmittag Wetterwol-
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ken im Norden zusammenzogen, ging er an der Südküste der westlichen Insel an Land. Er hatte ein kleines Dorf erspäht, das oberhalb des Strandes an einem Bach lag, der munter den Berg herunterplätscherte und sich in die See ergoß. Es war ihm gleichgültig, wie man ihn dort aufnahm. Er sehnte sich nur nach frischem Wasser, der Wärme des Feuers und nach Schlaf. Die Dorfbewohner waren einfache, schlichte Leute, beeindruckt vom Zauberstab, mißtrauisch jedem Fremden gegenüber, aber gastfreundlich zu einem, der allein übers Meer zu ihnen kam und vor einem Sturm Schutz suchte. Sie boten ihm Fleisch und Trank an, soviel er wollte, und sie gaben ihm einen Platz am Feuer, sprachen mit ihm in seiner eigenen Sprache, und was am allerbesten war, sie gaben ihm heißes Wasser, das die Kälte aus seinen Gliedern und das Salz von seiner Haut wusch, und sie bereiteten ihm ein Bett für die Nacht.
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IFFISCH
GED VERBRACHTE DREI TAGE in dem Dorf auf der Westhand und erholte sich, während er ein Boot, diesmal nicht aus Treibholz und Zauberworten, sondern aus gutem Holz, zurechtzimmerte, das fest gefugt und abgedichtet war, das einen starken Mast mit einem Segel aus echter Leinwand hatte, das sich leicht segeln ließ und in dem er, wenn es nottat, auch schlafen konnte. Wie fast alle Boote des Nordens war es klinkergebaut, mit sich überlappenden Planken, die dem Boot Stärke verliehen, so daß es auch auf hoher See gesegelt werden konnte; alles an dem Boot war gut und sorgfältig gezimmert. Ged verstärkte es mit magischen Worten, die er tief ins Holz einwob, denn er vermutete, daß er weit darin würde segeln müssen. Es war groß genug für zwei oder drei Erwachsene, und der frühere Besitzer erzählte, daß das Boot ihn und seine Brüder auf hoher See und durch schwere Stürme sicher getragen hatte. Ganz im Gegensatz zu dem habgierigen Fischer auf Gont hatte dieser alte Mann, aus Ehrfurcht vor Geds Zauberkunst, ihm das Boot geschenkt. Doch Ged entschädigte ihn auf des Zauberers eigene Weise: er heilte ihn vom grauen Star, der ihm schon viel von seinem Sehvermögen geraubt hatte. Der alte Mann, dankbar und hocherfreut, sagte zu Ged: »Wir tauften das Boot Sonderling, Sie aber müssen es Weitblick nennen und zwei Augen an den Bug, auf jede Seite eins, malen, und mein Dank wird aus dem blinden Holz aufs Meer blicken und wird Sie vor Fels und Riff bewahren. Denn ich habe ganz vergessen, wie hell und licht die Welt ist, und Ihnen habe ich es zu verdanken, daß mir das Licht wieder geschenkt wurde.« Als Ged seine Macht wieder zurückkehren fühlte, vollbrachte er noch andere magische Werke in dem Dorf, das am Fuße des steil anstei-
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genden Waldes der Insel lag. Diesen Menschenschlag kannte er: sie waren nicht viel anders als die Leute des Nordtales in Gont, unter denen er aufgewachsen war, nur vielleicht noch ärmer. Er fühlte sich wohl unter ihnen, wohler als er sich wohl je an den Höfen der Reichen fühlen würde. Er wußte, wo sie der Schuh drückte, er brauchte nicht viel zu fragen. Über die Siechen und die kranken Kinder wob er die Formel des Heilens und des Schutzes, die kümmerlichen Schaf- und Ziegenherden bedachte er mit magischen Worten des Vermehrens, den Spinnrädern und Webstühlen, den Rudern und anderen Werkzeugen gab er die Rune Simm, damit sie ihre Arbeit gut verrichteten, in die Dachbalken der Hütten ritzte er die Rune Pin, die das Haus und seine Bewohner vor Feuer, Wind und Wahnsinn schützt. Als sein Boot Weitblick bereit lag und mit Wasser und geräuchertem Fisch wohl versehen war, blieb er noch einen Extratag, um dem jungen Dorfsänger die Taten von Morred und die Havnor-Lieder beizubringen. Es kam selten vor, daß ein Schiff des Inselreiches an den Händen anlegte: Lieder, die vor hundert Jahren gedichtet worden waren, waren den Dorfbewohnern neu, und sie waren begierig, von Heldentaten zu hören. Wäre Ged frei gewesen, so hätte er gerne eine Woche oder einen Monat unter ihnen geweilt und ihnen alles vorgesungen, was er kannte, damit die berühmten Gesänge auf einer neuen Insel heimisch würden. Aber er war ja nicht frei, und am folgenden Morgen zog er sein Segel hoch und verließ die Insel in südlicher Richtung. Er begab sich hinaus auf das weite, leere Meer des Außenbereiches, denn der Schatten war nach Süden geflohen. Er bedurfte keiner Findeformel, er war sich dessen so gewiß, als spule sich eine Schnur ab zwischen ihnen, die sie beide verband, egal wie viele Meilen, welche Länder und Meere zwischen ihnen lagen. So segelte er dahin, ohne Eile und ohne Hoffnung, auf einem Weg, den er nicht vermeiden konnte, und der Winterwind trug ihn nach Süden. Einen Tag und eine Nacht lang segelte er über das einsame Meer. Am zweiten Tag kam er an eine kleine Insel, die von den Einwohnern dort Vemisch genannt wurde. Die Leute am Hafen betrachteten ihn argwöhnisch, und ihr Zauberer kam eilenden Schrittes herbeigelaufen. Er sah Ged
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prüfend an, dann verneigte er sich und sagte in anmaßendem und zugleich bittendem Ton: »Mein Herr Zauberer! Verzeihen Sie mir die kühnen Worte, aber tun Sie uns den Gefallen, und nehmen Sie, was wir Ihnen zu bieten haben — Nahrung, Trank, Leintuch, Seile —, meine Tochter ist gerade unterwegs und wird Ihnen ein paar gebratene Hühner ins Boot legen, doch ich erachte es für weise, wenn Sie gleich, sobald es Ihnen genehm ist, weitersegeln. Die Leute hier sind etwas in Aufruhr, denn vor kurzem, vorgestern, genauer gesagt, beobachteten einige unter ihnen, wie ein Mensch unsere Insel von Norden nach Süden zu Fuß überquerte. Sie sahen kein Boot, das ihn hierherbrachte und auch keines, das ihn wieder fortführte, und man will gesehen haben, daß er keinen Schatten warf. Und diejenigen, die ihn sahen, fanden, daß er Ihnen ähnlich sah.« Als er dies vernahm, senkte Ged sein Haupt, kehrte um und ging zurück zu den Piers von Vemisch und segelte davon, ohne zurückzublicken. Es war nicht nötig, die Inselbewohner noch mehr zu erschrecken und sich ihren Zauberer zum Feind zu machen. Lieber verbrachte er die Nacht auf See und dachte darüber nach, was der Zauberer ihm gesagt hatte, denn diese Nachricht war ihm selbst ein großes Rätsel. Der Tag endete, und die Nacht brachte einen kalten Regen, der leise wispernd ins Wasser fiel und den beginnenden Morgen in graues Dämmerlicht hüllte. Noch immer blies der Wind sachte aus dem Norden und trug Weitblick weiter nach Süden. Am Nachmittag hörte es auf zu regnen, der Nebel verflüchtigte sich, und sie Sonne schien ab und zu zwischen den Wolken. Am Spätnachmittag sah Ged rechts von seinem Kurs die niedrigen blauen Berge einer großen Insel liegen, die im wechselnden Licht der Wintersonne lag. Der blaugraue Rauch zahlreicher Herdfeuer schlängelte sich über die Schieferdächer der kleinen Städte, die zwischen den Hügeln lagen, ein friedlich-fröhliches Bild in der endlosen Monotonie des weiten Meeres. Ged folgte einer Fischerflottille in den Hafen, und als er im goldenen Abendlicht die Straßen in die Stadt hinauf stieg, fand er eine Wirtschaft »Zum Herreki«, wo ein lustig flackerndes Feuer, Bier und geröstete Lammrippchen sein Herz und seinen Körper erwärmten. An den
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Tischen saßen Reisende, Kaufleute und Händler des Ostbereiches, aber die meisten Männer waren in der Stadt ansässig und kamen hierher, um ihr Bier zu trinken und Neuigkeiten auszutauschen. Sie waren nicht rauh und schüchtern, wie die Inselbewohner der Hände, sondern ebenso aufgeweckte wie bedächtige Bürger. Zweifellos hatten sie Ged als einen Zauberer erkannt, aber niemand sprach ihn daraufhin an. Nur der Besitzer erwähnte beiläufig (er redete unaufhörlich), daß diese Stadt hier, die im übrigen Ismay hieße, unvergleichliches Glück habe, denn sie besäße einen Schatz, den sie allerdings mit den anderen Städten auf der Insel teilen müßte, und zwar hätte sie einen wirklich hervorragenden Zauberer, der auf der Insel der Weisen, auf Rok selbst, ausgebildet worden wäre und der seinen Stab vom Erzmagier persönlich erhalten hätte, der zwar zur Zeit nicht in der Stadt sei, aber sonst hier in Ismay wohne, in einem Haus, das schon lange im Besitz der Familie sei, daß die Stadt also bereits wohlversorgt und für einen, der auch in den Hohen Künsten bewandert sei, nicht der richtige Ort wäre. »Wie man so sagt, zwei Stäbe streiten stetig in einer Stadt, habʹ ich nicht recht?« sagte der Wirt freundlich lächelnd. Jetzt wußte Ged, daß er als wandernder Zauberer, der von Ort zu Ort ziehend sich seinen Unterhalt durch Zaubereien und Kunststücke verdiente, hier nicht erwünscht war. In Vemisch hatte man ihn ziemlich unumwunden abgewiesen, und hier in Ismay ging es ihm nicht viel besser. Er begann an der sprichwörtlichen Gastfreundschaft des Ostbereiches zu zweifeln. Die Insel hieß Iffisch, und Vetsch, sein Freund, war hier geboren. Aber so gastfrei, wie er sie beschrieben hatte, schienen die Einwohner der Insel doch nicht zu sein. Als er um sich blickte, mußte er jedoch feststellen, daß die Gesichter im allgemeinen freundlich und gutmütig aussahen. Aber sie spürten, was er mit Gewißheit wußte: er stand abseits von ihnen, er gehörte nicht zu ihnen, Unheil lastete auf ihm, und er folgte einer dunklen Macht. Er war wie ein kalter Wind, der diesen vom Feuer erwärmten Raum abkühlte, er war der schwarze Vogel, den ein Sturm aus fremden Landen hierher verschlagen hatte. Je früher er weiterzog und sein dunkles Schicksal mit sich nahm, desto besser für die Leute hier.
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»Ich bin auf der Suche nach etwas«, sagte er zu dem Wirt. »Ich bleibe nur ein oder zwei Nächte hier.« Seine Stimme klang niedergeschlagen. Der Wirt verstummte und warf einen Blick auf den großen Stab, der in der Ecke des Raumes lehnte. Dann füllte er Geds Glas mit dem braunen Bier, bis der Schaum überlief. Ged wußte, daß er nicht länger als eine Nacht in Ismay bleiben konnte. Er war hier nicht willkommen, nirgends war er willkommen. Dorthin mußte er gehen, wohin sein Schicksal ihn trieb. Aber er hatte genug von der kalten, leeren See, von der Stille, in der es keine Stimmen gab, die mit ihm sprachen. Er nahm sich vor, einen Tag auf Ismay zu bleiben, morgen würde er weiterziehen. Er stand nicht sofort auf, als er aufwachte. Draußen schneite es leicht, und er wanderte ziellos durch die Straßen und über die Plätze der Stadt, er sah den Leuten zu, die geschäftig bei der Arbeit waren, er beobachtete Kinder, die in pelzgefütterten Umhängen steckten und Schneeberge und Schneemänner bauten, er hörte, wie die Hausfrauen, unter ihren Türen stehend, sich über die Straße miteinander unterhielten, er sah einem Bronzeschmied zu, der über der Schmelzgrube arbeitete, während ein kleiner Junge, hochrot im Gesicht und schwitzend vor Anstrengung, den Blasebalg bediente. Durch die Fenster, die in der frühen Dämmerung von innen beleuchtet, wie rötliches Gold glänzten, sah er Frauen in der Wärme ihrer anheimelnden Stuben an ihren Spinnrocken sitzen, die ab und zu lächelnd einen Blick auf Mann und Kind warfen oder mit ihnen sprachen. All dies sah er, ausgeschlossen und allein draußen in der Kälte stehend, und sein Herz wurde ihm schwer, doch er wollte nicht zugeben, daß er traurig war. Es wurde Nacht, und noch immer wanderte er durch die Straßen und schob seine Rückkehr ins Wirtshaus hinaus. Er hörte einen Mann und ein Mädchen miteinander scherzen und an ihm vorbei auf den Marktplatz zugehen, und plötzlich drehte er sich um, denn er hatte die Stimme des Mannes erkannt. Er ging den beiden nach, um sie einzuholen, und bald war er neben ihnen. Im späten Dämmerlicht war er nur schwach von entfernten Laternen beleuchtet. Das Mädchen wich einen Schritt zurück, aber der
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Mann starrte ihn an, dann riß er den Stab hoch und hielt ihn zwischen sich und den Fremden, als Schranke gegen das Böse und um Unheilvolles abzuwehren. Das war mehr, als Ged ertrug, seine Stimme brach, als er sagte: »Ich dachte, du würdest mich erkennen, Vetsch.« Selbst jetzt zögerte Vetsch noch einen Augenblick. »Gewiß kenne ich dich«, sagte er und senkte seinen Stab, dann ergriff er Geds Hände und legte seinen Arm um Geds Schulter,»... natürlich kenne ich dich! Willkommen, mein Freund, willkommen! Was für ein schlechter Empfang, als ob du ein Geist wärst, der sich von hinten heranschleicht — und ich habe auf dich gewartet und habe so nach dir Ausschau gehalten...« »Dann bist du also der Zauberer, auf den sie hier so stolz sind in Ismay? Ich habe mich gewundert...« »O ja, ich bin ihr Zauberer, aber hör mir erst zu, ich will dir erzählen, warum ich dich nicht gleich erkannte, mein Junge. Vielleicht habe ich zu sehr auf dich gewartet und nach dir Ausschau gehalten. Vor drei Tagen — warst du vor drei Tagen in Iffisch?« »Ich bin gestern gekommen.« »Vor drei Tagen habe ich dich in Quor, das ist ein Dorf in den Bergen da oben, gesehen. Das heißt, es war eine Gestalt, die deiner ähnlich war, vielleicht dein Doppelgänger. Er lief vor mir her, aus dem Dorf hinaus, und er bog gerade in eine Straße ein, als ich ihn sah. Ich rief, doch er antwortete nicht, ich ging ihm nach, doch ich fand niemanden, ich sah auch keine Spuren, aber der Grund war gefroren. Es war ganz seltsam, und als ich dich jetzt so aus dem Schatten hervortreten sah, dachte ich, daß es wieder ein Trick sein könnte. Verzeih, Ged, es tut mir leid!« Er redete Ged mit seinem wahren Namen an, aber so leise, daß das Mädchen, das ein wenig abseits stand, ihn nicht hören konnte. Ged antwortete, ebenso leise, weil er den wahren Namen seines Freundes aussprach: »Das macht nichts, Estarriol. Aber das hier bin ich, und ich bin froh, dich wiederzusehen.« Vetsch hörte in seiner Stimme mehr als nur die Freude über ihr Wiedersehen. Er hielt Ged noch immer an der Schulter fest und sagte jetzt in der Ursprache: »Mit Sorgen und aus der Dunkelheit kamst du, Ged,
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doch dein Kommen bringt Freude in mein Herz.« Dann fuhr er in Hardisch, mit seinem Ostbereichakzent, fort: »Komm, komm mit uns, wir sind auf dem Heimweg, es wird Zeit, daß wir aus der Dunkelheit herauskommen! — Das ist meine Schwester, die Jüngste in der Familie, hübscher als ich, wie du selbst sehen kannst, dafür weniger klug: sie heißt Jarro. Jarro, das ist der Sperber, der beste von uns allen und mein Freund.« »Herr Zauberer«, sagte das Mädchen und begrüßte ihn, indem sie höflich den Kopf neigte und ihre Augen mit den Händen bedeckte, wie es Sitte ist unter den Frauen des Ostbereiches. Als sie ihre Hände hob, sah sie Ged aus hellen Augen schüchtern und auch etwas neugierig an. Sie mußte ungefähr vierzehn Jahre alt sein; sie war so dunkel wie ihr Bruder, nur viel schmaler und zierlicher. Auf ihrem Ärmel hielt sich ein geflügelter Drache, nicht länger als eine Hand, mit seinen Krallen fest. Zusammen gingen sie im Dämmerlicht die Straße hinunter, und Ged sagte, als sie nebeneinander herschritten: »Von den Frauen in Gont sagt man, daß sie mutig seien, aber ich habe dort noch kein Mädchen gesehen, das einen Drachen als Armband trug.« Jarro mußte daraufhin lachen, und sie antwortete: »Das ist doch nur ein Harreki, gibt es auf Gont keine Harrekis?« Dann wurde sie wieder schüchtern und bedeckte ihre Augen. »Nein, aber es gibt auch keine Drachen. Ist dies Geschöpf denn kein Drache?« »Nur ein kleiner, der in Eichen wohnt und Wespen und Würmer und Spatzeneier frißt — aber er wird nie größer werden. Oh, mein Bruder hat mir oft von dem kleinen wilden Tier erzählt, das Sie hatten, von dem Otak — haben Sie ihn noch?« »Nein, ich habe ihn nicht mehr.« Vetsch schaute ihn fragend an, aber er sagte nichts, erst viel später erfuhr er es, als sie beide allein an der aus Steinen gebauten Feuerstelle in Vetschens Haus saßen. Obgleich er der oberste Zauberer auf der ganzen Insel Iffisch war, zog es Vetsch vor, hier in Ismay, in dieser kleinen Stadt, wo er geboren war, zusammen mit seinem jüngeren Bruder und seiner Schwester zu woh-
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nen. Sein Vater war ein wohlhabender Überseekaufmann gewesen, und das Haus war geräumig, aus starken Balken gebaut, und man sah den Wohlstand an den feinen Töpferwaren, den schönen gewebten Behängen und Decken, den Behältern aus Bronze und Messing, die auf geschnitzten Brettern und Truhen standen. In einer Ecke des großen Raumes stand eine mächtige taonische Harfe, und in einer anderen Ecke stand Jarros Webstuhl, dessen hoher Rahmen mit Elfenbein eingelegt war. Man merkte, daß Vetsch trotz seines einfachen, biederen Wesens ein gar mächtiger Zauberer und Herr über einen stattlichen Haushalt war. Außer ihm gab es ein paar ältere Bedienstete, denen man ansah, daß es ihnen in diesem Haus wohl erging; dann waren noch sein jüngerer Bruder, ein munterer Knabe, und Jarro da, die sie flink und schweigsam wie ein kleiner Fisch beim Abendessen bedient hatte und auch mit ihnen gegessen hatte; sie war ihrer Unterhaltung aufmerksam gefolgt, später aber war sie in ihr eigenes Zimmer verschwunden. Alles hier war gediegen und friedlich und sicher. Ged blickte in dem vom Feuer erhellten Raum umher und seufzte: »So sollte man leben.« »Ja, das ist eine Art zu leben, es gibt auch andere. Aber jetzt, mein Junge, erzähl mir, was du erlebt hast, seit wir uns das letzte Mal — zwei Jahre sind es jetzt schon her — gesehen haben, und was dich hierher geführt hat. Und sag mir, warum du herumfahren mußt, denn ich merke wohl, daß du nicht lange hier verweilen wirst.« Ged erzählte ihm alles, und als er geendet hatte, blieb Vetsch lange nachdenklich sitzen, ohne zu reden. Dann sagte er: »Ich werde dich begleiten, Ged.« »Nein.« »Doch, ich komme mit.« »Nein, Estarriol, nicht über dir hängt dieses Unheil, nicht dir ist es auferlegt. Ich werde es allein vollenden, ich will nicht, daß ein anderer dadurch zu Schaden kommt — und du am allerwenigsten, denn du warst es, der damals, ganz am Anfang, versucht hatte, meiner Hand Einhalt zu gebieten, Estarriol...« »Stolz war schon seit jeher dein vorherrschendstes Merkmal«, sagte sein Freund lächelnd, als handle es sich um eine Kleinigkeit. »Denk so: Es
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ist dein Schicksal, deine Aufgabe. Das steht fest, aber wenn es mißlingt, sollte dann nicht einer dasein, der die Botschaft ins Inselreich trägt? Denn der Schatten wäre dann eine furchtbare Bedrohung. Und wenn du dieses Unding bezwingst, sollte nicht ein Zeuge dasein, der es im Inselreich verbreiten kann, damit dieser Tag gewürdigt und besungen wird? Ich weiß, daß ich dir nicht helfen kann, aber ich glaube, daß ich mitgehen sollte.« Vetsch redete so überzeugend, daß Ged schließlich nachgab, aber er sagte: »Ich hätte heute nicht hierbleiben sollen. Ich habe es geahnt, aber ich blieb trotzdem.« »Zauberer treffen sich nicht durch Zufall, mein Junge«, sagte Vetsch. »Und überhaupt, du hast es ja selbst gesagt, ich war ganz am Anfang dabei, und deswegen ist es nicht mehr als recht und billig, daß ich auch am Ende dabei bin.« Er legte neues Holz auf, und beide saßen und blickten in die Flammen. »Von einem habe ich seit jener Nacht auf dem Rokkogel nie mehr gehört, und es hat mir der Mut gefehlt, jemanden nach ihm zu fragen: ich meine Jasper.« »Er hat nie den Stab erworben. Er hat im gleichen Sommer noch Rok verlassen und ging nach der Insel O als Zauberer des fürstlichen Haushalts von O-Tokne. Mehr weiß ich auch nicht.« Wieder schwiegen sie, schauten in die Flammen und waren um die Wärme an ihren Beinen und Gesichtern froh, denn draußen war es bitterkalt. Sie rückten auf der breiten Steineinfassung noch näher ans Feuer, so daß ihre Füße fast die glimmenden Scheite berührten. Schließlich sprach Ged leise: »Etwas fürchte ich, Estarriol. Ich fürchte es sogar noch mehr, wenn du mitgehst, als wenn ich allein ginge. Dort, in den Händen, in der schmalen Bucht, als ich mich dem Schatten zuwandte, war er nur eine Armeslänge weit weg von mir, und ich packte ihn — oder versuchte ihn zu packen. Und da war nichts, was ich halten konnte. Ich konnte ihn nicht überwältigen. Er floh, ich folgte. Und das kann wieder passieren, und immer wieder. Ich habe keine Macht über das Wesen. Und vielleicht ist am Ende kein Tod, kein Sieg, vielleicht gibt es nichts, was man besiegen kann, vielleicht gibt es kein Ende, vielleicht
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muß ich bis an mein Lebensende von Meer zu Meer, von Insel zu Insel eilen, auf einer ewigen, nutzlosen Jagd, auf der Jagd nach einem Phantom.« »Wende!« sagte Vetsch, während seine linke Hand die Geste des Abwehrens durchführte. Trotz des Ernstes der Situation mußte Ged insgeheim lächeln. Unter Kindern war diese Geste beliebt, erwachsene Zauberer bedienten sich ihrer selten, aber Vetsch hatte schon immer etwas Einfaches, Kindliches an sich gehabt, und doch war er klug und gewitzt und traf immer den Nagel auf den Kopf. Jetzt sagte er: »Das ist ein schlimmer Gedanke und hoffentlich ein falscher. Ich glaube eher, daß ich auch das Ende von dem sehen werde, dessen Anfang ich sah. Irgendwie wirst du herausfinden, was es ist, sein Wesen, seine Art. Und dann kannst du es festhalten und überwinden. Doch es wird schwierig sein, herauszubekommen, was es ist... Aber etwas verstehe ich nicht, und es macht mir Sorgen. Es scheint, daß der Schatten jetzt in deiner Gestalt umhergeht oder zumindest in einer dir ähnlichen Gestalt. In Vemisch haben sie es gesehen, und ich habe es hier auf Iffisch ja selbst gesehen. Wie ist das möglich, und warum hat er das damals, als ihr noch im Inselreich wart, nicht getan?« »Wie man so sagt: In Außenbereichen gelten andere Gesetze.« »Das stimmt, da ist viel Wahres dran, das kann ich dir sagen. Auf Rok habe ich manch gute Formel gelernt, die hier überhaupt nicht wirkt, und andere gehen schief, und dann gibt es hier wieder Formeln, von denen ich auf Rok nie etwas gehört habe. Jedes Land hat seine eigenen Mächte, und je weiter man sich von den Ländern des Innenmeeres entfernt, desto schwerer wird es, herauszufinden, welcher Macht sie entspringen. Aber ich glaube nicht, daß dies der einzige Grund ist, der diese Änderung des Schattens bewirkt.« »Ich glaube es auch nicht. Seit ich nicht mehr versuche, ihm zu entfliehen, und seit ich ihn verfolge und ihm meinen Willen aufzwinge, seither fängt er an, in meiner Gestalt einherzugehen; gleichzeitig ist er aber auch verhindert, mir meine Macht zu entwinden. Alles, was ich tue, findet sein Echo in ihm: er ist mein Geschöpf.«
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»In Osskil hat er dich bei deinem Namen gerufen, und damit hat er dir jegliche Zauberkraft ihm gegenüber genommen. Warum hat er das denn nicht wieder getan, als ihr euch in den Händen begegnet seid?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht kann er nur Kraft zum Reden schöpfen, wenn ich schwach bin. Er hat fast meine Stimme, meine Sprache, wenn er redet: aber woher weiß er meinen Namen? Ich habe mir das Gehirn zermartert, seit ich Gont verlassen habe und über die Meere segelte, und die Antwort darauf weiß ich immer noch nicht. Vielleicht kann er in seiner eigenen Form oder Formlosigkeit gar nicht reden, sondern nur, wenn er ein Gebbeth ist. Ich weiß es nicht.« »Dann mußt du dich hüten, ihn wieder als Gebbeth zu treffen.« »Ich glaube«, sagte Ged und streckte seine Hände gegen die glühenden Scheite, als fröre ihn von innen heraus, »ich glaube, die Gefahr besteht nicht mehr. Er ist jetzt an mich gebunden, genau wie ich an ihn gebunden bin. Jetzt kann er sich nicht mehr so weit freimachen, daß er eines anderen Menschen Wille und Sinn entwenden kann, wie er es mit Skihor getan hat. Er kann aber von mir Besitz ergreifen, sobald ich schwach werde und versuche, ihm zu entfliehen und das Band zu zerreißen. Aber als ich versuchte, ihn mit meinen Händen zu halten, so fest ich konnte, hat er sich wie Rauch verflüchtigt und entfloh... Und das kann sich wiederholen, und trotzdem kann er mir nicht wirklich entfliehen, denn ich werde ihn immer finden. Ich bin an das grausame Scheusal gebunden und werde es ewig sein, außer ich finde das Wort, das mich erlösen kann: seinen Namen.« Sein Freund saß ihm grübelnd gegenüber. »Gibt es überhaupt Namen in den dunklen Bereichen?« »Erzmagier Genscher sagte, es gäbe keine, mein Meister Ogion sagte, es gäbe Namen.« »Immer wird es Kontroversen zwischen Magiern geben«, zitierte Vetsch und lächelte resigniert. »Diejenige, die der Urmacht auf Osskil diente, schwor, daß mir der Stein den Namen des Schattens sagen könne, aber ihren Worten traue ich wenig.
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Aber um mich loszuwerden, hat mir der Drache angeboten, mir den Namen des Schattens zu sagen, wenn ich den seinen nicht gebrauche. Ich dachte oft daran, daß Drachen weise sind, vielleicht gerade in Dingen, über die sich Magier streiten.« »Weise, ja, aber auch herzlos. Aber von welchem Drachen redest du? Das hast du mir nicht erzählt, daß du dich, seit wir uns das letzte Mal sahen, mit Drachen unterhalten hast.« Sie blieben bis spät in die Nacht hinein sitzen und redeten miteinander, und obwohl sie immer wieder auf das Schwere, das vor Ged lag, zurückkamen, so wog die Freude, endlich wieder beisammen zu sein, doch alles auf, denn ihre Freundschaft war tief und stark. Zeit und Umstände konnten ihr nichts anhaben. Ged wachte im Haus seines Freundes auf, und während er noch schlaftrunken war, fühlte er in sich ein Wohlbehagen, als befände er sich an einem sicheren, geschützten Ort, dem sich nichts Böses oder Übles nähern konnte. Den ganzen Tag über blieb etwas von diesem Traumgefühl an ihm haften, und er betrachtete es nicht als gutes Omen, sondern als ein Geschenk. Sehr wahrscheinlich würde er beim Abschied von hier den letzten, sicheren Hafen verlassen, und er wollte diesen Traum genießen, solange er anhielt. Vetsch mußte vor seiner Abreise noch einige Angelegenheiten in anderen Dörfern der Insel in Ordnung bringen. Er verließ Iffisch mit dem Jungen, der als Zauberlehrling bei ihm arbeitete. Ged blieb bei Jarro und ihrem Bruder Murre, der im Alter zwischen Vetsch und Jarro stand. Murre, der weder Gabe noch Geißel einer magischen Macht in sich spürte, führte ein sorgloses Leben; er war noch nicht weit herumgekommen, außer Iffisch kannte er nur Tok und Holp. Ged beobachtete ihn mit Staunen und auch ein bißchen Neid, und die gleichen Gefühle bewegten Murre, wenn er Ged betrachtete. Beiden kam es seltsam vor, daß sie so verschieden sein konnten, da sie doch beide gleich alt waren, nämlich neunzehn Jahre. Ged schien es unfaßbar, daß jemand, der neunzehn Jahre lang gelebt hatte, so sorglos sein konnte. Murres offenes, hübsches Gesicht gefiel ihm, und er selbst kam sich linkisch und ungehobelt vor. Er wußte nicht, daß ihn Murre um die Narben in seinem Gesicht beneidete. Mur-
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re glaubte, daß sie von Drachenklauen herrührten, und sie waren ihm Rune und Siegel eines Helden. Die beiden jungen Männer waren aus diesem Grund etwas gehemmt im Umgang miteinander, doch Jarro verlor bald alle Scheu vor Ged. Hier war sie daheim und Herrin des Hauses. Ged war sehr freundlich zu ihr, und sie stellte viele Fragen, denn Vetsch, sagte sie, gäbe ihr nie richtig Auskunft. Während der zwei Tage war sie sehr geschäftig. Sie buk Weizenfladen für die Reisenden und wickelte getrocknete Fische und Fleisch und allen möglichen Proviant ein, bis Ged ihr Einhalt gebot, denn er hatte nicht vor, ohne anzuhalten bis nach Selidor zu segeln. »Wo liegt Selidor?« wollte sie wissen. »Ganz weit draußen im Westbereich, wo Drachen so zahlreich sind wie Mäuse.« »Dann bleibt besser hier im Osten. Unsere Drachen sind so klein wie Mäuse. Das ist alles Fleisch, aber sind Sie sicher, daß es genug ist? Etwas verstehe ich ja nicht. Sie und Vetsch, Sie sind beide mächtige Zauberer, Sie müssen nur Ihre Hand bewegen, etwas murmeln, und schon ist es da. Warum werden Sie denn dann überhaupt hungrig? Wenn es Zeit zum Essen ist, warum sagen Sie denn nicht ganz einfach Fleischpastete, und dann kommt die Pastete, und Sie brauchen sie nur zu essen?« »Das könnten wir schon tun. Aber wer schluckt schon gerne sein eigenes Gerede hinunter? Fleischpastete ist schließlich nur ein Wort... Wir könnten sie wohlriechend, gewürzt und sogar sättigend machen, aber deswegen bleibt es doch ein Wort. Es narrt den Magen und verleiht dem hungrigen Mann letztlich keine Kraft.« »Zauberer sind also keine Köche«, sagte Murre, der an der anderen Seite des Herdes saß und an einem Stück weichem Holz herumschnitzte. Er hatte gelernt, Holz zu bearbeiten, aber er war kein allzu fleißiger Geselle. »Und Köche sind leider keine Zauberer«, sagte Jarro, die vor dem Ofen kniete und nachschaute, ob das letzte Blech voll Weizenkuchen durchgebacken war. »Aber es ist mir immer noch schleierhaft, Sperber. Ich habe zugeschaut, wie mein Bruder, und selbst sein Lehrling, in einem dunklen Raum Licht gemacht haben. Ein Wort hatte genügt, und
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ein Licht, kein Wort, ist erschienen, und es war so hell, daß man dabei wirklich sehen konnte.« »Ja«, sagte Ged, »Licht ist eine Macht. Licht gibt uns Leben, aber es existiert nicht nur um unseretwillen. Es ist ein Ding, das für sich selbst da ist. Sonnen- und Sternenlicht ist Zeit, und Zeit ist Licht. Im Sonnenlicht, in den Tagen und Jahren, ist das Leben beschlossen. In der Dunkelheit kann ein lebendiges Wesen Licht herbeirufen, wenn es den Namen des Lichtes nennt. Aber im allgemeinen, wenn Sie einem Zauberer zuschauen, der etwas — irgend etwas — herbeiruft, dann ist das nicht das gleiche. Er ruft keine Macht herbei, die größer ist als seine eigene, und was erscheint, ist bloß Illusion. Will man etwas herbeirufen, das nicht da ist, dann ruft man es bei seinem wahren Namen — das ist eine große Kunst und nur im äußersten Falle zu gebrauchen, bestimmt nicht um des Hungers willen. Jarro, Ihr kleiner Drache hat ein Küchlein stibitzt.« Jarro hatte so aufmerksam zugehört und Ged nicht aus den Augen gelassen, daß sie nicht bemerkt hatte, wie der Harreki sich vom Kesselhaken über dem Herd, an dem er gewöhnlich baumelte, herunter geschlängelt und sich ein Küchlein geschnappt hatte, das größer war als er selbst. Sie nahm das kleine schuppige Geschöpf auf ihre Knie und fütterte es mit dem Küchlein krümelweise, während sie über Geds Worte nachdachte. »Also deshalb würden Sie keine Fleischpastete bei ihrem wahren Namen herbeirufen, denn sonst würden Sie das durcheinanderbringen, worüber mein Bruder immer redet — ich habe vergessen, wie es heißt...« »Das innere Gleichgewicht der Welt«, antwortete Ged ernsthaft, denn Jarro blickte ihn aufmerksam an. »Aber als Sie Schiffbruch erlitten hatten, sind Sie in einem Boot gefahren, das fast nur aus Zauberformeln bestand, und es hat kein Wasser geleckt. War das auch Illusion?« »Na, teilweise schon, denn ich wollte einfach nicht das Meer durch die Löcher im Boot sehen, deswegen habe ich sie zugezaubert. Aber die Stärke des Bootes war nicht Illusion, auch kein Gebieten war dabei, sondern das war eine andere Kunst, eine Bindeformel hielt es zusammen.
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Das Holz wurde zu einer Einheit, zu einem Etwas, zu einem Boot, denn schließlich, was ist ein Boot? Ein Etwas, das kein Wasser durchläßt.« »Ich habe schon in manchem Boot geschöpft, das ganz schön Wasser durchließ«, sagte Murre. »Oh, meines hat auch geleckt, wenn ich vergaß, die Zauberformel zu erneuern.« Er beugte sich von seinem Eckplatz hinunter und nahm ein Küchlein von den Backsteinen und balancierte es auf seiner Hand. »Ich habe auch eins gestohlen.« »Dann werden Sie sich die Finger verbrennen. Und wenn Sie auf dem Meer weit draußen bei den Fernen Inseln sind, werden Sie an dieses Küchlein denken und sagen: Oh, hätte ich doch damals das Küchlein nicht gestohlen, dann hätte ich jetzt etwas zu essen, o weh! — Na, dann werde ich eben das Küchlein meines Bruders essen, und Sie können dann zusammen hungern.« »Und damit wird das Gleichgewicht wieder hergestellt«, bemerkte Ged, während sie sich die heißen, braungebackenen Küchlein schmecken ließen. Jarro mußte kichern und verschluckte sich. Aber bald blickte sie wieder ernst drein und sagte: »Ich wollte, ich könnte alles ganz richtig verstehen, was Sie mir sagen. Ich bin zu dumm.« »Die Schuld liegt bei mir, kleine Schwester«, sagte Ged. »Ich kann nicht gut erklären. Wenn wir mehr Zeit hätten...« »Wir werden mehr Zeit haben«, sagte Jarro. »Wenn mein Bruder wieder zurückkommt, dann kommen Sie auch mit und bleiben wenigstens eine Weile hier, nicht wahr?« »Wenn ich kann«, antwortete er leise. Eine Pause trat ein, dann fragte Jarro, während sie dem Harreki zuschaute, wie er wieder hinauf auf seinen Beobachtungsposten kletterte. »Sagen Sie mir nur noch eines, wenn es kein Geheimnis ist. Welche anderen großen Mächte, außer dem Licht, gibt es?« »Das ist kein Geheimnis. Alle Kräfte, vom Ursprung bis ans Ende, beruhen auf einer Macht, glaube ich. Jahre und Entfernungen, Sterne und Kerzen, Wasser, Wind und Weisheit des Magiers, die Geschicklichkeit der Menschenhand und das Geheimnis einer Baumwurzel: alle haben einen gemeinsamen Ursprung. Mein Name und Ihr Name, der wahre
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Name der Sonne oder des Quellwassers oder der eines ungeborenen Kindes, alles sind nur Silben eines einzigen Wortes, das ganz langsam im Funkeln der Sterne gesprochen wird. Es gibt keine andere Macht, keine anderen Namen.« Murre hielt mit Schnitzen inne und fragte: »Und was ist der Tod?« »Wird ein Wort gesprochen«, sagte Ged langsam, »so muß zuvor und danach Stille herrschen.« Dann erhob er sich plötzlich und sagte: »Ich habe kein Recht, über diese Dinge zu reden. Das Wort, das ich hätte sprechen sollen, habe ich falsch gesprochen. Es ist besser, wenn ich den Mund halte, ich werde nicht mehr weiterreden. Vielleicht gibt es keine wahre Macht — außer der Dunkelheit.« Und er verließ das Herdfeuer und die warme Küche, nahm seinen Umhang und ging
hinaus auf die Straße, hinaus in den kalten Winterregen. »Eine Verwünschung liegt auf ihm«, sagte Murre, der ihm etwas angstvoll nachschaute. »Ich glaube, daß diese Fahrt, die er unternimmt, zu seinem Tod führt«, sagte das Mädchen. »Er befürchtet das auch und geht trotzdem.« Sie hob den Kopf und schaute in die roten Flammen, als sähe sie ein Boot drinnen, das einsam und allein über die winterliche See in die weite Ferne fremder Meere fuhr. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch sie sagte nichts. Am nächsten Tag kam Vetsch zurück und verabschiedete sich von den Stadtvätern von Ismay, denen es nicht paßte, daß ihr Zauberer mitten im Winter aufs Meer hinaus wollte und sich auf ein Unternehmen, bei dem es um Leben und Tod ging, einließ, das ihn im Grunde gar nichts anging. Aber sie konnten ihn nicht abhalten. Er wurde ihrer ständigen Vorhaltungen müde und sagte: »Ich bin euch verpflichtet, durch meine Familie, durch Sitte und die Abmachung, die ich mit euch getroffen habe. Ich bin euer Zauberer. Aber es wird Zeit, daß ihr lernt, in mir zwar einen Diener, aber nicht euren Diener zu sehen. Wenn ich wieder frei bin, werde ich zurückkommen. Bis dahin — lebt wohl!« Bei Tagesanbruch, als das graue Licht sich über das Meer ausbreitete, hißten die beiden jungen Männer das braune, aus kräftigem Garn gewebte Segel der Weitblick. Der Nordwind füllte es und führte sie hinaus
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aus dem Hafen von Ismay. Jarro stand am Pier, wie es Frauen und Schwestern an allen Küsten der Erdsee tun. Sie stehen, ohne zu winken und zu rufen, in graue oder braune Umhänge gehüllt, mit den Kapuzen über dem Kopf. So stand sie und schaute ihnen nach, und die Küste wurde immer kleiner hinter ihnen, während das Wasser dazwischen immer weiter und breiter wurde.
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AUF HOHER SEE
DER HAFEN WAR AM HORIZONT VERSUNKEN. Die gemalten Augen der Weitblick, naß von den Wellen, schauten hinaus aufs endlose Meer. Zwei Tage und zwei Nächte brauchten die Freunde, um die fünfzig Meilen zwischen Iffisch und der Soderinsel in stürmischer See und unter heftigem Regen zurückzulegen. Nur kurz verweilten sie im Hafen. Sie füllten ihre Wasserflaschen und erstanden eine geteerte Leinwand, um wenigstens einige ihrer Geräte im offenen Boot vor Salzwasser und Regen zu schützen. Sie hatten sich um diese Dinge wenig gekümmert, als das Boot beladen wurde, denn gewöhnlich sorgt ein Zauberer für solche Kleinigkeiten mit Zauberworten. Ganz einfache Formeln genügen, um das Leben im Boot erträglicher zu machen. Mit einem Wort zum Beispiel konnte man Salzwasser in Süßwasser verwandeln, und man ersparte sich die Mühe, Süßwasser mitzuführen. Aber Ged machte nur sehr widerwillig von seiner magischen Kunst Gebrauch und wollte auch nicht, daß Vetsch seine Zauberkraft gebrauche. Er gab keinen Grund dafür an, sondern sagte nur: »Es ist besser so«, und sein Freund stellte keine weiteren Fragen, denn als der erste Windstoß die Segel füllte, fühlten beide eine bedrückende Ahnung drohenden Unheils, die so eiskalt wie der Winterwind war und sie erschauern ließ. Bucht und Hafen, Friede und Sicherheit, all dies ließen sie zurück. Sie begaben sich auf eine Bahn, auf der alle Handlungen gefährlich waren, auf der kein Vorkommnis bedeutungslos war. Das geringste Zauberwort konnte ihr Geschick wenden und das Gleichgewicht, das zwischen der Macht und der Machtlosigkeit besteht, stören. Jetzt segelten sie direkt ins Zentrum, dort wo sich Licht und Dunkel trafen und keines stärker als das andere war. Wer dorthin fährt, wägt jedes Wort.
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Aus dem Hafen von Soders kommend, steuerte Ged das Boot der Küste entlang, an der sich weiße Schneefelder erstreckten und in den nebligen Höhen verloren. Er hielt sich jetzt südlich, und sie kamen in Gewässer, die am äußersten Rand des Außenbereiches lagen und nie von den Handelsschiffen des Innenreiches befahren werden. Vetsch stellte keine Fragen bezüglich des Kurses, denn er wußte, daß Ged ihn nicht wählte, sondern dorthin steuerte, wohin er steuern mußte. Als die Soderinsel immer kleiner wurde und im Dunst hinter ihnen verschwand, als das Meer unter ihnen rauschte und an ihren Bug schlug, als nur die riesige runde Fläche des Wassers sie umgab und den Rand des Himmels berührte, fragte Ged: »Welche Lande liegen vor uns?« »Direkt südlich von der Soderinsel liegt kein Land mehr. Südöstlich, ziemlich weit südöstlich, liegt etwas, aber es ist wenig: Pelimer, Kornay, Gosk und Astowell, das man auch Letztland nennt. Und weiter dahinter ist nichts als Meer.« »Und südwestlich?« »Ralomey liegt dort, die gehört zu den Inseln des Ostbereiches; darum herum gibt es ein paar kleinere Inseln, dann unterbricht nichts mehr die Wasserfläche bis zum Südbereich. Dort liegen Rut und Turn und die Insel, die sie das Ohr nennen, wo Menschen nicht hingehen.« »Wir müssen vielleicht«, sagte Ged und blickte bedenklich drein. »Lieber nicht«, sagte Vetsch, »man sagt, daß es dort nicht geheuer zugeht. Gebeine liegen dort in Massen umher, und böse Omen nehmen ihren Ursprung von dort. Matrosen haben berichtet, daß man von dem Ohr und von der Insel Weitsor aus Sterne erblickt, die man von keiner anderen Insel aus sehen kann und die keinen Namen haben.« »Das habe ich auch gehört. Auf dem Schiff, das mich nach Rok brachte, war ein Seemann, der mir davon erzählte. Er hat von dem Floßvolk berichtet, das nur einmal im Jahr an Land geht, um große Stämme für ihre Flöße zu fällen und den Rest des Jahres auf Meeresströmungen treibt, so weit entfernt von jeder Küste, daß sie nie gesichtet werden. Ich würde mir diese Floßdörfer gern einmal anschauen.« »Ich nicht«, sagte Vetsch und lachte. »Ich bin für das Land und die Landratten, der See gönne ich ihr Bett und mir das meine ...«
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»Ich wollte, ich hätte alle Städte des Inselreiches sehen, können«, sagte Ged, als er das Segeltau hielt und seinen Blick über die weite, graue Öde schweifen ließ. »Havnor im Herzen der Welt, Éa, wo die Mythen herstammen, die Brunnenstadt Scheließ auf Weg, all die Städte und die großen Inseln hätte ich gerne gesehen, und auch die kleineren, die unbekannten, in den Außenbereichen; zu den Dracheninseln, die weit im Westen liegen, wäre ich gerne gefahren oder nach Norden bis nach Hogenland, wo es Eisbären gibt. Manche Leute sagen, daß es dort oben ein Land gäbe, das größer als das ganze Inselreich sei, und andere sagen, es gäbe dort nur Riffe und Felsen mit Eis dazwischen. Keiner weiß etwas Genaues. Ich würde auch gerne die Walfische im Norden sehen... Aber ich kann ja nicht. Ich muß dahin gehen, wo es mich hinzieht, und ich muß mich den verlockenden Küsten fernhalten. Ich hatte es zu eilig in meinem Leben, und jetzt fehlt es mir an der Zeit. Ich habe Sonnenlicht, Städte und ferne Lande gegen eine Handvoll Macht, gegen einen Schatten der Finsternis eingetauscht.« Er schwieg, aber wie es unter Magiern üblich ist, drückte er seine Furcht und sein Bedauern in einem Lied aus, einem kurzen Trauergesang, den er halb sang, halb sprach und der nicht nur für ihn allein bestimmt war. Sein Freund antwortete ihm mit den Worten des Helden aus den Taten von Erreth-Akbe: »Einmal nur möchtʹ ich noch schauen der Erde leuchtende Feuer, die weißen Türme von Havnor ...« So segelten sie dahin, immer geradeaus, über das weite, trostlose Wasser. Das einzig Lebendige, das sie an diesem Tage sahen, war eine Schule kleiner, silbriger Fischchen, die nach Süden zog. Kein Delphin schnellte sich aus dem Wasser, keine Möwe, keine Seeschwalbe, kein Schwimmvogel unterbrach das stetige Grau des Himmels. Als es im Osten dunkel wurde und der Himmel des Westens sich rot färbte, packte Vetsch das Essen aus und teilte es mit Ged: »Und nun das Bier. Trinken wir auf das Wohl derjenigen, die fürsorglich ein Fäßchen an Bord verstaut hat, für durstige Männer in kaltem Wetter: auf meine Schwester Jarro!« Als Ged das hörte, vergaß er einen Augenblick lang seine Sorgen und ließ seine Augen kurz von der ständigen Suche übers Meer ausruhen.
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Er trank auf Jarros Wohl, vielleicht etwas ernsthafter als Vetsch. Er sah Jarro wieder vor sich, ihr natürliches Wesen, ihren kindlichen Charme. Sie war nicht so wie andere Mädchen — aber welche jungen Mädchen hatte er überhaupt schon gekannt? Doch daran dachte er nicht. — »Sie ist wie ein kleiner Fisch, wie eine Elritze, die in einem klaren Bach herumschwimmt«, sagte er, »...aber man kann sie doch nicht fangen.« Bei diesen Worten blickte ihn Vetsch überrascht an und lächelte: »Du bist wirklich zur Magie geboren«, sagte er. »Ihr wahrer Name ist Kest.« In der Ursprache, wie Ged wohl wußte, war »Kest« der Name für eine Elritze, und dies tat ihm in der Seele wohl. Aber nach einer Weile sagte er leise: »Du hättest mir ihren Namen nicht sagen sollen.« Aber Vetsch, der das nicht unüberlegt getan hatte, sagte nur: »Bei dir ist ihr Name so gut aufgehoben wie meiner. Und außerdem hast du ihn ja selbst erraten...« Das Rot des Westens wurde Asche, das Aschgraue des Ostens wurde schwarz. Meer und Himmel waren ganz dunkel. Ged streckte sich im Boot aus, in seinen Umhang aus Wolle und Pelz gehüllt. Vetsch hielt das Tau fest und sang leise das Enladlied, das von Morred dem Weißen erzählt, der Havnor in seinem ruderlosen Langschiff verlassen hatte und im Frühling auf der Insel Solea Elfarran in den Gärten wandeln sah. Ged schlief ein, bevor Vetsch an die Stelle kam, die vom tragischen Ende ihrer Liebe erzählte, von Morreds Tod, dem Untergang von Enlad und den mächtigen, bitteren Wogen, die über den Gärten von Solea zusammenschlugen. Gegen Mitternacht wachte er auf und löste Vetsch ab, damit der schlafen konnte. Das kleine Boot stürmte tapfer über das bewegte Wasser des Meeres, es floh vor dem heftigen Wind, der sich gegen seine Segel lehnte, und raste blind durch die Nacht dahin. Die Bewölkung war stellenweise aufgelockert, die schmale Mondsichel schien zwischen braungeränderten Wolken und warf ein schwaches Licht über die See. »Der Mond nimmt ab, es wird dunkler«, murmelte Vetsch, der gegen Morgen erwachte, gerade als der kalte Wind eine Weile aussetzte. Ged blickte hinauf zu dem weißen Halbmond über dem bleichen Wasser im Osten, aber er sagte nichts. Der Neumond, der auf die Wintersonnen-
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wende folgt, wird Brachmond genannt und ist Gegenpol zu den Mondtagen und dem Langtanz des Sommers. Die Zeit gilt als ungünstig für Reisen und birgt nichts Gutes für Kranke. Während des Brachmonds findet keine Namengebung statt, keine Lieder werden in dieser Zeit gesungen, Schwerter oder Schnittwerkzeuge werden nicht geschliffen, Eide werden nicht geleistet. Es ist die dunkle Mitte des Jahres, wo mit gutem Gelingen nicht zu rechnen ist. Drei Tage nachdem sie Soders verlassen hatten, erreichten sie, Seevögeln und Treibgut folgend, die kleine Insel Pelimer, die sich hoch über die Wellen des Meeres erhob. Die Einwohner dort sprachen Hardisch mit einem eigenen Akzent, der selbst Vetsch fremd in den Ohren klang. Die jungen Männer gingen an Land, um frisches Wasser zu fassen und sich etwas von der endlosen Seefahrt zu erholen. Sie wurden zunächst freundlich aufgenommen, mit großem Erstaunen und viel Aufregung. In der Hauptstadt der Insel gab es auch einen Zauberer, aber er war verrückt. Er redete unaufhörlich von der Riesenschlange, die an Pelimer knabbere und bald erreichen würde, daß die Insel fortschwimmen und ans Ende der Welt treiben werde, wo sie dann über den Rand in den Abgrund zu stürzen drohe. Zunächst empfing er die jungen Zauberer wohlwollend, aber als er von der Seeschlange zu reden anfing, schaute er Ged durchdringend an, und bald begann er sie zu beschimpfen und beschuldigen, daß sie Spione und Diener der Seeschlange seien. Die Pelimeraner begannen ihnen mißtrauische Blicke zuzuwerfen, denn trotz seiner Verrücktheit betrachteten sie ihren Zauberer mit Respekt. Ged und Vetsch blieben daher nicht lange, sondern brachen noch vor Anbruch der Dunkelheit auf und hielten sich weiterhin südöstlich. Während dieser Tage und Nächte, die sie abwechselnd segelnd verbrachten, sprach Ged weder vom Schatten noch von der vor ihm liegenden Aufgabe. Das einzige, was ihn Vetsch diesbezüglich fragte, war, als sie immer weiter den gleichen Kurs beibehielten und sich von allen bekannten Inseln der Erdsee entfernten: »Bist du sicher?« Worauf Ged schlicht antwortete: »Weiß das Eisen, wo der Magnet liegt?« Vetsch nickte und segelte weiter, ohne mehr Worte darüber zu verlieren. Ab und zu sprachen sie von den verschiedenen Listen und Künsten, die
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von den Magiern vergangener Zeiten angewandt worden waren, um die verborgenen Namen unheilvoller Mächte und Wesen herauszufinden. Wie Nereger von Paln den Namen des Schwarzen Magiers herausfand, als er einer Unterhaltung zwischen Drachen zuhörte, und wie Morred den Namen seines Feindes aus den Regentropfen herauslas, die in den Staub des Schlachtfeldes auf der Ebene von Enlad fielen. Sie sprachen über Bindeformeln, Invokationen und die Beantwortbaren Fragen, die nur von dem Meister der Formgebung gestellt werden dürfen. Aber oft wiederholte Ged leise die Worte, die ihm Ogion damals auf dem Berghang von Gont gesagt hatte: »Wer hören will, muß schweigen können ...« Und dann verstummte er und grübelte vor sich hin, stundenlang, seinen Blick unverwandt auf das Meer gerichtet. Manchmal schien es Vetsch, als sähe sein Freund weit vor sich, über den Wellen und hinter den noch vor ihnen liegenden grauen Tagen das Ding, das sie verfolgten, und als ahne er das Ende ihrer Reise. Sie segelten an Gosk und Kornay vorbei, doch das Wetter war so schlecht, daß sie keine der beiden Inseln im Regen und Nebel erkennen konnten und erst am nächsten Tag merkten, daß sie daran vorbeigesegelt waren, denn vor ihnen erhoben sich die gezackten Konturen einer Insel, über der Riesenschwärme von Möwen kreisten, deren schrilles Krächzen weit übers Meer hörbar war. Vetsch sagte: »Das sieht aus wie Astowell, das Letztland; östlich und südlich davon ist die Seekarte leer.« »Aber die, die dort wohnen, die wissen vielleicht mehr und können uns sagen, ob weiter draußen doch noch Land liegt«, antwortete Ged. »Warum sagst du das?« fragte Vetsch, denn Geds Stimme klang unsicher, und seine Antwort kam wieder stockend und zögernd und klang seltsam: »Hier nicht«, sagte er, und sein Blick blieb auf Astowell haften und wanderte weiter, daran vorbei oder hindurch: »Hier nicht. Nicht auf dem Meer. Nicht auf dem Meer, sondern auf trockenem Land. Welchem Land? Vor den Quellen der offenen See, jenseits des Ursprungs, hinter den Toren des Tages?« Dann verstummte er, und als er wieder redete, klang seine Stimme normal, als wäre er von einem Bann oder einer Vision befreit, an die er sich nicht mehr erinnern konnte.
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Der Hafen von Astowell war nichts weiter als die Mündung eines Baches zwischen hohen Felsen an der Nordküste der Insel. Alle Hütten der Insel waren nach Norden und Westen gerichtet. Es sah aus, als ob die ganze Insel ihr Gesicht gegen die Erdsee wandte, dorthin, wo weit, weit weg andere Menschen wohnten. Die Ankunft von Fremden rief Aufregung und Bestürzung unter der Bevölkerung hervor, denn noch niemals hatte sich ein Boot zu dieser Zeit in die Gewässer um Astowell gewagt. Die Frauen blieben in den Lehmhütten und lugten aus ihren Türen hervor, während sie ihre Kinder hinter ihren Röcken verbargen, und zogen sich voll Furcht in ihre Hütten zurück, als die Fremden den Strand heraufkamen. Die Männer, hager und schlecht gekleidet gegen die Witterung, schlossen schweigend einen Kreis um Vetsch und Ged. Jeder hielt eine Steinaxt oder ein aus Muscheln gefertigtes scharfes Messer in der Hand. Aber als sie ihre Furcht überwunden hatten, nahm das Fragen kein Ende. Selten geschah es, daß ein Schiff, selbst von Soders oder Rolameny, bei ihnen anlegte, denn sie hatten nichts, was sie gegen Bronze oder andere begehrte Waren eintauschen konnten, selbst Holz hatten sie keines. Ihre Boote waren aus Tierhäuten gefertigt, die sie über ein Schilfgeflecht spannten, und es gehörte viel Mut dazu, darin nach Gosk oder Kornay, den nächstgelegenen Inseln, zu fahren. Ganz allein wohnten sie hier, am Rand der Seekarte. Sie besaßen weder Zauberweib noch Zauberer und erkannten die Stäbe der jungen Männer nicht ob ihrer Bedeutung, sondern bewunderten sie ob des Materials, aus dem sie gefertigt waren: Holz. Ihr Häuptling, oder Dorfältester, war sehr alt, und er allein hatte schon einmal einen Menschen aus dem Inselreich gesehen. Ged betrachteten sie wie ein Wunder, und die Männer hielten ihre Knaben hoch, damit sie den Mann aus dem Inselreich sehen und sich später, wenn sie einmal alt waren, daran erinnern konnten. Von Gont hatten sie noch nie gehört, nur von Havnor und Éa, und sie betrachteten Ged als einen Fürsten von Havnor. Er tat sein möglichstes, um ihre Fragen nach der Weißen Stadt, die er selbst noch nie gesehen hatte, zu beantworten. Aber er hatte keine Ruhe, und als es immer später wurde und sie in der Wärme des scharf riechenden, qualmenden, von Ziegendung und Schilfbündeln genähr-
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ten Feuers in der Versammlungshütte saßen, fragte er die Männer des Dorfes: »Was liegt östlich von der Insel?« Keiner sprach, einige grinsten, andere blickten finster. Der Dorfälteste antwortete: »Das Meer.« »Weiter draußen liegt kein Land mehr?« »Dies hier ist Letztland. Es gibt kein anderes Land weiter draußen, nur Wasser, von hier bis ans Ende der Welt.« »Das sind weise Männer, Vater«, sagte ein junger Mann. »Das sind Seefahrer, Reisende. Vielleicht wissen die von einem Land, das wir nicht kennen.« »Östlich von hier gibt es kein Land«, beharrte der Alte, blickte Ged durchdringend an und sprach kein Wort mehr mit ihm. Die Nacht verbrachten die Freunde in der rauchigen Wärme der Hütte. Vor Tagesanbruch weckte Ged seinen Freund und flüsterte: »Estarriol, wach auf! Wir können hier nicht bleiben, wir müssen fort.« »Warum so früh?« fragte Vetsch schlaftrunken. »Nicht früh — spät. Ich bin zu langsam gefolgt. Er hat einen Weg gefunden, auf dem er mir entschlüpfen und mich in den Untergang treiben kann. Er darf mir nicht entschlüpfen, denn ich muß ihm folgen, wie weit er auch gehen mag. Wenn ich ihn verliere, dann bin ich verloren.« »Wohin folgen wir ihm?« »Nach Osten. Komm! Ich habe die Wasserflaschen gefüllt.« Und so verließen sie die Hütte, während noch alles schlief. Nur ein kleines Kind schrie irgendwo in der Dunkelheit einer Hütte und verstummte dann wieder. Beim schwachen Licht der Sterne suchten sie den Pfad, der hinunter zur Bachmündung führte, und banden das Boot Weitblick von dem Felsen los, an dem es angebunden war, und gemeinsam schoben sie es ins schwarze Wasser. Gen Osten segelnd, gelangten sie hinter Astowell auf die hohe See, am ersten Tag des Brachmondes, noch bevor die Sonne aufging. Den ganzen Tag lang war der Himmel über ihnen klar. Der Wind der Welt blies kalt und böig aus dem Nordosten, doch Ged hatte einen magischen Wind gewirkt. Es war das erste Mal, seit er die Insel der Hände verlassen hatte, daß er eine magische Handlung vollbrachte. Das Schiff
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erzitterte vom Anprall der mächtigen, rauschenden, sonnenhellen Wogen, aber es hielt sich so tapfer, wie sein Besitzer prophezeit hatte, und es folgte dem Zauberwind so willig wie ein zauberdurchwirktes Schiff von Rok. Ged redete kein Wort an diesem Morgen, außer um die Macht des Windes zu erneuern und die Leinwand des Segels mit Zauberworten zu verstärken. Vetsch versuchte, im Vorderteil des Bootes zu schlafen, was ihm nicht so recht gelang, denn er spürte die Unruhe seines Freundes. Um die Mittagszeit aßen sie. Ged teilte nur wenig aus, und es war klar, was dies bedeutete, doch beide kauten an ihrem kleinen Stück gesalzenem Fisch und an ihrem Weizenküchlein, und keiner sagte ein Wort. Den ganzen Nachmittag lang bahnten sie sich ihren Weg nach Osten, ohne sich zurückzuwenden, ohne die Geschwindigkeit zu verringern. Einmal nur unterbrach Ged das Schweigen und sagte: »Gehörst du zu denen, die glauben, daß es kein Land außerhalb der Außenbereiche gibt, oder glaubst du, daß es andere Inselbereiche oder riesige, unerforschte Länder auf der anderen Seite der Erde gibt?« »Jetzt im Augenblick«, sagte Vetsch, »gehöre ich zu denen, die glauben, daß die Welt ein Teller ist und daß der, der so weit hinausfährt, über den Rand hinunterfällt.« Ged lächelte nicht, sein Lachen war ihm vergangen. »Wer weiß, was man dort draußen antrifft. Wir Inselbewohner finden es bestimmt nie heraus, denn wir bleiben immer in der Nähe unserer Küsten und Ufer.« »Mancher zog aus, um es zu erforschen, und keiner kehrte zurück. Und noch nie kam ein Schiff zu uns von unbekannten Landen.« Ged antwortete nicht. Die ganze Nacht und den ganzen Tag segelten sie, getrieben von dem mächtigen Zauberwind, über die Wogen des Meeres immer weiter nach Osten. Ged hielt Ausschau von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen, denn in der Dunkelheit wuchs die Kraft, die ihn zog oder trieb. Unentwegt starrte er geradeaus, obwohl er in der mondlosen Nacht nicht viel mehr als die blinden Bugaugen sehen konnte. Bei Tagesanbruch war sein Gesicht grau vor Erschöpfung, und er war so klamm und verkrampft von der Kälte, daß er sich kaum im Boot ausstrecken konnte.
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Er sprach flüsternd: »Halte den magischen Wind aus dem Westen aufrecht, Estarriol!« und schlief sofort ein. Kein Sonnenaufgang war zu sehen. Aus dem Nordosten schlug ein heftiger Regen gegen das Boot, aber es war kein Sturm, sondern nur der übliche Regen und Wind des Winters. Bald war alles im Boot durchnäßt, trotz der geteerten Leinwand, die sie als Schutz gekauft hatten. Vetsch hatte bald das Gefühl, als sei er bis auf die Knochen naß, und Ged fröstelte im Schlaf. Aus Mitleid mit seinem Freund, und vielleicht auch ein bißchen aus Mitleid mit sich selbst, versuchte Vetsch, den unerbittlichen, unbarmherzigen Wind, der den Regen gegen sie trieb, mit Zauberworten etwas abzubiegen. Es gelang ihm nicht. Obwohl er keine Mühe hatte, den von Ged ursprünglich aufgebrachten magischen Wind in dem Segel zu halten, so war seine eigene Zaubermacht, so weit vom Land entfernt, wirkungslos. Der Wind der hohen See gehorchte seiner Stimme nicht. Mit dieser Erkenntnis schlich sich Furcht in sein Herz. Vetsch fragte sich, wieviel ihnen von ihrer Macht verblieben war, hier draußen, so weit entfernt vom Land, dem eigentlichen Wohnort des Menschen. Während der Nacht übernahm Ged wieder die Wache und hielt das Boot unentwegt auf östlichem Kurs. Bei Tagesanbruch ließ der Wind der Welt etwas nach, ab und zu brach sogar die Sonne durch. Aber die Wellen türmten sich so hoch vor ihnen, daß die Weitblick sich schräg hochbewegen mußte, oben einen Augenblick fast unbeweglich auf dem Wellenkamm ritt, dann plötzlich hinunterschoß und das gleiche bei der nächsten und übernächsten Welle endlos wiederholte. Am Abend des gleichen Tages sprach Vetsch nach langem Schweigen: »Mein Freund«, sagte er, »einmal hast du erwähnt, daß wir schließlich Land sehen werden. Es würde mir nie einfallen, deine Vision in Frage zu stellen, aber bedenke dies: das Unbekannte, dem wir folgen, kann dir einen Streich spielen, es kann dir eine Falle stellen, es kann dich hinaus aufs Meer locken, weiter, als es Menschen vergönnt ist zu gehen. Unsere Macht kann sich hier draußen ändern, auf fremden Meeren wird sie geschwächt. Wie du weißt, ermüdet ein Schatten nicht, er verhungert auch nicht, und er kann auch nicht ertrinken.«
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Sie saßen nebeneinander auf der Ruderbank, doch Ged blickte ihn an, als wäre er weit weg, als läge ein Abgrund zwischen ihnen. Seine Augen waren umwölkt, und es dauerte lange, bis er antwortete. Schließlich sagte er: »Estarriol, wir sind nahe.« Als er dies hörte, wußte sein Freund, daß es die Wahrheit war. Angst erfaßte ihn. Aber er legte seine Hand auf Geds Schulter und sagte nur: »Nun, das ist gut, das ist gut.« Als die Nacht kam, wachte Ged wieder, denn er konnte nicht schlafen. Auch am dritten Tag weigerte er sich zu schlafen. Noch immer eilten sie pfeilschnell unter dem stetigen starken Wind übers Meer, und Vetsch erstaunte ob der Kraft, die Ged besitzen mußte, um diesen mächtigen magischen Wind pausenlos aufrechtzuerhalten. Er fühlte, wie seine eigene Macht schwächer wurde und sich änderte. Und immer weiter flogen sie dahin, bis Vetsch spürte, daß Geds Ahnung nahe ihrer Erfüllung war. Sie kamen in Bereiche jenseits der Quellen des Meeres, jenseits der Tore des Tages. Ged saß vorne im Boot und starrte wie immer geradeaus. Aber er sah jetzt das Meer nicht so, wie Vetsch es sah — als eine Einöde wild bewegten Wassers, das den Rand des Himmels berührte. Vor Geds Augen lag ein dunkles Etwas, das sich vor den grauen Himmel, vor das graue Meer lagerte, das sich wie ein Schleier auf die Welt legte, und der Schleier wurde immer dichter. All dies sah Vetsch nicht, nur auf dem Gesicht seines Freundes nahm er ganz undeutlich etwas von dieser Dunkelheit wahr. Weiter und immer weiter fuhren sie, und es war, als gingen sie, obwohl sie in einem Boot saßen und von einem Wind getrieben wurden, getrennte Wege. Vetsch eilte nach Osten über das Weltmeer, während Ged allein ein Reich betrat, in dem es weder Ost noch West gibt, weder Auf- noch Untergang von Sternen und Sonnen. Plötzlich erhob sich Ged im Bug des Bootes und sprach laut. Der magische Wind ließ nach. Die Weitblick fuhr langsamer und lag schließlich, ohne sich vorwärts zu bewegen, auf den riesigen Wellen, die sie hoben und wieder fallen ließen wie einen kleinen Holzspan und hin und her schaukelten. Obgleich der Wind der Welt mächtig aus dem Norden blies, hing das braune Segel schlaff am Mast.
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Ged sagte: »Streich das Segel!«, und Vetsch gehorchte sofort. Ged band die Ruder los, hakte sie ein und begann zu rudern. Vetsch, der, so weit er blicken konnte, nichts als Wellen sah, verstand nicht, warum sie jetzt ruderten, aber er wartete, und bald merkte er, daß der Wind der Welt schwächer wurde und die Wellen immer kleiner. Das Boot hob und senkte sich immer weniger, bis es schließlich unter Geds kräftigen Ruderschlägen übers Wasser dahingetrieben wurde, das so still war wie das Wasser einer Bucht. Und obwohl Vetsch nicht sehen konnte, was Ged sah, der zwischen dem Rudern immer wieder den Kopf wandte und nach dem Ausschau hielt, was vor ihm lag — obwohl Vetsch die dunklen Hügel unter den unbeweglichen Sternen nicht wahrnahm, trotzdem sahen seine Magieraugen in den Vertiefungen der Wellen um das Boot herum eine Bewölkung aufsteigen, die wie riesige Schwaden immer höher wallte und sich immer langsamer bewegte, als sei sie mit Sand beschwert. Wenn dies Illusion war, so war sie unglaublich mächtig, denn sie spiegelte hier, inmitten der hohen See, Land vor. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, sammelte sich und sprach eine Enthüllungsformel. Er paßte zwischen jeder langsam gesprochenen Silbe scharf auf, um jede Erschütterung, jeden Riß in dieser Illusion wahrzunehmen, die ihm hier, über dem tiefen Abgrund, seichtes Wasser und ein Austrocknen des Meeres vorspiegelte. Aber nichts änderte sich. Vielleicht hatten seine Zauberworte, die für seine eigenen Augen bestimmt waren und an der Magie ringsumher nichts ändern wollten, keine Kraft hier. Vielleicht war es auch keine Illusion, und sie hatten das Ende der Welt erreicht. Ohne Pause ruderte Ged weiter. Ab und zu über seine Schulter blikkend, steuerte er das Boot durch Untiefen, Sandbänke und Kanäle, die nur er sehen konnte. Unter ihm lag die bodenlose Tiefe des Meeres, doch sein Boot fuhr auf eine versteckte Sandbank und saß fest. Ged zog die Ruder ein, die in den Dollen ratterten, und das Geräusch war erschreckend in der Totenstille. Alle Laute, die Stimme des Windes, des Wassers, des Holzes, des Segels, alles war verstummt, verschluckt von der riesigen, tiefen Stille, die ewiglich währen konnte. Das Boot lag regungslos. Kein Windhauch war zu spüren. Das Meer war Sand geworden, der
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beschattet und unbeweglich dalag. Nichts rührte sich am Himmel, nichts auf diesem trockenen, unwirklichen Boden, der sich in endlose Fernen um das Boot herum erstreckte und sich in der Finsternis verlor. Ged ergriff seinen Stab und stieg leichtfüßig über die Bordwand. Vetsch rechnete damit, daß er hinfallen und im Wasser versinken würde, denn gewißlich mußte das Meer unter diesem trockenen, trüben Schleier liegen, der Wasser, Himmel und Licht verbarg. Aber das Meer war verschwunden. Ged entfernte sich vom Boot. Der dunkle Sand knirschte leise und zeigte seine Fußspuren. Sein Stab begann zu leuchten, nicht mit einem Werlicht, sondern mit einem hellen, weißen Glanz, der bald so durchdringend wurde, daß seine Finger sich röteten, wo er das leuchtende Holz umfaßte. Er entfernte sich vom Boot, aber er schlug keine Richtung ein. Hier gab es weder Norden noch Süden, noch Westen, noch Osten, nur ein Näherkommen und ein Fortgehen. Das Licht, das er trug, kam Vetsch, der alles mit Bangen beobachtete, wie ein großer Stern vor, der sich langsam durch die Dunkelheit fortbewegte. Und die Dunkelheit um Ged verdichtete, verdüsterte und vermehrte sich. Auch Ged, der immer geradeaus vor sich hin blickte, nahm das wahr. Und nach einer Weile sah er, am äußersten Rande des Lichtkreises, einen Schatten, der sich auf ihn zubewegte. Zuerst sah er formlos aus, aber als er näher kam, nahm er die Gestalt eines Mannes an. Alt schien er, grau und grimmig blickte er, aber als Ged seinen Vater, den Schmied, in der Gestalt zu erkennen glaubte, änderte sie sich und war nicht mehr alt, sondern jung. Es war Jasper, mit seinem kecken, hübschen Gesicht, der ihm, gehüllt in seinen grauen Umhang mit der Silberbrosche, hochmütig entgegenschritt. Haßerfüllt blickte er auf Ged über die zwischen ihnen liegende Dunkelheit hinweg. Ged blieb nicht stehen. Er verlangsamte seine Schritte etwas und hob seinen Stab etwas höher. Dieser glänzte heller, und in seinem Licht änderte sich die Gestalt und nahm Peckvarrys Form an. Doch Peckvarrys Gesicht war aufgeschwemmt und weiß wie das Gesicht eines Ertrunkenen, und er streckte seine Hand nach Ged aus, als wolle er ihn zu sich rufen. Ged ging unentwegt weiter, obwohl ihn nur noch wenige Schritte von dem
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Wesen vor ihm trennten. Jetzt änderte es sich völlig; es breitete sich aus und öffnete riesige, dünne Flügel, es züngelte, schwoll an und schrumpfte wieder zusammen. Einen Augenblick lang sah Ged Skihors weißes Gesicht, dann ein Paar starre, umwölkte Augen und plötzlich ein grauenvolles Gesicht, das er nicht kannte, Mensch oder Ungeheuer, mit beweglichen Lippen und Augen wie tiefe Gruben, die in schwarze Leere mündeten. Als er dies sah, hob Ged seinen Stab in die Höhe, und sein Glanz wurde so stark, sein Licht leuchtete so hell und weiß, daß er die Dunkelheit selbst, die vor ihm stand, diese uralte, unergründliche Bosheit, in seinen Bann zwang und quälte. In diesem Licht verlor der Schatten jegliche Gestalt. Er zog sich zusammen, wurde noch schwärzer und kroch auf vier kurzen Tatzen auf Ged zu über den Sand. Aber noch immer bewegte er sich und hob sein blindes, unförmiges Gesicht ohne Lippen, Ohren und Augen zu ihm empor. Als sie aufeinandertrafen, wurde es pechschwarz unter dem weißen magischen Licht, der Schatten zog sich hoch und stand aufrecht. In der Totenstille hielten sie an und standen sich gegenüber, Mensch und Schatten. Laut und klar, die Totenstille unterbrechend, sprach Ged den Namen des Schattens, und im gleichen Augenblick sprach der Schatten ohne Lippen und Zunge das gleiche Wort: »Ged.« Und die beiden Stimmen waren eine Stimme. Ged streckte seine Hände aus, ließ seinen Stab fallen und ergriff den Schatten, sein schwarzes Selbst, das sich nach ihm ausstreckte. Hell und Dunkel trafen zusammen, verbanden sich und wurden eins. Vetsch war weit zurückgeblieben, und im dunklen Dämmerlicht über den Sand blickend, sah er mit Entsetzen, wie Ged überwältigt wurde, und wie der helle Schein, der ihn umgeben hatte, immer schwächer wurde. Von Wut und Verzweiflung gepackt, sprang er aus dem Boot auf den Sand hinaus, um seinem Freund zu helfen oder mit ihm zu sterben. Er rannte auf den letzten verglimmenden Lichtschein zu, in der trostlosen Dämmerung des trockenen Landes. Aber noch während er lief, spürte er, wie er im Sand unter seinen Füßen versank, und er begann schwerfällig, wie in Schlick oder Schlamm, zu waten — bis mit donnern-
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dem Brausen und herrlichem Tageslicht, mit bitterer Winterskälte und herbem Salzgeschmack die Welt wiederhergestellt wurde und er plötzlich im nassen, kalten, lebendigen Wasser des Meeres zappelte. Nahebei schaukelte das Boot auf den grauen Wellen, sonst konnte Vetsch nichts auf dem Meer erblicken, denn die Schaumkronen der Wellen schlugen ihm ins Gesicht und nahmen ihm die Sicht. Er war nicht der beste Schwimmer und mühte sich ab, zum Boot zu gelangen, und zog sich langsam hoch. Hustend hockte er im Boot und schaute verzweifelt um sich, während er das aus seinen Haaren strömende Wasser aus dem Gesicht strich. Er wußte nicht, in welche Richtung er blicken sollte. Schließlich sah er, weit entfernt, etwas Dunkles auf dem Wasser treiben. Er ergriff flugs die Ruder und näherte sich mit mächtigen Schlägen der Stelle, wo sein Freund im Wasser trieb, und seinen Arm ergreifend, zog er ihn an Bord. Ged war betäubt, und seine Augen starrten blicklos ins Leere, aber er schien unverletzt zu sein. Er hielt seinen Stab aus schwarzem Eibenholz, dessen Glanz erloschen war, mit der rechten Hand fest umklammert und wollte ihn nicht loslassen. Er sprach kein Wort. Erschöpft, durchnäßt und zitternd kauerte er am Mast und blickte an Vetsch vorbei in die Ferne, der das Segel hißte und das Boot wendete, um den Nordostwind zu fangen. Nichts sah er von dieser Welt, bis sich direkt vor ihnen auf ihrem Kurs, in dem sich verdunkelnden Abendhimmel, zwischen dunklen Wolkenfetzen, eine Bucht klaren blauen, Lichtes auftat, in die der neue Mond trat, eine schmale Sichel aus Elfenbein, ein Rand aus poliertem Horn, der das Sonnenlicht über den dunklen Ozean zurückwarf. Ged hob sein Gesicht empor und blickte lange auf die ferne, helle Mondsichel im Westen. Er ließ seinen Blick darauf ruhen, dann stand er auf, ergriff seinen Stab mit beiden Händen, wie ein Krieger sein langes Schwert packt. Er schaute auf den Himmel, auf das Meer, auf das pralle, braune Segel über sich, auf das Gesicht seines Freundes. »Estarriol«, sagte er, »schau her, es ist vollbracht, es ist vorbei.« Er lachte. »Die Wunde ist geheilt«, sagte er, »ich bin ein ganzer Mensch, ich bin frei.«
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Dann beugte er sich nach vorne und barg sein Gesicht in seinen Armen und weinte wie ein Kind. Bis zu diesem Augenblick hatte Vetsch ihn mit Angst und geheimer Furcht beobachtet, denn er war nicht sicher, was sich dort draußen auf dem dunklen Land zugetragen hatte. Er wußte nicht, ob es wirklich Ged war, der im Boot bei ihm saß, und seit Stunden schon hielt er den Anker in seiner Hand, bereit, die Planken des Bootes zu durchstoßen und sie alle hier mitten im Meer zu versenken, damit das Ungeheuer, das er unter Geds Gestalt und Hülle fürchtete, nicht zurück in die Häfen der Erdsee gelangte. Aber jetzt, als er die Stimme seines Freundes vernahm und ihn anblickte, verschwanden alle Zweifel. Er begann die Wahrheit zu ahnen, daß Ged weder gewonnen noch verloren hatte, daß er, indem er dem Schatten seines Todes seinen eigenen Namen gab, sich selbst fand und zu einem Ganzen schloß: er wurde ein Mensch, der sich selbst erkannt hatte und von keiner anderen Macht, außer seiner eigenen, besessen oder beherrscht werden konnte, der das Leben um des Lebens willen lebt, nicht im Dienste der Zerstörung, des Hasses, der Pein und der Finsternis. Wie es in der Erschaffung von Éa, dem ältesten Lied, heißt: »Nur aus dem Schweigen ward das Wort, nur aus dem Dunkel ward das Licht, nur aus dem Tod ward das Leben: Hell ist der Flug des Falken in der Weite des Himmels.« Dieses Lied sang Vetsch jetzt mit heller Stimme, während er das Boot gegen Osten segelte, den kalten Winterwind im Rücken, der von hoher See her blies. Acht Tage und wiederum acht Tage lang segelten sie, bis sie endlich Land sichteten. Oft mußten sie ihre Wasserflaschen mit magisch entsalztem Wasser füllen, oft versuchten sie zu fischen, aber selbst mit Hilfe magischer Formeln war ihr Fang gering, denn die Fische der hohen See wissen ihre wahren Namen nicht und kümmern sich wenig um Magie. Als sie nichts mehr außer ein paar Fetzen geräucherten Fleisches übrig hatten, erinnerte sich Ged wieder an Jarros Worte, als er das Weizenküchlein stibitzt hatte: daß er seine Tat bereuen würde, wenn ihn draußen, auf dem Meere, hungere. Aber die Erinnerung machte ihn, trotz seines Hungers, froh, denn sie hatte auch gesagt, daß er zusammen mit ihrem Bruder heimkehren würde.
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Nur drei Tage lang waren sie mit dem magischen Wind nach Osten gesegelt, aber es dauerte sechzehn Tage, den Rückweg nach Westen zurückzulegen. Noch nie waren Männer zurückgekehrt, die so weit draußen auf hoher See gewesen waren wie die beiden jungen Zauberer Estarriol und Ged, im Brachmond des Winters, in ihrem offenen Fischerboot. Keine heftigen Stürme verlangsamten ihre Fahrt, und sie segelten stetig, mit Kompaß und dem Stern Tolbegren. Da sie einen etwas nördlicheren Kurs als auf dem Hinweg einschlugen, lag Astowell nicht auf ihrem Weg, sie kamen an Weit-Toly und Sneg vorbei, sichteten die Inseln aber nicht. Das erste Land, das sie sahen, war das Südkap von Koppisch. Über den Wellen erhoben sich die Felskuppen wie Türme einer Riesenfestung. Seevögel kreisten krächzend und kreischend über die Wogen, und die Herdfeuer der kleinen Dörfer ringelten sich blau im Wind. Von dort war die Reise nach Iffisch nicht mehr weit. Sie erreichten den Hafen von Ismay an einem ruhigen, dunklen Abend vor einem Schneesturm. Sie legten an und machten ihr Boot Weitblick, das sie an die Küste des Totenreiches und wieder zurück getragen hatte, fest und schritten die engen Gassen hinauf zum Hause des Zauberers. Ihre Herzen waren leicht, als sie unter das Dach des Hauses traten, wo das Feuer behagliche Wärme verbreitete und wo Jarro, mit Tränen der Freude in den Augen, ihnen entgegeneilte und sie begrüßte. Wenn Estarriol von Iffisch sein Versprechen gehalten und ein Lied über die ersten großen Taten Geds gedichtet hat, so ging es verloren. Im Ostbereich erzählt man die Geschichte von einem Boot, das, einige Tagesreisen von der Küste entfernt, mitten über der Meerestiefe auf festen Grund auflief. In Iffisch wird behauptet daß Estarriol das Boot gesegelt hatte, aber in Tok besteht man darauf, daß es zwei Fischer waren, die vom Sturm auf die hohe See getrieben wurden, und in Holp sagt man, daß ein holpischer Mann sein Boot nicht von den unsichtbaren Sandbänken freibekam und seither umherwandere. Vom Schattenlied sind nur Fragmente erhalten, die im Laufe der Zeit wie Treibholz von Insel zu Insel getragen wurden. Das Gedlied berichtet nichts von dieser Fahrt Geds und von dem Zusammentreffen mit dem Schatten, das sich zutrug, bevor Ged
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unversehrt durch die Dracheninseln fuhr, und bevor er den Ring von Erreth-Akbe von den Gräbern von Atuan nach Havnor zurückbrachte und schließlich nach Rok zurückkehrte und Erzmagier von all den Inseln der Welt wurde.
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DIE GRÄBER VON ATUAN Fantasy-Roman 2. Band des Erdsee-Zyklus
INHALT Prolog
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Die Verzehrte
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Die Mauer um die Stätte
202
Die Gefangenen
220
Träume und Geschichten
236
Licht unter dem Hügel
253
Die Menschenfalle
267
Der große Schatz
285
Namen
298
Der Ring von Erreth-Akbe
305
Der Zorn der Dunklen Mächte
318
Die Berge im Westen
328
Die Fahrt zur See
340
Für den Rotschopf von Telluride
PROLOG
»TENAR, KOMM HEIM! Komm heim!« Die Dämmerung senkte sich über das tiefe Tal; die Apfelbäume standen am Vorabend ihrer Blüte, hie und da, zwischen den beschatteten Zweigen, war eine Knospe schon erblüht und schimmerte weiß und rosa wie ein ferner Stern. Unter den Obstbäumen, im dichten, jungen, feuchten Gras rannte ein kleines Mädchen aus reiner Freude am Laufen. Sie kam, nachdem sie den Ruf der Mutter vernommen hatte, nicht direkt auf sie zugelaufen, sondern machte einen weiten Bogen, bevor sie sich gegen das Haus wandte. Die Mutter, die unter der Tür der Hütte stand, sah die kleine Gestalt hüpfen und springen wie ein Bündel Distelwolle, das vom Wind über das immer dunkler werdende Gras unter den Bäumen geblasen wird. An der Ecke der Hütte reinigte der Vater seine Hacke von den an ihr haftenden Erdschollen und sagte: »Warum hängst du denn so an dem Kind? Nächsten Monat kommen sie und nehmen es fort. Für immer. Wir könnten es genauso gut vergraben und es hinter uns bekommen. Was hilft es denn, sich an eines zu klammern, das man ganz gewißlich verlieren wird? Es nutzt uns gar nichts. Wenn sie uns wenigstens etwas geben würden, dafür, daß sie es uns wegnehmen, aber das tun sie ja auch nicht. Sie nehmen es uns einfach weg und damit aus.« Die Mutter erwiderte nichts, sondern sie sah dem Kind zu, das angehalten hatte und durch die Zweige der Obstbäume hochblickte. Hinter den hohen Hügeln, über den Bäumen, war der Abendstern aufgegangen und leuchtete hell und klar. »Sie gehört uns nicht mehr, sie hat uns nicht mehr gehört, seit sie hierherkamen und sagten, daß sie Priesterin bei den Gräbern sein muß. Warum siehst du denn das nicht ein?« Seine Stimme war rauh, Bitternis und Kummer lagen darin. »Du hast vier andere Kinder. Die blei-
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ben dir, dieses hier mußt du hergeben. Deswegen häng dich nicht an sie. Laß sie gehen!« »Wenn die Zeit kommt, dann werde ich sie gehen lassen«, sagte die Frau. Sie neigte sich hinunter, um das Kind, das auf kleinen, nackten, weißen Füßen durch den Schlamm rannte, in ihren Armen aufzufangen. Als sie sich umwandte, um die Hütte zu betreten, beugte sie ihren Kopf und küßte das Haar des Kindes, das schwarz war; ihr eigenes Haar, im flackernden Feuerlicht, glänzte hell. Der Mann stand noch draußen. Seine nackten Füße berührten den kalten Boden, und über ihm verdunkelte sich der klare Frühlingshimmel. Sein Gesicht, im Dämmerlicht, war voll Schmerz, ein dumpfer, schwerer, wütender Schmerz, den er niemals in Worten würde ausdrücken können. Schließlich zuckte er die Achseln und folgte seiner Frau in den vom Feuer erhellten Raum, der mit Kinderstimmen erfüllt war.
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DIE VERZEHRTE
DER EINZELNE, HOHE, schrille Ton eines Hornes ertönte und verklang. Die Stille, die folgte, war nur vom Tritt vieler Füße unterbrochen, die mit dem gleichmäßigen Takt einer Trommel, im Herzschlagrhythmus, Schritt hielten. Durch Sprünge in der Decke des Thronsaales und durch Löcher zwischen den Säulen, wo ein ganzes Stück Mauerwerk und Kacheln herausgebrochen waren, fielen schräge, zaghafte Sonnenstrahlen. Es war eine Stunde nach Sonnenaufgang. Die Luft war ruhig und kalt. Die abgestorbenen Blätter des Unkrautes, das sich durch die Marmorfliesen hochgezwängt hatte, waren vom Reif bedeckt und raschelten, als sie von den langen, dunklen Gewändern der Priesterinnen berührt wurden. Sie bewegten sich vorwärts, durch die Riesenhalle, in Viererreihen, zwischen den doppelten Reihen der Säulen. Die Trommel schlug dumpf. Keine Stimme war zu hören, kein Auge blickte auf. Fackeln, von schwarzgekleideten Mädchen getragen, brannten rötlich im Sonnenlicht, heller im dazwischenliegenden Dämmerlicht. Draußen, auf den Stufen, die zu der Thronhalle führten, standen die Männer — Wachposten, Trommler, Trompeter, aber nur Frauen schritten durch die großen Portale, in schwarzen Umhängen, mit der Kapuze über dem Kopf, und bewegten sich langsam, in Viererreihen, auf den leeren Thron zu. Zwei große Frauen erschienen, riesenhaft in ihren schwarzen Gewändern, die eine hager und steif, die andere schwer und schwankend, wenn sie ihre Füße aufsetzte. Zwischen ihnen schritt ein ungefähr sechs Jahre altes Kind. Es trug ein glattes, weißes, ärmelloses Gewand. Der Kopf, die Arme und die Beine waren unbedeckt, und es war barfuß. Es sah sehr klein aus. Am Fuße der Stufen, die zum Thron hinaufführten, wo die an-
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deren in dunklen Reihen wartend standen, hielten die beiden großen Frauen an. Sie gaben dem Kind einen kleinen Stoß. Der Thron, der sich oben erhob, war zu beiden Seiten von Schwärze umgeben, Riesennetze der Dunkelheit, die vom Dachgestühl zu fallen schienen. Ob es Vorhänge oder nur Schatten waren, blieb dem Auge verborgen. Der Thron selbst war schwarz, an den Armlehnen und der Rückenlehne schimmerte es schwach von Gold und Edelsteinen. Er war riesig. Ein Mensch hätte darin wie ein Zwerg ausgesehen. Er war nicht nach menschlichen Dimensionen gemessen. Er stand leer. Nichts saß darin außer den Schatten. Allein kletterte das Kind vier von den sechs Stufen aus rotem Marmor hinauf. Sie waren so breit und hoch, daß es beide Füße auf eine Stufe heben mußte, bevor es die nächste in Angriff nehmen konnte. Auf der mittleren Stufe, direkt vor dem Thron, stand ein einfacher Holzblock, der oben ausgehöhlt war. Das Kind ließ sich auf beide Knie nieder, legte den Kopf in die Höhlung und wandte sich ein wenig zur Seite. Es kniete, ohne sich zu bewegen. Eine Gestalt, in weiße Wolle gekleidet und gegürtet, trat plötzlich aus den Schatten rechts vom Thron hervor und schritt die Stufen herab auf das Kind zu. Das Gesicht war von einer weißen Maske bedeckt. In der Hand hielt sie ein Schwert aus glänzendem Stahl, fünf Fuß lang. Ohne ein Wort zu sprechen und ohne zu zögern schwang sie das Schwert mit beiden Händen in die Höhe und hielt es über den Hals des kleinen Mädchens. Die Trommeln verstummten. Als das Schwert den höchsten Punkt erreicht hatte und einen Augenblick regungslos ragte, eilte eine schwarzgekleidete Gestalt von der linken Seite des Thrones die Stufen herab und hielt den Opfernden mit dünnen Armen fest. Die scharfe Schneide des Schwertes glitzerte in halber Höhe. Sie standen einen Augenblick regungslos, wie Tänzer in der Balance, über dem regungslosen Kind, dessen Hals zwischen den auf die Seite gefallenen schwarzen Haaren weiß schimmerte. In der Stille eilten beide wieder die Stufen hinauf und verschwanden in der Dunkelheit hinter dem Riesenthron. Eine Priesterin näherte sich
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und goß Flüssigkeit aus einer Schüssel neben das knieende Kind. Der Fleck sah schwarz aus in der Düsternis des Saales. Das Kind richtete sich auf und mühte sich die vier Stufen wieder hinunter. Als es unten angelangt war, zogen ihm die beiden großen Priesterinnen einen schwarzen Umhang mit Kapuze an und kehrten es um, so daß es die Stufen, den Fleck und den Thron sah. »O mögen die Namenlosen das Mädchen annehmen, wahrlich die Eine, geboren ohne Namen. Mögen sie ihr Leben und die Jahre ihres Lebens hinnehmen, bis der Tod sie ereile, der auch ihnen geweiht ist. Möge sie ihnen gefallen. Sie werde verzehrt.!« Andere Stimmen, schrill und grell wie Trompeten, antworteten: »Sie ist verzehrt! Sie ist verzehrt!« Die Kleine blickte mit bang geweiteten Augen unter ihrer Kapuze hervor hinauf auf den Thron. Die Edelsteine, welche die klauenförmigen Armlehnen und die Rückenlehne zierten, waren mit Staub bedeckt, und die Schnitzereien der Rückenlehne waren mit Spinnweben behangen und mit weißgrauen Flecken getupft, die von Eulenmist herrührten. Die drei höchsten, direkt zum Thron führenden Stufen, die sich über die Stufe erhoben, auf der sie kniete, waren noch nie von menschlichen Füßen betreten worden. Sie waren so dick mit Staub bedeckt, daß sie wie Rechtecke aus grauer Erde aussahen, und der rotgeäderte Marmor, der unter der unberührten, unbetretenen Ablagerung ungezählter Jahre lag, war völlig verborgen. »Sie ist verzehrt! Sie ist verzehrt!« Jetzt begann die Trommel wieder zu dröhnen, in schnellerem Takt als zuvor. Schweigend setzte sich die Prozession wieder in Bewegung, vom Thron sich entfernend, dem hellen Viereck des offenen Portales im Osten entgegen. Zu beiden Seiten ragten die mächtigen Säulen empor, wie die Waden riesiger, bleicher Beine, die sich im dunklen Dämmerlicht unter der Decke verloren. Das kleine Mädchen schritt zwischen den Priesterinnen. Schwarzgekleidet wie diese, setzte es, tiefernst, einen Fuß vor den ändern und schritt über das bereifte Unkraut, über die eiskal-
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ten Steinplatten. Als Sonnenstrahlen durch das schadhafte Dach auf seinen Weg fielen, blickte es nicht einmal auf. Die Posten hatten die Portale weit geöffnet. Die schwarze Prozession kam heraus in das kalte, klare Licht und in den Wind des frühen Morgens. Die Sonne in der riesigen Weite des östlichen Himmels blendete die Augen. Die Berge im Westen und die Fassade der Thronhalle warfen das gelbe Licht zurück. Die anderen Gebäude am Fuße des Hügels lagen noch in violettem Schatten, nur der Tempel der göttlichen Brüder, der auf der anderen Seite des Weges, auf einer kleinen Erhebung stand, leuchtete: sein Dach war neu vergoldet und warf das Tageslicht in seiner ganzen Pracht zurück. Der schwarze Zug der Priesterinnen, in Viererreihen, bewegte sich langsam den Gräberhügel hinunter, und während sie sich vorwärts bewegten, begannen sie leise zu singen. Die Melodie hatte nur drei Noten, und das Wort, das sie laufend wiederholten, war so alt, daß es seine Bedeutung verloren hatte, es war wie der Wegweiser, der noch stand, nachdem der Weg selbst längst verschwunden war. Ununterbrochen sangen sie das leere Wort. An diesem Tag, an dem die Wiederkunft der Priesterin gefeiert wurde, verstummte das Singen nicht; er war erfüllt vom leisen Gesang der Frauenstimmen, von einem unaufhörlichen, gleichförmigen, summenden Geräusch. Das kleine Mädchen wurde von Zimmer zu Zimmer, von Tempel zu Tempel geführt. An einer bestimmten Stelle wurde Salz auf seine Zunge gestreut, an einer anderen wurde sein Haar kurz geschnitten und mit Öl und gewürztem Essig gewaschen; an einem bestimmten Ort legte es sich mit dem Gesicht nach unten auf einen Block aus schwarzem Marmor hinter einem Altar, während Stimmen einen schrillen Trauergesang anstimmten. Weder die Kleine noch eine der anderen Priesterinnen aßen noch tranken sie Wasser den ganzen Tag lang. Als der Abendstern am Himmel aufging, wurde das kleine Mädchen nackt in ein Bett gelegt, zwischen Decken aus Schafspelzen, in einem Raum, in dem es noch nie zuvor geschlafen hatte. Er befand sich in einem Haus, das jahrelang verschlossen gewesen war und erst an diesem hohen Tag aufgeschlossen wurde. Der Raum war klein, aber sehr hoch und hatte keine Fenster. Ein Ge-
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ruch des Todes hing in der Luft, unbeweglich und unheimlich. Die schweigenden Frauen ließen das Kind allein in diesem Gemach. Das Mädchen lag, ohne sich zu bewegen, wie man es ins Bett gesteckt hatte. Seine Augen waren weit geöffnet. Lange lag es so. Es sah einen Lichtschein an der hohen Wand zittern. Irgend jemand kam den Gang entlang, mit einem kleinen Licht aus Schilfrohr in der Hand, das er verbarg, so daß es nicht größer als ein Leuchtkäfer war. Heiser flüsterte es: »Psst, bist du da, Tenar?« Das Kind antwortete nicht. Ein Kopf erschien unter der Tür, ein seltsamer Kopf, ohne Haare und so glatt wie eine geschälte Kartoffel, und in der gleichen Farbe. Auch die Augen waren kartoffelartig, klein und braun. Die Nase verschwand zwischen großen, glatten Wangenpolstern, und der Mund war ein Schlitz ohne Lippen. Das Kind starrte in das Gesicht, ohne sich zu regen. Die Augen waren groß und dunkel und bewegten sich nicht. »He, Tenar, mein kleiner Honigkuchen, da bist du ja!« Die Stimme war heiser, so hoch wie die einer Frau, aber es war keine Frauenstimme. »Ich sollte ja nicht hier sein. Ich gehöre nicht hierher. Ich sollte auf der Veranda bleiben, ich gehe auch wieder zurück. Aber ich muß doch schauen, wie es meiner kleinen Tenar geht nach diesem langen, anstrengenden Tag. Ah, wie geht es meinem kleinen Honigkuchen?« Er bewegte sich auf das Mädchen zu, langsam und füllig, und streckte seine Hand aus, als wolle er ihm die Haare zurückstreichen. »Ich bin nicht mehr Tenar«, sagte das Kind und starrte ihn an. Seine Hand hielt inne, er berührte es nicht. »Nein«, sagte er flüsternd nach einer Weile. »Ich weiß, ich weiß. Jetzt bist du die kleine Verzehrte. Aber ich...« Das Mädchen sagte nichts. »Es war ein anstrengender Tag für so ein kleines Mädchen«, sagte der Mann und bewegte sich unschlüssig hin und her, das flackernde kleine Licht in seiner großen gelben Hand haltend. »Du solltest nicht in diesem Haus sein, Manan.« »Nein, nein, ich weiß. Ich sollte nicht in diesem Haus sein. Nun, gute Nacht, Kleines ... Gute Nacht.«
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Das Kind erwiderte nichts. Manan wandte sich langsam um und ging fort. Das Licht erstarb an den hohen Wänden der Zelle. Das kleine Mädchen, das keinen Namen mehr hatte außer Arha, die Verzehrte, lag auf dem Rücken und blickte unentwegt in die Dunkelheit.
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DIE MAUER UM DIE STÄTTE
ALS SIE ÄLTER WURDE, verlor sie alle Erinnerung an ihre Mutter, doch sie war sich nicht bewußt, daß sie die Erinnerung verlor. Sie gehörte hierher an diese Gräberstätte, sie kannte nichts anderes als diese Gräberstätte. Nur manchmal, an den langen Juliabenden, wenn sie die Berge betrachtete, die sich so trocken und löwenfarben im Westen erhoben und nach dem Sonnenuntergang noch kurz aufglühten, dann erinnerte sie sich an ein Feuer, das einmal, lange war es schon her, in einem Herd in der gleichen Farbe gebrannt hatte. Und daran knüpfte sich die Erinnerung an Arme, die sie gehalten hatten, und das kam ihr seltsam vor, denn hier wurde sie fast nie berührt. Mit der Erinnerung kam der Duft frisch gewaschener Haare, die in Salbeiwasser gespült worden waren, langer, blonder Haare, hell wie der Sonnenuntergang und glänzend wie das Feuerlicht. Das war alles, was ihr verblieben war. Natürlich wußte sie mehr als nur diese spärlichen Bilder, denn man hatte ihr die ganze Geschichte erzählt. Als sie sieben oder acht Jahre alt war und zum ersten Mal wissen wollte, wer nun eigentlich diese Person, die sie »Arha« nannten, war, ging sie zu dem, der für sie sorgte, dem Wärter Manan, und sagte zu ihm: »Erzähl mir, wie man mich gewählt hatte, Manan!« »Ach, das weißt du doch, Kleines!« Er hatte recht, natürlich wußte sie es. Die große Priesterin Thar hatte es ihr so oft mit ihrer trockenen Stimme vorgesprochen, daß sie die Worte auswendig kannte, und sie begann es vorzutragen: »Ja, ich weiß. Nach dem Tode der Einen Priesterin der Gräber von Atuan wird das Zeremoniell der Beerdigung und der Reinigung innerhalb eines Monats, dem Kalender des Mondes folgend, abgehalten. Danach begeben sich bestimmte Priesterinnen und
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Aufseher der Gräberstätte in die Wüste und gehen in die Städte und Dörfer von Atuan, suchend und fragend. Sie forschen nach einem kleinen Mädchen, das in der gleichen Nacht, in der die Priesterin verschied, geboren wurde. Haben sie ein Kind gefunden, so warten sie und beobachten es. Das Kind muß geistig und körperlich gesund sein, darf nicht Rachitis oder Pocken gehabt haben noch irgendeine mißliche Körperbildung aufweisen; es darf auch nicht blind sein. Wenn es fünf Jahre alt geworden ist und bis dahin keinen Schaden erlitten hat, dann weiß man, daß der Körper dieses Kindes wahrhaftig der neue Körper der Priesterin ist, die gestorben war. Und die Existenz des Kindes wird dem Gottkönig zu Awabad zur Kenntnis gebracht, und es wird hierhergeholt und ein Jahr lang unterrichtet. Und am Ende dieses Jahres wird es in die Thronhalle geführt, und sein Name wird von ihm genommen und denen zurückgegeben, die seine Meister sind, den Namenlosen: denn es ist wahrlich die Namenlose, die Priesterin, die ewig wiederkehrt.« Das war, Wort für Wort, was ihr Thar erzählt hatte, und nie hatte sie gewagt, weitere Fragen zu stellen. Die hagere Priesterin war nicht grausam, aber sie war kalt und lebte nach ehernen Gesetzen. Arha hatte Angst vor ihr. Aber vor Manan fürchtete sie sich nicht, ganz im Gegenteil, ihm konnte sie gebieten: »Jetzt erzähl mir, wie Ich gewählt wurde!« Und dann wiederholte Manan die Geschichte, die er ihr schon so oft erzählt hatte. »Am dritten Tage nach dem Neumond sind wir von hier weggegangen und haben uns nach Osten und Westen gewandt. Die letzte Arha war nämlich am dritten Tag nach dem Neumond, vor einem Monat also, gestorben. Zuerst gingen wir nach Tenakbah, das ist eine große Stadt, obgleich diejenigen, die beide Städte kennen, sagen, daß sie nicht größer als ein Floh zu einem Rind sei, wenn man sie mit Awabad vergleicht. Aber mir ist Tenakbah groß genug, es muß dort tausend Häuser geben! Von dort gingen wir nach Gar. Aber niemand in diesen Städten hatte ein kleines Mädchen, das vor einem Monat, am dritten Tag nach dem Neumond, geboren war. Einige hatten Jungen, aber Jungen kommen nicht in Frage ... Dann gingen wir in das Bergland nördlich von Gar, in die Städte und Dörfer, die dort liegen. Ich komme von dort her, dort in den Bergen bin ich geboren. Es gibt dort Flüsse, und das Land ist grün,
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ganz anders als diese Wüste hier.« Immer, wenn er an diese Stelle kam, lag in Manans heiserer Stimme ein seltsamer Unterton, und er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Und dann suchten wir alle Eltern auf, die Säuglinge hatten, die im vergangenen Monat geboren wurden. Manche logen uns an. ›O ja, unser kleines Mädchen ist drei Tage nach dem Neumond auf die Welt gekommen!‹ Denn, weißt du, arme Leute werden ihre kleinen Mädchen gerne los. Andere wiederum, die in den einsamen Hütten zwischen den Bergen wohnten, waren so arm, daß sie die Tage nicht zählten und kaum wußten, in welchem Monat sie lebten. Die wußten natürlich nicht genau, wie alt ihr Kind war. Aber wir haben letzten Endes immer die Wahrheit herausgefunden, wir mußten nur lange genug fragen. Es war manchmal mühsam. Schließlich fanden wir ein kleines Mädchen, in einem Dorf von nicht mehr als zehn Häusern, das an den Obstfeldern westlich von Entat lag. Es war acht Monate alt. So lange waren wir schon unterwegs. Es war in der Nacht geboren, in der die Priesterin verschieden war, und dazu noch zur Stunde ihres Todes. Das Kind sah gut aus, aufrecht saß es auf den Knien seiner Mutter und blickte uns alle aufmerksam an. Wir hatten uns alle in den einzigen Raum der Hütte gedrängt, wie Fledermäuse in eine Höhle! Der Vater war arm. Er versorgte die Apfelbäume auf den Feldern der Reichen, und außer seinen fünf Kindern und einer Ziege gehörte ihm nichts. Selbst das Haus war nicht sein eigenes. Da standen wir nun alle, zusammengepfercht, und man merkte am Tuscheln der Priesterinnen und an den Blicken, die sie auf das Kind warfen, daß sie glaubten, die Wiedergeborene endlich gefunden zu haben. Auch die Mutter merkte es. Sie hielt das Kind nur fester in ihren Armen und sagte kein Wort. Na, und am nächsten Tag kamen wir zurück. Und da schau her! Das kleine Mädchen mit seinen munteren Augen lag in seinem Bettchen auf Stroh und schrie und weinte, und ihr Körper war mit roten Fieberflecken bedeckt, und die Mutter rang die Hände und weinte lauter als das Kind: »O weh! O weh! Mein Kind hat die Hexenfinger!« So nannte sie die Krankheit, die man sonst als die Pocken bezeichnet. In meinem Dorf sagen sie auch Hexenfinger dazu. Aber Kossil, die jetzt Hohepriesterin beim Gottkönig ist, ging an das Bett und hob das Kind in die Höhe. Wir anderen wa-
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ren alle zurückgewichen, ich auch. Mein Leben gilt mir ja nicht viel, aber wer betritt schon gern ein Haus, in dem die Pocken umgehen? Kossil hob das Kind in die Höhe und sagte: ›Sie hat kein Fieber.‹ Und dann spuckte sie auf ihren Finger und rieb an einer roten Stelle herum, bis sie verschwand. Es war nichts als Beerensaft. Die arme, dumme Mutter hatte geglaubt, daß sie uns an der Nase herumführen könne, um ihr Kind zu behalten!« Manan schüttelte sich vor Lachen, sein gelbes Gesicht veränderte sich kaum, aber er hielt sich die Seiten. »Ihr Mann hat sie dann geschlagen, denn er fürchtete den Zorn der Priesterinnen. Und dann sind wir wieder in die Wüste hierher zurückgekehrt, aber jedes Jahr ging einer von der Stätte in das Dorf zurück, das zwischen den Feldern voll Apfelbäumen lag, um zu sehen, wie sich das Kind entwickelte. So vergingen fünf Jahre, und dann machten sich Thar und Kossil auf, von den Tempelgarden und den Soldaten im roten Helm begleitet, die vom Gottkönig gesandt wurden, um das Mädchen sicher zurückzubringen. Sie brachten das Kind hierher, denn es war wirklich die Priesterin und sie gehörte hierher an die Gräberstätte. Und wer war das Kind, eh, Kleines?« »Ich«, sagte Arha und schaute in die Ferne, als wolle sie etwas sehen, das nicht mehr da war, etwas, das nicht mehr sichtbar war. Einmal fragte sie: »Was hat denn die ... die Mutter getan, als sie kamen, um das Kind wegzunehmen?« Manan wußte es nicht, er hatte die Priesterinnen auf dieser letzten Fahrt nicht begleitet. Und sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Was nützte es auch, sich daran zu erinnern? Es war vorbei, all das war vorbei. Sie war dort angekommen, wo sie ankommen mußte. So war es vorherbestimmt. Von der ganzen Welt kannte sie nur diesen einen Ort: die Stätte, wo sich die Gräber von Atuan befanden. Während des ersten Jahres wohnte sie mit den anderen Mädchen, die im Alter zwischen vier und vierzehn waren, in dem großen Schlafsaal. Aber selbst dort wurde Manan von den anderen zehn Wärtern getrennt und dazu bestimmt, nur für sie allein zu sorgen, und ihr kleines Bett wurde in einer Nische aufgestellt, die etwas abseits lag in dem langgezogenen Schlafsaal mit den mächtigen, niedrigen Deckenbalken, der
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ein Teil des Großhauses war, wo die Mädchen kicherten und flüsterten, bevor sie einschliefen, wo sie gähnten und sich gegenseitig die Haare flochten im grauen Licht der Morgendämmerung. Aber nachdem man ihr den Namen weggenommen hatte, und sie Arha wurde, schlief sie allein in dem Kleinhaus, in dem Bett und in dem Zimmer, das sie bis ans Ende ihrer Tage innehaben würde. Das Haus gehörte ihr allein, es war das Haus der Einen Priesterin, und niemand durfte es ohne ihre Erlaubnis betreten. Als sie noch klein war, gefiel es ihr, wenn Leute demütig anklopften und sie dann sagen konnte: »Treten Sie ein!«, und es ärgerte sie, daß die beiden Hohepriesterinnen Kossil und Thar eintraten, ohne anzuklopfen, denn die sahen es als selbstverständlich an, daß sie das Recht dazu hatten. So vergingen die Tage und die Jahre und alle waren sich ähnlich. Die Mädchen der Gräberstätte hatten Unterricht oder sie mußten sich in irgendeiner Geschicklichkeit üben. Spielen durften sie fast nie. Sie hatten auch keine Zeit dazu. Sie lernten die sakralen Lieder und Tänze, die Geschichte des Kargadreiches und die Mysterien des Gottes, dem sie geweiht waren: das konnte der Gottkönig sein, der über Awabad herrschte, oder die Zwillingsbrüder Atwah und Wuluah. Arha allein lernte die Mysterien der Namenlosen, und nur ein Mensch konnte sie die lehren: die Hohepriesterin Thar, die den Zwillingsgöttern diente. Täglich verbrachte sie eine Stunde mit ihr, manchmal dauerte es auch länger, aber den Rest des Tages war sie mit den anderen Mädchen beisammen und mußte arbeiten. Mit ihnen zusammen mußte sie lernen, Schafwolle zu spinnen und zu weben, Linsen, Buchweizen, grobgemahlen für Grütze und feingemahlen für ungesäuertes Brot, Zwiebeln und Kohl anzupflanzen, zu ernten und zuzubereiten, Ziegenkäse herzustellen, Honig zu sammeln und Äpfel zu verwerten. Das Schönste und Begehrteste war die Erlaubnis, angeln gehen zu dürfen in dem trüben, grünen Fluß, der eine halbe Meile nordöstlich der Stätte durch die Wüste floß. Dort den ganzen Tag in der Sonne zu sitzen, mit einem Apfel und einem Buchweizenkuchen, und dem Sonnenlicht im Schilf zuzuschauen und den langsam dahinfließenden grünen Fluß zu beobachten und die Wolkenschatten an den Bergen, wie sie sich
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langsam veränderten, war das höchste Vergnügen, das sie kannte. Aber wenn man aufschrie vor Aufregung, wenn die Schnur sich spannte und man einen flachen, glitzernden Fisch aus dem Wasser schwang und ihn ans Ufer warf, damit er in der Luft ersticke, dann zischelte Mebbeth wie eine Natter: »Sei ruhig, du dumme Kröte!« Mebbeth, die im Tempel des Gottkönigs diente, war dunkelhaarig und dunkelhäutig und noch ziemlich jung, aber im Wesen war sie so hart wie Obsidian. Angeln tat sie mit Leidenschaft. Mit ihr mußte man sich gut stellen und nie einen Laut von sich geben, sonst wurde man nie mehr mit zum Angeln genommen, und man sah den Fluß nur noch im Sommer, wenn das Wasser der Brunnen so niedrig stand, daß man das Wasser aus dem Fluß schöpfen mußte. Das war eine mühselige Arbeit, dieses Wasserholen! Eine halbe Meile mußte man durch die weißglühende Hitze hinunter zum Fluß trotten, dort die beiden Eimer an der Tragstange füllen, und dann so schnell es ging wieder hinauf zur Stätte eilen. Die ersten hundert Schritte waren einfach, dann aber wurden die Eimer immer schwerer und die Stange drückte und brannte wie ein glühender Stab auf den Schultern, und das weiße heiße Licht wurde von der kahlen Straße zurückgeworfen und mit jedem Schritt wurde es mühseliger. Endlich, wenn man den kühlenden Schatten des Hofes hinter dem Großhaus erreicht hatte, wo sich der Gemüsegarten befand, konnte man die beiden Eimer in die Zisterne schütten, daß das Wasser aufspritzte, nur um sich dann wieder umzuwenden und alles noch einmal zu wiederholen, und noch einmal, und noch einmal. Innerhalb der Stätte — es bedurfte keines anderen Namens, denn es war die älteste und heiligste aller Gräberstätten in den vier kargischen Ländern — wohnten ein paar hundert Menschen. Es gab einige Gebäude: drei Tempel, das Großhaus, das Kleinhaus, das Quartier für die Eunuchen, und gleich außerhalb der Mauer die Baracken der Posten und die zahlreichen Sklavenhütten, die Lagerschuppen, die Pferche für die Schafe und Ziegen und die Scheunen. Von weitem, von den dürren Hügeln im Westen aus, auf denen nur Salbei, Büschel von Stachelgras, unscheinbares Unkraut und einige andere Krauter wuchsen, sah es wie eine kleine Stadt aus. Selbst von den Ebenen im Osten aus konnte man,
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hinauf schauend, das Golddach des Tempels der Brüdergötter sehen, das unten am Berg funkelte und glänzte wie ein glitzerndes Körnchen im Felsgestein. Der Tempel selbst war ein viereckiger, fensterloser Würfel aus Stein, weiß verputzt, mit einer niedrigen Veranda und einer kleinen Tür. Eindrucksvoller und Hunderte von Jahren jünger war der etwas unterhalb davon errichtete Tempel des Gottkönigs. Er hatte ein großes Portal mit mächtigen weißen Säulen, deren Kapitelle bemalt waren — jede Säule war aus dem Stamm einer einzigen Zeder geschnitzt, die per Schiff von Hur-at-Hur hergebracht und von zwanzig Sklaven unter großen Anstrengungen über die ausgedorrte Ebene an die Stätte geschleppt worden waren. Ein Reisender, der sich vom Osten der Stätte näherte, würde erst das Golddach und die hellglänzenden Säulen wahrnehmen, bevor er, weiter oben, den ältesten Tempel seiner Rasse sah: das riesige, niedrige Bauwerk, das die Thronhalle darstellte, deren Wände geflickt und zerbröckelt waren, und deren Kuppel verfiel. Hinter diesem Gebäude und entlang dem Bergkamm zog sich eine wuchtige Steinmauer hin, die einst mit Mörtel gebaut und jetzt an vielen Stellen beschädigt war. Innerhalb des Halbkreises, den die Mauer beschrieb, befanden sich einige schwarze Steine, ungefähr sechs bis sieben Meter lang, die sich wie riesige Finger aus der Erde hochreckten. Wenn das Auge die Steine einmal wahrgenommen hatte, so wandte es sich ihnen unwillkürlich immer wieder zu. Daß sie nicht zufällig dort standen, sondern eine Bedeutung hatten, war offensichtlich. Doch was sie bedeuteten, wußte niemand mehr. Neun Steine waren es insgesamt. Einer stand kerzengerade, die ändern neigten sich etwas, zwei lagen auf der Erde. Sie waren mit grauen und orangefarbenen Flechten überzogen, und es sah aus, als seien sie mit Farbe verspritzt. Nur einer war frei davon, er war nackt und schwarz, und wenn man ihn anfaßte, spürte man, wie glatt er war. An den anderen konnte man unter den Flechten unbestimmte Reliefs sehen oder mit den Fingern fühlen — unbekannte Figuren und Formen. Diese neun Steine waren die Gräber von Atuan. Es wird behauptet, daß sie schon standen, als der erste Mensch auf der Welt erschien, und bevor die Erdsee erschaffen wurde. In der Dunkel-
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heit waren sie aufgestellt worden, als die Länder aus der Tiefe des Meeres emporgehoben wurden. Sie waren älter als die Gottkönige von Kargad, älter als die Zwillingsgötter, älter als das Licht. Sie waren Gräber von denjenigen, die herrschten, bevor die Welt der Menschen erschaffen wurde, von denjenigen, die keine Namen hatten, und wer ihnen diente, hatte ebenfalls keinen Namen. Arha ging nicht oft dorthin. Außer ihr setzte niemand den Fuß auf den Boden, wo die Steine standen, dort auf dem Berg, innerhalb der Mauer, hinter der Thronhalle. Zweimal im Jahr, beim Vollmond, der der Frühlings- und Herbst-Tagundnachtgleiche am nächsten lag, wurde vor dem Thron ein Opfer dargebracht, und Arha trat aus der Hintertür mit einer Schüssel voll dampfendem Ziegenblut. Dies mußte sie ausgießen, die Hälfte ans Fundament des aufrecht stehenden Steines, den Rest über einen der umgefallenen Steine, der halb im Boden vergraben lag und von dem vergossenen Blut von Jahrhunderten befleckt war. Manchmal ging Arha ganz allein im frühen Morgenlicht hinauf zu den Steinen und versuchte herauszufinden, was die undeutlichen Erhöhungen und Vertiefungen der Skulpturen darstellten, die im Licht der fast waagrecht fallenden Strahlen der Morgensonne schärfer hervortraten. Manchmal aber saß sie auch nur und schaute hinüber zu den Bergen im Westen und hinunter auf die Dächer und Mauern der Stätte, die sich zu ihren Füßen erstreckte, und sie beobachtete, wie sich allmählich alles um das Großhaus und die Baracken herum zu regen begann, und wie die Schaf- und Ziegenherden ihren spärlichen Weiden beim Fluß zustrebten. Bei den Steinen gab es nichts zu tun. Sie kam nur hierher, weil sie allein nur hierherkommen durfte, und weil sie hier allein sein konnte. Es war im Grunde genommen ein abschreckender Ort. Selbst in der mittäglichen Hitze der Wüste war es kalt hier. Manchmal hörte man den Wind schwach pfeifen, wenn er zwischen den beiden Steinen durchblies, die nebeneinander standen und sich aneinanderlehnten, als hätten sie sich ein Geheimnis zuzuflüstern. Aber es wurden keine Geheimnisse erzählt.
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Von der Gräbermauer zweigte eine andere, niedrigere Mauer ab, die einen weiten, ungleichmäßigen Halbkreis um den Hügel der Stätte beschrieb und sich dann nördlich, gegen den Fluß hin, verlor. Diese Mauer schien weniger um des Schutzes willen errichtet, eher um die Stätte in zwei Teile zu trennen. Auf der einen Seite standen die Häuser der Priesterinnen und Eunuchen, auf der anderen befanden sich die Quartiere der Posten und die Hütten der Sklaven, die das Land für die Stätte bebauten, die Herden hüteten und für Futter sorgten. Keiner, der dort wohnte, kam je auf die andere Seite der Mauer, nur an ganz heiligen Festtagen wohnten die Tamboure und Hornisten den Prozessionen der Priesterinnen bei, aber durch die Portale der Tempel traten sie nie. Kein anderer Mann setzte je seinen Fuß auf den inneren Bereich der Stätte. Vor Zeiten wurden Pilger, Könige und Häuptlinge aus den vier Ländern hier empfangen, die hier sakrale Zeremonien verrichteten. Vor 150 Jahren war der erste Gottkönig hierhergekommen, um das Ritual seiner eigenen Tempeleinweihung zu zelebrieren. Doch selbst er konnte nicht zu den Grabsteinen gehen, selbst er mußte außerhalb der Stätte essen und schlafen. Die Mauer war leicht zu erklettern. Man mußte sich nur mit seinen Zehen an den verschiedenen Vorsprüngen und Vertiefungen festhalten. Die Verzehrte und ein Mädchen, das Penthe hieß, saßen eines Nachmittags im späten Frühling auf der Mauer. Beide waren zwölf Jahre alt. Eigentlich sollten sie im Websaal des Großhauses, einem riesigen, aus Stein gebauten Speicherraum, sein, und dort an den großen, mit schwarzen Kettfäden bespannten Webstühlen schwarzwollene Tücher für Priesterinnengewänder weben. Sie waren hinausgeschlüpft, um am Brunnen im Hof Wasser zu trinken, und dann hatte Arha gesagt: »Komm!«, und hatte das andere Mädchen den Hügel hinunter, um das Großhaus herum, und außer Sichtweite zu der Mauer geführt. Jetzt saßen sie oben auf der Mauer und ließen ihre nackten Beine auf der anderen Seite hinunterhängen. Sie blickten über die endlose Ebene im Osten und im Norden. »Ich würde gerne das Meer wiedersehen«, sagte Penthe.
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»Wozu?« fragte Arha und kaute an dem sauren Stengel einer Milchblume, die sie von der Mauer gepflückt hatte. Das unfruchtbare Land hatte gerade die Blütezeit hinter sich. Die kleinen Blumen der Wüste, die rot, weiß und gelb kurze Zeit nahe am Boden geblüht hatten, waren verwelkt und überließen ihren feder- und schirmförmigen Samen dem Wind, um sich dann geschickt irgendwo festzuhaken. Unter den Apfelbäumen lagen Berge roter und weißer zerdrückter Blüten. Die Zweige aber waren grün, und es war das einzige Grün, das meilenweit um die Stätte herum zu finden war. Alles andere, von einem Horizont bis zum anderen, hatte die stumpfe, ockergelbe Farbe der Wüste, nur über den Bergen hing ein silberblauer Ton, der von dem blühenden Salbei herrührte. »Oh, ich weiß nicht, wozu. Ich würde nur ganz gerne etwas anderes sehen. Hier ist alles so gleich. Nichts passiert.« »Alles was geschieht, nimmt hier seinen Anfang«, sagte Arha. »Ich weiß ..., aber ich würde trotzdem gerne etwas geschehen sehen!« Penthe lächelte. Sie war ein sanftes, zufriedenes Mädchen. Sie schwieg, während sie die Sohlen ihrer nackten Füße an dem sonnenwarmen Stein rieb. Schließlich sagte sie: »Weißt du, ich habe am Meer gewohnt, als ich klein war. Unser Dorf lag direkt hinter den Dünen, und manchmal gingen wir hinunter und spielten am Strand. Einmal, daran erinnere ich mich noch ganz deutlich, sahen wir eine ganze Flotte von Schiffen vorbeiziehen. Die Schiffe sahen aus wie Drachen mit roten Flügeln. Manche hatten richtige Hälse mit Drachenköpfen drauf. Sie sind an Atuan vorbeigesegelt, aber es waren keine kargischen Schiffe. Sie kamen aus dem Westen, aus den Innenländern, hat unser Dorfältester behauptet. Alle Leute kamen heruntergelaufen und haben ihnen nachgeschaut. Ich glaube, sie hatten Angst, daß die Schiffe landen könnten. Aber sie fuhren nur vorbei, niemand wußte, wohin sie zogen. Vielleicht nach Karego-At, um Krieg zu führen! Aber stell dir vor, die Schiffe kamen von den Inseln der Zauberer, wo alle Leute erdfarben sind und dich in Bann schlagen können, ohne viel Umstände zu machen!«
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»Nicht mich«, brauste Arha auf. »Ich hätte ihnen auch nicht nachgeschaut. Das sind schmutzige, verwerfliche Zauberer. Wie können die es wagen, so nahe an den Heiligen Ländern vorbeizusegeln?« »Na ja, ich nehme ja an, daß der Gottkönig sie eines Tages besiegen und Sklaven aus ihnen machen wird. Aber ich wollte, ich könnte das Meer wiedersehen. In den kleinen Wattentümpeln gab es winzige Kraken, und wenn man ›Bah!‹ schrie, dann wurden sie ganz weiß. — Dort kommt der alte Manan und sucht dich.« Arhas Beschützer und Diener watschelte langsam an der inneren Seite der Mauer entlang. Ab und zu hielt er an, zupfte eine wilde Zwiebel aus dem Boden und tat sie zu dem schlaffen Bündel, das er in der Hand hielt. Er ließ seine kleinen, braunen, glanzlosen Augen umherwandern. Mit den Jahren war er noch dicker geworden, und seine unbehaarte, gelbe Haut glänzte in der Sonne. »Rutsch auf der Männerseite halb herunter!« zischte Arha, und beide glitten so behende wie Eidechsen auf der anderen Seite der Mauer hinunter, bis sie von der Innenseite nicht mehr sichtbar waren. Sie hörten Manans langsame Schritte näherkommen. »Kuckuck, Kartoffelkopf!« höhnte Arha leise, nicht viel lauter als der Wind, der durch das Gras strich. Der schwere Schritt kam zum Stillstand. »Hallo, ist da jemand?« hörte man eine unsichere Stimme. »Kleines, bist du es? Arha?« Alles blieb stumm. Manan setzte sich wieder in Bewegung. »Kuckuck! Kartoffelkopf!« »Ha, Kartoffelbauch!« ahmte Penthe flüsternd nach und zog die Luft ein, um ihr Kichern zu unterdrücken. »Ist jemand da?« Alles blieb stumm. »Na ja, ist schon gut«, seufzte der Eunuch, und er watschelte weiter. Als er hinter dem Hügel verschwunden war, kletterten die Mädchen wieder hinauf auf die Mauer. Penthes Gesicht war gerötet von der Anstrengung und vom Kichern, doch Arhas Augen loderten. »Der blöde alte Hammel, überallhin trottet er mir nach!«
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»Das muß er tun«, sagte Penthe verständnisvoll. »Dazu ist er da, er muß für dich sorgen, das ist seine Arbeit.« »Diejenigen, denen ich diene, sorgen für mich. Ihnen stehe ich zu Diensten und sonst niemand. Die alten Weiber und die halben Männer sollten mich in Ruhe lassen. Ich bin die Eine Priesterin!« Penthe starrte sie an. »Oh«, sagte sie kaum hörbar, »oh, ich weiß, daß du dies bist, Arha...« Penthe blieb lange sitzen, ohne zu reden, sie seufzte nur manchmal, ließ ihre runden Beine baumeln und blickte über das weite, farblose Land, das zu ihren Füßen lag und sich ganz allmählich in einem riesigen, dunstigen Himmel verlor. »Weißt du, es wird nicht mehr lange dauern, und dann wirst du hier herrschen«, sagte sie endlich mit sanfter Stimme. »In zwei Jahren sind wir keine Kinder mehr. Dann sind wir vierzehn. Ich komme dann in den Tempel des Gottkönigs, und für mich wird sich wenig ändern. Du aber wirst dann erst richtige Hohepriesterin. Dann müssen dir selbst Kossil und Thar gehorchen.« Die Verzehrte erwiderte nichts. Ihr Gesicht war unbeweglich. Ihre Augen unter den dunklen Brauen fingen das Himmelslicht auf und glänzten hell. »Ich glaube, wir müssen zurückkehren«, sagte Penthe. »Nein.« »Aber die Webmeisterin sagt es vielleicht Thar, daß wir nicht da sind. Und bald wird es Zeit für die Neun Gesänge.« »Ich bleibe hier, und du bleibst auch hier.« »Dich bestrafen sie nicht, aber mich werden sie bestrafen«, sagte Penthe mit zaghafter Stimme. Arha gab keine Antwort. Penthe seufzte und blieb sitzen. Die Sonne versank im Dunst hoch über der Ebene. In der Ferne, auf dem weiten, leicht ansteigenden Land hörte man schwach das scheppernde Geräusch von Schafglocken und das Blöken der Lämmer. Der Frühlingswind wehte in kurzen, trockenen Böen und trug einen schwachen Duft mit sich. Die Neun Gesänge waren schon fast beendet, als die beiden Mädchen zurückkehrten. Mebbeth hatte sie auf der »Männerseite« sitzen se-
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hen und dies ihrer Oberin Kossil, der Hohepriesterin des Gottkönigs, hinterbracht. Kossil hatte einen schweren Gang, und ihre Gesichtszüge bewegten sich kaum. Auch jetzt verzog sich ihr Gesicht nicht, als sie mit den beiden Mädchen sprach und ihnen gebot, ihr zu folgen. Sie führte sie durch die steinernen Gänge des Großhauses, durch die Eingangstür hinaus, und den Hügel zum Tempel von Atwah und Wuluah hinauf. Dort sprach sie mit Thar, der Hohepriesterin des Tempels, die so dürr, groß und hager war wie der Beinknochen eines Hirsches. Kossil sagte zu Penthe: »Zieh dein Kleid aus!« Sie schlug das Mädchen mit einer Rute aus Schilfrohr. An einigen Stellen blutete es. Penthe ertrug die Strafe ohne Geschrei, nur Tränen rannen ihr übers Gesicht. Sie wurde ohne Abendessen in den Websaal zurückgesandt, und auch am anderen Tag bekam sie nichts zu essen. »Wenn du noch einmal über die Männermauer kletterst, wirst du viel Schlimmeres erleben, merk dir das, Penthe!« sagte Kossil. Ihre Stimme war gelassen und ausdruckslos. Penthe antwortete: »Ja«, und schlüpfte davon. Sie zuckte zusammen und verzog das Gesicht, wenn das grobgewebte Gewand ihre offenen Striemen berührte. Arha hatte neben Thar gestanden und zugesehen, wie Penthe geschlagen wurde. Jetzt sah sie zu, wie Kossil das Schilfrohr reinigte. Thar sprach zu ihr: »Es ziemt sich nicht, daß man dich mit anderen Mädchen herumrennen und -klettern sieht. Du bist Arha.« Sie stand blaß und trotzig da und gab keine Antwort. »Es ist besser, du tust nur das, was du tun mußt. Du bist Arha.« Einen Augenblick lang hob das Mädchen die Augen auf und blickte Thar und Kossil an, und in dem Blick lag solch ein Haß und solch eine Wut, daß man davor erschrecken konnte. Doch die hagere Priesterin blieb davon unberührt, es bestärkte sie nur in ihrer Gewißheit. Sie neigte sich etwas nach vorne und flüsterte: »Du bist Arha. Nichts blieb zurück. Alles wurde verzehrt.« »Alles wurde verzehrt«, wiederholte das Mädchen, wie es die Worte täglich wiederholt hatte, jeden Tag, seit es sechs Jahre alt war.
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Thar neigte leicht den Kopf, und Kossil tat das gleiche, als sie die Rute weglegte. Das Mädchen verbeugte sich nicht, sondern drehte sich um und verließ den Raum. Nach dem Essen, das aus Kartoffeln und neuen Zwiebeln bestand und in dem langen, schmalen, dunklen Refektorium schweigend eingenommen wurde, nach dem Singen der Abendhymne und nachdem die Türen mit heiligen Worten geweiht worden waren und das Ritual des Unaussprechlichen gefeiert worden war, nahm die Arbeit für diesen Tag ein Ende. Jetzt durften die Mädchen in den Schlafsaal hinaufgehen und sich mit Würfel- oder Stabspielen vergnügen, solange das einzige Licht aus Binsenrohr brannte. Danach konnten sie miteinander von Bett zu Bett flüstern. Arha machte sich — wie jeden Abend — auf und ging über die Höfe und Hänge der Stätte zum Kleinhaus, wo sie allein schlief. Der Abendwind trug einen süßen Duft mit sich. Die Sterne des Frühlings waren dicht gesät, wie Margeriten auf einer Wiese. Aber das Mädchen konnte sich nicht mehr an Wiesen erinnern. Es blickte nicht auf. »Hoppla, Kleines!« »Manan«, sagte Arha gleichgültig. Der mächtige Schatten gesellte sich ihr zu, das Sternenlicht glänzte auf seiner Glatze. »Haben sie dich bestraft?« »Ich kann nicht bestraft werden.« »Nein... Das stimmt...« »Sie können mich nicht bestrafen. Sie wagen es nicht.« Er stand da, mit seinen großen plumpen Händen, die an den Seiten herunterhingen, enorm und undeutlich. Sie roch wilde Zwiebeln und den verschwitzten, mit Salbei gemischten Geruch seines alten, schwarzen Umhangs, der am Saum zerrissen und zu kurz für ihn war. »Sie können mich nicht berühren. Ich bin Arha«, sagte sie mit schriller, heftiger Stimme und begann zu weinen. Die großen, wartenden Hände kamen hoch und zogen sie zu ihm, und er hielt sie sachte und strich über ihre geflochtenen Haare. »Schon gut, schon gut, kleiner Honigkuchen, kleines Mädchen ...« Sie hörte sei-
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ne heisere Stimme, die tief aus seiner Brust kam, und sie hängte sich an ihn. Ihre Tränen versiegten bald, aber sie klammerte sich an Manan, als könne sie nicht allein stehen. »Armes kleines Ding«, flüsterte der und hob sie hoch, trug sie zur Tür des Hauses, in dem sie allein schlief. Er stellte sie auf den Boden. »Ist es wieder besser, Kleines?« Sie nickte und wandte sich um und betrat das dunkle Haus.
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DIE GEFANGENEN
KOSSIL KAM GEMESSENEN und schweren Schrittes den Gang des Kleinhauses herunter. Die große, massive Gestalt füllte den Türrahmen, schrumpfte etwas, als sich die Priesterin verneigte und mit einem Knie den Boden berührte, und schwoll dann wieder zu ihrem vollen Umfang an, als sie sich aufrichtete. »Herrin!« »Was ist los, Kossil?« »Es ist mir gestattet, bisher gewissen Pflichten nachzukommen, die in den Aufgabenkreis der Namenlosen fallen. Es wäre jetzt an der Zeit, daß meine Herrin diese Dinge, an die sie sich in diesem Leben noch nicht wieder erinnert hat, lernt, sieht und in die Hand nimmt, wenn es ihr genehm ist.« Arha saß in ihrem fensterlosen Zimmer, angeblich um zu meditieren, in Wirklichkeit aber tat sie nichts und dachte auch an fast nichts. Es dauerte eine Weile, bis sich der starre, hochmütige Ausdruck ihres Gesichtes änderte. Doch schließlich belebte er sich, obwohl sie sich bemühte, dies zu verbergen. Sie sagte, und ihre Stimme war lauernd: »Das Labyrinth?« »Das Labyrinth werden wir nicht betreten. Aber das untere Grab müssen wir durchqueren.« In Kossils Stimme lag Furcht, doch das konnte gespielt sein, um Arha Angst einzuflößen. Das Mädchen ließ sich Zeit mit dem Aufstehen, dann sagte sie gleichgültig: »Gehen wir!« Aber in ihrem Herzen frohlockte sie, während sie der schweren Gestalt der Priesterin folgte: Endlich! Endlich bekomme ich mein eigenstes Reich zu Gesicht!
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Sie war fünfzehn Jahre alt. Es war nun schon mehr als ein Jahr her, seit man sie in die Gemeinschaft der Frauen aufgenommen hatte und ihr die Privilegien der Einen Priesterin der Gräber von Atuan übergeben hatte. Von allen Priesterinnen des Kargadreiches war sie die Höchste, selbst der Gottkönig durfte ihr nichts befehlen. Alle verneigten sich und ließen sich auf ein Knie nieder vor ihr, selbst die strenge Thar und Kossil. Alle sprachen in gewählten Worten zu ihr. Aber sonst hatte sich nichts geändert. Nichts ereignete sich. Als das Zeremoniell ihrer Weihe vorbei war, flössen die Tage genauso dahin, wie sie bisher dahingeflossen waren. Wolle mußte gesponnen, schwarzes Tuch mußte gewebt werden, Getreide mußte gemahlen und Ritualhandlungen mußten vollzogen werden, jeden Abend wurden die Neun Gesänge gesungen, die Türen mußten mit geweihten Namen bedacht werden, zweimal im Jahr mußten die Steine mit Ziegenblut getränkt werden, und vor dem leeren Thron mußten die Tänze des dunklen Mondes getanzt werden. So war das Jahr verflossen, genau wie die Jahre zuvor, und würde sie so alle kommenden Jahre ihres Lebens verbringen? Manchmal war ihre Langeweile so stark, daß sie wie von heimlichem Grauen erfaßt wurde. Es würgte sie in der Kehle. Vor nicht allzu langer Zeit hatte es sie getrieben, darüber zu reden. Sie mußte einfach darüber reden, sie konnte nicht mehr schweigen, oder sie würde wahnsinnig werden. Sie sprach mit Manan darüber. Ihr Stolz verbot es ihr, sich den anderen Mädchen anzuvertrauen, und die Vorsicht gebot ihr, den alten Frauen nichts davon zu sagen, aber bei Manan riskierte sie nichts, er war eine treue, alte Seele, ihm konnte sie alles sagen, gleichgültig was. Überraschenderweise hatte er eine Antwort: »Weißt du, Kleines«, sagte er, »vor langer Zeit, bevor unsere vier Länder ein Reich wurden, bevor es einen Gottkönig gab, der über uns alle herrscht gab es eine große Anzahl kleinerer Könige, Prinzen und Häuptlinge. Die stritten sich laufend untereinander. Und dann kamen sie hierher, um ihre Streitereien zu schlichten. Ja, da ging es anders zu! Sie kamen von unserem eigenen Land, Atuan, von Karego-At, von Atnini, und selbst von Hur-at-Hur, die obersten Herrscher mit ihrem ganzen Hof, den Prinzen und Bediensteten, kamen. Und dann wollten sie
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wissen, was sie tun sollten. Und man begab sich dann vor den leeren Thron und fragte die Namenlose um Rat. Ja, ja, so war es vor langer Zeit gewesen! Dann aber kamen die Priesterkönige und die herrschten erst über ganz Karego-At und bald darauf über ganz Atuan, und jetzt sind schon vier oder fünf Generationen vergangen, seit die Gottkönige über alle vier Länder herrschen und ein Reich daraus geschmiedet haben. Damit hat sich alles geändert. Der Gottkönig kann jetzt alle streitsüchtigen Häuptlinge unterdrücken und alle Streitfragen selbst entscheiden, und da er selbst ein Gott ist, muß er die Namenlosen nicht oft um Rat fragen.« Arha war nachdenklich geworden. Hier in der Wüste, unter den ewiggleichen Steinen, verlor die Zeit ihre Bedeutung, das Leben floß unverändert dahin, schon seit unvordenklichen Zeiten. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, daß sich je etwas an diesem Leben ändern, daß das Alte absterben und etwas Neues an seine Stelle treten könnte. Es war nicht einfach, die Dinge in diesem neuen Licht zu betrachten. »Die Macht des Gottkönigs ist viel geringer als die Macht derjenigen, denen ich diene«, sagte sie mit gerunzelter Stirn. »Gewiß ... Gewiß ... Das kann man einem Gott aber nicht sagen, mein kleiner Honigkuchen, und auch seiner Priesterin nicht.« Und sie fing einen Blick aus seinen kleinen, braunen, zwinkernden Augen auf, und sie mußte an Kossil, die Hohepriesterin des Gottkönigs, denken, die sie fürchtete, seit sie hierher an die Stätte gekommen war, und sie verstand Manans Blick. »Aber der Gottkönig und sein Hof vernachlässigen ihre Pflichten gegenüber den Gräbern. Keiner kommt hierher.« »Na, er schickt uns Gefangene als Opfer. Das versäumt er nicht. Auch an die Gaben für die Namenlosen denkt er.« »Gaben! Sein Tempel wird jedes Jahr frisch gestrichen! Gold, hundert Pfund schwer, steht auf seinem Altar, und in seinen Lampen brennt er Rosenöl! Und dann schau dir die Thronhalle an! Das Dach hat Löcher, die Kuppel hat Sprünge, zwischen den Wänden rennen Mäuse herum, Eulen und Fledermäuse fliegen aus und ein ... Aber die Thronhalle wird den Gottkönig mit all seinen Tempeln überdauern und alle Könige,
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die nach ihm kommen! Sie stand schon, bevor sie kamen, und sie wird noch stehen, wenn sie nicht mehr sind. Hier ist das Herz, hier ist der Anfang aller Dinge!« »Hier ist der Anfang aller Dinge!« »Es gibt hier auch Reichtümer. Thar spricht ab und zu darüber. Zehnmal mehr gibt es hier, als die Tempel des Gottkönigs fassen könnten! Gold und Edelsteine und Siegestrophäen gibt es hier, die vor Urzeiten geopfert wurden, vielleicht vor hundert Generationen, wer weiß! Die liegen da unten, in den unterirdischen Gewölben und Verliesen. Dahin haben sie mich noch nicht geführt, das verschieben sie immer wieder. Aber ich kann mir vorstellen, wie es da unten aussieht. Unter der Thronhalle sind Räume, unter der ganzen Stätte gibt es Gewölbe, selbst unter uns, wo wir jetzt stehen, gibt es irgendwelche Räumlichkeiten. Es gibt da unheimlich viele Gänge, ein richtiges Labyrinth. Es sieht aus wie eine große dunkle Stadt, die unter dem Hügel verborgen ist, und sie ist angefüllt mit Gold, den Schwertern alter Haudegen, alten Kronen und Gebeinen und Jahren und Schweigen...« Sie sprach wie in einer Trance, wie in Ekstase. Manan beobachtete sie. Auf seinem gepolsterten Gesicht lag gewöhnlich ein Zug von Trauer. Doch jetzt war es noch trauriger als sonst. »Ja, und du bist die Herrin über all das«, sagte er, »über das Schweigen und die Dunkelheit.« »Stimmt! Aber sie zeigen mir nichts, nur die Räume, die sich hier oben befinden. Nicht einmal den Zugang zu den unterirdischen Gewölben haben sie mir gezeigt! Nur manchmal machen sie Andeutungen. Sie enthalten mir mein eigenstes Reich vor! Warum lassen sie mich warten und warten?« »Du bist noch jung. Es kann auch sein«, sagte Manan in seiner rauhen Altstimme, »daß sie Angst haben, Kleines. Denn schließlich ist es nicht ihr Reich, sondern deines. Sie begeben sich in Gefahr, wenn sie es betreten. Du wirst keinen Sterblichen finden, der sich vor den Namenlosen nicht fürchtet.« Arha erwiderte nichts darauf, aber ihre Augen funkelten. Wiederum hatte Manan etwas gesagt, worüber sie nachdenken mußte. Thar und Kossil waren ihr bislang immer so mächtig, so kalt, so erschreckend er-
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schienen, daß es ihr niemals eingefallen wäre, zu vermuten, daß sie Angst haben könnten. Aber Manan hatte recht. Die beiden fürchteten sich vor diesen Gewölben, vor diesen Mächten, zu denen Arha gehörte, von denen sie ein Teil war. Sie hatten Angst, diesen finsteren Ort zu betreten, sie wollten nicht verzehrt werden. Als sie jetzt mit Kossil die Stufen des Kleinhauses hinunterstieg und den Windungen des Pfades folgte, der zum Thronsaal hinaufführte, erinnerte sie sich wieder an diese Unterhaltung mit Manan und frohlockte in ihrem Innern. Ganz gleich, wohin sie diese beiden nehmen und was sie ihr zeigen würden, sie, Arha, würde keine Furcht haben. Ihr war der Weg vertraut. Kossil, die einige Schritte hinter ihr auf dem Pfad folgte, begann: »Wie meiner Herrin bekannt ist, besteht eine ihrer Pflichten darin, gewisse Gefangene, Verbrecher aus adligen Häusern, zu opfern, die Hochverrat geübt oder sich gegen den Gottkönig versündigt haben.« »Oder gegen die Namenlosen«, sagte Arha. »Gewiß. Es wäre unpassend gewesen, wenn die Verzehrte, während sie noch ein Kind war, dieser Pflicht nachgekommen wäre. Aber meine Herrin ist kein Kind mehr. Im Kettenraum befinden sich Gefangene, die der Gottkönig in seiner Güte vor einem Monat von seiner Stadt Awabad hierher gesandt hat.« »Ich wußte nicht, daß Gefangene gesandt wurden. Warum wurde mir das nicht gesagt?« »Gefangene werden nachts gebracht, und ganz geheim, wie es das alte Ritual der Gräber vorschreibt. Wenn meine Herrin dem Pfad folgt, der sich der Mauer entlang windet, wird sie den geheimen Weg erkennen.« Arha bog vom Weg ab und ging an der Mauer entlang, die die Grabsteine umschloß, die sich hinter dem Gebäude der Thronhalle befanden. Die Steine der Mauer waren massiv, der kleinste war schwerer als ein Mensch und die größten waren so groß wie Wagen. Obgleich sie nicht zugehauen waren, sah man, daß sie sorgfältig gefügt und zueinandergepaßt waren. Doch es gab Stellen, wo die Steine abgerutscht waren und jetzt in einem unordentlichen Haufen aufeinanderlagen. Diese Zerstörung mußte
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sich über einen unendlich langen Zeitraum erstreckt haben, über Jahrhunderte unerbittlichen Wüstenklimas, brennendheißen Sommern und frostigen Nächten, oder sie war auf das unmerkliche Verschieben der Hügel selbst zurückzuführen. »Es ist sehr leicht, die Grabmauer zu übersteigen«, sagte Arha, als sie an ihr entlang gingen. »Es gibt nicht genügend Männer, die sie wieder herrichten könnten«, erwiderte Kossil. »Wir haben genügend Männer, um sie zu bewachen.« »Das sind Sklaven. Ihnen kann man nicht trauen.« »Man kann ihnen trauen, wenn sie sich fürchten. Man sage ihnen, daß sie genauso bestraft werden wie der Fremde, dem es gelingt, seinen Fuß auf den Boden innerhalb der Mauer zu setzen.« »Welche Strafe steht darauf?« Kossil stellte diese Frage nicht, um etwas Neues zu erfahren. Sie selbst hatte Arha vor langer Zeit die Antwort darauf gelehrt. »Er wird vor dem Thron enthauptet.« »Wünscht meine Herrin, daß ein Wächter an der Gräbermauer aufgestellt wird?« »Ja, das ist mein Wunsch!« antwortete Arha. Sie preßte ihre Finger, die in den langen, schwarzen Ärmeln ihres Umhangs verborgen waren, gegen ihre Handflächen, um ihre Freude zu unterdrücken. Daß Kossil keinen Sklaven zur Mauerbewachung verlieren wollte, war ihr ganz klar, im Grunde genommen war es auch ganz und gar unnötig, denn wer kam schon hierher? Es war fast ausgeschlossen, daß ein Mensch sich, sei es durch Zufall oder mit Absicht, der Stätte innerhalb eines Umkreises von einer halben Meile nähern konnte, ohne gesehen zu werden, und den Gräbern konnte er sich schon gar nicht nähern. Aber mit einem Wachtposten wurde ihnen eine Ehre erwiesen, die ihnen zustand, und Kossil konnte nichts dagegen einwenden. Sie mußte Arha gehorchen. »Hier«, sagte sie kalt. Arha blieb stehen. So oft war sie schon an der Mauer entlanggegangen, daß sie diese genauso gut kannte wie die Stätte, wo sie jeden Zoll, jeden Stein, jeden Dorn und jede Distel kannte. Links von ihr erhob
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sich die Mauer, dreimal so hoch wie sie selbst, rechts von ihr fiel der Hügel stufenweise ab gegen ein flaches, dürres Tal, das sich auf der anderen Seite gegen die Ausläufer der westlichen Bergkette erhob. Sie ließ ihren Blick über den Boden schweifen, aber sie sah nichts Besonderes, alles sah aus wie sonst. »Unter dem roten Felsen, Herrin!« Etwas unterhalb des Hügels war ein treppenähnlicher Felsvorsprung aus roter Lava. Als sie zu dem Vorsprung hinuntergegangen war und direkt davor stand, kam er ihr wie eine ungefüge Tür, etwa eineinhalb Meter hoch, vor. »Was muß ich jetzt tun?« Sie wußte aus Erfahrung, daß es nutzlos war, zu versuchen, an geheiligten Stellen eine Tür zu öffnen, bevor man nicht genau wußte, wie sie geöffnet werden kann. »Meine Herrin hat alle Schlüssel zu den dunklen Orten.« Nachdem sie in die Gemeinschaft der Frauen aufgenommen worden war, hatte man ihr einen Schlüsselring gegeben, an dem ein kleiner Dolch und dreizehn Schlüssel hingen, manche groß und schwer, andere so klein wie Angelhaken. Diese hob sie nun hoch und breitete sie aus. » Der da«, sagte Kossil und deutete auf einen Schlüssel. Dann steckte sie ihren plumpen Zeigefinger in eine Spalte zwischen den beiden roten ausgehöhlten Felsen. Der Schlüssel war lang und rund, mit zwei reichverzierten Bärten, und paßte in die Spalte. Arha packte ihn mit beiden Händen und drehte ihn nach links. Es ging schwer, und er bewegte sich langsam, doch er drehte sich ohne zu stocken. »Und jetzt?« »Miteinander...« Gemeinsam drückten sie das rauhe Gestein links neben dem Schlüsselloch nach innen. Schwerfällig, doch lautlos und ohne hängenzubleiben, glitt ein ungleichmäßiges rotes Felsstück nach innen, bis ein schmaler Spalt sichtbar wurde. Innen war alles pechrabenschwarz. Arha beugte sich nieder und trat ein.
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Kossil, die beleibt und dazu noch dick angezogen war, hatte Mühe, sich durch den engen Spalt zu zwängen. Sobald sie drinnen war, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür, nahm ihre Kraft zusammen und stemmte sich gegen das Felsstück, bis es sich hinter ihr schloß. Es war völlig finster. Kein Lichtschimmer fiel in die Dunkelheit, die sich wie nasser Filz über die Augen legte. Sie mußten sich tief beugen, denn dort, wo sie standen, war es nicht viel höher als ein Meter und sehr eng, Arha konnte den feuchten Fels links und rechts neben sich fühlen. »Haben Sie ein Licht mitgebracht?« Arha flüsterte, wie man es oft in der Dunkelheit tut. »Nein, ich habe kein Licht mitgebracht«, antwortete Kossil hinter ihr. Auch Kossil sprach leise, doch in ihrer Stimme lag ein fremder Ton, als lächle sie. Und Kossil lächelte nie. Arhas Herz begann laut zu schlagen; das Blut pulsierte in ihrem Hals. Sie redete sich inständig zu: Dies ist mein Besitz, hierher gehöre ich, ich will mich nicht fürchten! Aber kein Wort kam über ihre Lippen. Sie begann sich langsam vorwärts zu bewegen, es gab keinen anderen Weg. Er führte in den Hügel hinein und hinab. Hinter ihr kam die schweratmende Kossil, man hörte, wie sich ihre Kleidung an den Felsen und an der Erde wetzte. Plötzlich wurde der Gang höher. Arha konnte aufrecht stehen, und als sie ihre Hände ausstreckte, fühlte sie keine Wände mehr. Die feuchte Luft, die sie bedrückt hatte und nach Erde roch, war kühler hier, und schwache Strömungen ließen vermuten, daß sich vor ihnen eine große Höhlung auftat. Arha machte ein paar vorsichtige Schritte in die pechrabenschwarze Dunkelheit hinein. Ein Kiesel, von ihrer Sandale angestoßen, geriet in Bewegung, berührte einen anderen Kiesel, und das schwache Geräusch rief ein Echo hervor, das immer leiser, immer entfernter nachklang. Die Höhle mußte riesengroß, hoch und weit sein, doch sie war nicht leer: irgend etwas in der Dunkelheit, unsichtbare Flächen oder Wände, zersplitterten das Echo in tausend Fragmente. »Wir müssen uns hier unter den Steinen befinden«, flüsterte Arha, und ihr Flüstern wurde von der hohlen Schwärze aufgenommen und in
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dünne Fäden aufgelöst, in Töne so fein wie Spinnweben, die noch lange im Gehör haften blieben. »Ja, jetzt befinden wir uns im unteren Grab. Weitergehen! Ich kann hier nicht stehenbleiben. An der linken Wand entlang gehen! An drei Öffnungen vorbei!« Kossils Flüstern war zischelnd, und die tausend kleinen Echos zischelten hinter ihren Worten her. Sie hatte Angst, man spürte, wie die Angst sie packte. Es behagte ihr nicht, hier unter den Namenlosen zu sein, in ihren Gräbern, in ihren Höhlen, in dieser Dunkelheit! Ihr Platz war nicht hier, sie gehörte nicht hierher. »Das nächste Mal werde ich eine Fackel mitbringen«, sagte Arha, während sie sich an der Wand entlang tastete und sich über die seltsamen Formen im Fels wunderte, über die Vertiefungen und Erhöhungen, über die feinen Wölbungen und Kurven, über Kanten, die so uneben wie Spitzen, und andere, die so glatt wie Messing waren: es mußte sich um Reliefs handeln, anders war das nicht zu erklären. Vielleicht war das ganze Riesengewölbe das Werk von Bildhauern einer vergangenen Epoche? »Es ist nicht gestattet, Licht hierherzubringen«, flüsterte Kossil scharf. Noch während sie sprach, wußte Arha, daß sie recht hatte. Hier war die Stätte der Dunkelheit, hier befanden sie sich im innersten Zentrum der Nacht. Dreimal war Arha an einer Öffnung in dieser verwirrenden, felsigen Schwärze vorbeigekommen. Das vierte Mal tastete sie Höhe und Breite der Öffnung ab und trat ein. Kossil folgte. In dem Gang, den sie sich jetzt entlangbewegten, kamen sie an einer Öffnung linkerhand vorbei und folgten, als der Gang sich gabelte, der rechten Abzweigung. Blind tasteten sie sich auf diesem unterirdischen Weg durch die absolute Stille der Erde. Bei solch einem Unternehmen muß man ununterbrochen sowohl nach links als auch nach rechts greifen, damit man an keiner der zu zählenden Öffnungen vorbeigeht oder eine Gabelung verfehlt. Durch Tasten leitet man sich vorwärts, der Weg ist unsichtbar, man hält ihn in der Hand. »Ist das hier das Labyrinth?« »Nein, das sind nur die Irrgänge unter dem Thron.«
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»Wo ist der Eingang zum Labyrinth?« Arha begann an diesem Spiel im Dunkeln Gefallen zu finden. Sie suchte nach einer schwierigeren Aufgabe. »Es ist die zweite Öffnung im unteren Grab. Meine Herrin muß jetzt nach einer Holztür rechts suchen, vielleicht haben wir sie bereits verpaßt...« Arha hörte, wie Kossil mühsam an der Wand entlangtappte, wie sie sich am Fels stieß. Sie, Arha, berührte den Fels nur leicht mit ihren Fingerspitzen. Kurz darauf fühlte sie glattes Holz. Sie drückte ein wenig, es quietschte etwas, und eine Tür drehte sich leicht in den Angeln und öffnete sich. Sie stand geblendet vom Licht und sah einen Augenblick lang überhaupt nichts. Sie betraten einen großen niederen Raum, mit Wänden aus zugehauenen Steinen, beleuchtet von einer rauchenden Fackel, die an einer Kette hing. Der Rauch hatte keinen Abzug und füllte den Raum mit beißendem Geruch. Arhas Augen brannten und tränten. »Wo sind die Gefangenen?« »Dort.« Es dauerte eine Weile, bis sie etwas unterscheiden konnte und wahrnahm, daß die drei unordentlichen Haufen am anderen Ende des Raumes Männer waren. »Die Tür ist nicht verschlossen. Ist kein Posten hier?« »Es ist keiner nötig.« Sie ging zögernden Schrittes etwas weiter vor und versuchte, den rauchenden Dunst mit ihren Blicken zu durchbohren. Die Gefangenen waren an beiden Fußgelenken und an einem Handgelenk mit Ketten an großen Eisenringen an der Wand befestigt. Wollte sich einer von ihnen niederlegen, so blieb sein Arm, an dem sich die Kette befand, oben hängen. Ihr Haar und ihre Barte waren so verfilzt, daß man in deren Schatten ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Einer lag halb am Boden, die anderen beiden saßen und hockten. Sie waren nackt. Der Geruch, der von ihnen ausging, war widerlicher als der Gestank, der vom Rauch herrührte.
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Einer von ihnen schien Arha zu mustern, sie glaubte, Augen wahrzunehmen, aber sie war sich nicht sicher. Die beiden anderen rührten sich nicht und hoben ihre Köpfe nicht hoch. Sie wandte sich ab. »Das sind keine Menschen mehr«, sagte sie. »Das waren noch nie Menschen. Das waren Dämonen, tierische Wesen, die sich gegen die geweihte Person des Gottkönigs verschworen haben!« Kossils Augen schienen mit dem roten Fackellicht um die Wette zu funkeln. Arha blickte wieder auf die Gefangenen, sprachlos und neugierig zugleich. »Wie können sie es wagen, einen Gott anzugreifen? Wie können sie das tun? Du da — wie kannst du es wagen, einen lebenden Gott anzugreifen?« Der Mann blickte sie unter seinem schwarzen, verfilzten Haarschopf hervor an, sagte aber nichts. »Man hat ihnen die Zungen herausgeschnitten, bevor man sie von Awabad hierhergeschafft hat«, sagte Kossil. »Herrin, sprechen Sie nie mit ihnen! Es ist Abschaum. Sie gehören Ihnen, aber nicht, um mit ihnen zu sprechen oder sie anzusehen oder über sie nachzudenken. Sie wurden Ihnen als Opfer für die Namenlosen gegeben.« »Wie werden sie geopfert?« Arha blickte die Gefangenen nicht weiter an. Sie schaute auf Kossil und suchte Kraft an ihrem massiven Körper, an ihrer kalten Stimme. In ihrem Kopf drehte sich alles, der Gestank, der Rauch, der Schmutz setzten ihr zu, es wurde ihr übel, doch sie sprach klar und ruhig. Hatte sie das denn nicht schon unzählige Male getan? »Die Priesterin der Gräber weiß am besten, welche Todesart ihren Gebietern, den Namenlosen, am wohlgefälligsten ist. Es gibt viele Arten.« »Gobar, der oberste Offizier der Garde, soll sie enthaupten, und ihr Blut wird vor dem Thron vergossen werden.« »...so, als ob es sich um ein Ziegenopfer handelte?« Kossil schien heimlich über ihre Phantasielosigkeit zu höhnen. Arha schwieg. Kossil fuhr fort: »Außerdem ist Gobar ein Mann. Kein Mann kann die dunklen Orte
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der Stätte betreten. Ich hoffe doch, daß meine Herrin sich daran erinnert? Sollte er sie betreten, so wird er sie nicht wieder lebendig verlassen...« »Wer hat sie hierher gebracht? Wer gibt ihnen zu essen?« »Die Wärter, die meinem Tempel dienen, Duby und Vahto haben sie gebracht. Sie sind Eunuchen und können hier im Dienst der Namenlosen eintreten, genau wie ich. Die Soldaten des Gottkönigs ließen die Gefangenen gefesselt vor der Außenmauer, und ich und die Wärter brachten sie hierher, durch die Tür in den roten Felsen. So wird es immer gemacht. Wasser und Essen wird durch eine Falltür von einem der Räume hinter dem Thron heruntergelassen.« Arha blickte auf und sah neben der Kette, an der die Fackel hing, ein Holzviereck, das ins Gestein eingelassen war. Es war zu klein für einen Menschen, aber groß genug für einen Strick, der gerade in Reichweite des mittleren Gefangenen herunterkommen mußte. Sie blickte schnell wieder weg. »Dann bringe man kein Wasser und keine Nahrung mehr. Die Fackel kann auch ausgehen.« Kossil verbeugte sich. »Und was macht man mit ihnen, wenn sie tot sind?« »Duby und Vahto können sie in dem großen Gewölbe des unteren Grabes verscharren«, sagte Arha. Ihre Stimme wurde schrill, und sie redete schnell. »Es muß in der Dunkelheit getan werden. Meine Gebieter werden die Körper verzehren.« »Es wird geschehen, wie Sie wünschen.« »Ist es gut so, Kossil?« »Ja, es ist gut so.« »Dann laß uns gehen«, sagte Arha, und ihre Stimme klang plötzlich ganz schrill. Sie wandte sich um und eilte durch die Holztür aus dem Kettenraum in die Schwärze des Ganges. Es schien ihr dort so friedlich und geruhsam zu sein, wie in einer sternenlosen Nacht, ohne Sicht, ohne Licht, ohne Leben. Sie stürzte sich in die reine Dunkelheit und bewegte sich vorwärts wie ein Schwimmer im Wasser. Kossil, schwerfällig und schweratmend, keuchte hinterher so schnell sie konnte, doch sie fiel immer weiter zurück. Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, zählte Arha die
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ausgelassenen Öffnungen, schlug die richtige Richtung ein, der sie gefolgt waren, ging das Riesengewölbe entlang und kroch, tief gebeugt, die letzte Strecke durch den niederen Gang zur geschlossenen Tür im Fels. Dort hockte sie sich nieder und tastete nach dem langen Schlüssel, der am Ring an ihrer Taille hing. Sie fand ihn, aber das Schlüsselloch fand sie nicht. Auch nicht der kleinste Lichtstrahl war an der unsichtbaren Wand direkt vor ihrem Gesicht wahrnehmbar. Ihre Finger fühlten und suchten nach Schloß, Riegel oder Klinke, doch sie fanden nichts. Wo war das Schlüsselloch? Wie kam sie hier wieder heraus? »Herrin!« Kossils Stimme, durch Echos verstärkt, zischte und dröhnte weit hinter ihr. »Herrin, die Tür kann nicht von innen geöffnet werden. Es gibt keinen Ausgang, keine Rückkehr!« Arha preßte sich gegen den Fels. Sie erwiderte nichts. »Arha!« »Ich bin hier.« »Komm!« Sie näherte sich Kossil auf Händen und Füßen, wie ein Hund, bis sie ihren Rock zu fassen bekam. »Rechts! Beeil dich! Ich kann hier nicht bleiben. Ich gehöre nicht hierher. Folge mir!« Arha erhob sich und hielt sich an Kossil fest. Sie bewegten sich vorwärts und folgten der seltsam gemeißelten, reliefgeschmückten Wand des Gewölbes bis zu einer Öffnung in der Schwärze. Sie gingen aufwärts, durch Gänge und Stufen hinauf. Arha hielt sich immer am Umhang der Priesterin fest. Ihre Augen waren fest geschlossen. Licht war vor ihr, schien rot durch ihre Augenlider. Sie dachte, daß sie sich wieder im fackelbeleuchteten Kettenraum befände, und preßte ihre Augen zusammen. Doch die Luft roch süßlich, trocken und etwas moderig; es war ein vertrauter Geruch. Sie ließ Kossils Umhang los und machte ihre Augen auf. Über ihr war eine offene Falltür. Sie kletterte hinauf, Kossil folgend. Die Tür öffnete sich in einen Raum, den sie sehr wohl kannte. Eine kleine, aus Stein gebaute Zelle, in der sich einige Truhen und
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eiserne Kästen befanden, einer der unzähligen kleinen Räume hinter der Thronhalle. Tageslicht fiel grau und schwach vom Korridor herein, der vor der Tür lag. »Die andere Tür, die Gefängnistür, führt nur hinein, aber nicht hinaus. Dies hier ist der einzige Ausgang. Weder Thar noch ich kennen einen anderen Ausgang. Wenn es noch einen gibt, so muß es meine Herrin wissen. Aber ich glaube nicht, daß es noch einen gibt.« Kossils Stimme klang noch immer gepreßt, und Widerwille lag darin. Ihr großes Gesicht unter der Kapuze war bleich und feucht vom Schweiß. »Ich kann mich nicht mehr an die Abzweigungen erinnern, die hierher führen...« »Ich werde sie meiner Herrin aufzählen. Aber nur dies eine Mal. Das nächste Mal muß sie sich selbst daran erinnern. Ich komme nicht wieder mit hierher, ich gehöre nicht hierher. Meine Herrin muß allein gehen.« Arha nickte. Sie schaute hinauf ins Gesicht der alten Frau, und es schien ihr einen seltsamen Anblick zu bieten, bleich, mit kaum unterdrückter Furcht, und doch triumphierend, als genieße sie Arhas Schwäche. »Das nächste Mal gehe ich allein«, sagte Arha und versuchte sich von Kossil abzuwenden, doch ihre Beine versagten ihr, und die Zelle drehte sich vor ihren Augen. Sie fiel in Ohnmacht, ein kleines, schwarzes Bündel, vor den Füßen der Priesterin. »Du wirst es lernen«, sagte Kossil und atmete schwer, ohne sich zu rühren. »Du wirst es lernen.«
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TRÄUME UND GESCHICHTEN
ARHA WAR EIN PAAR TAGE lang krank. Man behandelte sie, als ob sie Fieber hätte. Sie lag im Bett oder saß in der warmen Herbstsonne auf der Veranda des Kleinhauses und blickte hinüber auf die Berge im Westen. Sie fühlte sich schwach und kam sich sehr dumm vor. Sie mußte immer wieder an das gleiche denken: Sie schämte sich, daß sie in Ohnmacht gefallen war. Es war kein Wachtposten an der Gräbermauer aufgestellt worden, und sie wußte, daß sie es nie mehr wagen würde, Kossil darum zu bitten. Es wäre ihr am liebsten gewesen, wenn sie Kossil nie wieder hätte sehen müssen, nie mehr. Denn sie schämte sich, daß sie in Ohnmacht gefallen war. Oftmals, wenn sie in der warmen Sonne saß, malte sie sich aus, wie sie sich das nächste Mal dort unten in der Dunkelheit unter dem Hügel verhalten würde. Oft stellte sie sich vor, welche Todesart sie für die nächste Gruppe Gefangener anordnen würde, eine ausgefallenere ganz gewiß, eine, die dem Ritual des Leeren Thrones mehr entsprechen würde. In jeder Nacht wachte sie in der Dunkelheit auf und hörte sich schreien: »Sie sind noch nicht tot! Sie sterben noch!« Sie hatte viele Träume. In einem Traum mußte sie Essen kochen, Riesentöpfe voll schmackhaftem Brei, die sie in ein dunkles Loch im Boden schüttete. In einem anderen mußte sie einen Behälter voll Wasser, es war ein großes Messingbecken voll, durch die Dunkelheit zu jemandem hintragen, der durstig war. Aber sie konnte diesen Menschen nicht erreichen. Sie wachte auf und war selbst durstig, aber sie stand nicht auf, um zu trinken. Sie blieb auf ihrem Bett in dem Raum ohne Fenster liegen. Ihre Augen waren weit offen.
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Eines Morgens kam Penthe, um sie zu besuchen. Arha sah sie von der Veranda des Kleinhauses aus näher kommen, mit sorgloser, unbekümmerter Miene, als habe sie der Zufall gerade hierhergeführt. Hätte Arha sie nicht angesprochen, so wäre sie die Stufen nicht heraufgestiegen. Doch Arha war einsam und redete sie an. Penthe sank auf ein Knie nieder vor Arha, wie es alle vor der einen Priesterin tun mußten, und ließ sich dann auf eine Stufe unterhalb von Arha plumpsen. »Puhhh!« Sie stieß einen geräuschvollen Seufzer aus. Inzwischen war sie ziemlich groß und rundlich geworden, und wenn sie sich viel bewegte, wurde sie immer so rötlich wie eine Kirsche. Auch jetzt war sie ganz rot vom Laufen. »Ich habe gehört, daß du krank bist. Ich habe dir ein paar Äpfel aufgehoben.« Sie zog plötzlich ein Binsennetz mit einem halben Dutzend schöner gelber Äpfel unter ihrem weiten schwarzen Umhang hervor. Sie war inzwischen in den Dienst des Gottkönigs aufgenommen worden und diente in seinem Tempel unter Kossil, aber sie war noch keine Priesterin und mußte noch immer Unterricht nehmen und Arbeiten mit den anderen Novizen zusammen verrichten. »Poppie und ich mußten dieses Jahr die Äpfel sortieren, und ich habe die allerbesten aufgehoben. Die guten tun sie ja immer trocknen — natürlich weil sie sich am besten halten. Aber mir tut es immer leid um sie. Sind die nicht schön?« Arha strich über die hellgoldene, seidige Haut der Äpfel und schaute auf die Ästchen, an denen sich noch ein paar braune Blätter festhielten: »Doch, die sind schön.« »Iß doch einen!« sagte Penthe. »Jetzt nicht. Iß du einen.« Penthe suchte höflicherweise den kleinsten aus und aß ihn in nicht mehr als zehn gewandten, saftigen, schmackhaften Bissen. »Ich könnte den ganzen Tag essen«, sagte sie. »Ich werde nie satt. Ich wäre lieber Köchin als Priesterin geworden. Ich würde besser kochen als die knickerige Nabbath, und außerdem könnte ich dann die Töpfe auslecken... Oh, hast du gehört, was Munith passiert ist? Sie hat die großen Messingbehälter glänzend reiben müssen, weißt du, die, in de-
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nen sie das Rosenöl aufbewahren, die hohen, schmalen Dinger mit den Pfropfen oben. Munith dachte, daß man die auch innen sauber reiben müßte, und steckte ihre Hand mit dem Lumpen hinein und hat sie nicht mehr herausgebracht. Sie hat alles mögliche versucht, aber ihr Gelenk wurde nur ganz rot und geschwollen. Sie war wirklich festgeklemmt. Und sie ist durch den ganzen Saal galoppiert und hat geschrien: ›Ich kriegʹs nicht runter! Ich kriegʹs nicht runter!‹ Und Punti hört ja nicht mehr gut, dachte, daß Feuer ausgebrochen sei, und brüllte nach den anderen Wärtern, daß sie kommen und die Novizen retten sollten. Uahto hatte gerade gemolken. Sie kam aus dem Stall gelaufen und ließ die Tür offenstehen, so daß alle Ziegen herausrannten und im Hof auf Punti und die anderen Wärter mit den kleinen Mädchen stießen, und Munith war ganz hysterisch und schwang ihren Arm mit der Messingflasche am Ende herum, und alle rannten und schrien. Dann kam Kossil vom Tempel heruntergelaufen und fragte: ›Was ist los? Was ist los?‹« Penthes rundes helles Gesicht verzog sich und nahm einen unwirschen, finsteren Ausdruck an, ganz anders als der alte Ausdruck, der gewöhnlich auf Kossils Gesicht lag, aber doch irgendwie an Kossil erinnernd, so daß Arha unbeherrscht losprustete mit erschrecktem Lachen. »›Was ist los? Was geht hier vor sich?‹ fragte Kossil. Und dann — dann kam die braune Ziege und ging auf sie los...« Penthe konnte sich nicht mehr halten und lachte, bis ihr die Tränen in die Augen traten, »und Munith ist mit der F-F-Flasche auf die Z-Z-Ziege losgegangen...« Beide Mädchen hielten ihre Knie umklammert und schüttelten sich vor Lachen. »Und Kossil drehte sich um und schrie: ›Was ist los? Was ist los?‹ zu-zu-zu der Ziege ...« Das Ende der Geschichte wurde vom Lachen erstickt. Penthe wischte endlich über ihre Augen und Nase und biß geistesabwesend in einen anderen Apfel. Das heftige Lachen hinterließ bei Arha ein Zittern. Sie beruhigte sich etwas, und nach einer Weile fragte sie: »Wie bist du eigentlich hierhergekommen, Penthe?« »Ich war das sechste Mädchen, und mein Vater und meine Mutter konnten nicht so viele aufziehen und verheiraten. Als ich sieben Jahre alt
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war, brachten sie mich zum Tempel des Gottkönigs und haben mich ihm geweiht Das war in Ossawa, aber ich nehme an, daß die dort zu viele Novizen hatten, denn sie haben mich bald darauf hierhergeschickt. Vielleicht haben sie auch gedacht, daß ich eine besonders gute Priesterin abgäbe, aber darin haben sie sich getäuscht!« Penthe biß fröhlich in ihren Apfel und versuchte, ein reumütiges Gesicht zu machen. »Wärst du lieber nicht Priesterin geworden?« »Wäre ich lieber ...?? Natürlich! Ich hätte lieber einen Schweinehirten geheiratet und in einem Graben gehaust. Alles, nur nicht hierherkommen müssen und alle Tage meines Lebens lebendig begraben zu sein unter Weibern, in einer Wüste, in der alles abstirbt und in die nie jemand kommt! Aber was nutzt es, was ich wünsche. Jetzt bin ich geweiht und sitze hier fest. Aber in meinem nächsten Leben, das kann ich dir sagen, in meinem nächsten Leben werde ich Tanzmädchen in Awabad! Das habe ich verdient!« Arha blickte sie unverwandt aus dunklen Augen an. Das verstand sie nicht. Es kam ihr vor, als hätte sie Penthe noch nie zuvor gesehen, als wäre es das erste Mal, daß sie Penthe erblickte, rund, voll Leben und Saft, wie einer von ihren goldenen Äpfeln, die so schön aussahen. »Bedeutet dir der Tempel denn gar nichts?« fragte sie ziemlich brüsk. Penthe, die gewöhnlich immer nachgab und leicht beeinflußbar war, ließ sich dieses Mal nicht aus dem Fahrwasser bringen. »Oh, ich weiß, daß deine Gebieter dir viel bedeuten«, sagte sie mit soviel Gleichgültigkeit in der Stimme, daß Arha schockiert war. »Das ist irgendwie verständlich, weil du ihre eigentlichste Dienerin bist. Du bist nicht so einfach geweiht worden, du bist extra dafür geboren worden. Aber guck mich an! Soll ich wirklich so viel Ehrfurcht und so weiter für den Gottkönig aufbringen? Der ist schließlich auch bloß ein Mensch, selbst wenn er in einem Palast in Awabad wohnt, der fünf Meilen rundherum Golddächer hat. Er ist fast fünfzig Jahre alt und hat eine Glatze. Das kannst du auf jedem Denkmal sehen. Und ich wette, daß er seine Zehennägel genauso schneiden muß wie jeder andere. Natürlich ist er ein Gott, ich weiß. Aber ich glaube, er wird noch viel göttlicher werden, wenn er einmal tot ist.«
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Arha stimmte mit Penthe überein, denn insgeheim war sie auch zu der Überzeugung gelangt, daß die göttlichen Herrscher von Kargad Emporkömmlinge waren, falsche Götter, welche die Gottesverehrung, die den ewigen Mächten zustand, an sich gerissen hatten. Aber hinter Penthes Worten lag etwas, das ganz neu für sie war, wovor sie sich fürchtete und womit sie nicht übereinstimmen konnte. Es war ihr nie zu Bewußtsein gekommen, wie verschieden Leute sein konnten, wie verschieden sie dem Leben gegenüberstehen konnten. Es kam ihr vor, als sähe sie einen ganz neuen Planeten, der riesig und dicht bevölkert direkt vor ihrem Fenster hing, eine fremde Welt, in der Götter keine Rolle spielten. Die Kraft von Penthes Unglauben hatte sie erschüttert, und in ihrer Angst schlug sie zurück. »Das stimmt. Meine Gebieter sind schon lange, lange tot, und es sind nie Menschen gewesen... Weißt du was, Penthe? Ich könnte dich für den Dienst der Gräber anfordern.« Sie sprach freundlich, als böte sie ihrer Freundin eine bessere Chance an. Die Röte verschwand aus Penthes Wangen. »Ja«, sagte sie, »das könntest du. Aber ich ... ich würde mich nicht sehr dafür eignen.« »Warum nicht?« »Ich habe Angst im Dunkeln«, sagte Penthe leise. Arha rümpfte die Nase und gab einen kleinen verächtlichen Laut von sich, aber sie war zufrieden. Sie hatte ins Schwarze getroffen. Penthe glaubte nicht an Götter, aber sie hatte vor den namenlosen Mächten der Dunkelheit Angst — wie jede andere sterbliche Seele. »Ich würde das nur tun, wenn du es wünschtest«, sagte Arha. Sie schwiegen beide eine lange Weile. »Du wirst immer mehr wie Thar«, sagte Penthe auf ihre weiche, träumerische Art. »Gott sei Dank wirst du nicht wie Kossil. Aber du bist so stark. Ich wollte, ich wäre auch so stark. Ich esse bloß gern...« »Nimm noch einen!« sagte Arha überlegen und belustigt. Penthe nagte langsam und bedächtig ihren dritten Apfel ab bis aufs Kerngehäuse. Die Anforderungen, die das endlose Ritual der Stätte an sie stellte, zwangen Arha ein paar Tage später aus ihrer Abgeschlossenheit her-
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aus. Zwillingsgeißlein waren außerhalb der regulären Zeit geboren worden und wurden, wie es die Sitte verlangte, den Zwillingsgöttern als Opfer dargebracht. Es war eine wichtige Zeremonie, bei der die Eine Priesterin nicht fehlen durfte. Dann kam die Nacht, in der der Mond nicht sichtbar war, und die Zeremonie der Dunkelheit mußte vor dem Leeren Thron abgehalten werden. Arha sog die betäubenden Düfte von Krautern ein, die in großen Bronzeschalen vor dem Thron verbrannt wurden, und sie tanzte, in Schwarz gekleidet, allein vor dem Thron. Sie tanzte für die unsichtbaren Geister der Toten und der Ungeborenen, und während sie tanzte, drängten sich die Geister um sie, folgten den Drehungen und Wendungen ihrer Füße und den langsamen, sicheren Gesten ihrer Arme. Sie sang die Lieder, deren Worte kein Mensch mehr verstand, die sie, vor langer Zeit, Silbe auf Silbe, von Thar hatte lernen müssen. Ein Chor von Priesterinnen, der im düsteren Licht hinter der Doppelreihe von Säulen verborgen war, wiederholte, wie ein Echo, die seltsamen Worte, und die Luft in dem riesigen baufälligen Saal war erfüllt vom Gemurmel vieler Stimmen, so als ob die unzähligen Geister die Gesänge unaufhörlich wiederholten. Der Gottkönig von Awabad sandte keine Gefangenen mehr zur Stätte, und Arha träumte immer seltener von den drei Männern im dunklen Verlies, die jetzt schon lange tot und in flachen Gräbern in dem Riesengewölbe unter den Steinen begraben waren. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, um in diese Höhle zurückzukehren. Sie mußte zurückkehren: die Priesterin der Gräber mußte in der Lage sein, ihr eigenes Reich ohne Furcht zu betreten; sie mußte sich auskennen. Das erste Mal, als sie durch die Falltür stieg, fiel es ihr am schwersten: aber es war nicht ganz so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Sie hatte sich geistig so gut darauf vorbereitet, sie war so fest entschlossen, allein hinunterzusteigen und nicht die Nerven zu verlieren, daß sie, als es soweit war, fast ein bißchen Enttäuschung empfand, weil alles so leicht vor sich ging. Es gab dort Gräber, aber sie konnte sie nicht sehen, nichts konnte sie sehen. Es war ganz finster, es war totenstill. Und das war alles.
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Tag für Tag ging sie dort hinunter, und immer betrat sie das unterirdische Reich durch die Falltür in dem Raum hinter dem Thron, bis sie den Umfang des Gewölbes mit den seltsam verzierten Wänden gut kannte — so gut man eben etwas kennen konnte, das man nicht sah. Sie blieb immer in Reichweite der Wände, denn wenn sie sich in die Leere des Raumes gewagt hätte, hätte sie leicht die Richtung verlieren können, und wenn sie dann wieder eine Wand erreicht hätte, wäre es ihr unmöglich gewesen, festzustellen, wo sie war. Denn das hatte sie schon beim ersten Mal gelernt: das Wichtigste war, im Dunkeln zu wissen, welche Ecken und Öffnungen man passiert hatte und welche noch vor einem lagen. Und das konnte man nur wissen, wenn man zählte, denn den tastenden Händen fühlte sich alles gleich an. Arhas Gedächtnis war gut geschult, und es fiel ihr nicht schwer, ihren Weg auf diese seltsame Art, durch Tasten und Zählen anstatt durch Sehen und Erkennen, zu finden. Bald kannte sie alle Gänge, die vom Untergrab ausgingen, auch die Irrgänge, die unter dem Thronsaal und dem Hügel lagen, kannte sie. Aber einen Gang betrat sie nie: den zweiten, der nach dem Eingang zwischen den roten Felsen kam, aus dem sie, wenn sie ihn aus Versehen betrat, vielleicht nie mehr herausfinden würde. Aber ihr Verlangen, ihn zu betreten, und das Labyrinth kennenzulernen, nahm ständig zu. Sie widerstand ihm jedoch, bis sie alles darüber erfahren hatte, was davon bekannt war. Thar wußte wenig darüber, sie kannte die Namen einiger Räume und auch die Anweisungen, wie man zu den Räumen gelangen konnte. Diese sagte sie Arha auf, aber sie zeichnete nie ein Bild in den Staub oder machte eine Zeichnung in die Luft; sie selbst war diesen Anweisungen noch nie gefolgt, denn sie hatte das Labyrinth noch niemals betreten. Aber wenn Arha fragte: »Wie geht man von der offenstehenden, eisernen Tür in den Bemalten Raum?« oder »Welcher Weg führt vom Knochensaal zum Tunnel beim Fluß?« — dann schwieg Thar erst eine Weile, aber dann begann sie die seltsamen Anweisungen aufzusagen, die sie vor so langer Zeit von der Arha-Die-Gewesen-War gelernt hatte: soundsoviele Kreuzungen passieren, soundsoviele Wendungen nach links und so weiter, und so weiter. All dies lernte Arha auswendig, oft beim ersten Mal, wie es Thar gelernt hatte. Wenn sie nachts in ihrem
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Bett lag, wiederholte sie das alles und versuchte, sich die verschiedenen Orte, die Räume und die Gänge vorzustellen. Thar zeigte Arha die vielen Gucklöcher, durch die man hinunter schauen konnte ins Labyrinth, und die es in jedem Gebäude und Tempel der Stätte gab, selbst unter den Felsen draußen waren sie zu finden. Das Spinngewebe der unterirdischen Gänge zog sich überall unter der Stätte dahin und erstreckte sich selbst jenseits der Mauern. Die Gänge verliefen meilenweit in der Dunkelheit. Kein Mensch außer ihr, den zwei Hohepriesterinnen und ihren eigensten Dienern, den Eunuchen Manan, Uahto und Duby, wußten überhaupt, daß ein Labyrinth existierte und unter jedem ihrer Schritte lag, den sie hier oben machten. Unter den anderen Bewohnern der Stätte gingen ungenaue Gerüchte um, alle wußten zwar, daß es Höhlen oder irgendwelche Gewölbe unter den Gräbern gab, aber niemand zeigte großes Interesse an Dingen, die mit den Namenlosen zusammenhingen, und an den Orten, die ihnen geweiht waren. Vielleicht glaubten sie, daß es besser sei, wenig darüber zu wissen. Arha war natürlich sehr neugierig, und da sie wußte, daß es Gucklöcher in das Labyrinth gab, hatte sie nach ihnen gesucht, doch sie waren so gut verborgen, daß sie kein einziges gefunden hatte. Sie befanden sich zwischen den Steinplatten des Bodens, auf dem Wüstengrund, selbst in ihrem eigenen Haus, und sie fand es erst, nachdem Thar sie darauf aufmerksam gemacht hatte. In einer Nacht zu Beginn des Frühjahrs nahm sie eine Kerzenlaterne und ging hinunter, ohne sie anzuzünden. Sie ging durch das Untergrab bis zur zweiten Öffnung links am Gang, der von der Tür zwischen den roten Felsen hineinführte. Sie machte dreißig Schritte in die Dunkelheit hinein und trat dann durch eine Tür, deren Eisenrahmen sie in der Wand ertastete: Hier war die Grenze ihrer bisherigen Expeditionen, weiter war sie noch nie gekommen. Jetzt ging sie durch die eiserne Tür in den Gang hinein, und als er allmählich nach rechts abbog, zündete sie ihre Kerze an und schaute sich um.
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Hier war es gestattet, Licht zu machen. Sie hatte das Untergrab verlassen. Sie befand sich jetzt an einem weniger heiligen, doch vielleicht fürchterlicheren Ort: sie war im Labyrinth. Nackte rauhe Felswände wölbten sich über ihr und umgaben sie in dem kleinen Lichtkreis. Es roch nach Verwesung. Vor und hinter ihr gähnte der schwarze Gang. Alle Gänge, die sie überquerte und durchschritt, waren gleich. Sie paßte sorgfältig auf und zählte alle Biegungen und Öffnungen, während sie sich Thars Anweisungen laut vorsagte, obwohl sie diese genau kannte. Sie konnte es sich nicht leisten, sich hier zu verirren. Im Untergrab und in den kleinen Gängen darum herum würden Kossil oder Thar oder auch Manan sie wiederfinden. Manan hatte sie ein paar Mal mit hinuntergenommen. Aber hier war noch keiner vor ihr gewesen: sie war die einzige. Es würde ihr wenig nutzen, wenn die anderen im Untergrab nach ihr rufen würden und sie eine halbe Meile weiter weg im Schneckengewinde irgendeines Gangs steckte. Sie stellte sich vor, wie sie das Echo ihrer Stimmen hörte, das die Gänge entlang hallte, wie sie versuchen würde, sie zu erreichen, aber, völlig verloren, würde sie sich nur noch weiter von ihnen entfernen. Sie konnte sich das so deutlich vorstellen, daß sie innehielt und sich einbildete, eine Stimme zu vernehmen, die nach ihr rief. Aber alles war still. Sie würde sich nicht verirren. Sie paßte scharf auf. Hier war ihr Reich, ihr eigenstes Gebiet. Die Mächte der Dunkelheit, die Namenlosen, würden ihre Schritte leiten, wie sie die Schritte jedes anderen Sterblichen, der sich ins Labyrinth wagte, irreführen würden. Das erste Mal ging sie nicht weit, aber doch weit genug, um dieses seltsame, bittere und zugleich angenehme Gefühl der Einsamkeit und der Unabhängigkeit zu verspüren, das in ihr stark wurde, das sie immer wieder zurücktrieb und doch jedes Mal etwas weiter zu gehen veranlaßte. Sie erreichte den Bemalten Raum und die Sechs Wege, folgte dem langen Außentunnel und drang durch das Gewirr der Gänge, die in den Knochenraum führten.
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»Wann wurde das Labyrinth gegraben?« fragte sie Thar, und die hagere, strenge Priesterin antwortete: »Herrin, ich weiß nicht. Niemand weiß es.« »Warum wurde es angelegt?« »Damit die Schätze der Gräber versteckt, und diejenigen, die versuchten, die Schätze zu stehlen, bestraft werden konnten.« »Alle Schätze, die ich gesehen habe, sind in den Räumen hinter dem Thron und in den Kellern darunter. Was ist im Labyrinth?« »Ein viel größerer und viel älterer Schatz. Will meine Herrin ihn anschauen?« »Ja.« »Nur sie kann dort eintreten, wo sich die Schätze der Gräber befinden. Ihre Diener können das Labyrinth betreten, aber nicht die Schatzkammer. Selbst Manan würde den Zorn der dunklen Mächte erwekken und das Labyrinth nicht wieder lebendig verlassen. Dorthin muß meine Herrin immer allein gehen. Ich weiß, wo sich der große Schatz befindet. Vor fünfzehn Jahren, bevor sie gestorben ist, hat mir meine Herrin den Weg beschrieben, damit ich ihn im Gedächtnis behalte und ihn ihr wieder vorsage, wenn sie zurückkehrt. Ich kann den Weg beschreiben, der vom Bemalten Raum ausgeht, und der Schlüssel zum Schatz ist dieser da, der kleine silberne, mit dem Drachen am Griff. Aber meine Herrin muß allein gehen.« »Wie erreicht man die Schatzkammer?« Thar beschrieb ihr den Weg, und sie erinnerte sich wieder, wie sie sich an alles erinnerte, das man ihr sagte. Aber sie ging nicht zu dem großen Schatz der Gräber. Etwas hielt sie zurück. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als sei sie noch nicht bereit dazu, als fehle ihrem Wissen noch etwas. Vielleicht wollte sie auch nur etwas in Reserve behalten, etwas, worauf sie sich freuen konnte, das die endlosen, unterirdischen Gänge, die im Dunkel lagen und immer nur an eine leere Wand oder in eine verstaubte leere Kammer führten, in ein interessanteres Licht rückten. Sie beschloß, noch eine Weile zu warten, bevor sie den Schatz aufsuchte. Und zudem — hatte sie nicht alles schon einmal gesehen?
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Es berührte sie immer noch seltsam, wenn Thar oder Kossil von Dingen sprachen, die sie angeblich gesehen oder gesagt hatte, bevor sie starb. Sie wußte, daß sie wirklich gestorben war und zur Stunde ihres Todes in einem anderen Körper wiedergeboren wurde: dies hatte sich nicht nur einmal, vor fünfzehn Jahren, zugetragen, sondern auch vor fünfzig Jahren und davor und wieder davor, durch die Generationen hindurch bis zum Beginn der Zeitrechnung, bis zu der Zeit, als das Labyrinth gebaut und die Steine errichtet worden waren und die Erste Priesterin der Namenlosen an dieser Stätte waltete und vor dem Leeren Thron tanzte. Alle diese Leben waren im Grunde nur ein einziges Leben, und sie war ein Teil davon. Sie war die Erste Priesterin. Alle Menschen werden wiedergeboren, aber nur sie, Arha, wird immer wieder als die gleiche wiedergeboren. Hunderte von Malen hatte sie die Gänge und Windungen des Labyrinths kennengelernt und war zu dem verborgenen Raum gelangt. Manchmal kam es ihr vor, als erinnere sie sich daran. Die dunklen Stätten unter dem Hügel waren ihr so vertraut, als seien sie nicht nur ihr Reich, sondern auch ihr Heim. Wenn sie die betäubenden Dämpfe der Krauter einatmete und in der dunklen, mondlosen Nacht tanzte, fühlte sie, wie sie immer schwereloser wurde, wie ihr Körper von einem anderen Willen geleitet wurde und sich bewegte; sie tanzte dann durch die Jahrhunderte, barfuß, schwarzgekleidet — und sie wußte, daß dieser Tanz nie ein Ende genommen hatte. Doch es berührte sie immer wieder seltsam, wenn Thar sagte: »Bevor meine Herrin starb, sagte sie mir ...« Einmal hatte sie gefragt: »Wer waren diese Männer, die kamen, um die Gräber zu berauben? War es je einem gelungen?« Die Vorstellung von Raub faszinierte sie, aber es kam ihr gleichzeitig auch unwahrscheinlich vor. Wie konnte es einem Menschen gelingen, unbemerkt an die Stätte zu gelangen? Pilger gab es nur sehr wenige, noch weniger als Gefangene. Ab und zu wurden neue Novizen oder Sklaven von den weniger bekannten Tempeln in den vier Landen angefordert, oder ein paar Leute kamen und brachten Gold oder seltene Spezereien als Gabe für einen der Tempel. Sonst kam niemand. Nie kam jemand aus Zufall hierher oder zur Besichti-
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gung oder um etwas zu kaufen und zu verkaufen oder um zu stehlen. Leute kamen nur auf Bestellung hierher. Arha wußte nicht einmal, wie weit es bis zur nächsten Stadt war, ob es zehn Meilen waren oder mehr; und die nächste Stadt war zudem noch klein. Die Verteidigung und Bewachung der Stätte bestand in ihrer geographischen Lage, in ihrer Isolation, in ihrer Leere. Sollte irgend jemand versuchen, ungesehen die Wüste, die sie ringsum umgab, zu durchqueren, so waren seine Chancen, nicht gesehen zu werden, ungefähr so groß wie die eines schwarzen Schafes, das sich auf ein Schneefeld wagt. Arha war mit Thar und Kossil zusammen, was immer häufiger geschah, wenn sie sich nicht im Kleinhaus oder unter dem Hügel aufhielt. Es war ein kalter Aprilabend, draußen stürmte es. Sie saßen in Kossils Zimmer, einem kleinen Raum hinter dem Tempel des Gottkönigs, um ein winziges Feuer aus getrocknetem Salbeikraut herum. Vor der Tür, im Gang, saßen Manan und Duby und spielten ein Spiel mit Stäben und Spielmarken, bei dem man ein Bündel Stäbe hochwirft und versucht, so viel Stäbe wie möglich mit dem Handrücken aufzufangen. Manan und Arha spielten es ab und zu heimlich, wenn sie sich allein im Innenhof des Kleinhauses befanden. Das Rascheln der Stäbe, das Murmeln der Stimmen, die Triumph oder Enttäuschung ausdrückten, und das leise Prasseln des Feuers waren die einzigen Geräusche, die man vernehmen konnte, wenn die drei Priesterinnen schwiegen. Die tiefe Stille der Wüstennacht lag überall außerhalb der Mauern. Böige Winde brachten hin und wieder kurze, heftige Regenschauer. »Viele haben versucht, die Gräber zu berauben«, sagte Thar. »Aber das ist nun schon lange her, und es ist keinem gelungen.« Obwohl sie von Natur aus schweigsam war, so war sie doch gelegentlich bereit, eine Geschichte zu erzählen, besonders, wenn sie diese mit einer Belehrung für Arha verknüpfen konnte. An jenem Abend sah es so aus, als würde eine Geschichte zum Besten gegeben werden. »Wie konnten sie es wagen?« »Sie haben es gewagt«, sagte Kossil. »Hexenmeister, Zauberer der Innenländer waren es. Das trug sich zu, noch bevor der Gottkönig über das Kargadreich herrschte, damals waren wir noch nicht so mächtig. Die
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Zauberer kamen vom Westen nach Karego-At und Atuan gesegelt, plünderten die Städte an der Küste und verwüsteten die Bauernhöfe, selbst bis in die heilige Stadt Awabad sind sie gedrungen. Sie behaupteten, daß sie nur gekommen seien, um Drachen zu töten, aber in Wirklichkeit blieben sie hier, um Städte und Tempel auszuplündern.« »Und ihre großen Helden kamen zu uns, um die Schärfe ihrer Schwerter zu erproben«, sagte Thar, »und um ihre ruchlosen Zaubersprüche zu wirken. Einer von ihnen, ein mächtiger Zauberer und ein Drachenfürst, der größte unter ihnen, ließ hier sein Leben. Das trug sich vor langer, langer Zeit zu, aber die Geschichte lebt weiter — und nicht nur hier. Der Name des Zauberers war Erreth-Akbe, und er war ein König und ein Zauberer des Westens. Er kam hierher, und in Awabad verbündete er sich mit einigen rebellierenden Fürsten des Landes, und dann kam es zu einem Kampf mit dem Hohepriester des höchsten Tempels der Zwillingsgötter. Sie haben lange miteinander gekämpft, Zauberkraft gegen Götterblitze, und der ganze Tempel und viel ringsum wurde zerstört. Aber endlich zerbrach der Hohepriester den Zauberstab von Erreth-Akbe und das Amulett, das ihm Macht verlieh, und damit hatte er ihn besiegt. Aber er entfloh aus der Stadt und aus Kargad und flüchtete über die Erdsee, bis er in den fernen Westen kam; dort wurde er von einem Drachen getötet, denn seine Macht war dahin. Von diesem Tag an nimmt die Macht und Stärke der Innenländer ständig ab. Der Hohepriester hieß Intathin, er war der erste aus dem Hause Tarb, das, in Erfüllung der Prophezeiungen und nach Ablauf der Jahrhunderte, die Priesterkönige von Karego-At hervorgebracht hat, von denen die Gottkönige des Kargadreiches abstammen. Man kann also sagen, daß beginnend mit Intathin die Größe und Macht des Kargadreiches gewachsen ist. Diejenigen, die gekommen sind, um die Gräber zu plündern, das waren Zauberer, die immer und immer wieder versuchten, das zerbrochene Amulett von Erreth-Akbe zurückzugewinnen. Aber es ist noch immer hier, wo es vom Hohepriester zur Aufbewahrung und zur Sicherheit hergebracht wurde. Und ihre Gebeine sind auch noch da ...« Thar deutete auf den Boden zu ihren Füßen. »Die Hälfte davon ist da«, sagte Kossil.
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»Und die andere Hälfte ist für immer verschollen.« »Wieso verschollen?« fragte Arha. »Die eine Hälfte, die in Intathins Hand war, wurde dem Schatzmeister der Gräber übergeben, damit er sie auf alle Ewigkeit sicher hier aufbewahre. Die andere Hälfte behielt der Zauberer in seiner Hand, aber bevor er floh, gab er sie einem der kleineren Könige, der auch zu den Rebellen gehört hatte, einem gewissen Thoreg von Hupun. Ich weiß nicht, warum er das tat.« »Um Streit zu provozieren, um Thoreg hoffärtig zu machen«, sagte Kossil. »Und das hat er auch erreicht. Die Nachkommen von Thoreg haben wieder rebelliert, als das Haus der Tarb an die Regierung kam. Sie griffen wieder zu ihren Waffen gegen den ersten Gottkönig und weigerten sich, ihm den Treueeid zu leisten und ihn als König oder Gott anzuerkennen. Das war ein verfluchtes, verzaubertes Geschlecht! Aber jetzt sind sie alle tot.« Thar nickte. »Der Vater unseres jetzigen Gottkönigs, der Herrscher-derwiedererstanden-ist, hat das ganze Geschlecht der Hupun ausgerottet und ihren Besitz zerstört. Seitdem das vollbracht wurde, ist die andere Hälfte des Amuletts, die seit den Tagen von Erreth-Akbe und Intathin in der Familie Hupun war, verschwunden. Niemand weiß wohin. Und all das trug sich vor einer Generation zu.« »Es wurde bestimmt als Kehricht weggeworfen«, sagte Kossil. »Man sagt, daß der Ring von Erreth-Akbe nach nichts aussieht, seinen Wert sieht man ihm überhaupt nicht an. Der verwünschte Ring und das verruchte Zaubervolk!« Kossil spuckte angewidert ins Feuer. »Haben Sie die Hälfte, die wir hier haben, gesehen?« wandte sich Arha fragend an Thar. Die hagere Frau schüttelte den Kopf. »Sie befindet sich in dem Schatz, den niemand, außer der Einen Priesterin, sehen darf. Es ist gut möglich, daß dies der größte aller vorhandenen Schätze ist. Ich bin nicht sicher, aber ich vermute es fast. Seit Hunderten von Jahren werden Diebe und Zauberer von den Innenländern hierhergeschickt, damit sie die Ringhälfte stehlen, und die gingen an offenen Truhen voll Gold und Juwelen vorbei, ohne etwas anzurühren, nur dieses eine Ding suchten sie. Es ist
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jetzt schon lange her, seit Erreth-Akbe und Intathin gelebt haben, doch die Geschichte lebt noch weiter und wird heute noch erzählt, sowohl hier als auch im Westen. Die meisten Dinge werden alt im Verlaufe der Jahre, und man hört nichts mehr von ihnen. Nur ganz wenige Dinge behalten ihren Wert und nur ganz wenige Geschichten werden immer wieder erzählt.« Arha grübelte eine Weile vor sich hin, dann sagte sie: »Das müssen entweder sehr mutige oder sehr dumme Männer gewesen sein, die sich in die Gräber gewagt haben. Wissen die denn nicht um die Macht der Namenlosen?« »Nein«, erwiderte Kossil kalt. »Die haben keine Götter. Und sie achten die Götter nicht. Die können Zauberei wirken und halten sich selbst für Götter. Aber sie sind es nicht. Und wenn sie sterben, so werden sie nicht wiedergeboren. Sie zerfallen zu Asche und Knochen, und ihr Geist heult ein bißchen im Wind, bevor er fortgeblasen wird. Sie haben keine unsterbliche Seele.« »Aber was ist das für eine Magie, die sie wirken können?« fragte Arha voll Interesse. Sie erinnerte sich nicht mehr an ihre eigenen, vor einigen Jahren geäußerten Worte, daß sie sich abwenden und weigern würde, Schiffen aus den Innenländern nachzuschauen. »Wie machen sie das? Was können sie tun?« »Trickspielereien, Vorspiegelungen, Gaukeleien«, Kossil zuckte verächtlich die Achseln. »Es muß schon etwas mehr sein, wenn die Geschichten nur halbwegs wahr sind«, sagte Thar. »Die Zauberer im Westen können Wind aufbringen und ihn wieder stillen, und sie können ihn in jeder Richtung blasen lassen. Das sagen alle, und alle stimmen damit überein. Deswegen sind sie auch so ausgezeichnete Seefahrer, denn sie können einen magischen Wind in ihre Segel zaubern und hinfahren, wohin sie wollen, und den Stürmen des Meeres können sie trotzen und ihnen gebieten, ruhig zu sein. Und man sagt auch, daß sie Licht herbeibringen können, und auch Dunkelheit können sie herbeizaubern, und Steine können sie zu Diamanten und Blei zu Gold machen; daß sie im Handumdrehen eine ganze Stadt oder einen Palast herbeizaubern können, wenigstens illusi-
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onsweise, und sich selbst in Bären, Fische, Drachen oder sonst etwas verwandeln können, habe ich auch gehört.« »All das glaube ich nicht«, sagte Kossil. »Daß sie gefährlich und verschlagen sind mit ihren Tricks, schlüpfrig wie Aale, ja, das glaube ich. Aber man sagt, daß sie — wenn man ihnen den hölzernen Stab wegnimmt — überhaupt keine Macht mehr haben. Wahrscheinlich haben sie unheilvolle Runen hineingeritzt.« Thar schüttelte wiederum den Kopf. »Stimmt, sie tragen einen Stab mit sich, aber das ist nur ein äußeres Zeichen der Macht, die sie innerlich besitzen.« »Aber wie bekommen sie diese Macht?« fragte Arha. »Woher stammt sie?« »Von Lügen«, Kossil sprach mit Überzeugung. »Von Worten«, sagte Thar. »Das hat mir einer gesagt, der einem großen Zauberer der Innenländer — sie nennen sie Magier — zugeschaut hat. Sie haben ihn im Westen gefangen genommen, als sie dort auf einem Beutezug waren. Er zeigte ihnen einen dürren Zweig und sprach ein Wort darüber. Und siehe da — er blühte! Und dann sprach er ein anderes Wort, und siehe da — er trug reife Äpfel! Und dann sprach er noch ein Wort — und Stock, Blüten und Äpfel, alles verschwand, und der Zauberer dazu. Ein Wort nur hatte genügt, und er war verschwunden, wie ein Regenbogen verschwindet, wie ein Augenaufschlag vorübergeht, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie haben ihn nie wieder auf dieser Insel gefunden. Nun, ist das nur Gaukelei?« »Es ist leicht, Narren zu narren«, erwiderte Kossil. Thar sagte nichts darauf, um keinen Streit aufkommen zu lassen, aber Arha ließ das Thema nur widerwillig fallen. »Wie sieht denn das Zaubervolk aus?« fragte sie. »Sind sie wirklich überall ganz schwarz, mit weißen Augen?« »Sie sind schwarz und verdorben. Ich habe noch keinen gesehen«, sagte Kossil mit Genugtuung, und sie verlagerte ihr Gewicht auf dem Schemel und streckte ihre Hände gegen das Feuer. »Mögen die Zwillingsgötter sie fernhalten«, murmelte Thar.
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»Sie werden nie wieder hierherkommen«, sagte Kossil, und das Feuer prasselte vor ihnen, und der Regen prasselte auf das Dach, und draußen auf dem düsteren Flur schrie Manan mit schriller Stimme: »Aha! Ich bekomme die Hälfte! Die Hälfte!«
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LICHT UNTER DEM HÜGEL
ALS DAS JAHR sich seinem Ende zu neigte, starb Thar. Im Sommer hatte sie begonnen, über eine Schwäche zu klagen, die nicht weichen wollte und an ihrer Gesundheit zehrte. Sie, die stets hager gewesen war, magerte nun zum Skelett ab; sie, die früher verschlossen gewesen war, redete nun überhaupt nicht mehr. Nur mit Arha sprach sie noch gelegentlich, wenn sie allein miteinander waren, und dann hörte selbst das auf, und schweigend ging sie in das Land der ewigen Dunkelheit ein. Als sie für immer gegangen war, merkte Arha, wie sehr sie ihr fehlte. Wohl war sie streng gewesen, aber weh getan hatte sie keinem. Sie hatte sich bemüht, in Arha Stolz zu erwecken, und ließ keine Furcht aufkommen. Jetzt war nur noch Kossil übrig. Im Frühling sollte eine neue Hohepriesterin aus Awabad in den Tempel der Zwillingsgötter kommen; bis dahin teilten sich Kossil und Arha die Leitung und Verwaltung der Stätte. Die Frauen nannten das Mädchen »Herrin« und führten aus, was Arha befahl. Doch Arha lernte bald, Kossil keine Anweisungen zu erteilen. Zwar hatte sie das Recht dazu, doch fehlte ihr die Macht. Viel Stärke wäre nötig gewesen, um Kossil herumzukommandieren, denn sie war neidisch auf jeden, der höher stand als sie, und sie haßte alles, was sie nicht unter ihrer Fuchtel hatte. Seit Arha (von der sanften Penthe) gelernt hatte, daß Unglauben existiert, und seitdem sie es als Möglichkeit akzeptiert hatte — obwohl sie dies tief beunruhigte —, sah sie Kossil in einem neuen Licht und verstand sie besser. Kossil huldigte den Namenlosen und den Göttern nicht aus voller innerer Überzeugung. Nur Macht war ihr heilig, sonst nichts. Die Herrscher des Kargadreiches hielten diese Macht in ihren Händen und
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waren deshalb, in Kossils Augen, wahre Gottkönige und ihres, Kossil, Dienstes gewiß. Die Tempel jedoch waren für sie nichts als Äußerlichkeiten, die Grabsteine bloße Felsen und die Gräber von Atuan nichts als Löcher im Boden, die zwar erschreckend, doch sonst leer waren. Läge es in ihrer Macht, so würde sie die Verehrung des Leeren Thrones abschaffen. Und wenn sie könnte, so würde sie die Erste Priesterin ebenfalls verschwinden lassen. Es dauerte eine geraume Zeit, aber schließlich war Arha so weit, daß sie all diese Vermutungen als gegeben hinnahm. Vielleicht hatte ihr Thar geholfen, dies zu erkennen, obwohl sie nie direkt darüber gesprochen hatte. Als ihre Krankheit noch im ersten Stadium war, hatte sie Arha gebeten, alle paar Tage zu ihr zu kommen und mit ihr zu reden. Sie hatte ihr viel über den Gottkönig und seine Vorgänger erzählt, und was in Awabad vor sich ging — Dinge, die sie als Hohepriesterin wissen mußte, die aber nicht immer schmeichelhaft für den Gottkönig und seinen Hof waren. Manchmal erzählte sie auch aus ihrem eignen Leben und beschrieb, wie die vorherige Arha ausgesehen und was sie alles unternommen hatte. Manchmal — nicht oft — verweilte sie bei den Gefahren und Schwierigkeiten, die Arha in ihrem jetzigen Leben erwarten würden. Nie erwähnte sie Kossil mit Namen, aber Arha war elf Jahre lang Thars Schülerin gewesen, und ein Blick, ein Ton genügten, um den tieferen Sinn ihrer Worte zu begreifen und im Gedächtnis zu behalten. Nachdem die bedrückenden Rituale der Trauer abgeschlossen waren, versuchte Arha, Kossil aus dem Wege zu gehen. Wenn die langen Arbeiten und Rituale des Tages vorbei waren, zog sich Arha in ihr Haus zurück, und wenn sie Zeit übrig hatte, ging sie in das Zimmer hinter dem Thron, öffnete die Falltür und stieg hinunter in die Dunkelheit. Es war gleich, ob es draußen Tag oder Nacht war, dort unten war es immer dunkel. Sie hatte begonnen, ihr unterirdisches Reich systematisch zu erforschen. Das Untergrab, das heiligste der Heiligtümer, war jedem verboten, nur Priesterinnen und ihre vertrautesten Eunuchen durften hier eintreten. Jeder andere, ob Mann oder Frau, würde vom Fluch der Namenlosen niedergeschmettert werden. Aber unter all den Regeln fand sie keine, die den Zutritt zum Labyrinth untersagte. Das war auch
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nicht nötig. Es konnte nur vom Untergrab aus betreten werden. Und außerdem — war es nötig, einer Fliege zu verbieten, ins Netz einer Spinne zu fliegen? Diese Überlegungen führten sie dazu, Manan öfter mit hinunter ins Labyrinth zu nehmen, damit er lerne, sich wenigstens in den näherliegenden Gängen auszukeimen. Er hatte überhaupt keine Lust dazu, dorthin mitzugehen, aber wie in allem, so gehorchte er ihr auch darin. Sie ergewisserte sich auch, ob Duby und Uahto, Kossils Eunuchen, ebenfalls den Weg in den Kettenraum und den Weg aus dem Untergrab heraus wußten, aber mehr zeigte sie ihnen nicht. Sie wollte nicht, daß irgend jemand, außer Manan, der ihr treu ergeben war, die geheimen Gänge kannte. Denn die waren ihr Eigentum in alle Ewigkeit. Sie hatte mit der Gesamterforschung des Labyrinths begonnen. Den ganzen Herbst verbrachte sie damit, und manche Tage lang durchmaß sie diese endlosen Gänge, und noch immer stieß sie auf gewisse Abschnitte, die ihr neu und fremd waren. Es war ermüdend, dieses ganze, riesige, nutzlose Gewirr von Gängen zu erforschen, ihre Beine taten ihr weh und ihr Geist langweilte sich von dem dauernden Zählen der Ecken und Durchgänge, die bereits hinter und noch vor einem lagen. Es war im Grunde eine meisterhafte Anlage, die sich durch das Felsgestein wie das Straßennetz einer großen Stadt zog, aber es war so angelegt, daß es jeden Sterblichen ermüden und verwirren würde, und selbst die Priesterin mußte am Ende zur Erkenntnis gelangen, daß es nichts weiter war als eine Riesenfalle. Im Verlauf des Winters wandte sie sich daher immer mehr der Erforschung der Thronhalle zu, den Altären, den Nischen hinter und unter den Altären, den Zimmern voller Truhen und Kästen, und dem Inhalt dieser Truhen und Kästen; sie erforschte die Flure und Speichergewölbe, das staubige Rund unter der Kuppel, in dem Hunderte von Fledermäusen hausten, die Kellergewölbe, die untereinander lagen und ihr wie die Vorgemächer der Dunkelheit selbst erschienen. Ihre Hände und Ärmel von süßlich riechendem Moschus parfümiert, der acht Jahrhunderte lang in einer eisernen Truhe gelagert und zu Staub zerfallen war, ihre Stirn von dunklen Spinnweben umflort, die
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sich nicht wegwischen ließen, so kniete sie oft stundenlang und betrachtete die wunderbaren Schnitzereien an einer Truhe aus Zedernholz, die vor langer Zeit als Gabe für die Namenlosen von irgendeinem König hierhergebracht worden waren. Hier konnte man den König erkennen, eine kleine, steife Gestalt mit einer großen Nase, und dort war die Thronhalle mit der flachen Kuppel und dem Portal mit den Säulen, das in kunstvollen Reliefs von einem Künstler geschnitzt worden war, der schon seit Hunderten von Jahren zu Staub zerfallen war. Und hier konnte man die Eine Priesterin erkennen, die den betäubenden Duft der Krauter einatmete, die in den Bronzeschalen brannten, und die einen König beriet oder ihm etwas prophezeite, dessen Nase auf diesem Bild abgebrochen war. Das Gesicht der Priesterin war zu klein, um ihre Züge zu erkennen, aber Arha stellte sich vor, daß es ihre eigenen Gesichtszüge waren. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie dem König mit der großen Nase gesagt hatte, und ob er dankbar gewesen war. Sie hatte Lieblingsplätze in der Thronhalle, wie man Lieblingsplätze in einem sonnigen Haus haben konnte. Oft begab sie sich in einen der kleinen, halbhohen Speicher im hinteren Teil der Halle. Dort befanden sich uralte Gewänder und Kostüme noch aus der Zeit, da mächtige Könige und Fürsten hierher an die Gräberstätte gekommen waren, um ihre Ehrfurcht zu bezeugen und um darzutun, daß dies eine Stätte war, die größer war als ihr eigenes Reich, größer als jedes Menschenreich. Manchmal waren Prinzessinnen mitgekommen, die weiche, weiße, mit Topas und Amethyst bestickte Seidengewänder trugen und mit der Priesterin der Gräber tanzten. Unter einem der Schätze befanden sich kleine, bemalte Tischchen aus Elfenbein, die solch einen Tanz darstellten, und außerhalb des Saales warteten Fürsten und Könige, denn damals wie heute war es keinem Mann gestattet, die Thronhalle zu betreten. Doch die Mädchen durften hereinkommen, und in weiße Seide gehüllt tanzten sie mit der Priesterin. Die Priesterin trug ein grobgewebtes, schwarzes Gewand, auch das war gleich geblieben. Doch es gefiel Arha, den süßlich duftenden, weichen Stoff, der halb zerfallen war vom Alter, anzufassen und die Juwelen, gleichbleibend in ihrer Schönheit, zu betrachten, die, zu schwer geworden längst für das brüchige Gewebe,
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zum Teil abgefallen waren. Von diesen Gewändern ging ein anderer Geruch aus als der Moschus- und Weihrauchduft, der in den Tempeln hing: er war frischer, jünger, weniger stark. In den Schatzkammern konnte sie ganze Nächte verweilen und sich mit dem Inhalt einer einzigen Truhe vertraut machen. Sie betrachtete Edelstein nach Edelstein, die verrosteten Rüstungen, die brüchigen Federbüsche der Helme, die Gürtelschnallen, Broschen und Nadeln, manche aus Bronze, andere aus Silber und andere aus reinem Gold. Die Eulen, die sich durch sie nicht stören ließen, blieben auf den Dachbalken hocken und öffneten und schlössen ihre gelben Augen. Schwaches Sternenlicht schimmerte zwischen den Ziegeln des Daches, und Schnee fand seinen Weg durch das beschädigte Dach und fiel als feiner Staub herab, wie die uralte Seide, die in ihrer Hand zu nichts zerfiel. Es war in einer Nacht im späten Winter, als es ihr zu kalt wurde im Thronsaalgebäude. Sie ging zu der Falltür, hob sie hoch, schwang sich auf die Stufen und schloß sie wieder über sich. Geräuschlos machte sie sich auf den Weg, den sie so gut kannte, den Zugang zum Untergrab. Dorthin nahm sie selbstverständlich nie ein Licht mit. Wenn sie eine Laterne mit sich trug, die sie im Labyrinth angezündet hatte, oder die ihr den Weg durch die Nacht außerhalb gewiesen hatte, so versäumte sie nie, diese auszulöschen, bevor sie das Untergrab betrat. Noch nie, in all den Generationen ihrer Priesterwürde, hatte sie dieses Gewölbe gesehen. Als sie sich jetzt im Gang zum Untergrab befand, blies sie ihre Kerze in der Laterne aus, die sie mit sich trug, und ohne ihre Schritte zu verzögern, ging sie in die pechrabenschwarze Finsternis hinein, so sicher wie ein kleiner Fisch im dunklen Wasser. Ob Winter oder Sommer, hier gab es weder Hitze noch Kälte: es war immer gleich kühl, immer gleich feucht, jahraus, jahrein. Draußen, über ihr, fegten die großen, kalten Winterstürme feinen Schnee über die Wüste, hier drunten spürte man keinen Wind, keine Jahreszeit, alles war nahe, ruhig und sicher. Sie war auf dem Weg zum Bemalten Raum. Manchmal hatte sie Lust, dorthin zu gehen und die Wandbilder zu betrachten, die beim Schein ihrer Laterne aus der Dunkelheit plötzlich ins Auge sprangen: sie zeigten
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Männer mit langen Flügeln und großen Augen, die nachdenklich und tiefernst dreinblickten. Kein Mensch konnte ihr sagen, was sie darstellten, nirgends an der Stätte sah man ähnliche Bilder, aber sie bildete sich ein, daß sie es wußte: das waren die Geister der Verdammten, die Geister derjenigen, die nicht wiedergeboren wurden. Da der Bemalte Raum sich im Labyrinth befand, mußte sie das große Gewölbe unter den Gräbern durchqueren. Als sie sich ihm, den abfallenden Gang entlang schreitend, näherte, sah sie ein schwaches Grau, die zaghafte Andeutung, das Echo eines Echos, eines fernen Lichtes. Sie glaubte erst, daß ihre Augen sie narrten, wie sie es öfters in der absoluten Dunkelheit taten. Sie schloß sie, und das schwache Licht verschwand. Sie öffnete sie, und es war wieder da. Sie hielt an und blieb stehen. Grau, nicht Schwärze, umgab sie. Ein feiner Schimmer, kaum wahrnehmbar, dort, wo nichts wahrnehmbar hätte sein dürfen, wo alles schwarz sein mußte. Sie machte ein paar Schritte vorwärts und griff mit ihrer Hand nach der Ecke des unterirdischen Gangs – und ganz undeutlich sah sie die Bewegung ihrer eigenen Hand. Sie ging weiter. Dies war so unglaublich, daß es undenkbar war, daß es die Furcht selbst erstickte, dieses schwächste aller Lichter dort, wohin noch nie ein Lichtstrahl gefallen war, im innersten Grab der Dunkelheit. Bei der letzten Krümmung des Gangs hielt sie inne, dann, ganz langsam, machte sie den letzten Schritt und schaute, und sah... ... sah das, was sie noch nie gesehen hatte, noch nie, obgleich sie schon in Hunderten von Leben hiergewesen war: die große, geschwungene Höhlung unterhalb der Gräber, nicht von Menschenhand geschaffen, sondern von den Mächten dieser Erde selbst. Der Raum war mit Juwelen aus Kristall bedeckt und mit Spitzen geschmückt, ein Filigran aus silberweißem Kalkstein, geschaffen von den Wassern, die seit Äonen hier gewirkt hatten — riesig, mit glitzerndem Dach und Wänden, schimmernd, zerbrechlich, verschlungen, ein Palast aus Diamanten, ein Haus aus Amethyst und Kristall, aus dem die uralte, ewig lastende Dunkelheit von der überwältigenden Pracht vertrieben worden war.
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Nicht hell war dieses Licht, doch überwältigend für das an Dunkelheit gewöhnte Auge. Es war ein sanftes Leuchten, wie ein Licht, das über dem Moor liegt, das sich langsam dem Gewölbe entlang bewegte und in tausend glitzernden Funken das juwelengeschmückte Dach entlangsprühte, das tausend phantastische Schatten entlang der gemeißelten Wände warf. Das Licht brannte am Ende eines hölzernen Stabes, ohne zu rauchen, ohne etwas zu verzehren. Der Stab wurde von einer Menschenhand gehalten. Arha sah ein Gesicht neben dem Licht, ein dunkles Gesicht: das Gesicht eines Mannes. Sie rührte sich nicht. Wiederholt durchquerte er das riesige Gewölbe. Er bewegte sich so, als ob er etwas suche, schaute hinter die mit Spitzen verzierten, steinernen Wasserfälle und betrachtete die verschiedenen Passagen, die aus dem Untergrab hinausführten, doch er betrat sie nicht. Noch immer stand die Priesterin der Gräber in dem schwarzen Schatten des Gangs, wartend, ohne sich zu rühren. Das Schwerste für sie war vielleicht, daß sie einen Fremden sah. Sie hatte sehr wenige Fremde in ihrem Leben gesehen. Sie vermutete, daß dies einer der Wärter sein mußte — nein, wahrscheinlich war es einer der Männer von jenseits der Mauer, ein Ziegenhirte, oder einer der Posten, ein Sklave der Stätte, und er war gekommen, um die Geheimnisse der Namenlosen auszukundschaften, vielleicht, um etwas von den Gräbern zu stehlen. ... um etwas zu stehlen; um die Dunklen Mächte zu berauben; die Stätte zu entweihen, ein Sakrileg zu begehen. Sakrileg — das Wort nahm allmählich Form an in Arhas Gehirn. Dies war ein Mann, und keines Mannes Fuß durfte den Boden der Gräber, diesen geheiligten Ort, berühren. Und doch war er hierhergekommen in diesen ausgehöhlten Raum, hierher, in das Herz der Gräberstätte. Er hatte es betreten. Er hatte Licht angezündet, hier, wo es verboten war, Licht zu machen, wo nie, seit Beginn der Welt, Licht geschienen hatte. Warum blieben die Namenlosen stumm, warum zermalmten, zerschmetterten sie ihn nicht auf der Stelle?
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Er war stehengeblieben und schaute auf den felsigen Boden zu seinen Füßen, wo er aufgebrochen und umgeschichtet worden war. Man konnte sehen, daß man hier gegraben und wieder zugeschüttet hatte. Die sauer riechenden, unfruchtbaren Erdschollen, die man für das Grab aufgeworfen hatte, waren nicht alle wieder festgestampft worden. Ihre Gebieter hatten jene drei verzehrt. Warum verzehrten sie diesen hier nicht? Worauf warteten sie? Ihren Händen oblag es, zu handeln, ihrer Zunge oblag es, zu reden... »Geh! Geh! Verschwinde!« schrie sie plötzlich, von Erregung gepackt, laut aus. Mächtige Echos dröhnten und rollten durch das Gewölbe, schienen das erschrockene, dunkle Gesicht zu verwischen, das sich ihr zugewandt hatte, und das sie einen Augenblick lang quer über die aufgestörte Pracht der Höhlung hinweg wahrnahm. Dann erlosch das Licht. Die Pracht war verschwunden. Dunkelheit und Stille kehrten zurück. Jetzt konnte sie wieder denken. Der Bann, durch das Licht auferlegt, war gebrochen. Er mußte durch die Tür zwischen den roten Felsen, durch die Gefangenentür, hereingekommen sein, und er würde versuchen, durch die Tür wieder zu entfliehen. Behende und so lautlos wie eine leichtbeflügelte Eule eilte sie den Halbkreis des Gewölbes entlang zu dem niederen Gang, der zu der Tür führte, die sich nur nach innen öffnen ließ. Sie spürte keinen Luftzug, der von außen hereindrang. Er hatte die Tür nicht offenstehen lassen hinter sich. Sie war geschlossen, und wenn er sich im Gang befand, dann war er gefangen. Aber er war nicht in dem Gang. Sie war sich dessen gewiß. Es war hier so eng, daß sie seinen Atem vernommen, daß sie die Wärme, den Puls seines Lebens, gespürt hätte. Niemand war hier. Sie richtete sich voll auf und lauschte. Wo war er hingegangen? Die Dunkelheit legte sich ihr wie eine Binde über die Augen. Der Anblick des Untergrabes hatte sie verstört, sie war verwirrt. Sie kannte das Gewölbe nur durchs Gehör, durch den Tastsinn, von den schwachen Luftströmungen des Riesenraumes, der ein Geheimnis war und dem Auge für immer verschlossen bleiben sollte. Und sie hatte ihn gesehen! Das Geheimnis war gelüftet und kein Entsetzen offenbarte sich ihr, sondern eine
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überwältigende Schönheit, ein Geheimnis, das tiefer war als die Dunkelheit selbst. Langsam bewegte sie sich jetzt vorwärts, sie war unsicher, und ihre Gedanken überstürzten sich. Sie tastete nach links, den zweiten Eingang suchend, den Gang, der ins Labyrinth führte. Hier blieb sie stehen und lauschte. Ihr Gehör sagte ihr nicht mehr als ihre Augen. Aber als sie regungslos stand, mit ausgestreckten Händen den Eingang links und rechts berührend, fühlte sie ein schwaches, fast unmerkliches Vibrieren im Fels, und die kalte, verbrauchte Luft enthielt etwas, das ihr fremd war, das nicht hierhergehörte: den Geruch von wildem Salbei, der auf den Hügeln der Wüste wuchs, über ihr, unter dem freien, offenen Himmel. Langsam und lautlos schlich sie vorwärts, ihrer Nase folgend. Nach ungefähr hundert Schritten hörte sie ihn. Er war fast so lautlos wie sie, aber er bewegte sich nicht so sicher in der Dunkelheit, mit der sie vertraut war. Sie hörte ein ganz schwaches Schürfen, so als ob er sich an dem unebenen Boden gestoßen und sofort wieder gefangen hätte. Sonst vernahm sie nichts. Sie wartete eine Weile, dann ging sie langsam weiter, mit den rechten Fingerspitzen leicht die Wand berührend. Endlich spürte sie den gerundeten Metallstreifen unter den Füßen. Hier hielt sie inne und tastete den Metallstreifen hoch, streckte sich, so weit sie konnte, bis sie einen Griff zu fassen bekam, der aus dem Metall herausragte. Diesen hielt sie fest und zog ihn, plötzlich, mit ihrer ganzen Kraft nach unten. Ein furchtbares Rasseln ertönte, dann ein dumpfer Schlag. Blaue Funken fielen um sie nieder. Echos verhallten streitend im Gang hinter ihr. Sie streckte ihre Hände aus und fühlte, nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt, die beschlagene Oberfläche einer eisernen Tür. Sie atmete tief aus. Langsam folgte sie dem Gang, der zum Untergrab führte, und sich rechts haltend, kehrte sie zur Falltür hinter dem Thronsaal zurück. Sie beeilte sich nicht und ging leise, obwohl es nicht mehr nötig war, still zu sein. Sie hatte ihren Dieb gefangen. Die Tür, durch die er geschritten war,
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war die einzige, die ins Labyrinth hinein- und aus ihm herausführte. Und sie konnte nur von außen geöffnet werden. Jetzt war er dort unten, in der Dunkelheit unter der Erde, und er würde nie mehr herauskommen. Aufrecht und gelassen schritt sie am Thron vorbei und die lange, von Säulen flankierte Halle hinunter. Dort, wo sich auf einem hohen Dreifuß eine Bronzeschale voll glühender Kohle befand, wandte sie sich um und näherte sich den sieben Stufen, die zum Thron hinaufführten. Auf der niedersten Stufe kniete sie nieder und berührte mit ihrer Stirn den kalten, staubigen Stein, der von Mäuseknochen übersät war, die die Eulen hatten fallen lassen. »Vergebt mir, daß ich Zeuge war, wie Eure Dunkelheit zerstört wurde«, flehte sie, ohne die Worte laut zu sprechen. »Vergebt mir, daß ich Zeuge war, wie Eure Gräber geschändet wurden. Ihr werdet gerächt werden. Oh, meine Gebieter, der Tod wird ihn Euch übergeben, und er wird niemals wiedergeboren!« Doch noch während sie betete, sah sie vor ihrem geistigen Auge den herrlich schimmernden Glanz des leuchtenden Gewölbes, sah Leben an der Stätte des Todes, und anstatt Furcht wegen der Schändung und Zorn gegen den Verbrecher zu verspüren, mußte sie immer wieder daran denken, wie seltsam es war, wie seltsam ... »Was soll ich nun Kossil sagen?« fragte sie sich, als sie in den Wintersturm hinaus trat und ihren Umhang fester um die Schultern zog. » Nichts. Noch nichts. Ich bin die Herrin des Labyrinths. Das geht den Gottkönig nichts an. Vielleicht werde ich es ihr sagen, wenn der Dieb tot ist. Wie werde ich ihn töten? Ich sollte Kossil mitbringen und zuschauen lassen, wie er stirbt. Sie hat den Tod ja gern. Was hat er nur gesucht? Er muß wahnsinnig sein. Wie kam er nur hinein? Kossil und ich sind die einzigen, die einen Schlüssel für die Tür zwischen den roten Felsen und die Falltür besitzen. Er muß aber durch die Felsentür gekommen sein. Nur ein Hexenmeister kann die öffnen. Ein Hexenmeister...?« Sie erstarrte, obwohl der Wind sie fast umriß. »Er ist ein Hexenmeister, ein Zauberer aus den Innenländern, der das Amulett von Erreth-Akbe sucht.«
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Und dieser Gedanke war von solch einer unheimlichen Faszination, daß ihr trotz des eisigen Windes ganz warm wurde und sie laut auflachte. Die Stätte und die Wüste, die sie umgab, waren schwarz und still; der Wind heulte; kein Licht brannte im Großhaus; feiner, fast unsichtbarer Schnee trieb an ihr vorbei. »Wenn er die rote Felsentür aufgemacht hat, dann kann er auch andere Türen öffnen. Er kann entfliehen.« Der Gedanke rieselte ihr kalt durch die Glieder, aber er überzeugte sie nicht. Die Namenlosen hatten ihn eintreten lassen. Warum auch nicht? Er konnte kein Unheil anrichten. Welche Gefahr stellte ein Dieb dar, der die Stätte seines Verbrechens nicht verlassen konnte? Gewiß, er besaß die Macht, Zauber und Schwarze Magie zu wirken, und groß mußte seine Macht sein, denn er war weit gekommen. Aber weiter kam er nicht. Keine Zauberei eines Sterblichen konnte sich mit dem Willen der Namenlosen messen, mit denen, die in den Gräbern gegenwärtig waren, mit den Herrschern, deren Thron leer stand. Um sich dessen zu vergewissern, eilte sie zum Kleinhaus hinunter. Manan war eingeschlafen auf der Veranda. Er hatte sich in seinen Umhang und in die alte Pelzdecke gehüllt, die ihm als Winterbett diente. Sie trat leise ein, um ihn nicht aufzuwecken, und zündete keine Lampe an. Sie öffnete einen kleinen, verschlossenen Raum, nicht viel größer als ein Schrank, am Ende des Flurs. Dort schlug sie einen Funken, gerade lang genug, um eine gewisse Stelle am Boden zu finden, und sich niederkniend löste sie eine Kachel vom Boden. Ein kleines Stück grobes, schmutziges Gewebe, nur ein paar Zentimeter groß, lag unter ihren Fingern. Das schob sie lautlos zur Seite. Sie fuhr zurück, denn ein Lichtstrahl drang herauf, fiel ihr direkt ins Gesicht. Sie faßte sich und schaute dann, ganz vorsichtig, durch die Öffnung. Sie hatte vergessen, daß er dieses seltsame Licht am Ende seines Stabes hatte. Sie hatte höchstens erwartet, daß sie ihn dort unten in der Dunkelheit hören würde. Das Licht hatte sie vergessen, aber er stand dort, wo sie ihn erwartet hatte: direkt unter dem Guckloch, an der Eisentür, die den Ausgang aus dem Labyrinth versperrte.
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Da stand er, eine Hand leicht in die Hüfte gestemmt, mit der anderen, von sich weggestreckt, hielt er den hölzernen Stab, der so groß wie er selbst war und an dessen Spitze dieses kleine, magische Lichtlein schwebte. Sein Kopf, auf den sie aus zwei Metern Höhe herabschaute, war etwas zur Seite geneigt. Seine Kleidung war nicht anders als die eines Winterreisenden oder Pilgers, ein kurzer, warmer Umhang, ein Lederwams, Strümpfe aus Wolle und geschnürte Sandalen. Auf dem Rücken trug er einen kleinen Ranzen, an dem eine Wasserflasche baumelte, an der Seite ein Messer, das in einer Scheide steckte. Er stand regungslos da, wie eine Statue, aber entspannt und nachdenklich. Langsam hob er seinen Stab und hielt das helle Ende gegen die Tür, die Arha von ihrem Guckloch aus nicht sehen konnte. Das Licht veränderte sich, wurde kleiner und schien in durchdringender Helle. Die Sprache, die sie vernahm, kam Arha seltsam vor, doch noch seltsamer berührte sie die tiefe, wohlklingende Stimme. Das Licht am Stab veränderte sich wieder, flackerte und wurde schwächer. Im nächsten Augenblick war es erloschen, und sie konnte ihn nicht mehr sehen. Jetzt erschien wieder das schwache, violette, gleichmäßige Moorlicht, und sie sah, wie er sich von der Tür abwandte. Sein Öffnungszauber hatte versagt. Die Mächte, die das Schloß dieser Tür festhielten, waren stärker als alle Magie, über die er verfügte. Er schaute sich um und schien zu denken, was nun? Der Gang oder Flur, in dem er stand, war ungefähr eineinhalb Meter breit. Die Decke war ungefähr vier bis fünf Meter hoch über dem Boden. Die Wände waren aus behauenem Stein, aber ohne Zement gefügt, doch so sorgfältig und dicht gelegt, daß man kaum eine Messerspitze in die Fugen stecken konnte. Die Steine traten, je höher die Wand sich erstreckte, immer weiter heraus und formten eine Art Rundbogen. Sonst war nichts zu sehen. Er bewegte sich vorwärts. Ein Schritt ließ ihn bereits aus Arhas Blickfeld entschwinden. Das Licht verlor sich. Sie war gerade im Begriff, das Gewebe wieder zurückzuziehen und die Kachel an ihren Platz zu rücken, als
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der gedämpfte Lichtstrahl wieder herauffiel. Er war zur Tür zurückgekehrt. Vielleicht war ihm zu Bewußtsein gekommen, daß er die Tür, nachdem er sich ins Labyrinth begeben hatte, wohl schwerlich wieder erreichen würde. Er sprach nur ein einziges Wort, und seine Stimme klang gedämpft: »Ernenn«, sagte er, und noch einmal, lauter: »Ernenn!« Die eiserne Tür schüttelte sich knirschend in ihren Angeln, und dunkle Echos hallten den rundgewölbten Gang hinunter wie Donner. Es kam Arha vor, als zittere der Boden unter ihren Füßen. Aber die Tür blieb verschlossen. Er lachte kurz auf, wie ein Mann, der sich überlegt: »Wie konnte ich nur so dumm sein!« Er schaute sich noch einmal um, und als er aufblickte, sah Arha noch ein Lächeln auf dem dunklen Gesicht. Dann setzte er sich auf den Boden, nahm seinen Ranzen ab, holte ein trockenes Stück Brot heraus und begann daran zu kauen. Er machte seine Wasserflasche aus Leder auf und schüttelte sie. Sie sah leicht aus in seiner Hand, so als ob sie nahezu leer wäre. Er verschloß sie wieder, ohne zu trinken. Er legte den Ranzen hinter sich nieder. Den Stab hielt er in seiner rechten Hand. Als er sich hinlegte, löste sich das kleine Flämmchen von seinem Stab, schwebte hoch und hing als ein schwach leuchtender Lichtball hinter seinem Kopf, etwa einen halben Meter über dem Boden. Seine linke Hand lag auf der Brust und hielt etwas fest, das an einer schweren Kette um seinen Hals hing. Er lag ganz entspannt da, seine Füße waren verschränkt. Sein Blick glitt am Guckloch vorbei. Er seufzte und schloß die Augen. Das Licht wurde schwächer. Er schlief ein. Die geballte Hand auf seiner Brust entspannte sich und fiel herunter. Die Beobachterin am Guckloch sah den Talisman, den er an der Kette trug: ein kleines, einfaches Metallstück, das aussah, als sei es halbrund geformt. Das Glühlicht wurde schwächer und erlosch. Er lag in der Stille und Dunkelheit. Arha zog das Gewebe über das Loch zurück und paßte die Kachel wieder ein, erhob sich vorsichtig und schlüpfte in ihr Zimmer. Dort lag sie
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lange wach in der vom Brausen des Windes erfüllten Dunkelheit. Immer wieder trat der strahlende Glanz des kristallenen Gewölbes, das sie im Haus des Todes gesehen hatte, vor ihre Augen, das gedämpfte Licht, das nichts verbrannte, die Steine, die die Wand des Gangs bildeten, und das friedliche Gesicht des schlafenden jungen Mannes.
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DIE MENSCHENFALLE
AM NÄCHSTEN TAG, nachdem sie ihren Pflichten in den verschiedenen Tempeln nachgekommen war und die Novizen in den heiligen Tänzen unterrichtet hatte, schlüpfte Arha hinüber ins Kleinhaus, verdunkelte den Raum und spähte durch das Guckloch hinunter in den unterirdischen Gang. Kein Licht war zu sehen. Er war nicht mehr da. Sie hatte auch nicht erwartet, daß er so lange an der unbeweglichen Tür verweilen würde, aber es war der einzige Ort, an dem sie nach ihm Ausschau halten konnte. Wie konnte sie ihn jetzt finden, nachdem er sich selbst verloren hatte? Die Gänge des Labyrinths zogen sich, ihrer eigenen Erfahrung und Thars Berechnungen nach, in all ihren Windungen, Abzweigungen, Krümmungen, Spiralen und Sackgassen über eine Strecke von mehr als zwanzig Meilen dahin. Die Sackgasse, die am weitesten von den Gräbern entfernt lag, war, in direkter Linie gemessen, bestimmt nicht weiter als eine Meile entfernt. Aber kein Gang verlief gerade dort unten. Alle Gänge wanden, verbanden, trennten, verzweigten sich und zogen sich in verschnörkelten Bahnen dahin, die dort endeten, wo sie begonnen hatten. Einen richtigen Anfang und ein richtiges Ende gab es nicht. Man konnte dort unten gehen und immer weiter gehen und kam doch nirgends hin, denn es gab nichts, wohin man gelangen konnte. Das Labyrinth hatte keinen Mittelpunkt, kein Herz. Und wenn die Tür geschlossen war, so gab es kein Ende mehr. Keine Richtung war richtig. Obwohl sie die Wege und Wendungen zu den verschiedenen Räumen und Abschnitten fest im Gedächtnis hatte, hatte sie doch immer, wenn sie auf einen größeren Forschungsausflug ging, einen Knäuel feines Garn mitgenommen, das sich hinter ihr abspulte und das sie, bei der
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Rückkehr, wieder zu einem Knäuel wickelte. Denn sie brauchte nur einen der Durchgänge oder eine der Ecken vergessen zu zählen, dann wäre selbst sie verloren gewesen. Ein Licht nutzte nichts, denn es gab keine Anhaltspunkte dort unten. Alle Gänge, alle Durchgänge, alle Türen sahen gleich aus. Er konnte bereits meilenweit gelaufen sein und sich doch nur wenige Schritte von der Tür entfernt befinden, durch die er eingetreten war. Sie ging in die Thronhalle, in den Tempel der Zwillingsgötter und in den Keller unter den Küchenräumen, und als sie allein war, schaute sie durch jedes der Gucklöcher, die sich an diesen Orten befanden, aber sie sah nichts als dichte, kalte Dunkelheit. Als es Nacht wurde, eine bitterkalte, sternenklare Nacht, ging sie zu bestimmten Stellen am Hügel und hob gewisse Steine hoch, kratzte die Erde weg und spähte hinunter, aber auch hier sah sie nur sternenlose, unterirdische Dunkelheit. Er war dort unten. Er mußte dort unten sein. Und doch war er ihr entwichen. Er würde vor Durst umkommen, bevor sie ihn fand. Sie würde Manan hinunter ins Labyrinth schicken müssen, wenn sie sicher war, daß er nicht mehr lebte. Es war unerträglich, daran zu denken. Als sie im Sternenlicht am eiskalten Hügel kniete, stiegen ihr Tränen des Zornes in die Augen. Sie folgte dem Pfad, der den Hügel hinunter zum Tempel des Gottkönigs führte. Die vom Rauhreif bedeckten Säulen mit den geschnitzten Kapitellen schimmerten weiß im Licht der Sterne. Sie sahen aus wie Säulen aus Knochen. Sie klopfte an die Hintertür, und Kossil ließ sie eintreten. »Was führt meine Herrin hierher?« fragte die beleibte Frau, ihren kalten, lauernden Blick auf Arha gerichtet. »Priesterin, im Labyrinth befindet sich ein Mann.« Kossil stand wie vom Schlag gerührt; diese Nachricht kam unerwartet, damit hatte sie nicht gerechnet. Sie stand da und starrte Arha an. Ihre Augen schienen hervorzuquellen. Sie sah in diesem Augenblick so aus, wie Penthe sie versucht hatte nachzuahmen, und Arha mußte ihren ganzen Willen aufwenden, um ein schallendes Lachen zu unterdrükken.
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»Ein Mann? Im Labyrinth?« »Ein Mann, ein Fremder.« Dann, als Kossil sie weiterhin sprachlos und ungläubig anstarrte, fügte sie hinzu: »Ich weiß, wie ein Mann aussieht, obwohl ich nur wenige gesehen habe.« Kossil überhörte die Ironie. »Wie konnte ein Mann hierher gelangen?« »Durch Hexerei, glaube ich. Seine Haut ist dunkel, vielleicht kommt er von den Innenländern. Er kam, um die Gräber zu bestehlen. Ich habe ihn zuerst im Untergrab gefunden, unter den Grabsteinen. Er rannte zum Eingang des Labyrinths, als er meiner gewahr wurde, so als ob er sich dort unten auskenne. Ich schloß die eiserne Tür hinter ihm. Er versuchte, sie mit Magie zu öffnen, aber die Tür blieb verschlossen. Am Morgen ging er weiter ins Labyrinth hinein. Jetzt kann ich ihn nicht mehr finden.« »Hat er ein Licht?« »Ja.« »Wasser?« »Eine kleine Flasche nur, nicht voll.« »Seine Kerze wird längst niedergebrannt sein«, überlegte Kossil. »Vier bis fünf Tage, vielleicht sechs. Dann können meine Wärter hinuntergehen und den Leichnam herausholen. Das Blut sollte dem Thron geopfert werden und die...« »Nein«, unterbrach Arha sie mit erregter, schriller Stimme. »Ich möchte ihn lebendig festnehmen.« Die Priesterin blickte von ihrer gewichtigen Höhe herunter auf das Mädchen. »Warum?« »Um ... um sein Sterben hinauszuzögern. Er hat sich gegen die Namenlosen vergangen. Er hat das Untergrab durch Licht entweiht. Er kam, um die Schätze aus den Gräbern zu stehlen. Er muß schwerer bestraft werden, als nur in einem Gang sich niederlegen zu dürfen und zu sterben.« »Ja«, sagte Kossil und tat, als überlege sie etwas. »Aber wie will ihn meine Herrin fangen? Das ist eine riskante Sache. Mein Plan ist sicherer. Gibt es dort unten nicht irgendwo einen Raum voller Gebeine? Von Männern, die das Labyrinth betreten, aber nicht wieder lebendig verlassen
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haben? — Mögen ihn die Dunklen Mächte bestrafen, wie es ihnen richtig erscheint, auf die dunkle Art und Weise des Labyrinths. Der Tod des Verdurstens ist grausam.« »Ich weiß«, sagte das Mädchen und trat hinaus in die Nacht. Sie zog ihre Kapuze über den Kopf gegen den heftigen, bitterkalten Wind. Hatte sie es nicht gewußt? Es war kindisch und dumm von ihr gewesen, zu Kossil zu gehen. Von ihr konnte sie keine Hilfe erwarten. Kossil war unwissend, sie verstand nichts, für sie gab es nur ein kaltes Abwarten, bis der Tod eintrat. Sie sah nicht ein, daß der Mann gefunden werden mußte. Mit ihm durfte nicht das gleiche geschehen wie mit den anderen. Das konnte sie nicht mehr durchmachen. Da der Tod unvermeidlich war, mußte er rasch, und im Tageslicht, vollzogen werden. Es war ohne Zweifel angemessener, daß dieser Dieb, der erste Mensch seit Jahrhunderten, der mutig genug war, hierher zu kommen und die Gräber zu berauben, durch eine Schwertklinge hingerichtet wurde. Er hatte noch nicht einmal eine unsterbliche Seele, die wiedergeboren werden konnte. Sein Geist würde jammernd durch die Gänge entweichen. Es konnte nicht zugelassen werden, daß er dort unten am Durst starb. Arha schlief nur wenig in dieser Nacht. Der folgende Tag war mit Ritualen und Pflichten angefüllt. Die nächste Nacht verbrachte sie damit, ohne Laterne und lautlos von Guckloch zu Guckloch zu gehen, durch all die Gebäude und auf dem windigen Hügel. Schließlich ging sie zu Bett im Kleinhaus, zwei bis drei Stunden vor dem Morgengrauen, aber sie fand keinen Schlaf. Am Spätnachmittag des dritten Tages ging sie hinaus in die Wüste, gegen den Fluß zu, der jetzt, in der Trockenzeit des Winters, niedrig war. Eis hatte sich zwischen dem Schilf gebildet, und es war kalt. Es war ihr eingefallen, daß sie einmal, im Herbst, weit im Labyrinth herumgewandert war, am Sechserkreuz vorbei, und während sie einen langen, gekrümmten Gang entlangschritt, hatte sie hinter der Steinwand Wasser fließen hören. War nicht anzunehmen, daß ein vom Durst gepeinigter Mann, wenn er dorthin kam, dortblieb? Auch dort draußen gab es Gucklöcher. Sie mußte sie erst wieder suchen, auch wenn Thar ihr jedes einzelne gezeigt hatte letztes Jahr, und es fiel ihr nicht
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schwer, sie wiederzufinden. Ihr Erinnerungsvermögen für Örtlichkeiten war wie das eines Blinden: sie tastete eher nach den verborgenen Stellen, als daß sie ihre Augen benutzte. Beim zweiten Guckloch, das sich in einer flachen Vertiefung des Felsens befand und das am weitesten von den Gräbern entfernt war, sah sie, nachdem sie ihre Kapuze hochgezogen hatte, um das Licht abzuschirmen, unter sich das schwache Glühen des magischen Lichtleins. Er war dort unten, halb aus ihrem Blickfeld gerückt. Das Guckloch blickte direkt hinunter ans Ende der Sackgasse. Sie konnte nur seinen Rükken, seinen gebeugten Nacken und seinen rechten Arm wahrnehmen. Er saß nahe an der Ecke und bohrte mit seinem Messer, einem kurzen Dolch aus Stahl, mit einem verzierten und mit Edelsteinen besetzten Griff, an den Steinwänden herum. Die Spitze des Dolches war abgebrochen, der abgebrochene Teil lag direkt unter dem Guckloch. Er hatte es beschädigt, als er versuchte, die Steine auseinander zu zwängen, um an das Wasser zu gelangen, das er in der toten Stille unter der Erde auf der anderen Seite der undurchdringlichen Wand leise murmelnd dahinfließen hörte. Seine Bewegungen zeugten von Erschöpfung. Er war nach den drei Tagen und Nächten verändert, sah ganz anders aus, nicht mehr so kraftvoll und ruhig wie an der Eisentür. Aber er war noch immer hartnäkkig, obwohl seine Kräfte erlahmt waren. Kein Zauberspruch stand ihm zur Verfügung, der diese Steine zur Seite rücken konnte, er mußte sich auf das nutzlose Messer verlassen. Selbst sein magisches Licht war schwächer geworden. Während Arha hinschaute, flackerte das Licht auf, der Kopf des Mannes zuckte, und der Dolch fiel zur Erde. Doch er bückte sich sofort wieder danach und versuchte beharrlich, die zerbrochene Klinge zwischen die Steine zu bohren. Auf dem eiskalten Schilf an der Uferböschung liegend, ohne sich bewußt zu sein, wo sie war oder was sie tat, brachte Arha ihren Mund ans Guckloch und hielt ihre Hände wie einen Trichter davor, damit kein Laut entweichen konnte. »Zauberer!« sagte sie, und ihre Stimme schlüpfte die steinerne Kehle hinunter und flüsterte kalt im unterirdischen Gang.
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Der Mann schrak zusammen, sprang auf die Füße und entzog sich so ihrem Blickfeld. Sie brachte ihren Mund wieder ans Guckloch und sagte: »Geh den Gang am Fluß entlang, zurück bis zur zweiten Abzweigung, dort geh nach rechts, laß zwei Öffnungen aus, dann wieder rechts, dort, wo sich sechs Wege kreuzen, wähl den ganz rechts; dann links, dann rechts, dann links, dann rechts. Bleib im Bemalten Raum.« Als sie wieder hinunterschaute, mußte ein Lichtstrahl vom Tageslicht hinunter gelangt sein, denn er war wieder in ihr Blickfeld gerückt und starrte nach oben, gegen die Öffnung. Sein Gesicht, das irgendwelche Narben trug, war angespannt und aufmerksam. Seine Lippen waren ausgetrocknet und schwarz, doch seine Augen blickten hell. Er hob seinen Stab in die Höhe und brachte das Licht immer näher an ihre Augen. Erschreckt zog sie sich zurück, verschloß das Guckloch mit dem Stein und den anderen Tarnsteinen, erhob sich und ging hurtig zurück zur Stätte. Sie fühlte, wie ihre Hände zitterten und wie eine Schwäche sie überfiel, während sie den Weg entlanglief. Sie wußte nicht was sie tun sollte. Wenn er ihren Anweisungen folgte, dann würde er zurück in Richtung der eisernen Tür gehen und in den Bemalten Raum gelangen. Dort gab es nichts, es lag kein Grund vor, warum er dorthin gehen sollte. In der Decke des Bemalten Raumes war ein Guckloch, ein gutes, das sich in der Schatzkammer des Tempels der Zwillingsgötter befand. Vielleicht hatte sie ihn deshalb dorthin gewiesen. Sie wußte es nicht. Warum hatte sie mit ihm gesprochen? Sie konnte ihm etwas Wasser durch das Guckloch hinunterlassen. Das würde ihn länger am Leben erhalten; so lange es ihr Spaß machte. Wenn sie ab und zu Wasser und etwas Nahrung hinunterließ, dann würde er wochen-oder monatelang am Leben bleiben und im Labyrinth umherwandern, und sie konnte ihn durch die Gucklöcher beobachten und ihm sagen, wo Wasser zu finden war, und manchmal konnte sie ihn irreleiten, und er würde vergeblich danach suchen, aber er würde ihr immer gehorchen müssen. Das würde ihn Respekt lehren, er würde es bitter bereuen, die Namenlosen verhöhnt zu haben, er, der seine lä-
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cherliche Männlichkeit in der Gräberstätte der Namenlosen beweisen wollte! Aber so lange er dort unten war, konnte sie nie das Labyrinth betreten. Warum nicht? fragte sie sich und antwortete: ...weil er durch die Eisentür, die ich hinter mir offenlassen muß, entweichen kann... Aber er würde nicht weiter als bis zum Untergrab kommen. Sie gestand sich die Wahrheit ein: sie fürchtete sich, ihm gegenüberzutreten. Sie hatte Angst vor seiner Macht, vor seinen Künsten, die ihm geholfen hatten, das Untergrab zu betreten, vor der Zauberkraft, die das Licht am Stab leuchten ließ. Aber war denn das so schrecklich? Die Mächte, die an den dunklen Orten herrschten, waren auf ihrer, nicht auf seiner Seite. Er konnte ganz offensichtlich wenig im Reich der Namenlosen ausrichten. Er hatte die eiserne Tür nicht öffnen können, er war nicht in der Lage, etwas zum Essen herbeizuzaubern, es gelang ihm nicht, Wasser durch die Wand zu leiten oder Dämonen herbeizurufen, die ihm die Wand einreißen konnten. Nein, er war machtlos hier, und das, wovor sie sich gefürchtet hatte, konnte er hier nicht wirken. In den drei Tagen, die er herumgewandert war, hatte er nicht einmal die Tür zur Großen Schatzkammer gefunden, die er gewißlich gesucht hatte. Sie selbst war noch nie Thars Anweisungen gefolgt und hatte diesen Raum aufgesucht; sie hatte es immer wieder verschoben, aus einem Gefühl der Ehrfurcht heraus, etwas in ihr sträubte sich dagegen, ein Gefühl, daß die Zeit noch nicht reif dazu war. Jetzt überlegte sie sich aber: warum konnte er diesen Weg nicht für sie gehen? Er konnte, so lange er wollte, sich an den Schätzen der Gräber vergnügen. Sie würden ihm wahrlich wenig nutzen! Sie konnte sich über ihn lustig machen, konnte ihn auffordern, das Gold zu essen und die Diamanten zu trinken. Mit der gleichen nervösen, fieberhaften Hast, die während der vergangenen drei Tage Besitz von ihr ergriffen hatte, rannte sie zum Tempel der Zwillingsgötter, schloß die kleine, gewölbte Schatzkammer auf und machte das gut verborgene Guckloch am Boden auf. Der Bemalte Raum lag unter ihr, doch er war stockfinster. Der Weg, dem der Mann folgen mußte dort unten, war viel umständlicherer
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war meilenlang, das hatte sie ganz vergessen. Und er war zweifellos geschwächt und konnte sich nicht schnell bewegen. Vielleicht hatte er ihre Anweisungen vergessen und die falsche Richtung eingeschlagen. Nur wenige Leute konnten, wie sie, Anweisungen im Gedächtnis behalten, die sie nur einmal gehört hatten. Vielleicht verstand er ihre Sprache überhaupt nicht. Wenn das der Fall war, dann sollte er von ihr aus herumlaufen, bis er dort unten tot umfiel, der Narr, der Fremde, der Ungläubige! Dann konnte sein Geist die steinernen Gänge der Gräber von Atuan entlang heulen, bis die Dunkelheit selbst ihn verzehrte... Am nächsten Morgen, ganz früh, nach einer schlaflosen Nacht voll quälender Träume, kehrte sie zu dem Guckloch in dem kleinen Tempel zurück. Sie blickte hinunter und sah nichts, nur Schwärze. Sie ließ eine Kerze, die in einer kleinen Blechlaterne brannte, an einer Kette hinunter. Dort, im Bemalten Raum, erblickte sie ihn. Sie sah, im Lichtkreis der Lampe, seine Beine und eine schlaffe Hand. Sie brachte ihren Mund an das Guckloch, das so groß wie eine ganze Bodenkachel war und sagte: »Zauberer!« Nichts rührte sich. War er tot? Besaß er denn nicht mehr Stärke? Sie lächelte verächtlich; ihr Herz schlug heftig. »Zauberer!« schrie sie, und ihre Stimme dröhnte in dem hohlen Raum unter ihr. Er bewegte sich, setzte sich langsam auf und schaute verwirrt um sich. Nach einer Weile blickte er hoch, zuckte zusammen, als er die kleine Laterne wahrnahm, die an der Decke hin und her schaukelte. Sein Gesicht sah schrecklich aus, geschwollen, so dunkel wie das Gesicht einer Mumie. Er griff nach dem Stab, der neben ihm auf dem Boden lag, aber kein Lichtlein glühte an dem Holz. Keine Macht war mehr in ihm. »Willst du den Schatz der Gräber von Atuan sehen, Zauberer?« Er richtete sich mühsam auf und blinzelte in das Licht der Laterne, sonst konnte er nichts wahrnehmen. Nach einer Weile nickte er einmal mit dem Kopf, sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen, die vielleicht als Lächeln begonnen hatte. »Verlaß diesen Raum, wende dich nach links, nimm den ersten Gang links ...!« Sie ratterte die lange Reihe von Anweisungen herunter ohne abzusetzen und fügte am Ende hinzu: »Dort ist der Schatz, den du
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suchst. Und dort findest du, vielleicht, Wasser. Was hättest du denn jetzt lieber, Zauberer?« Er stand jetzt schwankend auf den Füßen und hielt sich an seinem Stab fest. Mit Augen, die nichts sehen konnten, blickte er hoch und versuchte etwas zu sagen, doch kein Laut kam aus seiner ausgetrockneten Kehle. Er zuckte fast unmerklich die Achseln und verließ den Bemalten Raum. Sie würde ihm kein Wasser geben. Den Weg zur Großen Schatzkammer würde er sowieso nicht finden. Die Anweisungen waren so lang, er würde sie sich nicht merken können, und dort befand sich auch der Schacht, wenn er überhaupt so weit kam. Jetzt war er ganz im Dunkeln. Er würde sich verlaufen und endlich umfallen und irgendwo in den engen, hohlen, ausgetrockneten Gängen sterben. Manan würde ihn finden und herausschleifen. Das war das Ende. Arha hielt sich am Rande des Gucklochs fest und schwang ihren gekrümmten Körper hin und her, hin und her und biß sich auf die Lippen, als wäre sie in furchtbarer Pein. Sie würde ihm kein Wasser geben. Sie würde ihm kein Wasser geben. Den Tod, den Tod, den Tod, den Tod, DEN TOD würde sie ihm geben. In dieser dunkelsten Stunde ihres Lebens betrat Kossil mit schwerem Schritt die Schatzkammer, eine unförmige Gestalt in der dicken Winterkleidung. »Ist er tot?« Arha hob den Kopf. Ihre Augen waren trocken, sie hatte nichts zu verbergen. »Ich glaube«, sagte sie und schüttelte den Staub von ihren Röcken. »Sein Licht ist erloschen.« »Er kann uns einen Streich spielen. Die Seelenlosen sind sehr schlau.« »Ich werde noch einen Tag warten, um sicher zu sein.« »Ja, oder zwei. Dann kann Duby hinuntergehen und ihn herausziehen. Er ist stärker als der alte Manan.« »Aber Manan steht im Dienst der Namenlosen und Duby nicht. Im Labyrinth sind Stellen, die Duby nicht betreten sollte, und der Dieb befindet sich an einer von ihnen.«
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»Nun, dann ist der Ort ja bereits entweiht...« »Und sein Tod reinigt ihn wieder«, sagte Arha. Sie konnte am Ausdruck von Kossils Gesicht ablesen, daß Kossil auf ihrem Gesicht etwas sah, das ihr verdächtig vorkam. »Dies ist mein Reich, Priesterin. Ich herrsche darüber und folge dem Willen meiner Gebieter. Ich habe keinen Unterricht mehr im Töten nötig.« Kossils Gesicht schien sich in die schwarze Kapuze zurückzuziehen, wie eine Wüstenschildkröte in ihren Panzer, langsam, verbissen und kalt. »Sehr gut, Herrin.« Sie trennten sich vor dem Altar der göttlichen Brüder. Arha ging, ohne sich zu beeilen, zum Kleinhaus und rief Manan zu sich, damit er sie begleite. Nachdem sie mit Kossil gesprochen hatte, wußte sie, was sie zu tun hatte. Zusammen mit Manan ging sie den Hügel hinauf, betrat die Thronhalle und stieg hinunter ins Untergrab. Mit vereinten Kräften und großer Anstrengung zogen sie an dem langen Hebel der eisernen Tür. Sie öffnete sich langsam und schwer. Dann zündeten sie ihre Laternen an und traten ein. Arha ging voran zum Bemalten Raum, und von dort aus machte sie sich auf den Weg zur großen Schatzkammer. Der Dieb war nicht weit gekommen. Sie und Manan waren nicht mehr als fünfhundert Schritte auf dem verschlungenen Weg gegangen, als sie auf ihn stießen. Er lag, wie ein Bündel alter Lumpen, zusammengesunken, in dem engen Gang. Er hatte seinen Stab weggeworfen, bevor er umfiel, doch er lag nicht weit entfernt. Er blutete aus dem Mund, seine Augen waren halb geschlossen. »Er lebt noch«, sagte Manan, der niedergekniet war und mit seiner großen, gelben Hand den Puls an seiner Kehle fühlte. »Soll ich ihn erwürgen, Herrin?« »Nein, ich will ihn lebendig haben. Nimm ihn hoch und trag ihn mir nach!« »Lebendig?« Manan war beunruhigt. »Warum denn das, kleine Herrin?« »Damit er Sklave der Gräber werden kann! Sei jetzt ruhig und rede nicht weiter! Tu, was ich dir sage!«
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Sein Gesicht wurde noch melancholischer als gewöhnlich, doch Manan gehorchte und hob den jungen Mann mühelos auf seine Schulter, wie einen langen Sack. So beladen stolperte er hinter Arha her. Er konnte nicht weit gehen mit seiner Last. Sie hielten immer wieder an, damit Manan Atem schöpfen konnte. An jedem Haltepunkt war der Gang gleich: gräulichgelbe Steine an der Wand, die sich zum Rundbogen trafen, unebener Felsboden, verbrauchte Luft. Manan stöhnte und ächzte, der Fremde rührte sich nicht. Die zwei Laternen verbreiteten ein schwaches Lichtrund, das sich nach vorne und hinten in dem engen Gang verlor. An jeder Haltestelle tröpfelte Arha etwas von dem Wasser, das sie mitgebracht hatte, in den Mund des Fremden, immer nur ein paar Tropfen, damit das wiedererwachende Leben ihn nicht töte. »In den Kettenraum?« fragte Manan, als sie sich in dem Gang befanden, der zur eisernen Tür führte. Jetzt kam es Arha zum ersten Mal zum Bewußtsein, daß sie nicht wußte, wohin sie den Gefangenen bringen sollte. »Nein, nicht dorthin«, sagte sie, und wiederum wurde es ihr fast übel beim Gedanken an den Rauch und Gestank, an die verfilzten, sprachlosen, blinden Gesichter. Und außerdem, Kossil konnte diesen Raum betreten. »Er... er muß im Labyrinth bleiben, damit er seine Zauberkraft nicht wiedererlangen kann. Wo gibt es hier einen abgeschlossenen Raum...?« »Der Bemalte Raum hat eine Tür und ein Schloß und ein Guckloch ist auch da, Herrin. Wenn man ihm mit Türen trauen kann...« »Hier unten hat er keine Macht. Trag ihn dorthin, Manan!« Manan schleppte ihn also wieder zurück, die gleiche Strecke, die sie hergekommen waren, zu erschöpft, zu kurzatmig, um zu protestieren. Als sie endlich den Bemalten Raum erreicht hatten, nahm Arha ihren langen, schweren Winterumhang aus Wolle ab und legte ihn auf den staubigen Boden. »Hier, leg ihn da drauf«, sagte sie. Manan starrte in melancholischer Verwirrung auf den Umhang und keuchte: »Kleine Herrin...«
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»Ich will, daß dieser Mann am Leben bleibt, Manan. Er wird hier sonst durch die Kälte sterben, schau her, wie er zittert.« »Der Umhang wird entweiht, beschmutzt. Der Umhang der Priesterin — das ist ein Ungläubiger, ein Mann!« stieß Manan aus, und seine kleinen Augen zogen sich zusammen, als litte er Schmerzen. »Dann werde ich den Umhang verbrennen und mir einen neuen weben lassen. Mach jetzt, Manan!« Manan ließ den Gefangenen von seinem Rücken gleiten und auf den schwarzen Umhang fallen. Der Mann lag da wie tot, aber sein Puls klopfte stark in seiner Kehle. Ab und zu wurde er von Krämpfen geschüttelt. »Man sollte ihn in Ketten legen«, sagte Manan unbehaglich. »Sieht er so gefährlich aus?« spottete Arha, doch als Manan an den eisernen Ring deutete, der in die Steine eingelassen und für Gefangene bestimmt war, ließ sie ihn in den Kettenraum gehen, um eine Kette und ein Schloß zu holen. Er schlurfte davon und brummte die Anweisungen vor sich hin. Es war nicht das erste Mal, daß er hierhergekommen war, aber er war noch nie allein gegangen. Die Gemälde an den Wänden schienen sich im Licht ihrer Laterne zu bewegen, zu zucken: große, unförmige menschliche Gestalten mit langen, hängenden Flügeln, die in zeitloser Gleichgültigkeit hockten und standen. Sie kniete nieder und tröpfelte Wasser in den Mund des Gefangenen. Endlich hustete er und griff mit schwachen Händen nach dem Gefäß. Sie ließ ihn trinken. Er legte sich zurück, sein Gesicht war naß und mit Staub und Blut verschmiert. Er murmelte etwas, zwei oder drei Worte, in einer Sprache, die sie nicht verstand. Manan kehrte endlich zurück, eine lange Kette mit Schloß und Schlüssel hinter sich herschleifend und einen Eisenring haltend, den er um die Taille des Mannes schlang und verschloß. »Der ist so dürr, er kann durchschlüpfen«, brummte er, als er das letzte Kettenglied an die Wand schloß. »Nein, schau her«, Arha, die jetzt weniger Angst vor ihrem Gefangenen hatte, zeigte ihm, daß sie ihre Hand nicht zwischen den eisernen Gür-
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tel und die Rippen des Mannes zwängen konnte. »Er kann nicht, nur wenn er noch länger als vier Tage hungert.« »Kleine Herrin«, sagte Manan mit klagender Stimme. »Ich will ja nichts in Frage stellen, aber... wie kann er denn ein Sklave der Namenlosen werden? Er ist doch ein Mann, Kleines!« »Und du bist ein alter Narr, Manan. Komm jetzt und hör auf zu schimpfen!« Der Gefangene sah sie aus aufmerksamen Augen prüfend an. Wo ist sein Stab, Manan? Hier. Den nehme ich mit, darin steckt Zauberkraft. Oh, und das... das nehme ich auch mit«, und mit raschem Griff packte sie die Silberkette, die an dem Hals des Fremden unter seinem Wams hervorschaute, und riß sie über seinen Kopf, obwohl er ihre Arme halten und sie daran hindern wollte. Manan trat ihm heftig in den Rücken. Sie zog sie dem Fremden über den Kopf und brachte sie außer Reichweite. »Ist das dein Talisman, Zauberer? Gilt er dir viel? Er sieht ärmlich aus, konntest du dir keinen besseren leisten? Ich werde ihn sicher aufbewahren.« Sie legte sich die Kette selbst um den Hals und verbarg den Anhänger unter dem schweren Kragen ihres wollenen Kleides. »Sie können nichts damit anfangen«, sagte er heiser. Er sprach die kargischen Worte falsch aus, aber klar genug, daß man sie verstehen konnte. Manan trat ihn wieder in die Rippen, und der Gefangene stöhnte auf vor Schmerz und schloß die Augen. »Laß ihn in Ruhe, Manan. Komm!« Sie verließ den Raum. Manan folgte leise grollend. In der Nacht, als alles dunkel war, stieg sie wieder den Hügel hinauf, allein dieses Mal. Sie füllte den Wasserbehälter am Brunnen hinter dem Thronsaal und nahm das Wasser und einen großen, flachen, ungesäuerten Laib Buchweizenbrot mit hinunter in den Bemalten Raum im Labyrinth. Sie stellte alles in Reichweite des Gefangenen innerhalb der Tür. Er schlief und rührte sich nicht. Sie kehrte ins Kleinhaus zurück, und in dieser Nacht schlief auch sie lang und tief.
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Am frühen Nachmittag kehrte sie allein ins Labyrinth zurück. Das Brot war verschwunden, das Wasser getrunken, und der Gefangene saß aufrecht, mit dem Rücken zur Wand. Sein Gesicht sah immer noch schrecklich aus, verschmiert und verkrustet, aber er war wach und schaute sie aufmerksam an. Sie stand auf der anderen Seite des Raums, wo er sie unmöglich erreichen konnte, angekettet wie er war. Sie schaute ihn an. Dann wandte sie die Augen von ihm ab. Aber es gab nichts, worauf man seine Blicke hätte richten können. Etwas hielt sie vom Reden ab. Ihr Herz klopfte laut, als ob sie Angst hätte. Es lag kein Grund vor, sich vor ihm zu fürchten. Er war in ihrer Gewalt. »Es tut gut, Licht zu haben«, sagte er leise, mit einer tiefen Stimme, die sie verwirrte. »Wie heißt du?« fragte sie herrisch. Sie fand, daß ihre eigene Stimme ungewöhnlich hoch und dünn klang. »Nun, meistens werde ich Sperber genannt.« »Sperber? Heißt du so?« »Nein.« »Wie heißt du denn dann?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sind Sie die Eine Priesterin der Gräber?« »Ja.« »Wie heißen Sie?« »Ich werde Arha genannt.« »Diejenige-die-verzehrt-wurde — das bedeutet es, nicht wahr?« Seine dunklen Augen ruhten auf ihr. Er lächelte ein wenig. »Und wie heißen Sie?« »Ich habe keinen Namen. Stell keine Fragen. Wo kommst du her?« »Von den Innenländern. Aus dem Westen.« »Von Havnor?« Es war der einzige Name einer Stadt oder Insel, der ihr geläufig war. »Ja, aus Havnor.« »Warum kamst du hierher?« »Die Gräber von Atuan sind bekannt unter meinem Volk.«
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»Aber du bist ein Ungläubiger ...« Er schüttelte den Kopf. »O nein, Priesterin. Ich glaube an die Mächte der Dunkelheit! Ich bin mit den Namenlosen an anderen Orten zusammengetroffen.« »An welchen anderen Orten?« »Im Inselreich — den Innenländern — gibt es einige Stellen, die den Uralten Mächten der Erde gehören. Aber keine ist so groß wie diese hier. Nirgends sonst haben sie einen Tempel und eine Priesterin und nirgends werden sie verehrt wie hier.« »Du bist hierhergekommen, um sie zu verehren?« höhnte sie. »Ich kam, um sie zu bestehlen«, sagte er. Sie starrte in sein ernstes Gesicht. »Aufschneider!« »Ich wußte, daß es nicht einfach sein wird.« »Einfach? Es ist unmöglich. Wärest du kein Ungläubiger, so wüßtest du das. Die Namenlosen beschützen den Schatz.« »Was ich suche, gehört ihnen nicht.« »Es gehört dir, nehme ich an.« »Es steht mir zu, es zu nehmen.« »Wer bist du denn — ein Gott? Ein König?« Sie musterte ihn von oben bis unten, wie er dasaß, angekettet, schmutzig, erschöpft. »Du bist ein gemeiner Dieb.« Er gab keine Antwort, doch ihre Augen trafen sich. »Du hast kein Recht, mich anzuschauen«, schrie sie mit schriller Stimme. »Herrin«, sagte er, »ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich bin fremd hier, ein Eindringling. Ich kenne Ihre Sitten nicht und weiß nicht, wie man der Priesterin der Gräber begegnet. Ich bin Ihrer Gnade ausgeliefert, und ich bitte Sie um Entschuldigung, wenn ich Sie beleidigt habe.« Sie antwortete nicht, aber einen Moment später fühlte sie, wie ihr das Blut zu Kopf schoß, heiß und dumm. Aber er blickte sie nicht an und sah nicht, wie sie errötete. Er hatte ihr gehorcht und seinen dunklen Blick von ihr abgewandt. Beide schwiegen eine Weile. Die bemalten Figuren, die sie umgaben, betrachteten sie mit traurigen, blinden Augen.
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Sie hatte einen steinernen Krug mit Wasser gebracht. Seine Augen wanderten immer wieder dorthin, und nach ein paar Minuten sagte sie: »Trink, wenn du willst.« Er rutschte sofort hinüber zu dem Krug und hob ihn so leicht hoch, als sei er ein Wasserglas, und tat einen langen, langen Zug. Dann benetzte er ein Ende seines Ärmels und reinigte sein Gesicht und seine Hände von Schmutz, Blut und Spinnweben, so gut es ging. Er verbrauchte eine geraume Zeit damit, und Arha schaute ihm zu. Als er damit fertig war, sah er besser aus, aber seine Katzenwäsche hatte tiefe Narben an einer Seite seines Gesichts enthüllt: alte, längst verheilte Narben, weißlich schimmernd in seiner dunklen Haut, vier lange, parallel laufende Furchen, vom Auge bis zur Kinnlade, die aussahen, als ob sie von den Krallen einer riesigen Klaue herrührten. »Was ist das?« fragte sie, »diese Narben?« Er antwortete nicht gleich. »Ein Drache?« fragte sie und versuchte spöttisch zu lächeln. War sie nicht hierhergekommen, um ihr Opfer zu verspotten, um ihn in seiner Hilflosigkeit zu quälen? »Nein, kein Drache.« »Dann bist du wohl kein Drachenfürst?« »Doch«, sagte er zögernd, »ich bin ein Drachenfürst. Aber die Narben bekam ich vorher. Ich sagte Ihnen bereits, daß ich mit den Dunklen Mächten zusammengestoßen bin, an anderen Stellen auf dieser Erde. Dies hier auf meinem Gesicht ist das Zeichen, das einer, der mit ihnen verwandt ist, zurückgelassen hat. Aber er ist nicht mehr namenlos, denn am Ende habe ich seinen Namen erfahren.« »Was soll das bedeuten? Welchen Namen?« »Den kann ich Ihnen nicht sagen«, entgegnete er und lächelte, obwohl sein Gesicht ernst blieb. Das ist dummes Gerede, Narrengeschwätz, Götterlästerung. Wie sollten sie Namen haben? Es sind die Namenlosen! Du weißt nicht, wovon du redest...« »Priesterin, ich weiß es, besser als Sie selbst«, sagte er, und seine Stimme klang tiefer noch als zuvor. »Schauen Sie es noch einmal an!« Und er wand-
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te den Kopf, so daß sie die vier schrecklichen Narben an seiner Wange ansehen mußte. »Ich glaube dir nicht«, sagte sie, doch ihre Stimme klang unsicher. »Priesterin«, sagte er behutsam, »Sie sind noch nicht alt. Sie können den Dunklen Mächten noch nicht lange gedient haben.« »Doch, ich diene ihnen schon lange. Sehr lange! Ich bin die Erste Priesterin, die Wiedergeborene. Ich diene meinen Gebietern schon seit tausend Jahren und tausende Jahre davor. Ich bin ihre Dienerin, ihre Stimme, ihre Hände. Und ich führe ihre Rache aus an denjenigen, die die Gräber entweihen und die das anschauen, das nicht gesehen werden darf! Hör mit deinen Lügen und Aufschneidereien auf! Kannst du nicht begreifen, daß es nur eines Wortes bedarf, und mein Wächter kommt und schlägt dir den Kopf ab? Oder ich kann weggehen und die Tür zuschließen, und niemand wird hierherkommen, niemals, und hier in der Dunkelheit wirst du sterben und diejenigen, denen ich diene, werden kommen und dein Fleisch und deine Seele verzehren, und deine Knochen werden im Staub liegen bleiben?« Schweigend nickte er. Sie stammelte und fand keine Worte mehr, die sie hinzufügen konnte. Sie eilte aus dem Raum, die Tür hinter sich zuschlagend und den Riegel mit lautem Kreischen vorschiebend. Sollte er doch denken, daß sie nicht mehr wiederkehren werde! Sollte er doch schwitzen vor Angst, dort in der Dunkelheit, und sie verfluchen! Sollte er doch zittern und beben und versuchen, seine nutzlosen, finsteren Zaubereien zu wirken! Aber vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie er sich zum Schlafen ausstreckte, wie er es an der eisernen Tür getan hatte, so friedlich wie ein Lamm auf einer sonnigen Wiese. Sie spuckte auf die verriegelte Tür und machte das Zeichen, das Übles abwendet. Dann eilte sie, fast rennend, in der Richtung zum Untergrab davon. Während sie sich an der Wand des Gewölbes entlang zur Falltür hin bewegte, berührten ihre Finger die feinen Muster im Fels, die sich wie erstarrte Spitze anfühlten. Ein Verlangen erfüllte sie, ihre Laterne an-
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zuzünden und noch einmal, nur einen kurzen Augenblick lang, die von der Zeit selbst gemeißelten Kunstwerke im Kalkstein und den herrlichen Glanz an den Wänden zu sehen. Dann preßte sie ihre Augen fest zusammen und eilte weiter.
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DER GROSSE SCHATZ
NOCH NIE WAREN IHR die Rituale so lang, so endlos, so leer vorgekommen. Die kleinen Mädchen mit ihren bleichen Gesichtern und verstohlenen Gebärden, die unzufriedenen Novizen und die Priesterinnen, die so streng und kühl dreinschauten, deren Leben aber eine verborgene Hölle voll Neid und Leid, voll lächerlichem Ehrgeiz und vergeudeter Leidenschaft war — all diese Frauen, unter denen sie ihr Leben verbracht hatte, und die schlechthin die Welt für sie verkörperten, sie kamen ihr jetzt so bemitleidenswert, so langweilig vor. Sie, Arha, die den großen Mächten diente, sie, die Priesterin der finsteren Nacht, war dieser bedrückenden Enge enthoben. Sie mußte sich nicht um die belanglosen Kleinlichkeiten dieses gemeinschaftlichen Lebens kümmern, wo der Höhepunkt eines Tages darin bestehen konnte, daß man einen größeren Schlag Hammelfett über die Linsen geschüttet bekam als die Nachbarin... Tage hatten sowieso ihre Bedeutung für sie verloren. Unter der Erde gab es keine Tage. Dort war es immer und fortwährend Nacht. Und in dieser endlosen Nacht befand sich der Gefangene: der dunkle Mann, der die Schwarzen Künste beherrschte, der in Eisen geschmiedet und an Stein gekettet auf sie wartete, zu dem sie gehen oder nicht gehen konnte, wie es ihr gefiel, dem sie Leben in der Form von Brot und Wasser bringen konnte oder den Tod, ein Messer und eine Metzgerwanne. In ihrer Hand lag es, sie konnte tun, was sie wollte. Sie hatte nur Kossil von dem Mann erzählt, und Kossil hatte mit keinem darüber geredet. Er war jetzt schon drei Tage und Nächte in dem Bemalten Raum, doch sie hatte Arha noch nicht nach ihm gefragt. Vielleicht nahmsie an, daß er tot war und daß Arha Manan veranlaßt hat-
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te, ihn in den Knochenraum zu schleifen, wo er zwischen den Gebeinen früherer Gefangener vermodern konnte. Es lag sonst nicht in Kossils Art, ruhig zu sein und etwas als gegeben hinzunehmen. Doch Arha redete sich ein, daß Kossils Schweigen nicht ungewöhnlich war. Kossil wollte immer alles geheimhalten und haßte es, Fragen stellen zu müssen. Und außerdem hatte Arha ihr erklärt, sich nicht in ihre Angelegenheiten zu mischen. Kossil gehorchte ihr ganz einfach. Wenn der Mann jedoch als tot galt, dann konnte Arha nicht um Nahrung für ihn bitten. Und so, abgesehen von einigen gestohlenen Äpfeln und getrockneten Zwiebeln aus dem Keller des Großhauses, aß Arha einfach nichts. Sie ließ sich ihre Morgen- und Abendmahlzeiten ins Kleinhaus schicken und gab vor, daß sie allein essen wollte. In der Nacht trug sie alles, außer den Suppen, hinunter in den Bemalten Raum im Labyrinth. Sie war daran gewöhnt, tagelang, manchmal vier Tage lang, zu fasten, und es machte ihr nichts aus. Der Geselle dort unten im Labyrinth aß ihre schmalen Portionen aus Brot, Käse und Bohnen wie eine Kröte eine Fliege: schwapp!, fort war es. Es war ganz klar, daß er fünfoder sechsmal so viel hätte essen können, aber er dankte ihr immer sehr ernsthaft und höflich, als ob er ein Gast sei und sie die Gastgeberin an einer Tafel, wie sie ihr aus Geschichten von den Festen im Palast des Gottkönigs bekannt war, wo es geröstetes Fleisch, Brot mit Butter und Wein in Kristallgläsern gab. Er war wirklich seltsam. »Wie sehen die Innenländer aus?« Sie hatte einen kleinen Faltschemel aus Elfenbein mitgebracht, damit sie nicht stehen und auch nicht auf dem Boden — auf einer Höhe mit ihm — sitzen mußte, während sie ihn ausfragte. »Sie bestehen aus vielen Inseln. Im Inselreich allein, so sagt man, gibt es vierzig mal vierzig Inseln, und dann gibt es noch die Außenbereiche; keiner hat alle Außenbereiche befahren, oder gar die Inseln und Länder gezählt. Und jede Insel ist anders. Aber die schönste von allen ist doch Havnor, im Zentrum der Welt. Inmitten von Havnor, an einer großen Bucht, voll mit Schiffen, liegt die Stadt Havnor. Die Türme der Stadt sind aus weißem Marmor gebaut. Jedes Haus, das einem Prinzen oder einem Kaufmann gehört, hat einen Turm, und ein Turm überragt den
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andern. Die Dächer der Häuser haben rote Ziegel, und alle Brücken, die über die Kanäle führen, sind mit rotem, blauem und grünem Mosaik eingelegt. Und die Fahnen der Prinzen sind ganz bunt und flattern auf jedem Turm. Auf dem höchsten der Türme aber erhebt sich das Schwert von Erreth-Akbe, wie ein hoher, spitzer Gipfel ragt es in den Himmel. Wenn sich die Sonne über Havnor erhebt, so fallen ihre ersten Strahlen auf diese Klinge und lassen sie erglänzen, und wenn sie untergeht, so bleibt das Schwert noch eine Weile golden vom Abendlicht in der Dämmerung ringsum.« »Wer war Erreth-Akbe?« fragte sie schlau. Er blickte zu ihr auf. Er sagte nichts, aber er lachte ein bißchen. Dann, als ob er sich etwas überlegt hätte, sagte er: »Es ist wahr, hier weiß man wenig von ihm. Wahrscheinlich nur, daß er einst ins Kargadreich gekommen ist. Und wieviel von der Geschichte kennen Sie?« »Ich weiß, daß er seinen Hexenmeisterstab, sein Amulett und seine Macht hier verloren hat — genau wie du«, antwortete sie. »Er floh vor dem Hohepriester in den Westen, wo ihn Drachen verschlungen haben. Aber wenn er hierher zu den Gräbern gekommen wäre, hätte er sich die Drachen ersparen können.« »Stimmt«, sagte der Gefangene. Sie wollte nicht weiter nach Erreth-Akbe fragen, sie spürte, daß hier eine Gefahr lauerte. »Man sagt, daß er ein Drachenfürst gewesen sei. Du behauptest, auch einer zu sein. Sag mir, was bedeutet das, Drachenfürst zu sein?« Ihr Ton war immer herrisch, aber er antwortete direkt und einfach, so als hätte sie ihm eine schlichte Frage gestellt. »Einer, der mit den Drachen sprechen kann«, sagte er, »wird als Drachenfürst bezeichnet, das ist jedenfalls das Hauptsächlichste. Es bedeutet nicht, daß er den Drachen gebieten kann. Drachen haben keine Gebieter. Bei einem Drachen handelt es sich immer um das gleiche: wird er mit dir reden oder wird er dich verschlingen? Tut er das erstere und nicht das letztere, nun, dann ist man Drachenfürst.« »Können Drachen reden?«
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»Oh, gewiß! Sie reden in der ältesten Sprache, in der Sprache, die wir Menschen so mühsam erlernen müssen und doch immer nur ungenügend beherrschen, in der wir unsere magischen Zaubersprüche und unsere Worte der Formgebung aussprechen. Kein Mensch kann die ganze Sprache oder auch nur ein Zehntel davon lernen. Ein Menschenleben ist nicht lang genug, um sie zu erlernen. Drachen leben tausend Jahre ... Es lohnt sich, mit ihnen zu reden, das können Sie sich sicher vorstellen.« »Gibt es hier in Atuan auch Drachen?« »Schon seit Jahrhunderten nicht mehr, glaube ich. Auch nicht in Karego-At. Aber auf Ihrer allernördlichsten Insel, auf Hur-at-Hur, dort, so wird behauptet, gibt es noch große Drachenhorste in den Bergen. Im Innenreich findet man sie nur noch im äußersten Westen, auf Inseln, wo keine Menschen wohnen und nur ganz wenige hinkommen. Wenn sie hungrig werden, dann gehen die Drachen auf Raubzüge im Osten aus, doch das kommt selten vor. Ich habe die Insel gesehen, auf der sie zum Tanz zusammenkommen. Sie fliegen in Spiralen mit ihren großen Flügeln, immer höher und höher, über dem Meer im Westen, wie ein Sturm gelber Blätter im Herbst.« Von der Vision gepackt, blickten seine Augen durch die schwarzen Gemälde an der Wand, durch die Steinwände, die Erde und die Dunkelheit, und er sah das weite Meer vor sich, das sich gegen die Sonne hin erstreckte, und die goldenen Drachen im goldenen Wind. »Du lügst«, sagte Arha heftig, »du erfindest das alles.« Er blickte sie an, bestürzt. »Warum sollte ich lügen, Arha?« »Damit ich mir ganz blöd vorkomme, ganz dumm, und Angst habe. Und du stehst klug und weise und tapfer und mächtig da, und bist ein Drachenfürst und dies und jenes. Du hast Drachen tanzen sehen und die Türme von Havnor, und du scheinst alles zu wissen. Und ich weiß nichts und war nirgends. Lügen! Nichts als Lügen! Ein Dieb bist du, ein Gefangener, und du hast keine Seele, und diese Stätte wirst du nie wieder verlassen. Hörst du? Es ist ganz gleich, ob es Meere gibt und Drachen und weiße Türme und all das, denn du wirst es nie mehr sehen, selbst das Licht der Sonne wirst du nicht mehr sehen. Ich, ich kenne nur die Dunkelheit, die unterirdische Nacht. Die aber ist wirklich und
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wahr. Und das ist schließlich und letzten Endes alles, was man kennen muß, das Schweigen und die Dunkelheit. Du weißt alles, Zauberer. Ich weiß nur eines — die einzige Wahrheit!« Er neigte den Kopf. Seine langen Hände ruhten unbeweglich auf seinen Knien. Sie sah die vierfache Narbe auf seiner Wange. Er war weiter als sie in die Dunkelheit gegangen; er kannte den Tod besser als sie, den Tod selbst... Heiß stieg es in ihr hoch und saß würgend in ihrer Kehle. Warum saß er so da, so wehrlos, so stark? Warum konnte sie ihn nicht bezwingen? »Und der Grund, warum ich dich am Leben lasse«, sagte sie plötzlich, ohne im geringsten vorher darüber nachgedacht zu haben, »ist, weil ich will, daß du mir zeigst, wie die Kunststücke der Hexenmeister gemacht werden. So lange du mir Kunststücke zeigen kannst, so lange wirst du am Leben bleiben. Wenn du keine kannst, wenn alles nur Lüge und Narretei ist, dann — dann will ich nichts mehr mit dir zu schaffen haben. Hast du das verstanden?« »Ja.« »Also gut, fang an.« Er legte die Stirn auf seine Hände und änderte seine Lage. Der eiserne Gürtel erlaubte keine richtig bequeme Stellung, nur wenn er sich ganz flach ausstreckte. Schließlich hob er sein Gesicht hoch und blickte sie ernst an. »Arha, hören Sie mich an! Ich bin ein Magier, ein Hexenmeister, wie Sie es nennen. Ich besitze eine gewisse Macht und verfüge über bestimmte Künste. Das stimmt. Es stimmt aber auch, daß hier, an dieser Stätte, wo die Urmächte walten, meine Kraft gering ist und meine Künste mir nur wenig nutzen. Ja, ich könnte Illusionszaubereien für Sie wirken, und Ihnen alles mögliche Wunderbare zeigen. Aber das ist nur ein geringer Teil der Magie. Ich konnte Illusionszaubereien wirken, als ich noch ein Kind war, ich kann sie selbst hier wirken. Aber wenn Sie daran glauben, dann kann es gut sein, daß Sie sich davor fürchten. Und es ist gut möglich, daß Sie mich dann töten lassen, denn Furcht macht ärgerlich. Und wenn Sie nicht daran glauben, dann sehen Sie es als Lügen und Narretei
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an, wie Sie sagen, und ich setze mein Leben wieder aufs Spiel. Und mein Ziel, mein Wunsch in diesem Augenblick, ist, am Leben zu bleiben.« Sie mußte lachen und sagte: »Oh, du wirst noch eine Weile am Leben bleiben, verstehst du das nicht? Bist du dumm! Also gut, zeig mir die Illusionen. Ich weiß, daß sie nicht wahr sind, und ich werde keine Angst davor haben. Ich hätte übrigens auch keine Angst davor, wenn sie wahr wären. Aber fang schon an. Deine dir so werte Haut ist heute nacht nicht gefährdet.« Als sie das sagte, mußte auch er lachen. Sie spielte mit seinem Leben, warf es hin und her wie einen Ball. »Was soll ich Ihnen zeigen?« »Was kannst du mir denn zeigen?« »Alles mögliche.« »Wie du dauernd aufschneidest!« »Nein«, sagte er, offensichtlich etwas gekränkt. »Es lag jedenfalls nicht in meiner Absicht.« Er neigte den Kopf und schaute eine Weile auf seine Hände. Nichts geschah. Die Talgkerze brannte schwach und gleichmäßig in der Laterne. Die schwarzen Gemälde an der Wand, die unbeweglichen vogelflügeltragenden Gestalten mit ihren in stumpfem Rot und Weiß gemalten Augen ragten über ihm und über ihr auf. Kein Laut war zu hören. Sie seufzte, enttäuscht und irgendwie betrübt. Er war schwach; er redete groß, aber er konnte nichts tun. Er war nur ein guter Lügner, sonst nichts, nicht einmal ein guter Dieb war er. »Na ja«, sagte sie endlich und raffte ihre Röcke zusammen, um aufzustehen. Die Wolle raschelte ungewöhnlich, als sie sich bewegte. Sie blickte an sich hinunter und stand überrascht auf. Das schwere schwarze Gewand, das sie jahrelang getragen hatte, war verschwunden; sie trug ein Kleid aus türkisfarbener Seide, weich und so hell wie der Abendhimmel. Es bauschte sich zu einer Glocke um ihre Hüften, und der Rock war mit dünnen Silberfäden und mit kleinen Perlen und winzigen Kristallen bestickt und glitzerte wie Regen im April. Sie blickte den Zauberer sprachlos an.
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»Gefällt es Ihnen?« »Wo...?« »Es ist wie das Gewand, das ich einst an einer Prinzessin gesehen habe, beim Fest der Sonnenwende im Neuen Palast in Havnor«, sagte er und blickte befriedigt auf sein Werk. »Sie baten mich, Ihnen etwas zu zeigen, das sehenswert ist. Ich zeige Ihnen — Sie selbst.« »Laß es — laß es verschwinden!« »Sie gaben mir Ihren Umhang«, sagte er vorwurfsvoll. »Darf ich Ihnen nichts geben? Aber haben Sie keine Angst, es ist nur Illusion, sehen Sie?« Er schien keinen Finger zu heben, er sagte bestimmt kein einziges Wort, doch die blaue Seidenpracht war verschwunden, und sie stand wieder in ihrem groben schwarzen Gewand vor ihm. Sie stand eine Weile bewegungslos da. »Wie kann ich wissen«, sagte sie schließlich, »daß du der bist, für den ich dich halte?« »Sie können es nicht wissen«, sagte er. »Ich weiß nicht, wofür Sie mich halten.« Sie grübelte lange darüber nach. »Du könntest mich täuschen, du könntest mir etwas vorspiegeln, dich als...« Sie verstummte, denn er hatte eine Hand bewegt, nur ganz kurz, und nach oben gedeutet. Es war nur die Andeutung eines Zeichens gewesen. Sie dachte, daß er im Begriff sei, einen Bann zu wirken, und zog sich schnell zur Tür zurück, aber seiner Geste folgend sah sie hoch über sich, in dem dunklen Rund der Decke, das kleine Viereck, das Guckloch in der Schatzkammer des Zwillingsgöttertempels. Kein Licht fiel durch das Guckloch, sie sah nichts, hörte nichts von oben, aber er hatte gedeutet, und sein fragender Blick lag auf ihr. Beide rührten sich nicht. »Deine Zauberei ist bloß Narrenspielerei, höchstens für Kinder geeignet«, sagte sie klar und deutlich. »Sie ist Betrügerei und Lüge. Ich habe genug gesehen. Du wirst den Namenlosen übergeben werden. Ich werde nicht mehr kommen.«
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Sie nahm ihre Laterne und ging hinaus und schob den Eisenriegel laut krachend zu. Dann blieb sie außen an der Tür stehen, unsicher und verwirrt. Was sollte sie jetzt tun? Wieviel hatte Kossil gehört, wieviel gesehen? Worüber hatten sie gesprochen? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sie schien nie das zu dem Gefangenen zu sagen, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Er brachte immer alles durcheinander mit seinem Gerede von Drachen und Türmen, und Namen für die Namenlosen, und mit seinem Wunsch, am Leben bleiben zu wollen, und mit seiner Dankbarkeit für ihren Umhang. Nie sagte er das, was sie von ihm erwartete. Sie hatte ihn nicht einmal nach dem Talisman ausgefragt, den sie an einer Kette, an ihrer Brust verborgen, um den Hals trug. Aber das war vielleicht gut so, wenn Kossil zugehört hatte. Nun, was machte das schon aus, was konnte Kossil schon tun? Noch während sie sich diese Frage stellte, wußte sie die Antwort: Nichts ist leichter zu töten als ein gefangener Falke. Der Mann war hilflos, angekettet in diesem Steinkäfig. Die Priesterin des Gottkönigs brauchte nur ihren Wärter Duby heute nacht herunterzuschicken, um ihn zu erwürgen; oder, wenn sie und Duby sich nicht so tief im Labyrinth auskannten, brauchte sie nur Giftstaub durch das Guckloch in den Bemalten Raum zu blasen. Sie besaß Schachteln und Gläser voll unheimlicher Giftstoffe für alle Gelegenheiten: manche zum Vergiften der Nahrung und des Wassers, andere zum Verbreiten in der Luft, die, wenn sie lange genug eingeatmet wurden, zum Tod führten. Und morgen früh würde er tot sein, und alles wäre vorbei. Und sie würde nie mehr ein Licht unter den Gräbern brennen sehen. Arha eilte durch die engen Steingänge zum Eingang in das Untergrab, wo Manan geduldig wie eine Kröte in der Dunkelheit hockte und auf sie wartete. Die Besuche bei dem Gefangenen beunruhigten ihn. Sie ließ nicht zu, daß er sie den ganzen Weg begleitete, und so hatten sie diesen Kompromiß geschlossen. Jetzt war sie froh, daß er hier bei der Hand war. Ihm konnte sie wenigstens vertrauen. »Manan, hör zu! Du gehst jetzt zum Bemalten Raum und sagst zu dem Mann, daß du ihn unter die Gräber führst, wo er lebendig begra-
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ben wird.« Manans kleine Augen glitzerten. »Sag das laut! Schließ die Kette auf und führ ihn ...« Sie hielt inne, denn sie hatte noch nicht darüber nachgedacht, wo sie den Gefangenen am besten verbergen konnte. »... zum Untergrab«, sagte Manan, eifrig mit dem Kopf nickend. »Nein, du Dummkopf. Ich habe gesagt, daß du das sagen sollst, nicht tun. Warte...« Wo wäre er sicher vor Kossil und ihren Spionen? Nirgends, außer an den allertiefsten, allerheiligsten unterirdischen Orten, an den verstecktesten Plätzen im Bereich der Namenlosen, wohin sie sich nicht zu gehen getraute. Doch würde sich Kossil nicht fast überallhin zu gehen getrauen? Angst hatte sie bestimmt vor den finsteren Orten, große Angst sogar, aber sie war in der Lage, ihre Angst zu überwinden, um ihre Zwecke zu erreichen. Es war unmöglich, festzustellen, wie gut sie den Plan des Labyrinths gelernt hatte, von Thar oder von der vorhergehenden Arha, oder vielleicht von ihren eigenen geheimen Untersuchungen in den vergangenen Jahren. Arha vermutete, daß sie mehr wußte, als sie zugab. Aber einen Weg konnte sie nicht gelernt haben, dieser Weg war ein Geheimnis, das tiefste, bestgehütetste. »Du mußt den Mann dorthin bringen, wo ich dich hinführe, und es muß im Dunkeln geschehen. Und wenn ich dich zurückgebracht habe, mußt du hier, im Untergrab, ein Grab schaufeln und einen Sarg dafür machen, ihn leer in das Grab tun und dann das Grab wieder mit Erde zuwerfen, damit etwas da ist, wenn jemand danach sucht. Mach ein tiefes Grab! Hast du alles verstanden?« »Nein«, sagte Manan, mißmutig und verdrießlich. »Kleines, diese Betrügerei ist nicht klug, gar nicht klug. Ein Mann hat hier nichts verloren! Ein Strafgericht wird hereinbrechen...« »Einem alten Narren wird die Zunge herausgeschnitten, ja! Du wagst mir zu sagen, was klug ist? Ich beuge mich dem Willen der Dunklen Mächte. Folgemir jetzt!« »Es tut mir leid, kleine Herrin, es tut mir leid ...« »Schweig!« Sie kehrten zum Bemalten Raum zurück. Dort wartete sie im Gang, während Manan eintrat und die Kette von dem Ring an der Wand
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losmachte. Sie hörte die tiefe Stimme fragen: »Wohin jetzt, Manan?«, und die rauhe Altstimme antwortete mürrisch: »Du sollst lebendig begraben werden, so gebietet meine Herrin. Unter den Grabsteinen. Steh auf!« Sie hörte die schwere Kette knallen wie eine Peitsche. Der Gefangene kam heraus, seine Arme waren mit Manans Lederriemen gefesselt. Manan kam hinterher und hielt ihn wie einen Hund an der Leine fest, aber das Band führte um seine Taille und die Leine war aus Eisen. Seine Augen wandten sich ihr zu, doch sie blies ihre Kerze aus, und ohne ein Wort zu sagen, begann sie in die Dunkelheit hineinzuschreiten. Sie nahm sofort die Gangart an, die sie sich im Labyrinth angewöhnt hatte, wenn sie kein Licht dabei hatte: langsame, aber ziemlich gleichmäßige Schritte, mit ihren Fingerspitzen leicht und fast ohne abzusetzen, die Wände links und rechts berührend. Manan und der Gefangene kamen schlurfend und stolpernd hinterher; sie bewegten sich viel schwerfälliger wegen der Kette. Aber es mußte dunkel bleiben, denn sie wollte nicht, daß einer von ihnen den Weg lernte. Links aus dem Bemalten Raum hinaus, an zwei Öffnungen vorbei, rechts an der Viererkreuzung, eine Öffnung rechts liegen lassen, dann einen langen, geschwungenen Gang entlang und eine Treppe hinunter, eine lange Treppe mit schlüpfrigen Stufen, viel zu schmal für menschliche Füße. Weiter als diese Stufen war sie noch nie gekommen. Die Luft war schlechter hier, abgestandener, und hatte einen durchdringenden Geruch. Die Anweisungen waren ihr ganz gegenwärtig, sie glaubte, Thars Stimme zu vernehmen, die sie ihr vorsagte. Immer weiter die Stufen hinunter (sie hörte, wie hinter ihr der Gefangene in der Finsternis stolperte und stöhnte, als ihn Manan mit einem kräftigen Ruck wieder auf die Füße stellte) und unten sofort nach links abbiegen. Halte dich links, an drei Öffnungen vorbei, dann die erste rechts und ganz rechts gehen. Die Gänge waren verwinkelt und gekrümmt, keiner verlief gerade. »Dann mußt du um den Schacht gehen«, hörte sie Thar in der Dunkelheit ihres Gehirns sprechen, »und der Weg ist ganz schmal.« Sie verlangsamte ihre Schritte, beugte sich nach vorne und fühlte mit ihrer Hand am Boden entlang. Der Gang lief jetzt gerade, um den Wanderer in Sicherheit zu wiegen. Plötzlich fühlte ihre Hand, die unaufhörlich
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getastet und hin- und hergefegt war, nichts mehr. Ein Steinrand, eine Rundung und hinter dem Rand nur Leere. Die Wand rechts fiel steil ab in den Schacht. Links davon war ein Vorsprung, ein Sims, nicht viel breiter als eine Hand. »Hier ist ein Schacht. Dreht euch gegen die Wand links, lehnt euch dagegen, geht seitlich, schiebt eure Füße. Halte die Kette, Manan... Seid ihr auf dem Sims? Er wird schmaler. Verlagert euer Gewicht nicht auf die Fersen. So, ich bin am Schacht vorbei. Gebt mir die Hand. Hier ...« Der Gang lief jetzt im Zickzack, mit vielen seitlichen Öffnungen. Aus einigen tönte das Echo ihrer Schritte auf eine seltsam hohle Weise, und noch seltsamer war ein leichter Zug, der nach innen wehte. Diese Gänge mußten in Schächten enden wie der, an dem sie gerade vorbeigegangen waren. Vielleicht lag hier, unter dem tiefsten Teil des Labyrinths, eine Höhle, ein Gewölbe, das so tief, so riesig war, daß das Untergrab daneben klein erschien, eine immense schwarze innerliche Leere. Aber über diesem Abgrund, in den dunklen Gängen, durch die sie sich bewegten, wurde es immer enger und niedriger, daß selbst Arha sich bükken mußte. Hörte das denn nie auf? Das Ende kam plötzlich: eine verschlossene Tür. Vornübergebeugt, etwas schneller als gewöhnlich gehend, stieß Arha mit dem Kopf und den Händen dagegen. Sie tastete nach dem Schlüsselloch, dann nach dem kleinen Schlüssel mit dem Drachen am Griff, der an ihrem Ring hing und den sie noch nie benutzt hatte. Er paßte und drehte sich im Schlüsselloch. Sie öffnete die Tür zum Großen Schatz der Gräber von Atuan. Stikkige, verbrauchte Luft schlug ihr entgegen. »Manan, du kannst hier nicht eintreten. Warte hier draußen!« »Er kann, und ich nicht?« »Wenn du diesen Raum betrittst, Manan, wirst du ihn nicht wieder lebendig verlassen. So lautet das Gesetz, und es gilt für alle, außer für mich. Kein Sterblicher, außer mir, hat je diesen Raum lebendig wieder verlassen. Willst du hereinkommen?« »Ich warte hier draußen«, sagte die melancholische Stimme aus der Finsternis. »Herrin, Herrin, mach die Tür nicht zu!«
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Seine Angst machte sie so nervös, daß sie die Tür offenließ. Dieser ganze Ort erfüllte sie mit geheimem Grauen, und sie fühlte Mißtrauen gegen den Gefangenen in sich aufsteigen, obgleich er eingezwängt war in Eisen. Als sie drinnen war, zündete sie ihr Licht an. Ihre Hände zitterten. Die Kerze in der Laterne wollte nicht brennen. Die Luft war verbraucht und alt. Im gelben, trüben Schein des Lichtes, das nach der langen Dunkelheit hell erschien, war die Schatzkammer voll unruhiger Schatten undeutlich zu erkennen. Sechs große Truhen befanden sich darin, alle aus Stein, alle mit dikkem Staub bedeckt wie Schimmel auf Brot. Die Wände waren uneben, die Decke niedrig. Der Raum war kalt, eine tiefe, luftleere Kälte, die das Blut im Herzen zum Stocken brachte. Keine Spinnweben, nur Staub war zu sehen. Hier unten war nichts Lebendiges, nicht einmal die seltenen kleinen weißen Spinnen des Labyrinths gab es hier. Der Staub war dick, so dick, ein Staubkorn für jeden Tag, der hier vergangen war, hier, wo die Zeit stillstand, wo kein Licht je hinfiel: Tage, Monate, Jahre, Jahrhunderte, zu Staub zerfallen. »Dies hier ist der Platz, den du gesucht hast«, sagte Arha, und ihre Stimme war ausdruckslos. »Hier ist der Große Schatz der Gräber. Du bist angelangt. Du wirst ihn nie wieder verlassen können.« Er gab keine Antwort, und sein Gesicht war ruhig, doch in seinen Augen lag etwas, das sie berührte: eine Verzweiflung, der Blick eines Mannes, der sich betrogen fühlte. »Du hast gesagt, daß du am Leben bleiben willst. Dies hier ist der einzige Ort, an dem du sicher bist. Kossil würde dich töten oder mich zwingen, daß ich dich töte, Sperber. Hierher kann sie nicht kommen.« Er sagte noch immer nichts. »Du hättest die Gräber so oder so nie verlassen können, siehst du das nicht ein? Das hier ist nicht viel anders. Du bist wenigstens ans... ans Ende deiner Reise gelangt. Was du suchst, ist hier.« Er setzte sich auf eine der großen Truhen. Er sah erschöpft aus. Die Kette, die er hinter sich herschleifte, schlug klirrend an den Stein. Er ließ den Blick über die grauen Wände schweifen, sah die Schatten und blickte dann sie an.
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Sie wandte die Augen ab und schaute auf die Steintruhen. Sie hatte keine Lust, sie zu öffnen. Es war ihr gleichgültig, welche Schätze darin verrotteten. »Hier drinnen brauchst du keine Ketten tragen.« Sie ging zu ihm hin, schloß den Eisengürtel auf und machte Manans Ledergürtel los, der seine Arme festgehalten hatte. »Ich muß die Tür verschließen, aber wenn ich komme, dann muß ich dir trauen können. Du weißt, daß du nicht fort kannst — daß du es nicht versuchen darfst! Ich bin ihre Priesterin, ich führe ihren Willen aus, und wenn ich versage — wenn du mein Vertrauen mißbrauchst —, dann rächen sie sich. Du darfst mir nicht weh tun oder mich betrügen, wenn ich komme, und versuchen, den Raum zu verlassen. Du mußt mir gehorchen.« »Ich werde tun, was Sie sagen«, sagte er leise. »Ich bringe dir Essen und Wasser, wenn ich kann. Es wird nicht viel sein. Genug Wasser, aber nicht viel zum Essen in der nächsten Zeit; ich werde selbst hungrig, weißt du. Aber es wird genug sein, um nicht zu verhungern. Vielleicht kann ich erst in zwei Tagen zurückkehren, vielleicht dauert es noch länger. Ich muß Kossil abschütteln, denn sie spioniert mir nach. Aber ich werde wiederkommen. Ich verspreche es dir. Hier ist Wasser. Teile es ein, ich kann nicht bald kommen. Aber ich werde zurückkommen.« Er blickte auf und sah sie an. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinen Zügen. »Sei vorsichtig, Tenar«, sagte er.
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NAMEN
SIE FÜHRTE MANAN durch die verschlungenen Gänge zurück zum Untergrab und ließ ihn dort im Dunkeln zurück, damit er das Grab schaufele, und Kossil, sollte sie danach fahnden, den Beweis finden würde, daß die Strafe an dem Gefangenen vollzogen worden war. Es war spät, und sie ging direkt zum Kleinhaus und legte sich zu Bett. Mitten in der Nacht wachte sie plötzlich auf; sie erinnerte sich, daß sie ihren Umhang im Bemalten Raum gelassen hatte. Er hatte nichts, was ihn in dieser unterirdischen, kalten Schatzkammer warm halten konnte, nur seinen eigenen kurzen Umhang; kein Bett, nur die staubigen Steine. »Ein kaltes Grab, ein kaltes Grab«, stöhnte sie im Halbschlaf, aber sie war zu erschöpft, um richtig aufzuwachen, und schlief bald wieder ein. Sie begann zu träumen. Sie träumte von den Seelen der Toten an den Wänden im Bemalten Raum, von den Gestalten, die wie große unförmige Vögel mit menschlichen Gesichtern, Händen und Füßen aussahen, die im Staub der dunklen, unterirdischen Stätten hockten. Sie konnten nicht fliegen. Sie fraßen Lehm und tranken Staub. Es waren die Seelen derer, die nicht wiedergeboren wurden, alter, längst verschollener Völker und Ungläubiger, die von den Namenlosen verzehrt worden waren. Sie hockten um sie herum, und manchmal vernahm sie ein schwaches Krächzen und Ächzen, das von ihnen ausging. Einer von ihnen kam immer näher. Sie hatte zuerst Angst und wollte sich zurückziehen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Er hatte kein menschliches, sondern ein Vogelgesicht. Aber sein Haar war golden und seine Stimme war die Stimme einer Frau und sie war warm und weich und sprach zu ihr: »Tenar, Tenar!«
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Sie wachte auf. Ihr Mund war voll Lehm. Sie lag in einem Grab aus Stein, unter der Erde. Ihre Arme und Beine waren mit Grabtüchern festgebunden; sie konnte sich nicht rühren und nicht sprechen. Die Verzweiflung wuchs und wurde stärker, bis ihre Brust aufbrach und wie ein Feuervogel den Stein zerschmetterte und sich ins Licht des Tages erhob — ins Licht des Tages, das sie, ganz schwach, in ihrem fensterlosen Raum wahrnehmen konnte. Jetzt ganz wach, setzte sie sich auf, ganz zerschlagen von den Träumen dieser Nacht, ihr Geist benommen. Sie schlüpfte in ihre Kleider und ging hinaus zur Zisterne in dem ummauerten Innenhof des Kleinhauses. Sie tauchte ihre Arme, ihr Gesicht, ihren ganzen Kopf in das eiskalte Wasser, bis ihr Körper sich schüttelte und ihr Blut heftig durch die Adern pulsierte. Dann warf sie ihr Haar zurück, richtete sich hoch auf und blickte hinauf in den morgendlichen Himmel. Es war noch nicht lange nach Sonnenaufgang, ein heller Wintertag. Der Himmel war gelblich und ganz klar. Hoch oben, so hoch, daß sich das Sonnenlicht in seinem Gefieder fing und er wie ein kleiner, goldener Fleck aussah, kreiste ein Vogel, ein Falke oder ein Adler der Wüste. »Ich bin Tenar«, sagte sie, nicht laut, und sie zitterte vor Kälte, vor Schreck, von innerem Aufjauchzen, unter dem weiten, sonnenhellen Himmel. »Ich habe meinen Namen wieder. Ich bin Tenar.« Der goldene Fleck wandte sich nach Westen, den Bergen zu, und verschwand aus ihrem Blickfeld. Die Morgensonne vergoldete die Firstbalken des Kleinhauses. Drunten in den Pferchen bimmelten die Glocken der Schafe. Den Geruch des Holzfeuers und der frischen Buchweizenfladen trug der leichte, frische Wind vom Kamin der Küche herüber. »Ich bin so hungrig ... Woher wußte er es? Woher wußte er meinen Namen? ... Oh, ich muß etwas essen, ich bin so hungrig ...« Sie zog ihre Kapuze über den Kopf und rannte zum Frühstück. Das Essen nach dem dreitägigen, halben Fasten gab ihr Substanz und verlieh ihr Gewicht; ihre Bewegungen waren nicht mehr so zerfahren, ihre Gedanken wirbelten nicht mehr so durcheinander, waren nicht
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mehr so aufgewühlt. Nach dem Frühstück fühlte sie sich stark genug, um mit Kossil fertig zu werden. Sie holte die große, schwere Gestalt auf dem Weg aus dem Speisesaal des Großhauses ein und ging neben ihr her. Mit unterdrückter Stimme sagte sie: »Ich habe den Eindringling aus dem Wege geschafft... Wie schön es heute ist!« Die kalten, grauen Augen unter der schwarzen Kapuze musterten sie prüfend von der Seite. »Ich dachte, die Priesterin darf drei Tage nach einem menschlichen Opfer kein Essen berühren?« Das stimmte. Arha hatte es vergessen, und man sah ihrem Gesicht an, daß sie es vergessen hatte. »Er ist noch nicht tot«, sagte sie in demselben, gleichgültigen Ton, der ihr kurz zuvor noch so leicht gefallen war. »Er wurde lebendig begraben. Unter den Gräbern. In einem Sarg. Etwas Luft muß noch drinnen sein, denn der Sarg ist nicht versiegelt, er ist aus Holz. Der Tod wird ziemlich langsam kommen. Wenn ich weiß, daß er tot ist, werde ich mit dem Fasten beginnen.« »Wie werden Sie das wissen?« Verwirrt blickte sie auf und zögerte wieder mit der Antwort: »Ich werde es wissen. Der ... Meine Gebieter werden es mir sagen.« »Ach so! Wo ist das Grab?« »Unter den Steinen. Ich sagte Manan, daß er es unter dem glatten Stein graben soll.« Sie mußte sich zusammennehmen und nicht so schnell in diesem dummen, beschwichtigenden Ton antworten. Sie mußte Kossil gegenüber ihre Würde bewahren. »Lebendig, in einem Holzsarg? Das ist eine riskante Sache bei einem Hexenmeister, Herrin! Haben Sie sich vergewissert, daß er nicht sprechen und keine Zaubereien wirken kann? Sind seine Hände gefesselt? Damit kann er auch Zauberei bewerkstelligen, manchmal genügt eine Fingerbewegung, selbst nachdem man ihnen die Zunge herausgeschnitten hat.« »Mit seiner Hexerei ist es nicht weit her. Nichts als Betrügerei«, sagte Arha und fuhr mit erhobener Stimme fort: »Er ist begraben, und meine
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Gebieter warten auf seine Seele. Alles andere geht Sie, Priesterin, nichts an.« Jetzt war sie zu weit gegangen; andere hatten es gehört, Penthe, ein paar weitere Mädchen, Duby und die Priesterin Mebbeth, alle befanden sich in Hörweite. Die Mädchen waren ganz Ohr, und Kossil war sich dessen bewußt. »Alles, was hier geschieht, geht mich etwas an, Herrin! Und alles, was hier an der Stätte vor sich geht, interessiert den Gottkönig, den Unsterblichen, dessen Dienerin ich bin. Er hat das Recht, die unterirdischen Stätten zu durchforschen, er blickt in die Herzen der Menschen, und keiner kann ihm den Zutritt dazu verwehren!« »Ich tue es. Keiner betritt die Gräber, wenn die Namenlosen es nicht gestatten. Sie bestanden schon, als es noch keinen Gottkönig gab, und sie werden bestehen, wenn es keinen Gottkönig mehr gibt. Sprechen Sie behutsam von ihnen, Priesterin! Rufen Sie ihre Rache nicht auf sich herab! Sie werden in Ihren Träumen zu Ihnen kommen, sie werden sich in Ihre Seele schleichen auf dunklen Wegen. Den Wahnsinn werden sie bringen!« Die Augen des Mädchens blitzten. Kossils Gesicht war verdeckt, von der schwarzen Kapuze verborgen. Penthe und die anderen sahen erschreckt und gebannt aus der Ferne zu. »Sie sind alt.« Kossils Stimme drang leise, ein dünner, pfeifender Tonfaden, aus der Tiefe der Kapuze. »Sie sind alt. Nur hier werden sie noch verehrt. Nirgends sonst auf der Welt wird ihnen noch gehuldigt. Ihre Macht ist vergangen. Es sind nur noch Schatten, machtlose Schatten. Versuche nicht, mir Furcht einzujagen, Verzehrte! Du bist die Erste Priesterin — und bedeutet das nicht, daß du auch die Letzte bist? — Mich kannst du nicht hinters Licht führen. Ich schaue dir ins Herz. Die Dunkelheit verbirgt nichts vor meinen Augen. Sei vorsichtig, Ar ha!« Sie wandte sich um und bewegte sich in ihrem langsamen, wuchtigen Gang, das mit Rauhreif bedeckte Unkraut unter ihren großen, schweren, in Sandalen steckenden Füßen zermalmend, auf die weiße Säulenpracht des gottköniglichen Tempels zu.
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Arha, dunkel und schmal, stand im vorderen Hof des Großhauses, als sei sie auf dem Boden festgefroren. Nichts rührte sich um sie, niemand bewegte sich außer Kossil, alles war erstarrt, das weite Land um Hof und Tempel, die Hügel, die Wüste, die Berge. »Mögen die Dunklen deine Seele verzehren, Kossil!« schrie sie. Wie ein Falkenschrei hallte es über die Stätte; mit hocherhobenem Arm und ausgestreckter Hand schmetterte sie die Verwünschung gegen Kossils Rücken, gerade als diese ihren Fuß auf die Treppe des Tempels setzte. Kossil zuckte zusammen, aber sie hielt nicht an, sie wandte sich nicht um. Sie setzte ihren Weg fort und ging durch die Tür in den Tempel des Gottkönigs. Arha verbrachte den Tag auf der untersten Stufe vor dem Leeren Thron sitzend. Sie wagte nicht, das Labyrinth zu betreten, sie wollte nicht mit anderen Priesterinnen zusammen sein. Schwer lag es auf ihr und hielt sie dort im trüben Dämmerlicht der weiten Halle fest, Stunde um Stunde. Sie starrte auf die Doppelreihe der dicken, bleichen Säulen, die sich in der Düsternis am anderen Ende der Halle verloren, auf die Sonnenstrahlen, die durch die Lücken in der Decke fielen, auf den dikken, sich ringelnden Rauch, der von den glühenden Kohlen in den Bronzeschalen aufstieg. Mit den kleinen Mäuseknochen, die auf den Marmorstufen lagen, zeichnete sie Figuren in den Staub. Sie hielt den Kopf gesenkt, doch ihre Gedanken jagten und überstürzten sich. Wer bin ich? fragte sie sich, und erhielt keine Antwort. Manan kam schlurfend die Halle herauf, zwischen den Doppelreihen der Säulen, lange nachdem das Tageslicht aufgehört hatte, sich durch die Löcher des Daches zu stehlen, und die Kälte ringsum sich zunehmend verschärft hatte. Manans Mondgesicht sah betrübt aus. Er blieb in einiger Entfernung stehen und ließ seine Arme an den Seiten herunterhängen, ein Stück abgerissener Saum von seinem alten Umhang hing auf seine Ferse nieder. »Kleine Herrin!« »Was ist los, Manan?« fragte sie müde und blickte ihn voll Zuneigung an.
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»Kleines, laß mich das tun, was du gesagt hast... was du gesagt hast, daß es geschehen sei. Er muß sterben, Kleines. Er hat dich verzaubert. Sie wird sich rächen. Sie ist alt und grausam, und du bist noch zu jung. Du bist noch nicht stark genug.« »Sie kann mir nichts antun.« »Wenn sie dich töten würde, in aller Öffentlichkeit, wo es jeder sehen könnte, selbst dann gäbe es keinen im ganzen Reich, der es wagen würde, einen Finger gegen sie zu erheben. Sie ist die Hohepriesterin des Gottkönigs, und der Gottkönig herrscht allein. Aber sie wird dich nicht öffentlich töten, sie wird es heimlich tun, mit Gift, in der Nacht.« »Dann werde ich wiedergeboren werden.« Manan rang seine großen Hände. »Vielleicht wird sie dich nicht töten«, flüsterte er. »Was meinst du damit?« »Sie könnte dich in einem Raum im ... dort unten ... wie du es mit ihm getan hast. Und du würdest noch jahrelang, noch viele Jahre vielleicht, am Leben bleiben. Und es gäbe keine wiedergeborene Priesterin, denn du bist ja nicht tot. Und es gäbe keine Priesterin der Gräber, und die Tänze der Mondfinsternis würden nicht getanzt werden, und es würden keine Opfer gebracht und kein Blut vergossen werden, und die Verehrung der Dunklen Mächte würde aufhören und vergessen werden, für immer. Sie und ihr Gebieter hätten das gern.« »Sie würden mich freisetzen, Manan.« »Nicht, solange sie zornig auf dich sind, kleine Herrin!« flüsterte Manan. »Zornig?« »Wegen ihm... Die Schändung, die nicht gerächt wurde. Oh, Kleines! Sie kennen kein Vergeben!« Sie saß im Staub auf der untersten Stufe und hielt den Kopf gesenkt. Sie schaute das winzige Ding an, das sie in der Hand hielt: der Schädelknochen einer Maus. Die Eulen im Dachgebälk über dem Thron bewegten sich leise, es wurde dunkler, die Nacht nahte. »Geh heute nacht nicht ins Labyrinth«, sagte Manan, kaum hörbar. »Geh in dein Haus und schlaf, und morgen früh geh zu Kossil und sagʹ
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ihr, daß du die Verwünschung aufhebst. Das genügt. Du brauchst dir keine Gedanken mehr zu machen. Ich werde ihr den Beweis bringen.« »Beweis?« »... daß der Zauberer tot ist.« Sie saß unbeweglich. Langsam schloß sie die Hand, und der dünne Knochen knirschte und zerbrach. Als sie die Faust öffnete, hielt sie nur ein paar Splitter und Staub in der Hand. »Nein«, sagte sie und schüttelte den Staub von ihrer Handfläche. »Er muß sterben. Er hat dich verhext. Du bist verloren, Arha!« »Er hat mich nicht verhext. Du bist alt und feige, Manan. Du fürchtest dich vor alten Weibern. Wie stellst du dir denn das vor? Wie willst du zu ihm gelangen und ihn töten und den ›Beweis‹ bringen? Kennst du denn den Weg bis zum Großen Schatz, den du letzte Nacht in der Dunkelheit gegangen bist? Kannst du die Ecken richtig zählen, bis zu den Stufen gelangen, am Schacht vorbei bis zur Tür? Kannst du die Tür aufschließen? — Oh, du armer, alter Manan, dein Geist ist schwach. Sie hat dir Angst gemacht. Geh jetzt zum Kleinhaus und schlaf und vergiß das alles. Quälʹ mich nicht länger mit deinem Gerede vom Tod... Ich komme später. Geh schon, geh schon, du alter Narr, du alter Bär!« Sie war aufgestanden und schubste Manans breiten Oberkörper, tätschelte ihn und schob ihn fort. »Gute Nacht, gute Nacht!« Er wandte sich um, zögernd und nichts Gutes ahnend, doch gehorsam, und watschelte den langen Gang zwischen den Säulen unter dem beschädigten Dach hinunter. Sie sah ihn entschwinden. Geraume Zeit, nachdem er verschwunden war, stand sie auf, drehte sich um, ging um den Fuß des Thrones und verlor sich in der Dunkelheit.
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DER RING VON ERRETH-AKBE
IN DER GROSSEN SCHATZKAMMER der Gräber von Atuan stand die Zeit still. Kein Licht, kein Leben, nicht einmal das unmerkliche Weben einer Spinne im Staub, eines Wurmes in der Erde war spürbar. Fels und Finsternis und Zeit standen still. Auf dem Steindeckel einer großen Truhe lag der Dieb von den Innenländern, ausgestreckt auf dem Rücken, wie eine gemeißelte Figur auf einem Sarkophag. Der Staub, durch seine Bewegungen aufgerührt, hatte sich auf seiner Kleidung niedergesetzt. Er rührte sich nicht. Das Schloß in der Tür quietschte. Die Tür öffnete sich. Licht zerteilte die Finsternis, und ein frischerer Windzug bewegte die tote Luft. Der Mann lag regungslos. Arha machte die Tür zu und verschloß sie von innen, stellte ihre Laterne auf eine Truhe und kam langsam auf die regungslose Gestalt zu. Sie näherte sich furchtsam, ihre Augen weit offen, die Pupillen noch ganz groß von dem langen Gang durch die Dunkelheit. »Sperber!« Sie berührte seine Schulter und wiederholte seinen Namen noch einmal und noch einmal. Er rührte sich und stöhnte. Endlich setzte er sich auf, sein Gesicht war erstarrt, seine Augen leer. Er blickte sie an und erkannte sie nicht. »Ich bin es, Arha — Tenar. Ich habe dir Wasser gebracht. Hier, trink!« Er griff unbeholfen nach der Flasche, als wären seine Hände gelähmt, und trank, aber nicht viel. »Wie lange war ich hier?« fragte er, mühsam die Worte formend. »Zwei Tage sind vergangen, seit ich dich hierhergebracht habe. Dies ist die dritte Nacht. Ich konnte nicht früher kommen. Ich mußte das Essen
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stehlen. Hier ist es.« Sie zog einen der großen, flachen Laibe aus der Tasche, die sie mitgebracht hatte, aber er schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger... Dies... dies ist ein fürchterlicher Ort.« Er legte den Kopf in die Hände und saß regungslos. »Ist dir kalt? Ich habe den Umhang vom Bemalten Raum gebracht.« Er antwortete nicht. Sie legte den Umhang hin und blickte ihn an. Sie zitterte ein wenig, und ihre Augen waren noch schwarz und weit geöffnet. Plötzlich sank sie auf die Knie, beugte sich nach vorne und begann zu schluchzen, in heftigen Stößen, die ihren Körper schüttelten, aber keine Tränen in ihre Augen brachten. Er stieg steif von der Truhe herunter und beugte sich über sie: »Tenar...« »Ich bin nicht Tenar. Ich bin nicht Arha. Die Götter sind tot. Die Götter sind tot.« Er strich ihre Kapuze zurück und legte seine Hände auf ihren Kopf. Er begann zu sprechen. Seine Stimme war leise, und die Worte waren in einer ihr fremden Sprache. Ihr Klang drang in ihr Herz wie leise lispelnder Regen. Sie wurde ruhiger und begann zuzuhören. Als sie sich beruhigt hatte, hob er sie hoch und setzte sie wie ein Kind auf die große Truhe, auf der er gelegen hatte. Er legte seine Hand auf ihre Hände. »Warum hast du geweint, Tenar?« »Ich werde es dir sagen. Es ist jetzt sowieso alles egal. Du kannst doch nichts tun. Du kannst nicht helfen. Du wirst ja auch sterben. Alles ist jetzt gleichgültig, alles! Kossil, die Priesterin des Gottkönigs, sie war schon immer grausam, sie versuchte, mich zu veranlassen, daß ich dich töte. So wie ich die anderen getötet habe. Und ich tat es nicht. Welches Recht hat sie? Und sie forderte die Namenlosen heraus und verhöhnte sie, und ich habe sie verwünscht. Und seither habe ich Angst vor ihr, denn was Manan sagt, stimmt, sie glaubt nicht an die Götter. Sie will, daß sie vergessen werden, und sie hätte mich im Schlaf getötet. Und so schlief ich nicht. Ich bin nicht ins Kleinhaus zurückgegangen. Die ganze vergangene Nacht verbrachte ich in der Thronhalle und auf dem Speicher, in dem die Tanzgewänder hängen. Bevor es Tag wurde, ging ich zum
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Großhaus und habe etwas Essen gestohlen, und dann ging ich zurück in die Halle und blieb den ganzen Tag dort. Ich wollte mir überlegen, was ich nun tun soll. Und heute nacht — heute nacht war ich so müde, und ich dachte, ich könnte vielleicht an einen der heiligen Plätze gehen und dort schlafen, irgendwo, wo sie sich fürchtet hinzugehen. Und so ging ich ins Untergrab, das große Gewölbe, wo ich dich zum ersten Mal sah. Und ... und dort war sie. Sie muß durch die rote Felsentür gekommen sein. Sie hatte eine Laterne dabei und kratzte an dem Grab herum, das Manan geschaufelt hatte, um zu sehen, ob eine Leiche darin war. Wie eine große, fette Ratte auf einer Grabstätte. Licht brannte an diesem Heiligen Ort, und die Namenlosen duldeten es und rührten sich nicht. Sie töteten sie nicht, sie brachten keinen Wahnsinn über sie. Sie sind alt, wie sie behauptet, sie sind tot. Sie sind verschwunden. Ich bin keine Priesterin mehr.« Der junge Mann stand und hörte zu, seine Hand lag noch auf ihrer Hand, sein Kopf war leicht gesenkt. Etwas Kraft war in sein Gesicht und in seine Haltung zurückgekehrt, doch die Narben an seiner Wange waren noch blaugrau, und auf seiner Kleidung, auf seinem Haar lag Staub. »Ich bin an ihr vorbei durch das Untergrab gegangen. Ihre Kerze machte mehr Schatten als Licht, und sie hat mich nicht gehört. Ich wollte ins Labyrinth, weg von ihr gehen. Aber als ich dort war, bildete ich mir ein, daß ich sie hörte, wie sie mir folgte. Auch als ich durch die Gänge ging, hörte ich, wie jemand mir folgte. Und ich wußte nicht, wo ich hin sollte. Nur hier, hier, dachte ich, werde ich sicher sein. Ich glaubte, daß meine Gebieter mich schützen und verteidigen würden. Aber sie sind verschwunden, sie sind tot ...« »Ihretwegen hast du geweint — über ihren Tod? Aber sie sind hier, Tenar, hier!« »Woher weißt du denn das?« fragte sie mutlos. »Weil ich mich seit dem Augenblick, an dem mein Fuß das Gewölbe unter den Gräbern betreten hat, bemühe, sie stille zu halten, ihnen mein Kommen zu verheimlichen. Meine ganze Kunst habe ich aufwenden müssen, meine ganze Macht habe ich damit verausgabt. Ich habe diese
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Gänge mit einem endlosen Netz von Bannsprüchen zugewebt, mit Bannsprüchen der Stille, des Schlafes, des Verbergens: und doch spüren sie, daß ich hier bin, spüren es halbwegs, halb schlafend, halb wachend, obwohl ich meine ganze Kraft aufwende. Dies hier ist ein ganz fürchterlicher Ort. Ein Mensch allein ist hier hoffnungslos verloren. Ich war am Verdursten, als du mir Wasser gabst, doch war es nicht das Wasser allein, das mich rettete. Es war die Kraft deiner Hände, die mir das Wasser reichten.« Als er das sagte, drehte er ihre Hand, die in seiner Hand ruhte, um und schaute auf ihre Handfläche. Dann wandte er sich ab, lief im Raum auf und ab und hielt wieder vor ihr inne. Sie sagte nichts. »Glaubst du wirklich, daß sie tot sind? Dein Herz weiß es besser. Sie sterben nicht. Sie sind dunkel und werden nie sterben. Sie hassen das Licht: das kurze, helle Licht unserer Sterblichkeit. Sie sind unsterblich, aber sie sind keine Götter. Nie waren sie Götter. Sie sind es nicht wert, von einer menschlichen Seele verehrt zu werden.« Sie hörte ihm zu. Ihre Augen waren schwer, und ihr Blick war auf die flackernde Laterne gerichtet. »Was haben sie dir je gegeben, Tenar?« »Nichts«, flüsterte sie. »Sie haben nichts, was sie geben können. Sie haben keine Kraft des Schöpfens. Ihre Kraft ist, Dunkelheit zu bringen und Lebendiges zu zerstören. Diesen Ort hier können sie nicht verlassen. Der Ort besteht aus ihnen, und er sollte ihnen ganz überlassen werden. Sie sollten nicht verleugnet und nicht vergessen, aber auch nicht verehrt werden. Die Welt ist hell und licht und schön, aber das ist nicht alles. Die Erde ist auch dunkel und schrecklich und grausam. Der kleine Hase stöhnt, wenn er auf der grünen Wiese stirbt. Die Gebirge ballen ihre großen kalten Hände um verborgene Feuer. Im Meer gibt es Haifische und in den Augen der Menschen Grausamkeit. Und dort, wo Menschen diese Mächte verehren und sich vor ihnen erniedrigen, dort waltet das Böse, dort werden Stätten errichtet, wo die Finsternis sich verdichtet, Stätten, die ganz denen geweiht sind, die wir die Namenlosen nennen, die uralten, heiligen Mächte dieser Erde, die vor dem Licht bestanden haben, die Mächte der Dunkelheit, der Zerstörung, des Wahnsinns ... Ich glaube, daß eure Priesterin Kossil schon vor langer Zeit wahnsinnig gewor-
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den ist; ich glaube, daß sie in diesen unterirdischen Gewölben herumschleicht wie im Labyrinth ihrer eigenen Seele, und nun kann sie das Licht des Tages nicht mehr wahrnehmen. Sie hat dir gesagt, daß die Namenlosen tot seien, nur eine verlorene Seele, eine Seele, für die es keine Wahrheit mehr gibt, kann das behaupten. Sie existieren. Aber sie sind nicht deine Gebieter. Noch nie waren sie das. Du bist frei, Tenar. Man hat dich gelehrt, Sklavin zu sein, doch du bist ausgebrochen, du bist frei!« Sie hörte ihm zu, doch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er sagte nichts weiter. Sie schwiegen, aber es war nicht die Stille, die bestand, bevor sie den Raum betreten hatte. Zwei Menschen atmeten jetzt hier, Leben pulsierte durch ihre Adern, und die Kerze in der Laterne brannte, ein winziger, knisternder, lebendiger Ton. »Woher weißt du meinen Namen?« Er lief auf und ab in dem Raum, rührte den feinen Staub auf und reckte seine Arme und Schultern, um seine von der Kälte erstarrten Glieder wieder ins Leben zurückzurufen. »Namen zu wissen und Namen herauszufinden ist meine Arbeit, meine Kunst. Weißt du, um Magie wirken zu können, muß man den wahren Namen eines Dinges, eines Wesens herausfinden. Dort, wo ich herkomme, hält man seinen wahren Namen sein ganzes Leben lang verborgen, nur denen, denen man ganz und voll vertraut, sagt man ihn. Denn in einem Namen steckt große Macht und deshalb große Gefahr. Vor langer, langer Zeit, als Segoy die Inseln der Erdsee aus der Tiefe des Meeres hob, trugen alle Dinge ihren eigenen, wahren Namen. Und die ganze Kunst der Magie, der Zauberei, hängt von diesem Wissen ab — des Wiedererlernens, des Erinnerns dieser wahren, uralten Sprache des Formens und Schöpfens. Natürlich muß man Bannsprüche lernen und wissen, wie die Worte zu gebrauchen sind, und man muß selbstverständlich auch die Folgen kennen. Aber ein Zauberer verbringt sein ganzes Leben damit, Namen herauszufinden und der Kunst, wie man Namen herausfinden kann.« »Wie hast du meinen herausgefunden?«
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Er schaute sie einen Augenblick lang mit einem tiefen, klaren Blick an, der durch die Schatten zwischen ihnen drang; er zögerte kurz: »Das kann ich dir nicht sagen. Du bist wie ein Licht, das verdeckt und abgeschirmt an einem dunklen Platz verborgen ist. Doch das Licht scheint, sie konnten es nicht auslöschen. Sie konnten dich nicht verstecken. Und so wie ich das Licht kenne, so kenne ich dich und weiß deinen Namen, Tenar. Das ist meine Gabe, meine Macht. Mehr kann ich nicht sagen. Aber jetzt sag mir: was willst du jetzt tun?« »Ich weiß es nicht.« »Kossil hat ein leeres Grab gefunden. Was wird sie nun tun?« »Ich weiß nicht. Wenn ich jetzt hinaufgehe, kann sie mich töten lassen. Eine Hohepriesterin, die gelogen hat, muß getötet werden. Sie kann mich auf den Stufen des Altars opfern lassen. Und dieses Mal würde Manan mir wirklich den Kopf abschlagen, anstatt nur das Schwert hochzuheben und auf die dunkle Gestalt zu warten, die das Schwert abhält. Dieses Mal würde sie nicht kommen und es abhalten. Es käme herunter und würde meinen Kopf abtrennen.« Sie sprach langsam und ausdruckslos. Er dachte angestrengt nach. »Wenn wir lange hierbleiben«, sagte er,»dann wirst du wahnsinnig werden, Tenar. Der Zorn der Namenlosen bedrückt dich und mich auch. Seit du hier bist, ist es besser geworden, viel besser. Aber es hat so lange gedauert, bis du gekommen bist, und ich habe fast meine ganze Kraft aufgebraucht. Keiner kann den Dunklen Mächten lange allein widerstehen. Sie sind zu mächtig.« Er verstummte, seine Stimme war immer leiser geworden, und er schien vergessen zu haben, was er noch sagen wollte. Er rieb sich mit der Hand die Stirn und ging dann zur Wasserflasche, um einen Schluck zu trinken. Er brach ein Stück Brot ab und setzte sich auf die Truhe ihr gegenüber, um es zu essen. Was er gesagt hatte, stimmte. Sie fühlte, wie ein Druck, ein Gewicht auf ihr lag, das ihre Gedanken und Gefühle beschwerte und verwirrte. Doch sie war nicht mehr so verstört wie zuvor, als sie allein durch die Gänge geeilt war. Der Gedanke an die furchtbare Stille außerhalb des Raumes war ihr unerträglich. Warum nur? Noch nie zuvor hatte sie die unterirdi-
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schen Orte gefürchtet. Aber bis jetzt war sie auch den Dunklen Mächten hörig gewesen, hatte noch nie gegen ihren Willen gehandelt. Schließlich lächelte sie schwach. »Hier sitzen wir auf ›dem größten Schatz des Reiches‹«, sagte sie. »Der Gottkönig würde all seine Frauen für eine Truhe hergeben. Und wir haben noch nicht einmal den Deckel aufgemacht und hineingeschaut.« »Ich habe sie aufgemacht«, sagte Sperber kauend. »In der Dunkelheit?« »Oh, ich habe ein bißchen Licht gemacht, ein kleines Werlicht. Es war schwierig hier. Selbst mit meinem Stab wäre es schwer gewesen, und ohne Stab war es, als befände ich mich im Regen und versuchte, mit nassem Holz Feuer zu machen. Aber dann kam es doch. Und ich habe gefunden, was ich suchte.« Sie hob ihr Gesicht langsam hoch und schaute ihn an: »Den Ring?« »Den halben Ring. Du hast die andere Hälfte.« »Ich? Die andere Hälfte ist verloren.« »... und wurde wieder gefunden. Ich trug sie an einer Kette um den Hals. Du hast sie genommen und hast mich gefragt, ob ich mir keinen besseren Talisman leisten könne. Der einzige Talisman, der besser wäre als der halbe Ring von Erreth-Akbe, wäre der ganze Ring. Aber wie man so sagt, ein halber Laib ist besser als gar keiner. Ich habe also deine Hälfte, und du hast die meine.« Er lächelte ihr über die Schatten des Grabes zu. »Als ich ihn genommen habe, hast du gesagt, ich wüßte nicht, was ich damit tun sollte.« »Das stimmt.« »Und weißt du es jetzt?« Er nickte. »Dann sag es mir. Erzähl mir, welche Bewandtnis es mit dem Ring auf sich hat, und wie du die verlorene Hälfte gefunden hast, und wie und warum du hierhergekommen bist. Das muß ich alles wissen, und dann weiß ich vielleicht, was ich tun muß.« »Ja, vielleicht wirst du es dann wissen. Also gut. Welche Bewandtnis hat es mit dem Ring von Erreth-Akbe? Nun, du kannst selbst sehen, daß er
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nicht sonderlich wertvoll ist, und er ist nicht einmal ein Ring. Er ist zu groß dafür. Vielleicht ein Armreif, aber dafür ist er wieder zu klein. Kein Mensch weiß, für wen er gemacht wurde. Elfarran die Lichte hat ihn einmal getragen, bevor die Insel Solea im Meer versank, und damals war der Ring schon alt. Schließlich kam er in den Besitz von Erreth-Akbe... Er ist aus reinem Silber und hat neun Runen, die Macht verleihen. Deine Hälfte hat viereinhalb Runen und meine ebenfalls. Der Bruch ging durch ein Runensymbol und hat es zerstört. Seither nennt man sie die ›verlorene‹ Rune. Magier kennen die anderen acht: Pirr, die vor Wahnsinn, Wind und Wetter schützt, Ges, die Ausdauer verleiht, und so weiter. Doch die zerbrochene Rune war diejenige, welche die Länder verbunden hatte. Es war die Binderune, das Zeichen des Weltreiches, das Zeichen des Friedens. Ein König, der nicht unter dem Zeichen dieser Rune regiert, ist kein guter Herrscher. Niemand weiß, wie diese Rune geritzt wurde. Und seit sie verloren ist, gibt es keine großen Könige in Havnor mehr. Aber es gab viel Fürsten und Tyrannen, Kriege und Streit unter den Ländern der Erdsee. Daher beschlossen die weisen Fürsten und Magier der Innenländer, nach dem Ring von Erreth-Akbe zu fahnden, damit die verlorene Rune wieder hergestellt würde. Aber schließlich gaben sie es auf, weitere Männer auszuschicken und den Ring zu suchen, denn keiner konnte die Hälfte, die sich in den Gräbern von Atuan befand, wiedererlangen, und die andere Hälfte, die Erreth-Akbe einem kargischen König gegeben hatte, war auch verschwunden. Sie kamen überein, daß es keinen Wert mehr hatte, weiter danach zu suchen, und stellten die Fahndung ein. Das war vor vielen hundert Jahren. Jetzt komme ich in die Geschichte. Als ich nur ein wenig älter war als du, war ich auf einer ... auf einer Art Jagd über die See. Das, was ich jagte, hatte mich irregeleitet, und ich wurde auf eine verlassene Insel geworfen, die nicht weit von der Küste von Karego-At und Atuan liegt, südwestlich von hier. Sie war ganz klein, nicht viel größer als eine Sandbank, mit ein paar langen, grasbewachsenen Dünen in der Mitte und einer kleinen Quelle von Salzwasser; das war alles. Dort hausten zwei Leute. Ein alter Mann und eine Frau; ich glaube, es waren Bruder und Schwester. Sie waren zu Tode erschrocken, als sie
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mich sahen. Sie hatten seit — oh, wie lange schon? —, seit Jahren, Jahrzehnten, kein menschliches Gesicht mehr gesehen. Aber ich kam zu ihnen, und meine Not war groß, und sie waren gut zu mir. Sie hatten eine kleine Hütte aus Treibholz und ein Feuer. Die alte Frau gab mir zu essen, Muscheln, die sie bei Ebbe von den Felsen absammelte, getrocknetes Fleisch von Seevögeln, die sie mit Steinen erlegten. Sie hatte Angst vor mir und gab mir trotzdem zu essen. Als sie merkte, daß sie mich nicht zu fürchten hatte, wurde sie zutraulicher und zeigte mir ihre Schätze. Sie hatte auch wirklich einen Schatz ... Es war ein kleines Kleid aus Seidenzeug mit Perlen, ein Kinderkleid, das Kleid einer kleinen Prinzessin. Sie aber trug ein ungegerbtes Seehundsfell. Unterhalten konnten wir uns nicht. Damals sprach ich noch nicht Kargisch, und sie verstanden die Sprachen des Innenreiches nicht, selbst ihre eigene kannten sie nicht gut. Man hatte sie, als sie noch jung waren, hierhergebracht, damit sie sterben sollten. Ich weiß nicht, warum, ich bezweifle, daß sie es wußten. Sie kannten nur die Insel, den Wind und das Meer. Aber als ich fortging, gab die Frau mir ein Geschenk. Sie gab mir die verlorene Hälfte von Erreth-Akbes Ring. Er schwieg eine Weile. »Damals wußte ich genauso wenig wie sie, was es war. Die größte Gabe des Jahrhunderts, von einer unwissenden, alten Frau in Seehundsfellen einem dummen Jungen gegeben, der sie in seine Tasche stopfte, ›Danke‹ sagte und davonsegelte ... Na ja, ich bin weitergesegelt und tat, was ich tun mußte. Aber dann kam anderes dazwischen, und ich ging zu den Dracheninseln im Westen und so weiter. Und die ganze Zeit behielt ich den Ring bei mir, denn ich war dankbar und gerührt, daß diese alte Frau mir das einzige Geschenk gab, das sie mir geben konnte. Und eines Tages auf Selidor, das ist eine ferne Insel, auf der Erreth-Akbe im Kampf mit dem Drachen Orm fiel — auf Selidor sprach ich mit einem Drachen, einem Nachkommen von Orm, und er sagte mir, was ich auf meiner Brust trug. Er fand es natürlich komisch, daß ich es nicht wußte. Drachen finden uns meistens komisch. Aber an Erreth-Akbe erinnern sie sich. Von ihm sprechen sie, als sei er ein Drache gewesen und kein Mensch.
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Als ich zu den Innenländern zurückkehrte, ging ich nach Havnor. Ich bin auf Gont geboren, nicht allzu weit westlich von Kargad, und ich war viel herumgewandert, doch nach Havnor war ich noch nie gekommen. Es war Zeit, daß ich dort hinging. Ich sah die weißen Türme, und ich sprach mit den bedeutenden Männern dort, den Kaufleuten, Prinzen und Fürsten der alten Länder. Ich erzählte ihnen, was ich besaß, und ich erbot mich, wenn sie es wünschten, zu den Gräbern von Atuan zu gehen, um die verlorene Rune wiederzufinden, den Schlüssel zum Frieden. Denn wir haben Frieden bitter nötig auf dieser Welt, bitter nötig. Sie rühmten und priesen mich, und einer von ihnen gab mir sogar Geld, um mein Boot für die Reise auszustatten. Und ich lernte die Sprache, die hier gesprochen wird, und kam nach Atuan.« Er schwieg und blickte in die Schatten vor sich. »Erkannten dich die Leute in unseren Städten nicht? Merkten sie nicht, daß du aus dem Westen bist, an deiner Hautfarbe und an deiner Sprache?« »Oh, es ist nicht schwer, Leute hinters Licht zu führen«, sagte er geistesabwesend, »man muß sich nur mit Hilfe von Illusionszaubereien etwas ändern, und niemand, nur ein anderer Magier, kann dich durchschauen. Und hier auf Kargad gibt es ja keine Zauberer und keine Magier. Und das ist auch eine seltsame Sache. Vor langer Zeit schon wurden alle Zauberer von hier verbannt, und die Kunst der Magie wurde verboten, und heute glaubt fast keiner mehr daran.« »Mich haben sie gelehrt, nicht daran zu glauben. Magie widerspricht den Lehren der Priesterkönige. Aber ich weiß, daß dich nur Hexerei zu den Gräbern und durch die Tür zwischen den roten Felsen gebracht hat.« »Nicht nur Hexerei, sondern auch guter Rat. Wir schreiben mehr als ihr, glaube ich. Kannst du lesen?« »Nein, das ist eine der Schwarzen Künste.« Er nickte. »Aber es ist eine sehr nützliche«, sagte er. »Ein längst vergessener, erfolgloser Dieb hinterließ gewisse Beschreibungen der Gräber von Atuan und Anweisungen, wie man hineingelangt, wenn man die großen Zauberformeln des Öffnens wirken kann. Das fand ich alles
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in einem Buch in der Schatzkammer eines Prinzen von Havnor. Er ließ es mich lesen. So kam ich bis an das große, unterirdische Gewölbe ...« »Das Untergrab.« »Der Dieb, der das aufgeschrieben hatte, glaubte, daß der Schatz sich dort im Untergrab befände. Deswegen habe ich dort gesucht, aber ich hatte das Gefühl, daß er tiefer im Labyrinth versteckt war. Ich kannte den Eingang zum Labyrinth, und als ich dich sah, ging ich dorthin, um mich zu verstecken. Das war natürlich ein Fehler. Die Namenlosen hatten mich bereits in ihrer Gewalt, und ich konnte nicht mehr klar denken. Und seither bin ich nur noch schwächer und dümmer geworden. Man darf ihnen nie nachgeben, man muß sich immer wehren, man muß stark und seiner selbst sicher sein. Das habe ich schon vor langer Zeit gelernt. Aber hier, wo sie so mächtig sind, fällt es einem schwer. Es sind keine Götter, Tenar. Aber sie sind stärker als jeder Mensch.« Beide schwiegen lange. »Was hast du noch in den Truhen gefunden?« fragte sie teilnahmslos. »Plunder; Gold, Juwelen, Kronen, Schwerter; Zeug, das keinem, der jetzt lebt, gehört... Tenar, erzähl mir, wie du zur Priesterin der Gräber gewählt wurdest!« »Wenn die Erste Priesterin stirbt, dann suchen sie in allen Ländern nach einem kleinen Mädchen, das in der gleichen Nacht geboren wurde. Sie finden immer eines, denn es ist die wiedergeborene Priesterin. Wenn das Kind fünf Jahre alt ist, bringen sie es hierher, und wenn es sechs Jahre alt ist, wird es den Namenlosen übergeben, und seine Seele wird verzehrt. Dann gehört es ihnen, und seit Urzeiten hat es ihnen gehört. Es hat keinen Namen.« »Glaubst du das?« »Ich habe immer daran geglaubt.« »Glaubst du es jetzt noch?« Sie antwortete nicht. Wiederum breitete sich das dunkle Schweigen zwischen ihnen aus. Eine geraume Zeit verstrich, dann sagte sie: »Erzähl mir ... erzähl mir von den Drachen im Westen!«
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»Tenar, was willst du jetzt tun? Wir können nicht hier sitzen und uns Geschichten erzählen, bis die Kerze niedergebrannt ist und die Dunkelheit wiederkommt.« »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe Angst.« Sie saß aufrecht und preßte ihre Hände zusammen. Sie sprach laut, als hätte sie Schmerzen. Sie sagte: »Ich habe Angst vor der Dunkelheit.« Er antwortete leise: »Du mußt dich entscheiden. Entweder du verläßt mich, verschließt die Tür, gehst zu deinem Altar und übergibst mich deinen Gebietern; dann gehst du zu Kossil und schließt Frieden mit ihr — und das ist das Ende der Geschichte — oder du schließt die Tür auf und gehst durch die Tür mit mir. Und das ist der Anfang der Geschichte. Du mußt dich entschließen, entweder Arha oder Tenar zu sein. — Du kannst nicht beides sein.« Die tiefe Stimme klang warm und fest. Sie blickte durch die Schatten in sein Gesicht, ein hartes, vernarbtes Gesicht, das keine Grausamkeit, keinen Arg verbarg. »Wenn ich den Dienst der Namenlosen verlasse, werden sie mich töten. Wenn ich diesen Ort verlasse, werde ich sterben.« »Du wirst nicht sterben. Arha wird sterben.« »Ich kann nicht...« »Um wiedergeboren zu werden, muß man den Tod erleiden, Tenar. Es ist nicht so schwer, wie man es sich vorstellt.« »Sie wird uns niemals herauslassen. Niemals.« »Vielleicht nicht. Es lohnt sich, den Versuch zu wagen. Du hast das Wissen, ich habe meine Künste, und wir beide zusammen haben ...« Er hielt inne. »Wir haben den Ring von Erreth-Akbe.« »Ja, den auch. Aber ich dachte noch an etwas anderes, was wir allein haben. Nennen wir es Vertrauen — das ist einer der Namen dafür. Es ist etwas ganz Großes. Allein ist jeder von uns schwach, doch was wir gemeinsam haben, macht uns stark, stärker als die Mächte der Finsternis.« Seine Augen leuchteten hell und klar in seinem vernarbten Gesicht. »Hör mir zu, Tenar! Ich kam als Dieb, als Feind, gewaffnet gegen dich, doch du hattest Mitleid mit mir, du hast mir vertraut. Und als
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ich dein Gesicht zum ersten Mal, ganz kurz nur, dort unten in der Höhle unter den Gräbern sah, seine Schönheit in der Dunkelheit, habe auch ich dir vertraut. Du hast dein Vertrauen bewiesen. Ich habe dir nichts dafür gegeben. Ich gebe dir jetzt alles, was ich zu geben vermag. Mein wahrer Name ist Ged. Und das gehört dir.« Er war aufgestanden und streckte ihr einen Halbring aus graviertem, durchbrochenem Silber entgegen: »Möge der Ring wieder geschlossen werden«, sagte er. Sie nahm ihn aus seiner Hand entgegen. Sie zog die Silberkette, an der die andere Hälfte des Ringes hing, über den Kopf und nahm ihn ab. Sie legte die beiden Stücke so auf ihre Handfläche, daß die zerbrochenen Enden sich berührten, und der Ring sah geschlossen aus. Sie hob ihr Gesicht nicht hoch. »Ich werde mit dir gehen«, sagte sie.
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DER ZORN DER DUNKLEN MÄCHTE
ALS SIE DIESE WORTE gesprochen hatte, legte der Mann, dessen wahrer Name Ged war, seine Hand über ihre Hand, die den zerbrochenen Talisman hielt. Sie schaute überrascht auf und sah, wie das Leben und der Triumph seine Züge erstrahlen ließen. Sie erschrak und fürchtete sich vor ihm. »Du hast uns beide befreit«, sagte er. »Allein gewinnt niemand die Freiheit. Komm, laß uns keine Zeit vergeuden, so lange wir noch welche haben. Laß mich den Ring noch einmal sehen!« Sie hatte ihre Finger über den Silberstücken geschlossen; seiner Bitte gehorchend, öffnete sie ihre Hand und hielt sie ihm hin; die zerbrochenen Stellen berührten sich. Er nahm sie nicht, sondern legte seine Finger darauf. Er sprach einige Worte, und Schweiß bedeckte plötzlich seine Stirn. Sie fühlte ein seltsames, schwaches Beben auf ihrer Handfläche, als hätte sich ein kleines, schlafendes Tier bewegt. Ged seufzte auf, seine Haltung entspannte sich, er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Hier«, sagte er und hob den Ring von Erreth-Akbe auf. Er schob ihn über die Finger ihrer rechten Hand, er ging gerade über die breiteste Stelle, und auf ihr Gelenk. »Hier«, sagte er und betrachtete ihn mit Befriedigung. »Er paßt. Es muß das Armband einer Frau oder eines Kindes gewesen sein.« »Wird er halten?« murmelte sie nervös und befühlte den kühlen, feinen Reif an ihrem dünnen Arm. »O ja, er wird halten. Ich konnte keine einfache Bindeformel, wie sie ein Zauberweib zum Kesselflicken benutzt, am Ring von Erreth-Akbe wirken. Ich mußte eine Formel der Formgebung verwenden, um ihn wieder ganz zu machen. Jetzt ist er wieder geschlossen, so als ob er noch
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nie zerbrochen gewesen wäre. Tenar, jetzt müssen wir aber gehen. Ich trage die Tasche und die Flasche. Nimm deinen Umhang. Noch etwas?« Als sie nach dem Schloß an der Tür tastete, um sie auf zuschließen, sagte er: »Ich wollte, ich hätte meinen Stab«, und sie antwortete flüsternd: »Er ist hier, vor der Tür. Ich habe ihn mitgebracht.« »Warum hast du ihn gebracht?« fragte er neugierig. »Ich dachte ... ich dachte, daß ich dich an die Tür bringen und dann fliehen lassen könnte.« »Diese Wahl hattest du nicht. Du hättest mich als Sklave behalten und selbst Sklavin sein können, oder du konntest mich befreien und dich selbst mitbefreien. Komm, Kleines, habe Mut und dreh den Schlüssel um!« Sie drehte den Schlüssel mit dem Drachengriff im Schloß herum und öffnete die Tür in den niederen, dunklen Gang. Sie verließ den Großen Schatz der Gräber mit dem Ring von Erreth-Akbe am Arm, und der Mann folgte ihr. Ein dumpfes Beben, ein Vibrieren, kein eigentliches Geräusch, war in dem Fels der Wände, des Bodens und der Decke spürbar. Es klang wie ferner Donner, wie ein riesiger Fall in weiter Ferne. Die Haare standen ihr in die Höhe, und ohne zu überlegen, blies sie die Kerze in der Laterne aus. Sie spürte die Bewegung des Mannes hinter sich; seine ruhige Stimme sprach so nahe, daß sein Atem ihre Haare berührte: »Laß die Laterne hier. Ich kann Licht machen, wenn es nötig ist. Welche Tageszeit ist draußen?« »Es war lange nach Mitternacht, als ich hierher kam.« »Dann müssen wir uns beeilen.« Aber er bewegte sich nicht. Es wurde ihr bewußt, daß sie vorangehen und führen mußte. Nur sie kannte den Weg aus dem Labyrinth, und er wartete, um ihr zu folgen. Sie begann den Rückweg, gebückt, denn der Gang war niedrig, aber sie schritt rüstig voran. Von den unsichtbaren Seitengängen her kam ein kalter Luftzug und ein scharfer Verwesungsgeruch, der Totengeruch der riesigen Höhle unter ihnen. Als der Gang höher wurde und sie aufrecht stehen konnte, verlangsamte sie ihre Schritte und zählte jeden einzelnen bis zum Schacht. Leichten Fußes,
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jede ihrer Bewegungen nachspürend, folgte er ihr auf dem Fuße. Als sie anhielt, blieb auch er sofort stehen. »Hier ist der Schacht«, flüsterte sie. »Ich kann den Sims nicht finden. Nein, hier. Sei vorsichtig, die Steine bröckeln ab... Nein, nein warte — er ist locker ...« Sie schob sich seitwärts wieder zurück, als die Steine unter ihren Füßen loszubrechen begannen. Der Mann ergriff sie beim Arm und hielt sie fest. Ihr Herz schlug heftig. »Der Sims ist nicht mehr fest, die Steine haben sich gelockert.« »Ich werde etwas Licht machen und sie mir anschauen. Vielleicht kann ich sie mit dem richtigen Wort festigen. Hab keine Furcht, Kleines!« Sie dachte daran, wie seltsam es war, daß er sie beim gleichen Namen nannte, bei dem Manan sie gerufen hatte. Als er ein schwaches Lichtlein am Ende seines Stabes hervorgebracht hatte, wie das Glühen faulenden Holzes oder wie ein Stern im Nebel, und auf den schmalen Sims neben dem schwarzen Abgrund trat, sah sie eine unförmige, dunkle Gestalt im Schatten der anderen Seite sich drohend erheben und erkannte Manan. Die Stimme blieb ihr in der Kehle stecken wie in einer Schlinge, und sie konnte nicht aufschreien. Als Manan die Hand ausstreckte, um ihn von dem unsicheren Sims in den Schacht hinunterzustoßen, blickte Ged hoch und sah ihn. Mit einem Schrei, Überraschung oder Wut, riß er den Stab hoch und hieb auf ihn ein. Beim Schrei war das Licht hell und durchdringend aufgeglüht und schien direkt ins Gesicht des Eunuchen. Manan riß seine Hand hoch, um seine Augen vor dem Licht zu schützen, sprang in voller Verzweiflung auf Ged zu, verfehlte ihn und stürzte in den Abgrund. Er gab keinen Laut von sich, als er fiel. Kein Laut drang aus dem schwarzen Schacht empor, kein Laut eines aufschlagenden Körpers war vernehmbar, kein Laut des Todes, nichts. Ged und Tenar, vor Entsetzen erstarrt, knieten gefährlich nahe am Rand und horchten hinunter. Nichts war zu hören, alles blieb still. Das Licht war nur noch ein grauer Fleck, kaum wahrnehmbar.
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»Komm!« sagte Ged und streckte die Hand aus; sie ergriff sie, und mit drei großen, gewagten Schritten war sie auf der anderen Seite. Er löschte das Licht. Sie ging wieder voraus und führte. Sie konnte nichts fühlen, nichts denken. Nur nach einer Weile begann sie zu überlegen: Muß ich rechts oder links gehen? Sie blieb stehen. Ein paar Schritte hinter ihr stehend, fragte er leise: »Was ist los?« »Ich habe den Weg verloren. Mach Licht!« »Verloren?« »Ich habe ... ich habe mich bei den Abzweigungen verzählt.« »Ich habe mitgezählt«, sagte er und kam etwas näher. »Links nach dem Schacht, dann rechts, dann wieder rechts.« »Dann wieder rechts beim nächsten«, sagte sie automatisch, aber sie bewegte sich nicht. »Mach Licht!« »Das Licht wird uns nicht den Weg weisen, Tenar!« »Nichts wird uns den Weg weisen. Alles ist verloren. Wir sind verloren.« Die tote Stille erwürgte ihr Flüstern, verzehrte es. Sie spürte die Bewegung und Wärme des Mannes, der nahe bei ihr war in der Dunkelheit. Er suchte ihre Hand und hielt sie fest. »Geh weiter, Tenar, den nächsten Gang rechts.« »Mach ein Licht!« flehte sie. »Die Gänge sind so verschlungen...« »Ich kann nicht, ich habe keine Kraft übrig, Tenar. Sie sind ... sie wissen, daß wir die Schatzkammer verlassen haben, daß wir am Schacht vorbei sind. Sie suchen uns, suchen unseren Willen, unseren Geist, damit sie ihn auslöschen, verschlingen können. Den muß ich wach halten, und meine ganze Macht konzentriert sich darauf. Ich muß ihnen widerstehen, mit dir, mit deiner Hilfe. Wir müssen weitergehen.« »Kein Weg führt hinaus«, sagte sie, aber sie machte einen Schritt vorwärts. Dann einen weiteren, zögernd, als ob sich unter jedem Schritt das schwarze, hohle Nichts auftäte, die Leere unter der Erde. Seine warme, feste Hand hielt die ihre umschlossen. Sie ging weiter. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie die Treppe erreichten. Die Stufen schienen steiler zu sein als zuvor, sie waren wie glitschige Kerben
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im Fels. Aber sie kletterte hinauf und ging dann etwas schneller, denn sie wußte, daß der geschwungene Gang sich nach der Treppe lang und ohne Abzweigung erstreckte. Ihre Finger, die sich an der linken Wand entlang getastet hatten, fühlten eine Öffnung linkerhand. »Hier«, murmelte sie, aber er zögerte, als ob etwas in ihren Bewegungen Zweifel in ihm erweckt hätte. »Nein«, murmelte sie verwirrt, »nicht diese hier, die nächste links. Ich weiß es nicht mehr. Ich schaffe es nicht. Kein Weg führt hier hinaus.« »Wir gehen in den Bemalten Raum«, sagte die ruhige Stimme aus der Dunkelheit. »Wie gelangen wir dorthin?« »Links nach dieser Öffnung.« Sie führte ihn weiter. Sie gingen den langen Umweg, an zwei falschen Abzweigen vorbei, und kamen in den Gang, der zum Bemalten Raum führte. »Jetzt geradeaus«, sagte sie, und nun ging das Entwirren in der Dunkelheit schneller vor sich, denn diese Gänge, die zur eisernen Tür führten, waren ihr geläufig, schon hundertmal war sie hier gegangen; die seltsame Schwere, die auf ihr lag, konnte sie nicht durcheinanderbringen, solange sie nicht daran dachte. Aber die ganze Zeit kamen sie näher, näher zu dem, was so schwer auf ihr lag und sich an sie preßte; ihre Beine waren so müde, so schwer, daß sie ein- oder zweimal wimmerte vor Schmerz ob der Anstrengung, die es kostete, sie zu bewegen. Und der Mann neben ihr atmete tief und hielt den Atem an, immer wieder, wie jemand, dessen Körper einer furchtbaren Anstrengung ausgesetzt ist. Manchmal brach seine Stimme unterdrückt durch, mit einem Wort oder dem Fragment eines Wortes. So gelangten sie endlich an die eiserne Tür, und in plötzlichem Entsetzen streckte sie die Hand aus. Die Tür war offen! »Schnell«, sagte sie und zog ihren Gefährten durch. Auf der anderen Seite hielt sie an. »Warum war sie offen?« fragte sie. »Weil deine Gebieter deine Hände benötigen, um die Tür für sie zu schließen.« »Jetzt kommen wir zum ...« Ihre Stimme versagte.
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»... zum Mittelpunkt der Dunkelheit. Ich weiß. Aber wir sind aus dem Labyrinth heraus. Welche Wege führen aus dem Untergrab hinaus?« »Nur einer. Die Tür, durch die du gekommen bist, kann nicht von innen geöffnet werden. Der Weg hinaus führt durch das Untergrab und durch Gänge zu einer Falltür in einem Raum hinter der Thronhalle.« »Dann müssen wir diesen Weg nehmen.« »Aber sie ist dort«, flüsterte das Mädchen. »Dort im Untergrab; im Gewölbe; sie schaufelt im leeren Grab herum. Ich kann nicht — ich kann nicht an ihr vorbeigehen!« »Sie wird nicht mehr da sein.« »Ich kann nicht dorthin gehen.« »Tenar, ich halte in diesem Augenblick das Dach über unseren Köpfen hoch. Ich halte die Wände zurück, damit sie nicht auf uns stürzen. Ich halte den Boden unter unseren Füßen geschlossen. Das tue ich schon, seit wir den Schacht verlassen haben, wo ihr Diener auf uns gewartet hat. Wenn ich das Erdbeben im Zaum halten kann, fürchtest du dich, mit mir an einer menschlichen Seele vorbeizugehen? Vertraue mir, wie ich dir vertraut habe. Komm jetzt mit mir!« Sie ging vorwärts. Der endlose Gang wurde weiter. Das Gefühl, in einem großen Raum zu sein, überkam sie. Sie hatten das Gewölbe unter den Steinen betreten. Sie tasteten sich an der Wand entlang. Tenar war nur ein paar Schritte weit gegangen, als sie stehenblieb. »Was ist das?« murmelte sie kaum hörbar. In der schwarzen, riesigen, toten Luftleere war ein Geräusch vernehmbar: ein Zittern, ein Beben, ein Laut, der vom Blut gehört, von den Knochen gespürt wurde. Die von der Zeit selbst gemeißelten Wände unter ihren Fingern pulsierten, dröhnten. »Geh weiter«, die Stimme des Mannes klang brüchig, fast erstickt. »Beeilʹ dich, Tenar!« Als sie vorwärts stolperte, flehte sie in ihrem Herzen, das so dunkel, so bebend wie das unterirdische Gewölbe selbst war: »Vergebt mir! Oh, meine Gebieter, oh, ihr Namenlosen, ihr Ewigen, vergebt mir, vergebt mir!«
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Doch sie erhielt keine Antwort. Es gab keine Antwort. Noch nie hatte es eine Antwort gegeben. Sie kamen zum Gang unter der Halle, kletterten die Stufen hinauf und erreichten die letzte Stufe und die Falltür über ihnen. Sie war geschlossen, so wie sie die Tür immer hinter sich ließ. Sie drückte die Feder, um sie zu öffnen. Sie öffnete sich nicht. »Sie ist kaputt«, sagte sie. »Sie geht nicht auf, sie ist verschlossen.« Er kam herauf zu ihr und stemmte seinen Rücken gegen die Tür. Sie bewegte sich nicht. »Sie ist nicht verschlossen, sondern etwas Schweres liegt auf ihr.« »Kannst du sie aufbekommen?« »Vielleicht. Ich nehme an, daß sie dort wartet. Hat sie Männer bei sich?« »Duby und Uahto, vielleicht noch andere Wärter ... Männer dürfen hier nicht herkommen.« »Ich kann nicht gleichzeitig einen Öffnungszauber wirken, mich gegen Leute wehren, die auf uns warten und dem Willen der Dunkelheit widerstehen«, sagte er, und seine Stimme klang ruhig und abwägend. » Wir müssen die andere Tür versuchen, die zwischen den Felsen, durch die ich hereinkam. Weiß sie, daß diese Tür nicht von innen geöffnet werden kann?« »Ja, das weiß sie. Sie hat es mich einmal versuchen lassen.« »Dann rechnet sie nicht damit. Komm, Tenar!« Sie war auf die Steintreppe gesunken, die erbebte und summte wie eine Riesensehne, die in der Tiefe unter ihr gespannt wurde. »Woher kommt dieses Zittern?« »Komm!« sagte er, und seine Stimme war so bestimmt, so fest, daß sie ihm gehorchte und die Treppe und Gänge zurückschlich, zurück zu dem fürchterlichen Gewölbe. Am Eingang fiel ein Gewicht voll abgrundtiefen, blinden Hasses auf sie, das sie zu Boden drückte wie das Gewicht der Erde selbst, so daß sie sich niederkauerte und ohne es zu wissen aufschrie: »Sie sind hier! Sie sind hier! ...«
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»Dann laß sie wissen, daß wir hier sind!« sagte der Mann, und von seinem Stab und von seinen Händen sprang ein Licht auf, dessen heller weißer Glanz in Tausenden und aber Tausenden von Funken an den Diamanten der Decke und den Wänden zersprühte; und durch diese Lichterpracht flohen die beiden, quer durch das Gewölbe; ihre Schatten glitten über die weißen Spitzbögen, die glitzernden Nischen, das leere, offene Grab. Sie rannten zu dem niedrigen Gang, in den Gang hinein, bückten sich tief, sie voran, er dichtauf folgend. Und dort im Gang dröhnte der Fels, bewegte sich mahlend unter ihren Sohlen. Doch das Licht umgab sie noch, leuchtete ihnen noch. Als sie die tote Felswand vor sich sah, hörte sie durch das Krachen und Bersten der Erde seine Stimme ein Wort sagen, und als sie auf die Knie fiel, schlug der Stab über ihrem Kopf gegen den roten Fels der geschlossenen Tür. Der Fels glühte weiß auf, als stünde er im Feuer, und brach auseinander. Draußen wölbte sich der Himmel über sie, bleich vor der kommenden Morgenröte. Ein paar weiße Sterne standen hoch darin in kühlem Feuer. Tenar sah die Sterne und fühlte den süßduftenden Wind, der ihr Gesicht berührte. Tenar schauderte zusammen und blieb auf Händen und Knien zwischen Himmel und Erde liegen. Der Mann, eine fremde, dunkle Gestalt im Ungewissen Licht vor dem Morgengrauen, wandte sich um und zog sie am Arm, damit sie aufstehe. Sein Gesicht war schwarz und verzerrt wie das Gesicht eines Dämons. Sie kauerte und krümmte sich weg von ihm und kreischte mit einer fremden Stimme, als hätte sie eine tote Zunge in ihrem Mund: » Nein! Nein! Rühr mich nicht an ... Laß mich los ... Geh fort!« Und sie duckte sich und schlängelte sich zu dem zerbröckelnden, grausamen Mund der Gräber hin. Sein fester Griff lockerte sich. Er sprach mit ruhiger Stimme: »Tenar, im Namen des Reifens, den du am Arm trägst, gebiete ich dir zu kommen!« Sie sah das Licht der Sterne auf dem silbernen Ring an ihrem Arm. Ihre Augen darauf geheftet, erhob sie sich taumelnd. Sie reichte ihm die Hand, und zusammen gingen sie fort. Sie konnte nicht schnell gehen.
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Sie gingen den Hügel hinunter. Aus dem schwarzen Mund zwischen den Steinen hinter ihnen ertönte ein langgezogenes Stöhnen und Heulen voll Haß und Klage. Steine fielen rings um sie herum zur Erde. Der Boden erzitterte. Sie gingen weiter, ihre Augen waren noch immer fest auf das Funkeln der Sterne gerichtet, das sich auf ihrem Armreif spiegelte. Sie befanden sich jetzt in dem schwach erhellten Tal westlich der Stätte. Ihr Weg führte leicht bergauf, und plötzlich hieß der Mann sie, sich umzudrehen: »Schau...« Sie wandte sich um und schaute. Sie standen jetzt auf der anderen Seite des Tales, auf einer Höhe mit den Grabsteinen, den neun großen Monolithen, die über dem Gewölbe der Diamanten und Gräber standen oder lagen. Die Steine, die standen, begannen sich jetzt zu bewegen. Sie zuckten und ruckten und lehnten sich langsam zur Seite, wie die Masten von sinkenden Schiffen. Einer von ihnen schien sich zu recken, schien höher zu werden, doch dann, plötzlich, schien ihn etwas von innen heraus zu schütteln, und er fiel zur Seite. Ein anderer fiel quer darüber und zerbarst. Die Kuppel der Thronhalle hinter den Steinen, die sich schwarz vor dem gelben Licht im Osten abhob, begann zu erbeben. Die Wände rundeten sich nach außen. Der ganze riesige, schadhafte Bau aus Stein und Mörtel änderte seine Form, wie Lehm unter fließendem Wasser, und mit einem mächtigen, lauten Stöhnen und einem Prasseln von Splittern rutschte er zur Seite und sank in sich zusammen. Staub wallte auf. Der Boden des Tales kräuselte sich und begann zu zukken; wie eine Welle lief das Beben den Hügel hinauf, und ein großer Spalt öffnete sich zwischen den Grabsteinen, ein riesenhaftes Maul der darunter liegenden Finsternis, aus dem Staub wie träger grauer Rauch aufquoll. Die noch stehenden Steine fielen hinein und wurden verschlungen. Mit einem furchtbaren Krachen, dessen Echo der Himmel selbst zurückzuwerfen schien, schlössen sich die unförmigen schwarzen Lippen, und der Spalt wurde zusammengedrückt. Die Hügel erzitterten noch einmal und kamen dann zur Ruhe. Sie wandte den Blick von dem grauenhaften Erdbeben ab zum Gesicht des Mannes an ihrer Seite, das sie noch nie im Tageslicht gesehen hatte. »Du hast es zurückgehalten.« Ihre Stimme klang dünn, wie ein Wind im
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Ried, nach dem mächtigen Brüllen und Stöhnen der Erde. »Du hast das Erdbeben, den Zorn der Dunklen Mächte, zurückgehalten.« »Wir müssen weitergehen«, sagte er und wandte sich vom Sonnenaufgang und von den Ruinen der Stätte ab. »Ich bin müde, mir ist kalt ...« Er strauchelte vor Erschöpfung, als sie weitergingen, und sie hielt ihn am Arm fest. Keiner von ihnen konnte schnell gehen, beide schleppten sie sich dahin. Langsam, wie zwei kleine Spinnen, quälten sie sich den langen, hohen Hang des Berges hinauf, bis sie oben auf dem trockenen Boden des Gipfels standen, der hellgelb war vom Licht der aufgehenden Sonne und gestreift von dem langen, spärlichen Schatten des Salbeis. Vor ihnen erhoben sich die Berge des Westens, deren Flanken noch in violette Schatten gehüllt waren, deren obere Hänge aber bereits im goldenen Licht erglänzten. Die beiden hielten kurz an, dann schritten sie über den Kamm des Hügels und verschwanden aus dem Blickfeld der Stätte.
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DIE BERGE IM WESTEN
TENAR ERWACHTE aus schweren Träumen, die sie an dunkle Orte geführt hatten, auf Pfade, die sie so lange beschriften hatte, daß ihr Fleisch von den Knochen gefallen war und sie die Elle und Speiche ihres Unterarms schwach in der Dunkelheit ausmachen konnte. Sie öffnete die Augen ins goldene Licht des Tages und sog den herben Duft des Salbeis ein. Eine Glückseligkeit erfüllte sie, ein Wonnegefühl durchrieselte ihren Körper, und sie setzte sich auf, streckte ihre Arme, die in den schwarzen Ärmeln ihres Umhangs steckten, und blickte mit hellem Vergnügen um sich. Es war Abend. Die Sonne war schon hinter den Bergen, die nahe und hoch im Westen standen, versunken, aber ihr Schein ergoß sich noch über Himmel und Erde, über einen weiten, klaren, winterlichen Himmel, über ein weites, leeres, goldenes Land, unterbrochen von Bergen und breiten Tälern. Der Wind hatte sich gelegt. Es war kalt und ganz still. Nichts bewegte sich. Die Blätter des Salbeis neben ihr waren grau und trocken, die Stengel von verdorrten, winzigen Wüstenkräutern stachen ihre Hand. Die schweigende, allumfassende Lichterpracht lag auf jedem Zweig, auf jedem dürren Blatt und Stengel, auf den Hügeln, in der Luft. Sie blickte nach links und sah den Mann fest schlafend auf dem Boden neben sich liegen, in seinen Umhang gewickelt und mit einem Arm unter dem Kopf. Sein Gesicht sah selbst im Schlaf streng, beinahe düster aus, doch seine linke Hand lag entspannt neben einer kleinen Distel, die noch ihren grauen, dünnen Mantel aus leichtem Flaum und ihre schützenden, winzigen Stacheln trug. Der Mann und die kleine Wüstendistel; die Distel und der schlafende Mann...
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Die Macht des Mannes war so groß wie die der Urmächte, ja sie war ihnen sogar verwandt. Er sprach mit Drachen und hielt mit seinem Wort das Erdbeben im Zaum. Und hier lag er schlafend auf dem Boden, und eine kleine Distel wuchs neben seiner Hand. Es war alles sehr merkwürdig. Das Leben hier auf der Erde war etwas viel Größeres, viel Seltsameres, als sie es sich je hätte träumen lassen. Die Lichterpracht des Himmels berührte kurz sein staubiges Haar und ließ die Distel golden aufleuchten. Das Licht er losch langsam. Die Kälte verschärfte sich. Tenar stand auf und begann trockenen Salbei und Reisig zu sammeln. Sie brach dürre Äste ab, die klein, aber für ihre Verhältnisse genauso knorrig und stark wie Eichenäste waren. Sie hatten hier gegen die Mittagszeit angehalten, als es warm geworden war und sie zu erschöpft waren, um weiterzugehen. Ein paar niedrige Wacholderbüsche und der westliche Hang des Kammes, den sie gerade herabgestiegen waren, boten genügend Schutz. Sie hatten etwas Wasser aus der Flasche getrunken und sich zum Schlafen niedergelegt. Unter den niedrigen Bäumen fand sie einen Armvoll Reisig. In der geschützten Ecke eines Felsen, der halb in der Erde steckte, scharrte sie eine kleine Grube und legte ihre Zweige kunstgerecht übereinander. Sie zündete sie mit ihrem einfachen Feuerzeug aus Stein und Stahl an. Die dürren Blätter und Zweige fingen sofort Feuer. Die trockenen Zweige blühten auf zu rosigen Flammen und dufteten nach Harz. Um das Feuer herum schien es jetzt ganz dunkel zu sein; an dem überwältigenden Himmel begannen die Sterne zu funkeln. Das Knistern des Feuers weckte den Schlafenden. Er setzte sich auf und rieb die Hände über sein staubiges Gesicht; schließlich stand er steif auf und kam näher. »Ich weiß nicht...«, sagte er verschlafen. »Ich weiß, aber wir können die Nacht hier nicht ohne Feuer überstehen. Es wird hier sehr kalt.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Außer du kannst irgendwelche Magie wirken, die uns warm hält, oder die das Feuer verbirgt ...«
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Er setzte sich ans Feuer, seine Füße berührten es fast, und hielt seine Knie mit den Armen umschlungen: »Brrr«, sagte er. »Ein Feuer ist viel besser als Magie. Ich habe einen kleinen Illusionszauber gewirkt: wenn jemand vorbeikommt, sehen wir aus wie Steine und Stöcke. Was meinst du? Werden sie uns verfolgen?« »Ich fürchte es, aber ich glaube es nicht. Nur Kossil wußte, daß du hier bist, Kossil und Manan, und beide sind tot. Sie war sicherlich in der Halle, als diese einstürzte. Sie hat an der Falltür gewartet. Und die anderen, die glauben, daß ich in der Halle oder in den Gräbern war und im Erdbeben umgekommen bin.« Auch sie hielt ihre Knie umschlungen und schauderte zusammen. »Hoffentlich sind die anderen Gebäude nicht zusammengefallen. Man konnte es nicht richtig vom Hügel aus sehen, zu viel Staub war in der Luft. Die Tempel und Häuser sind doch bestimmt nicht alle zusammengebrochen, und hoffentlich nicht das Großhaus, in dem alle Mädchen schlafen.« »Ich glaube nicht. Die Gräber haben sich selbst verschlungen. Als wir uns abwandten, sah ich noch das Golddach irgendeines Tempels stehen. Und am Fuß des Hügels rannten Leute herum.« »Was werden die wohl gesagt und gedacht haben ... Arme Penthe! Vielleicht muß sie jetzt Hohepriesterin des Gottkönigs werden. Und sie war diejenige, die fortlaufen wollte, nicht ich. Jetzt läuft sie vielleicht wirklich davon.« Tenar lächelte. Ein tiefes, frohes Gefühl erfüllte sie, das keine Gedanken an Dunkles, Trostloses aufkommen ließ; es war die gleiche Glückseligkeit, die in ihr aufgestiegen war, als sie im goldenen Licht des Tages erwachte. Sie machte die Tasche auf und entnahm ihr zwei kleine, flache Laibe. Einen reichte sie Ged über das Feuer zu, in den anderen biß sie selbst. Das Brot war zäh und sauer und schmeckte gut. Sie kauten eine Weile ohne zu reden. »Wie weit ist es bis zum Meer?« »Ich brauchte zwei Tage und zwei Nächte, als ich hierherkam. Nun wird es etwas länger dauern.« »Ich bin stark«, sagte sie. »Stimmt, und tapfer bist du auch. Aber dein Gefährte ist müde«, sagte er lächelnd. »Und wir haben nicht zuviel Brot.« »Werden wir Wasser finden?«
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»Ja, morgen, in den Bergen.« »Kannst du Essen für uns finden?« fragte sie etwas unsicher und schüchtern. »Um zu jagen, braucht man Zeit und Waffen.« »Ich meinte — weißt du — mit Zaubersprüchen.« »Ich kann einen Hasen herbeirufen«, sagte er und stocherte mit einem knorrigen Wacholderstab im Feuer herum. »Die kommen jetzt rings um uns herum aus ihren Löchern heraus. Das tun sie abends immer. Wenn ich einen beim Namen riefe, würde er kommen. Aber könntest du einen Hasen, den du zu dir gerufen hast, fangen, töten, sein Fell abziehen und braten? Vielleicht, wenn du am Verhungern bist. Es käme einem Vertrauensbruch gleich — meiner Ansicht nach.« »Ja. Weißt du, ich dachte, du könntest ganz einfach...« »... eine Mahlzeit herbeizaubern«, sagte er. »Oh, natürlich könnte ich das. Auf goldenen Tellern, wenn du möchtest. Aber das ist Illusion, und wenn du Illusionen ißt, bist du danach hungriger als zuvor. Es ist ungefähr so nahrhaft, wie wenn du deine eigenen Worte verschlucktest.« Sie sah seine weißen Zähne kurz im Feuerschein aufblitzen. »Deine Magie ist merkwürdig«, stellte sie fest, und jetzt sprach Priesterin zu Magier, die sich auf einer Stufe mit ihm fühlte. »Sie scheint nur für außerordentliche Ereignisse nützlich zu sein.« Er legte mehr Holz aufs Feuer, und es flammte hell auf und verbreitete mit Funken und Knistern einen Duft von Wacholder. »Kannst du wirklich einen Hasen herbeirufen?« wollte sie plötzlich wissen. »Soll ich einen rufen?« Sie nickte. Er wandte sich vom Feuer ab und sprach leise in die sternenhelle Nacht hinein: »Kebbo ... o Kebbo ...« Stille; kein Laut; keine Bewegung. Sachte, ganz sachte, an der äußersten Grenze des flackernden Lichtkreises, erschien nahe am Boden ein rundes, blankes Auge, wie ein schwarzer Kiesel, ein gerundeter, flaumiger Rücken, ein langes, aufmerksam hochgerichtetes Ohr.
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Ged sprach wieder. Das Ohr flatterte etwas, und plötzlich erhielt es einen Partner; als sich das kleine Tierchen umdrehte, konnte Tenar es einen Augenblick lang ganz sehen: ein kleiner, federnder, weicher Ball, der unbekümmert in die Dunkelheit davonhoppelte und verschwand. »Oh«, sagte sie und atmete tief aus. »Das war wunderschön.« Nach einer Weile fragte sie: »Kann ich das auch tun?« »Hmmmm...« »Es ist ein Geheimnis«, fügte sie rasch hinzu, wiederum mit Priesterinnenwürde. »Der Name des Hasen ist ein Geheimnis. Zumindest sollte er nicht grundlos, zum Vergnügen, gebraucht werden. Aber die Macht zum Rufen, weißt du, das ist kein Geheimnis, das ist eine Gabe.« »Oh«, sagte sie, »die hast du, das weiß ich!« Sie sprach mit tiefer Überzeugung, ehrlich und ohne verhüllende Ironie. Er blickte sie an, gab aber keine Antwort. Der Kampf mit den Namenlosen hatte an seinen Kräften gezehrt, und er war noch sehr schwach. In den bebenden, grollenden Gängen hatte er seine Kräfte verbraucht. Obgleich er gewonnen hatte, blieb ihm wenig Stärke zum Frohlocken. Er rollte sich bald wieder zusammen, ganz nahe am Feuer, und schlief ein. Tenar blieb sitzen und legte ab und zu Zweige nach und ließ ihre Augen von einem Ende bis zum anderen über den Winterhimmel schweifen. Sie schaute in das Gefunkel der Sternbilder, bis ihr zu schwindeln begann, ob der Schönheit und ob des Schweigens, und sie nickte ein. Beide wachten zur gleichen Zeit auf. Das Feuer war niedergebrannt. Die Sterne, die sie gesehen hatte, waren inzwischen längst hinter den Bergen verschwunden, und neue waren im Osten aufgegangen. Die Kälte hatte sie geweckt, die trockene Kälte der Wüstennacht, und der Wind, der so schneidend wie ein eisiges Messer durch ihre Kleidung drang. Im Südwesten sah man den Schleier einer Wolke sich langsam nähern. Ihr Holz war fast aufgebraucht. »Komm, gehen wir«, sagte Ged, »es ist nicht mehr lang bis zum Morgengrauen.« Seine Zähne schlugen so sehr aufeinander, daß sie ihn kaum verstehen konnte. Sie brachen auf
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und begannen den langen, leicht ansteigenden Hang im Westen hinaufzuklettern. Die Büsche und Felsen waren schwarz im Licht der Sterne, und sie konnten mühelos ihren Weg finden. Beide froren, aber bald wurde es ihnen wärmer durch das Gehen. Sie hörten auf zu frösteln und gingen leichter dahin. Bei Sonnenaufgang hatten sie die untersten Hänge der Berge des Westens erreicht, die Tenars Leben bisher umgeben hatten. Sie hielten unter einer Gruppe von Bäumen an, deren silbrige, dünne Blätter sich noch an den Zweigen befanden und sich leicht bewegten. Er sagte ihr, daß dies Espen seien. Sie kannte keine anderen Bäume als den Wacholder, die kümmerlichen Pappeln bei den Quellen und die vierzig Apfelbäume im Garten der Stätte. In den Blättern der Bäume piepste ein kleiner Vogel: »Diii, diii.« Unter den Bäumen floß ein schmaler, aber schneller Bach dahin, der sich schäumend seinen Weg über Steine und Geröll bahnte und der es zu eilig hatte, um einzufrieren. Tenar hatte fast Angst davor. Sie war an die Wüste gewöhnt, wo sich alles still und träge bewegte: der Fluß, der Schatten der Wolken, die kreisenden Geier. Zum Frühstück teilten sie ein Stück Brot und das letzte Stückchen Käse miteinander, ruhten sich etwas aus und gingen dann weiter. Am Abend waren sie hoch oben in den Bergen. Es war eiskalt, bedeckt und windig. Sie hielten im Tal eines anderen Flusses an, wo es Holz in Hülle und Fülle gab, und machten ein größeres Feuer, das sie verhältnismäßig warm hielt. Tenar war glücklich. Sie hatte ein Versteck voll Nüsse gefunden, das von einem Eichhörnchen zusammengetragen und durch den Fall eines hohlen Baumes enthüllt worden war: ein paar Pfund Walnüsse und Nüsse mit einer glatten Schale, die Ged, der ihren kargischen Namen nicht kannte, Nubir nannte. Sie knackte eine nach der anderen zwischen einem flachen und einem anderen Stein, den sie als Hammer benutzte, auf, und gab jede zweite Nuß dem Mann zum Essen. »Ich wollte, wir könnten hierbleiben«, sagte sie und blickte hinunter in das windige, vom Dämmerlicht erhellte Tal zwischen den Bergen. »Mir gefällt es hier.«
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»Ja, hier ist es gut.« Er stimmte mit ihr überein. »Niemand würde hierherkommen.« »Nicht oft ... Ich bin in den Bergen geboren«, sagte er, »auf dem Berge Gont. Wir werden an ihm vorbeisegeln, wenn wir die nördliche Route nach Havnor nehmen. Im Winter sieht er sehr eindrucksvoll aus, wenn er sich ganz weiß, wie eine Riesenwelle, aus dem Meer erhebt. Mein Dorf lag an einem Fluß, der genauso aussah wie dieser hier. Wo bist du geboren, Tenar?« »Im Norden von Atuan, in Entat, glaube ich. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.« »So jung warst du, als sie dich deinen Eltern wegnahmen?« »Ich war fünf. Ich erinnere mich an ein Feuer im Herd und... sonst nichts.« Er rieb sich das Kinn, an dem ein spärlicher Bart sproß, das aber jetzt wenigstens sauber war, denn trotz der Kälte hatten sie sich in dem Bergwasser gewaschen. Er sah nachdenklich und ernst drein. Sie blickte ihn an, und niemals hätte sie sagen können, was ihr Herz bewegte, als sie ihn im Licht des Feuers, in der Dämmerung zwischen den Bergen, ansah. »Was wirst du in Havnor machen?« fragte er, und die Frage war an das Feuer, nicht an sie gerichtet. »Du bist — mehr als ich mir bewußt war — wirklich wiedergeboren.« Sie nickte und lächelte ein bißchen. Sie fühlte sich wiedergeboren. »Du solltest zumindestens die Sprache lernen.« »Deine Sprache?« »Ja.« »Das würde ich gerne tun.« »Gut. Also das ist Kabat«, sagte er und warf einen kleinen Stein in ihren Schoß auf den schwarzen Umhang. »Kabat. Ist das die Drachensprache?« »Nein, nein. Du willst doch keine Zauberformeln wirken, du willst mit anderen Männern und Frauen sprechen!« »Was ist ›Stein‹ in der Drachensprache?« »Tolk«, sagte er. »Aber ich mache keinen Zauberlehrling aus dir. Ich lehre dich die Sprache, die von den Leuten des Inselreiches, den Innenlän-
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dern, gesprochen wird. Ich mußte deine Sprache auch lernen, bevor ich herkam.« »Sie klingt komisch, wenn du sie aussprichst.« »Zweifellos. Jetzt Arkemni Kabat«, und er streckte ihr seine Hand hin, damit sie ihm den Stein wiedergäbe. »Muß ich nach Havnor gehen?« fragte sie. »Wo möchtest du hingehen, Tenar?« Sie zögerte. »Havnor ist eine herrliche Stadt«, sagte er. »Und du bringst ihnen den Ring, das Friedenszeichen, die verlorene Rune. Sie werden dich in Havnor wie eine Prinzessin empfangen. Sie werden dich ehren für die große Gabe, die du ihnen bringst, sie werden dich willkommen heißen und sie werden dir alles zuliebe tun. In der Stadt wohnen edle und großzügige Menschen. Sie werden dich die Weiße Dame nennen, wegen deiner hellen Haut, und sie werden dich gernhaben, weil du so jung bist; und weil du so schön bist. Du wirst Hunderte von den Gewändern haben, wie ich dir eines durch Illusion gezeigt habe, nur diesmal werden es wirkliche Gewänder sein. Sie werden dich preisen, sie werden dir dankbar sein, sie werden dich lieben, dich, die nur Einsamkeit und Neid und die Dunkelheit gekannt hat.« »Manan war da«, sagte sie einschränkend, und ihre Lippen begannen zu zittern. »Er mochte mich und war immer lieb zu mir, immer. Er hat mich beschützt, so wie er es halt verstanden hat, und dafür habe ich ihn getötet, in den schwarzen Schacht ist er gefallen. Ich will nicht nach Havnor gehen. Ich will nicht dorthin gehen. Ich will hierbleiben.« »Hier — auf Atuan?« »Hier in den Bergen. Wo wir jetzt sind.« »Tenar«, sagte er mit seiner ernsten, ruhigen Stimme, »wenn du willst, dann bleiben wir hier. Ich habe kein Messer und wenn es schneit, wird es schwierig werden. Aber so lange wir Nahrung finden...« »Nein, ich weiß, daß wir nicht hierbleiben können. Ich bin nur kindisch«, sprach Tenar, stand auf, und die Nußschalen fielen um sie auf die Erde. Sie legte neues Holz aufs Feuer. Sie stand schmal und kerzengerade in ihrem beschmutzten Kleid und schwarzen Umhang da. »Al-
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les, was ich kann und weiß, nutzt mir jetzt nichts«, sagte sie. »Und ich habe nichts anderes gelernt. Ich werde es zu lernen versuchen.« Ged zuckte zusammen und blickte weg, als litte er Schmerzen. Am nächsten Tag überschritten sie den höchsten Kamm des lohfarbenen Gebirges. Oben auf dem Paß schneite es leicht, und ein eisiger Wind schlug ihnen ins Gesicht, so daß sie fast nichts sehen konnten. Erst als sie ein geraumes Stück auf der anderen Seite hinabgestiegen und aus dem Schneegestöber der Höhe herausgekommen waren, sah Tenar das Land jenseits der Bergkette vor sich liegen. Grün breitete es sich vor ihr aus — das Grün der Tannen, der Weiden, der Felder und der Wiesen. Selbst jetzt, mitten im Winter, unter kahlen Büschen und Wäldern voll grauer Äste sah das Land in dem milden Klima zartgrün aus. Sie standen an einer Geröllhalde, hoch am Berg, und schauten hinab. Wortlos deutete Ged nach Westen, wo die Sonne hinter einer dunklen, aufgebauschten Wolke unterging. Sie selbst war nicht zu sehen, doch am Horizont war ein glitzernder Streif, ähnlich dem Kristallgefunkel an der Decke und der Wand des Gewölbes, ein beglückendes Strahlen am Rande der Welt. »Was ist das?« fragte sie, und er antwortete: »Das Meer.« Kurz danach sah sie etwas weniger Wunderbares, aber doch auch wunderbar genug. Sie stießen auf eine Straße und gingen sie entlang. Als die Dämmerung hereingebrochen war, erreichten sie ein Dorf: zehn bis zwölf Häuser, an der Straße entlang aufgereiht. Als es ihr bewußt wurde, daß sie sich unter Menschen befanden, blickte sie bestürzt auf ihren Gefährten. Sie schaute und sah ihn nicht. Neben ihr, in Geds Kleidung, in seinem Gang, in seinen Schuhen, wanderte ein fremder Mann. Seine Haut war weiß, sein Bart verschwunden. Er blickte sie an, seine Augen waren blau und zwinkerten ihr zu. »Meinst du, ich führe sie hinters Licht?« fragte er. »Wie gefällt dir dein Kleid?« Sie blickte an sich hinunter. Sie trug einen ländlichen braunen Rock und eine Jacke; um ihre Schultern lag ein großes rotes wollenes Tuch. »Oh«, sagte sie und blieb wie angewurzelt stehen. »Oh, du bist aber — du bist Ged!« Als sie seinen Namen aussprach, sah sie ihn ganz klar,
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sein dunkles, vernarbtes Gesicht, das ihr vertraut war, seine dunklen Augen; doch hier stand der Fremde mit dem Milchgesicht. »Sag nie meinen wahren Namen, wenn andere Leute dabei sind. Ich werde auch deinen nicht gebrauchen. Wir sind Bruder und Schwester und kommen von Tenakbah. Und jetzt, glaube ich, werde ich um etwas Essen bitten, wenn ich ein freundliches Gesicht sehe.« Er ergriff ihre Hand, und sie betraten das Dorf. Am nächsten Morgen, gesättigt und nach einer geruhsamen Nacht auf dem Heuboden einer Scheune, verließen sie das Dorf. »Müssen Magier oft betteln?« fragte Tenar, als sie sich auf dem Weg zwischen grünen Wiesen befanden, auf denen Ziegen und kleine, scheckige Kühe weideten. »Warum willst du das wissen?« »Es schien dir nichts auszumachen; du hast es sogar sehr gut gekonnt.« »Ja, weißt du, ich habe mein ganzes Leben lang gebettelt, wenn man so will. Zauberer besitzen nicht viel. Wenn sie auf der Wanderschaft sind, haben sie sowieso nur ihren Stab und ihre Kleidung. Die meisten Leute freuen sich, wenn ein Zauberer sie um Essen oder um Unterkunft bittet. Sie machen es meist wieder wett.« »Wie?« »Na, nimm die Frau im Dorf; ich habe ihre Ziegen geheilt.« »Was hatten sie?« »Beide hatten entzündete Euter. Als ich klein war, habe ich Ziegen gehütet.« »Hast du ihr gesagt, daß du sie geheilt hast?« »Nein. Wie konnte ich das tun? Und warum sollte ich es tun?« Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Jetzt weiß ich, daß deine Künste nicht nur für große Dinge gut sind.« »Gastfreundschaft«, sagte er, »Herzlichkeit einem Fremden gegenüber, das sind sehr große Dinge. Sich bedanken hätte genügt, natürlich. Aber mir haben auch die Ziegen leid getan.« Am Nachmittag erreichten sie eine größere Stadt. Sie war aus Backstein gebaut und ringsum, wie es im Kargadreich üblich war, von ei-
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ner Stadtmauer mit Schießscharten umgeben, die an jeder der vier Ecken einen Wachtturm und nur ein einziges großes Tor hatte, durch das ein Hirte gerade seine Schafe trieb. Die roten Ziegeldächer von hundert oder noch mehr Häusern lugten hinter der Mauer aus gelblichem Backstein hervor. Zwei Posten mit roten Federbüschen auf den Helmen, die im Dienst des Gottkönigs standen, hielten Wache am Tor. Tenar kannte diese Uniformen. Einmal im Jahr waren Männer in solchen Uniformen an die Stätte gekommen, um Sklaven oder Geld zum Tempel des Gottkönigs als Gabe zu bringen. Als sie im Vorbeischreiten Ged davon erzählte, sagte er: »Ich habe sie auch schon gesehen, als ich noch ein Junge war. Sie kamen nach Gont, um zu plündern und zu rauben. Aber sie wurden vertrieben. Und in Armünde kam es zur Schlacht, und viele sind gefallen. Hunderte, sagt man. Na, jetzt, nachdem die Rune wieder ganz ist, gibt es vielleicht keine Raubzüge und kein Töten mehr zwischen dem Kargadreich und den Innenländern.« »Es wäre dumm, wenn das nicht aufhören würde«, stimmte Tenar zu. »Was würde denn der Gottkönig mit all den Sklaven tun?« Ihr Gefährte schien über ihre Worte nachzudenken. »Du meinst, wenn das Kargadreich die Innenländer besiegen würde?« Sie nickte. »Ich glaube nicht, daß dies je passieren würde.« »Aber schau doch her, wie stark das Reich ist — diese große Stadt mit ihrer Mauer und all die Männer. Wie könnten eure Länder dem widerstehen, wenn sie angegriffen würden?« »Das ist keine große Stadt«, sagte er behutsam und freundlich. »Ich hätte sie auch als riesig angesehen, wenn ich gerade von meinem Berg heruntergekommen wäre. Aber in der Erdsee gibt es viele, viele Städte, und verglichen mit diesen ist das hier eine Kleinstadt. Es gibt viele, viele Länder. Du wirst sie sehen, Tenar.« Sie erwiderte nichts. Sie ging neben ihm, und ihr Gesicht war verschlossen. »Es ist ganz wunderbar, wenn man sie zum ersten Mal sieht: ein neues Land, eine neue Insel, die sich langsam aus dem Meer hebt, wenn man sich mit dem Boot nähert. Dann sieht man die Wiesen und Felder und
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Wälder, die Städte mit ihren Höfen und Palästen, die Märkte, wo alles, was es auf dieser Welt gibt, feilgeboten wird.« Sie nickte. Sie wußte, daß er sie ermuntern wollte, aber sie hatte ihr Glück oben in den Bergen gelassen, dort in dem Flußtal, das im Dämmerlicht lag. In ihrem Herzen war Furcht, und diese Furcht wuchs täglich. Alles, was vor ihr lag, war ihr unbekannt. Sie kannte nichts außer der Wüste und den Gräbern. Und was nutzte ihr das jetzt? Sie kannte die Gänge eines Labyrinths, das in Trümmern lag, sie kannte die Tänze, die vor einem zerstörten Altar getanzt wurden. Sie wußte nichts von Wäldern, Städten oder den Herzen der Menschen. Sie fragte plötzlich: »Wirst du dort bei mir bleiben?« Sie blickte ihn nicht an. Er schritt noch immer als weißhäutiger, kargischer Landmann neben ihr her, und er gefiel ihr nicht in dieser Verstellung. Aber seine Stimme war geblieben, es war die gleiche, die in der Dunkelheit des Labyrinths zu ihr gesprochen hatte. Er ließ sich Zeit mit der Antwort. »Tenar, ich gehe dorthin, wohin ich gesandt werde. Ich folge meinem Ruf. Bis jetzt war es mir nicht vergönnt, lange an demselben Ort zu verweilen. Verstehst du das? Ich tu, was ich tun muß. Dort, wohin ich gehe, muß ich allein gehen. Solange du mich brauchst, bleibe ich in Havnor. Und wenn du mich je wieder brauchst, dann rufe mich. Ich werde kommen. Selbst aus dem Grab würde ich kommen, wenn du mich rufst, Tenar! Aber ich kann nicht bei dir bleiben.« Sie erwiderte nichts. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Du wirst mich dort nicht lange brauchen. Du wirst dort glücklich sein.« Sie nickte. Sie verstand ihn und sie nahm hin, was er ihr sagte. Nebeneinander schritten sie dem Meer zu.
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DIE FAHRT ZUR SEE
ER HATTE SEIN BOOT in einer kleinen Höhle am Fuß eines großen felsigen Vorgebirges versteckt, das von den benachbarten Dorfbewohnern das Wolkenkap genannt wurde. Zum Abendessen hatte ihnen einer der Bewohner einen Teller Fischsuppe gegeben. Im letzten Licht des grauen Tages kletterten sie über die Klippen zum Strand hinunter. Die Höhle war nichts weiter als ein schmaler Spalt, der sich ungefähr zehn Meter in den Fels hinein erstreckte. Der Sandboden war feucht, denn er lag nur wenig höher als die Flut. Man konnte den Eingang der Höhle vom Wasser aus sehen, und Ged meinte, daß es besser wäre, wenn sie kein Feuer anzündeten, denn es könnte die Fischer, die nachts zur See fuhren, neugierig machen und anlocken. So legten sie sich auf den Sand, der sich so weich anfühlte, aber steinhart war, wenn man seine todmüden Glieder darauflegte. Tenar hörte der Brandung zu, die ein paar Meter unterhalb des Eingangs gegen die Felsen züngelte und zischte, und die leise grollend kilometerlang am Strand östlich von ihnen vernehmbar war. Es hörte sich wie eine Wiederholung des gleichen Geräusches an, pausenlos, aber es war immer verschieden. Ruhelos, ohne abzusetzen, rollten die Wellen gegen das Ufer, gegen alle Küsten, gegen alle Länder dieser Welt. Nie rasteten sie, nie standen sie still. Die Wüste, die Berge: die standen still. Die brüllten nicht fortwährend mit dieser mächtigen dumpfen Stimme. Nie hörte das Meer auf zu reden, doch seine Sprache war ihr fremd. Sie verstand sie nicht. Im ersten Licht des Morgens, als die Ebbe den Wasserspiegel gesenkt hatte, erwachte sie aus schweren Träumen und sah, wie der Zauberer die Höhle verließ. Sie beobachtete ihn, wie er barfuß, den Gürtel um seinen gerafften Umhang schnallend, auf den schwarzbehaarten Felsen
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unterhalb der Höhle herumlief und etwas suchte. Er kam zurück, den Eingang verdunkelnd, als er eintrat. »Hier«, sagte er und hielt ihr eine Handvoll nasser, scheußlicher Dinge entgegen, die wie lila Steine mit orangefarbenen Lippen aussahen. »Was ist das?« »Miesmuscheln, direkt vom Fels gepflückt. Und diese beiden hier, das sind Austern, die schmecken noch besser. Siehst du — so macht man das! « Mit dem kleinen Dolch von ihrem Schlüsselbund, den sie ihm in den Bergen geliehen hatte, öffnete er die orangefarbenen Muscheln und aß sie, mit dem Seewasser als Tunke. »Du kochst die nicht vorher? Du ißt sie roh?« Sie konnte ihm nicht zuschauen, wie er, verlegen, aber ohne sich davon abhalten zu lassen, eine nach der anderen öffnete und aß. Als er damit fertig war, ging er zurück in die Höhle zum Boot, das mit dem Bug nach vorne auf ein paar Treibholzstückchen ruhte, die es vor dem Sand schützten. Tenar hatte das Boot am vergangenen Abend bereits mißtrauisch und verständnislos betrachtet. Es war viel größer, als sie es sich vorgestellt hatte, mindestens dreimal so lang wie sie selbst. Es war gefüllt mit Geräten, deren Zweck ihr schleierhaft war, und es sah gefährlich aus. An jeder Seite seiner Nase, wie sie den Bug bezeichnete, waren zwei Augen gemalt, und im Halbschlaf hatte sie sich dauernd eingebildet, daß diese Augen sie anstarrten. Ged kramte eine Weile im Boot herum und kam mit etwas zurück: einem Paket harten Brotes, das fest eingewickelt war, um es trocken zu halten. Er bot ihr ein großes Stück davon an. »Ich habe keinen Hunger.« Er blickte in ihr trotziges Gesicht. Er wickelte das Brot wieder ein und tat es zurück, dann setzte er sich an den Eingang der Höhle. »Noch ungefähr zwei Stunden bis zur Flut«, sagte er. »Dann können wir fahren. Du hast schlecht geschlafen, warum schläfst du jetzt nicht ein bißchen?« »Ich bin nicht schläfrig.« Er gab ihr keine Antwort. Er saß mit untergeschlagenen Beinen am dunklen Felsentor und wandte ihr sein Profil zu. Die schimmernden Wel-
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len des Meeres hoben und senkten sich hinter ihm, als sie ihn von der Tiefe der Höhle aus betrachtete. Er rührte sich nicht. Er war so regungslos wie der Felsen selbst. Eine Stille ging von ihm aus wie Ringe im Wasser, das von einem Stein berührt wurde. Sein Schweigen war kein Nichtreden, es war ein Ding an sich, es war wie das Schweigen der Wüste. Eine geraume Zeit verstrich, dann stand Tenar auf und kam zum Eingang der Höhle. Er rührte sich nicht. Sie sah hinunter auf sein Gesicht. Es war wie eine Kupfermaske — starr und unbeweglich; die dunklen Augen waren offen, aber sie blickten nach unten, die Lippen waren entspannt. Er war so unerreichbar wie das Meer für sie. Wo befand er sich jetzt, welchen Pfaden folgte sein Geist? Sie würde ihm nie folgen können. Er hatte sie gezwungen, ihm zu folgen. Er hatte sie bei ihrem Namen gerufen, und sie war aus der Dunkelheit gekommen und hatte sich an seiner Hand niedergekauert wie der kleine wilde Hase. Und jetzt, da er den Ring hatte, jetzt, da die Gräber in Trümmer lagen und ihre Priesterin für immer verloren war, jetzt brauchte er sie nicht mehr, jetzt verließ er sie und ging fort, wohin sie nicht folgen konnte. Er würde nicht bei ihr bleiben. Er hatte sie betrogen, er würde sie totunglücklich zurücklassen. Sie beugte sich nieder und nahm mit einer hurtigen Bewegung den kleinen Stahldolch, den sie ihm geliehen hatte, aus seinem Gürtel. Er saß da wie eine Statue und rührte sich nicht. Die Dolchklinge war nur zehn Zentimeter lang und nur auf einer Seite scharf. Es war die Miniatur eines großen Opfer-Schwertes der Stätte. Es hatte zur Kleidung der Priesterin der Gräber gehört und mußte mit dem Schlüsselbund und einem Gürtel aus Roßhaar, zusammen mit anderen Objekten, an deren Bedeutung sich kein Mensch mehr erinnern konnte, getragen werden. Noch nie hatte sie den Dolch benutzt, nur in einem der Tänze, die in der dunklen Mondnacht getanzt wurden, mußte sie ihn in die Höhe werfen und vor dem Thron auffangen. Der Tanz hatte ihr gefallen, er war wild und hatte keine Begleitmusik außer dem Trommeln ihrer eigenen Füße. Wie oft hatte sie sich, als sie diesen Tanz geübt hatte, in den Finger geschnitten, bis sie endlich den Trick heraus hatte und jedesmal den Griff auffing. Die kleine Klinge war scharf, sie konnte einen Finger bis auf den Knochen durchschneiden,
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oder eine Schlagader am Hals. Sie diente ihren Gebietern noch immer, obwohl diese sie im Stich gelassen hatten. Sie würden ihre Hand leiten und ihr in ihrer letzten dunklen Handlung Kraft verleihen. Sie würden ihr Opfer entgegennehmen. Sie drehte sich dem Mann zu, das Messer lag in ihrer rechten Hand hinter ihrer Hüfte verborgen. Als sie das tat, hob er langsam sein Gesicht hoch und blickte sie an. Auf seinen Zügen lag der Ausdruck eines Menschen, der weit gereist war und Furchtbares gesehen hatte. Sie waren ruhig, doch voll Schmerz. Als er hinaufschaute zu ihr und sie immer länger ansah, klärten sich seine Züge. Endlich sagte er: »Tenar«, so als ob er sie begrüßte, und berührte den durchbrochenen, verzierten Silberreif an ihrem Gelenk. Das tat er, als müßte er sich vergewissern, voll Zutrauen. Er übersah den Dolch in ihrer Hand völlig. Er blickte weg von ihr und schaute auf die Wellen, die gegen den Felsen schlugen, und sprach mit großer Anstrengung: »Es ist Zeit ... daß wir gehen.« Beim Klang seiner Stimme verflog ihr Zorn. Sie bekam Angst. »Du läßt sie hinter dir zurück, Tenar. Jetzt bist du wirklich frei«, sagte er, und mit plötzlich wiedergekehrter Stärke sprang er auf. Er reckte sich und schnallte den Gürtel um seinen Umhang fester. »Hilf mir mit dem Boot. Es liegt auf Treibholz, das ich als Rollen benutzt hatte. So ist es gut, schieb ...noch einmal ...Jetzt, jetzt istʹs genug. Mach dich fertig, hineinzuspringen, wenn ich sage ›spring!‹. Es ist nicht so einfach, von hier mit einem Boot auszulaufen. — Noch einmal! Jetzt istʹs genug! Spring hinein!« — Und er sprang ihr nach und hielt sie fest, als sie vornüberfiel, und setzte sie auf den Boden. Dann, breitbeinig balancierend, ruderte er stehenden Fußes und ließ das Boot auf den Wogen der Ebbe hinausschießen zwischen den Felsen, vorbei an dem gischtumsprühten Ende des Vorgebirges, hinaus aufs offene Meer. Als sie weit genug vom seichten Wasser der Küste entfernt waren, zog er das Ruder ein und setzte den Mast. Das Boot sah jetzt, da sie drinnen saß und auf das Meer hinausschaute, sehr klein aus. Er setzte das Segel. Allem Zubehör sah man an, daß es nicht mehr neu, doch sorgfältig in Stand gehalten war. Das rote Segel war ordentlich geflickt, und das Boot selbst war blitzblank und in einwandfrei-
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em, wenn auch gebrauchtem Zustand. Es entsprach seinem Herrn: es war weit herumgekommen und hatte viel Unbill erfahren. »Jetzt«, sagte er, »jetzt sind wir weg, jetzt sind wir endlich weg; wir haben es geschafft, Tenar. Spürst du es?« Sie spürte es. Die dunkle Hand, die ihr Herz ihr ganzes Leben lang umklammert hielt, hatte sie freigegeben. Aber keine Seligkeit kam über sie, wie es in den Bergen geschehen war. Sie legte den Kopf auf die Arme und begann zu schluchzen, und ihre Wangen wurden salzig und naß. Sie weinte um die verlorenen Jahre ihres Lebens, die sie nutzlos im Dienst einer schrecklichen Macht gefront hatte. Sie weinte, und es schmerzte, denn die Freiheit tat weh. Sie hatte begonnen zu lernen, daß Freiheit schwer wog, daß sie eine Bürde, eine große und seltsame Last war, die der Seele zugemutet wird. Leicht konnte sie nicht genommen werden. Sie ist keine Gabe, die gegeben wird, sondern eine Wahl, die getroffen wird, und die Wahl fällt oft schwer. Der Weg führt aufwärts, dem Licht entgegen, aber es kommt vor, daß der schwerbeladene Wanderer das Ende nie erreicht. Ged ließ sie weinen und sprach kein tröstendes Wort. Auch als ihre Tränen versiegt waren und sie zurückschaute auf das niedere blaue Land, auf Atuan, redete er nicht. Seine Züge waren ernst und wachsam, als ob er sich allein im Boot befände. Er wachte über das Segel und das Steuer, war flink und ruhig in seinen Bewegungen und schaute unentwegt nach vorne. Am späten Nachmittag, sie hielten auf die Sonne zu, deutete er rechts hinüber und sagte: »Dort liegt Karego-At«, und Tenar folgte seiner Hand und sah ferne Hügel, die wie Wolken aussahen — die große Insel des Gottkönigs. Atuan war hinter dem Horizont verschwunden. Ihr Herz war schwer. Die Sonne schlug ihr auf die Augen wie ein Goldhammer. Ihre Abendmahlzeit bestand aus trockenem Brot und geräuchertem Fisch, an dem Tenar würgte, und Wasser aus dem Wasserbehälter, den Ged am vorhergehenden Abend an einem Bach am Strand des Wolkenkaps gefüllt hatte. Die Winternacht kam früh und war kalt auf dem Meer. Weit im Norden sahen sie eine Weile winzige Lichter blinken,
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gelbes Licht von Feuern in fernen Dörfern an der Küste von Karego-At. Sie verschwanden in dem Dunst, der vom Meer aufstieg, und sie waren allein in der sternenlosen Nacht, über dem tiefen Meer. Sie hatte sich im Heck des Bootes niedergelegt und zusammengerollt Ged lag im Bug und benutzte den Wasserbehälter als Kissen. Das Boot glitt stetig dahin, kleine Wellen schlugen an seine Wände, obwohl der Wind nur wie ein schwacher Atem aus dem Süden blies. Hier draußen, weit weg von der Felsküste, schwieg das Meer; nur wenn es das Boot berührte, flüsterte es ein wenig. »Wenn der Wind aus dem Süden bläst«, sagte Tenar flüsternd, weil das Meer auch flüsterte, »segeln wir dann nicht nach Norden?« »Doch, außer wir kreuzen gegen den Wind. Aber ich habe einen magischen Wind in das Segel gerufen, der uns nach Westen treibt. Morgen früh werden wir uns nicht mehr in kargischen Gewässern befinden. Dann werde ich mit dem Wind der Welt segeln.« »Steuert es sich selbst?« »Ja«, erwiderte Ged ernsthaft, »vorausgesetzt, daß es die richtigen Anweisungen erhält. Es braucht nicht viele. Es war schon auf hoher See, weiter als die fernsten Inseln des Ostbereiches, und es war auf Selidor, wo Erreth-Akbe fiel, im fernsten Westen. Es ist ein weises, tüchtiges Boot, mein Weitblick. Du kannst ihm schon vertrauen.« Das Mädchen lag im Boot, das von einer magischen Kraft über die Tiefe geleitet wurde, und blickte hinauf in die Dunkelheit. Ihr ganzes Leben lang hatte sie in Finsternis geblickt, doch dies hier war eine viel größere Finsternis, diese Nacht hier auf dem Meer. Hier gab es kein Ende, kein Dach. Diese Finsternis reichte weiter als die Sterne. Keine Macht der Erde konnte sie erschüttern; sie hatte bestanden, bevor es Licht wurde, und sie würde bestehen, nachdem alles Licht erloschen war; sie hatte bestanden, bevor es Leben gab auf dieser Welt, und sie würde weiterbestehen, nachdem alles Leben verschwunden war. Sie reichte bis jenseits des Bösen. Sie sprach in die Dunkelheit hinein: »Die kleine Insel, wo man dir den Talisman gab, liegt die hier in diesen Gewässern?«
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»Ja«, seine Stimme kam aus dem Dunkel. »Hier irgendwo; südlich, glaube ich. Ich würde sie nicht wiederfinden.« »Ich weiß, wer die alte Frau war, die dir den Ring gegeben hat.« »Du weißt es?« »Man hat mir die Geschichte erzählt. Es gehört zum Wissen der Ersten Priesterin. Thar hat sie mir erzählt, das erste Mal in Kossils Gegenwart, und später ausführlicher, als wir allein waren. Das war das letzte Mal, daß sie mit mir gesprochen hat vor ihrem Tode. Ein adliges Geschlecht in Hupun hatte sich gegen die immer mächtiger werdenden Priester in Awabad erhoben. Der Stammvater des Geschlechts war König Thoreg, und unter den Schätzen, die er seinen Nachfahren hinterließ, war der halbe Ring von Erreth-Akbe.« »So heißt es auch in den Taten von Erreth-Akbe. Es heißt ... in deiner Sprache: ›Und als der Ring zerbrochen ward, blieb eine Hälfte in des Priesters Intathins Hand, die andere in des Helden Hand. Und der Hohepriester sandte die zerbrochene Hälfte zu den Namenlosen. Zu den Urmächten der Erde in Atuan, und sie verschwand im Dunkel, an Orten, die Menschen längst vergessen haben. Doch ErrethAkbe legte seine Hälfte in die Hand des Mägdleins Tiarath, der Tochter des weisen Königs, und sprach: ›Möge sie im Licht des Tages, im Brautschatz des Mägdleins bleiben, möge sie in diesem Land bleiben, bis der Ring wieder geheilt werden kann.‹ So sprach der Held, bevor er nach dem Westen segelte. Dann wurde die Ringhälfte wahrscheinlich von Tochter zu Tochter weitergegeben, durch all die vielen Jahre. Und sie war nicht verloren, wie deine Landsleute gedacht haben. Aber als die Hohepriester Priesterkönige wurden, und als die Priesterkönige das Reich schufen und sich Gottkönige nannten, wurde das Haus Thoregs immer ärmer und schwächer. Und ganz am Ende, so hat mir Thar erzählt, blieben nur noch zwei Kinder übrig, ein Junge und ein Mädchen. Der Gottkönig in Awabad, der damals regierte, war der Vater des jetzigen Gottkönigs. Er ließ die Kinder aus ihrem Palast in Hupun rauben, denn es wurde ihm prophezeit, daß ein Nachfahre von Thoreg von Hupun schließlich doch das Reich zu Fall bringen würde. Und davor hatte er Angst. Er ver-
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anlaßte, daß die Kinder geraubt und auf einer einsamen Insel mitten im Meer ausgesetzt wurden, und er ließ ihnen nichts außer ihrer Kleidung und etwas Nahrung. Er hatte Angst, sie durch das Messer, oder durch den Strang, oder durch Gift umzubringen, denn ein Fluch liegt auf jedem, selbst auf einem Gott, der königliches Blut vergießt. Sie hießen Ensar und Anthil, und Anthil gab dir den zerbrochenen Ring.« Er schwieg lange. »So schließt sich also auch die Geschichte«, sagte er dann, »wie sich der Ring geschlossen hat. Aber es ist eine grausame Gesichte, Tenar. Die kleinen Kinder, die kleine Insel, der alte Mann und die Frau, die ich sah ... sie waren kaum noch der menschlichen Sprache mächtig.« »Ich möchte dich um etwas bitten.« »Bitte!« »Ich möchte nicht in die Innenländer, nach Havnor. Ich gehöre nicht dorthin, in große Städte, unter fremde Menschen. Ich gehöre in kein Land. Ich habe mein eigenes Land verraten. Und ich habe etwas Furchtbares getan. Setz mich auf einer Insel aus, so wie die Kinder des Königs ausgesetzt wurden, auf einer einsamen Insel, wo es keine Leute gibt und wo keiner hinkommt. Laß mich dort und trag den Ring nach Havnor. Er gehört dir, nicht mir. Ich habe nichts mit ihm zu tun. Auch deine Landsleute haben nichts mit mir zu tun. Laß mich allein.« Langsam, ganz langsam erschien ein Licht wie ein kleiner Mondaufgang in der Dunkelheit. Bestürzt blickte sie auf. Das magische Licht war auf sein Geheiß erschienen. Es schwebte am Ende seines Stabes, den er hochhielt, als er sich am Bug des Bootes aufsetzte. Es beleuchtete den unteren Teil des Segels, den Dollbord, die Planken und übergoß sein Gesicht mit einem silbernen Licht. Er schaute ihr voll ins Gesicht. »Was war das Furchtbare, das du getan hast, Tenar?« »Ich habe angeordnet, daß drei Männer in einem Raum unter dem Thron eingeschlossen werden und verhungern sollten. Sie sind an Hunger und Durst gestorben. Als sie tot waren, wurden sie im Gewölbe begraben. Die Grabsteine fielen auf ihre Gräber.« Sie sprach nicht weiter. »Noch mehr?«
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»Manan.« »Dieser Tod liegt auf meiner Seele.« »Nein. Er starb, weil er mich liebte und weil er treu war. Er glaubte, daß er mich schützen müsse. Er hatte das Schwert über meinen Hals gehalten. Als ich klein war, war er immer lieb zu mir — wenn ich weinte ...« Sie verstummte, denn sie spürte, wie die Tränen wieder in ihr aufstiegen, und sie wollte nicht mehr weinen. Ihre Hände ballten sich in den schwarzen Falten ihres Kleides. »Ich war nie nett zu ihm«, sagte sie. »Ich werde nicht nach Havnor gehen. Ich werde nicht mit dir gehen. Such eine Insel, wo niemand hinkommt, setz mich dort ab und laß mich allein sein. Das Böse muß gesühnt werden. Ich bin nicht frei.« Das sanfte Licht, durch den Nebel verschleiert, glomm zwischen ihnen. »Hör mir zu, Tenar, hör mir gut zu! Du warst das Gefäß des Bösen. Das Böse ist ausgeleert. Es ist vorbei. Es ist in seinem eigenen Grab begraben. Du warst nie dazu bestimmt, grausam oder böse zu sein. Du warst bestimmt, das Licht zu halten, wie eine brennende Lampe Licht hält und spendet. Ich habe die Lampe gefunden, und sie war nicht angezündet. Ich werde sie nicht auf irgendeiner Wüsteninsel lassen, wie etwas, das man findet und wieder wegwirft. Ich nehme dich mit nach Havnor, und ich werde zu den Fürsten der Erdsee sagen: › Schaut her! Anstelle der Dunkelheit habe ich das Licht gefunden, sie, ihre Seele. Durch sie wurde Böses zunichte gemacht; durch sie kam ich lebendig aus den Gräbern heraus; durch sie wurde, was zerbrochen war, wieder heil, und wo Haß loderte, wird Friede walten!« »Ich will nicht gehen«, sagte Tenar gequält. »Ich kann nicht. Es ist nicht wahr, was du sagst!« »Und danach«, fuhr er unbeirrt fort, »nehme ich dich weg von den Fürsten und reichen Adligen. Denn es stimmt, daß du dort nicht hingehörst. Du bist zu jung und zu weise. Ich nehme dich in mein Land mit, nach Gont, wo ich geboren bin, zu meinem früheren Meister Ogion. Er ist jetzt alt, ein sehr großer Magier und eine stille Seele. Er wird ›Der Schweigsame‹ genannt. Er wohnt in einem kleinen Haus hoch auf den Felsen bei Re Albi, weit über dem Meer. Er hat ein paar Ziegen und einen kleinen
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Garten. Im Herbst geht er ganz allein auf eine Wanderung über die Insel, durch die Wälder, hinauf in die Berge, durch Täler, entlang den Flüssen. Einmal habe ich dort bei ihm gewohnt, als ich noch jünger war als du. Ich blieb nicht lange, weil ich nicht vernünftig genug war, um zu bleiben. Ich verließ ihn, um das Böse zu suchen, und fand es dann wahrhaftig auch... Doch du entflohst dem Bösen und suchst die Freiheit, suchst die Stille, bis du dich selbst gefunden hast. Dort findest du Güte und Stille, Tenar. Dort kann die Lampe eine Weile geschützt vom Winde brennen. Wirst du dorthin mitkommen wollen?« Der Nebel wogte grau zwischen ihren Gesichtern. Das Boot hob sich leicht auf den langgestreckten Wogen. Die Nacht umgab sie, und unter ihnen lag die unergründliche See. »Ja, ich werde mitkommen«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer. Und nach einer Weile fügte sie hinzu: »Oh, ich wollte, es wäre gleich ... daß wir dorthin gehen könnten...« »Es wird nicht lange dauern, Kleines.« »Wirst du jemals dort hinkommen?« »Wenn ich kann, werde ich kommen.« Das Licht um sie war erloschen, die Dunkelheit hatte sich auf sie gesenkt. Sonnenaufgänge und -Untergänge, ruhige Tage auf See und eisige Winde des Winters lagen hinter ihnen, als sie endlich das Innenmeer erreichten. Sie segelten die stark befahrenen Meeresstraßen zwischen großen Schiffen entlang, dann die Meerenge von Ebavnor hinauf und über die Bucht in den Hafen von Havnor. Sie sahen die weißen Türme und die ganze Stadt weißglitzernd im Schnee liegen. Die Dächer der Brücken und die roten Ziegeldächer der Häuser waren schneebedeckt, und die Takelagen der Schiffe im Hafen waren eisbedeckt und funkelten in der Wintersonne. Die Kunde ihrer Rückkehr war ihnen vorausgeeilt, denn der Weitblick rotes Segel war in diesen Gewässern bekannt. Eine große Menschenmenge hatte sich an dem verschneiten Ufer angesammelt, und bunte Fahnen und Wimpel flatterten und knatterten im hellen, kalten Wind.
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Tenar saß aufrecht im Heck des Bootes, in ihrem abgetragenen, schwarzen Umhang. Sie blickte auf den Reif an ihrem Arm, dann auf das dichtbesetzte, bunte Ufer, auf die Paläste und die hohen Türme. Sie hob die rechte Hand, und das Sonnenlicht fing sich im Silber des Ringes. Ein Jubel erhob sich, der, vom Wind ergriffen, schwach und freudvoll über die ruhelose See zu ihnen herüberdrang. Ged legte am Pier an. Hunderte von Händen streckten sich aus, um das Seil zu fangen, das er zum Vertäuen hinaufwarf. Er stieg hinauf aufs Pier, wandte sich um und streckte ihr seine Hand entgegen. »Komm!« sagte er lächelnd, und sie erhob sich und kam. Ernst schritt sie an seiner Seite die weißen Straßen von Havnor hinauf, seine Hand haltend wie ein Kind, das heimgekehrt ist.
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DAS FERNE UFER Fantasy-Roman 3. Band des Erdsee-Zyklus
INHALT
Die Eberesche
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Die Meister auf Rok
366
Die Stadt Hort
385
Das magische Licht
412
Träume auf dem Meer
426
Lorbanery
436
Der Irre
455
Die Kinder der Hohen See
472
Orm Embar
489
Die Dracheninseln
512
Selidor
524
Das trockene Land
539
Der Stein der Pein
557
Epilog
567
DIE EBERESCHE
IM BRUNNENHOF schimmerte die Märzensonne durch das junge Grün der Eschen und Ulmen, und das Wasser des Brunnens stieg und fiel im Spiel des Lichtes und des Schattens. Der offene Innenhof war von vier hohen Steinmauern umgeben. Dahinter befanden sich Räume und andere Innenhöfe, Durchgänge, Flure, Türme und eine wuchtige Außenmauer, die das Großhaus von Rok umgab. Diese Mauer trotzte jedem feindlichen Angriff, jedem Erdbeben und jeder Meeresflut, denn sie war nicht nur aus Stein gebaut, sondern mit mächtigen, magischen Formeln verstärkt. Denn Rok ist die Insel der Weisen, wo die Kunst der Magie gelehrt wird, und das Großhaus ist Schule und zugleich Hauptzentrum der Magie; das Herz des Hauses aber ist dieser kleine Innenhof, der tief im Innern des Gebäudekomplexes verborgen liegt, wo der Brunnen plätschert und Bäume im Regen, in der Sonne und unter den Sternen wachsen. Der Baum neben dem Brunnen war eine kräftige Eberesche, deren Wurzeln die Marmorplatten hochgedrückt und teils aufgebrochen hatten. Ein Rasenstreif umgab den Brunnen, und helles, grünes Moos zog sich, wie Adern, durch die Sprünge im Marmor. Ein Junge saß auf einer der niedrigen Erhöhungen aus Marmor und Moos, sein Blick ruhte auf dem aufsteigenden Strahl des Brunnens. Er schien dem Mannesalter nahe zu sein, doch war er noch ein Knabe, schlank und kostbar gekleidet. Sein Gesicht war ruhig und glich einer fein ziselierten, vergoldeten Bronzemaske. Ungefähr fünf Meter hinter ihm, unter den Bäumen auf der anderen Seite des Rasens, stand ein Mann, so schien es wenigstens. Im flimmernden Wechsel zwischen Licht und Schatten war er schwierig zu erken-
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nen. Doch er befand sich dort, ein weißgekleideter, regungslos stehender Mann. Während der Junge auf den Strahl des Brunnens schaute, blickte der Mann auf ihn. Keine Bewegung, kein Laut war zu vernehmen, nur das Spiel der Blätter, das Spiel des Wassers und sein unaufhörlicher Gesang. Der Mann bewegte sich vorwärts. Ein Wind raunte in der Eberesche und brachte die jungen Blätter in Bewegung. Der Junge, überrascht, sprang mit einer federnden Bewegung auf. Er drehte sich dem Mann zu und verbeugte sich vor ihm: »Ehrwürdiger Erzmagier!« sagte er. Der Mann, eine aufrechte, kräftige, nicht allzu große Gestalt, in einen weißen Wollumhang mit Kapuze gehüllt, blieb vor ihm stehen. Über den Falten der zurückgelegten Kapuze erhob sich ein kupferbraunes Gesicht mit einer Adlernase; eine Wange zeigte die Spuren alter Narben. Die Augen blickten aufmerksam und durchdringend. Doch seine Stimme war sanft: »Im Brunnenhof sitzt es sich angenehm«, sagte er und nahm die Entschuldigung des Jungen vorweg. »Weit her bist du gekommen, und keine Rast war dir vergönnt. Setz dich wieder hin!« Er kniete an dem weißen Rand der Brunnenschale und streckte seine Hand gegen den Kranz glitzernder Tropfen aus, die von der oberen Marmorschale fielen. Das Wasser glitt durch seine Finger. Der Junge setzte sich wieder auf die erhöhten Marmorplatten, und beide schwiegen eine Weile. »Du bist der Sohn des Prinzen von Enlad und der Inselgruppe der Enladen«, sagte der Erzmagier. »Du bist der Erbe des Fürstenreichs von Morred. In der ganzen Erdsee gibt es kein Haus, das älter und berühmter ist als dieses. Ich sah die Obstgärten von Enlad im Frühling und die goldnen Dächer von Berila. Wie heißt du?« »Man nennt mich Arren.« »Das Wort ist dem Dialekt deines Landes entnommen. Was bedeutet es in der allgemeinen Sprache?« »Schwert«, antwortete der Junge. Der Erzmagier nickte. Wieder schwiegen sie. Dann sprach der Junge, nicht kühn, doch auch nicht schüchtern: »Ich glaubte, daß der Erzmagier alle Sprachen kennen würde.«
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Der Mann schüttelte den Kopf und betrachtete den Brunnen. »Und alle Namen...« »Alle Namen? Nur Segoy, der das Erste Wort gesprochen und die Inseln aus der Tiefe des Meeres gehoben hat, nur er wußte alle Namen. Jedoch...« — und der helle, durchdringende Blick richtete sich wieder auf Arrens Gesicht —, »wenn es nötig wäre, deinen wahren Namen zu wissen, dann konnte ich ihn herausfinden. Doch es ist nicht nötig, ich werde dich Arren nennen, und ich bin Sperber. Erzähl mir, wie die Reise hierher war.« »Zu lang.« »Die See stürmte?« »Die Winde bliesen sanft und stetig, doch bringe ich ungute Kunde, ehrwürdiger Herr!« »Erzähle sie mir«, sagte der Erzmagier ernst, doch er sprach wie einer, der einem ungeduldigen Kind nachgibt; und während Arren redete, blickte er wieder auf den Kristallschleier der glitzernden Tropfen, der von dem oberen Becken in das untere sich ergoß, nicht um die Worte an sich vorbeigleiten zu lassen, sondern um mehr als nur die Worte des Knaben zu vernehmen. »Sie wissen, ehrwürdiger Herr, daß mein Vater, der Prinz aus dem Hause Morred, erfahren in der Zauberkunde ist. In seiner Jugend hatte er ein Jahr hier auf Rok verbracht. Er besitzt eine gewisse Macht und weiß einiges von der Magie, doch selten nur gebraucht er seine Künste. Er ist hauptsächlich mit dem Regieren und Verwalten seines Reiches, seiner Städte, und mit dem Handelsverkehr beschäftigt. Unsere Schiffe segeln nach dem Westen, manche sogar in den Westbereich; von dort bringen sie Saphire, Ochsenhäute und Zinn. Zu Beginn des Winters kam ein Kapitän nach Berila und erzählte eine Geschichte, die meinem Vater zu Ohren kam. Er ließ den Mann zu sich kommen und hörte sich seine Geschichte an.« Der Junge sprach fließend und ohne Stocken. Er war am Hofe aufgewachsen und von gebildeten, höflichen Menschen erzogen worden. Das übersteigerte, oft hemmende Selbstbewußtsein des Jugendlichen war ihm fremd.
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»Der Kapitän erzählte, daß es auf Narveduen, einer Insel, die ungefähr vierhundert Meilen westlich von uns auf unseren Schiffsrouten liegt, keine Magie mehr gibt. Zauberformeln hätten dort ihre Macht verloren, und die Worte der Zauberkunst wären dort vergessen. Mein Vater fragte, ob es daran läge, daß alle Zauberer und Zauberweiber die Insel verlassen hätten, und er sagte, daß dem nicht so sei. Es gäbe dort noch welche, die Zauberer gewesen wären, doch würden sie keine Magie mehr wirken, nicht einmal Kessel würden sie mehr flicken, noch würden sie versuchen, verlorene Nadeln zu finden. Und mein Vater fragte, sind die Leute auf Narveduen nicht besorgt darüber? Und der Kapitän sagte, nein, das sei ihnen gleichgültig. Ja, es gäbe sogar Krankheiten unter ihnen und ihre Ernte wäre schlecht gewesen, doch niemand sorge sich um die verschwundene Zauberkraft. Er sagte — ich war gegenwärtig, als er mit dem Prinzen sprach — er sagte: ›Sie kommen mir wie kranke Menschen vor, wie Leute, denen gesagt wurde, daß sie nur noch ein Jahr zu leben haben, und die sich einreden, daß das nicht wahr sei, daß sie noch ewig weiterleben würden. So leben sie dahin‹, sagte er, ›ohne sich umzuschauen.‹ Als andere Handelsschiffe zurückkehrten, bestätigten sie, was uns der Kapitän erzählt hatte, daß Narveduen ein armes Land geworden sei, daß es die Kunst der Zauberei verloren hätte. Aber all das waren nur Geschichten aus dem Außenbereich, und die sind meist merkwürdig, und nur mein Vater machte sich Gedanken darüber. Zu Beginn des Neuen Jahres, am Lammfest, das wir in Enlad feiern, wenn die Frauen der Hirten in die Stadt kommen und die Erstgeborenen der Herde bringen, trug mein Vater dem Zauberer Wurzel auf, die Sprüche des Vermehrens und Gedeihens über die Lämmer zu sprechen. Doch Wurzel kam ganz verstört zurück in unseren Saal, legte seinen Stab vor uns nieder und sagte: ›Mein Fürst, ich kann die Worte der Formeln nicht sprechen! ‹ Mein Vater stellte ihn zur Rede, aber er wiederholte nur immer wieder: ›Ich habe die Worte und die Formgebung vergessene Daraufhin ging mein Vater selbst auf den Markt und wob die Zauberformeln, und das Fest konnte beendet werden. Aber als er am Abend zum Palast zurückkehrte, sah er düster und beunruhigt aus und sagte zu mir: ›Ich sprach die Worte, doch weiß ich nicht, ob sie wir-
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ken.‹ Und inzwischen haben wir vernommen, daß die Herden wirklich nicht gedeihen, daß manche Mutterschafe bei der Geburt sterben, und daß viele Lämmer tot geboren werden, und daß manche... mißgestaltet sind.« Die helle, ausdrucksvolle Stimme des Jungen wurde schwächer, er zuckte zusammen, als er dies sagte, und schluckte: »Ich habe einige gesehen«, sagte er. Eine Pause trat ein. »Mein Vater glaubt, daß diese Vorkommnisse Anzeichen dafür sind, daß in dem Teil der Welt, den wir bewohnen, irgendeine böse Macht am Werke ist. Er sucht Rat bei den Weisen.« »Daß er dich hersandte, beweist uns, wie dringend er den Rat sucht«, erwiderte der Erzmagier. »Du bist sein einziger Sohn. Und die Reise von Enlad nach Rok ist nicht unbeschwerlich. Hast du noch mehr zu erzählen?« »Nur noch Alteweibergeschichten aus den Bergen.« »Was sagen die alten Weiber?« »Daß die Zukunft, die sie im Rauch und aus stehenden Gewässern lesen, nichts Gutes verheißt, und daß ihre Liebestränke fehlschlagen. Aber diese Frauen besitzen keine wahre Zaubermacht.« »Wahrsagerei und Liebestränke bedeuten nicht viel, das stimmt. Doch was alte Frauen zu sagen haben, lohnt sich oft anzuhören. Nun, deine Botschaft wird von den Meistern hier auf Rok besprochen werden. Aber ich weiß nicht, welchen Rat sie deinem Vater erteilen werden, Arren. Denn Enlad ist nicht das erste Land, aus dem uns solche Kunde kommt.« Die Fahrt aus dem Norden, an der großen Insel Havnor vorbei, durch das Innenmeer nach Rok, war Arrens erste große Reise gewesen. Während der vergangenen Wochen hatte er zum ersten Mal Länder gesehen, die nicht zu seiner eigenen Heimat gehörten, und er bekam einen Begriff von den Entfernungen und den Verschiedenartigkeiten, die es auf dieser Welt gab. Hinter den sonnigen Hügeln seiner Heimat hatte sich eine große Welt aufgetan, die angefüllt war mit Menschen. Er war noch nicht daran gewöhnt, dies neue Wissen zu verwerten, und es dauerte eine Weile, bis er alles verstand. »Woher denn sonst noch?« fragte
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er ein wenig enttäuscht, denn er hatte gehofft, prompt wieder zurücksegeln zu können, mit genauen Anweisungen zur Behebung des Übels. »Zuerst kam sie aus dem Südbereich. Vor kurzem sogar aus dem Inselreich, aus Wathort. Man hat behauptet, daß auf Wathort keine Magie mehr geübt wird. Aber sicher ist nichts. Diese Gegend war schon immer aufrührerisch und der Piraterie hold, und wie man so sagt, das Lügen ist den Händlern des Südens angeboren. Doch die Geschichte bleibt sich immer gleich: die Quellen der Zauberkraft sind versiegt.« »Aber hier auf Rok ...« »Wir hier auf Rok haben nichts davon verspürt. Wir sind gegen Stürme, gegen Veränderungen, gegen alle Unbill geschützt, vielleicht zu gut geschützt. Was wirst du jetzt tun, Arren?« »Ich werde wieder nach Enlad zurücksegeln, wenn ich meinem Vater den genauen Grund des Übels mitteilen und ihm sagen kann, wie es zu beheben ist.« Wiederum blickte ihn der Erzmagier an, und dieses Mal blickte Arren, entgegen seines sonst so höflichen Benehmens, zur Seite. Er konnte nicht sagen, warum, denn nicht die geringste Spur von Unfreundlichkeit lag in dem Blick dieser dunklen Augen. Sie schauten ihn offen, ruhig und verständnisvoll an. Alle Leute in Enlad schauten zu seinem Vater auf, und er war der Sohn des Prinzen. Kein Mensch hatte je gewagt, ihn nur als Arren, und nicht als den Prinzen von Enlad — Sohn des regierenden Prinzen — anzusehen. Der Gedanke, daß er nun dem Blick des Erzmagiers auswich, behagte ihm nicht, doch er konnte sich nicht dazu bewegen, den Blick zu erwidern. Es schien ihm, als ob die Welt um ihn sich wiederum erweitere, und nicht nur Enlad war jetzt ganz klein und unbedeutend geworden, sondern auch er. In den Augen des Erzmagiers stellte er nur eine winzige Gestalt in der ungeheuren Weite meerumspülter Länder dar, die von der Dunkelheit bedroht wurden. Er saß und zupfte an dem hellgrünen Moos, das zwischen den Sprüngen der Marmorplatten wuchs, und nach einer Weile hörte er seine eigene Stimme, die erst vor kurzem tiefer geworden war, sagen: »Ich werde tun, was Sie mich zu tun heißen!«
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»Du hast deine Pflicht deinem Vater, nicht mir gegenüber zu erfüllen«, erwiderte der Erzmagier. Seine Augen ruhten noch immer auf Arren, doch jetzt blickte der Junge auf. Als die Worte der Unterwerfung unter eines ändern Willen gesprochen worden waren, hatte er sich selbst vergessen. Jetzt erst erblickte er den Erzmagier, den größten Zauberer der Erdsee, den Mann, der die Schwarze Quelle von Fundar abgedämmt hatte, der den Ring von Erreth-Akbe aus den Gräbern von Atuan zurückgebracht und die tiefe Seemauer von Nepp erbaut hatte; er sah den Seefahrer, der das Meer von Astowell bis Selidor kannte, und er sah den noch einzig lebenden Drachenfürsten vor sich. Und dieser Mann kniete hier neben dem Brunnen, er war nicht sehr groß und nicht mehr jung, seine Stimme klang sanft, und seine Augen waren so tief wie die Nacht. Arren sprang hastig aus seiner sitzenden Stellung auf und kniete sich förmlich, auf beiden Knien, vor ihm nieder. »Ehrwürdiger Herr«, stammelte er, »erlauben Sie mir, daß ich Ihnen diene!« Seine Selbstsicherheit war verschwunden, sein Gesicht war gerötet, und seine Stimme zitterte. An seiner Hüfte trug er ein Schwert in einer Scheide aus neuem Leder, das rote und goldene Verzierungen trug; das Schwert selbst jedoch war einfach und nicht verziert, die Griffstange aus versilberter Bronze war abgewetzt. Dieses Schwert zog er geschwind heraus und bot den Griff dar, wie es der Gefolgsmann tut, der sich seinem Prinzen unterwirft. Der Erzmagier streckte seine Hand nicht aus, um den Schwertgriff zu erfassen. Er blickte ihn nur an und schaute dann auf Arren: »Das gehört dir, nicht mir«, sagte er, »und du bist keines Menschen Diener.« »Aber mein Vater hat gesagt, daß ich auf Rok bleiben soll, bis ich herausgefunden habe, welche Bewandtnis es mit dem Übel auf sich hat, und vielleicht könnte ich selbst einige Künste lernen — ich kenne keine, und ich glaube nicht, daß ich Macht besitze, doch unter meinen Vorfahren gab es Magier ... Vielleicht kann ich auf irgendeine Weise nützlich sein...« »Deine Vorfahren waren Könige, bevor sie Magier wurden«, sagte der Erzmagier.
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Er stand auf und kam in einigen kraftvollen, lautlosen Schritten auf Arren zu. Er nahm den Jungen bei der Hand und zog ihn hoch. »Ich danke dir für dein Angebot, das ich jetzt nicht annehmen kann, doch ist es möglich, daß ich später, nachdem wir über diese Angelegenheit beraten haben, darauf zurückkomme. Das Angebot einer großmütigen Seele darf nicht leichtfertig abgelehnt werden. Und auch das Schwert von Morreds Sohn darf nicht leichthin zur Seite geschoben werden ... Geh jetzt! Der Junge, der dich hierhergebracht hat, wird dafür sorgen, daß du Essen bekommst, baden und dich ausruhen kannst. Geh!« und er schubste Arren leicht an der Schulter, eine familiäre Geste, die sich noch niemand dem jungen Prinzen gegenüber erlaubt hatte und die er keinem gestattet hätte. Doch bei der Berührung des Erzmagiers erbebte er und war glücklich, denn eine tiefe Zuneigung hatte von ihm Besitz ergriffen. Er war kein Stubenhocker; er war gewandt beim Spiel und Waffenübung, und mit Stolz und Vergnügen hatte er Körper und Geist gestählt; er war gelehrig im Erlernen seiner Pflichten gewesen, die er als Sohn des Prinzen zu erfüllen hatte — sie waren weder leicht noch einfach —, jedoch er hatte sich noch nie für eine Sache voll eingesetzt. Alles war ihm leicht gefallen, und alles hatte er mit Leichtigkeit erledigt. Spiel war ihm alles gewesen, selbst die Liebe. Doch jetzt war die in ihm schlummernde Tiefe erwacht, nicht durch das Spiel, nicht durch einen Traum, sondern durch die Gefahr, die Ehre, die Weisheit, durch ein vernarbtes Gesicht, eine ruhige Stimme, durch eine feste dunkle Hand, die, ihrer Macht nicht eingedenk, den Eibenstab leicht hielt, an dessen Griff die Verlorene Rune der Könige, Silber auf schwarzem Holz, eingelassen war. Der erste Schritt aus der Kindheit heraus wird mit einemmal getan, ohne vorheriges Rückwärts- oder Vorwärtsschauen, ohne Bedenken, rückhaltlos. Die höflichen Manieren des Verabschiedens völlig vergessend, eilte Arren zur Tür, strahlend, gehorsam, ungestüm. Und Ged der Erzmagier blickte ihm nach. Ged blieb eine Weile beim Brunnen unter der Eberesche stehen. Dann hob er sein Gesicht zum sonnenklaren Himmel empor: »Ein lichter
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Bote mit unheilvoller Kunde«, sprach er halblaut, zum Brunnen gewandt. Der hörte nicht zu, sondern fuhr fort, in seiner eigenen Silberstimme zu reden, und Ged hörte ihm eine Weile zu. Dann ging er auf eine andere Tür zu, die Arren nicht gesehen hatte, die nur wenigen Augen sichtbar war, ganz gleich, wie nahe sie darauf schauten, und sagte: »Meister Pförtner!« Ein kleiner Mann unbestimmten Alters erschien. Jung war er nicht mehr, so daß man ihn als alt bezeichnen mußte, doch alt war auch nicht passend. Sein Gesicht war eingefallen und hatte die Farbe von Elfenbein angenommen. Er hatte ein anziehendes Lächeln, das lange Furchen in seine Wangen grub: »Was ist los, Ged?« fragte er. Denn sie waren allein, und er gehörte zu den sieben Menschen auf der Welt, die des Erzmagiers wahren Namen kannten. Die anderen waren der Meister Namengeber auf Rok; und Ogion der Schweigsame, der Zauberer von Re Albi, der vor langer Zeit Ged diesen Namen auf dem Berg Gont gegeben hatte; und die Weiße Dame von Gont, Tenar mit dem Ring; und ein Dorfzauberer auf Iffisch, der Vetsch genannt wurde; und wieder auf Iffisch die Frau eines Zimmermanns, die Mutter von drei Mädchen, die der Zauberei unkundig, doch weise in anderen Dingen war, und die Jarro hieß; und schließlich, auf der anderen Seite der Erdsee, im äußersten Westen, zwei Drachen: Orm Embar und Kalessin. »Wir müssen heute abend zusammenkommen«, sagte der Erzmagier. »Ich werde zum Formgeber gehen. Und ich werde es Kurremkarmerruk wissen lassen, damit er seine Listen zur Seite legt und seinen Schülern einen Abend freigibt und hier bei uns sein kann, wenn auch nicht körperlich. Benachrichtigst du bitte die ändern?« »Gewiß«, erwiderte der Pförtner lächelnd und verschwand, auch der Erzmagier war verschwunden. Nur der Brunnen redete noch mit sich selbst, heiter und hurtig, ohne Pause, im Sonnenlicht des jungen Frühlings. Irgendwo westlich vom Großhaus auf Rok, manchmal auch südlich, liegt der Immanente Hain. Auf Karten ist er nicht verzeichnet. Kein Weg führt dorthin und nur diejenigen finden ihn, die den Weg wissen. Selbst Novizen, Städter und Bauern können den Hain sehen, aber im-
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mer nur aus der Entfernung: eine Gruppe hoher Bäume, deren grüne Blätter selbst im Frühling golden flimmern. Daraus schlössen sie — die Novizen, Städter und Bauern — daß der Hain in geheimnisvoller Weise beweglich sei. Doch darin täuschen sie sich, denn der Hain ändert seinen Ort niemals. Seine Wurzeln sind die Wurzeln des Seins. Die Welt um ihn herum ist beweglich. Ged verließ das Großhaus und schritt über die Felder. Er nahm seinen weißen Umhang ab, denn die Sonne stand im Zenit. Ein Bauer, der am braunen Hang pflügte, hob grüßend die Hand. Ged erwiderte den Gruß. Kleine Vögel hoben sich jubilierend in die Luft. Das Funkenkraut war am Erblühen in den Furchen und entlang dem Wege. Hoch am Himmel kreiste ein Falke in weitem Bogen. Ged schaute kurz hinauf und hob wieder grüßend die Hand. Der Vogel schoß pfeilschnell herunter und ließ sich mit gelben Krallen auf dem angebotenen Handgelenk nieder. Es war kein Sperber, sondern ein großer Enderfalke, heimisch auf Rok, dessen Gefieder braun-weiß gemustert war. Er blickte mit einem runden, hellgoldnen Auge von der Seite her auf den Erzmagier, dann klappte er seinen gekrümmten Schnabel zu und blickte Ged von vorne an, mit beiden runden, hellgoldnen Augen. »Furchtlos«, sagte der Erzmagier in der Sprache des Schöpfens. Der große Vogel hielt sich fest und schlug mit seinen Schwingen. Er blickte unentwegt auf Ged. »Erhebe dich wieder, Bruder!« Weit oben am Hügel, unter dem klaren Himmel, stand der Bauer. Er hatte mit seiner Arbeit innegehalten. Im vergangenen Herbst hatte er einmal beobachtet, wie ein wilder Falke sich auf das Gelenk des Erzmagiers niedergelassen hatte und im nächsten Augenblick war der Erzmagier nicht mehr zu sehen gewesen, und zwei Falken stiegen hoch in den Himmel. Dieses Mal trennten sie sich: der Vogel schwang sich in die Luft, der Mann ging weiter über die schlammigen Felder. Er erreichte den Pfad, der zum Immanenten Hain führte, ein Pfad, der immer gerade verläuft, gleichgültig, wie Zeit und Welt sich ändern. Ihm folgend gelangte er bald in den Schatten der Bäume.
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Die Stämme mancher Bäume waren enorm. Wer sie sah, glaubte nicht mehr, daß der Hain sich von Ort zu Ort bewegte. Sie sahen aus wie Türme, die, grau an Jahren, schon seit unvordenklichen Zeiten stehen; ihre Wurzeln waren den Wurzeln der Berge gleich. Doch unter den Allerältesten gab es manche, deren Laub spärlich und deren Äste schwach waren. Die Bäume waren nicht unsterblich. Unter den Riesen gab es junge, kräftige Bäume, mit dichtbelaubten, hellgrünen Kronen, und Schößlinge, zarte, belaubte Stengel, nicht größer als ein Kind. Der Grund unter den Bäumen war weich und federnd, ein dunkler, durch die verwesten Blätter vieler Jahre fruchtbarer Boden. Farne und andere Waldpflanzen gediehen hier, doch nur eine Art von Bäumen wuchs hier, für die es keinen Namen in der hardischen Sprache der Erdsee gab. Die Luft unter den Bäumen war frisch und roch nach Erde; sie rief den Geschmack frischen Quellwassers im Mund hervor. In einer Lichtung, die vor Jahren durch den Sturz eines riesenhaften Baumes geschaffen wurde, traf Ged auf den Meister der Formgebung, der selten diesen Hain verließ. Sein Haar war blond wie Weizen; er war kein Mann aus dem Inselreich. Seitdem der Ring von Erreth-Akbe wieder heil war, unternahmen die Bewohner von Kargad keine Raubzüge mehr. Sie hatten Frieden und gewisse Handelsabkommen mit den Innenländern abgeschlossen, doch war es kein freundlicher Menschenschlag, sie hielten sich fern. Nur hin und wieder, getrieben von Abenteuerlust oder dem Verlangen, die Zauberkunst zu erlernen, kamen junge Krieger oder Kaufmannssöhne nach dem Westen. So hatte es sich auch mit dem Meister der Formgebung zugetragen. An einem regnerischen Morgen, zehn Jahre waren seither verflossen, stand ein schwertgegürteter, junger Wilder, mit rotem Federbusch auf dem Helm, vor der Tür des Großhauses auf Rok und sprach zu Meister Pförtner in befehlendem, fehlerhaften Hardisch: »Ich komme, um zu lernen!« Und heute stand er im grüngoldnen Licht unter den Bäumen, ein großer, schlanker Mann, mit hellem, langem Haar und seltsamen grünen Augen: Meister der Formgebung.
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Es war möglich, daß auch er Geds wahren Namen kannte. Doch selbst wenn er ihn wußte, gebraucht hatte er ihn noch nie. Sie begrüßten sich schweigend. »Was betrachtest du?« fragte der Erzmagier, und der andere antwortete: »Eine Spinne.« Zwischen zwei großen Grashalmen der Lichtung hatte die Spinne ein Netz gesponnen, eine Spirale, die kunstvoll an ihren Stützen befestigt war. Das Sonnenlicht fing sich in den feinen Silberfäden. In der Mitte wartete die Spinne, ein schwarzgrauer Fleck, nicht größer als eine Pupille. »Auch sie ist eine Formgeberin«, meinte Ged und schaute auf das zarte Gewebe. »Was ist das Böse?« fragte der junge Mann. Das runde Netz mit seinem schwarzen Mittelpunkt schien sie beide zu beobachten. »Ein Netz, von Menschen gewoben«, antwortete Ged. In diesem Wald sang keine Vogelstimme. Es war still und jetzt in der Mittagszeit auch heiß. Um sie herum standen Bäume und lagerten Schatten. »Aus Narveduen und Enlad kam uns Kunde: die Botschaft ist die gleiche.« »Südlich und südwestlich; nördlich und nordwestlich«, sagte der Formgeber, und seine Augen ruhten auf dem runden Netz. »Wir kommen heute abend hier zusammen. Dies hier ist der beste Ort, um Rat zu suchen.« »Ich habe keinen Rat.« Der Formgeber blickte Ged fest an, seine grünlichen Augen waren kalt. »Ich habe Angst«, sagte er. »Die Angst ist da; die Angst sitzt an den Wurzeln.« »Gewiß«, sagte Ged. »Wir müssen in die tiefsten Quellen schauen, glaube ich. Zu lange erfreuten wir uns des Sonnenlichtes, wir wärmten uns in dem Frieden, den der geheilte Ring gebracht hat. Unbedeutende Dinge nur haben wir vollbracht, wir fischten im seichten Wasser. Heute abend müssen wir die Tiefe befragen.« Und er ließ den Formgeber zurück, versunken in der Betrachtung einer Spinne im sonnigen Gras.
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Am Rande des Haines, wo die Zweige der Bäume überhängen und gewöhnlichen Grund beschatten, ließ sich Ged nieder und lehnte seinen Rücken an eine mächtige Wurzel. Sein Stab lag quer auf seinen Knien. Er schloß die Augen, als ob er schliefe, doch sein Geist wanderte über die Felder und Hügel von Rok nach Norden, bis an das meerumwogte, gischtbesprühte Vorgebirge, wo der Einsame Turm stand. »Kurremkarmerruk«, sagte er im Geist, und der Meister Namengeber blickte von dem dicken Buch auf, aus dem er seinen Schülern die wahren Namen von Wurzeln, Krautern, Blüten, Samen und Blättern vorgelesen hatte und erwiderte: »Ich bin hier, mein Gebieter.« Dann hörte der große, hagere, alte Mann, dessen weißes Haar unter der schwarzen Kapuze verborgen war, zu, und die Schüler im Turmzimmer blickten von ihren Schreibtafeln auf und warfen sich erstaunte Blicke zu. »Ich werde kommen«, sagte Kurremkarmerruk und, sich wieder über das Buch beugend, sprach er: »Das Blütenblatt des Moly hat einen Namen, und zwar heißt es lebera, und ebenso das Kelchblatt, und zwar heißt es Partonath, und der Stengel, und das Blatt und die Wurzel haben ihre eigenen Namen ...« Doch Erzmagier Ged, der all die Namen des Moly kannte, rief seinen Geistboten wieder zurück; er hielt seine Augen geschlossen, streckte seine Beine bequem aus und schlief in dem von bebenden Blätterschatten durchbrochenen Sonnenlicht bald ein.
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DIE MEISTER AUF ROK
AUF ROK WERDEN DIE KÜNSTE der Hohen Magie gelehrt, und Knaben, denen die Gabe der Zauberei angeboren ist, kommen aus allen Ländern der Erdsee hierher zur Schule. Sie werden mit den verschiedensten Arten der Zauberei vertraut gemacht, studieren Namen, Runen, Formeln und Bannsprüche, lernen, was man tun darf und was man unterlassen muß und die Gründe dafür. Und hier werden sie, nach langer Übung, wenn Geist, Verstand und Handfertigkeit Schritt halten, zum Zauberer ernannt und erhalten einen Stab als Zeichen ihrer Macht. Die wahren Zauberer kommen alle aus Rok. Da es auf allen Inseln Zauberer und Zauberweiber gibt und die Magie den Menschen so nötig ist wie Brot und so ergötzlich wie Musik, wird die Schule der Zauberkunst mit Ehrfurcht betrachtet. Die neun Magier, die Meister der Schule, genießen das gleiche Ansehen wie die mächtigsten Prinzen des Inselreichs. Ihr Meister, der Hüter von Rok, der Erzmagier, ist keinem Menschen verpflichtet, außer dem König aller Inseln, doch selbst an diesen bindet ihn nur ein Treueeid, der aus freiwilligem Herzen gegeben wurde, denn selbst ein König ist nicht stark genug, diesen mächtigsten aller Magier an das Gemeine Recht zu ketten, wenn er sich dagegen sträuben würde. Doch selbst in den Jahrhunderten, die keinen König kannten, blieben die Erzmagier ihrem Eid treu und dienten dem Gemeinen Recht. In Rok nimmt alles, schon seit Jahrhunderten, unverändert seinen Lauf. Auf Rok, so schien es, war man sicher vor aller Unbill, hier hallte das Lachen der Jungen durch die breiten, kalten Flure des Großhauses und fand sein Echo in den Innenhöfen des Gebäudes. Der Junge, der Arren die Schule zeigte, war ein kräftiger, untersetzter Bursche, dessen Umhang am Hals mit einer Silberbrosche geschlossen
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war, ein Zeichen, daß er nicht mehr Novize, sondern bereits Zauberer war und jetzt im Studium steckte, um den Stab zu erlangen. Er wurde ›Spiel‹ genannt, »denn«, so erklärte er, »meine Eltern hatten sechs Mädchen, und mein Vater sagte, das siebte Kind war ein gewagtes Spiel mit dem Schicksal.« Er war ein unterhaltsamer Geselle, schlagfertig und gescheit. Zu jeder anderen Zeit hätte Arren großen Gefallen an seinem Humor gefunden, doch heute war sein Herz zu voll. Er gab nicht viel acht auf das, was ihm Spiel erzählte. Und Spiel, der das natürliche Verlangen hatte, daß man Notiz von ihm nehme, fing an, die Geistesabwesenheit des Fremden auszunutzen. Zuerst begann er allerhand merkwürdige Dinge über die Schule zu erzählen, dann trumpfte er mit Lügen auf, und Arren sagte zu allem immer nur »Ach ja?« und »Wirklich?«, so daß Spiel begann, ihn als einen königlichen Idioten zu betrachten. »Hier wird natürlich nicht gekocht«, sagte er, als sie an der Küche vorbeikamen, in der es laut zuging, wo riesige Kupferkessel glänzten und wo mit großen Messern geschnitten und zerkleinert wurde, und der Duft von Zwiebeln Tränen in die Augen trieb. »Das ist alles nur zum Anschauen. Wir essen im Refektorium und jeder zaubert sich herbei, was er essen will. Dann braucht man natürlich auch nachher kein Geschirr zu spülen.« »Oh, wirklich?« meinte Arren höflich. »Novizen, die noch keine Zauberformeln kennen, die werden natürlich sehr mager in den ersten Monaten hier, aber sie lernen schnell. Da ist zum Beispiel ein Junge aus Havnor, der dauernd versucht, gebratene Hähnchen herbeizuzaubern und immer nur Hirsebrei bekommt. Er bleibt mit seiner Formel immer am Hirsebrei hängen. Doch gestern hat er einen geräucherten Schellfisch dazubekommen.« Spiel wurde heiser vor Anstrengung, um die Leichtgläubigkeit des Gastes zu erschüttern. Er gab es schließlich auf und sagte überhaupt nichts mehr. »Aus welchem ... aus welchem Land kommt der Erzmagier?« fragte der Gast und warf nicht einen einzigen Blick auf die eindrucksvolle Galerie, durch die sie gerade schritten, deren Wände und Decke ein einziges Schnitzwerk war, das den Baum der Tausend Blätter darstellte. »Gont«, sagte Spiel. »Er war dort Ziegenhirte.«
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Als er diese einfache und wohlbekannte Tatsache vernahm, blieb der Junge aus Enlad stehen und starrte ihn ungläubig an: »Ein Ziegenhirte?« »Auf Gont hüten die meisten Leute Ziegen, oder es sind Zauberer oder Piraten. Ich habe ja nicht gesagt, daß er jetzt Ziegenhirte ist.« »Aber wie kann ein Ziegenhirte Erzmagier werden?« »Auf die gleiche Art und Weise wie ein Prinz! Indem er nach Rok kommt und besser ist als alle Meister, und den Ring aus Atuan stiehlt, und zu den Dracheninseln segelt, und der größte Zauberer seit Erreth-Akbe ist — wie denn sonst?« Sie verließen die Galerie durch die Nordtür. Die Nachmittagssonne lag warm auf den bestellten Hügeln, den Dächern von Thwil und auf der dahinterliegenden Bucht. Hier hielten sie an und redeten miteinander. Spiel sagte: »Das alles ist natürlich schon lange her. Seit er Erzmagier ist, hat er nicht viel getan. Die tun gewöhnlich wenig. Die sitzen hier auf Rok und passen auf das Gleichgewicht der Dinge auf, nehme ich an. Und er ist ja auch schon ziemlich alt.« »Alt? Wie alt?« »Oh, vierzig oder fünfzig.« »Haben Sie ihn gesehen?« »Natürlich habe ich ihn gesehen«, erwiderte Spiel kurz angebunden. Der königliche Idiot schien auch ein königlicher Affe zu sein. »Oft?« »Nein. Er bleibt meist für sich. Aber als ich nach Rok kam, habe ich ihn im Brunnenhof gesehen.« »Ich habe heute auch dort mit ihm gesprochen«, sagte Arren. Beim Ton seiner Stimme blickte ihn Spiel an und sagte ernsthaft: »Das war vor drei Jahren. Und ich war so verschüchtert, ich habe ihn gar nicht richtig angeschaut. Ich war natürlich auch noch ziemlich jung. Aber dort drinnen ist es schwierig, klar zu sehen. Ich erinnere mich hauptsächlich noch an seine Stimme und an den plätschernden Brunnen.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Er hat einen gontischen Akzent.« »Wenn ich mit Drachen in ihrer eigenen Sprache reden könnte, dann würde mir mein Akzent nichts ausmachen.«
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Als er das sagte, blickte ihn Spiel wohlgefällig an und fragte: »Sind Sie hierhergekommen, um in der Schule zu bleiben?« »Nein. Ich brachte dem Erzmagier eine Botschaft von meinem Vater.« »Enlad gehört zu den königlichen Fürstentümern, nicht wahr?« »Enlad, Ilien und Weg. Havnor und Ea waren es einmal, aber in beiden Ländern starb die königliche Linie aus. Ilien geht auf Gemal Seebornzurück und setzt sich über Maharion, der König aller Inseln war, fort; Weg geht auf Akamber und das Haus Scheließ zurück; und Enlad, das älteste Fürstentum, geht direkt auf Morred zurück, und setzt sich über seinen Sohn Serriadh und das Haus Enlad fort.« Arren sagte die genealogischen Fakten mit einem abwesenden Ausdruck auf, wie ein gelehriger Schüler, dessen Gedanken anderswo sind. »Glauben Sie, daß zu unserer Zeit noch ein König in Havnor regieren wird?« »Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht.« »Ich komme aus Ark, und dort denken die Leute oft daran. Jetzt, seit dem Frieden, gehören wir zum Fürstentum Ilien, wie Sie wissen. Wie lange ist das jetzt schon her? Siebzehn oder achtzehn Jahre, seit der Ring mit der Königsrune zum Königsturm in Havnor ist. Dann wurde es eine Weile besser, aber jetzt ist es schlimmer als zuvor. Es wird Zeit, daß ein König den Thron der Erdsee besteigt und unter dem Friedenszeichen regiert. Die Leute haben die Nase voll von Krieg und Raubzügen, und von Kaufleuten, die zu viel verlangen, und von Fürsten, deren Steuern zu hoch sind, und von den dauernden Streitigkeiten. Rok leitet, aber es kann nicht regieren. Die Balance liegt hier, doch die Macht sollte in eines Königs Händen liegen.« Spiel sprach mit Überzeugung, und aller Unsinn war vergessen. Arrens Aufmerksamkeit war endlich erwacht. »Enlad ist reich, und es ist friedlich dort«, sagte er langsam. »Es hat sich nie an diesen Streitereien beteiligt. Wir hören nur, was in den anderen Ländern vor sich geht. Aber seit Maharion starb, stand der Thron in Havnor leer: achthundert Jahre sind seither vergangen! Würden die Länder einen König annehmen?«
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»Wenn er als Friedenskönig kommt und mächtig ist, wenn Rok und Havnor ihn als legitim betrachten, dann ja.« »Wurde nicht etwas prophezeit? Hatte Maharion nicht gesagt, daß der nächste König ein Magier sein wird?« »Der Meister der Lieder kommt aus Havnor, und er interessiert sich dafür. Drei Jahre bemüht er sich schon, uns einzutrichtern, was Maharion gesagt hat. Die Worte lauten: ›Er wird Erbe meines Thrones, der das dunkle Land lebend durchschreitet und die fernen Ufer des Tages erreicht.‹« »Also ein Magier.« »Ja, denn nur ein Zauberer oder Magier kann das Totenreich betreten und wieder zurückkehren Aber durchschreiten können selbst Magier es nicht! Außerdem sagt man, daß es nur eine Grenze habe und auf der anderen Seite grenzenlos sei. Und was bedeutet dann die fernen Ufer des Tages? So lautet wenigstens die Prophezeiung des letzten Königs, und deswegen wird eines Tages einer geboren werden, der sie erfüllen kann. Und Rok wird ihn anerkennen, und die See- und Landmächte und alle Völker werden zu ihm strömen. Dann wird im Mittelpunkt der Welt, im Königsturm von Havnor, die Majestät wiederhergestellt, und ich würde auch dorthin kommen, und mit Herz und Hand würde ich diesem wahren König dienen und mit all meinen Künsten«, sagte Spiel, und dann lachte er und zuckte die Achseln, um bei Arren nicht den Eindruck der Gefühlsduselei zu erwecken. Doch Arren blickte ihn verständnisvoll an und dachte: »Er würde für den König das gleiche empfinden, das ich für den Erzmagier empfinde.« Laut sagte er: »Ein König würde Leute wie Sie wohl um sich haben wollen.« Sie schwiegen, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, ohne sich am ändern zu stören, bis hinter ihnen aus dem Großhaus ein lauter Gong ertönte. »Aha«, sagte Spiel, »heute gibt es Linsen und Zwiebelsuppe. Kommen Sie!« »Ich dachte, man kocht hier nicht?« sagte Arren geistesabwesend und folgte ihm. »Ach manchmal... aus Versehen...«
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Das Essen enthielt nichts Magisches, doch viel Nahrhaftes. Nach dem Essen wanderten sie hinaus über die Felder in die blaue Dämmerung hinein. »Das ist der Rokkogel«, sagte Spiel, als sie einen runden Hügel emporstiegen. Das taufeuchte Gras berührte ihre Beine, und drunten am Thwilbach begrüßte ein Chor kleiner Frösche die erste Frühlingswärme und die kürzer werdenden sternklaren Nächte. Der Grund hier schien geheimnisvoll zu sein, und Spiel sagte leise: »Dieser Hügel hier war der allererste, der über das Meer ragte, als das Erste Wort gesprochen wurde.« »Und er wird als der letzte versinken, wenn alles wieder vergeht«, sagte Arren. »Hier stehen wir also ziemlich sicher«, sagte Spiel und schüttelte die Ehrfurcht ab, die ihn überkommen hatte; doch dann rief er aufgeregt aus: »Schauen Sie! Der Hain!« Wie ein Mondaufgang verbreitete sich ein strahlendes Licht auf der Erde, südlich des Kogels; doch der Neumond war bereits westlich hinter dem Hügel verschwunden; auch war in dieser flimmernden Helle eine Bewegung wahrnehmbar, wie windbewegte Blätter an den Ästen von Bäumen. »Was ist das?« »Das kommt vom Hain — die Meister müssen sich dort versammelt haben. Man sagt, daß es damals, vor fünf Jahren, als sie den Erzmagier gewählt hatten, die ganze Nacht über so hell leuchtete wie der Vollmond. Aber warum treffen sie jetzt zusammen? Ist es wegen der Botschaft, die Sie brachten?« Spiel war aufgeregt und beunruhigt und wollte ins Großhaus zurück, um herauszufinden, was das Konzil der Meister wohl bedeuten könne. Arren folgte ihm, doch er blickte immer wieder zurück auf die seltsame strahlende Helle, bis der Hügel sie verbarg und nur noch der Neumond und die Sterne einer Frühlingsnacht zu sehen waren. In der aus Stein gebauten Zelle, die man ihm als Schlafkammer zugewiesen hatte, lag Arren mit offenen Augen. Sein ganzes Leben lang hatte er in einem Bett unter weichen Pelzen geschlafen, selbst auf der
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zwanzig Ruder starken Galeere, die ihn hierhergebracht hatte, gab es mehr Komfort als dieses Lager hier bot — eine Strohmatratze auf einem Steinboden und eine alte Decke aus Filz. Aber all dies nahm der Prinz nicht wahr. »Ich befinde mich im Herzen der Welt«, dachte er. »Die Meister sind an diesem heiligen Platz versammelt. Was werden sie beschließen? Werden sie einen großen Zauber ins Werk setzen, um die Magie zu retten? Ist es wahr, daß die Zauberkraft aus der Welt verschwindet? Wird selbst Rok bedroht? Ich will hierbleiben. Ich werde nicht heimfahren. Lieber fege ich sein Zimmer aus, als Prinz in Enlad zu sein. Ob er mich als Novize behält? Aber vielleicht wird die Kunst der Magie nicht mehr gelehrt, vielleicht werden die wahren Namen der Dinge nicht mehr gelernt. Mein Vater besitzt die Macht zur Zauberkunst, doch ich nicht, vielleicht stirbt sie wirklich aus! Aber ich will ihm trotzdem nahe bleiben, auch wenn er seine Macht und Kunst verliert. Selbst wenn ich ihn nie mehr zu Gesicht bekomme; selbst wenn er kein Wort mehr mit mir spricht!« Doch seine lebhafte Phantasie riß ihn fort, und er sah sich wieder im Brunnenhof unter der Eberesche, dem Erzmagier gegenüber, doch jetzt war der Himmel dunkel, der Baum kahl, und der Brunnen schwieg, und er sprach: »Mein Gebieter, der Sturm ist gekommen, doch ich will hierbleiben und Ihnen dienen.« Und der Erzmagier lächelte ihm zu ... Aber hier versagte seine Phantasie, denn er hatte kein Lächeln auf dem dunklen Gesicht gesehen. Am Morgen erhob er sich und hatte das Gefühl, daß er am Abend zuvor noch ein Junge gewesen war, doch jetzt nicht mehr. Über Nacht war er zum Mann gereift. Er sah dem Tag mit Zuversicht entgegen. Doch als die erste Handlung von ihm verlangt wurde, stand er starr. »Der Erzmagier wünscht Sie zu sprechen, Prinz Arren«, sagte ein junger Novize, der zu seiner Tür gekommen, kurz stehen geblieben war und dann wieder davonrannte, bevor Arren Zeit hatte, sich zu fassen. Er ging die Turmtreppe hinunter und durchquerte die Steingänge, die zum Brunnenhof führten, denn er wußte nicht, wo er sonst hingehen sollte. Im Gang traf er auf einen alten Mann, der ihm zulächelte. Tiefe Furchen zogen sich von der Nase bis hin zum Kinn. Es war derselbe, der ihm tags zuvor die Tür zum Großhaus aufgemacht hatte, als er
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vom Hafen heraufgestiegen war, und der von ihm verlangt hatte, daß er seinen wahren Namen sage, bevor er eintrete. »Komm mit mir!« sagte Meister Pförtner. Die Räume und Flure in diesem Teil des Gebäudes waren ruhig und still. Keine Jungen lärmten und lachten hier, niemand rannte die Korridore entlang. Hier spürte man das hohe Alter dieses Gemäuers. Der Zauber, der in den uralten Steinen verborgen war, der sie schützte, lag fast greifbar in der Luft. In bestimmten Abständen waren Runen tief in die Wände geritzt, manche waren mit Silber eingelegt. Arren hatte die hardischen Runen von seinem Vater gelernt, doch diese hier waren ihm unbekannt, obwohl die Bedeutung mancher ihm vertraut schien, so als ob er sie schon einmal gekannt, doch inzwischen wieder vergessen hätte. »Hier hinein, mein Junge«, sagte der Pförtner, der sich nicht um Titel kümmerte, sei es Prinz oder Fürst. Arren folgte ihm in einen langen, niederen Raum mit mächtigen Deckenbalken. Ein Feuer brannte in einem aus Stein gefügten Kamin und spiegelte sich im polierten Eichenboden; von der gegenüberliegenden Wand fiel das helle, graue Licht des Nebels durch hohe Spitzbogenfenster. Vor dem Kamin stand eine Gruppe Männer, doch unter ihnen nahm er nur einen wahr: den Erzmagier. Er hielt in seiner Bewegung inne, verbeugte sich und stand da, ohne zu reden. »Arren, dies sind die Meister von Rok; sieben von den insgesamt neun. Der Meister der Formgebung verläßt seinen Hain nicht, und der Meister Namengeber befindet sich in seinem Turm, ungefähr zwanzig Meilen nördlich von hier. Sie alle kennen deine Botschaft. Meine Herren, dies hier ist Morreds Sohn.« In Arren rief diese Bezeichnung keinen Stolz hervor, im Gegenteil, er war bestürzt. Gewiß, er war stolz auf seine Familie, doch sah er sich nur als einen Nachfolger seines Vaters, als einen Prinzen aus dem Hause Enlad. Morred, der Stammvater des Hauses, war schon seit 2000 Jahren tot. Seine Taten wurden in Liedern besungen, Legenden umgaben ihn, doch er, Arren, gehörte in diese gegenwärtige Welt. Es war ihm, als hätte der Erzmagier ihn als einen Sohn des Mythos, als einen Erben von Träumen vorgestellt.
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Er wagte nicht, seinen Blick zu heben und die acht Magier anzusehen, er hielt seine Augen auf den mit Eisen beschlagenen Stab des Erzmagiers gerichtet und fühlte, wie ihm das Blut in den Ohren brannte. »Kommt, frühstücken wir miteinander«, sagte der Erzmagier und führte sie an Tische, die an den Fenstern standen. Es gab Milch, saures Bier, Brot, frische Butter und Käse. Arren saß unter ihnen und aß. Sein ganzes Leben hatte Arren unter Adligen, Großgrundbesitzern und reichen Kaufleuten verbracht. Seines Vaters Halle war immer voll gewesen von Männern, die viel besaßen, die kauften und verkauften, die viel von den Schätzen dieser Welt in ihrem Besitz hatten. Sie aßen Fleisch, tranken Wein und redeten laut; viele erregten sich beim Sprechen, viele schmeichelten seinem Vater oder anderen Männern, die ihnen eine Gunst erweisen konnten, denn alle waren auf Gewinn aus. Trotz seiner Jugend hatte Arren die menschliche Natur studiert und hatte die Verstellungen, die Scheinheiligkeiten und die Falschheit im Umgang unter den Menschen beobachtet. Noch nie hatte er unter Männern wie diesen hier geweilt. Sie aßen Brot, redeten wenig und ihre Gesichter waren ruhig. Wenn sie etwas suchten, so taten sie das nicht, um selbst dabei zu gewinnen. Und doch waren es Männer, die große Macht besaßen: auch das nahm Arren wahr. Sperber, der Erzmagier, saß oben am Tisch und schien zuzuhören, was um ihn herum gesprochen wurde. Ihn selbst umgab Stille, und niemand sprach ihn an. Auch Arren ließ man in Ruhe, und er hatte Zeit, seine Gedanken zu sammeln. Links neben ihm saß der Pförtner, rechts von ihm saß ein grauhaariger Mann mit freundlichen Zügen, der schließlich zu ihm sprach: »Wir sind Landsleute, Prinz Arren. Ich komme aus dem Osten von Enlad, aus der Nähe des Aolwaldes.« »In dem Wald habe ich schon gejagt«, erwiderte Arren, und sie sprachen über die Wälder und Städte der Mytheninsel, und beim Gedanken an seine Heimat wurde es Arren wohl ums Herz. Als das Mahl beendet war, kamen sie wieder vor dem Kamin zusammen, manche saßen, anderen standen, und eine Weile blieb alles still. Der Erzmagier sprach schließlich: »Gestern abend hielten wir ein Konzil. Wir diskutierten lange. Wir beschlossen nichts. Ich möchte jetzt, im Licht
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des Morgens, von Ihnen hören, ob Sie an Ihrem Urteil festhalten oder es widerrufen.« »Daß wir nichts beschlossen haben«, sagte der Meister der Kräuterkunde, ein untersetzter, dunkelhäutiger Mann mit ruhigen Augen, »das allein ist schon ein Beschluß. Denn im Hain wird die Form gegeben. Doch wir fanden dort nichts als Argumente.« »Weil wir ganz einfach die Form nicht sehen können«, sagte der grauhaarige Magier von Enlad, der Meister der Verwandlungen. »Wir wissen nicht genug: Gerüchte von Wathort, eine Botschaft aus Enlad. Beunruhigende Nachrichten, gewiß, die näher untersucht werden sollten. Aber eine solch riesenhafte Furcht zu erwecken, auf einer so ungenügenden Basis, scheint mir nicht ratsam. Unsere Macht ist doch nicht bedroht, nur weil ein paar Zauberer ihre Formeln vergessen haben.« »Dem stimme ich bei«, sagte Meister Windschlüssel, ein hagerer Mann mit scharfen, weit spähenden Augen. »Haben wir denn nicht alle noch unsere Macht? Wachsen die Bäume denn nicht alle im Hain und schlagen neu aus? Und die Winde des Himmels, gehorchen die denn nicht unseren Worten? Wer fürchtet da um unsere Zauberkunst der ältesten Kunst der Menschheit?« »Niemand«, ließ sich eine tiefe Stimme vernehmen, die dem Meister des Gebietens gehörte, einem jungen, großen Mann mit einem dunklen, edel geschnittenen Gesicht. »Kein Mensch, keine Macht kann Zauberkunst verhindern, oder die Worte der Macht zum Verstummen bringen. Denn es sind Worte des Schöpfens, und wer die zum Schweigen bringen kann, der kann die Welt zunichte machen.« »Stimmt, und wer das tun kann, der geht nicht nach Narveduen oder Wathort«, sagte der Meister der Verwandlungen. »Der stünde hier, an den Türen von Rok, und das Ende der Welt wäre nahe! Und so weit sind wir noch nicht!« »Und doch stimmt etwas nicht«, sprach eine Stimme, die alle aufhorchen ließ. Sie kam aus einem mächtigen Brustkorb und gehörte einer kräftigen Gestalt; schwer wie eine eichene Tonne saß sie beim Feuer, und die Stimme klang wie eine Glocke so klar und voll. Der Meister der Lieder fuhr fort: »Wo ist der König, der nach Havnor gehört? Rok liegt nicht
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im Herzen der Welt. Der Turm, der mit dem Schwert von Erreth-Akbe gekrönt ist, der Turm, der den Thron von Serriadh, Akamber und Maharion birgt, dieser Turm steht im Herzen der Welt! Achthundert Jahre lang schon steht er leer! Wir haben die Krone, doch fehlt uns der König, der sie trägt. Wir haben die Verlorene Rune, die Königsrune, die Friedensrune, doch haben wir Frieden? Säße ein König auf dem Thron, dann hätten wir Frieden, und Zauberer könnten selbst in den entferntesten Bereichen ungehindert ihre Künste praktizieren. Das Gleichgewicht wäre hergestellt, und alles fände seinen rechtmäßigen Platz.« »Das stimmt«, sagte Meister Hand, ein schlanker, mittelgroßer, beweglicher Mann mit hellen Augen, die jeden in ihren Bann schlugen. »Ich stimme mit Ihnen überein, Meister Sänger. Warum wundert man sich, daß die Zauberei mißlingt, wenn alles andere aus dem Gefüge ist? Wenn die Herde wandert, wird das schwarze Schaf dann im Gehege bleiben?« Der Pförtner mußte bei diesem Vergleich lachen, doch er sagte nichts. »Euch allen scheint es also«, sprach der Erzmagier, »daß kein Grund zur Besorgnis vorliegt, und wenn, dann nur der, daß unsere Länder nicht regiert oder schlecht regiert werden, und daß die Künste und Hohen Wissenschaften vernachlässigt werden. Damit stimme ich überein. Im Süden ist schon fast kein friedlicher Handel mehr möglich, und von dort erreichen uns nur schlimme Gerüchte, und wer weiß etwas Zuverlässiges aus dem Westen, außer dieser Nachricht von Narveduen? Wenn Schiffe, so wie früher, ungehindert überall hinsegeln könnten und sicher zurückkämen, wenn unsere Länder in der Erdsee so eng wie früher verbunden wären, dann wüßten wir, wie es um die entfernten Gegenden steht, dann könnten wir entsprechend handeln. Und wir würden handeln! Denn wenn ein Prinz von Enlad Worte der Formgebung in einer Zauberformel spricht und sich ihres Gehaltes nicht sicher ist, und wenn der Meister Formgeber uns sagt, daß Angst an den Wurzeln nagt, doch nicht mehr sagen will, dann, meine Herren, liegt dann kein Grund zur Furcht vor? Klein ist die Wolke, die den mächtigen Sturm ankündigt.«
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»Sperber, Sie konnten schon immer das Dunkle fühlen«, sagte der Pförtner. »Schon immer! Sagen Sie uns jetzt, daß Ihre Ahnungen nicht zutreffen!« »Das kann ich nicht. Die Macht, ich fühle es, ist nicht mehr so stark. Die Kraft, Entschlüsse zu fassen, ist geschwächt. Die Sonne selbst scheint nicht mehr so stark. Es ist mir, meine Herren — es ist mir, als wären wir, die wir hier sitzen und reden, tödlich verletzt, und während wir reden und reden, fließt das Blut langsam aus unseren Adern...« »Und Sie würden etwas unternehmen? Sie würden handeln?« »Ja, ich würde handeln«, sagte der Erzmagier. »Nun ja«, der Pförtner nickte. »Können Eulen den Falken am Fliegen hindern?« »Doch wohin wollen Sie sich wenden?« fragte der Meister der Verwandlungen, und Meister Sänger antwortete: »Er sucht den König und er führt ihn auf seinen Thron.« Der Erzmagier blickte ihn durchdringend an, doch er sagte nur: »Ich werde mich dorthin wenden, wo das Übel sitzt.« »Gegen Süden oder Westen«, sagte der Meister Windschlüssel. »Gegen Norden oder Osten, wenn es sein muß«, fügte der Pförtner hinzu. »Doch Sie werden hier gebraucht«, sagte der Meister der Verwandlungen. »Anstatt sich blind auf eine Suche unter unfreundliche Völker zu begeben und fremde Meere zu befahren, wäre es nicht weiser, hierzubleiben, wo die Magie stark ist, und durch Zauberkraft allein herauszufinden, was es mit diesem Übel, dieser Störung auf sich hat?« »Meine Kunst hilft mir nicht weiter«, sagte der Erzmagier. Ein Ton lag in seiner Stimme, der alle aufhorchen ließ, und sie blickten ihn fragend an. »Ich bin der Hüter von Rok. Ich verlasse Rok nicht leichten Herzens. Ich wünschte, daß Euer Rat und mein eigner übereinstimmten. Doch darauf kann ich jetzt nicht hoffen. Der Entschluß liegt bei mir: ich muß gehen.« »Wir beugen uns diesem Entschluß«, sagte der Meister des Gebietens. »Und ich gehe allein. Das Konzil von Rok besteht aus Ihnen, meine Herren, und das Konzil muß vollständig bleiben. Doch einen nehme
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ich mit, wenn er kommen will.« Er blickte auf Arren. »Gestern hast du mir deinen Dienst angeboten. Gestern abend sagte der Meister der Formgebung: ›Der Zufall führt keinen Menschen nach Rok. Der Zufall ist es nicht, der Morreds Sohn mit dieser Botschaft hierherbringt.‹ Er sprach kein anderes Wort mehr zu uns, den ganzen Abend lang. Und nun frage ich dich, Arren: willst du mit mir kommen?« »Ja, mein Gebieter«, sprach Arren, und seine Kehle war trocken. »Der Prinz, Ihr Vater, würde Sie gewiß nicht in diese Gefahr ziehen lassen«, sagte der Meister der Verwandlungen ziemlich scharf und wandte sich dann zum Erzmagier: »Der Knabe ist noch jung und in der Zauberkunst ganz unbewandert.« »Ich habe Jahre und Formeln genug für uns beide«, antwortete der Erzmagier trocken. »Arren, was würde dein Vater dazu sagen?« »Er würde mich ziehen lassen.« »Woher wissen Sie das?« fragte der Meister des Gebietens. Arren wußte nicht, wohin die Reise gehen würde, noch wann sie starten würde, noch warum er mitgehen sollte. Diese ernsten, aufrechten, gestrengen Männer verwirrten und verschüchterten ihn. Hätte er Zeit zum Überlegen gehabt, so hätte er wahrscheinlich gar nichts gesagt. Aber er hatte keine Zeit, und der Erzmagier hatte ihn gefragt: »Willst du mit mir kommen?« »Als mich mein Vater hierher sandte, sagte er zu mir, ›Ich fürchte, daß eine dunkle Zeit in dieser Welt anbricht, eine gefährliche Zeit. Aus diesem Grunde schicke ich dich, anstelle eines anderen Boten, denn du kannst beurteilen, ob wir um die Hilfe der Insel der Weisen ansuchen, oder ob wir ihnen die Hilfe von Enlad anbieten sollen. ‹ Wenn ich also gebraucht werde, so stehe ich Ihnen zur Verfügung.« Als er dies sagte, sah er den Erzmagier lächeln; es war ein kurzes Lächeln, doch eine tiefe Wärme lag darin. »Seht ihr wohl?« wandte der sich zu den sieben Magiern. »Könnten Alter oder Zauberkunst diese Worte verbessern?« Arren hatte das Gefühl, daß sie ihn jetzt etwas wohlgefälliger musterten, doch sie waren noch immer am Wägen und Überlegen.
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Der Meister des Gebietens sprach jetzt, und seine mißmutig zusammengezogenen Brauen bildeten eine waagerechte Linie auf seiner Stirn. »Ich kann es nicht begreifen, Erzmagier! Daß Sie gehen wollen — nun ja, fünf Jahre waren Sie hier eingesperrt! Doch bisher gingen Sie immer allein. Warum nun plötzlich in Begleitung?« »Bis jetzt brauchte ich nie Hilfe«, sagte Sperber, und in seiner Stimme lag ein drohender oder ironischer Unterton. »Und ich habe einen passenden Gefährten gefunden.« Etwas Gefährliches ging von ihm aus, und der Meister des Gebietens stellte keine weiteren Fragen mehr, doch seine Stirn blieb gerunzelt. Der Kräutermeister, ein dunkler Mann mit ruhigem Blick, der wie ein weiser und geduldiger Ochse aussah, erhob sich von seinem Sitz und stand wuchtig auf. »Gehen Sie«, sagte er, »und nehmen Sie den Jungen mit. Sie haben unser volles Vertrauen!« Einer nach dem ändern gab seine Zustimmung, und einzeln oder in Paaren verließen sie den Raum, bis von den sieben nur noch der Meister des Gebietens blieb. »Sperber«, sagte er, »ich will Ihren Entschluß nicht in Frage stellen. Doch das muß ich Ihnen sagen: Wenn Sie recht haben, und das Gleichgewicht gestört ist, wenn Unheil diese Welt bedroht. Dann wird eine Reise nach Wathort, in den Westbereich, ja selbst ans Ende dieser Welt nicht weit genug sein. Dort, wo Sie hingehen müssen, können Sie Ihren Gefährten dorthin mitnehmen? Und ist es fair, ihn dorthin mitzunehmen?« Sie standen abseits von Arren, und der Meister sprach mit gesenkter Stimme, doch der Erzmagier antwortete offen: »Ja, es ist fair.« »Sie sagen mir nicht alles, was Sie wissen.« »Wenn ich etwas Sicheres wüßte, dann würde ich es sagen. Aber ich weiß nichts, doch ich ahne viel.« »Lassen Sie mich mitkommen.« »Einer muß hierbleiben, um die Tore zu bewachen.« »Das tut der Pförtner.« »Nicht nur die Tore von Rok. Bleib hier! Bleib hier und schaue, ob die Sonne hell am Morgen aufgeht und paß auf, wer über die Steinmauer kommt und in welche Richtung er blickt. Eine Bresche, ein Bruch, eine
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Wunde ist irgendwo entstanden, und das, Thorion, das suche ich. Wenn ich nicht wiederkehre, dann geh du, vielleicht wirst du es finden. Doch warte. Ich bitte dich, warte auf mich!« Er sprach jetzt in der Ursprache, in der Sprache des Schöpfens, in der Zauberformeln gewirkt und Handlungen der Magie vollbracht werden. Sehr selten unterhält man sich in dieser Sprache, nur unter Drachen ist sie geläufig. Der Meister des Gebietens erhob keine Einwände mehr. Er verbeugte seine hohe Gestalt vor dem Erzmagier und vor Arren und verließ den Raum. Das Feuer prasselte im Kamin. Kein anderer Laut war zu vernehmen. Der Nebel preßte sich formlos und undurchsichtig gegen die Fenster. Der Erzmagier starrte in die Flammen. Es schien, als habe er Arren vergessen. Der Junge stand etwas abseits am Kamin und wußte nicht, ob er gehen sollte oder warten. Unentschlossen und verloren stand er da und hatte wieder das Gefühl, nur eine winzige Gestalt in einer dunklen, grenzenlosen Weite zu sein. »Zuerst gehen wir nach Hort«, sagte Sperber unvermittelt und drehte seinen Rücken gegen das Feuer. »Dort laufen die Neuigkeiten aus dem Süden zusammen, und vielleicht finden wir einen Anhaltspunkt. Dein Schiff wartet noch in der Bucht. Sprich mit dem Kapitän. Er soll deinem Vater Nachricht geben. Ich glaube, wir sollten bald gehen. Morgen früh, bei Sonnenaufgang. Komm zu den Stufen am Bootshaus!« »Ehrwürdiger Erzmagier, was...«, seine Stimme versagte. »Was suchen Sie?« »Ich weiß es nicht, Arren.« »Aber wie...« »Aber wie kann ich es dann suchen? Das weiß ich auch nicht. Vielleicht wird es mich suchen.« Er lächelte Arren kurz an, doch sein Gesicht hatte die Farbe von Eisen im grauen Licht, das durch die Fenster fiel. »Ehrwürdiger Magier«, sagte Arren, und seine Stimme hatte sich wieder gefangen, »es stimmt, daß ich ein ferner Nachkomme von Morred bin — wenn man einer Linie, die so alt wie diese ist, überhaupt trauen kann. Und ich rechne es mir als die höchste Ehre meines Lebens an, wenn ich Ihnen dienen kann. Es gibt nichts auf der Welt, was ich lieber täte. Doch fürchte ich, daß Sie mehr in mir sehen, als ich wirklich bin.«
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»Vielleicht«, meinte der Erzmagier. »Ich bin weder außerordentlich begabt, noch besonders geschickt. Ich kann mit dem kurzen und mit dem edlen Schwert kämpfen. Ich kann segeln. Ich kenne die höfischen und die ländlichen Tänze. Ich kann einen Streit unter Höflingen schlichten. Ich kann ringen. Mit Pfeil und Bogen kann ich nicht gut umgehen, doch ich bin gut im Netzballspiel. Ich kann singen und Harfe und Laute spielen. Und das ist alles. Mehr kann ich nicht. Wie kann ich Ihnen von Nutzen sein? Der Meister des Gebietens hatte recht...« »Aha, du hast das also verstanden? Er ist eifersüchtig. Er pocht auf ältere Privilegien.« »Und auf größere Künste ...« »Hättest du es lieber, wenn er mich begleiten würde und du hier bliebest?« »Nein! Ich fürchte nur ...« »Was fürchtest du?« Tränen traten in die Augen des Jungen. » ...daß ich Sie enttäusche«, sagte er. Der Erzmagier wandte sich wieder gegen das Feuer. »Setz dich hin, Arren«, sagte er sanft, und der Junge kam zum Feuer und setzte sich auf den steinernen Ecksitz beim Kamin. »Ich habe dich nicht als einen Zauberer oder Krieger oder als einen erfahrenen König angeschaut. Wer du wirklich bist, das weiß ich nicht, obwohl ich froh bin, daß du ein Boot segeln kannst... Was aus dir einmal wird, das weiß niemand. Doch eines ist gewiß, du bist der Sohn von Morred und Serriadh.« Arren schwieg. Dann sagte er: »Das stimmt. Doch...« Der Erzmagier sagte nichts, und er mußte seinen Satz allein zu Ende bringen. »Doch bin ich nicht Morred. Ich bin nur Arren.« »Bist du nicht stolz auf deine Ahnen?« »O doch, ich bin stolz darauf — ihnen danke ich es, daß ich ein Prinz bin, es ist eine Verantwortung, derer ich mich würdig zeigen muß.« Der Erzmagier nickte kurz. »Das meinte ich. Wer die Vergangenheit verneint, der verneint die Zukunft. Kein Mensch schafft sein eigenes Geschick: er bejaht es, oder er verneint es. Wenn die Wurzeln einer
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Eberesche nicht tief reichen, dann trägt sie keine Krone.« Arren blickte überrascht auf, als er das vernahm, denn sein wahrer Name war Lebannen, der wahre Name der Eberesche, und vor dem Erzmagier hatte er seinen wahren Namen nie ausgesprochen. »Deine Wurzeln reichen tief«, sagte Sperber. »Du bist stark und du brauchst Platz, um zu wachsen. Deswegen biete ich dir, anstelle einer sicheren Fahrt zurück nach Enlad, eine unsichere an, deren Ende niemand kennt. Du brauchst nicht mitzukommen. Du hast die Wahl. Aber ich biete dir die Wahl an, und ich bin der Sicherheit, der Decken und der Wände um mich herum satt.« Er brach ab und schaute spähenden Auges umher, doch von den Gegenständen um ihn herum schien er keine Notiz zu nehmen. Arren sah die große Rastlosigkeit des Mannes und fühlte Furcht. Doch Furcht erhöht das Lebensgefühl, und sein Herz schlug höher. Er antwortete: »Ich habe gewählt, ich gehe mit Ihnen.« Arren verließ das Großhaus, und sein Herz und seine Sinne waren erfüllt mit all dem Außergewöhnlichen, das sich zugetragen hatte. Er sagte sich, daß er glücklich sei, doch das Wort schien nicht zu passen; er sagte sich, daß ihn der Erzmagier als stark bezeichnet hatte, daß kein gewöhnliches Geschick auf ihn warte, und daß er stolz auf diese Auszeichnung sei, doch er war nicht stolz. Warum nicht? Der mächtigste Zauberer der Welt hatte zu ihm gesagt: »Morgen segeln wir an den Rand des Untergangs«, und er hatte genickt und war gefolgt, sollte er darauf nicht stolz sein? Nein, er war nicht stolz. Staunen erfüllte sein Herz. Er schritt die steilen, engen Straßen von Thwil hinunter zu der Anlegestelle, wo der Kapitän auf ihn wartete, und er sagte zu ihm: »Morgen segle ich mit dem Erzmagier nach Wathort und in den Südbereich. Sag dem Prinzen, meinem Vater, daß ich nach Berile zurückkehre, wenn der Erzmagier mich vom Dienste wieder freigesprochen hat.« Der Schiffskapitän schaute mißmutig drein. Er konnte sich vorstellen, wie eine derartige Botschaft vom Prinzen in Enlad entgegengenommen werden würde. »Ich muß das schriftlich von Ihnen haben, Prinz«, sagte er. Arren sah ein, daß er recht hatte und eilte — er hatte das Gefühl, daß alles sofort erledigt werden mußte — und fand ein merkwürdiges, kleines Geschäft, in dem er ein Tintenfaß, eine Feder und ein Stück weiches
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Papier, so dick wie Filz, erstand. Dann eilte er zurück zum Hafen und setzte sich auf die Kaimauer, um seinen Eltern zu schreiben. Der Gedanke an seine Mutter, wie sie dieses Papier in Händen halten und die Zeilen lesen würde, erweckte ihm Unbehagen. Sie war eine heitere, nachsichtige Frau, doch Arren wußte, daß er der Fels war, auf der ihr Friede ruhte, und daß sie auf seine schnelle Rückkehr wartete. Nichts gab es, das sie über diese lange Trennung trösten würde. Sein Brief war kurz und trocken. Er unterschrieb mit der Schwertrune und versiegelte ihn mit einem kleinen Tropfen Pech aus einem Faß, das in der Nähe stand. Er gab das Schreiben dem Kapitän. Dann rief er: »Warte!«, als ob das Schiff im gleichen Augenblick absegeln würde, und rannte das Kopfsteinpflaster hinauf, zurück zu dem kleinen Geschäft. Er hatte Mühe, es wiederzufinden, denn mit den Straßen von Thwil schien es nicht ganz geheuer zu sein. Es kam ihm vor, als ob sich die Straßenecken ständig veränderten und verschoben. Endlich fand er die richtige Gasse und eilte durch die roten Perlenschnüre, die den Eingang zu dem Geschäft verzierten. Als er die Tinte kaufte, hatte er auf einem Tablett mit Schmuckstücken die Brosche einer wilden Rose aus Silber gesehen. Der Name seiner Mutter war Rose. »Ich möchte das hier kaufen«, sagte er in schroffem, prinzenhaftem Ton. »Eine sehr alte, feine Silberschmiedearbeit von der Insel O. Ich sehe, Sie wissen etwas Altes zu schätzen«, sagte der Ladenbesitzer und blickte auf den Griff — nicht auf die schmucke Lederscheide — von Arrens Schwert. »Das macht vier aus Elfenbein.« Arren zahlte den ziemlich hohen Preis ohne zu fragen. Sein Beutel enthielt eine Menge der Elfenbeinmarken, die in den Innenländern als Geld gebraucht werden. Der Gedanke eines Geschenkes für seine Mutter machte ihn froh, und auch der Einkauf gefiel ihm. Als er den Laden verließ, ruhte seine Hand auf dem Degenknopf, und er setzte seine Füße fest, beinah etwas breitspurig, als er die Straße hinunterschritt. Am Abend vor seiner Abreise aus Enlad hatte ihm sein Vater dieses Schwert gegeben. Er hatte es mit Ehrfurcht empfangen und seither, als sei es seine Pflicht, getragen, selbst an Bord des Schiffes war es an seiner Seite. Er war stolz auf das Gewicht an seiner Hüfte, stolz auf das Gewicht sei-
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nes hohen Alters auf seiner Seele. Denn es war Serriadhs Schwert gewesen, Morreds und Elfarrans Sohn; auf der ganzen Welt gab es kein älteres, außer dem Schwert von Erreth-Akbe, das auf dem Königsturm in Havnor ragte. Serriadhs Schwert war nie zur Seite gelegt oder verwahrt worden, immer wurde es getragen, doch die Jahrhunderte konnten ihm nichts anhaben, es war ungeschwächt, denn es war mit mächtiger Zauberkraft geschmiedet worden. Man sagte, daß es seinen eigenen Willen hätte: es ließe sich nur aus der Scheide ziehen, wenn es der Verteidigung des Lebens gelte; geht es um Rache, um Gier, um Blutdurst oder einen Krieg, der um der Beute willen gefochten wird, dann könne keine Macht der Erde es aus der Scheide bringen. Von ihm, dem größten Familienschatz, hatte Arren seinen Namen erhalten: Arrendek, wie man ihn als Kind gerufen hatte, »das kleine Schwert«. Er hatte es noch nie gebraucht, auch sein Vater und Großvater nicht, denn eine lange Zeit schon waltete Friede auf Enlad. Doch jetzt, auf der Straße einer fremden Stadt, auf der Insel der Zauberer, fühlte sich der Griff des Schwertes seltsam an. Er paßte sich nicht richtig seiner Hand an, und er war kalt. Das Schwert selbst war schwer und hinderte ihn am Gehen. Das Staunen, das er in sich gefühlt hatte, war noch in ihm, doch es wärmte ihn nicht mehr. Er ging hinunter zur Anlegestelle und gab dem Kapitän die Brosche für seine Mutter. Er verabschiedete sich und wünschte ihm eine gute Heimfahrt. Im Umdrehen schlug er unwirsch seinen Umhang über die alte, ungefüge Waffe, das tödliche Ding, das er geerbt hatte. Er ging nicht mehr breitspurig. »Was mache ich eigentlich?« fragte er sich, als er die engen Straßen, nicht eilends jetzt, zu dem festungsartigen Bau des Großhauses, der über der Stadt aufragte, hinaufstieg. »Wie kommt es, daß ich nicht heimkehre? Warum ziehe ich aus, um etwas zu suchen, das ich nicht verstehe, mit einem Mann, den ich nicht kenne?« Doch er fand keine Antworten auf seine Fragen.
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DIE STADT HORT
IN DER DUNKELHEIT, noch vor Anbruch des Morgens, zog Arren die einfache, getragene, doch reinliche Kleidung eines Schiffsjungen an, die man ihm gegeben hatte, und eilte durch die Flure des Großhauses zur Osttür, die aus poliertem Hörn und dem Zahn eines Drachens geschnitzt war. Der Pförtner öffnete ihm die Tür und wies ihm lächelnd den Weg. Er ging die höchste Straße der Stadt entlang und folgte dann einem Pfad, der hinunter zu den Bootsschuppen der Schule führte und sich dann südlich entlang der Bucht von Thwil hinzog. Er konnte den Pfad in der Dunkelheit gerade noch ausmachen. Bäume, Dächer und Hügel waren nur verschwommene Schatten. Es war kalt, und nichts regte sich in der dunklen Luft. Alles verhielt sich still, alles hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Nur ganz weit im Osten, über der dunklen See, war ein schwacher heller Streif zu erkennen: der Horizont, der sich der unsichtbaren Sonne entgegenwölbte. Er erreichte die Stufen des Bootsschuppens. Kein Mensch war zu sehen, nichts rührte sich. Der dicke Mantel und die Wollmütze waren warm, und doch fröstelte er, als er in der Dunkelheit wartend auf den Stufen stand. Der Schuppen saß wie ein großer schwarzer Schatten auf dem schwarzen Wasser. Plötzlich ertönte ein dumpfer, hohlklingender Ton, ein dröhnender Schlag, der dreimal wiederholt wurde. Arren fühlte, wie sich seine Nackenhaare sträubten vor Erregung. Ein langer Schatten glitt lautlos hinaus aufs Wasser. Es war ein Boot, und es bewegte sich geräuschlos zur Anlegestelle hin. Arren rannte hinunter zu dem Steg und sprang ins Boot.
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»Übernimm die Ruderpinne«, sagte der Erzmagier, eine behende schattenhafte Gestalt im Bug des Schiffes, »und steuere geradeaus, während ich das Segel setze.« Sie waren bereits weit draußen auf dem Wasser, als sich das Segel wie ein großer weißer Flügel vom Mast weg entfaltete und das immer heller werdende Licht auffing. »Aha, ein Westwind, der uns das Rudern aus der Bucht erspart. Zweifellos ein Abschiedsgeschenk von Meister Windschlüssel. Paß auf, Junge, das Boot steuert sich sehr leicht! So ist es gut. Ein Westwind und ein klarer Sonnenaufgang, heute, wo sich der Tag und die Nacht die Waage halten.« »Ist das die Weitblick?« Arren hatte in Liedern und Geschichten von diesem Boot gehört. »Aber gewiß«, sagte der andere, der mit den Tauen beschäftigt war. Das Boot schlingerte und hob sich hoch, als der Wind an Stärke zunahm. Arren biß sich auf die Lippen und versuchte, geraden Kurs zu halten. »Es läßt sich leicht steuern, aber es ist etwas eigenwillig, ehrwürdiger Meister!« Der Erzmagier lachte. »Laß ihm seinen Willen. Das Boot ist auch weise. Hör zu, Arren!« Er hielt mit seiner Arbeit inne, und auf der Ruderbank kniend wandte er sich dem Jüngling zu. »Ich bin jetzt weder Herr noch Meister und du bist kein Prinz. Ich bin ein Händler und heiße Falk, und du bist mein Neffe und lernst bei mir den Seehandel. Du heißt Arren und wir kommen von Enlad. Aus welcher Stadt? Es muß eine große sein, falls wir auf einen ihrer Bürger treffen.« »Temere, an der Südküste? Die treiben Handel mit allen Bereichen.« Der Erzmagier nickte. »Aber«, sagte Arren zaghaft, »Sie haben nicht ganz den Akzent von Enlad.« »Ich weiß. Ich habe einen gontischen Akzent«, sagte sein Gefährte lachend und blickte gegen den immer heller werdenden Osten. »Aber ich glaube, ich kann mir von dir leihen, was ich brauche. Also, wir kommen von Temere, in unserem Boot Delphin, und ich bin kein Herr, kein Magier und nicht Sperber, sondern — wie heiße ich?« »Falk, ehrwürdiger Herr!«
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Arren biß sich auf die Lippen. »Übung, Neffe«, sagte der Erzmagier, »Übung macht den Meister. Du warst noch nie etwas anderes als ein Prinz, während ich schon alles mögliche war und zum letzten, doch vielleicht nicht zum besten, sogar Erzmagier ... Wir sind auf der Fahrt in den Süden und suchen etwas, dieses blaue Zeug, aus dem sie Anhänger schnitzen. Ich weiß, das wird in Enlad sehr geschätzt. Sie machen Amulette daraus gegen Rheuma, Verrenkungen, Halsweh und unüberlegtes Gerede!« Arren schwieg, dann lachte er, und als er den Kopf hob, erklomm das Boot eine lange Welle, und er sah den Rand der Sonne, der über dem Meer sichtbar wurde: eine goldene Flamme, die direkt vor ihm lag. Das kleine Boot tanzte im leichten Seegang munter auf und ab. Sperber hielt sich mit einer Hand am Mast fest und blickte in den Sonnenaufgang, der Tag und Nacht in gleiche Teile teilte und sang. Arren verstand die Ursprache, die Sprache von Zauberern und Drachen nicht, doch er vernahm Lob und Preis in dem Gesang, und er spürte den mächtigen Rhythmus, der wie Ebbe und Flut, wie Tag- und Nachtgleiche ewig und immer wiederkehrte. Möwen schrien im Wind, die Küste der Thwilbucht glitt links und rechts an ihnen vorbei, und die langen, lichtdurchfluteten Wogen trugen sie hinaus aufs Innenmeer. Von Rok nach Hort ist es nicht weit, doch sie verbrachten drei Tage auf See. Der Erzmagier hatte es eilig gehabt fortzukommen, aber jetzt, auf der Fahrt, ließ er sich Zeit. Der Wind wandte sich gegen sie, sobald sie die verzauberten Gewässer von Rok verlassen hatten, doch Sperber rief keinen magischen Wind in ihre Segel, wie es jeder Wettermacher tun konnte, sondern er brachte Stunden damit zu, Arren zu lehren, wie man bei starkem Gegenwind in der mit Felsriffen übersäten See östlich von Issel das Boot handhabt. In der zweiten Nacht begann es zu regnen, ein heftiger, kalter Märzregen, doch er wirkte keinen Bann, um ihn abzuhalten. In der folgenden Nacht, die sie außerhalb des Hafens von Hort in der nebligen, kalten und stillen Dunkelheit zubrachten, überlegte sich Arren, ob der Erzmagier in der kurzen Zeit, die er ihn kannte, noch keinen einzigen Zauber gewirkt hatte.
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Jedoch was das Segeln anbetraf, so konnte sich keiner mit ihm messen. Arren hatte während der drei Tage, die er mit ihm fuhr, mehr gelernt, als während der zehn Jahre in Berila, wo er oft in der Bucht im Wettspiel gesegelt und gerudert hatte. Und Magier und Segler waren im Grund nicht allzu verschieden, beide arbeiteten mit Meer und Himmel, beide zwangen sie die mächtigen Winde, ihren Händen zu gehorchen, beide brachten sie nahe, was ferne lag. Ob Erzmagier oder Falk der Händler, es lief letzten Endes auf das gleiche hinaus. Er war nicht gesprächig, doch sehr geduldig und verständnisvoll. Arrens gelegentliche Ungeschicklichkeiten machten ihn nicht nervös, er war nachsichtig und rücksichtsvoll, man konnte sich kaum einen besseren Reisegefährten wünschen, dachte Arren. Doch manchmal war er so in Gedanken versunken, daß er stundenlang schwieg, und wenn er dann endlich wieder redete, war seine Stimme rauh, und er schien durch Arren zu blicken. Dies tat der Liebe, die Arren für ihn hegte, keinen Abbruch, doch vielleicht verringerte es das Gefallen, das er an ihm fand, denn es füllte ihn mit ehrfürchtigem Staunen. Sperber spürte dies vielleicht, denn in dieser nebligen Nacht vor der Küste der Insel Wathort begann er, ziemlich stockend, von sich selbst zu erzählen. » Ich will nicht unter Menschen gehen«, sagte er. »Ich versuche mir einzureden, daß ich frei bin... daß alles in Ordnung ist auf der Welt, daß ich kein Erzmagier, nicht einmal ein Zauberer bin, sondern Falk von Temere, ohne Verpflichtungen, ohne Privilegien, daß ich niemandem etwas schulde ...« Er hielt inne und fuhr dann fort: »Sei vorsichtig, Arren, wenn die großen Entscheidungen an dich herantreten und du wählen mußt. Als ich jung war, mußte ich mich entscheiden zwischen einem beschaulichen Leben und einem tätigen Leben. Und ich schnappte nach dem letzteren wie eine Forelle nach einer Fliege. Doch jede Handlung, jede Tat bindet dich an sich selbst und an ihre Folgen und zwingt dich immer wieder zu weiterem Handeln. Selten geschieht es, daß du eine Zeitspanne zur Verfügung hast, so wie jetzt, zwischen dem Tun, wo du innehalten und ganz einfach nur da sein kannst, wenn du dir überlegen kannst, wer du nun eigentlich bist.«
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Wie konnte solch ein Mann, dachte Arren, sich fragen, wer oder was er sei? Er hatte geglaubt, daß Zweifel dieser Art nur jungen Menschen vorbehalten waren, die noch nichts geleistet hatten. Das Boot schaukelte hin und her in der großen kalten Dunkelheit. »Daher liebe ich das Meer«, drang Sperbers Stimme aus der Dunkelheit an sein Ohr. Arren verstand ihn, doch seine Gedanken liefen ihm voraus, wie sie es die vergangenen drei Tage und Nächte getan hatten, auf die Fahrt, auf das Ziel ihrer Reise zu. Und da sein Gefährte endlich in einer redefreudigen Stimmung schien, packte er die Gelegenheit beim Schopfe: »Glauben Sie, daß wir in Hort das finden, was wir suchen?« Sperber schüttelte den Kopf, entweder verneinend oder sein Nichtwissen ausdrückend. »Kann es sich um eine Plage, eine Heimsuchung, eine Pestilenz handeln, die von Land zu Land getrieben wird und die Ernte, die Herden und die Gemüter der Menschen zerstört?« »Eine Plage ist nur eine Störung des Gleichgewichts der Dinge. Dies jedoch ist etwas anderes. Daran haftet der Geruch des Bösen. Unter einer Plage würden wir leiden, doch wir würden nicht die Hoffnung verlieren und die Künste aufgeben und die Worte des Schöpfens vergessen. Die Natur geht nicht wider sich selbst. Jetzt aber handelt es sich nicht um eine Wiederherstellung des Gleichgewichts, eher um eine permanente Störung. Nur eine Kreatur kann dies verursachen.« »Ein Mensch?« fragte Arren zögernd. »Wir Menschen.« »Wie?« »Durch einen grenzenlosen Durst nach dem Leben.« »Nach dem Leben? Aber es ist doch nicht falsch, leben zu wollen?« »Nein. Aber wenn wir einen Willen zur Macht in uns verspüren, der über das Leben triumphieren möchte — wenn wir grenzenlosen Reichtum, uneingeschränkte Sicherheit, Unsterblichkeit erstreben — dann wird der Wunsch zur Gier. Und wenn sich Wissen zu dieser Gier gesellt, dann kommt das Unheil, das Böse. Dann wird das Gleichgewicht der Welt gestört, und der Ruin drückt die Waage nach unten.«
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Arren grübelte eine Weile über diese Worte nach, dann fragte er: »Sie glauben also, daß wir einen Menschen suchen?« »Einen Menschen und einen Magier. Ja, das glaube ich.« »Aber ich hatte geglaubt, nach dem, was mich mein Vater und meine Lehrer gelehrt hatten, daß die hohen Künste der Magie auf dem Gleichgewicht aller Dinge beruhen, und daher nicht zu bösen Zwecken verwendet werden können.« »Das«, sagte Sperber leise seufzend, »das ist ein umstrittener Punkt. Immer wird es Kontroversen zwischen Magiern geben ... Jedes Land der Erdsee kennt Zauberweiber, die Schwarze Zauberkünste praktizieren, und Zauberer, die ihre Kunst dazu benutzen, um sich selbst zu bereichern. Aber es gibt noch Schlimmeres. Der Feuerfürst, der die Dunkelheit abschaffen und die Sonne am Mittag festhalten wollte, war ein großer Magier, und selbst Erreth-Abke konnte ihn nur mit äußerster Anstrengung bezwingen. Morreds Feind war ähnlich. Er war so mächtig, daß sich die Städte vor ihm beugten, wo immer er hinkam, und Armeen fochten für ihn. Der Zauber, den er gegen Morred gewoben hatte, war so stark, daß er des Zauberers Tod überdauerte; die Insel Solea wurde vom Meer überspült und alle, die dort wohnten, gingen unter. Das alles waren Männer gewesen, die große Macht und großes Wissen besaßen, die aber dem Willen des Bösen dienten und an ihm stark wurden. Ob die Zauberkraft, die dem Guten dient, letzten Endes die stärkere ist, das wissen wir nicht. Wir hoffen es nur.« Es ist bitter, wenn man dort, wo man Sicherheit erwartet hat, nur Hoffnung findet. Arren war nicht gewillt, die bittere Pille zu schlucken. Nach einer Weile meinte er: »Ich glaube, jetzt verstehe ich, was Sie meinten, als Sie sagten, daß nur Menschen Böses tun können. Selbst Haifische sind unschuldig. Sie töten, weil sie müssen.« »Deswegen kann uns Menschen keine Schranke gesetzt werden. Eine einzige Macht nur kann einem bösen Menschen widerstehen: ein anderer Mensch. In unserer Tiefe liegt auch unsere Größe. Nur in unserem menschlichen Willen, der des Bösen mächtig ist, liegt gleichzeitig auch die Macht, Böses zu überwinden.«
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»Aber die Drachen«, sagte Arren, »tun die nichts Böses? Sind die unschuldig?« »Die Drachen? Die Drachen sind goldgierig, unersättlich, hinterlistig, erbarmungslos und kennen keine Reue. Doch sind sie böse? Ich, ein Mensch, wie kann ich mich unterstehen, Drachen zu beurteilen? — Sie sind weiser als wir. Sie sind wie Träume, Arren. Wir Menschen, wir träumen, wir wirken Magie. Wir tun Gutes und wir tun Böses. Doch Drachen träumen nicht. Sie sind selbst Träume. Sie wirken keine Magie: Magie ist ihr Wesen, ihr Sinn. Sie handeln nicht, sie sind.« »In Serilune«, sagte Arren, »befindet sich die Haut von Bar Oth, der vor dreihundert Jahren von Keor, einem Prinzen von Enlad, getötet wurde. Von diesem Tag an sind keine Drachen mehr nach Enlad gekommen. Ich habe die Haut von Bar Oth gesehen. Sie ist so schwer wie Eisen, und man sagt, sie sei so groß, daß sie, ausgebreitet, den ganzen Marktplatz von Serilune bedecken würde. Die Zähne sind so lang wie mein Unterarm. Und Bar Oth, so sagt man, war noch nicht voll ausgewachsen, er war noch ein junger Drache.« »Du hegst den Wunsch«, sagte Sperber, »selbst Drachen zu sehen.« »Ja.« »Ihr Blut ist kalt und giftig. Man darf nie in ihre Augen blicken. Sie sind viel älter als die Menschen.« — Er verstummte und fuhr dann fort: »Und doch, wenn ich alles, was ich in meinem Leben getan habe, vergessen oder bedauern müßte, wenn mir dies eine Bild bliebe — Drachen, die, vom Winde getragen, sich über die Inseln im Westen erheben — dann wäre ich zufrieden.« Beide schwiegen; alles war still, nur das Wasser flüsterte gegen das Boot; kein Licht blinkte. Und endlich schliefen sie ein, an der Küste Wathorts, über dem tiefen Wasser des Meeres. Der Hafen von Hort lag im hellen Dunst des Morgens. Hundert oder noch mehr Schiffe waren teils noch verankert, teils schon unterwegs: Fischkähne, Schleppkähne, einfache Ruderboote, Lastschiffe, zwei Galeeren mit je zwanzig Rudern, eine große Galeere mit sechzig Rudern in schlechtem Zustand, und einige lange, schlanke Segelschiffe mit hohen
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dreieckigen Segeln, die dazu bestimmt waren, die Höhenwinde in den warmen Gewässern des Südbereiches aufzufangen. »Ist das ein Kriegsschiff?« fragte Arren, als sie an dem Zwanzigruderer vorbeikamen, und sein Gefährte antwortete: »Ein Sklavenschiff, nach den Kettenringen im Laderaum zu schließen. Im Süden wird noch immer Menschenhandel getrieben.« Arren überlegte kurz, dann stand er auf, ging zu dem Gerätekasten und nahm sein Schwert heraus, das er am Morgen seiner Abreise gut eingewickelt und dort verwahrt hatte. Er packte es aus. Er stand unentschlossen da und hielt das in der Scheide steckende Schwert, an dem der Gürtel baumelte, mit beiden Händen. »Es ist kein Seemannsschwert, die Scheide ist zu reich verziert.« Sperber, der mit dem Steuern beschäftigt war, warf ihm einen kurzen Blick zu: »Trag es, wenn du willst.« »Ich dachte, es wäre vielleicht ganz weise ...« »Was Schwerter im großen und ganzen anbelangt, so ist dieses weise«, sagte sein Gefährte und spähte scharf aus, während er das Boot durch die dichtbefahrene Bucht steuerte. »Es widerstrebt dem Gebrauch, nicht wahr?« Arren nickte. »Ja, so wird behauptet. Es hat aber trotzdem schon getötet. Menschen hat es getötet.« Er blickte auf den schmalen, von vielen Händen abgenutzten Griff. »Ja, es hat getötet, aber ich habe nicht getötet. Ich komme mir vor wie ein Narr. Es ist viel älter als ich ... Ich nehme lieber mein Messer«, schloß er, und nachdem er das Schwert wieder sorgfältig eingewickelt hatte, vergrub er es tief unten im Gerätekasten. Er sah verdutzt und ärgerlich drein. Sperber schwieg, dann sagte er: »Würdest du jetzt rudern, Junge? Wir halten auf den Anlegesteg dort bei den Stufen zu.« Hort, eine der sieben großen Hafenstädte des Inselreiches, erhob sich farbenprächtig hinter dem lärmenden Hafen auf drei steilen Hügeln. Die Häuser waren aus Lehm gebaut und rot, orange, gelb und weiß verputzt; die Dächer waren mit violetten Ziegeln bedeckt; blühende Perdickbäume ließen die oberen Straßen wie dunkelrote Wälle erscheinen. Bunt gestreifte Sonnendächer waren zwischen den Dächern gespannt
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und überdeckten schmale Märkte. Die Piers lagen im hellen Sonnenlicht, die Straßen, die sich vom Hafen in die Stadt hinein erstreckten, sahen wie schmale, dunkle Schlitze voll Leuten und Schatten aus. Der Straßenlärm drang zu ihnen über das Wasser. Als sie das Boot festgebunden hatten, beugte sich Sperber hinunter zu Arren und tat so, als ob er den Knoten nachprüfe. Er flüsterte ihm zu: »Arren, hier in Hort gibt es eine Menge Leute, die mich ziemlich gut kennen. Paß also auf, daß du mich erkennst.« Als er sich aufrichtete, war die Narbe auf seinem Gesicht verschwunden. Sein Haar war grau; seine Nase war dick und etwas knollig, und anstelle seines hohen Stabes aus Eibenholz hielt er ein Elfenbeinstäbchen, das er in seinem Hemd versteckte. »Kennst mich wohl gar nicht, he?« fragte er mit einem breiten Lächeln im Dialekt von Enlad. »Hast wohl deinen Onkel noch nie vorher gesehen?« Arren hatte am Hof von Enlad Zauberer gesehen, die ihre Gesichter veränderten, wenn sie die Taten von Morred mimten. Er wußte, daß es nur Illusion war, und er verlor seine Fassung nicht ganz und antwortete: »O doch, Onkel Falk!« Doch während der Magier mit einem Hafenposten um die Gebühren für das Festmachen und Bewachen feilschte, betrachtete Arren ihn aufmerksam, um sicher zu sein, ob er ihn auch erkennen würde. Je mehr er aber schaute, desto unbehaglicher wurde ihm zumute. Die Verwandlung war zu vollkommen, nichts war vom Erzmagier übrig geblieben. Das hier war kein weiser Führer und Lehrer... Die Gebühr des Postens war hoch, und Sperber schimpfte vor sich hin, als er zahlte und entfernte sich mit Arren, immer noch schimpfend. »Das ist doch die Höhe«, brummte er. »Da muß ich diesem vollgefressenen Dieb Gold geben, um auf mein Boot aufzupassen! Ein halber Zauberspruch wäre zweimal so sicher! Aber was bleibt mir schon übrig, ich muß eben zahlen wegen meiner Verwandlung, na ja! ... Und anständig reden tu ich auch nimmer, he Neffe?« Sie gingen eine enge, kunterbunte, übelriechende Straße hinauf, die vollgestopft war mit Menschen. Links und rechts gab es kleine Geschäfte, nicht viel größer als Buden, deren Inhaber unter den Türen zwischen
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Bergen von Waren standen und laut die Schönheit und Preisgünstigkeit ihrer Töpfe, Unterwäsche, Hüte, Spaten, Nadeln, Taschen, Kessel, Körbe, Haken, Messer, Seile, Schrauben, Bettwäsche und alles Erdenklichen an Haushaltsgeräten und Werkzeugen anpriesen. »Ist das ehrlich?« »He?« fragte der Mann mit der Knollennase und legte seinen Kopf schief. »Ist das ehrlich, Onkel?« »Ehrlich? Nein, nein, aber so gehtʹs hier das ganze Jahr über zu. Behalt deine Bratfische, Alte. Ich hab schon gefrühstückt!« Arren versuchte, einen Mann mit einem Tablett voll kleiner Messingbehälter abzuschütteln, der ihm auf den Fersen folgte und mit weinerlicher Stimme rief: »Kaufen Sie, versuchen Sie es, junger Herr, Sie werden nicht enttäuscht sein, ein Atem, so süß wie die Rosen von Numina, er bezaubert die Frauen, versuchen Sie es, junger Seefürst, junger Prinz ...« Doch plötzlich war Sperber zwischen ihm und dem Trödler und sagte: »Was für Amulette sind das?« »Keine Amulette! « wimmerte der Mann und schreckte vor ihm zurück. »Ich verkaufe keine Amulette, Seemeister! Nur einen Sirup, der den Atem nach Alkoholgenuß und dem der Haziawurzel versüßt — nur ein Sirup, mächtiger Prinz!« Er kauerte auf den Pflastersteinen, sein Tablett mit den kleinen Krügen klapperte und klirrte, einige waren umgefallen, und ein paar Tropfen der zähen süßen Flüssigkeit waren herausgeflossen und tropften rosa und lila über den Rand des Tabletts. Sperber wandte sich um und ging mit Arren weiter seines Weges. Die Menge lichtete sich, die Geschäfte wurden noch armseliger, es waren meist nur noch Verschlage, vor denen Waren ausgebreitet lagen, eine Handvoll krummer Nägel, ein zerbrochenes Messer, ein alter Kamm. Arren fand die Armut hier weniger abstoßend als das vorher Gesehene; das reichere Ende der Straße hatte ihm den Atem genommen, Ekel war in ihm aufgestiegen vor der Menschenmasse, vor der Aufdringlichkeit der Trödler, vor den Stimmen, die von allen Seiten auf ihn eindrangen: Kaufe! kaufe! Und das Elend des Bettlers hatte ihn abgestoßen. Er dach-
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te an die kühlen breiten Straßen seiner Heimatstadt im Norden. Kein Mensch in Berila hätte sich so vor einem anderen Menschen erniedrigt. »Das ist ein verachtenswertes Volk!« sagte er. »Hier rum, Neffe!« war die Antwort seines Gefährten. Sie betraten eine enge Gasse, die sich zwischen hohen, roten, fensterlosen Hauswänden am Hügel entlangzog und am Ende unter einem Torbogen, an dem uralte, zerfetzte Fahnen hingen, hinaus ins Sonnenlicht auf einen viereckigen Marktplatz führte, der voll mit Buden und Tischen stand, wo sich Fliegen in Schwärmen einfanden und die Menschen sich drängten. Am Rand des Platzes lagerten teilnahmslos Gestalten, Männer und Frauen, die teils saßen, teils regungslos auf dem Rücken lagen. Ihre Münder waren merkwürdig schwärzlich, es sah aus, als ob sie wund wären, und Fliegenschwärme, wie Hände voll Korinthen, hatten sich auf ihre Lippen niedergelassen. »So viele«, sagte Sperber, und seine Stimme war unterdrückt und atemlos, als ob er zutiefst erschrocken wäre. Doch als ihn Arren anblickte, sah er nur das grobe, gutmütige Gesicht von Falk, dem Händler, das keine Anteilnahme zeigte. »Was ist mit den Leuten hier los?« »Hazia. Es betäubt und befriedigt und befreit den Körper vom Geist. Und der Geist schweift umher. Doch wenn er zum Körper zurückkehrt, dann braucht er mehr Hazia... Und das Verlangen wächst und das Leben ist kurz, denn das Zeug ist Gift. Es beginnt mit einem Zittern, später tritt eine Lähmung ein, am Ende wartet der Tod.« Arren blickte auf eine Frau, die sich mit dem Rücken an die sonnenwarme Wand lehnte. Sie hatte ihre Hand erhoben, um die Fliegen von ihrem Mund wegzuscheuchen, doch ihre Hand beschrieb nur eine ruckhafte, kreisförmige Bewegung in der Luft, so als ob sie den Grund ihrer Bewegung schon wieder vergessen hätte und als würde sie von einer spastischen Kontraktion der Muskeln gelenkt. Die Geste sah aus wie die Handbewegung, die eine Zauberformel begleitet, doch sie wurde ziellos und leer in die Luft hinein gewirkt. Auch Falks Blick ruhte auf ihr, doch sein Gesicht blieb ausdruckslos. »Komm!« sagte er.
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Er führte Arren quer über den Marktplatz zu einer von bunten Markisen beschatteten Bude. Grünes, orangefarbenes, zitronengelbes, hellblaues und rotes Sonnenlicht fiel auf Stoffe, Umhänge und geflochtene Gürtel, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen, und tanzte in den vielen kleinen Spiegeln, die kunstvoll einen Federbusch bedeckten, der sich auf dem Kopf der Frau türmte, die den Ramsch feilbot. Sie war korpulent und pries ihre Ware mit lauter Stimme an: »Seide, Damast, Leinwand, Felle, Filz, Wollstoffe, Felldecken von Gont, Gaze von Soul, Seide von Lorbanery! Ihr Männer aus dem Norden dort, zieht eure Wintermäntel aus, merkt ihr denn nicht, daß die Sonne am Himmel steht? Wie warʹs mit diesem Stück feiner Seide? Ein passendes Geschenk für Mädchen in Havnor! Schaut her, Seide aus dem Süden, so zart wie ein Schmetterlingsflügel!« Geschickt, mit einem eleganten Schwung, hatte sie einen Ballen feiner rosa Seide, mit Silberfäden durchschossen, auf dem Ladentisch halb aufgeworfen, und hielt den Stoff hoch. »Nee, Frau, wir sind nicht mit Königinnen verheiratet«, sagte Falk, und die Stimme der Frau erhob sich schrill: »Sooo, was gebt ihr denn dann euren Frauen zum Anziehen? Rupfen? Leinwand? Geizkragen! Eure Frauen frieren dort oben in dem ewigen Schnee, und ihr könnt ihnen nicht mal ein bißchen Seide mitbringen! Aber wie warʹs damit? Eine Felldecke aus Gont, das hält warm in den Winternächten!« Sie warf ein großes, braun und hellbeige kariertes Viereck über die Ladentheke, das aus feinem Ziegenhaar gewebt war und von den nördlichen Inseln kam. Der angebliche Seemann streckte seine Hand danach aus und befühlte es. Er lächelte. »Oho, ihr seid aus Gont?« fragte die laute Stimme, und der Kopfputz bewegte sich und streute tausend kleine Pünktchen über die Stoffe und die Markisen. »Das hier kommt aus Andrad, schaut her! Nur vier Kettfäden auf einer Fingerbreite! In Gont nehmen sie sechs und noch mehr. Doch sagt, warum macht ihr keine Zauberkunststückchen mehr? Warum verkauft ihr jetzt Ramschwaren? Als ichʹs letzte Mal hier war, sʹist schon ein paar Jahre her, da habʹ ich gesehn, wie ihr Feuer aus den Ohren von Männern
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gezogen habt, und dann habt ihr Vögel aus dem Feuer gemacht und goldene Glocken! Das war ein feineres Geschäft, als was ihr jetzt tut.« »Das war gar kein Geschäft«, sagte die dicke Frau, und Arren sah, ganz kurz nur, Augen, die so kalt und hart wie Achate blickten und die ihn und Falk unter dem Funkeln und Glitzern ihres wippenden Federbüschels und ihrer funkelnden Spiegel scharf musterten. »Das hat mir gefallen, das Feuer, das ihr aus den Ohren gezogen habt«, fuhr Falk unbeirrt in seiner langsamen, breiten Sprechweise fort. »Ich habʹs meinem Neffen zeigen wollen.« »Ach weißt du«, sagte die Frau, jetzt weniger laut, und sie legte ihre prallen, braunen Arme und ihre schwere Brust auf die Theke. »Wir hier machen solche Tricks nicht mehr. Die Leute wollen das nicht mehr sehen. Die haben das durchschaut. Da schau dir meine Spiegel an — an die erinnerst du dich doch noch, nicht wahr?« — und sie warf ihren Kopf zurück, daß die bunten Punkte tanzten und sich mit schwindelerregender Geschwindigkeit um sie herumdrehten. »Siehst du, Spiegelgefunkel genügt, damit kann man den Menschen den Kopf verdrehen, auch mit Worten und mit Tricks, wie, kann ich dir nicht verraten, bis die Menschen glauben, was sie sehen, was sie aber gar nicht sehen, weil es das gar nicht gibt! Wie das Feuer oder wie die goldenen Glocken oder wie die Kleider, mit denen ich die Schiffsleute herausstaffiert habe, goldene Anzüge mit Diamanten so groß wie Aprikosen, und sie sind darin fortstolziert wie der König aller Inseln... Das waren alles nur Tricks, nur Narrenzeug, weißt du. Menschen kann man leicht zum Narren halten. Die sind wie Hühner, die man mit einer Schlange oder mit einem Finger, den man ihnen vorhält, verhexen kann. Ja, ja, die Menschen sind wie Hühner! Aber dann finden sie doch irgendwann einmal heraus, daß sie zum Narren gehalten werden, und dann werden sie böse und wollen nichts mehr davon sehen. Und deswegen habʹ ich halt das Geschäft hier angefangen, und vielleicht ist nicht alle Seide reine Seide und nicht alle Felldecken kommen aus Gont, aber die halten sich trotzdem gut — o ja, die halten sich gut! Die sind nämlich wirklich da, es sind keine Lügen und nicht bloß Luft, wie die Kleider aus Goldstoff!«
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»So, so«, sagte Falk langsam, »dann ist also niemand mehr da, der Feuer aus Ohren ziehen oder sonst irgend etwas Zauberisches machen kann?« Als sie die letzten Worte vernahm, runzelte sie die Stirn. Sie richtete sich auf und faltete die Decke sorgfältig zusammen. »Die Leute, die Lügen und Luftbilder wollen, die kauen Hazia«, sagte sie. »Geh und redʹ mit denen, wenn du willst!« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die regungslosen Gestalten am Rande des Platzes. »Aber es gab Zauberer, und die haben uns mit dem Wind geholfen und unsere Ladungen mit ihren Sprüchen festgemacht. Sind die jetzt alle Händler?« Jetzt wurde sie böse, und ihre Stimme überschlug sich: »Dort drüben hockt einer, wenn du einen suchst, sogar ein großer, einer mit einem Stab und all dem — siehst du ihn dort drüben? Der ist mit Egre selbst gesegelt, um Wind zu machen und um fette Galeeren zu finden, aber es war alles verlogen, und Kapitän Egre gab ihm den verdienten Lohn: er hat ihm die rechte Hand abgehackt! Und jetzt hockt er hier herum, den Mund voll Hazia, das Maul voll Fliegen und den Bauch voller Luft. Luft und Lügen! Luft und Lügen! Das ist die ganze Zauberei, Kapitän Ziegenbart!« »Schon gut, schon gut, Frau«, sagte Falk begütigend mit milder Stimme. »Ich habʹ ja bloß gefragt.« Sie drehte ihnen ihren breiten Rücken zu und schwenkte ihren Kopfputz, daß die Spiegelchen leise klirrten und Dekke und Wände mit tausend Farbtupfen übersäten, und Falk ging gemächlichen Schrittes mit Arren an seiner Seite davon. Sein Weg führte ihn wie zufällig in die Nähe des Mannes, den sie ihnen gezeigt hatte. Er saß mit dem Rücken gegen eine Wand und starrte apathisch ins Leere. Das dunkle bärtige Gesicht mußte einst gut ausgesehen haben. Der runzlige Armstummel lag schmachvoll neben ihm auf dem Pflaster in der heißen, hellen Sonne. In den Buden hinter ihnen mußte etwas vorgefallen sein, man hörte laute keifende Stimmen, doch Arren konnte seine Augen nicht von dem Mann lassen. Das Bild war abstoßend und doch faszinierte es ihn, und er konnte seinen Blick nicht abwenden. »War er wirklich ein Zauberer?« fragte er ganz leise.
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»Es gab einen hier, der sich Hase nannte, einen Wettermacher, der mit dem Piraten Egre gesegelt war, vielleicht war er das. Die beiden waren bekannt für ihre Piraterie... Paß auf, Arren, geh zur Seite!« Ein Mann kam in vollem Lauf zwischen den Buden herausgerannt, fast wäre er mit ihnen zusammengestoßen. Ein anderer kam hinterhergelaufen, langsamer, denn er balancierte ein großes Tablett, überhäuft mit Kordeln, Bändern und Spitzen. Eine Bude fiel mit lautem Krach zusammen. Markisen wurden hurtig zusammengerollt und abgenommen. Menschen schoben und drängten sich über den Marktplatz. Laute Stimmen und Geschrei erfüllte die Luft. Alles wurde übertönt von der Trompetenstimme der Frau mit dem Spiegelkopfputz. Arren erhaschte durch das Menschengewühl einen Blick auf sie, wie sie sich mit einem Stock oder einer Stange gegen eine Gruppe von Männern wehrte und sie mit wuchtigen Schlägen, wie ein geübter Kämpfer, in Schach hielt. Ob ein Streit entstanden war, der sich ausgebreitet hatte, oder ob eine Diebesbande einen Angriff gewagt hatte, oder ob sich zwei rivalisierende Trödlergruppen angefallen hatten, war nicht festzustellen. Leute rannten an ihnen vorbei mit ihren Armen voll Waren, die gestohlen oder ihr Eigentum sein konnten. Es wurde mit Messern und Fäusten gekämpft, mit allem, was nicht niet- und nagelfest war, schlugen sie aufeinander ein. »Hier«, Arren deutete auf eine Seitenstraße, die aus dem Marktplatz herausführte. Er ging voran, denn sie hatten keine Zeit zu verlieren, wenn sie heil hier herauskommen wollten, doch sein Gefährte hielt ihn am Arm fest. Arren schaute zurück und sah, wie der Mann Hase sich bemühte, auf die Beine zu kommen. Als er endlich schwankend stand, ging er, ohne sich umzublicken, um den Marktplatz herum und ließ seinen verstümmelten Arm an den Mauerwänden entlanggleiten, entweder um sich zu stützen oder um seinen Weg zu finden. »Behalte ihn im Auge«, sagte Sperber, und sie folgten ihm. Niemand belästigte sie oder den Mann, dem sie folgten und bald lag der Marktplatz hinter ihnen, und sie gingen eine enge gewundene Straße den Berg hinunter. Die Häuser waren vorgebaut, und die obersten Stockwerke berührten sich fast. Nur ein schmaler Streif des Himmels war zu sehen. Die Straße
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lag im Dunkeln. Das Pflaster unter ihren Füßen war naß und glitschig vom Abfall. Hase schritt rüstig aus, doch er ging wie ein Blinder, sein Armstumpf verließ keinen Augenblick lang die Mauerwände. Sie mußten ihm ziemlich dichtauf folgen, um ihn nicht in einer Nebenstraße zu verlieren. Die Freude an der Jagd überkam Arren plötzlich; seine Sinne waren geschärft wie auf einer Hirschjagd in den Wäldern von Enlad; er nahm die Gesichter wahr, die ihm begegneten, und sie prägten sich ihm ein; er atmete den süßlichen Geruch um sich ein und wußte, daß er sich aus Abfall, Duftkerzen, Aas und Blumen zusammensetzte. Als sie sich ihren Weg über eine breite Straße voll Menschen bahnten, hörte er eine Trommel und sah, ganz kurz, eine Reihe nackter Männer und Frauen, die an Händen und Taille aneinandergekettet waren, und deren Gesichter von verfilzten Haaren bedeckt waren. Er erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf die Gruppe, denn sie verschwand aus seinem Blickfeld, als er, von Hase unbemerkt, diesem geschwind eine Treppe hinunterfolgte, die auf einen schmalen Platz mündete. Der Platz war verlassen bis auf einige Frauen, die am Brunnen miteinander schwatzten. Sperber holte Hase hier ein und legte ihm die Hand auf die Schulter. Hase zuckte zusammen und krümmte sich, als hätte er eine Verbrennung erlitten; er verzog sich in den Schutz einer massiven steinernen Toreinfahrt. Hier blieb er zitternd stehen und schaute sie mit blicklosen, gehetzten Augen an. »Nennt man dich Hase?« fragte Sperber in seiner eigenen herben Stimme, doch der Tonfall war behutsam. Der Mann erwiderte nichts, er schien sie entweder nicht wahrzunehmen oder nicht zu verstehen. »Ich will etwas von dir«, sagte Sperber. Wieder erhielten sie keine Antwort. »Ich zahle dafür.« Langsam begann sich etwas in ihm zu regen. »Elfenbein oder Gold?« »Gold.« »Wieviel?« »Der Zauberer weiß, wieviel sein Zauberspruch wert ist.« Das Gesicht von Hase verzog sich, veränderte sich, belebte sich ganz kurz, dann kehrte der blicklose, stumpfe Ausdruck wieder zurück. »Das ist alles vorbei, alles vorbei.« Ein Hustenanfall überfiel ihn, schwarzer
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Schleim rann ihm aus dem Mundwinkel. Als er sich aufrichtete, stand er teilnahmslos da, er schien vergessen zu haben, worüber sie sprachen. Arren war wieder fasziniert und blickte ihn aufmerksam an. Die Nische, in der er stand, war von zwei riesenhaften Figuren flankiert, Statuen, deren Nacken sich unter dem Gewicht eines Giebels beugten, und deren muskulöse Körper nur halb aus der Wand herausragten; es sah aus, als hätten sie sich aus dem Stein herausringen wollen, doch war ihnen dies nur halbwegs gelungen. Das Tor, das sie bewachten, hing schief in verrosteten Angeln. Das Haus, das früher ein Palast gewesen sein mußte, war verfallen. Die düsteren, gerundeten Gesichter der Riesen waren an manchen Stellen abgebröckelt und von Moos bewachsen. Zwischen diesen wuchtigen Figuren stand Hase, schlaff und zerbrechlich, mit Augen, so dunkel wie die Fenster des leeren Hauses hinter ihm. Er hob seinen Armstumpf in die Höhe und wimmerte: »Eine kleine Gabe für einen Krüppel, Herr ...« Der Magier runzelte die Stirn, vielleicht aus Schmerz, vielleicht aus Scham, und Arren glaubte, einen flüchtigen Augenblick lang sein wahres Gesicht wahrzunehmen. Er legte wieder seine Hand auf die Schulter von Hase und sprach leise in der Zaubersprache auf ihn ein, die Arren nicht verstand. Doch Hase verstand. Er ergriff Sperber mit seiner einen Hand, und ihn festhaltend stammelte er: »Du kannst noch sprechen ... Komm mit mir, komm...!« Der Magier blickte auf Arren und nickte. Sie gingen die steilen Gassen hinunter und kamen in eines der schmalen Täler zwischen Horts drei Hügeln. Je weiter sie hinunter schritten, desto enger, dunkler und ruhiger wurde es. Der Himmel war kaum mehr zwischen den vorstehenden Dachgeschossen zu sehen, und die Hauswände waren feucht. Ganz unten in der Schlucht floß ein stinkendes Rinnsal. Zwischen geschwungenen Brücken drängten sich Häuser am Ufer entlang. Hase betrat den dunklen Eingang eines dieser Häuser und verschwand wie eine erloschene Kerze. Sie folgten ihm. Dunkle knarrende Stufen führten aufwärts, ein unbeleuchteter Gang folgte. Als sie angelangt waren, stieß Hase eine Tür auf, und sie konn-
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ten sehen, wo sie waren: ein leerer Raum lag vor ihnen, mit einer Strohmatratze in einer Ecke und einem unverglasten, mit einem Laden verschlossenen Fenster, durch das ein staubiger, schmaler Lichtstreif fiel. Hase blickte auf Sperber und griff wieder nach seinem Arm. Seine Lippen bewegten sich. Mühsam, mit großer Anstrengung, stammelte er: »Drachen... Drachen...« Sperber blickte ihn unverwandt an, ohne zu reden. »Ich kann nicht mehr sprechen«, sagte Hase. Er ließ Sperbers Arm los und kauerte sich auf dem nackten Boden nieder. Der Magier kniete sich neben ihn und sprach leise in der Ursprache auf ihn ein. Arren stand an der geschlossenen Tür mit seiner Hand am Messergriff. Das graue Licht und das schmutzige Zimmer, die beiden knienden Gestalten, der seltsame, verhaltene Ton in der Stimme des Magiers, der in der Drachensprache redete, all dies schloß sich wie in einem Traum, der mit der Umwelt nicht in Berührung stand, der außerhalb der Zeit selbst lag. Hase erhob sich langsam. Er klopfte den Staub von seinen Knien und verbarg seine verstümmelte Hand hinter dem Rücken. Er schaute sich um, blickte auf Arren. Jetzt nahm er wahr, was er sah. Schließlich wandte er sich um und setzte sich auf seine Matratze. Arren blieb stehen, wachsam. Sperber jedoch, mit der Selbstverständlichkeit eines Menschen, der in seiner Jugend keine Möbel gekannt hatte, setzte sich mit überkreuzten Beinen auf den nackten Boden. »Sag mir, wie du deine Kunst und die Sprache deiner Kunst verloren hast!« Hase antwortete nicht sofort. Er schlug mit seinem verstümmelten Arm in ruheloser, fahriger Weise gegen seine Schenkel und sagte endlich mit Anstrengung und langen Pausen: »Sie haben meine Hand abgehackt. Ich kann keine Formeln mehr wirken. Sie haben mir die Hand abgehackt. Das Blut lief heraus, alles Blut lief heraus ...« »Aber das geschah, nachdem du deine Macht verloren hattest, Hase, sonst hätten sie es ja nicht getan.« »Macht...?« »Macht über Wind und Wellen und Menschen. Du hast sie bei ihrem Namen gerufen, und sie haben dir gehorcht.«
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»Ja, ich erinnere mich, ich habe gelebt«, sagte der Mann mühsam und mit leiser Stimme. »Und ich wußte die Worte und die Namen...« »Bist du jetzt tot?« »Nein, lebendig, lebendig. Nur — ich war einmal ein Drache ... Ich bin nicht tot. Manchmal schlafe ich. Schlaf ist dem Tod nah verwandt, das weiß jeder. Die Toten gehen in den Träumen um, das weiß jeder. Sie kommen zu dir und sagen dir Dinge. Sie kommen aus dem Tod in deine Träume. Es gibt einen Weg. Und wenn du weit genug gegangen bist, dann gibt es auch einen Weg zurück. Ganz zurück. Du kannst ihn finden, wenn du weißt, wo er ist. Und wenn du bereit bist, den Preis dafür zu zahlen.« »Welchen Preis?« Sperbers Stimme schwebte in der trüben Luft wie der Schatten eines fallenden Blattes. »Leben — was denn sonst? Womit kannst du Leben kaufen? Mit Leben.« Hase wiegte seinen Oberkörper hin und her auf der Matratze. Ein lauerndes, unheimliches Glitzern trat in seine Augen. »Siehst du«, sagte er, »sie können mir die Hand abhacken; auch meinen Kopf können sie abhauen. Das macht nichts. Ich finde den Weg zurück. Ich weiß, wo er ist. Nur ein Mensch mit Macht kann dorthin.« »Zauberer, meinst du?« »Ja«, Hase zögerte, versuchte wiederholt, das Wort herauszubringen, und gab es dann auf. »Menschen mit Macht«, wiederholte er. »Und sie müssen — sie müssen es aufgeben. Zahlen.« Dann schwieg er verdrossen. Vielleicht hatte das Wort »zahlen« Gedankengänge in ihm wachgerufen, und er merkte, daß er Auskunft verschenkte, anstatt sie zu verkaufen. Kein weiteres Wort war mehr aus ihm herauszubekommen, selbst sein Stammeln und Stottern über den »Weg zurück«, für den sich Sperber so zu interessieren schien. Der Magier erhob sich: »Na ja, halbe Antworten sind besser als keine«, sagte er, »und das gleiche gilt für Bezahlung«, und geschickt wie ein Taschenspieler warf er eine Goldmünze in die Höhe, die direkt vor Hase auf der Matratze landete. Hase hob sie auf. Er blickte sie an und schaute dann mit einer fahrigen Kopfbewegung auf Sperber und Arren. »Warte«, stotterte er. Doch die Situation hatte sich geändert, und er hatte Mühe, jetzt etwas zu sa-
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gen. Er quälte sich und endlich kam es stoßweise: »Heute abend«, und nach einer weiteren qualvollen Pause: »Warte! Heute abend. Ich habe Hazia.« »Ich brauche kein Hazia.« »Ich zeig dir... ich zeig dir den Weg. Heute abend. Ich nehme dich mit. Ich zeig es dir. Du kannst dorthin gehen, denn du ... du bist...« Er suchte vergeblich nach dem Wort, bis Sperber sagte: »Ich bin ein Zauberer.« »Ja! Daher können wir... können wir dorthin gehen. Zu dem Weg... wenn ich träume ... im Traum ... Verstehst du? Ich nehme dich mit. Du gehst mit mir zu dem ... zu dem Weg.« Sperber stand solide und fest inmitten des düsteren Zimmers und überlegte. »Vielleicht«, sagte er endlich. »Wenn wir kommen, dann werden wir hier sein, wenn es dunkel wird.« Dann wandte er sich zu Arren, der sofort die Tür öffnete, froh, endlich hier herauszukommen. Die feuchte, halbüberdachte, schattige Straße war ein heller Garten im Vergleich zu Hasens Zimmer. Sie gingen auf dem kürzesten Weg in die Oberstadt, eine steile Treppe zwischen efeubewachsenen Mauern hinaufkletternd. Arren atmete tief ein und aus, wie ein junger Seelöwe, der nach frischer Luft schnappt. »Huchü — Gehen Sie wieder dorthin zurück? « »Hmmm, es ist möglich. Außer ich finde eine weniger riskante Quelle, wo ich die gleiche Information herbekommen kann. Er hat bestimmt einen Anschlag auf uns geplant.« »Aber sind Sie nicht gegen Diebe und solches Gesindel gefeit?« »Gefeit?« sagte Sperber. »Wie meinst du das? Glaubst du, ich wickle mich in Zauberformeln ein wie ein altes Weib, das Angst vor Rheuma hat? Dazu habe ich keine Zeit. Ich verberge mein Gesicht, um unsere Suche geheimzuhalten, weiter nichts. Wir können uns gegenseitig beschützen. Denn das eine steht fest: diese Fahrt ist gefährlich.« »Natürlich«, sagte Arren steif und ärgerlich; sein Stolz war verletzt. »Das habe ich auch erwartet.« »Dann ist es gut«, erwiderte der Magier unbeirrt, und doch lag Freundlichkeit in seiner Stimme, die Arrens Ärger verfliegen ließ. Sein Är-
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ger hatte ihn sowieso erschüttert, denn nie hätte er es für möglich gehalten, daß er in diesem Ton zum Erzmagier sprechen würde. Doch dann, es war und es war auch wieder nicht der Erzmagier, der neben ihm einherging, dieser Mann Falk mit der Knollennase und dem eckigen, unrasierten Kinn, dessen Stimme einmal so und dann wieder anders klang: er war ein Fremder, man konnte sich nicht auf ihn verlassen. »Haben Sie das verstanden, was er geredet hat?« fragte Arren, dem der Gedanke, wieder in das düstere Zimmer über dem stinkenden Fluß zurückkehren zu müssen, schwer auf dem Herzen lag. »Dieses Gequassel vom Leben und vom Totsein und von dem Zurückkehren mit abgehauenem Kopf?« »Ich bin nicht sicher, ob ich es verstanden habe. Ich wollte mit einem Zauberer reden, der seine Macht verloren hat. Er sagte, daß er sie nicht verloren — sondern hergegeben, eingetauscht hat. Wofür? Leben für Leben, hat er gesagt, Macht für Macht. Nein, ich habe ihn nicht verstanden, aber es lohnt sich, ihm zuzuhören.« Sperbers ruhige, vernünftige Worte beschämten Arren noch mehr. Er kam sich verzogen und ungeduldig vor, wie ein kleines Kind. Der Mann Hase hatte ihn fasziniert, doch jetzt, nachdem die Faszination verflogen war, fühlte er nur noch Abscheu in sich aufsteigen, wie wenn er etwas Ekelhaftes gegessen hätte. Er nahm sich vor, nicht mehr zu sprechen, bis er seine Verstimmung überwunden hatte. Im nächsten Augenblick rutschte er auf den abgetretenen, glitschigen Stufen aus, fing sich und zerkratzte sich die Hände an den Steinen. »O verflucht, diese dreckige Stadt!« brach es aus ihm heraus. Der Magier erwiderte trocken: »Ich glaube, es ist nicht nötig, sie zu verfluchen.« Und er hatte recht. Etwas stimmte nicht mit der Stadt Hort. Es lag fast greifbar in der Luft, und man war versucht, von einem Fluch zu sprechen, und doch hatte man nicht das Gefühl, als ob eine gegenständliche Ursache vorläge, eher war es ein Fehlen, eine Schwächung aller Kräfte, eine Krankheit, die den Besucher nicht verschonte. Selbst die Nachmittagssonne schien krank zu sein, sie brannte viel zu heiß am Märzenhimmel. Auf den Plätzen und Straßen drängten sich die Menschen, die Geschäfte schienen zu blühen, doch herrschte weder Ord-
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nung noch Wohlstand, nur Hektik und Mißgunst. Die Waren waren schlecht, die Preise zu hoch, weder Käufer noch Verkäufer waren sicher vor Diebstahl und Raubüberfall, die Banden trieben sich ungehindert auf den Straßen herum. Man sah nur wenige Frauen in der Öffentlichkeit, und wenn sie erschienen, so blieben sie in Gruppen beisammen. Es war eine Stadt ohne Gesetz und Ordnung, eine Stadt ohne Verwaltung, ohne Oberhaupt. Und als sie sich mit einigen Einwohnern unterhalten hatten, erfuhren sie, daß es tatsächlich keinen Stadtrat, keinen Bürgermeister und keine Fürsten mehr in Hort gab. Manche waren gestorben, manchen war gekündigt und einige waren ermordet worden. Sie erfuhren, daß Bandenführer jetzt die verschiedenen Stadtteile tyrannisierten, daß im Hafenviertel die früheren Hafenwächter herrschten und unverschämte Abgaben forderten, und daß alle nur darauf aus waren, ihr eigenes Säckel zu füllen. Die Stadt hatte keinen Stadtkern mehr. Die Leute, die so geschäftig herumeilten, schienen kein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Die Handwerker setzten ihren Stolz nicht mehr darein, gute, solide Arbeit zu liefern, selbst die Diebe stahlen nur, weil sie nichts anderes tun konnten. Dem Umtrieb, der Geschäftigkeit, der Buntheit dieser großen Hafenstadt fehlte die feste Basis, darunter war es hohl. Und an den Ecken saßen die Haziasüchtigen, unbeweglich, leblos. Das ganze Leben in Hort hatte etwas Unwirkliches, Krankhaftes an sich, die Gesichter, die Geräusche, die Düfte erschienen und verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren. Sperber und Arren wanderten an diesem heißen, langen Nachmittag durch die Straßen und unterhielten sich mit diesem und jenem und es kam vor, daß die buntgestreiften Markisen, das schmutzige Pflaster, die bemalten Wände, alles Farbige plötzlich verschwanden, und nichts blieb zurück, nur eine Geisterstadt, die leer und verschlafen im grellen Sonnenlicht lag. Nur hoch oben über der Stadt, wo sie sich eine Weile am Spätnachmittag ausruhten, ließ dieses krankhafte, spukhafte Wesen nach. »Das ist keine Stadt, die Glück verheißt!« hatte Sperber vor einigen Stunden gesagt und jetzt, nachdem sie stundenlang ziellos herumgelaufen waren
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und viele ergebnislose Unterhaltungen mit Fremden geführt hatten, jetzt blickte er müde und düster vor sich hin. Seine Verwandlung war nicht mehr so vollkommen wie am Morgen. Etwas Dunkles, Hartes lag hinter den gutmütigen Zügen des seefahrenden Handelsherrn Falk. Arren hatte die Verstimmung, die ihn am Morgen überkommen hatte, noch nicht überwunden. Sie saßen auf dem spärlichen Gras hoch am Hügel, beschattet von den dunklen Blättern einer Gruppe von Perdickbäumen, die mit roten Knospen übersät waren, von denen einige schon zur Blüte aufgebrochen waren. Von hier oben sahen sie nur die Ziegeldächer der Stadt, die sich vielfältig und zahlreich gegen die See hin staffelten. Die Arme der Bucht, schieferblau im hellen Dunst des Frühlingshimmels, waren weit geöffnet und streckten sich bis an den Rand der Luft. Keine festen Grenzen, keine deutlichen Linien waren sichtbar. Sie saßen und blickten hinaus auf die unendliche blaue Weite. Arren atmete tief aus, eine Last fiel ihm vom Herzen. Er blickte um sich und fühlte sich wieder eins mit der Welt. Als sie an einem nahen Quellwasser, das in einem der fürstlichen Gärten hinter ihnen entsprungen war und klar und munter über braune Steine davoneilte, tranken, nahm Arren einen tiefen Schluck und tunkte dann den ganzen Kopf in das kalte Wasser. Dann stand er auf und deklamierte laut aus den Taten von Morred: Preis sei den Brunnen von Scheließ, den silbernen Harfen des Wassers, Doch ich segne von Herzen den Fluß hier, der den Durst meiner Kehle gestillt hat. Sperber lachte ihm zu und auch er mußte lachen und schüttelte den Kopf wie ein Hund, daß die Tropfen ihn umsprühten und hinaus ins letzte, goldene Sonnenlicht flogen. Sie mußten die Baumgruppe verlassen und wieder hinunter in die Stadt gehen, und als sie an einer Bude gebratene, von Fett triefende Fische gegessen hatten, senkte sich die Dunkelheit schwer und dicht auf die
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Stadt. Es wurde schnell dunkel in den engen Gassen. »Komm, wir gehen, Junge!« sagte Sperber, und Arren fragte: »Zum Boot?«, doch er wußte, daß sie nicht zum Boot, sondern zu dem Haus am Fluß, in das leere, schmutzige, schreckliche Zimmer gehen würden. Hase wartete im Hauseingang auf sie. Er zündete eine Ölfunzel an und leuchtete ihnen voran auf der schwarzen Treppe. Die kleine Flamme zitterte unaufhörlich in seiner Hand und warf riesige, huschende Schatten gegen die Wand. Er hatte einen zweiten Strohsack für seine Besucher besorgt, doch Arren zog den nackten Boden nahe der Tür vor. Die Tür öffnete sich nach außen, und um sie zu bewachen, hätte er eigentlich draußen sitzen müssen, doch der finstere, schwarze Gang war mehr, als er ertragen konnte, und außerdem wollte er Hase im Auge behalten. Sperbers Aufmerksamkeit, und vielleicht auch seine Macht, waren auf Hase und was er ihm zu sagen und zu zeigen hatte, gerichtet. Es blieb Arren überlassen, wach zu sein und aufzupassen. Hase sah besser aus als am Morgen. Er saß aufrecht und hatte seinen Mund und seine Zähne gereinigt. Er sprach zunächst auch ganz vernünftig, war aber ziemlich aufgeregt. Im Licht der Lampe waren seine Augen so dunkel wie die eines Tieres: das Weiße war nicht zu sehen. Er sprach eindringlich auf Sperber ein und versuchte diesen zum Genuß von Hazia zu überreden. »Ich will dich mitnehmen, mit mir nehmen. Wir müssen miteinander gehen. Wenn du noch länger wartest, bin ich schon fort, ob du bereit bist oder nicht. Du mußt Hazia nehmen, um mir folgen zu können.« »Ich glaube, daß ich dir folgen kann.« »Nicht dorthin, wohin ich gehe. Das sind keine ... Beschwörungen.« Er schien nicht in der Lage zu sein, das Wort »Zauberer« oder »Zauberei« auszusprechen. »Ich weiß, daß du zu dem... dem Ort gelangen kannst — du weißt schon, was ich meine, die Steinmauer. Aber es ist nicht dort. Es ist woanders.« »Wenn du gehst, werde ich dir folgen.« Hase schüttelte den Kopf. Sein hübsches, verwüstetes Gesicht war gerötet. Sein Blick glitt öfters zu Arren, und er schloß ihn in seine Rede ein, ob-
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wohl er nur zu Sperber sprach. »Hör zu: Es gibt zwei Arten von Menschen, stimmtʹs? Wir und die anderen. Die ... die Drachen und die anderen. Menschen ohne Macht existieren nur, sie leben nicht so wie wir. Die zählen nicht. Die wissen nicht, was sie träumen. Die haben Angst vor dem Dunkel. Aber die anderen, die Gebieter der Menschen, die haben keine Angst, ins Dunkel zu gehen. Wir haben Macht.« »So lange wir die Namen der Dinge wissen.« »Namen spielen dort überhaupt keine Rolle — das ist es ja gerade! Es kommt nicht darauf an, was du tust, oder was du weißt. Beschwörungen haben keine Wirkung. Das mußt du alles vergessen, das läßt du alles zurück Deswegen hilft es, Hazia zu essen; du vergißt die Namen, die Form der Dinge spielt keine Rolle mehr, du berührst die Wirklichkeit direkt. Ich gehe jetzt gleich, und wenn du wissen willst, wohin, dann mußt du tun, was ich dir sage. Ich gehorche ihm. Du m ußt ein Gebieter über Menschen sein, wenn du dem Leben gebieten willst. Du mußt das Geheimnis finden. Ich könnte dir seinen Namen sagen, doch was bedeutet ein Name? Ein Name ist nicht wirklich, auf ewig und immer wirklich. Drachen können nicht dorthin gehen. Drachen sterben. Sie sterben alle. Sie sterben aus. Heute abend habe ich so viel genommen, daß du nicht mit mir Schritt halten kannst. Ich bin heil. Wo ich verloren gehe, dort kannst du mich führen. Erinnerst du dich an das Geheimnis? Erinnerst du dich? Kein Tod. Kein Tod — nein, nein! Das Blut trocknet aus wie ein versiegender Fluß — es ist verschwunden. Keine Furcht. Kein Tod. Namen sind verschwunden, Worte, Form, alles ist fort. Zeig mir, wo ich verloren gehe, zeig mir, Gebieter ...« So fuhr er fort, halb erstickt, in Trance, in Worten, die wie eine Beschwörung klangen und doch sinnlos waren, die sich nicht zu einem Ganzen schlössen. Arren hörte aufmerksam zu und versuchte, alles zu verstehen. Wenn er das nur könnte! Sperber sollte tun, was ihm gesagt wurde, er sollte die Droge nehmen, nur dieses eine Mal, um herauszufinden, was Hase zu sagen hatte, dieses Geheimnis, von dem er sprach und das er nicht beschreiben konnte. Wozu waren sie denn sonst gekommen? Doch vielleicht — Arren blickte von Hasens verzücktem Gesicht zum Profil des ändern — verstand der Magier bereits ... Wie aus
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Stein gemeißelt war es, dieses Profil. Wo war die Knollennase, der gutmütige Ausdruck? Falk der Handelsherr war verschwunden, hier saß der Magier, der Erzmagier von Rok, der größte Magier der Erdsee. Die Stimme von Hase war in einen Singsang übergegangen, er wiegte seinen Oberkörper, auf seinen überkreuzten Beinen sitzend, unaufhörlich hin und her. Sein Gesicht war eingefallen, sein Mund schlaff. Ihm gegenüber, in dem schwachen, ruhigen Licht der Öllampe, die auf dem Boden zwischen ihnen stand, saß schweigend der Erzmagier. Er hatte die Hand von Hase ergriffen und hielt sie fest. Arren hatte nicht gesehen, wie er danach gegriffen hatte. Die Dinge, die sich abspielten, hingen nicht zusammen, verschiedene Male verspürte Arren eine seltsame Leere, die nicht mit Leben erfüllt war — er mußte eingenickt sein! Stunden mußten schon verstrichen sein, Mitternacht war bestimmt längst vorbei. Wenn er einschliefe, würde er Hase in seinen Träumen auch folgen können und zu dem geheimnisvollen Ort gelangen? Vielleicht. Jetzt schien es gar nicht so unmöglich zu sein. Aber er mußte die Tür beschützen. Sperber und er hatten es kaum erwähnt, aber beide waren sich bewußt, daß Hase, als er sie bat, am Abend zurückzukehren, etwas im Schilde führte. Er war Pirat gewesen, er kannte die Diebesbanden und Mordbrenner. Sie hatten keine Worte darüber verloren, doch Arren wußte, daß er aufzupassen hatte, denn während der Magier seinen Geist auf die seltsame Reise schickte, war er schutzlos. Und er, Arren, hatte in seiner Dummheit sein Schwert auf dem Boot gelassen, was würde ihm sein Messer viel helfen, wenn nun plötzlich die Tür hinter ihm auffliegen würde? Aber das würde nicht passieren, er hatte gute Ohren. Hase redete nicht mehr. Beide Männer waren totenstill, das ganze Haus war still. Niemand konnte die knarrenden Stiegen lautlos heraufkommen. Wenn er etwas vernehmen würde, dann würde er Krach schlagen: laut schreien würde er, und die Träume würden unterbrochen werden, und Sperber würde sich umwenden und sich selbst und Arren mit dem ganzen erschreckenden, blitzenden Zorn eines Zauberers verteidigen... Als Arren an der Tür Posten bezog, hatte Sperber ihn ganz kurz angeblickt, und Zustimmung hatte in diesem Blick gelegen, Zustim-
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mung und Vertrauen. Er war der Wachtposten. So lange er aufpaßte, bestand keine Gefahr. Aber es war schwer, sehr schwer, diese beiden Gesichter zu betrachten und die Flamme, die wie eine kleine Perle zwischen ihnen brannte, diese beiden schweigenden Männer, die unbeweglich mit offenen Augen dasaßen die weder Licht noch den Schmutz des Zimmers, noch die Welt um sich herum wahrnahmen, die in einer anderen Welt, der Welt des Traumes oder des Todes sich befanden ... Es war schwer, sie zu betrachten und nicht zu versuchen, ihnen zu folgen... Hier, in der weiten trockenen Finsternis, stand einer und winkte ihn zu sich. Komm! sagte er, der große Gebieter des Schattenreiches. In seiner Hand hielt er eine Flamme — nicht viel größer als eine Perle — er bot sie Arren an, versprach ihm Leben. Und Arren machte benommen einen zögernden Schritt auf ihn zu und folgte ihm.
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DAS MAGISCHE LICHT
TROCKEN, GANZ TROCKEN war sein Mund. Er konnte Staub schmecken. Seine Lippen waren mit Staub bedeckt. Er beobachtete das Schattenspiel, ohne den Kopf vom Boden zu heben. Die großen Schatten streckten und beugten sich, die kleineren, undeutlicheren eilten hurtig, wie neckend, über Decke und Wände. In der Ecke befand sich ein Schatten, und auf dem Boden lag ein Schatten. Beide waren regungslos. Sein Hinterkopf begann zu schmerzen. Ganz plötzlich klärte sich das Bild vor seinen Augen; es durchlief ihn eiskalt. Hase saß zusammengekrümmt in einer Ecke, sein Kopf lag auf seinen Knien. Sperber lag auf dem Rücken, ein Mann kniete auf ihm, ein anderer warf Goldstücke in einen Beutel, und ein Dritter sah zu. Der dritte Mann hielt in der einen Hand eine Laterne und in der anderen einen Dolch, Arrens Dolch. Er konnte sich nicht Klarheit darüber verschaffen, ob sie redeten. Er hörte nur seine eigenen Gedanken, die ihm sofort und ohne Umschweife diktierten, was er zu tun habe. Er gehorchte im gleichen Augenblick. Langsam, ganz langsam, kroch er einen halben Meter nach vorne, dann streckte er flink seine Hand aus und ergriff den Beutel mit dem Gold. Er sprang auf und rannte, einen heiseren Ruf ausstoßend, hinaus auf den Gang und die Stufen hinunter. Sicheren Fußes, ohne eine Stufe auszulassen, flog er die stockfinstere Treppe hinunter. Er stürmte auf die Straße hinaus und warf sich blindlings und in vollem Lauf in die Dunkelheit. Die Häuser hoben sich wie große schwarze Klumpen vom sternklaren Himmel ab. Das Licht der Sterne spiegelte sich schwach im Fluß, der rechts neben ihm dahinströmte. Obgleich er nicht sah, wohin die Straßen
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führten, erkannte er doch die Straßenübergänge, und manchmal schlug er eine entgegengesetzte Richtung ein, um seine Verfolger irrezuleiten. Sie waren ihm hart auf den Fersen, er hörte sie ganz in der Nähe. Sie waren barfuß, und ihr keuchender Atem war lauter als das Geräusch ihrer Füße. Er hätte aufgelacht, wenn er Zeit dazu gehabt hätte; endlich wußte er, was es hieß, der Gejagte und nicht der Jäger, die Beute und nicht der Führer der Meute zu sein. Allein war er, frei war er! Er bog rechts ab, rannte geduckt über eine Brücke mit hoher Brüstung, schlüpfte in eine dunkle Gasse, um eine Ecke herum, zurück zur Straße am Fluß, ihr entlang, dann über eine andere Brücke. Seine Schuhe schlugen hart auf das Kopfsteinpflaster; es war das einzige Geräusch in der stillen Stadt. Er hielt an einem Brückenpfeiler an, um seine Schnürsenkel aufzumachen, doch sie waren fest verknotet, und seine Verfolger hatten ihn nicht verloren. Die Laterne glitzerte kurz im Wasser des Flusses, das leise, schwere Getrappel der Füße war nahe. Er konnte sie nicht in der Dunkelheit verlieren, er konnte ihnen nur davonlaufen; lauf weiter, lauf geradeaus, führ sie weg von dem staubigen Zimmer, weit weg... Sie hatten ihm seinen Mantel und sein Messer weggenommen. Er trug nur ein Hemd, es war dünn, und doch war ihm heiß. In seinem Kopf drehte sich alles, der Schmerz im Hinterkopf nahm zu. Er stach bei jedem Schritt mehr, doch er rannte, rannte immerfort... Der Beutel hinderte ihn am Laufen. Er schleuderte ihn von sich, und ein Goldstück flog heraus und klirrte auf die Steine. »Hier habt ihr euer Gold!« schrie er, seine Stimme war heiser, und er rang nach Atem. Er rannte weiter. Und plötzlich hörte die Straße auf. Keine Querstraße, keine Sterne waren mehr zu sehen; er war in eine Sackgasse geraten. Ohne seinen Lauf zu unterbrechen, wandte er sich um und lief seinen Verfolgern entgegen. Die Laterne schwang hin und her. Sie blendete ihn, doch er warf sich, mit einem trotzigen, herausfordernden Ruf auf den Lippen, gegen seine Feinde. Eine Laterne pendelte hin und her. Ein schwaches Licht in einer großen grauen Leere. Lange hielt er seine Augen darauf gerichtet. Es wurde immer schwächer, und schließlich schob sich ein Schatten davor, und
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das Licht verschwand. Er trauerte ihm nach, vielleicht trauerte er um sich selbst, denn er wußte, daß er jetzt aufwachen mußte. Die erloschene Laterne pendelte weiter an dem Mast, an dem sie festgemacht war. Das erste Licht des Tages lag auf dem Meer, das sie auf allen Seiten umgab. Eine Trommel schlug den Takt. Ruder knarrten, langsam, gleichmäßig; das Holz des Schiffes schrie und knirschte mit Hunderten kleiner Stimmen; ein Mann, im Bug stehend, rief den Männern hinter sich etwas zu. Die Männer, die mit Arren im hinteren Laderaum gefesselt beisammen saßen, schwiegen. Jeder von ihnen trug einen Eisengürtel und Handschellen, von beiden führten Eisenketten zum Nachbarn links und rechts; der Eisengürtel war außerdem noch durch eine Kette mit einem Eisenring an Deck verbunden, so daß die Männer sitzen oder kauern, aber nicht stehen oder liegen konnten. Sie waren sowieso so dicht zusammengepfercht, daß Liegen ausgeschlossen war. Arren befand sich an der vorderen Ecke an der Backbordseite. Wenn er den Kopf hochreckte, waren seine Augen auf einer Höhe mit dem Deck, das zwischen Laderaum und Reling, nicht mehr als einen halben Meter breit war. Von den Geschehnissen der vergangenen Nacht war ihm nur noch die Jagd durch die Straßen und die Sackgasse gegenwärtig. Er hatte sich gewehrt und war überwältigt, dann gefesselt und fortgetragen worden. Ein Mann mit einer merkwürdig flüsternden Stimme hatte gesprochen, dunkel erinnerte er sich an eine Art Schmiede, an ein loderndes Feuer in einer Esse ... Es war alles verschwommen. Doch er wußte, daß er sich auf einem Sklavenschiff befand, daß er gefangen war und verkauft werden würde. Es war ihm ziemlich gleichgültig. Er war viel zu durstig. Sein Körper war wund, und sein Kopf schmerzte. Die Strahlen der aufgehenden Sonne bohrten sich wie schmerzende Pfeile in seine Augen. Später am Morgen bekam jeder von ihnen das Viertel eines Brotlaibes und durfte einen langen Schluck aus einer Lederflasche nehmen, die von einem Mann mit harten, scharfen Zügen an ihre Lippen gehalten wurde. Um seinen Hals trug er ein breites, mit Goldnägeln verziertes
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Lederhalsband, wie ein Hundehalsband sah es aus, und als Arren ihn sprechen hörte, erkannte er die seltsam schwache, flüsternde Stimme. Der Trunk und die Nahrung verminderten sein körperliches Unbehagen für eine Weile; er konnte wieder klar denken. Zum ersten Mal schaute er die Gesichter seiner Leidensgenossen an, der drei, die neben, und der vier, die hinter ihm saßen. Einige hatten die Knie hochgezogen und ließen den Kopf darauf ruhen; einer war vornüber gefallen und hing leblos an seinen Ketten, vielleicht war er seekrank, vielleicht hatte man ihm Drogen gegeben. Neben Arren saß ein ungefähr zwanzigjähriger Bursche mit einem breiten, flachen Gesicht. »Wo bringen sie uns hin?« fragte Arren. Der Bursche blickte ihn an — ihre Gesichter waren nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt — und grinste, dann zuckte er die Achseln, und Arren nahm an, daß er es nicht wußte. Doch dann bewegte er seine gefesselten Hände und versuchte ihm etwas zu zeigen; er öffnete seinen noch grinsenden Mund weit — und wo eine Zunge hätte sein sollen, war nur noch ein schwarzer Stummel. »Wahrscheinlich nach Schoul«, sagte ein Mann hinter Arren, und ein anderer fügte hinzu: »Oder auf den Markt nach Amrun.« Doch der Mann mit dem Halsband, dem nichts auf dem Schiff zu entgehen schien, zischte: »Ruhe, kein Wort, oder ich werfe euch den Haifischen als Futter vor«, und alle schwiegen. Arren versuchte sich diese Orte, Schoul und Amrun, vorzustellen. Dort wurden Sklaven verkauft. Sie wurden den Käufern vorgeführt wie Ochsen oder Schafböcke auf dem Markt von Berila. Er würde dort in Ketten stehen. Irgend jemand würde ihn kaufen und nach Hause führen und ihm einen Befehl erteilen, und er würde den Gehorsam verweigern. Oder er würde gehorchen und versuchen zu entfliehen. So oder so, er würde getötet werden. Es war keine Empörung, die bei dem Gedanken an Sklaverei in seinem Herzen aufwallte, dazu fühlte er sich viel zu elend und war zu verwirrt. Er wußte ganz einfach, daß er es nicht tun konnte, daß er innerhalb einer oder zwei Wochen sterben oder getötet werden würde. Obgleich er dies voraussah und als Tatsache hinnahm, erschütterte ihn der Gedanke, und er versuchte, nicht weiter an die bevorstehenden Tage zu denken. Er starrte auf die faulenden,
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schwarzen Planken des Laderaums zwischen seinen Füßen. Die Sonne brannte auf seine nackten Schultern, und er fühlte, wie der Durst seinen Mund austrocknete und seine Kehle zuschnürte. Die Sonne ging unter. Die Nacht war klar und kalt. Die Sterne hoben sich scharf vom dunklen Himmel ab. Die Trommel schlug langsam, gleichmäßig wie ein Herzschlag. Das Rudern wurde nicht unterbrochen, denn es regte sich kein Wind. Die Kälte wurde unerträglich. Arren bekam ein wenig Wärme von den hochgezogenen Beinen des Mannes hinter ihm, und an seiner linken Seite von dem Stummen, der zusammengekauert saß und ununterbrochen einen einzigen Ton vor sich hinsummte. Die Ruderer lösten sich ab, die Trommel fing wieder von neuem an. Arren hatte auf die Dunkelheit gewartet, doch jetzt konnte er nicht schlafen. Seine Muskeln schmerzten ihn, und er konnte seine Stellung nicht ändern. Er saß und zitterte vor Kälte. Mit wunden Gliedern und ausgetrockneter Kehle starrte er hinauf zu den Sternen, die sich bei jedem Ruderschlag heftig bewegten, dann wieder an ihren gewohnten Platz zurückrutschten, still standen, sich dann wieder bewegten, zurückrutschten, still standen... Der Mann mit dem Halsband und ein anderer Mann standen zwischen dem hinteren Laderaum und dem Mast. Die kleine, pendelnde Laterne am Mast warf einen schwachen Schein und zeichnete die Umrisse ihrer Köpfe und Schultern ab. »Nebel, verfluchtes Schwein«, erklang die schwache, haßerfüllte Stimme des Mannes mit dem Halsband. »Was hat ein Nebel zu dieser Jahreszeit in den südlichen Gewässern zu suchen? Verflucht!« Die Trommel dröhnte weiter. Die Sterne bewegten sich, rutschten zurück, standen still. Der Mann ohne Zunge, der neben Arren saß, schauderte plötzlich zusammen, hob den Kopf und stieß einen durchdringenden Angstschrei aus, einen furchtbaren, formlosen, unmenschlichen Schrei. »Ruhe!« brüllte der andere Mann am Mast. Der Stumme schauderte wieder zusammen und setzte sein monotones Summen und die unaufhörlich kauende Bewegung seines Unterkiefers fort. Die Sterne glitten verstohlen vorwärts und verschwanden im Nichts.
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Der Mast schwankte und verschwand. Eine feuchtkalte graue Decke schien sich auf Arrens Schultern zu senken. Die Trommel stockte kurz und fuhr dann in langsamerem Rhythmus fort. »Wie Sauermilch so dick!« zischelte die heisere Stimme irgendwo über Arren. »Rudert! Es gibt keine Untiefen im Umkreis von zwanzig Meilen!« Ein horniger, vernarbter Fuß tauchte aus dem Nebel auf, hielt kurz vor Arrens Gesicht an und verschwand mit dem nächsten Schritt. Der Nebel löschte jede Empfindung des Vorwärtsbewegens aus, nur das Ziehen der Ruder war zu spüren. Der Schlag der Trommel klang dumpf und erstickt. Die feuchte Kälte drang bis auf die Knochen. Der Nebel kondensierte sich in den Haaren, und Arren versuchte, die Tropfen mit seiner Zunge aufzufangen, um seinen Durst zu stillen, doch seine Zähne klapperten zu stark. Das kalte Metall einer Kette schlug gegen seinen Schenkel und brannte wie Feuer auf der Haut. Die Trommel schlug, und schlug — und verstummte. Es war totenstill. »Schlag weiter! Was ist los?« zischte die heisere, pfeifende Stimme aus dem Bug des Schiffes. Alles blieb still. Das Schiff rollte ein wenig auf dem stillen Wasser. Hinter der kaum sichtbaren Reling lag nichts, nur Leere. Irgend etwas rieb an der Schiffswand. Das Geräusch klang laut in dieser unheimlichen Stille und Dunkelheit. »Wir sind aufgelaufen«, flüsterte einer der Gefangenen, doch die Stille erstickte seine Stimme. Der Nebel hellte sich auf, als ob ein Licht in ihm blühte. Arren konnte die Köpfe der Männer, die um ihn herum gefesselt saßen, klar erkennen, er sah die winzigen Wassertropfen in ihrem Haar glitzern. Wiederum rollte das Schiff, und Arren streckte sich so weit hoch, wie seine Ketten es erlaubten, er reckte den Hals, um in das Vorderteil des Schiffes sehen zu können. Der Nebel lag hell auf dem Deck, wie eine vom Mond durchleuchtete, dünne Wolke, und schimmerte kalt. Die Ruderer saßen regungslos, wie aus Stein gemeißelt. Die Besatzung stand in der Mitte des Schiffes, nur ihre Augen glitzerten schwach. An Steuerbord stand ein Mann, und das Licht ging von ihm aus. Sein Gesicht, seine Hände, sein Stab glänzten wie geschmolzenes Silber.
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Zu seinen Füßen kauerte ein unförmiger, dunkler Schatten. Arren versuchte zu sprechen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Der Erzmagier, umstrahlt von diesem majestätischen Licht, näherte sich ihm und kniete nieder auf dem Deck. Arren fühlte, wie er seine Hand auf ihn legte und hörte seine Stimme. Er spürte, wie sich die Ketten an seiner Taille und an seinen Gelenken lösten und von ihm abfielen; durch den ganzen Laderaum hörte man das Rasseln von Ketten. Doch keiner bewegte sich. Nur Arren versuchte aufzustehen, doch es gelang ihm nicht, seine Glieder waren verkrampft von dem langen, unbeweglichen Sitzen. Der Erzmagier hielt ihn am Arm fest, und mit seiner Hilfe gelang es ihm, aus dem Laderaum zu klettern; er erreichte das Deck und ließ sich erschöpft nieder. Der Erzmagier schritt durch das Schiff, und die neblige Pracht erhellte die Gesichter der regungslosen Ruderer. Er blieb bei dem Mann stehen, der sich an der Reling niedergeduckt hatte. »Ich strafe nicht«, sprach die klare, harte Stimme, kalt wie das magische Licht, das ihn umgab. »Aber im Namen der Gerechtigkeit, Egre, nehme ich es auf mich: möge deine Stimme stumm bleiben, bis zu der Stunde, wo ein Wort, das wert ist, gesprochen zu werden, über deine Lippen kommt!« Er kehrte zu Arren zurück und half ihm auf die Beine. »Komm, Junge!« sagte er, und mit seiner Hilfe humpelte Arren nach vorne und halb fallend, halb kletternd erreichte er die Weitblick, das Boot, das unten, an der Seite des Schiffes, auf den Wellen schaukelte; seine Segel sahen im Nebel wie die Flügel einer Motte aus. Langsam erlosch das magische Licht in der unwirklichen Stille und Ruhe der Nacht, das Boot wendete und glitt davon. Fast im gleichen Augenblick war die Galeere, die schwachglühende Laterne am Mast, die regungslosen Ruderer und die hohe, schwarze Schiffswand verschwunden. Arren glaubte, Stimmen zu vernehmen, die in Schreie übergingen, doch das Geräusch war fern und verlor sich bald. Nach einer Weile hob sich der Nebel, zerriß in Fetzen, und die Schwaden trieben vorbei und verschwanden in der Dunkelheit. Bald wölbte sich der weite, sternenbe-
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säte Himmel über ihnen, und so geräuschlos wie ein Nachtfalter flog die Weitblick durch die klare Nacht über die See davon. Sperber hatte Arren mit Decken zugedeckt und ihm Wasser zu trinken gegeben, er saß bei ihm, und seine Hand lag auf der Schulter des Jungen, als Arren plötzlich zu schluchzen begann. Sperber sagte nichts, doch die Berührung seiner Hand war lindernd und beruhigend. Langsam kehrten Friede, Wärme und Ruhe wieder zurück in Arrens Herz. Er schaute auf zu seinem Gefährten. Kein unwirklicher Glanz umgab mehr dessen dunkles Gesicht. Er konnte es kaum gegen den Sternenhimmel sehen. Das Boot flog dahin, von Zauberwinden geleitet. Die Wellen flüsterten, überrascht, gegen die Seiten des Bootes. »Wer ist der Mann mit dem Halsband?« »Bleib ruhig liegen. Ein Seeräuber, Egre. Er trägt das Halsband, um eine Narbe zu verbergen, wo seine Kehle einmal durchgeschnitten wurde. Es scheint, als ob er sein Gewerbe der Piraterie mit dem des Sklavenhandels vertauscht hätte. Doch dieses Mal vergriff er sich. Er nahm das Junge des Bären.« In der trockenen, ruhigen Stimme lag ein Ton der Befriedigung. »Wie haben Sie mich gefunden?« »Zauberei, Bestechung ... Ich habe Zeit vergeudet. Ich wollte nicht, daß überall herumerzählt wurde, der Erzmagier und Hüter von Rok treibt sich in den Slums von Hort herum. Es wäre mir immer noch lieb, wenn ich meine Verwandlung hätte aufrechterhalten können. Aber ich mußte diesen und jenen aufspüren, und als ich endlich erfuhr, daß das Sklavenschiff schon vor Sonnenaufgang ausgelaufen war, riß mir die Geduld. Ich machte die Weitblick los und rief einen Wind in die Segel, gerade als sich auf der ganzen Bucht kein Windchen rührte und alles still in der Hitze brütete, und dann sorgte ich noch dafür, daß die Ruder auf jedem Schiff in den Dollen steckenblieben — wenigstens eine Zeitlang. Wie sie sich das erklären werden, wenn Zauberei nichts als Luft und Lügen sein soll, weiß ich nicht, aber das ist ihr Problem. Doch in meiner Hast und in meinem Zorn überholte ich Egres Schiff, das sich östlich von dem üblichen Südkurs hielt, um den Untiefen auszuweichen. Alles
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ging schief an diesem Tag! Hort ist keine Stadt, die Glück verheißt ... Na ja, und dann habe ich einen Findezauber gewoben, und in der Dunkelheit fand ich es endlich. Willst du jetzt nicht schlafen?« »Ich bin wieder in Ordnung. Es geht mir wieder viel besser.« Sein Frösteln war in ein leichtes Fieber übergegangen, und er fühlte sich wirklich besser, seine Glieder waren zwar noch ermattet, doch sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, und er wollte alles wissen, was sich zugetragen hatte. »Wann sind Sie aufgewacht? Was ist mit Hase passiert?« »Als ich aufwachte, war es bereits Tag, und Gott sei Dank habe ich einen harten Kopf, hinter dem Ohr habe ich eine Beule, so groß wie eine Gurke, und die Haut ist aufgeplatzt. Hase schlief noch in seinem Drogenrausch, als ich ihn verließ.« »Ich war kein guter Posten...« »Aber nicht, weil du eingeschlafen bist.« »Nein«, sagte Arren zögernd. »Es war ... ich war ...« »Du liefst mir voraus, ich habe dich gesehen«, sagte Sperber, und seine Stimme klang merkwürdig. »Und deswegen konnten sie sich hereinschleichen und uns Schläge auf den Kopf versetzen wie Lämmern an der Schlachtbank, uns unser Gold und unsere gute Kleidung wegnehmen und den Sklaven fangen, der eine Stange Geld bringen würde. Denn sie wollten dich, mein Junge! Du wärst auf dem Markt von Amrun einen Bauernhof wert gewesen.« »Mir haben sie keinen harten Schlag gegeben. Ich bin aufgewacht. Ich bin ihnen davongelaufen. Und ich habe ihre Beute über die ganze Straße ausgeschüttet, bevor sie mich in einer Sackgasse fingen.« Arrens Augen funkelten. »Du bist aufgewacht, als sie noch da waren — und bist fortgelaufen? Warum?« »Um sie von Ihnen wegzulocken.« Die Überraschung, die in Sperbers Stimme gelegen hatte, schürte Arrens Stolz, und er fügte triumphierend hinzu: »Ich dachte, sie wären hinter Ihnen her. Ich fürchtete, daß die Räuber Sie töten würden. Ich nahm ihnen den Beutel und das Gold weg, damit sie mir nachliefen und schrie und rannte davon. Und sie sind mir gefolgt!«
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»Gewiß — gewiß sind sie dir gefolgt!« Sperber sagte nichts weiter, kein Wort der Anerkennung folgte, doch er saß und grübelte lange vor sich hin. Dann sagte er: »Hast du nicht daran gedacht, daß ich schon tot sein könnte?« »Nein.« »Erst töten, dann rauben, dann kann nichts schiefgehen.« »Daran habe ich nicht gedacht. Ich wollte sie nur weglocken von Ihnen.« »Warum?« »Weil Sie uns beide verteidigen und retten können, wenn Sie Zeit dazu haben. Oder wenigstens sich selbst hätten Sie retten können. Ich war der Wachtposten, und ich habe auf meinem Posten versagt. Ich wollte das wieder wettmachen. Ich hatte auf Sie aufzupassen. Auf Sie kommt es an. Ich kam ja nur, um zu wachen und um andere Dienste zu verrichten... Sie sind der Führer, Sie können uns dorthin bringen, wo wir hingehen müssen, wo immer das nun sein mag, und nur Sie können wieder alles in Ordnung bringen.« »Meinst du?« sagte der Magier. »Das habe ich auch gemeint — bis gestern abend. Ich glaubte, ich hätte einen bei mir, der mir folgt, aber ich bin derjenige, der folgt, mein Junge.« Seine Stimme klang kühl und etwas ironisch. Arren wußte nicht, was er sagen sollte. Er war nun wirklich ganz durcheinander. Er hatte geglaubt, daß er seine Pflichtvergessenheit, sein Einschlafen, oder seine Trance auf dem Wachtposten kaum dadurch, daß er die Aufmerksamkeit der Räuber von Sperber auf sich lenkte, sühnen könne. Aber es sah nun so aus, als sei dies ziemlich dumm gewesen, wohingegen seine Trance im richtigen Augenblick ganz geschickt gewesen war. »Es tut mir leid...«, sagte er und preßte seine Lippen fest zusammen, denn die Tränen saßen wieder locker, »daß ich nicht das Richtige getan habe. Und Sie haben mir das Leben gerettet...« »Und du vielleicht meines«, sagte der Magier barsch. »Wer weiß? Sie hätten mir vielleicht die Kehle aufgeschlitzt, wenn sie Zeit dazu gehabt
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hätten. Reden wir nicht mehr davon, Arren. Ich bin froh, daß ich dich dabeihabe.« Dann ging er an die Vorratskiste und zündete den kleinen Holzkohlenbrenner an, auf dem sie kochten. Er holte etwas aus der Kiste heraus und war beschäftigt. Arren lag auf dem Rücken und blickte hinauf zu den Sternen; sein Gemüt beruhigte sich, er konnte wieder klar denken. Und es kam ihm zu Bewußtsein, daß sein Verhalten, sein Tun oder Nichtstun, nicht von Sperber beurteilt werden würde. Er hatte gehandelt, und Sperber hatte es als vollendet akzeptiert. »Ich strafe nicht«, hatte er zu Egre gesagt, und seine Stimme war eiskalt gewesen. Und lohnen tat er auch nicht. Doch er war, so schnell er konnte, über die See geeilt und war ihm zu Hilfe gekommen, und er hatte die Macht seiner Zauberkunst um seinetwillen entfesselt. Wenn es sein mußte, dann würde er das wieder tun. Man konnte sich auf ihn verlassen. Er verdiente die Liebe, die Arren für ihn empfand, und das Vertrauen, das er ihm entgegenbrachte. Denn umgekehrt vertraute er auch Arren. Was Arren tat, war richtig. Jetzt kam er zurück und gab Arren eine Tasse voll dampfenden, erhitzten Wein zu trinken. »Darauf wirst du gut schlafen. Paß auf, daß du dir die Zunge nicht verbrennst.« »Wo kommt denn der Wein her? Ich habe keine Weinflasche an Bord gesehen...« »Manches ist dem Auge verborgen. Die Weitblick birgt mehr, als man vermutet«, sagte Sperber und setzte sich neben Arren. Er lachte leise in der Dunkelheit. »Sie macht ihrem Namen Ehre.« Arren setzte sich auf, um zu trinken. Der Wein war gut und erfrischte Körper und Geist. Er fragte: »Wo fahren wir jetzt hin?« »Nach Westen.« »Wohin sind Sie Hase gefolgt?« »In die Dunkelheit. Ich habe ihn nicht verloren, doch er war verloren. Er wanderte in den Grenzbereichen herum, in den endlosen, trostlosen Gehegen des Deliriums und der Alpträume. Seine Seele piepste wie ein kleiner Vogel in diesen öden Gefilden, wie eine Möwe, die zu weit aufs Meer hinausgeflogen ist. Er ist kein Führer. Er war schon immer ver-
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loren. Trotz seiner zauberischen Macht hatte er nie den Weg vor sich liegen sehen, er sah immer nur sich selbst.« Arren verstand nicht alles, was Sperber sagte, und er hatte auch nicht den Wunsch, alles zu verstehen, noch nicht jedenfalls. Er war nur ein kleines Stück in diese ›Dunkelheit‹ gelockt worden, von der die Zauberer sprachen, und er wünschte, daß er sie vergessen könnte. Er wollte nichts mehr damit zu tun haben. Deswegen wollte er auch nicht schlafen, denn er hatte Angst, daß er sie in seinen Träumen wiedersehen und dieser dunklen Gestalt begegnen würde, diesem Schatten, der ihm eine Perle entgegengehalten und geflüstert hatte: »Komm!« »Warum ...?« seine Gedanken waren schon wieder bei einem anderen Thema, »warum...?« »Schlaf jetzt!« sagte Sperber, leicht verzweifelt. »Ich kann nicht, wirklich. Warum haben Sie die anderen Sklaven nicht befreit?« »Ich habe sie befreit. Keiner war mehr gefesselt an Bord des Schiffes.« »Aber die Leute, die Egre dienten, die waren bewaffnet. Wenn Sie die gefesselt hätten...« »Wenn ich die gefesselt hätte? Es waren ja nur sechs. Die Ruderer waren gefesselt, wie du. Egre und seine Leute sind vielleicht schon tot oder von den anderen gefesselt worden, um als Sklaven verkauft zu werden. Ich befreite sie, und es steht ihnen frei, zu tun, was sie wollen, zu kämpfen oder zu handeln. Ich bin kein Sklavenjäger.« »Aber Sie wußten, daß es böse Menschen waren.« »Bedeutet das, daß ich auch so handeln muß wie sie? Sollte ihre Schändlichkeit mein Tun beeinflussen? Muß ich mich nach ihnen richten? Ich treffe keine Entscheidungen für sie, und ich werde auch nicht zulassen, daß sie meine Entscheidungen bestimmen.« Arren schwieg und dachte über diese Worte nach. Nach einer Weile fuhr der Magier mit leiser Stimme fort: »Siehst du jetzt ein, Arren, daß eine Handlung, wie junge Menschen es glauben, nicht wie ein Felsbrokken ist, den man aufhebt und fortwirft, und der entweder das Ziel trifft oder es verfehlt. Nein, wenn dieser Brocken aufgehoben wird, dann wird die Erde leichter, und die Hand, die ihn hält, wird schwerer.
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Wenn er geworfen wird, dann bleibt selbst die Bahn der Sterne davon nicht unberührt und wo er hinfällt, ändert sich die Umwelt. Jede Handlung beeinflußt das Gleichgewicht der Dinge. Die Winde und die Meere, das Wasser, die Erde und das Licht, all die Mächte und alles, was Tiere und Pflanzen tun, ist richtig und gut. Sie alle handeln, ohne das Gleichgewicht zu stören. Ein Orkan, das Blasen eines Riesenwals, der Fall eines dürren Blattes, der Flug einer Mücke, all dies ist Teil eines Ganzen und all dies trägt zum Gleichgewicht bei. Wir aber, wir haben begrenzte Macht über die Natur und über uns selbst, und wir müssen lernen, was Blatt, Fisch und Wind instinktiv richtig tun. Wir müssen lernen, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Da uns Verstand gegeben wurde, dürfen wir nicht handeln, als ob wir keinen hätten. Da uns eine Wahl gegeben ist, dürfen wir nicht unverantwortlich handeln. Wer bin ich, daß ich — obwohl ich die Macht dazu hätte — bestrafen und belohnen kann und mit dem Geschick der Menschen spielen, wie es mir gutdünkt?« »Aber«, sagte der Junge und sah nachdenklich hinauf zu den Sternen, »bleibt denn das Gleichgewicht erhalten, wenn man nichts tut? Bedeutet das, daß ein Mensch nur dann handeln soll, wenn er alle Folgen kennt, die seine Handlung nach sich ziehen kann? Würde denn dann überhaupt noch gehandelt werden?« »Hab keine Angst. Es fällt dem Menschen viel leichter zu handeln, als vom Handeln abzusehen. So lange wir leben, so lange werden wir Gutes oder Böses tun ... Aber wenn wir wieder einen König hätten, der über uns alle herrschte, und wenn er, wie es früher üblich war, bei einem Magier Rat suchen würde, und wenn ich dieser Magier wäre, dann würde ich zu ihm sagen: Mein Fürst, handeln Sie nicht, nur weil es Ihnen edel, oder lobenswert, oder rechtmäßig vorkommt, handeln Sie nicht, nur weil es Ihnen . Handeln Sie nur dann, wenn Sie es nicht vermeiden können, wenn Sie nicht umhin können, zu handeln.« In seiner Stimme lag wieder der Ton, der Arren aufhorchen ließ, und er blickte ihn an. Er glaubte wieder das Licht wahrzunehmen, das von seinem Gesicht ausging, das die gekrümmte Nase, die vernarbte Wan-
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ge, die dunklen, tiefen Augen erhellte. Und er blickte ihn an, voll Liebe, aber auch voll Furcht, und er dachte: »Er ist mir so weit überlegen.« Doch als er ihn weiterhin anblickte, merkte er, daß es kein magisches Licht war, keine kalte, zauberische Helle, sondern daß es das Licht selbst war, das gewöhnliche Licht des Tages. Es gab eine Macht, die größer war als die Macht des Magiers. Und die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen, Arren sah Linien in seinem Gesicht, die das Alter gefurcht hatte, und er sah müde aus im immer heller werdenden Licht des Morgens. Er gähnte ... Gedankenverloren ließ er den Blick auf ihm ruhen und schlief endlich ein. Doch Sperber blieb an seiner Seite sitzen und wartete auf die Morgendämmerung und den Sonnenaufgang. Er saß und glich einem Menschen, der einen Schatz prüft, an dem nicht mehr alles vollkommen ist, ein Juwel mit einem Makel, ein krankes Kind.
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TRÄUME AUF DEM MEER
SPÄTER AM MORGEN nahm Sperber den magischen Wind aus dem Segel und überließ sein Boot dem Wind der Welt, der sanft aus dem Süden und Westen blies. Rechts vom Boot, in weiter Ferne, sah man noch die blauen Hügel von Südwathort, die immer kleiner wurden und schließlich nicht viel höher als der Gischt über den Wellen des Meeres waren und bald verschwanden. Arren erwachte. Das Meer schimmerte golden in der Hitze des Mittags, endloses Wasser unter einem endlosen Himmel. Sperber saß im Heck des Schiffes. Er hatte nur ein Tuch um seine Lenden geschlungen und eine Art Turban aus Segeltuch um seinen Kopf, sonst war er nackt. Er sang leise vor sich hin und schlug mit der Hand einen leisen, gleichförmigen Rhythmus auf die Ruderbank, als ob sie eine Trommel wäre. Was er sang, war weder Zaubergesang noch Heldenlied, sondern eine einfache Melodie mit Worten ohne Bedeutung, wie sie wohl ein Hirtenjunge vor sich hinsingen mag, der während der langen, heißen Sommernachmittage in den Bergen von Gont auf seine Ziegen aufpassen muß. Die Oberfläche des Wassers teilte sich. Ein Fisch sprang hoch und schnellte sich mit ausgebreiteten Flügeln, die im Sonnenlicht wie Libellenflügel schillerten, einige Meter weit durch die Luft. »Jetzt sind wir im Südbereich«, sagte Sperber, als er mit seinem Lied fertig war. »Es ist ein merkwürdiger Bereich. Hier gibt es fliegende Fische, und man behauptet, daß es auch singende Delphine gäbe. Aber das Wasser ist warm und einladend, und ich habe ein Abkommen mit den Haifischen geschlossen. Wasch den Rest von dem Dreck des Sklaventransportes von dir ab!«
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Jeder Muskel schmerzte ihm, und Arren bewegte sich zunächst nur mit Widerwillen. Auch war er ein ungeübter Schwimmer, denn die See um Enlad herum ist nicht einladend und im Kampf mit ihr ermüdet man rasch. So kommt das Schwimmen gewöhnlich zu kurz. Das Meer hier war tiefblau. Es war kalt, als er hineinsprang, doch die Kälte verging rasch, und es war herrlich, sich im Wasser zu bewegen. Er tummelte sich an der Seite der Weitblick wie eine junge Seeschlange. Das Wasser sprühte hoch auf wie eine Fontäne. Sperber gesellte sich zu ihm, seine Züge waren kräftiger. Die Weitblick, die weißen Flügel über das glänzende Wasser gebreitet, wartete auf sie, geduldig und schützend. Ein Fisch schnellte sich in die Luft, Arren folgte ihm; der Fisch tauchte unter, schnellte sich wieder empor, schwamm in der Luft, flog durch die See und folgte Arren. Der Junge, biegsam und golden im hellen Sonnenschein, vergnügte sich im Wasser, bis die Sonne das Meer berührte. Der Mann, dunkel und sehnig, schwamm mit den ruhigen, gelassenen Zügen, mit der ausgewogenen Kraft des Alters. Er hielt das Boot auf Kurs, spannte ein provisorisches Sonnensegel aus Leinwand auf und blickte liebevoll sowohl auf den schwimmenden Jungen als auch auf den fliegenden Fisch. »Wo fahren wir jetzt hin?« fragte Arren später, als die Dämmerung schon hereingebrochen war und er sich an Salzfleisch und Brot gütlich getan hatte; er war schon wieder müde. »Lorbanery«, antwortete Sperber, und die klangvollen Silben dieses Wortes waren das letzte, was Arren an diesem Abend vernahm. Sie woben sich durch seine Träume. Er träumte, daß er durch Berge von weichem Zeug watete, rosa, goldenen und himmelblauen Fetzen und Fäden, und daß es ihm großen Spaß machte; irgend jemand sagte zu ihm: »Das sind die Seidenfelder von Lorbanery, und hier wird es nie dunkel.« Doch später in der Nacht, als er die Sterne des Herbstes am Himmel des Frühlings scheinen sah, träumte er, daß er sich in einer Ruine befand. Alles war trocken hier und alles war mit Staub bedeckt und mit Spinnweben verhangen. Arrens Beine waren in den Spinnweben verstrickt, sein Mund und seine Nasenlöcher waren davon bedeckt, und er konnte nicht mehr atmen. Doch das schlimmste war, daß er den
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hohen, zerstörten Raum wiedererkannte: es war der Saal im Großhaus von Rok, in dem er mit den Meistern das Frühstück eingenommen hatte. Erschrocken wachte er auf, sein Herz pochte heftig, seine Beine, die gegen die Ruderbank gepreßt waren, schmerzten. Er setzte sich auf und versuchte den schrecklichen Traum zu vergessen. Im Osten war es noch nicht hell geworden, doch die Dunkelheit schien dort nicht mehr so dicht zu sein. Der Mast knarrte, das Segel, prall gefüllt von einer frischen Brise aus Nordosten, schimmerte schwach und hoch über ihm. Sein Gefährte lag im Heck und schlummerte ruhig und friedlich. Arren legte sich wieder nieder und fiel in einen leichten Schlaf, bis der helle Tag ihn weckte. Die See schien noch blauer und ruhiger als am Vortag zu sein. Nie hätte er sich das Meer so vorgestellt! Das Wasser war so angenehm und klar, daß ihm das Schwimmen wie ein Gleiten oder Schweben in Luft vorkam, es hatte etwas Träumerisches an sich. Während der Mittagszeit fragte er: »Geben Zauberer viel auf Träume?« Sperber angelte. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf die Angelschnur gerichtet. Nach einer Weile erwiderte er »Warum?« »Ich wüßte gerne, ob sie je wahr sind.« »Aber sicher.« »Sagen sie die Zukunft voraus?« Aber der Magier hatte gespürt, wie ein Fisch angebissen hatte, und zehn Minuten später, als er ihr Mittagessen, einen prächtigen, silberblauen Barsch, neben sich gelandet hatte, war die Frage vergessen. Am Nachmittag, als sie sich unter dem Sonnensegel, das sie vor der brennenden Sonne schützte, ausgestreckt hatten, fragte Arren: »Was suchen wir in Lorbanery?« »Das, was wir suchen.« Nach einer Weile sagte Arren: »In Enlad erzählt man die Geschichte von dem Jungen, dessen Schulmeister ein Stein war.« »O ja? ... Was hat der von ihm gelernt?« »Keine Fragen zu stellen.«
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Sperber schnaubte, und es klang, als müßte er ein Lachen unterdrücken, dann setzte er sich auf. »Na gut«, sagte er. »Im allgemeinen rede ich ja erst, wenn ich weiß, worüber ich rede. Also warum wird in der Stadt Hort und in Narveduen und vielleicht überall in den Bereichen keine Magie mehr gewirkt? Zogen wir nicht aus, um die Antwort darauf zu finden?« »Doch.« »Hast du schon die Redensart gehört: Die Bereiche haben ihre eigenen Gesetze? Leute, die zur See fahren, sagen das oft, aber eigentlich wurde die Redensart von einem fahrenden Magier geprägt, und sie bedeutet nichts anderes, als daß Magie vom Ort abhängt. Eine Formel, die in Rok wirkt, ist vielleicht völlig wirkungslos auf Iffisch. Die Ursprache, die Sprache des Schöpfens, hat sich nicht überall gleich gut erhalten, hier ein Wort und da ein Wort. Und wenn ein Zauber gewirkt wird, so spielen Wind, Wasser und Erde und das Licht, das auf den Ort fällt, eine Rolle. Einmal bin ich ganz weit nach Osten gesegelt und weder Wind noch Wasser folgten dort meinem Befehl, sie kannten ihre wahren Namen nicht; es ist aber auch möglich, daß es mir an Wissen mangelte. Die Welt ist riesengroß, das Meer erstreckt sich weiter, als wir es je werden erforschen können, und es gibt Welten außerhalb dieser Welt. Und über diesen Abgründen von Zeit und Raum, glaube ich, behält kein Wort seine ureigentlichste Bedeutung und seine Macht, außer dem Ersten Wort, das Segoy sprach, als er alles schuf, oder dem Letzten Wort, das noch nicht, und erst dann gesprochen wird, wenn alles sein Ende gefunden hat... Und so gibt es selbst hier auf der Erdsee, auf den vielen kleinen Inseln, die wir kennen, Unterschiede und Geheimnisse. Und am unbekanntesten und geheimnisvollsten ist der Südbereich. Nur ganz wenige Zauberer der Innenländer sind hierhergekommen und kennen die Menschen hier. Zauberer sind hier nicht willkommen, denn — so wird behauptet — die Menschen hier besitzen ihre eigene, magische Kunst. Aber die Gerüchte sind vage, und es kann gut sein, daß die magische Kunst hier nie recht Fuß gefaßt hat, daß sie nie recht verstanden wurde. Wenn das der Fall ist, so könnte sie leicht von jemandem, der es darauf abgesehen hat, ganz zunichte gemacht werden, viel leichter je-
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denfalls als unsere Zauberkunst in den Innenländern. Und zu uns dringt nur die Kunde, daß die Magie im Süden verschwunden sei. Dort, wo es Selbstdisziplin gibt, dort wirkt unsere Kunst stark und tief; aber dort, wo die Richtung und das Ziel fehlen, dort bleiben die Taten der Menschen oberflächlich und haben keine nachhaltige Wirkung. Denk an die dicke Frau mit ihren Spiegeln! Sie hat ihre Macht verloren, und nun glaubt sie, daß sie nie Macht besessen hat. Und Hase nimmt Hazia und bildet sich ein, weiter zu wandern als der größte Magier, und dabei verirrt er sich bereits in den alleräußersten Gefilden des Traumes ... Aber wohin glaubt er zu gehen? Was sucht er? Warum hat er seine Zaubermacht verloren? Von der Stadt Hort, glaube ich, hatten wir genug, und deswegen wenden wir uns jetzt nach Süden, nach Lorbanery, um herauszufinden, was wir herausfinden müssen... Habe ich deine Fragen beantwortet?« »Ja, aber...« »Dann laß den Stein eine Weile in Ruhe!« sagte der Magier. Er saß beim Mast, in dem gelblichen, glänzenden Schatten unter dem Sonnensegel, und schaute hinaus aufs Meer, gegen Westen, während das Boot den ganzen Nachmittag lang auf südlichem Kurs dahinglitt. Er saß aufrecht und reglos. Die Stunden verstrichen. Arren ging ein paarmal schwimmen. Er ließ sich vom Heck des Bootes aus geräuschlos ins Wasser gleiten, er wollte nicht an dem dunklen Blick vorbeigehen, der gen Westen gerichtet war, und der weiter als die helle Linie des Horizonts, weiter als die blaue Luft, weiter als das Licht selbst zu reichen schien. Sperber kehrte endlich aus dem Schweigen zurück und sprach doch nicht mehr als ein gelegentliches Wort. Arren war so erzogen, daß er hellhörig für die Gemütsstimmungen eines Menschen war, er spürte, wenn ein Mensch aus Höflichkeit oder Zurückhaltung seine wahren Gefühle verbergen wollte. Er wußte, daß das Herz seines Gefährten schwer war. Er stellte keine weiteren Fragen mehr. Als es dunkel wurde, fragte er: »Würde es Sie stören, wenn ich singe?« Sperber bemühte sich zu scherzen und sagte: »Das hängt vom Singen ab.« Arren saß mit dem Rücken gegen den Mast gelehnt und sang. Seine Stimme war nicht mehr so hoch und klar wie vordem, als der Musikmei-
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ster in der Halle zu Berila ihn unterrichtet und auf seiner großen Harfe begleitet hatte; die hohen Töne waren nicht mehr so glockenhell, sie waren voller geworden, und die tiefen glichen einer Viola, sie waren dunkel und weich. Er sang des Weißen Zauberers Sterbelied, die Klage Elfarrans, als sie um Morreds Tod wußte und auf ihren eigenen wartete. Nicht oft und nicht leichtfertig wird dieses Lied gesungen. Sperber hörte die junge, starke und sichere Stimme, die voll Trauer und Schmerz unter dem roten Abendhimmel über die weite See klang, und Tränen traten in seine Augen und verschleierten seinen Blick. Arren schwieg eine Weile, als er das Lied zu Ende gesungen hatte. Dann sang er leichtere, anspruchslosere Melodien, und seine Stimme umschmeichelte und bestrickte das wellenbewegte Meer, die vom Wind bewegte Luft und das immer schwächer werdende Licht, bis die Nacht einbrach. Als er verstummte, war alles ringsum still: kein Wind regte sich, die Wellen waren kaum wahrnehmbar, das Holz und die Seile knirschten kaum hörbar. Die See war verstummt, und über ihnen erschien ein Stern nach dem andern. Ein durchdringend helles Licht leuchtete im Süden auf und goß einen goldenen Funkenregen über das Wasser. »Ein Leuchtfeuer! Schauen Sie!« Und eine Sekunde später: »Ist das vielleicht ein Stern?« Sperber blickte eine Weile auf das Licht, dann sagte er: »Ich glaube, das ist der Stern Gorbadon. Man kann ihn nur im Südbereich sehen. Gorbadon bedeutet Krone. Kurremkarmerruk hatte uns das erzählt und wenn wir noch weiter nach Süden fahren würden, dann würden noch acht weitere Sterne, einer nach dem ändern, unter Gorbadon auftauchen und sich zu einem eindrucksvollen Sternbild schließen, manche sagen, es gleiche einem Läufer, andere sehen die Rune Agnen darin, die Rune des Endens.« Sie sahen zu, wie der Stern sich langsam vom Horizont löste und mit gleichmäßig starkem, stetigen Licht leuchtete. »Du hast Elfarrans Lied gesungen«, sagte Sperber, »so als ob du ihren Schmerz nachempfinden könntest, und du hast ihn mich mitfühlen lassen... Von all den Geschichten, die in der Erdsee erzählt werden, hat
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mich diese immer am meisten gefesselt. Morreds Mut, trotz der Hoffnungslosigkeit, und Serriadh, der milde König, der jenseits der Hoffnungslosigkeit geboren wurde, ich bewundere sie. Und dann sie, Elfarran! Als ich die schlimmste Tat meines Lebens vollbrachte, hatte ich mich zu ihr, zu ihrer Schönheit, hingewandt, und ich habe sie gesehen — ganz kurz habe ich Elfarran gesehen.« Ein kalter Schauer rieselte Arrens Rücken hinunter. Er schluckte und rührte sich nicht, seine Augen waren auf den prächtigen, beunruhigenden, topasfarbenen Stern gerichtet. »Wer ist dein Held?« fragte der Magier, und Arren sagte nach kurzem Zögern: »Erreth-Akbe.« »Weil er der Größte war?« »Weil er, wenn er gewollt hätte, über die ganze Erdsee hätte herrschen können, aber er tat es nicht, sondern er ging fort, ganz allein, und er war allein, als er im Kampf mit dem Drachen Orm an Selidors Küste starb.« Sie saßen eine Weile schweigend, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, dann fragte Arren, und sein Blick war noch immer auf den gelb leuchtenden Gorbadon gerichtet: »Dann ist es also wahr, daß die Toten durch Magie wieder ins Leben zurückgerufen werden und mit lebenden Menschen reden können?« »Mit gewissen Zauberformeln des Gebietens können wir Tote erwekken, ja. Aber das wird nur sehr selten getan, und ich bezweifle, ob es jemals gut ist, das zu tun. Und in diesem Punkt stimmt der Meister des Gebietens mit mir überein, er unterrichtet die Zauberkunde von Paln, in der diese Formeln enthalten sind, nicht. Die mächtigsten Formeln stammen von dem Grauen Magier zu Paln, der vor ungefähr tausend Jahren lebte. Der gebot den alten Helden und Magiern, selbst Erreth-Akbe, zu erscheinen und die Fürsten von Paln in Fragen der Kriegsführung zu beraten und ihre Herrscherprobleme zu lösen. Aber der Rat von Toten nützt den Lebenden wenig. Paln ging elendiglich zu Grunde, und der Graue Magier wurde vertrieben, und als er starb, hatte er keinen Namen mehr.« »Es ist also böse, wenn man das tut?«
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»Ich würde eher sagen, daß es ein Mißverständnis ist — ein Mißverständnis des Lebens. Denn Leben und Tod sind ein und dieselbe Sache — wie die zwei Seiten meiner Hand, die Innenfläche und der Handrücken. Doch obwohl sie ein Ganzes formen, sind sie verschieden ... Sie können weder getrennt noch verwechselt werden.« »Dann werden also heutzutage diese Formeln nicht mehr gebraucht?« »Ich habe nur einen Menschen gekannt, der sie unbekümmert benutzte, ohne an das Risiko zu denken. Denn es ist riskant und gefährlich, weit mehr als alle andere Magie. Wie gesagt, Leben und Tod sind wie die beiden Seiten meiner Hand, doch um die Wahrheit zu sagen, wir wissen nicht, was Leben und Tod wirklich bedeuten. Und sich Macht anzumaßen über etwas, das man gar nicht versteht, ist nicht weise, und es ist unwahrscheinlich, daß je etwas Gutes dabei herauskommen wird.« »Wer war der Mann, der sie gebrauchte?« fragte Arren. Er hatte Sperber noch nie so nachdenklich und aufgeschlossen gefunden, noch nie so willig, Fragen zu beantworten. Beiden tat es gut, miteinander zu reden, obwohl das Thema unheimlich war. »Er wohnte in Havnor. Er war nur ein einfacher Zauberer, der keinen Stab erworben hatte, aber er war ein mächtiger Magier. Er benutzte seine Kunst, um Geld zu verdienen. Er zeigte jedem, der zahlen konnte, den Geist, den er sehen wollte, eine tote Ehefrau, einen toten Ehemann, ein Kind, sein Haus war voll aufgestörter Geister vergangener Jahrhunderte, darunter auch die schönen Frauen alter Zeit, als wir noch einen König hatten. Ich war Zeuge, wie er meinen alten Meister Nemmerle, der Erzmagier zu Rok war in meinen jungen Jahren, zu sich rief, nur um die Schaulust der Leute, die nichts zu tun hatten, zu befriedigen. Und diese große Seele mußte dem Ruf folgen und kam gehorsam wie ein Hund zu seinem Herrn. Ich war aufgebracht und habe ihn aufgefordert — damals war ich noch nicht Erzmagier — und sagte zu ihm: ›Sie nötigen die Toten, in Ihr Haus zu kommen, folgen Sie mir in deren Haus!‹ Und ich habe ihn gezwungen, mir in das Trockene Land zu folgen, obgleich er sich mit seiner ganzen Macht dagegen sträubte und seine Gestalt veränderte und laut heulte. Aber es half ihm alles nichts.« »Sie haben ihn getötet?« flüsterte Arren, gebannt.
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»Nein! Ich habe ihn nur gezwungen, mir in das Land des Todes zu folgen und wieder mit mir zurückzukehren. Er hatte Angst. Er, der den Toten gebot, zu ihm zu kommen, hatte schreckliche Angst vor dem Tod — seinem eigenen Tod; noch nie habe ich einen Menschen gesehen, der größere Angst hatte! Nun, und als wir zu der Steinmauer kamen ... aber ich erzähle dir mehr, als ein Novize zu wissen braucht. Und du bist noch nicht einmal ein Novize.« Die klaren Augen drangen durch die Dämmerung und erwiderten Arrens Blick; sie dämpften seine Wißbegierde ein wenig. »Es macht wohl nichts«, fuhr der Erzmagier fort, »da ist also eine Steinmauer, sie befindet sich an einer bestimmten Stelle, dort wo die Grenze ist. Nach dem Tod geht der Geist über diese Mauer, und ein lebender Mensch kann diese Mauer nicht übersteigen, nur einem Magier ist es möglich ... Und an dieser Steinmauer hatte sich der Mann hingekauert, auf der Seite des Lebens, und er hat versucht, meinem Willen zu widerstehen, und er konnte es nicht. Er hat sich mit den Händen an den Steinen festgekrallt und hat geflucht und gefleht. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich solche Feigheit gesehen. Mir wurde ganz übel von diesem Anblick. Daran hätte ich erkennen müssen, daß ich unrecht tat. Aber ich war zu stolz und zu eingebildet. Denn er war sehr mächtig, und ich war versessen darauf, zu beweisen, daß ich der Mächtigere war.« »Was hat er später getan — nachdem sie zurückgekommen waren?« »Im Staube gekrochen ist er und hat geschworen, nie mehr die peinische Zauberkunst zu wirken, er hat meine Hände geküßt und hätte mich umgebracht, wenn er es gewagt hätte. Er hat Havnor verlassen und ging in den Westen, vielleicht nach Paln. Jahre später habe ich gehört, daß er gestorben ist. Als ich ihn kannte, war er schon weißhaarig, aber er hatte lange Arme und war so gelenkig wie ein Ringer. Wie kam ich darauf, von ihm zu sprechen? Ich kann mich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern.« »An seinen wahren Namen?« »Nein! An den kann ich mich noch erinnern ...« Er hielt inne, und drei Herzschläge lang war es totenstill.
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»Cob nannten sie ihn in Havnor«, sagte er, und seine Stimme klang verändert, nachdenklich, vorsichtig. Es war zu dunkel, um seinen Gesichtsausdruck wahrzunehmen. Arren sah, wie er sich dem gelben Stern zuwandte, der nun schon hoch über den Wellen stand und einen gebrochenen, goldenen Pfad über sie warf, so fein und schmal wie der Faden einer Spinne. Lange schwieg er; dann sagte er: » Siehst du, nicht nur in Träumen, sondern in schon längst Vergessenem sehen wir, was uns bevorsteht. Wir reden, und es scheint nichts Wichtiges zu sein, weil wir die Bedeutung nicht erkennen wollen.«
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LORBANERY
AUS ZEHN MEILEN ENTFERNUNG sah Lorbanery ganz grün aus, so grün wie das Moos am Rande eines Brunnens. Im Näherkommen unterschied man Blätter und Baumstämme, Straßen und Häuser, Gesichter und Kleidung von Menschen, den Staub, die Schatten, kurzum alles, was zu einer von Menschen bewohnten Insel gehört. Doch der Gesamteindruck blieb: Lorbanery war eine grüne Insel, auf der jedes Stückchen Land, das nicht bebaut war und auf dem nicht einhergeschritten wurde, mit den kleinen, runden Hurbabäumen bepflanzt war. Die Blätter dieser Bäume sind Futter für die Raupen, aus deren Kokons die dünnen Fäden stammen, aus denen Seide gesponnen wird, die von den Männern, Frauen und Kindern auf Lorbanery zu feinen Geweben verarbeitet wird. In der Dämmerung flitzen Hunderte von Fledermäusen durch die Luft, die sich von den Seidenraupen ernähren. Und die Leute von Lorbanery wehren ihnen nicht, ja sie betrachten es sogar als ein böses Omen, eine dieser grauflügeligen Fledermäuse zu töten. Denn, so sagen sie, wenn wir Menschen von den Seidenraupen leben, so haben die kleinen Fledermäuse das gleiche Recht dazu. Die Häuser sahen lustig aus; ihre kleinen Fenster waren ganz unregelmäßig angeordnet, und ihre Dächer waren mit Hurbazweigen gedeckt, die mit Moos und Flechten bewachsen waren und sich grün über die Häuserwände wölbten. Es mußte einst eine wohlhabende Insel gewesen sein; erstaunlich, wenn man in Betracht zog, daß es eine Insel der Außenbereiche war, die gewöhnlich weniger reich als die Inseln des Innenmeeres sind. Spuren einstigen Reichtums waren noch überall sichtbar. Man konnte sehen, daß die Häuser einst gut verputzt und gut eingerichtet gewesen waren; große Spinnräder waren noch zu sehen
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und große Webstühle und Hallen, wo früher geschäftig gearbeitet wurde; der Hafen von Sosara hatte verschiedene, aus Stein gebaute Piers, an denen Dutzende von Galeeren gleichzeitig festmachen konnten. Doch die Anlegestellen waren leer, der Verputz an den Häusern war abgebrökkelt, die Möbel waren alt und wurmstichig, und die Spinnräder und Webstühle standen still, Staub lagerte darauf, und Spinnweben zogen sich von Pedal zu Pedal, von den Kettfäden zu den Rahmen. »Zauberer?« sagte der Bürgermeister von Sosara, ein kleiner Mann mit einem Gesicht, das so hart und lederbraun war wie die Sohlen seiner nackten Füße. »In Lorbanery gibt es keine Zauberer, hat es noch nie welche gegeben.« »Wer hätte das gedacht!« sagte Sperber erstaunt. Er saß mit acht oder neun der Dorfbewohner zusammen und trank Hurbabeerenwein, ein dünnes, bitteres Getränk. Er hatte ihnen notgedrungen sagen müssen, daß er und sein Gefährte in den Südbereich gesegelt waren, um Emmelsteine zu suchen, aber sonst hatte er sich nicht verändert. Arren hatte sein Schwert wieder auf dem Boot gelassen, und wenn Sperber seinen Stab dabei hatte, waren sie gut genug gerüstet. Die Dorfbewohner waren zunächst mißtrauisch gewesen, und es sah eine Weile so aus, als ob sie sich feindlich verhalten würden, aber dank Sperbers Geschick und seiner Gewandtheit mit Worten durften sie sich beide — mit Vorbehalt allerdings — ihnen zugesellen. »Hier muß es Leute geben, die gut mit Bäumen umzugehen wissen«, sagte er jetzt. »Was macht ihr denn, wenn ein später Frost kommt?« »Nichts«, antwortete ein magerer Mann am Ende der Reihe. Sie saßen alle nebeneinander unter dem Dachvorsprung, mit dem Rücken an die Hauswand des Wirtshauses gelehnt, und direkt vor ihren nackten Füßen klatschte der warme Aprilregen auf die Erde. »Regen, nicht Frost, richtet Schaden an«, sagte der Bürgermeister. »Die Kästen mit den Raupen verfaulen. Kein Mensch hält Regen zurück. Hat noch keiner fertiggebracht.« Das Thema Zauberer und Zauberei schien ihn aufzubringen, einige der anderen waren weniger erbost, und einer sagte: »Hat nie geregnet, nicht zu dieser Jahreszeit jedenfalls, als der Alte noch am Leben war.«
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»Wer? Der alte Mildi? Der lebt nicht mehr. Der ist tot«, sagte der Bürgermeister. »Baumgärtner haben sie ihn geheißen«, sagte der Magere. »Stimmt, Baumgärtner hieß er«, bestätigte ein anderer. Alle schwiegen, der Regen raunte. Arren saß am Fenster in der Gaststätte drinnen, die nur aus einem Raum bestand. Er hatte eine alte Laute gefunden, die an der Wand gehangen hatte, eine der Lauten, die nur drei Saiten haben, wie man sie nur auf der Seideninsel kennt. Er versuchte ihr Töne zu entlocken, aber er spielte ganz leise, nicht viel lauter als der Regen, der auf das Moosdach fiel. »Auf den Märkten in Hort«, sagte Sperber, »verkaufen sie Stoffe und preisen sie als Seide aus Lorbanery an. Manche sind tatsächlich Seide, aber sie stammt nicht aus Lorbanery.« »Wir hatten vier oder fünf schlechte Jahre«, seufzte der Magere. »Fünf Jahre sindʹs her, am Brachmond hatʹs angefangen«, sagte ein alter Mann; er sprach mit kauender Bewegung und mehr zu sich selbst, als zu den anderen. »Ja, ja, seit der alte Mildi gestorben ist, und der ist tot, und war lange nicht so alt wie ich. Am Brachmondabend, ja, ja, da ist er gestorben.« »Mangel treibt die Preise hoch«, sagte der Bürgermeister. »Für einen Ballen mittelfeiner Blauer kriegen wir jetzt soviel wie früher für drei.« »Wenn wir überhaupt was kriegen! Wo sind denn die Schiffe? Und das Blau ist nicht echt«, sagte der Magere, und es entspann sich ein halbstündiger Streit über die Qualität der Farben, die in der großen Arbeitshalle verwendet wurden. »Wer macht die Farben?« fragte Sperber, und ein neuer Disput entbrannte. Es stellte sich heraus, daß das Färben in den Händen einer Familie gelegen hatte, die sich tatsächlich Zauberer nannten, aber wenn es Zauberer gewesen waren, so hatten sie ihre Kunst verloren, und kein Mensch hatte sie wiedergefunden, wie der Magere mit saurer Miene feststellte. Und alle, außer dem Bürgermeister, stimmten überein, daß das berühmte Blau von Lorbanery und das unvergleichliche Purpur, das ›Drachenfeuer‹, das die Königinnen von Havnor dereinst getragen hat-
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ten, nicht mehr das gleiche waren. Irgend etwas fehlte an den Farben. Vielleicht war der Regen zu jeder Jahreszeit, oder die Farberde, oder der Färber daran schuld. »Auf die Augen kommtʹs an«, sagte der Magere. »Es gibt Leute, die ein echtes Azur nicht von blauem Dreck unterscheiden können«, und er blickte den Bürgermeister herausfordernd an. Doch der war nicht gewillt, den Streit fortzusetzen. Alle schwiegen wieder. Der dünne, saure Wein schien ihre Gemütsverfassung zu beeinflussen, die Gesichter blickten immer verdrossener drein. Nur das Rauschen des Regens zwischen den unzähligen Blättern der Bäume, die in den Gärten des Tales standen, das Flüstern des Meeres am Ende der Straße und das leise Klingen der Laute in der Dunkelheit des Hauses waren zu vernehmen. »Kann er singen, Ihr Junge mit dem Mädchengesicht?« fragte der Bürgermeister. »Aber sicher kann er singen. Arren! Stimm was an, mein Junge! « »Es gelingt mir nicht, die Laute aus dem Moll herauszulocken«, sagte Arren lächelnd aus dem Fenster. »Sie will weinen, die Laute. Was wünschen Sie zu hören?« »Was Neues«, brummte der Bürgermeister. Die Laute trillerte. Er hatte schon herausgefunden, wie sie zu spielen war. »Das ist vielleicht neu hier«, sagte er. Dann hob er an: Bei den weißen Meeresstraßen von Solea, bei den tiefhängenden roten Zweigen, die ihre Blüten über mein gebeugtes Haupt neigen, schwer vom Kummer um den verlorenen Liebsten, bei dem roten Zweig und bei dem weißen Zweig, bei dem Schmerz, der nie versiegen wird, schwöre ich, Serriadh, ich, Morreds und meiner Mutter Sohn, daß ich auf ewig und immerdar des Unheils gedenken werde, das geschehen ist, auf ewig und immerdar.
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Niemand rührte sich: die verbitterten und die schlauen Gesichter, die abgearbeiteten Hände, die gebeugten Körper, alles war still. Sie saßen im warmen Regen, in der Dämmerung des Südens, und hörten das Lied, das wie der Schrei eines grauen Schwanes über die kalte See bei Ea, klagend und tief traurig, in ihre Herzen drang. Sie schwiegen noch lange, nachdem das Lied geendet hatte. »Das ist ein komischer Gesang«, meinte schließlich einer zögernd. Und ein anderer, überzeugt, daß die Insel Lorbanery im Mittelpunkt aller Länder und Zeiten liege, meinte: »Fremde Musik ist immer komisch — und trübselig dazu.« »Jetzt gebt ihr ein Lied zum Besten!« munterte sie Sperber auf. »Ich persönlich würde gern was Handfestes hören. Der Junge hier singt immer von alten Helden, die schon längst tot sind.« »Gut, ich singʹ euch was«, sagte der Mann, der zuletzt gesprochen hatte. Er war zunächst etwas verlegen, doch dann stimmte er ein munteres Trinklied an, vom Wein, der so lieblich und rein, mit einem Trallalala und einem Fallalala am Ende, doch niemand fiel in den Refrain ein, und er sang sein Lied nicht zu Ende. »Selbst das Singen klappt nicht mehr«, sagte er ärgerlich. »Da sind die jungen Leute dran schuld, alles muß gekürzt und geändert werden, alles Alte ist schlecht, und keiner will mehr die alten Lieder lernen!« »Das ist es nicht«, sagte der Magere. »Nichts klappt mehr. Nichts ist mehr so, wie es war. Das Glück hat uns verlassen.« »Stimmt, stimmt«, ließ sich die dünne Stimme des alten Mannes vernehmen. »Das Glück fehlt. Fort istʹs. Daran liegtʹs.« Darauf ließ sich nichts erwidern, und die Dorfbewohner verließen das Gasthaus zu zweit und zu dritt, bis Sperber allein draußen vor dem Fenster saß. Und Arren hörte drinnen, wie er lachte, aber es war ein bitteres Lachen. Die scheue Frau des Schankwirts kam, breitete Strohsäcke und Decken auf dem Boden für sie aus und verschwand sofort wieder. Sie legten sich zum Schlafen nieder. Zahllose Fledermäuse nisteten in dem hohen Dachgebälk und flogen die ganze Nacht mit unaufhörlichem Gepiepse durch die unverglasten Fenster aus und ein. Erst als die Morgendäm-
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merung kam, kehrten sie alle zurück und hängten sich, sorgfältig hintereinander angeordnet wie kleine graue Bündelchen, an den Dachbalken auf. Vielleicht war die Rastlosigkeit der Fledermäuse an Arrens unruhigem Schlaf schuld. Viele Nächte waren vergangen, seit er nicht mehr an Land geschlafen; sein Körper war nicht mehr an die unbewegliche Erde gewöhnt und bestand darauf, daß er geschaukelt werde, geschaukelt, bevor er einschlafe, doch dann — plötzlich — tat sich der Boden unter ihm auf, und er erwachte mit einem Ruck. Dann, als er endlich einschlief, träumte er, daß er im Laderaum des Sklavenfängers angekettet war, und die Männer, an die er gekettet war, waren alle tot. Mehr als einmal schreckte er aus diesem Traum auf und versuchte ihn zu vergessen, doch sobald er wieder einschlief, nahm der gleiche grausige Traum seinen Fortgang. Schließlich fand er sich allein auf diesem Schiff, doch war er noch immer angekettet und konnte sich nicht bewegen. Dann vernahm er eine ganz merkwürdige Flüsterstimme, die ihm langsam ins Ohr zischelte: »Be ... frei... dich ... von ... dei... nen ... Fes ... seln!« und noch einmal: »Be ... frei...« Daraufhin versuchte er sich zu bewegen, und siehe da, er konnte sich bewegen. Er stand auf. Er schaute sich um und sah ein immenses, dunkel verhangenes Moor unter einem tiefen bleiernen Himmel. Die Erde und die stickige Luft erfüllten ihn mit Grauen. Dieser Ort war die Furcht selbst, er bestand aus Beklemmung und Schrecken. Und er, Arren, stand inmitten dieses Ortes, und es gab keinen Weg, und er war ganz klein, wie ein Kind, wie eine Ameise, und der Ort war grenzenlos, endlos, unheimlich. Er versuchte zu gehen, stolperte und wachte auf. Jetzt, da er nicht mehr schlief, schlich sich die Furcht in sein Herz; sie war jetzt in ihm, er war nicht mehr in ihr, und sie war nicht geringer geworden, sie war noch immer grenzenlos. Er glaubte in dem dunklen Raum ersticken zu müssen, und suchte mit den Augen nach den Sternen im schwachumrissenen Viereck des Fensters, doch keine Sterne waren zu sehen, obwohl der Regen aufgehört hatte. Er lag wach auf seinem Lager und fürchtete sich. Die Fledermäuse flogen ein und aus, auf lautlosen, ledernen Schwingen, und er konnte ihre wispernden Stimmen, an der Schwelle der Hörbarkeit, ab und zu vernehmen.
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Der Morgen brach hell an. Sie standen sehr früh auf, und Sperber erkundigte sich überall ernsthaft nach Emmelstein. Einige der Dorfbewohner glaubten zu wissen, was Emmelstein war, doch jeder hatte seine eigene Ansicht, die er sich von keinem nehmen ließ, und es entspannen sich darüber hitzige Wortwechsel. Sperber hörte aufmerksam zu, aber es war nicht das Für und Wider des Emmelsteins, das ihn interessierte, er spitzte die Ohren, um einen Einblick in andere Dinge zu erlangen. Schließlich folgten sie dem Rat des Bürgermeisters und machten sich auf den Weg zu einem Steinbruch, wo das Mineral für den blauen Farbstoff gebrochen wurde. Doch Sperber wandte sich bald vom Weg ab. »Das hier muß das Haus sein«, sagte er. »Hier an diesem Weg muß die Familie der Färber und der in Ungnade gefallenen Zauberer wohnen.« »Lohnt es sich denn, mit ihnen zu reden?« fragte Arren, der sich nur noch allzugut an Hase erinnerte. »Irgendwo ist der Mittelpunkt dieses ganzen unheimlichen Wesens«, sagte der Magier kurz. »Irgendwo ist der Ort, wo das Glück durchrinnt. Und dorthin, zu diesem Ort, brauche ich einen Führer!« Und er ging weiter, ohne anzuhalten, und Arren hatte keine andere Wahl, er mußte ihm folgen. Das Haus stand abseits von den Baumgärten, die zu ihm gehörten. Es war ein stattliches Haus, aber es sah ziemlich verwahrlost aus, genauso verwahrlost wie die Felder ringsum. Die Kokons ungesammelter Seidenraupen hingen, teils zerfetzt, an den leeren Zweigen, und auf dem Boden darunter lagerten graue Schichten toter Larven und Motten. Von dem Haus, das unter Bäumen stand, ging ein Geruch der Verwesung aus, der Arren abrupt an den entsetzlichen Traum der vergangenen Nacht erinnerte. Sie hatten das Haus noch nicht ganz erreicht, als die Tür aufflog und eine grauhaarige Frau mit geröteten Augen herausstürzte und schrie: »Fort, fort mit euch! Ihr Lumpenpack, ihr Diebe, ihr Verleumder, ihr Lügner, ihr Schafsköpfe, ihr Geschmeiß! Fort mit euch! Seid verflucht, ihr Gesindel!«
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Sperber blieb ziemlich überrascht stehen, dann hob er die Hand und vollführte eine seltsame Geste. Er sprach nur ein Wort: »Wende!« Die Frau blieb wie angewurzelt stehen, als sie das hörte. Sie starrte ihn an. »Warum hast du das getan?« »Um deinen Fluch von uns abzuwenden.« Sie starrte noch immer; schließlich sagte sie mit rauher Stimme: »Fremde?« »Aus dem Norden.« Sie näherte sich. Arren war zuerst versucht gewesen, über das alte Weib, das schreiend unter ihrer Tür stand, zu lachen. Doch als sie näherkam, schämte er sich. Sie war abstoßend und trug nur Lumpen, ihr Atem roch, doch ihre starrenden Augen sprachen von Schmerz und Pein. »Ich habe keine Macht zum Fluchen mehr«, sagte sie gequält, »keine Macht.« Sie ahmte Sperbers Geste nach. »Das macht man immer noch dort, wo du herkommst?« Er nickte. Sein Blick ruhte auf ihr, und sie schaute ihn an. Nach einer Weile veränderten sich ihre Züge, und sie fragte: »Wo ist dein Stab?« »Den zeige ich nicht hier, Schwester.« »Natürlich, du hast recht. Er hält dich vom Leben ab. Wie meine Macht: sie hat mich auch vom Leben abgehalten. Deswegen habe ich sie verloren Alles, was ich gewußt habe, alles habe ich verloren, all die Worte, all die Namen. Mit winzigen Fäden, wie Spinnenfäden, kamen sie mir aus den Augen und aus dem Mund heraus. Die Welt hat einen Riß, und alles Licht rinnt heraus. Und mit dem Licht verschwinden die Worte. Wußtest du das? Mein Sohn hockt den ganzen Tag da und blickt ins Dunkel. Er sucht den Riß in der Welt. Er sagt, er würde besser sehen, wenn er blind wäre. Er hat seine Färberhand verloren. Wir waren die Färber von Lorbanery. Schau her!« Sie schüttelte ihren dünnen, aber erstaunlich muskulösen Arm vor ihren Augen, der bis zum Ellenbogen von unaustilgbaren Farben schwach gestreift war. »Es läßt sich nie ganz von der Haut abwaschen«, sagte sie. »Aber der Geist, der läßt sich abwaschen, der erinnert sich nicht mehr an die Farben. Wer bist du?«
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Sperber antwortete nicht. Wiederum blickte er sie unverwandt an, und Arren, der daneben stand, wurde es unheimlich zumute. Plötzlich begann sie zu zittern und flüsterte: »Ich kenne dich...« »Gewiß. Gleich und gleich erkennt sich, Schwester.« Arren beobachtete gebannt, wie sie schreckensbleich vor dem Magier zurückwich und fliehen wollte — und doch von ihm angezogen wurde und das Verlangen hatte, sich ihm zu Füßen zu werfen. Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. »Willst du deine Macht zurückhaben, deine Kunst, die Namen? Ich kann sie dir wiedergeben.« »Du bist der Große«, flüsterte sie. »Du bist der König der Schatten, der Fürst des dunklen Reiches ...« »Nein, der bin ich nicht. Ich bin kein König. Ich bin ein Mensch, sterblich, dein Bruder und dir ähnlich.« »Aber du wirst nicht sterben?« »Doch, ich werde sterben.« »Aber du wirst zurückkehren und ewig weiterleben.« »Nein. Kein Mensch kann das.« »Dann bist du nicht... nicht der Große, der Fürst der Dunkelheit«, sagte sie mit gerunzelter Stirn und schaute ihn schräg und weniger furchtsam von der Seite an. »Aber du bist auch ein Großer. Gibt es denn zwei? Wie heißt du?« Sperbers harte Züge entspannten sich ein wenig. »Das kann ich dir nicht sagen«, sagte er sanft. »Ich werde dir etwas verraten«, sagte sie. Sie hatte sich aufgerichtet und blickte ihm nun voll ins Gesicht; in ihrer Stimme und in ihrer Haltung lag die Spur einstiger Würde. »Ich will nicht auf ewig weiterleben. Ich hätte viel lieber die Namen wieder zurück. Aber sie sind alle verschwunden. Namen spielen jetzt keine Rolle mehr. Es gibt keine Geheimnisse mehr. Willst du meinen Namen wissen?« Ihre Augen glänzten, ihre Hände ballten sich zu Fäusten; sie lehnte sich nach vorn und flüsterte: »Ich heiße Akaren.« Dann schrie sie laut auf: »Akaren, Akaren, ich heiße Akaren. Jetzt wissen alle meinen geheimen, meinen wahren Namen, und es gibt keine Geheimnisse, keine Wahrheit mehr, es gibt keinen Tod mehr — keinen Tod mehr — keinen Tod! « Sie schrie die
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letzten Worte laut schluchzend hinaus, und Schaum trat auf ihre Lippen. »Sei ruhig, Akaren!« Sie wurde ruhig. Tränen rannen ihr übers Gesicht, das schmutzig und teilweise von ihrem strähnigen, grauen Haar bedeckt war. Sperber nahm das verrunzelte, verweinte Gesicht zwischen seine beiden Hände und küßte sie ganz sacht auf die Augen. Sie stand regungslos da und hielt ihre Augen geschlossen. Dann flüsterte er einige Worte in der Ursprache in ihr Ohr und küßte sie noch einmal, dann ließ er sie los. Sie schaute ihn mit klaren Augen eine Weile nachdenklich und erstaunt an. Ein neugeborenes Kind blickt so auf seine Mutter, eine Mutter blickt so auf ihr Kind. Sie wandte sich langsam um und ging auf ihre Tür zu, trat ein und schloß sie hinter sich. Sie bewegte sich ruhig, und der staunende, stille Ausdruck blieb auf ihrem Gesicht liegen. Schweigend wandte sich der Magier um und ging zum Weg zurück. Arren folgte ihm. Er wagte nicht, irgendwelche Fragen zu stellen. Nachdem sie einige Schritte gegangen waren, hielt der Magier in dem verwahrlosten Baumgarten inne und sagte: »Ich habe ihren Namen von ihr genommen und gab ihr einen neuen. Und in gewissem Sinne ist sie wiedergeboren. Es blieb mir nichts anderes übrig.« Er sprach mit Mühe, und seine Stimme klang erstickt. »Sie war einst eine mächtige Frau«, fuhr er fort, »kein gewöhnliches Zauberweib oder Hexenbraumeisterin, sondern eine Frau, die bewandert war in den Hohen Künsten und die ihr Wissen benutzte, um Gutes und Schönes zu wirken, eine stolze, verehrenswerte Frau. Sie hat ein gutes Leben geführt, und alles war umsonst.« Er drehte sich brüsk um und ging den Pfad zwischen den Obstbäumen entlang. Er blieb neben einem Baum stehen, Arren den Rücken zugekehrt. Arren wartete auf ihn, im warmen, vom Schattenspiel der Blätter unterbrochenen Sonnenlicht. Er wußte, daß Sperber ihn nicht mit seinen Gefühlen belasten wollte, und er konnte ihm auch nicht helfen, weder mit Wort noch mit Tat. Doch er fühlte mit der ganzen Stärke seines Herzens den Schmerz seines Gefährten; seine Liebe war tiefer gewor-
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den als die romantische Flamme, die Verehrung, die er zuerst für ihn empfunden hatte; jetzt schmerzte sie ihn, denn sie kam aus der Tiefe seines Herzens und sie band ihn, untrennbar, an seinen Begleiter. Mitfühlen, Mitempfinden hatte seine Liebe gefestigt, hatte sie zu einem Ganzen geschlossen und ihr Bestand verliehen. Nach einer Weile kam Sperber durch den grünen Schatten der Bäume zu ihm zurück. Beide schwiegen. Seite an Seite gingen sie den Weg zum Dorf. Es war ziemlich heiß geworden. Der Regen der vergangenen Nacht hatte keine Spuren hinterlassen. Der Staub wirbelte unter ihren Füßen auf, als sie dahinschritten. Am Morgen war Arren der Tag bedrükkend und schwer erschienen, die Träume der Nacht hatten nachgewirkt. Doch jetzt kehrte das Wohlbehagen wieder in ihn zurück. Es gefiel ihm, abwechselnd in der brennenden Sonne und im kühlenden Schatten dahinzuwandern, ohne sich groß Gedanken über ihr ferneres Ziel zu machen. Er hätte nichts Besseres tun können, denn ihr Nachmittag verlief völlig ergebnislos. Sie unterhielten sich mit verschiedenen Männern, die in den Steinbrüchen arbeiteten, wo die zum Färben notwendigen Mineralien gewonnen wurden. Einige behaupteten, Emmelstein zuhaben, und Sperber handelte ihnen ein paar Steinsplitter ab, die ihm als Emmelsteine angeboten wurden. Die späte Nachmittagssonne brannte heiß auf ihre Köpfe und Nacken, als sie nach Sosara zurückkehrten. Sperber meinte: »In Wirklichkeit ist es ja blauer Malachit, aber ich bin sicher, daß sie in Sosara den Unterschied auch nicht kennen.« »Die Leute hier sind komisch«, stellte Arren fest. »Sie kennen keine Unterschiede. Es ist so mit allem. Gestern abend zum Beispiel hat der eine zum Bürgermeister gesagt: ›Du kannst ein wahres Azur nicht von blauem Dreck unterscheiden! ‹ Und sie beklagen sich über die schlimmen Zeiten und wissen gar nicht, wann sie eigentlich angefangen haben, und sie klagen über schlechte Qualität, tun aber nichts, um sie zu verbessern, sie wissen nicht einmal den Unterschied zwischen einem Handwerker und einem Zaubermeister, zwischen Kunsthandwerk und magischer Kunst. Mir kommt es vor, als hätten sie Unterschiede, Farben und Um-
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risse nicht ganz klar im Kopf. Alles kommt ihnen gleich vor, alles scheint ihnen grau zu sein.« »Stimmt«, sagte der Magier nachdenklich. Er marschierte eine Weile weiter, den Kopf zwischen gezogenen Schultern, falkenähnlich; obgleich er nicht besonders groß war, machte er lange Schritte: »Was fehlt ihnen?« Ohne zu zögern antwortete Arren: »Lebensfreude.« »Stimmt«, sagte Sperber wieder. Er grübelte eine Weile über Arrens Feststellung nach. »Ich bin froh«, sagte er schließlich, »daß ich dich dabeihabe und du für mich denkst, mein Junge... Ich bin müde und komme mir ganz dumm vor. Es hat mir wehgetan und es schmerzt mich noch immer, an sie zu denken, die einst Akaren gewesen war. Zerstörung und Verlust kann ich nur schwer ertragen. Ich will keinen Feind. Doch wenn ich einen haben muß, so will ich ihn nicht suchen und finden und mich stellen... Wenn man schon auf eine Suche ausziehen muß, dann sollte am Ende ein Schatz zu erringen sein und nicht dieses Verabscheuungswürdige auf einen warten.« »Ein Feind?« fragte Arren. Sperber nickte. »Als sie von dem Großen, von dem König der Schatten...?« Sperber nickte wieder. »Ich glaube, ja«, sagte er. »Ich glaube, wir müssen nicht nur einen Ort, sondern auch einen Menschen suchen. Schlimm, ganz schlimm ist es, was hier auf dieser Insel vor sich geht: dieser Verlust an handwerklichem Können, an Stolz, diese Gleichgültigkeit! Das ist das Werk eines bösen Willens. Und dieser Wille hat es noch nicht einmal auf diese Insel hier abgesehen, Akaren und Lorbanery sind ihm ganz gleichgültig. Das, was wir verfolgen, ist weit mehr als eine Spur, es ist eine breite Bahn der Zerstörung, es kommt mir vor, als verfolgten wir einen Wagen, der sich losgerissen hat und jetzt den Berg hinunterpoltert und eine Lawine auslöst.« »Hätte sie — Akaren — Ihnen nicht mehr über diesen Feind erzählen können — wer er ist, wo er ist und was er ist?« »Jetzt nicht, mein Junge«, sagte der Magier leise, und seine Stimme klang hoffnungslos. »Sicher hätte sie können. In ihrem Wahnsinn war noch Zauberkunst. Ja, ihr Wahnsinn war ihre Zauberkunst. Aber ich konnte
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sie nicht festhalten, damit sie mir Auskunft gebe. Sie hat zuviel gelitten.« Und er setzte seinen Weg fort, mit eingezogenem Kopf, als sei ihm selbst eine Last auferlegt, und als suche er verzweifelt, seinen Schmerz zu lindern. Arren wandte sich um, weil er glaubte, Fußgetrappel hinter sich zu vernehmen. Er sah einen Mann, der, noch ziemlich weit weg, hinter ihnen herlief. Der Abstand verringerte sich rasch. Der Staub des Weges und sein langes, zerzaustes Haar waren von der Abendsonne durchleuchtet und umgab ihn wie einen Heiligenschein; sein langer Schatten hüpfte und sprang von Stamm zu Stamm der Bäume, die entlang des Weges standen. »Haltet an!« rief er. »Hört zu! Ich habʹs gefunden! Ich habʹs gefunden!« Der Mann kam auf sie zugerannt. Arrens Hand griff flugs dorthin, wo sein Schwert gehangen hatte, und bekam nur Luft zu fassen, dann griff er dorthin, wo sein verlorenes Messer gewesen war, und fand wiederum nur Luft, dann ballte er die Hand zur Faust, alles innerhalb einer einzigen Sekunde; seine Brauen waren finster zusammengezogen, und er machte einen drohenden Schritt nach vorne. Der Mann war einen vollen Kopf größer als Sperber, breitschultrig, schweratmend, und seine Augen blickten wild um sich. »Ich habʹs gefunden!« wiederholte er immer wieder, während Arren ihn mit strengem Blick musterte und mit herrischer Stimme Einhalt gebieten wollte. »Was wollen Sie von uns?« fragte er ihn. Der Mann versuchte, um ihn herum auf Sperber zuzugehen. Arren vertrat ihm den Weg. »Du bist der Färber von Lorbanery«, sagte Sperber. Jetzt merkte Arren, daß er sich lächerlich benommen hatte, denn Sperber mußte nur sechs Worte sagen, und der Mann atmete ruhiger und stellte sein zielloses Gestikulieren mit seinen großen farbbefleckten Händen ein, sein Blick wurde weniger irr. Er nickte. »Ich war der Färber«, sagte er, »aber jetzt kann ich nicht mehr färben.« Er blickte Sperber von der Seite her an und grinste, dann schüttelte er seinen rötlichen, staubigen Haarschopf. »Du hast meiner Mutter den Namen weggenommen«, sagte er. »Jetzt kenne ich sie nicht mehr, und sie
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kennt mich nicht mehr. Sie mag mich immer noch, aber jetzt hat sie mich verlassen. Sie ist tot.« Arrens Herz krampfte sich zusammen, aber er sah, daß Sperber nur leicht den Kopf schüttelte. »Nein, nein«, sagte er. »Sie ist nicht tot.« »Aber sie wird tot sein. Sie wird sterben.« »Stimmt. Das ist eine Folge des Lebendigseins«, sagte der Magier. Der Färber stutzte und schien eine Weile über diese Worte nachzudenken, dann trat er auf Sperber zu, packte ihn an den Schultern und beugte sich über ihn. Das alles geschah so schnell, daß Arren ihn nicht daran hindern konnte, aber er stand so dicht bei ihm, daß er sein Flüstern vernahm: »Ich habe den Riß in der Dunkelheit gefunden. Der König stand dort. Er paßt darauf auf, der bewacht es. Er hat ein kleines Licht in der Hand, eine Kerze. Er hat geblasen, und sie ist erloschen. Dann blies er noch mal, und sie brannte wieder! Sie brannte!« Sperber wehrte sich nicht dagegen, festgehalten zu werden, und er gebot ihm nicht, lauter zu sprechen. Er fragte nur ganz schlicht »Wo warst du, als du das gesehen hast?« »Im Bett.« »Geträumt?« »Nein.« »Auf der anderen Seite der Mauer?« »Nein«, sagte der Färber, und seine Stimme klang ernüchtert; man sah, daß ihm unbehaglich wurde. Er gab die Schultern des Magiers frei und trat einen Schritt zurück. »Nein, ich ... ich weiß nicht, wo es ist. Ich habe es gefunden. Ich weiß nicht, wo.« »Und gerade das wüßte ich gern«, sagte Sperber. »Ich kann dir helfen.« »Wie?« »Du hast ein Boot. Du bist hierher gesegelt. Du segelst wieder fort damit. Nach Westen? Dort ist der Weg. Der Weg zu dem Ort, von dem er kommt. Es muß eine Stelle geben — hier —, denn er lebt ... er ist nicht wie die Geister, die Körperlosen, die über die Mauer gehen, nein, nein, er ist nicht so ... nur Seelen kommen über die Mauer, aber er hat einen Körper, sein Fleisch ist unsterblich. Ich habe gesehen, wie er die Flamme mit seinem
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Atem anblies, und er hat sie ausgelöscht. Das habe ich gesehen!« Ein ekstatischer Ausdruck kam über seine Züge und verlieh seinem Gesicht in dem späten, rotgoldnen Licht eine wilde Schönheit. »Ich weiß, daß er den Tod überwunden hat. Ich weiß es. Ich habe meine Zauberkunst hergeben müssen, um das zu wissen. Ich war nämlich Zauberer! Du weißt das! Und du gehst dorthin zurück. Nimm mich mit!« Das gleiche rotgoldne Licht fiel auf Sperbers Züge, doch sie blieben davon unberührt; sein Gesicht war hart. »Ich versuche, dorthin zu gehen«, sagte er. »Laß mich mitgehen!« Sperber nickte kurz. »Wenn du fertig bist, wenn wir absegeln«, sagte er, genauso kurz angebunden wie zuvor. Der Färber trat einen Schritt zurück, der triumphierende Ausdruck auf seinem Gesicht schwand, es bewölkte sich, und er starrte Sperber mit großen stieren Augen unverwandt an. Es war, als ob ein Gedanke sich langsam durch den Sturm von Gefühlen, Visionen und Worten quäle, der ihn verwirrte. Endlich wandte er sich von ihnen ab und hastete, ohne ein Wort zu sagen, den Weg wieder zurück, in den aufgewirbelten Staub hinein, der sich noch nicht wieder gesetzt hatte. Arren seufzte erleichtert auf. Auch Sperber seufzte, doch der Seufzer schien sein Herz nicht zu erleichtern. »Na ja«, sagte er, »auf seltsamen Wegen findet man seltsame Führer. Komm, gehen wir!« Arren marschierte im gleichen Schritt neben ihm her. »Sie werden ihn doch nicht mitkommen lassen?« fragte er. »Das bleibt ihm überlassen.« Und mir, dachte Arren, und Ärger wallte kurz in ihm auf. Doch er sagte nichts, und sie gingen schweigend weiter. Man empfing sie nicht sehr freundlich in Sosara. Auf einer Insel so klein wie Lorbanery bleibt nichts unbekannt, und man hatte zweifellos gesehen, wie sie vom Weg abgebogen und sich dem Haus des Färbers zugewandt und mit dem Irren gesprochen hatten. Der Gastwirt bediente sie unwillig, und seine Frau hatte Todesangst vor ihnen. Am Abend, als die Männer des Dorfes, wie es ihre Gewohnheit war, unter dem Dach-
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vorsprung entlang der Hauswand saßen, übergingen sie die Fremden sehr offensichtlich und bemühten sich, ein besonders lustiges und witziges Gespräch zu führen. Aber sie hatten wenig Ursache, lustig zu sein, und die Witzigkeit ging ihnen bald aus. Sie saßen und schwiegen eine lange Weile. Dann wandte sich der Bürgermeister an Sperber: »Haben Sie die blauen Steine bekommen?« »Ja, ich habe ein paar blaue Steine bekommen«, antwortete Sperber höflich. »Sopli hat Ihnen bestimmt gesagt, wo man sie bekommen kann.« »Hahaha«, ertönte es von der Wand. Die offensichtliche Ironie fand den Beifall aller. »Sopli? Ist das der rothaarige Mann?« »Der Irre. Heute morgen haben Sie mit seiner Mutter gesprochen.« »Ich habe einen Zauberer gesucht«, sagte der Zauberer. Der magere Mann, der ihm am nächsten saß, spuckte in die Dunkelheit. »Wozu?« »Ich habe gehofft, daß ich vielleicht das finden werde, was ich suche.« »Wenn Leute nach Lorbanery kommen, dann suchen sie Seide, nicht Steine«, stellte der Bürgermeister fest. »Sie suchen auch kein Zauberzeug, kein Mit-dem-Arm-Herumschwingen und Gefasel und Hexengeplänkel. Hier wohnen ehrliche Leute, die ein ehrliches Handwerk treiben.« »Das stimmt. Er hat recht«, ließen sich die anderen vernehmen »Wir brauchen kein fremdes Volk hier, keine Leute, die sich in unsere Angelegenheiten mischen und ihre Nase in Sachen stecken, die sie nichts angehen.« »Das stimmt. Er hat recht«, ertönte es im Chor. »Wenn wir Zauberer hätten, die nicht verrückt wären, dann würden wir sie in unseren Werkschuppen anstellen, aber die wissen ja nicht, was es heißt, ordentlich zu arbeiten.« »Sie wüßten es vielleicht schon, wenn es Arbeit gäbe«, sagte Sperber. »Aber eure Schuppen stehen ja leer, eure Bäume sind vernachlässigt, und die Seide in den Lagerhallen wurde schon vor Jahren gewoben. Was treibt ihr denn hier auf Lorbanery?«
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»Wir kümmern uns um unsere eigenen Angelegenheiten«, erwiderte der Bürgermeister barsch, aber der Magere unterbrach ihn aufgeregt: » Warum kommen denn keine Schiffe, he? Was ist denn los in Hort? Hat das mit unserer Seide zu tun, die nicht mehr die gleiche Qualität hat wie ...?« Wütende Stimmen unterbrachen ihn. Sie begannen untereinander zu streiten, sprangen auf, der Bürgermeister schüttelte die Faust dicht vor Sperbers Gesicht, ein anderer hielt plötzlich ein Messer in der Hand. Ihre Stimmung war umgeschlagen, ein wilder Taumel hatte sie erfaßt. Arren war aufgesprungen. Er blickte auf Sperber; er wartete darauf, daß der aufstehen würde und sich im plötzlichen Glanz seines magischen Lichtes vor ihnen erheben und sie mit seiner Macht zum Schweigen bringen würde. Aber er rührte sich nicht. Er blieb sitzen und blickte von einem zum anderen und hörte gelassen ihren Drohungen zu. Und allmählich verstummten sie. Sie konnten ihren Zorn genausowenig aufrechterhalten wie ihr Lustigsein. Das Messer verschwand in der Scheide. Die Drohungen milderten sich zu Beschimpfungen. Sie verließen die Kampfstätte wie Hunde nach einer Rauferei: die einen hocherhobenen Hauptes, die anderen den Schwanz eingezogen. Als sich die beiden allein fanden, stand Sperber auf, ging hinein in die Gaststätte und trank einen langen Schluck Wasser aus dem Krug, der neben der Tür stand. »Komm, Junge!« sagte er. »Mir reichtʹs hier.« »Zum Boot?« »Ja«; er legte zwei Silberstücke auf den Fenstersims, um für Bewirtung und Übernachtung zu zahlen. Dann hob er das leichte Bündel mit ihrer Kleidung auf die Schultern. Arren war müde und schläfrig, aber nachdem er einen Blick in die Gaststube geworfen hatte, die stickig und düster war, und in deren Gebälk das unaufhörliche Piepsen und Rascheln der Fledermäuse zu vernehmen war, erinnerte er sich wieder an die vergangene Nacht: Er folgte Sperber gern. Auch hoffte er, als sie die einzige Straße von Sosara in der Dunkelheit hinabschritten, daß sie nun diesem Sopli entweichen würden. Aber als sie den Hafen erreichten, fanden sie ihn wartend an der Anlegestelle.
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»Da bist du ja«, sagte der Magier. »Geh an Bord, wenn du mitkommen willst.« Ohne ein Wort zu reden, stieg Sopli ins Boot und kauerte sich beim Mast nieder wie ein großer, zottiger Hund. Das überstieg Arrens Geduld. »Mein Gebieter!« sagte er. Sperber wandte sich um. Sie standen sich gegenüber. »Die Leute hier auf der Insel sind alle verrückt. Ich dachte, Sie seien es nicht. Warum nehmen Sie ihn mit?« »Als einen Führer.« »Als Führer — in den Wahnsinn? Zum Tod durch Ertrinken oder mit einem Messer im Rücken?« »Zum Tod, ja — aber auf welchem Weg weiß ich nicht.« Arren war erregt, und obgleich Sperbers Stimme ruhig klang, so lag doch ein warnender Unterton darin. Er war nicht gewohnt, zur Rede gestellt zu werden. Doch seit Arren am Spätnachmittag versucht hatte, ihn vor dem Irren auf der Straße zu schützen und gemerkt hatte, wie unnötig und umsonst sein Schutz gewesen war, fühlte er eine Bitternis in sich, und das überwältigende Gefühl der Zuneigung, das ihn am Morgen überkommen hatte, war verschwunden und ausgelöscht. Er war nicht in der Lage, Sperber zu schützen, er durfte keine Entscheidung fällen, ja er wußte oder verstand nicht einmal, was sie nun eigentlich suchten. Er wurde nur mitgeschleppt, er war so unnütz wie ein Kind. Aber er war kein Kind mehr. »Ich möchte mich nicht mit Ihnen streiten«, sagte er, so kalt er es vermochte. »Doch das hier — das übersteigt die Vernunft.« »Es übersteigt die Vernunft. Wir gehen dorthin, wo uns die Vernunft nicht weiterhilft. Kommst du oder kommst du nicht?« Tränen des Zornes traten in Arrens Augen. »Ich habe gesagt, daß ich mitkommen und Ihnen dienen werde. Ich bin nicht wortbrüchig.« »Dann ist es gut«, sagte der Magier und wandte sich schroff ab; doch dann schien er sich zu besinnen und drehte sich Arren zu: »Ich brauche dich, Arren, und du brauchst mich. Jetzt kann ich es dir sagen: dem Weg, dem wir folgen, dem mußt du folgen, nicht aus Gehorsam und Ergebenheit mir gegenüber, sondern weil er für dich bestimmt war,
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noch bevor du mich gesehen, bevor du deinen Fuß auf Rok gesetzt und bevor du Enlad verlassen hast. Du kannst nicht umkehren.« Seine Stimme war nicht weicher geworden. Arren antwortete im gleichen kalten Ton: »Wie könnte ich denn umkehren? Ohne Boot, hier am Rande der Welt?« »Das hier der Rand der Welt? Nein, der liegt weiter draußen. Viel weiter. Wir kommen vielleicht noch dorthin.« Arren nickte kurz und sprang ins Boot. Sperber löste das Seil und sprach einen leichten Wind in das Segel. Als sie die finster aufragenden, leeren Docks von Lorbanery hinter sich hatten, blies eine frische Brise aus dem dunklen Norden, kühl und rein, und der Mond goß sein silbernes Licht über das glatte Wasser. Er zog links von ihnen seine Bahn, als sie die Küste der Insel in südlicher Richtung umsegelten.
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DER IRRE
DER IRRE, DER EINSTIGE FÄRBER von Lorbanery, kauerte beim Mast, hielt seine Knie mit den Armen umschlungen und den Kopf gesenkt. Sein struppiger Haarschopf sah schwarz aus im Licht des Mondes. Sperber hatte sich in eine Decke gewickelt und schlief im Heck des Bootes. Keiner von beiden rührte sich. Arren saß aufrecht im Bug. Er hatte sich geschworen, die ganze Nacht wach zu bleiben und aufzupassen. Wenn der Magier annahm, daß ihr wahnsinniger Passagier weder ihn noch Arren in der Nacht anfallen würde, so war das seine Sache; er, Arren, traf seine eigenen Entschlüsse, er hatte seinen eigenen Pflichten nachzukommen. Doch die Nacht war lang und ruhig. Das Licht des Mondes ruhte still auf dem Wasser. Sopli, am Mast kauernd, schnarchte langsam und leise vor sich hin. Das Boot glitt ruhig über die glatte Fläche, und der Schlaf überkam Arren, ohne daß er es merkte. Er schreckte kurz auf und sah, daß der Mond sich kaum verändert hatte; er gab seine selbstgewählte Schützerrolle auf und legte sich, nachdem er sich ein bequemes Lager hergerichtet hatte, zum Schlaf nieder. Wieder träumte er, was er auf dieser Reise immer zu tun schien, und zunächst waren die Träume unzusammenhängend, doch auf eine seltsame Weise erfreulich und beglückend. Dort, wo der Weitblick-Mast war, wuchs jetzt ein Baum mit weiten, überhängenden, dichtbelaubten Zweigen; Schwäne, die sich mit mächtigen Schwingen vor ihnen niederließen, leiteten das Boot; weit vor ihnen, über der beryllfarbenen See, schimmerten die weißen Türme einer Stadt, jetzt befand er sich in einem dieser Türme und eilte leichtfüßig eine Wendeltreppe hinauf. Diese Bilder verwoben und veränderten sich, kamen und gingen und schoben sich zwischen andere Träume, die keine Spuren hinterließen;
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doch plötzlich befand er sich wieder in dem schrecklichen, düsteren Dämmerlicht auf dem Moor, und die Furcht wuchs und wurde immer stärker in ihm, bis er nicht mehr atmen konnte. Doch er bewegte sich immer weiter, weil er weitergehen mußte. Später, viel später, merkte er, daß sein Vorwärtsgehen nur ein Kreis gewesen, daß er auf seine eigene Spur gestoßen war. Aber etwas in ihm zwang ihn, einen Weg zu finden, er mußte hier herauskommen. Und die Aufgabe wurde immer zwingender, immer notwendiger. Er fing an zu laufen. Doch als er rannte, wurden die Kreise immer enger, und der Boden begann sich zu neigen. Er rannte in die immer unheimlicher werdende Dunkelheit hinein, immer schneller, am Rande eines abgrundtiefen, runden Schachtes entlang, der wie ein riesiger Strudel alles in sich einzusaugen schien: und als er das wahrnahm, stolperte er und fiel auf den Boden. »Was ist los, Arren?« Sperber sprach vom Heck des Schiffes her. Eine fahlgraue Morgendämmerung hielt See und Himmel in ihrem Bann. »Nichts.« »Ein Traum?« »Nichts.« Arren fror; sein rechter Arm, der unter ihm eingezwängt gewesen war, schmerzte. Er schloß die Augen vor dem immer heller werdenden Licht und dachte: »Er spielt mal auf das und mal auf jenes an; nie sagt er mir deutlich, wo wir nun eigentlich hingehen oder warum ich da hingehen soll. Und jetzt schleppt er noch diesen Wahnsinnigen mit. Es ist verrückt, ihm zu folgen, aber wer ist der Verrücktere, ich oder der Irre? Die zwei verstehen sich vielleicht ganz gut, die Zauberer sind ja jetzt die Wahnsinnigen, hat dieser Sopli gesagt. Ich könnte jetzt daheim in Berila sein, in meinem Zimmer mit den geschnitzten Wänden und den roten Teppichen auf dem Boden; im Kamin würde ein Feuer lodern, und ich würde aufwachen und dann mit meinem Vater auf die Falkenjagd gehen. Warum bin ich mit ihm gegangen? Warum hat er mich mitgenommen? Weil es mein vorbestimmter Weg sei, hat er gesagt. Aber das ist nichts als Zauberergeschwätz, die machen ja große Worte um nichts
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und wieder nichts. Und die Bedeutung der Worte liegt immer woanders. Wenn mir ein Weg vorherbestimmt ist, dann ist es der, der nach Hause, nicht einer, der in die Außenbereiche führt. Ich habe Pflichten zu erfüllen daheim, und ich gehe ihnen aus dem Weg. Wenn er wirklich glaubt, daß es irgendwo einen Feind der Zauberkunst gibt, warum ist er dann allein, nur mit mir, ausgezogen? Er hätte einen anderen Magier mitnehmen können, der ihm hätte helfen können — Hunderte hätte er mitnehmen können; er hätte eine ganze Heerschar, eine ganze Flotte mitnehmen können. Wenn wirklich eine große Gefahr bestünde, wäre es dann klug, nur einen alten Mann und einen Knaben in einem Boot ausziehen zu lassen? Es war reiner Wahnsinn. Er war selbst verrückt. Es ist so, wie er gesagt hat: er selbst sucht den Tod. Er sucht den Tod, und er will mich mitnehmen. Aber ich bin nicht verrückt und nicht alt; ich will noch nicht sterben; ich werde nicht mit ihm gehen.« Er stützte sich auf seinen Ellbogen und schaute nach vorne. Der Mond, der bei der Ausfahrt aus der Bucht von Sosara vor ihnen aufgegangen war, stand wieder direkt vor ihnen, doch jetzt wurde er immer blasser. Hinter ihm begann, fahl und matt, ein neuer Tag. Keine Wolken waren zu sehen, der ganze Himmel schien aus einer bleichen Decke zu bestehen. Als der Tag voll angebrochen war, wurde es heiß, aber die Sonne war verhüllt, sie schien ohne Glanz. Den ganzen Tag lang segelten sie an der Küste von Lorbanery entlang, die sich niedrig und grün rechter Hand hinzog. Eine leichte Brise blies vom Land her und füllte ihr Segel. Gegen Abend kamen sie an einem langen, letzten Vorgebirge vorbei; die Brise legte sich. Sperber sprach einen magischen Wind in das Segel, und wie sich ein Falke vom Gelenk des Jägers erhebt, so richtete sich die Weitblick auf und flog, die Seideninsel rasch hinter sich lassend, über die See. Sopli, der Färber, hatte den ganzen Tag zusammengekauert am Mast verbracht, er hatte offensichtlich Angst vor dem Boot und Angst vor dem Meer; er war seekrank und bot ein Bild des Jammers. Jetzt sprach er, mühsam und heiser: »Fahren wir nach Westen?« Die Abendsonne schien ihm voll ins Gesicht, doch Sperber, der bei seinen dümmsten Fragen nicht die Geduld verlor, nickte.
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»Nach Obehol?« »Liegt Obehol westlich von hier?« »Ganz weit westlich. Vielleicht ist dort der Ort?« »Wie sieht er aus, der Ort?« »Woher soll ich das wissen? Wie konnte ich ihn denn sehen? Er ist nicht auf Lorbanery! Ich habʹ jahrelang danach gesucht, vier, fünf Jahre, in der Dunkelheit, in der Nacht, meine Augen waren fest zu, und immer hat er gerufen ›Komm! Komm!‹, aber ich konnte nicht kommen. Ich bin kein großer Zauberer, der sich dort, wo es immer dunkel ist, auskennt. Aber es gibt einen Ort, wo Licht ist, wo sogar die Sonne scheint. Und Mildi und meine Mutter haben das nicht verstanden. Die haben immer nur dort, wo es dunkel ist, gesucht. Dann ist der alte Mildi gestorben, und meine Mutter wurde verrückt. Sie hat die Formel vergessen, die wir beim Färben benutzten, und das hat sie nicht verkraftet. Sie wollte sterben, aber ich habʹ gesagt, sie soll warten, bis ich den Ort gefunden habʹ. Es muß einen geben. Wenn die Toten in diese Welt zurückkehren können, dann muß es irgendwo einen Ort geben, wo das geschieht.« »Kommen die Toten zurück ins Leben?« »Ich habʹ gedacht, daß du das weißt«, sagte Sopli nach einer Pause und schaute Sperber prüfend von der Seite an. »Ich versuche, es herauszufinden.« Sopli erwiderte nichts. Der Magier schaute ihm plötzlich voll ins Gesicht, seine Augen waren forschend und zwingend auf ihn gerichtet, doch seine Stimme war sanfter als zuvor: »Sopli, willst du herausfinden, wie man ewig weiterleben kann?« Sopli blickte kurz auf, dann barg er seinen zerzausten, braunroten Haarschopf in den Armen, und schaukelte sich hin und her, während er mit den Händen seine Fußgelenke umklammert hielt. Diese Stellung schien er immer einzunehmen, wenn er Angst hatte, und wenn er sich in ihr befand, dann war er nicht ansprechbar und schien nicht wahrzunehmen, was um ihn herum vorging. Arren wandte sich angewidert zur Seite, Soplis Benehmen stieß ihn ab. Wie konnten sie tage- oder wochenlang mit Sopli in einem sechs Meter langen Boot zubringen? Es war,
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als ob man den gleichen Körper mit einer von Krankheit zersetzten Seele zu teilen hätte. Sperber kam nach vorne und ließ sich mit einem Knie auf die Ruderbank nieder. Er schaute in das gelbliche Abendlicht und sagte: »Der Mann hat ein weiches Herz.« Arren gab keine Antwort. Er fragte nur kalt: »Was ist Obehol? Den Namen habe ich noch nie gehört.« »Ich kenne nur den Namen der Insel und weiß, wo sie auf der Seekarte liegt... Schau her, die Gefährten von Gobardon!« Der große topasfarbene Stern stand jetzt höher im Süden und unter ihm erhoben sich, aus dem trüben Dunst über dem Meer aufsteigend, zwei weitere Sterne, ein weißer Stern links und ein bläulich-weißer rechts, und formten ein Dreieck mit Gobardon. »Wie heißen sie?« »Meister Namengeber wußte es nicht. Vielleicht wissen es die Leute auf Obehol und Wellogy. Ich kenne sie nicht. Wir befinden uns auf fremden Meeren, Arren, und wir segeln unter dem Zeichen des Endens.« Der Junge antwortete nicht. Er schaute mit Widerwillen auf die hellen, namenlosen Sterne, die sich über dem endlosen Wasser erhoben. Die Tage verstrichen. Sie segelten immer weiter nach Westen; die südliche Frühlingssonne lag warm auf dem Wasser, und ein heller Himmel wölbte sich über sie. Doch Arren kam es vor, als sei das Licht gedämpft, wie Licht, das schräg durch Glas fällt. Die See war lauwarm und wenig erfrischend, wenn er darin schwamm. Ihre eingesalzenen Nahrungsmittel schmeckten fad. Alles Frische, alles Klare war verschwunden, das Tageslicht selbst schien getrübt, nur die Nächte waren wie früher, ja, es schien sogar, als ob die Sterne hier in einem helleren Glanz funkelten. Er legte sich auf den Rücken und schaute hinauf zu ihnen, bis ihn der Schlaf überkam. Und wenn er eingeschlafen war, dann kam der Traum: immer wieder der gleiche Traum von dem Moor, oder von dem runden Schacht, oder von einem Tal, das von hohen Felswänden umgeben war, oder von einem Weg, der unter einem tiefverhangenen Himmel immer weiter abwärts führte; alles lag in einem Halbdunkel, und er
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war umgeben von einem Grauen und Entsetzen, dem er vergeblich zu entrinnen versuchte. Mit Sperber sprach er nie darüber. Er sprach überhaupt nur Belangloses mit ihm, meist hing es mit dem täglichen Segeln zusammen; Sperber, aus dem man schon immer jedes Wort hatte herausquetschen müssen, schwieg nun dauernd. Arren sah jetzt ein, welch ein Narr er gewesen war, als er sich mit Leib und Seele diesem ruhelosen, verschwiegenen Mann anvertraut hatte, der sich von Impulsen beherrschen ließ und keinerlei Anstrengung machte, sein Leben vernünftig zu führen, und selbst dem Tode nicht auszuweichen schien. Eine verwegene Stimmung war über Sperber gekommen, und Arren glaubte den Grund dafür zu wissen: Sperber wollte sein eigenes Versagen nicht wahrhaben — das Versagen der Zauberkraft, wollte nicht wahrhaben, daß sie keine Macht mehr hatte. Denjenigen, denen die Geheimnisse der Zauberkunst vertraut waren, war bewußt geworden, daß es mit der magischen Kunst, aus der Sperber und all die Generationen von Zauberern und Hexenmeister so viel Aufhebens gemacht hatten, im Grunde wenig auf sich hatte. Sie konnten Wind und Wetter handhaben, sie kannten die Heilkräuter, sie waren bewandert in Illusionsküsten mit Nebel, Licht und Verwandlungen, mit denen sie Uneingeweihte beeindrucken konnten, die aber letzten Endes doch nichts weiter als Tricks waren. Die Wirklichkeit blieb unangetastet. Magische Kunst gab keinem Menschen Macht über einen anderen, und gegen den Tod war auch sie wirkungslos. Magier lebten auch nicht länger als gewöhnliche Menschen. All ihren geheimen Worten gelang es nicht, ihre Sterbestunde auch nur für kurze Zeit hinaus zu schieben. Selbst in alltäglichen Dingen war nur wenig damit anzufangen. Sperber war immer sehr geizig mit seinen Künsten, sie segelten mit dem Wind der Welt, wenn immer es möglich war, sie fischten, um sich zu ernähren, und er war mit dem Wasser so sparsam wie jeder andere Seemann. Nach vier Tagen ununterbrochenen Kreuzens in einem unbeständigen Gegenwind fragte Arren, ob er nicht einen kleinen achterlichen
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Wind in ihre Segel rufen könne, und als der den Kopf verneinend schüttelte, fragte Arren: »Warum nicht?« »Ich würde von keinem kranken Menschen verlangen, daß er ein Wettrennen laufe«, sagte Sperber, »und ich würde auch keinen Stein auf einen Rücken legen, der sich unter einer schweren Last krümmt.« Es war nicht klar, ob er von sich selbst, oder von der Welt im allgemeinen sprach. Seine Antworten kamen immer widerwillig heraus und waren immer schwer verständlich. Das, dachte Arren, war im Grunde die ganze Zauberkunst: auf gewichtige Dinge anspielen, in Wirklichkeit aber doch nichts sagen und Nichtstun als die Krone der Weisheit hinzustellen. Arren hatte versucht, Sopli zu ignorieren, aber das war unmöglich; es kam sogar bald so weit, daß er in ihm eine Art Verbündeten sah. Sopli war nicht so verrückt, oder wenigstens nicht so einfach verrückt, wie sein wildes Haar und seine bruchstückhafte Rede es vermuten ließen. Das Verrückteste an ihm war seine maßlose Furcht vor dem Wasser. Es mußte ihn ungeheuren Mut gekostet haben, in das Boot zu steigen, und seine Furcht hatte sich seither kaum gelegt, er hielt seinen Kopf dauernd gesenkt, hauptsächlich, um nicht auf das Wasser blicken zu müssen, das sich unaufhörlich um ihn herum hob und senkte. Das Aufstehen machte ihn schwindlig, und er klammerte sich am Mast fest. Als Arren das erste Mal einen Kopfsprung vom Boot aus ins Wasser machte, schrie Sopli voll Entsetzen auf; als Arren ins Boot zurückgeklettert kam, sah der arme Kerl ganz grünlich aus vor Angst. »Ich dachte, du wolltest dich ertränken«, sagte er, und Arren mußte lachen. Am Nachmittag des gleichen Tages, als Sperber meditierend im Boot saß und nicht wahrnahm, was um ihn herum vor sich ging, kam Sopli vorsichtig über die Ruderbank zu Arren gerutscht. Er sagte leise: »Du willst nicht sterben, oder?« »Natürlich nicht.« »Er will«, sagte Sopli und bewegte sein Kinn leicht in Sperbers Richtung. »Warum sagst du das?«
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Arren sprach in einem gebieterischen Ton mit ihm, der ihm ganz selbstverständlich schien, und den Sopli auch als ganz natürlich hinnahm, obwohl er mindestens zehn bis fünfzehn Jahre älter als Arren war. Er antwortete bereitwillig und ziemlich normal, doch war seine Rede, wie immer, unzusammenhängend. »Er will zu dem geheimen Ort gelangen ... Ich weiß aber nicht, warum. Er will nicht... Er glaubt nicht an das ... das Versprechen.« »Welches Versprechen?« Sopli warf ihm einen kurzen Blick zu; etwas von seiner verlorenen männlichen Würde schien gekränkt zu sein. Doch Arrens Wille war stärker. Er antwortete flüsternd: »Du weißt doch... Das Leben... das ewige Leben.« Arrens Körper durchlief es eiskalt. Er erinnerte sich an seine Träume: das Moor, der runde Schacht, die Felsen, das trübe Licht. Das war der Tod, das war das Grauen des Todes. Der Tod war es, dem er entrinnen mußte, dieser Weg war es, den er suchte. Und auf der Schwelle stand eine Gestalt, von Schatten eingehüllt, die ihm ein kleines Licht, nicht größer als eine Perle, entgegenhielt, das glimmende Licht unsterblichen Lebens. Zum ersten Mal blickte Arren in Soplis Augen: sie waren hellbraun und ganz klar, und er sah darin, daß er endlich verstanden hatte und daß Sopli dieses Wissen mit ihm teilte. »Er«, sagte der Färber, und wiederum zuckte sein Kinn in Sperbers Richtung, »er will seinen Namen nicht hergeben. Und niemand kann seinen Namen dorthin mitnehmen. Der Weg ist viel zu schmal.« »Hast du ihn gesehen?« »Im Dunkel, in meinem Geist. Das genügt nicht. Ich will ihn sehen; mit meinen Augen, in dieser Welt will ich ihn sehen. Wenn ich — wenn ich sterben würde und den Weg, den Ort, nicht finden könnte? Die meisten Leute finden ihn nicht, die wissen nicht einmal, daß er existiert. Nur manche haben die Macht. Aber es ist schwer, denn man muß seine Macht aufgeben, um dorthin zu gelangen ... Keine Worte mehr, keine Namen. Es ist zu schwer, man kann es nicht im Geist tun. Und ... wenn man ... stirbt..., der Geist... der... stirbt auch.« Er stockte bei jedem
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Wort. Dann fuhr er fort: »Ich will wissen, ob ich zurückkommen kann. Ich will dorthin, auf die andere Seite des Lebens. Ich will leben, ich will sicher sein. Ich hasse ... ich hasse dieses Wasser...« Der Färber krümmte sich zusammen, wie es eine Spinne tut, wenn sie herunterfällt, und er zog den Kopf mit dem krausen roten Haar tief zwischen die Schultern — er konnte den Anblick des Wassers nicht ertragen. Arren vermied es von nun an nicht mehr, sich mit Sopli zu unterhalten. Jetzt wußte er, daß Sopli nicht nur seine Träume, sondern auch seine Furcht teilte, und daß er, wenn es zum Alleräußersten kommen sollte, einen Verbündeten gegen Sperber haben würde. Tagaus, tagein segelten sie gen Westen. In der Windstille und den unberechenbaren Brisen kamen sie nur langsam vorwärts, dorthin, wohin Sopli sie leitete, wie Sperber vorgab. Doch Sopli leitete sie nicht, denn er, der überhaupt nichts vom Meer verstand, der noch nie eine Seekarte gesehen hatte, der noch nie zuvor in einem Boot gesessen hatte, er hatte eine tödliche Angst vor dem Wasser. Der Magier leitete sie, und er führte sie mit Absicht ins Unheil. Das war Arren inzwischen ganz klar, und er wußte auch, warum er das tat. Der Erzmagier hatte erkannt, daß sie und noch andere das ewige Leben suchten, daß es ihnen versprochen worden war, daß sie davon angezogen wurden und es vielleicht finden würden. Und in seinem Stolz, in seinem maßlosen Stolz als Erzmagier fürchtete er, daß sie es möglicherweise erlangen könnten; er beneidete und fürchtete sie, denn er konnte nicht zulassen, daß es einen Menschen gab, der größer als er selbst war. Daher war er entschlossen, hinaus auf die hohe See zu segeln, fern von allen Küsten, bis sie völlig verloren waren und nie mehr ihren Weg zurück zur bewohnten Welt finden würden; dort würden sie den Tod des Verdurstens erleiden. Er selbst war bereit zu sterben, nur um zu verhindern, daß sie das ewige Leben erlangten. Doch ab und zu sprach Sperber zu ihm über irgendeine Nebensächlichkeit, die sich auf das Segeln oder auf das Boot bezog, oder er schwamm mit ihm in dem warmen Wasser oder wünschte ihm eine gute Nacht unter den helleuchtenden Sternen, und in diesen Augen-
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blicken kamen dem Jungen all diese Gedanken völlig unsinnig vor. Er blickte seinem Gefährten ins Gesicht, er sah seine harten, strengen, geduldigen Züge, und er dachte: »Das ist mein Gebieter und mein Freund.« Und es kam ihm unfaßbar vor, daß er an ihm hatte zweifeln können. Doch kurz danach stiegen wiederum Zweifel in ihm auf, und er und Sopli warfen sich warnende Blicke zu, die sie gegen ihren gemeinsamen Feind verbündeten. Die Sonne schien jeden Tag gleichbleibend heiß, doch fehlte es ihr an Glanz. Ihr Licht lag matt auf den langsam dahinrollenden Wellen des Meeres. Wasser und Himmel waren gleichmäßig blau, ohne Unterschiede, ohne Schattierungen. Die Brisen erhoben sich kurz und starben dann wieder ab, und sie wandten das Segel, um den Wind aufzufangen und bewegten sich langsam vorwärts, keinem Ufer, keinem Land entgegen, sondern dorthin, wo es kein Ende gab. Ein Nachmittag kam, an dem sie einen stetigen, achter liehen Wind hatten. Sperber deutete nach oben, als der Sonnenuntergang nahe war und sagte: »Schau!« Hoch über dem Mast flog eine Schar Wildgänse in einer krummen Linie, die wie eine schwarze Rune aussah, über den hellen Himmel. Die Gänse flogen nach Westen: die Weitblick, ihnen folgend, steuerte Land an am nächsten Tag; es schien eine große Insel zu sein. »Das ist es«, sagte Sopli. »Dieses Land, dort müssen wir hingehen.« »Der Ort, den du suchst, der ist dort?« »Ja. Wir müssen landen. Weiter können wir nicht fahren.« »Das muß die Insel Obehol sein. Weiter westlich ist eine andere Insel, Wellogy. Und es gibt noch mehr Inseln, weiter draußen im Westbereich. Bist du sicher, Sopli?« Der Färber von Lorbanery wurde zornig, und der verstörte Ausdruck kehrte in seine Augen zurück, aber Arren fand, daß er nicht irr redete, nicht wie damals, vor vielen Tagen, als sie zum ersten Mal mit ihm auf Lorbanery gesprochen hatten. »Ja. Dort müssen wir landen. Wir sind weit genug gefahren. Der Ort, den wir suchen, ist hier. Soll ich schwören, daß ich es weiß? Soll ich bei meinem Namen schwören?« »Das kannst du nicht«, sagte Sperber mit harter Stimme und schaute zu Sopli auf, der einen Kopf größer war als er. Sopli war aufgestanden
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und klammerte sich am Mast fest, um zu dem Land hinüber zu blicken. »Versuch es nicht, Sopli!« Der Färber sah böse drein, Wut und Schmerz mischten sich auf seinem Gesicht. Er schaute auf die Berge, die blau in der Ferne vor ihnen lagen, über die rollende, bewegte Wasserfläche und sagte: »Du hast mich als Führer mitgenommen. Das ist der Ort. Wir müssen hier landen.« »Wir gehen so oder so an Land hier, denn wir brauchen Wasser«, erwiderte Sperber und übernahm die Ruderpinne. Sopli kauerte wieder an seinem Platz neben dem Mast, und Arren hörte, wie er unablässig vor sich hinmurmelte: »Ich schwör bei meinem Namen, bei meinem Namen«, und jedes Mal, wenn er es sagte, verzog sich sein Gesicht, als litte er große Schmerzen. Der Wind blies aus dem Norden, als sie sich der Insel näherten und im heißen Sonnenlicht der Küste entlang segelten, um eine Bucht oder einen Landeplatz zu finden. Doch die Wellen brandeten mit donnerndem Getöse überall an die schroffe nördliche Küste. Weiter drinnen auf der Insel erhoben sich Hügel, die, von Sonnenlicht übergössen, bis an die Gipfel von Bäumen bekleidet waren. Sie umsegelten ein Vorgebirge und sahen endlich eine tiefe, sichelförmige Bucht mit weißem Sandstrand vor sich liegen. Die Wellen rollten sanft ans Ufer, ihre Wucht wurde von dem Vorgebirge abgehalten. Hier konnte ein Boot landen. Kein Mensch war am Ufer oder in den Wäldern, die sich dahinter erhoben, zu sehen; kein Boot, kein Dach, keine Rauchspur war sichtbar. Die leichte Brise starb ab, sobald die Weitblick in die Bucht segelte. Alles war ruhig und still. Die Sonne brannte. Arren übernahm die Ruder. Sperber steuerte. Das Knirschen der Ruder in den Dollen war das einzig vernehmbare Geräusch. Die grünen Gipfel ragten über der Bucht auf, schlössen sie ein. Die Sonne lag wie ein glühendheißes Laken über dem Wasser. Arren hörte sein Blut in den Ohren pulsieren. Sopli hatte die Sicherheit des Mastes aufgegeben und hielt sich, im Vorderteil des Schiffes kauernd, am Dollbord fest. Seine Augen waren starr aufs Land gerichtet. Sperbers dunkles, vernarbtes Gesicht war schweißbedeckt und glänzte, als sei es geölt; seine Augen
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schweiften unablässig von den niedrigen Brandungswellen hinauf zu den grünbewachsenen Höhen und wieder zurück. »Jetzt«, sagte er zu Arren und dem Boot. Arren zog die Riemen dreimal kräftig durch, und die Weitblick glitt hinauf auf den Sand und setzte sanft auf. Sperber sprang aus dem Boot, um es mit Hilfe der letzten Welle vollends das Ufer hinauf zu schieben. Als er seine Hand ausstreckte, stolperte er und wäre gefallen, wenn er sich nicht am Heck festgehalten hätte. Unter Aufbietung aller Kräfte zog er das Boot zurück ins Wasser, als die Welle zurückrollte, und warf sich selbst hinein ins Boot, gerade als es zwischen Wasser und Ufer hing. »Rudere!« keuchte er vor Anstrengung und versuchte, während das Wasser an ihm hinabströmte, auf alle viere gestützt, ruhiger zu atmen. In seiner Hand hielt er einen Speer — einen halben Meter langen Wurfspeer mit einer Bronzespitze. Woher war der gekommen? Ein anderer Speer kam geflogen, während Arren verwirrt die Ruder in den Händen hielt. Der Speer schlug an der Seite der Ruderbank auf, zersplitterte das Holz und prallte, sich überschlagend, zurück. Auf den niedrigen Hügeln und am Ufer unter den Bäumen sah man Menschen rennen, die sich hinter den Büschen duckten. Die Luft war erfüllt von einem pfeifenden, zischenden Geräusch. Arren zog schleunigst den Kopf ein, beugte sich nach vorne und ruderte mit mächtigen Schlägen: zwei genügten, um sie aus den Untiefen herauszubringen, mit drei weiteren hatte er das Boot herumgedreht und trieb es mit Leibeskräften über die Bucht davon. Sopli, im Bug des Schiffes hinter Arrens Rücken stehend, begann zu schreien. Arrens Arme wurden plötzlich gepackt, so daß die Riemen aus dem Wasser hochschössen. Das Ende eines Riemens stieß in seine Magengrube. Es wurde ihm einen Augenblick lang schwarz vor den Augen und verschlug ihm den Atem. »Dreh um! Dreh um!« schrie Sopli. Das Boot schlingerte und rollte steuerlos auf dem Wasser. Arren wandte sich um, sobald er die Riemen wieder zu fassen bekam. Er war wütend. Sopli war plötzlich nicht mehr an Bord. Das tiefe Wasser der Bucht hob und senkte sich leise und schillerte im Sonnenlicht.
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Arren, wie vor den Kopf geschlagen, blickte erst um sich, dann auf Sperber, der im Heck des Schiffes kauerte. »Hier«, sagte Sperber und deutete auf eine Stelle neben dem Boot, aber da war nichts zu sehen außer dem Wasser und dem blendenden Schimmer des Sonnenlichtes. Ein Speer, mit einer Wurfstange geschleudert, landete dicht beim Boot und verschwand geräuschlos im Wasser. Arren zog kräftig durch und brachte das Boot zehn oder zwölf Schläge weiter weg vom Ufer, dann hielt er inne und blickte fragend auf Sperber. Sperbers Hände und sein linker Arm waren blutüberströmt; er preßte ein Stück zusammengelegte Leinwand gegen seine Schulter. Der Speer mit der Bronzespitze lag am Boden. Er hatte ihn nicht gehalten, wie Arren im ersten Moment angenommen hatte, sondern er war aus seiner Schulter geragt, aus dem Oberarm, wo die Spitze eingedrungen war. Jetzt ließ Sperber den Blick prüfend über das Wasser gleiten, das sich zwischen ihnen und dem weißen Strand erstreckte und betrachtete die vielen kleinen Gestalten, die im heißen Sonnengeflimmer hin- und herrannten. Schließlich sagte er: »Fahr weiter!« »Sopli...« »Er ist nicht wieder aufgetaucht.« »Ist er ertrunken?« fragte Arren ungläubig. Sperber nickte. Arren ruderte, bis der Strand nur noch ein weißer Strich unter dem Wald und den grünen Gipfeln war. Sperber handhabte die Ruderpinne und hielt die Leinwand an seine Schulter gepreßt, doch achtete er nicht darauf. »Wurde er von einem Speer verletzt?« »Er sprang.« »Aber er... er konnte nicht schwimmen. Er hatte Angst vor dem Wasser!« »Und wie! Tödliche Angst hatte er. Er wollte ... er wollte an Land.« »Warum haben sie uns angegriffen? Wer sind sie?« »Sie müssen uns für Feinde gehalten haben. Kannst du ... kannst du mir einen Augenblick damit helfen?« Arren merkte erst jetzt, daß die Lein-
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wand, die er gegen seine Schulter gepreßt hielt, ganz durchtränkt von Blut war. Der Speer war zwischen das Schultergelenk und das Schlüsselbein eingedrungen und hatte eine der großen Adern aufgerissen, so daß die Wunde heftig blutete. Unter Sperbers Anweisung mußte er ein Leinenhemd in Streifen zerreißen und einen Verband für die Wunde daraus machen. Sperber bat ihn, ihm den Speer zu reichen und als Arren ihn auf seine Knie gelegt hatte, ließ er seine Hand auf der Spitze ruhen, die lang und schmal wie ein Weidenblatt und aus roh gehämmerter Bronze gefertigt war, doch nach einer Weile schüttelte er den Kopf: »Ich habe keine Kraft in mir, um eine Zauberformel zu wirken«, sagte er. »Später. Es wird schon wieder gut werden. Kannst du uns aus dieser Bucht herausrudern, Arren?« Schweigend kehrte der Junge an die Riemen zurück und begann zu rudern. Er ruderte mit aller Kraft und bald, denn sein geschmeidiger schlanker Körper war kräftig, brachte er die Weitblick aus der sichelförmigen Bucht hinaus aufs offene Meer. Die für den Südbereich typische mittägliche Meeresstille lag auf dem Wasser. Das Segel hing schlaff am Mast. Die Sonne war hinter einem Dunstschleier verborgen, und die grünen Gipfel flimmerten in der großen Hitze und schienen sich zu bewegen. Sperber hatte sich im Boot ausgestreckt, sein Kopf lehnte gegen die Sitzbank, über der sich die Ruderpinne befand; er lag bewegungslos, seine Lippen und Augen waren halb geöffnet. Arren vermied es, ihm ins Gesicht zu blicken, er starrte über das Heck hinaus aufs Meer. Die Hitze lag wie ein Schleier über dem Wasser, wie ein riesiges Spinnengewebe, das sich über den ganzen Himmel erstreckte. Seine Arme zitterten vor Anstrengung, doch er stellte das Rudern nicht ein. »Wohin ruderst du uns?« fragte Sperber heiser und setzte sich ein wenig auf. Arren wandte den Kopf und sah, wie die sichelförmige Bucht ihre grünen Arme wieder um das Boot streckte, sah den weißen Strand wie einen Strich in der Ferne und die grünen Berge immer höher wachsen. Er hatte, ohne es zu bemerken, das Boot gewendet und zurückgerudert.
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»Ich kann nicht mehr weiterrudern«, sagte er und zog die Riemen ein. Er verstaute sie und kauerte sich dann im Bug des Bootes nieder. Er bildete sich ein, Sopli säße hinter ihm am Mast. Sie waren zu viele Tage auf dem Boot beisammen gewesen, sein Tod kam zu plötzlich, er war zu grundlos, er konnte ihn nicht begreifen. Nichts konnte er mehr begreifen. Das Boot schaukelte auf den Wellen, das Segel hing schlaff am Mast. Die Flut hatte begonnen, und langsam wurde die Weitblick mit der Breitseite gegen die Bucht von den Wellen in kleinen Stößen immer näher und näher gegen die ferne weiße Linie der Bucht getrieben. Arren ging ins Heck des Schiffes und sah nach seinem Gefährten. Er machte ihm ein Lager unter dem Sonnendach und gab ihm Wasser zu trinken. Er tat alles hastig und vermied es, auf den Verband zu blicken, der dringend gewechselt werden mußte, denn die Wunde hatte nicht ganz zu bluten aufgehört. Sperber war zu erschöpft, um zu reden; selbst als er das Wasser begierig trank, fielen ihm die Augen zu, und er schlief wieder ein, seine Erschöpfung war größer als sein Durst. Er lag, ohne sich zu rühren, und als es dunkel geworden war und die Brise sich legte, trat kein magischer Wind an ihre Stelle, und das Boot schaukelte, ohne sich von der Stelle zu rühren, auf dem glatten, leicht sich hebenden und senkenden Wasser hin und her. Aber die Berge rechts hoben sich jetzt dunkel gegen einen prachtvollen Sternenhimmel ab, und Arren ließ seinen Blick lange auf ihnen ruhen. Die Sternbilder schienen ihm vertraut, als ob er sie schon einmal gesehen hätte, als hätte er sie sein ganzes Leben lang schon gekannt. Als er sich zum Schlaf niederlegte, blickte er nach Süden und dort, hoch am Himmel über dem glitzernden Meer, funkelte der Stern Gobardon. Darunter waren die beiden Sterne, die ein Dreieck mit ihm bildeten, und später, in einer geraden Linie, erschienen noch drei Sterne, die das Dreieck vergrößerten. Als die Nacht weiter fortgeschritten war, schlüpften zwei weitere Sterne über die flüssige, silbrig glänzende Fläche; sie waren so gelblich wie Gobardon, und an den Schenkeln des rechtwinkligen Dreiecks stehend verbreiterten sie seine Basis. Acht oder neun Sterne sollten insgesamt erscheinen, die einen Menschen oder die hardische Rune Agnen darstellten. In Arrens Augen stellte die
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Konstellation keinen Menschen dar, höchstens wenn er, wie das mit Sternbildern oft der Fall ist, sie ganz verkehrt anschaute; doch die Rune Agnen war klar erkennbar: ein gekrümmter Arm und ein Querstrich, nur der Fuß fehlte, der letzte Strich, der dem Stern, der noch nicht erschienen war, überlassen blieb. Arren wartete darauf und schlief darüber ein. Als er in der Morgendämmerung aufwachte, stellte er fest, daß sich die Weitblick weiter von Obehol entfernt hatte. Ein Nebel, der die Küste verdeckte und nur die Gipfel der Berge herausragen ließ, löste sich langsam auf und lag wie ein Dunstschleier auf dem violetten Wasser des Südens, während die letzten Sterne verblaßten. Er blickte auf seinen Gefährten. Sperber atmete unregelmäßig. Es war offensichtlich, daß er Schmerzen litt, die ihn im Schlaf quälten, aber doch nicht ganz wachhielten. Sein Gesicht war zerfurcht und sah in dem kalten, schattenlosen Licht des Morgens alt aus. Arren blickte ihn an, und er sah einen Mann vor sich, dem keine Macht verblieben war, keine Zauberkunst, keine Kraft, selbst keine Jugend mehr, nichts. Er hatte weder Sopli retten, noch den Speer von sich selbst abwenden können. Er hatte sie in die Gefahr geführt, und er hatte sie nicht schützen können. Sopli war tot, er selbst lag im Sterben, und Arren würde ihm bald folgen. Und alles war die Schuld dieses Mannes; alles war umsonst, alles war vergeblich. Und Arren blickte ihn an, nüchtern, ohne Hoffnung und nahm nichts wahr. Keine Erinnerung regte sich in ihm; er sah keinen Brunnen mehr unter einer Eberesche in der Sonne plätschern, er hatte vergessen, daß einst ein weißer Glanz den Nebel auf einem Sklavenschiff durchbrach, er wußte nichts mehr von dem trostlosen Baumgarten um das Haus des Färbers. Kein Stolz, kein Lebenswille regte sich in ihm. Er sah, wie die Dämmerung sich über der ruhigen See verbreitete, er sah, wie die großen flachen Wellen, gefärbt wie ein bleicher Amethyst, sie umfluteten; alles war wie in einem Traum, leichenfarben, ohne Schärfe, ohne die Härte der Wirklichkeit. Und ganz zuunterst, am Ende der Träume und der See, befand sich ein Nichts — eine Leere, eine Gruft. Es gab keine Tiefe.
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Das Boot bewegte sich stoßweise, es gehorchte den unbeständigen Strömungen des Windes. Hinter ihm schrumpften die Gipfel von Obehol zusammen. Schwarz gegen die aufgehende Sonne, aus deren Richtung ein Wind blies und sie vom Land, von der Welt wegtrieb, hinaus auf die hohe See.
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DIE KINDER DER HOHEN SEE
GEGEN MITTAG REGTE SICH SPERBER und bat um Wasser. Als er getrunken hatte, fragte er: »In welcher Richtung segeln wir?«, denn das Segel über ihm war prall, und das Boot flitzte wie eine Schwalbe über die flachen Wellen. »Westlich oder nordwestlich.« »Mir ist kalt«, sagte Sperber. Die Sonne brannte vom Himmel, und im Boot war es heiß. Arren erwiderte nichts. »Versuch, westlichen Kurs zu halten. Wellogy, westlich von Obehol Land. Wir brauchen Wasser.« Der Junge starrte nach vorne über die endlose See. »Was ist los, Arren?« Arren erwiderte nichts. Sperber versuchte aufzusitzen, und als ihm das nicht gelang, versuchte er, nach seinem Stab zu greifen, doch der lag außer Reichweite. Als er sprechen wollte, kam kein Wort über seine trockenen Lippen. Das Blut sikkerte von neuem durch den durchtränkten, verkrusteten Verband, und ein dunkelrotes Rinnsal, Spinnweben gleich, floß über seinen dunklen Oberkörper. Er zog scharf die Luft ein und schloß die Augen. Arren musterte ihn ohne Anteilnahme und blickte bald wieder weg. Er ging nach vorne und kauerte sich wieder im Bug des Bootes zusammen, sein Blick war starr nach vorne gerichtet. Sein Mund war ganz trocken. Der Ostwind, der jetzt unablässig über das offene Meer blies, war so trocken wie der Wind der Wüste. Im Faß war nur noch ungefähr ein Liter Wasser übrig. Das war für Sperber; es wäre ihm nie eingefallen, davon zu trinken. Er hatte Angelschnüre ausgeworfen, denn seit sie Lorbanery
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verlassen hatten, hatte er gelernt, daß roher Fisch sowohl den Hunger als auch den Durst stillen konnte. Aber er fing nichts. Es spielte keine Rolle mehr. Das Boot glitt über die Wasserwüste. Über ihnen bewegte sich die Sonne, in der gleichen Richtung wie sie, doch viel langsamer, aber letzten Endes ging sie doch als Siegerin aus dem Rennen hervor; die ganze Breite des Himmels hatte sie ihnen voraus. Einmal kam es Arren vor, als sähe er eine kleine Erhöhung im Süden, es konnte Land oder auch nur eine große Welle gewesen sein. Das Boot hielt schon stundenlang nordwestlichen Kurs. Er machte keinen Versuch, gegen den Wind zu kreuzen, sondern überließ das Segel dem Wind. Vielleicht war es Land gewesen, vielleicht aber auch nicht. Es spielte keine Rolle mehr. Er sah nichts von der weiten, wilden Schönheit des Meeres, sah nicht den Glanz, der auf dem Wasser lag, sah nicht den unendlichen, blaustrahlenden Himmel, er blickte stumpf vor sich hin, und alles kam ihm matt und schlaff vor, alles war ihm gleichgültig. Es wurde dunkel und wieder hell, dunkel und hell, wie Trommelschläge auf der straff gespannten Haut des Himmels. Er ließ die Hand ins Wasser hängen. Und ganz kurz sah er, scharf und klar, ein Bild: seine Hand, grünlichbleich, unter lebendigem Wasser. Er beugte sich über Bord und lutschte die Nässe von den Fingern. Sie schmeckte bitter, und seine Lippen brannten schmerzhaft, aber er wiederholte es. Dann wurde ihm übel und er mußte sich übergeben, doch nur etwas Galle brannte in seiner Kehle. Das Faß war leer, er konnte Sperber kein Wasser mehr geben, und er hatte Angst, sich ihm zu nähern. Er legte sich nieder, fröstelnd, trotz der Hitze. Alles war ruhig, ausgetrocknet und hell: schrecklich hell. Er verbarg seine Augen vor dem Licht. Sie standen im Boot. Drei waren es, spindeldürr, knochig, mit großen Augen, wie seltsame dunkle Reiher oder Kraniche sahen sie aus. Ihre Stimmen waren hoch und dünn, wie Vogelgezwitscher. Er verstand sie nicht. Einer kniete über ihm und hielt eine dunkle Blase in der Hand. Er goß etwas daraus in Arrens Mund: es war Wasser. Arren trank gierig, verschluckte sich, hustete, trank wieder, bis alles leer war. Dann blickte er um sich, und mühsam sich aufrichtend fragte er: »Wo, wo ist er?«
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Denn in der Weitblick befanden sich außer ihm nur die drei hageren Fremden. Die sahen sich an und verstanden ihn nicht. »Der andere Mann«, sagte er heiser. Seine wunde Kehle und seine steifen, verkrusteten Lippen konnten die Worte »mein Freund« nicht formen. Einer von ihnen verstand seine Not, wenn auch nicht seine Worte. Er legte eine dünne, ganz leichte Hand auf Arrens Arm und deutete mit der anderen: »Dort«, sagte er beruhigend. Arren blickte auf. Und er sah, nördlich vom Boot, Flöße, manche nahe beisammen, andere einzeln und weiter entfernt; sie waren so zahlreich, daß es aussah, als schwammen Herbstblätter auf einem Wasserbecken. Niedrig und flach lagen sie auf dem Meer, doch jedes Floß hatte eine oder zwei Kabinen oder Hütten, die sich ungefähr in der Mitte erhoben, manche hatten sogar einen Mast gesetzt. Sie hoben und senkten sich langsam mit der Dünung, die sich unter ihnen bewegte. Die Wasserstraßen glänzten silbern zwischen ihnen, und im Westen, über ihnen, türmte sich eine riesige, dunkelviolette Regenwolke mit goldenen Rändern. »Dort«, sagte der Mann und deutete auf ein großes Floß, das nahe der Weitblick lag. »Lebt er?« Sie blickten ihn wieder alle an, und endlich verstand ihn wieder der eine. »Er lebt. Er lebt.« Bei diesen Worten traten Arren die Tränen in die Augen, und er begann zu schluchzen. Einer der Männer umfaßte Arrens Handgelenk mit seiner schmalen, starken Hand und zog ihn aus der Weitblick hinaus auf ein Floß, an dem das Boot festgemacht war. Das Floß war so groß und elastisch, daß es ihr Gewicht ohne auch nur im geringsten zu schwanken aufnahm. Einer der Männer führte Arren am Arm, während ein anderer mit einem langen Bootshaken, an dessen Spitze sich ein gekrümmter Haifischzahn befand, ein nahes Floß noch näher heranzog, so daß sie mühelos den Spalt überschreiten konnten. Dort führte er Arren zu einer Hütte, die von drei Seiten mit gewebten
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Matten geschlossen, auf der vierten aber offen war. Er gebot ihm: »Leg dich nieder!«, und das war das letzte, was Arren vernahm. Er lag auf dem Rücken, flach ausgestreckt, und blickte hinauf auf ein einfaches, grünes Dach, das mit winzigen Lichtpunkten übersät war. Er glaubte, sich unter den Apfelbäumen von Semermein, in den Bergen von Berila, zu befinden, wo die Prinzen von Enlad ihre Sommer verbringen; er glaubte, daß er im Gras läge und durch die dichtbelaubten Apfelbaumzweige in die Sonne schaute. Nach einer Weile hörte er das Wasser, wie es gegen die Höhlungen unter dem Floß klatschte, und er vernahm die dünnen Stimmen der Floßleute, die im Hardisch des Inselreiches miteinander sprachen, das hier aber ganz anders klang und einen fremden Rhythmus hatte, so daß es ihm Mühe machte, sie zu verstehen. Jetzt wußte er endlich wieder, wo er war — weit entfernt vom Inselreich, jenseits der Außenbereiche, jenseits aller Inseln; irgendwo, weit draußen auf der hohen See. Doch es kümmerte ihn nicht; er lag hier so angenehm wie auf den Wiesen unter den Bäumen seiner Heimat. Es fiel ihm endlich ein, aufzustehen, und er erhob sich und sah, daß sein Körper ganz dünn und dunkelbraun verbrannt war. Seine Beine zitterten, doch trugen sie ihn. Er schob die gewebte Matte zur Seite und trat hinaus in die Nachmittagssonne. Es hatte geregnet, während er geschlafen hatte. Das Floß bestand aus mächtigen, glatten Balken, die eng gefügt und ausgepicht waren, dunkel von der Nässe, wie das Haar der schlanken halbnackten Leute, das schwarz und naß über ihre Schultern fiel. Die westliche Hälfte des Himmels, in dem die Sonne stand, war klar, und die Wolken, silberne Riesenberge, verzogen sich gegen Nordosten. Einer der Männer näherte sich behutsam und blieb in zwei Schritt Entfernung vor Arren stehen. Er war schmächtig und klein, nicht viel größer als ein zwölfjähriger Junge, mit großen, dunklen, länglich geschnittenen Augen. In seiner Hand hielt er einen Speer mit einem Widerhaken aus Walfischbein an der Spitze. Arren sprach zu ihm: »Ich verdanke Ihnen allen mein Leben.« Der Mann nickte. »Könnten Sie mich bitte zu meinem Gefährten führen?«
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Der Mann wandte sich um und erhob seine Stimme zu einem durchdringenden Ruf, der wie der Schrei eines Seevogels über die Wasserfläche hallte. Dann nahm er eine Hockstellung ein und wartete. Arren tat das gleiche. Die Flöße hatten Masten, aber der Mast des Floßes, auf dem sie sich befanden, war nicht aufgerichtet. An den Mastbäumen hingen Segel, die verhältnismäßig klein im Vergleich zur Größe der Flöße waren. Die Segel waren aus braunem Zeug hergestellt, das weder Leinen, noch irgendein anderes gewebtes Tuch war, sondern ein faseriges Material, das aussah, als wäre es flachgeklopft worden, und es fühlte sich an wie Filz. Ein Floß, das ungefähr hundert Schritt von Arrens Floß entfernt war, bewegte sich langsam, mit Gaffeln und langen Stöcken von Männern an den anderen Flößen dirigiert, auf Arrens Floß zu. Als nur noch ein Schritt Abstand zwischen den Flößen war, erhob sich der Mann neben Arren und sprang ganz selbstverständlich, leicht federnd, auf das andere Floß. Arren tat das gleiche, doch landete er ungeschickt auf allen vieren, denn seinen Knien fehlte noch die Kraft, um ihn aufzufangen. Er rappelte sich auf und sah, wie der Mann ihn anblickte; kein Spott, sondern Anerkennung lag in seinem Blick: Arrens Haltung hatte ihm offensichtlich Respekt abgenötigt. Dieses Floß war größer und hob sich weiter aus dem Wasser empor als die übrigen. Es war aus riesigen Balken, die ungefähr fünfzehn bis zwanzig Schritt lang und einen Schritt breit waren, gefertigt. Das Wetter hatte sie gedunkelt, der Gebrauch hatte sie spiegelglatt werden lassen. Merkwürdige, geschnitzte Statuen standen vor den Hütten, und an den vier Ecken des Floßes erhoben sich hohe Stangen, die an den Spitzen mit Büscheln aus Vogelfedern geschmückt waren. Er folgte seinem Führer zu der kleinsten Hütte, und dort sah er Sperber schlafend liegen. Arren ließ sich neben der Hütte nieder. Sein Führer kehrte zu dem anderen Floß zurück, und niemand behelligte ihn. Eine Stunde später kam eine Frau und brachte ihm etwas zu essen: eine Art kalte Fischsuppe, in der gallertartige, grüne Stückchen herumschwammen; die salzig war, aber gut schmeckte. Und eine kleine Tasse Wasser zum Trinken, das ab-
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gestanden war und den Geruch vom Pech des Wasserfasses an sich hatte. An der Art und Weise, wie sie ihm das Wasser reichte, merkte er, daß es zu schätzen sei, und er trank es ehrfürchtig und bat nicht um mehr Wasser, obwohl er zehnmal mehr hätte trinken können. Sperbers Schulter trug einen fachmännischen Verband; er schlief tief und ungestört. Als er erwachte, waren seine Augen klar. Er blickte auf Arren und lächelte ihn an, mit diesem tiefen, aus dem Herzen kommenden Lächeln, das auf seinen harten Zügen immer wieder überraschte. Arren war es plötzlich wieder, als müßte er weinen. Er legte seine Hand auf Sperbers Hand und sagte nichts. Einer vom Floßvolk kam und ließ sich im Schatten der großen Hütte, die nahebei war, nieder: es schien eine Art Tempel zu sein, mit einem viereckigen, sehr komplizierten Ornament über dem Eingang, und geschnitzten Türpfosten, die große graue Walfische darstellten. Der Mann war so klein und mager wie die anderen. Sein Körper war nicht größer als der eines Jungen, doch seine Züge waren ausgeprägt, und die Jahre hatten ihre Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen. Er trug nur ein Tuch um seine Lenden, doch umgab ihn eine Würde, die durch kostbare Kleider nicht hätte erhöht werden können. »Er muß schlafen«, sagte er, und Arren verließ Sperber und kam auf ihn zu. »Sie sind der Oberste dieses Volkes«, sagte Arren, der wußte, wenn er einen Prinzen vor sich hatte. »Ja«, sagte der Mann und nickte knapp. Arren stand aufrecht und ohne sich zu rühren vor ihm. Ihre Augen trafen sich kurz, und der Mann sagte nach einer Weile: »Du bist auch der Führer eines Volkes.« »Ja«, erwiderte Arren. Es hätte ihn interessiert zu erfahren, was den Floßmann zu dieser Feststellung veranlaßte, aber er fragte nicht danach. »Aber ich diene meinem Gebieter hier.« Der Oberste des Floßvolkes sagte etwas, das Arren nicht verstand. Die Worte klangen in seinem Mund so anders, daß er sie nicht erkannte, und die Namen hatte er noch nie gehört; doch schließlich verstand er: »Warum seid ihr nach Balatran gekommen?« »Wir suchten...«
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Doch Arren wußte nicht, wieviel und was er sagen sollte. Alles, was sich zugetragen hatte, ihre Suche, ihre Abenteuer, schien in weiter Ferne zu liegen und verwirrte sich in seinem Kopf. Endlich sagte er: »Wir erreichten Obehol. Sie griffen uns dort an, als wir landen wollten. Mein Gebieter wurde verletzt.« »Und du?« »Ich wurde nicht verletzt«, sagte Arren, und die kühle Selbstsicherheit, die er in seiner Jugend bei Hofe gelernt hatte, kam ihm jetzt zustatten. »Es herrscht... es herrscht da so etwas wie Wahnsinn. Einer, der bei uns war, ist ertrunken. Das Grauen, es liegt auf allem ...« Er sprach nicht weiter und schwieg. Der Häuptling blickte ihn aus dunklen, undurchdringlichen Augen an. Endlich sagte er: »Ihr seid also durch Zufall hierhergekommen?« »Ja. Befinden wir uns noch im Südbereich?« »Bereich? Nein. Die Inseln ...« Der Häuptling beschrieb mit seiner schmalen dunklen Hand einen kleinen Bogen, nicht größer als ein Viertel der Windrose, von Norden nach Osten. »Die Inseln sind dort«, sagte er. »Alle Inseln.« Dann deutete er auf die abendliche See vor sich, von Norden nach Westen, nach Süden und sagte: »Das Meer.« »Von welchem Land stammen Sie?« »Von keinem Land. Wir sind die Kinder der Hohen See.« Arren blickte auf sein intelligentes Gesicht. Er schaute auf das große Floß, sah den Tempel, die geschnitzten Idole, jedes aus einem einzigen Baumstamm gefertigt, große, göttliche Gestalten, die menschliche Züge trugen, aber auch Ähnlichkeit mit Delphinen, Fischen und Vögeln hatten; er sah die Leute geschäftig bei der Arbeit, manche webten, andere schnitzten oder fischten oder kochten, manche waren mit Säuglingen und kleinen Kindern beschäftigt; Floß reihte sich an Floß, mindestens siebzig Flöße waren hier beisammen, die einen Riesenkreis bildeten, der bestimmt mehr als eine halbe Meile Durchmesser hatte. Es war wie eine Stadt. Aus entfernten Hütten stieg Rauch in die Höhe, hohe Kinderstimmen wurden vom Wind herübergetragen. Es war wie eine Stadt, und unter ihnen lag ein Abgrund. »Gehen Sie nie an Land?« fragte der Junge leise.
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»Einmal im Jahr. Wir gehen zur Langen Düne. Dort fällen wir Bäume und reparieren unsere Flöße. Das machen wir im Herbst, dann folgen wir den grauen Walfischen nach Norden. Im Winter trennen wir uns, jedes Floß ist für sich. Im Frühling treffen wir uns alle in Balatran. Die Leute besuchen sich auf ihren Flößen, es wird geheiratet. Wir halten den Langtanz ab. Das hier sind die Straßen von Balatran. Von hier gehen die großen Meeresströmungen in den Süden. Wir lassen uns auf ihnen treiben, bis wir die Großen sehen, die grauen Walfische. Wenn sie sich nach Norden wenden, dann folgen wir ihnen und kehren zum Strand von Emah auf der Langen Düne zurück, wo wir eine kurze Weile bleiben.« »Das ist ganz wundersam«, sagte Arren. »Nie habe ich von einem Volk wie dem Ihrigen gehört. Meine Heimat ist weit, weit entfernt von hier. Doch wir tanzen auch den Langtanz in der Mittsommernacht.« »Sie stampfen die Erde unter ihren Füßen und treiben alles Böse aus ihr heraus«, sagte der Häuptling trocken. »Wir tanzen über dem tiefen Meer.« Er schwieg. Dann fragte er: »Wie wird er genannt, der Gebieter?« »Sperber«, sagte Arren. Der Häuptling wiederholte die Silben, aber sie sagten ihm offensichtlich nichts. Und das war für Arren ein Beweis, sicherer als jeder andere, daß diese Leute jahraus, jahrein auf der See lebten, so weit draußen, so weit von jeder Küste, von jedem Land entfernt, daß sich ein Landvogel nie dorthin verirren würde, daß kein Mensch von ihrer Existenz etwas wußte. »Er war dem Tode nahe«, sagte der Häuptling. »Er muß schlafen. Du gehst zurück zu Sterns Floß. Ich werde dich wieder rufen lassen.« Er erhob sich. Er war sich offensichtlich nicht ganz im klaren; man spürte, daß er nicht genau wußte, wie er Arren behandeln sollte, als Gleichgestellten oder als einen Knaben. Arren zog in seiner jetzigen Lage letzteres vor, er nahm hin, daß er einfach fortgeschickt wurde. Doch dann stand er vor seinem eigenen Problem. Sein Floß war abgetrieben worden, und mehr als hundert Schritte matt glänzendes, leicht bewegtes Wasser lag zwischen ihnen.
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Der Häuptling der Kinder der Hohen See richtete noch einmal das Wort an ihn: »Schwimm!« sagte er. Arren ließ sich vorsichtig ins Wasser gleiten. Es war kühl und fühlte sich angenehm auf seiner sonnenheißen Haut an. Er schwamm zum anderen Floß hinüber und zog sich hinauf. Er sah sich fünf oder sechs Kindern und jungen Leuten gegenüber, die ihn mit unverhohlenem Interesse beobachteten. Ein ganz kleines Mädchen krähte belustigt: »Du schwimmst wie ein Fisch an der Leine.« »Wie soll ich denn sonst schwimmen?« fragte Arren etwas bestürzt, aber höflich; er hätte zu einem Menschen, so winzig wie diesem, nicht grob sein können. Die Kleine sah wie eine polierte Miniatur aus Ebenholz aus, ganz zierlich und zerbrechlich. »So!« rief sie, glitt wie ein Aal in das funkelnde, glitzernde, ruhelose Wasser und war verschwunden. Erst nach einer geraumen Zeit und in einer unglaublichen Entfernung, sah er ihren schwarzen, glatten Kopf aus dem Wasser auftauchen und hörte ihren schrillen Ruf. »Komm!« sagte ein Junge, der in Arrens Alter sein mußte, obwohl er seiner Größe und Breite entsprechend höchstens wie ein zwölfjähriger Junge aussah; er blickte ernst drein, und auf seinem Rücken streckte sich die Tätowierung einer blauen Krabbe. Er sprang mit einem Kopfsprung ins Wasser, alle sprangen, selbst der Dreijährige. Arren blieb nichts anderes übrig, als auch zu springen, und er versuchte, nicht zu spritzen. »Wie ein Aal«, sagte der Junge, der an seiner Schulter aufgetaucht war. »Wie ein Delphin«, sagte ein hübsches Mädchen mit einem reizenden Lächeln und verschwand in der Tiefe. »Wie ich«, quietschte der Dreijährige und hüpfte auf und ab wie ein Flaschenkorken. Bis spät in die Nacht hinein und den ganzen, goldenen Tag lang, der folgte, und während all der Tage, die folgten, schwamm, redete und arbeitete Arren mit den jungen Leuten auf Sterns Floß. Und von all den Abenteuern, die er seit dem Morgen der Tag- und Nachtgleiche, da er mit Sperber Rok verließ, erlebt hatte, schien ihm dieses hier das
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merkwürdigste zu sein, denn es lag ganz außerhalb von allem, was er auf der Reise oder in seinem Leben je erlebt hatte, und es hatte überhaupt nichts mit dem zu tun, was ihm noch bevorstand. Und nachts, wenn er zwischen den anderen unter den Sternen lag, dachte er: »Es kommt mir vor, als sei ich gestorben, und das hier ist ein Leben nach dem Tode, jenseits der Welt, unter den Söhnen und Töchtern des Meeres...« Immer bevor er einschlief, schaute er hinauf in den südlichen Himmel und suchte den gelblichen Stern und die Rune des Endens, und er sah Gobardon, und manchmal sah er das kleinere und manchmal auch das größere Dreieck. Aber das Sternbild stieg jetzt später auf, und seine Augen fielen ihm oft zu, bevor es sich ganz vom Horizont gelöst hatte. Die Flöße bewegten sich, Tag und Nacht, immer weiter nach Süden, doch die See blieb sich gleich, denn das Ewig-Veränderliche ändert sich niemals; die warmen Regengüsse des Mais brachen über sie herein und versiegten wieder, die Sterne schienen am nächtlichen Himmel, und den ganzen Tag über strahlte die Sonne. Arren wußte, daß sie ihr Leben nicht immer auf diese unwirkliche, traumhaft schöne Weise zubringen konnten. Er fragte, wie es im Winter sei, und sie erzählten von endlosem Regen, von heftigen Stürmen, wie die einzelnen Flöße getrennt und fern voneinander sich Woche um Woche vorwärts bewegten, Wellenberg nach Wellenberg erklommen und wieder hinabschossen, unter einem grauen, dunklen, nördlichen Himmel. Im vergangenen Winter hatten sie Wellen »so hoch wie Gewitterwolken« gesehen. Der Begriff von Bergen war ihnen fremd. Waren sie hoch oben auf der Welle, so erblickten sie, noch meilenweit entfernt, die nächste, die langsam auf sie zurollte. Könnten Flöße solche Stürme aushallen? wollte er wissen, und sie sagten, ja, aber nicht immer, wenn sie sich im Frühjahr in den Straßen von Balatran trafen, dann fehlte immer das eine oder andere Floß, manchmal drei, sechs ... Sie heirateten sehr jung. Blaukrabbe, der Junge, der seinen Namen auf dem Rücken tätowiert hatte, und das hübsche Mädchen Albatros waren Mann und Frau, obwohl er erst siebzehn und sie zwei Jahre jünger war. Es gab viele solche jungen Ehen auf den Flößen. Kleinkinder, die an Leinen, von den vier Hauptstützen der Hütten ausgehend, ange-
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bunden waren, krabbelten überall herum; während der Mittagshitze kamen sie alle im Schatten der Hütten zusammen und lagen, ein Haufen schlafender, quicklebendiger, kleiner Wesen, auf- und übereinander. Die älteren Kinder mußten auf die jüngeren aufpassen. Frauen und Männer teilten sich in die Arbeiten, die verrichtet werden mußten. Sie wechselten sich ab, den großen, braunblättrigen Seetang zu ernten, den Mg/M der Straßen von Balatran, der wie Farn gezackt war und sechzig bis achtzig Fuß lang sein konnte. Alle halfen zusammen, wenn es darum ging, den Niglu zu einer Art Tuch zu klopfen, oder die starken Fasern zu Seilen zu drehen und in Netze zu knüpfen, oder Fische zu trocknen, oder Werkzeuge aus Walfischbein zu fertigen, und was alles sonst noch zum alltäglichen Leben des Floßvolkes nötig war. Aber sie fanden immer Zeit zum Plaudern und Schwimmen, und Zeitpunkte, zu denen gewisse Arbeiten fertiggestellt sein mußten, gab es bei ihnen nicht. Der Begriff Stunde war ihnen unbekannt, nur Tage und Nächte zählten. Nach einigen Tagen und Nächten kam es Arren vor, als habe er schon ewig auf den Flößen gelebt. Obehol war ein Traum, und dahinter lagen schwächere Träume, und noch viel ferner lag ein Traum, in dem er Prinz gewesen war und auf Enlad gelebt hatte. Als er endlich auf das Floß des Häuptlings gerufen wurde, blickte ihn Sperber eine Weile an und sagte: »Du siehst aus wie der Arren, den ich im Brunnenhof gesehen habe, so geschmeidig wie ein goldener Aal. Es geht dir hier also recht gut, mein Junge!« »Ja, mein Gebieter.« »Aber was heißt das ›hier‹? Wir haben die bewohnte Welt hinter uns gelassen. Wir sind über alle Seekarten hinausgesegelt... Ich habe vor langen Zeiten vom Floßvolk reden hören, aber es immer für eine der Legenden des Südbereiches gehalten, etwas, das keine Basis in der Wirklichkeit hat. Doch wir sind von dieser Legende gefunden worden, und unser Leben wurde von einem Mythos gerettet.« Er sprach lächelnd, als hätte auch er an dieser träumerischen, zeitlosen Lebensweise teilgenommen, doch sein Gesicht war hager, und in seinen Augen lag eine Tiefe, die kein Licht kannte. Arren sah dies, und er ging ihm nicht aus dem Wege.
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»Ich bin des Vertrauens...«, sagte er und stockte, »ich bin des Vertrauens, das Sie in mich setzten, nicht wert.« »Wieso, Arren?« »Dort... auf Obehol, als Sie mich einmal wirklich brauchten, Sie waren verwundet und bedurften der Hilfe, habe ich nichts getan. Das Boot trieb Steuer los, und ich ließ es treiben. Sie litten Schmerzen und ich tat nichts, um sie zu lindern. Ich sah Land ... ich sah Land, und ich habe nicht einmal versucht, das Boot zu wenden!« »Sei ruhig, Junge!« gebot der Magier, und seine Stimme klang so bestimmt, daß Arren gehorchte. Dann sagte er: »Erzähl mir, was du während dieser Zeit gedacht hast.« »Nichts, mein Gebieter — nichts! Ich dachte, daß alles vergeblich sei, daß es nutzlos wäre, irgend etwas zu tun. Ich dachte, daß Sie Ihre Zauberkünste verloren hätten — nein, daß Sie nie welche besessen, ja, daß Sie mich in eine Falle gelockt hätten.« Der Schweiß brach ihm aus, und er mußte sich zwingen, weiterzureden. »Ich hatte Angst vor Ihnen. Ich fürchtete den Tod. Ich habe ihn so gefürchtet, daß ich Sie nicht anschauen konnte, weil ich Angst hatte, daß Sie sterben könnten. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, außer daß... daß es eine Möglichkeit gäbe, und ich nicht zu sterben brauchte, wenn ich den Ort finden würde. Aber die ganze Zeit lang wurde das Leben schwächer, wie wenn da eine große Wunde wäre, und das Blut floß heraus — eine Wunde, wie Sie sie hatten. Nur war sie überall. Und ich habe nichts, gar nichts getan, nur versucht, mich vor dem Grauen des Sterbens zu verbergen.« Er hielt inne, denn es war fast unerträglich, laut die Wahrheit auszusprechen. Nicht Scham hielt ihn davor zurück, sondern Furcht, die gleiche Furcht. Jetzt wußte er, warum ihm dieses friedliche Leben auf den Flößen wie ein Traum, wie ein Leben nach dem Tode vorkam. Denn er wußte tief in seinem Herzen, daß es nichts Wirkliches gab, daß die Wirklichkeit ohne Leben, ohne Wärme, ohne Farbe und Ton war ... Es gab keine Höhen, keine Tiefen. Das Spiel von Licht und Schatten, die Farben, die auf dem Meer lagen und in den Augen der Menschen zu sehen waren, sie waren weiter nichts als das: Illusionen — und dahinter gähnte ein Nichts.
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Sie vergingen und nichts blieb zurück, nur Kälte und eine Welt ohne feste Formen. Sonst nichts. Sperber schaute ihn an, doch Arrens Augen waren auf den Boden geheftet, er wich diesem Blick aus. Doch ganz unerwartet spürte er, wie sich tief in seinem Herzen etwas regte. Eine kleine Stimme, mutig und spöttisch; sie war arrogant und erbarmungslos, und sie sprach: »Du Feigling! Du Feigling! Willst du sogar das aufgeben?« Da hob er den Blick, mit großer Willensanstrengung, und blickte in die Augen seines Gefährten. Sperber ergriff seine Hand und hielt sie fest, so daß sie sich körperlich und mit ihren Augen berührten. Er sagte Arrens wahren Namen, den er noch nie zuvor ausgesprochen hatte: »Lebannen!« Und noch einmal: »Lebannen, es ist, und du bist! Es gibt keine Sicherheit und kein Ende. Nur im Schweigen hört man das Wort, nur in der Dunkelheit sieht man die Sterne. Der Tanz wird getanzt, aber darunter ist es hohl, darunter liegt ein Abgrund.« Arren hielt seine Hand fest und beugte seinen Kopf so tief, daß seine Stirn sich gegen Sperbers Hand preßte. »Ich habe Sie im Stich gelassen! « stöhnte er. »Ich werde wieder versagen, mir selbst gegenüber werde ich versagen. Ich bin nicht stark genug!« »Du bist stark genug.« Die Stimme des Magiers war weich, doch unter der Weichheit war die gleiche Härte, die aus Arrens tiefstem Herzen, aus seiner Scham, aufgestiegen war und über ihn gespottet hatte. »Was du liebst, Arren, wirst du immer lieben. Was du unternimmst, wirst du vollenden. Du bist die Erfüllung der Hoffnung, auf dich kann man sich verlassen. Doch mit siebzehn Jahren ist man noch wenig geschützt vor der Verzweiflung. — Bedenke, Arren, wer den Tod verneint, der verneint das Leben!« »Aber ich suchte den Tod — Ihren und meinen! « Arren hob den Kopf und starrte Sperber an. »Ich suchte ihn, wie Sopli, der ertrinken wollte...« »Sopli hat den Tod nicht gesucht. Er wollte dem Tod und dem Leben entrinnen. Er suchte die Sicherheit: er versuchte der Furcht — der Furcht vor dem Tode zu entrinnen.«
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»Aber es gibt... es gibt eine Möglichkeit. Jenseits des Todes ist ein Weg. Er führt zurück zum Leben. Zum Leben jenseits des Todes, zu einem Leben ohne Tod. Das — das suchen sie; Hase und Sopli, die Zauberer gewesen waren. Das suchen wir. Sie — Sie vor allem — müssen das wissen — müssen diesen Weg kennen.« Der Magier hielt Arrens Hand noch fest umschlossen. »Ich weiß nichts davon«, sagte Sperber. »Gewiß, ich weiß, was sie glauben zu suchen. Aber ich weiß, daß es eine Lüge ist. Arren, hör mir gut zu! Du wirst sterben. Du wirst nicht ewig weiterleben. Kein Mensch, kein Wesen lebt ewig weiter. Auf dieser Erde gibt es kein ewiges Leben. Doch nur uns wurde offenbart, daß wir sterben müssen. Und das ist ein großes Geschenk: dadurch werden wir uns bewußt, denn wir wissen, daß wir das, was uns gegeben wurde, wieder hergeben, willig hergeben müssen. Und unser Selbst ist unser Himmel und unsere Hölle, es ist unser Menschsein. Es verändert sich, es verschwindet, wie eine Welle auf dem Meer verschwindet. Möchtest du, daß die Wellen und die Gezeiten zum Stillstand kommen, damit eine Welle, du, gerettet wirst? Möchtest du die Geschicklichkeit deiner Hände, die Tiefe deiner Gefühle, das Licht des Sonnenauf- und -Untergangs aufgeben, um eine Sicherheit — eine ewige Sicherheit zu erlangen? Das, und nichts anderes, versuchen sie auf Wathort und Lorbanery und an all den anderen Orten. Und das ist die Botschaft, die all die, die dazu in der Lage sind, gehört haben, und sie lautet: Wenn du das Leben verneinst, dann kannst du auch den Tod verneinen und ewig weiterleben! — Und diese Botschaft, Arren, die höre ich nicht, denn ich will sie nicht hören. Ich bin taub. Ich bin blind. Du bist mein Führer. Und du, in deiner Unschuld, in deiner UnWeisheit, in deiner Treue, du bist mein Führer, mein mutiger Führer — du bist das Kind, das ich vor mir her in die Dunkelheit sende. Deiner Furcht, deinem Schmerz, dem folge ich. Du dachtest, ich sei hart zu dir, Arren: du hast nicht geahnt, wie hart! Deine Liebe, Arren, ich gebrauche sie wie eine Kerze, eine brennende und sich selbst verzehrende Kerze, die mir zeigt, wo ich hingehen muß. Und wir müssen weitergehen. Wir müssen weitergehen. Wir müssen bis ans Ende gehen. Wir müssen dorthin, an den Ort, wo die See leer und trocken und die Freude verschwunden ist.
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Und vor dem Ort hast du, als Sterblicher, ein Grauen, und er zieht dich doch an.« »Wo ist er?« »Ich weiß es nicht.« »Ich kann Sie nicht dorthin führen, aber ich werde mit Ihnen gehen.« Der dunkle, unergründliche Blick des Magiers ruhte auf ihm. »Doch wenn ich wieder versage und Sie preisgeben sollte ...« »Ich vertraue dir, Morreds Sohn.« Beide schwiegen. Über ihnen, vor dem blauen, südlichen Himmel, bewegten sich die hohen geschnitzten Idole leicht hin und her: teils Delphine, teils Seevögel, mit menschlichen Gesichtern und starren Augen aus Muscheln. Sperber stand mit Anstrengung auf, denn er war noch lange nicht genesen von seiner Wunde. »Ich habe das Herumsitzen satt«, sagte er. »Ich werde faul und fett.« Er ging auf dem Floß auf und ab, und Arren gesellte sich ihm bei. Sie unterhielten sich, während sie gingen. Arren erzählte ihm, was er die Tage über getan hatte und wer seine Freunde unter dem Floßvolk waren. Sperbers Ruhelosigkeit war größer als seine Stärke, die ihn bald verließ. Er blieb bei einem Mädchen stehen, die hinter dem Tempel Nilgu auf ihrem Webrahmen wob, und bat sie, den Häuptling zu ihm zu rufen; dann ging er zurück in seine Hütte. Der Häuptling des Floßvolkes erschien bald und grüßte ihn höflich. Der Magier erwiderte seinen höflichen Gruß, und alle ließen sich auf dem gefleckten Seehundsfell der Hütte nieder. »Ich habe mir das«, sagte der Häuptling mit würdevoller und ernster Stimme, »was Sie mir gesagt haben, durch den Kopf gehen lassen. Wie die Menschen in ihren eigenen Körpern vom Tod zurückkehren wollen, wie sie darüber die Verehrung ihrer Götter und ihre eigene Gesundheit vernachlässigen und den Verstand verlieren. Das ist ein großes Übel und sehr schlimm. Aber ich habe weiter überlegt: Was hat das mit uns zu tun? Wir haben nichts mit anderen Menschen, ihren Inseln und ihren Gebräuchen, mit ihren Taten und Untaten zu tun. Wir leben auf der See, und unser Leben gehört der See. Wir hoffen nicht darauf, es immer behalten zu können, aber wir wollen es voll leben und es nicht auf-
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geben. Bei uns gibt es keinen Wahnsinn. Wir kommen nie an Land, und die Landbewohner kommen nicht zu uns. Als ich jung war, redeten wir manchmal mit Menschen, die zur Langen Düne kamen, während wir dort Bäume fällten und unsere Winterunterkünfte zimmerten. Oft sahen wir Segel von Ohol und Welwai (so nannte er Obehol und Wellogy), die den grauen Walfischen im Herbst folgen. Oft folgten sie auch unseren Flößen, denn sie wußten sehr wohl, daß wir die Gründe kennen, wo sich die Großen des Meeres treffen. Doch das ist alles schon lange her, und mehr wissen wir nicht von den Landmenschen. Jetzt sehen wir sie nie mehr. Vielleicht sind sie alle wahnsinnig geworden und haben sich gegenseitig umgebracht. Vor zwei Jahren, als wir uns auf der Langen Düne aufhielten, sahen wir nördlich, gegen Welwai zu, Rauch aufsteigen, der von einem großen Brand herrühren mußte. Doch was hat das mit uns zu schaffen? Wir sind die Kinder der Hohen See! Wir bleiben der See treu!« »Doch als ihr gesehen habt, wie das Boot eines Landmenschen auf dem Wasser trieb, seid ihr zu Hilfe gekommen«, sagte der Magier. »Einige unter uns meinten, daß es nicht klug sei, das zu tun. Sie hätten das Boot bis ans Ende des Meeres treiben lassen«, antwortete der Häuptling mit seiner hohen Stimme, die ziemlich gleichgültig klang. »Sie gehörten nicht dazu?« »Nein. Ich sagte, wir werden ihnen helfen, obwohl es Landmenschen sind. Doch mit Ihren Unternehmungen wollen wir nichts zu tun haben. Wenn Wahnsinn unter den Landmenschen ausgebrochen ist, dann sollen sie auch damit fertig werden. Wir folgen den Großen. Wir können Ihnen in Ihrer Suche nicht helfen. So lange Sie bei uns bleiben wollen, sind Sie willkommen. Es ist nicht mehr lange bis zum Langtanz, dann werden wir uns nach Norden wenden, und gegen Ende des Sommers erreichen wir die Lange Düne. Wenn Sie hierbleiben und Ihre Wunde ausheilen wollen, so ist uns das recht. Doch wenn Sie Ihr Boot nehmen und davonsegeln wollen, so ist uns das auch recht.« Der Magier dankte ihm, und der Häuptling, hager wie ein Reiher, erhob sich steif und ließ sie allein.
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»Unschuld ist kein Bollwerk gegen das Böse«, sagte Sperber und lächelte resigniert. »Aber Unschuld birgt die Möglichkeit, Gutes zu tun. — Ich denke, wir werden noch eine Weile hierbleiben, bis ich mich von dieser Schwäche erholt habe.« »Das ist ein weiser Entschluß«, sagte Arren. Sperbers körperliche Schwäche hatte ihn erschreckt, und er war tief beunruhigt. Er war entschlossen, den Mann vor seiner eigenen Energie und Ruhelosigkeit zu schützen und darauf zu bestehen, daß sie mit der Weiterfahrt warten, bis er zumindest frei von Schmerzen war. Der Magier blickte ihn an, überrascht über das Kompliment. »Die Leute hier sind freundlich«, fuhr Arren fort, ohne Sperbers Blick wahrzunehmen. »Sie scheinen nichts von dieser seelischen Krankheit an sich zu haben, die sie auf Hort und auf den anderen Inseln hatten. Vielleicht hätte es gar keine Insel gegeben, auf der sie uns geholfen und uns willkommen geheißen hätten, so wie es diese vergessenen Leute hier getan haben.« »Du hast wahrscheinlich recht.« »Und ihr Leben im Sommer ist wirklich schön ...« »Stimmt. Obgleich, das ganze Leben lang nur kalte Fischsuppe zu essen, nie einen Birnbaum blühen zu sehen, nie aus einem klaren Quell trinken zu können, wäre auf die Dauer für mich schwer zu ertragen!« So kam es, daß Arren auf Sterns Floß zurückkehrte und tagsüber mit den anderen jungen Leuten schwamm, arbeitete und in der Sonne lag. In der Abendkühle ging er zu Sperber und unterhielt sich mit ihm, und des Nachts schlief er unter den Sternen. So reihten sich die Tage aneinander, und die Mittsommernacht und der Langtanz rückten immer näher, während die großen Flöße auf den mächtigen Strömungen des offenen Meeres nach Süden trieben.
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ORM EMBAR
WÄHREND DER GANZEN NACHT, der kürzesten des Jahres, brannten Fackeln auf den Flößen, die in einem Riesenkreis unter dem mit Sternen dichtbesäten Himmel aneinandergereiht waren. Es sah aus, als läge ein flakkernder, feuriger Ring auf dem Wasser. Das Floßvolk tanzte, ohne Trommeln, ohne Flöten, ohne irgendwelche Begleitmusik, nur zum Rhythmus, den ihre nackten Füße auf die großen, schaukelnden Flöße trommelten, begleitet von ihren Sängern, deren hohe, klagende Stimmen über der Weite des Meeres verklangen. Kein Mond erhellte die Nacht, und die Gestalten der Tanzenden waren nur schwach im Licht der Sterne und Fackeln sichtbar. Ab und zu brach, blitzartig, ein Tänzer aus der Reihe und schnellte sich, wie ein fliegender Fisch, in die Luft zum nächsten Floß hinüber: hoch und weit sprangen sie, sich gegenseitig überbietend, und versuchten, alle Flöße zu berühren, auf allen ein wenig zu tanzen, und bei Tagesanbruch den ganzen Ring durchtanzt zu haben und wieder auf dem eigenen Floß gelandet zu sein. Arren tanzte auch, denn der Langtanz wird auf jeder Insel des Inselreichs getanzt, nur der Gesang und der Rhythmus sind verschieden. Die Nachtstunden verstrichen, und viele Tänzer ließen sich ermüdet nieder, um zuzuschauen, manche nickten ein. Die Stimmen der Sänger klangen heiser vom unaufhörlichen Singen. Arren erreichte mit einer Gruppe hochspringender Jungen das Floß des Häuptlings und beschloß, hier anzuhalten, während die anderen weitertanzten und sprangen. Sperber saß nahe dem Tempel beim Häuptling und seinen drei Frauen. Zwischen den geschnitzten Walfischen, den Türpfosten des Tempels, saß ein Sänger, dessen Stimme mit unverminderter Klarheit und Stärke
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die ganze Nacht hindurch erklungen war. Keine Müdigkeit war an ihm wahrzunehmen, er sang ohne abzusetzen und schlug den Takt mit der flachen Hand auf die Holzbalken des Floßes. Wovon singt er?« fragte Arren, denn er konnte den Worten, die alle in die Länge gezogen wurden und am Ende in einem ihm unbekannten Triller endeten, nicht folgen. »Er singt von den großen Walfischen und vom Albatros und von den Stürmen des Meeres ... Hier kennt man unsere Helden- und Königslieder nicht. Von Erreth-Akbe haben sie noch nie gehört. Vorhin sang er von Segoy, wie er die Inseln aus dem Meer emporsteigen ließ, diese Kunde ist ihnen von unserem Mythenschatz verblieben. Aber alles andere handelt von der weiten See.« Arren hörte dem Gesang aufmerksam zu, und er glaubte den schrillen Schrei des Delphins zu vernehmen, den der Sänger nachahmte und um den er sein Lied wob. Er sah Sperbers Profil gegen das Fackellicht, schwarz, wie aus Fels gemeißelt, er sah die Augen der Häuptlingsfrauen im Feuerschein glitzern und hörte, wie sie leise miteinander redeten, er fühlte, wie das Floß sich auf dem ruhigen Wasser senkte und hob, und unmerklich überkam ihn der Schlaf. Er wachte ganz plötzlich auf: der Sänger war verstummt. Nicht nur der Sänger auf ihrem Floß, auch die anderen, auf den nahen und fernen Flößen, verstummten. Wie fernes Vogelgezwitscher, dünn und hoch, verloren sich ihre Stimmen und starben langsam, eine nach der anderen, ab. Arren blickte über die Schulter. Der volle Mond hing tief im Westen zwischen den Sternen des sommerlichen Himmels. Dann ließ er seinen Blick nach Süden schweifen, und er sah, hoch am Firmament, den gelblichen Gorbadon und seine acht Gefährten darunter, selbst der letzte war jetzt da: Die Rune des Endens brannte hell und klar über der dunklen See. Er wandte sich Sperber zu und sah, daß sein dunkles Gesicht auch den Sternen zugekehrt war. »Warum verstummst du?« fragte der Häuptling den Sänger. »Der Tag ist noch nicht angebrochen, selbst die Morgenröte ist noch fern.« Der Mann stammelte: »Ich weiß nicht.«
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»Sing weiter! Der Langtanz ist noch nicht zu Ende.« »Ich habe die Worte vergessen«, sagte der Sänger, und seine Stimme klang schrill und angsterfüllt. »Ich kann nicht mehr singen. Ich habe das Lied vergessen.« »Dann sing ein anderes!« »Es gibt keine Lieder mehr. Es ist zu Ende«, schluchzte der Sänger und beugte sich nach vorne, bis seine Stirn die Balken berührte. Der Häuptling starrte ihn sprachlos an. Die Flöße schaukelten unter dem flackernden Licht der Fackeln. Die Stille des Meeres umgab das bißchen menschliche Leben, das sich hinaus auf die Weite des Ozeans gewagt hatte, und verschluckte es. Kein Tänzer rührte sich mehr. Arren glaubte wahrzunehmen, wie die Pracht der Sterne sich trübte, und doch war noch kein Morgenrot im Osten erkennbar. Ein Grauen packte ihn, und er dachte: »Es gibt keinen Sonnenaufgang mehr, das Tageslicht ist auf ewig verschwunden.« Der Magier erhob sich. Als er aufstand, eilte ein schwaches, weißes Licht seinen Stab hinauf und brannte am hellsten dort, wo die silberne Rune in den Stab eingelassen war. »Der Tanz ist noch nicht zu Ende«, sagte er, »und die Nacht ist noch nicht zu Ende. Arren, sing!« Arren war nicht danach zu Mute. Am liebsten hätte er gesagt, ich kann nicht, doch er unterließ es. Er atmete tief ein und blickte auf die neun Sterne im Süden. Dann begann er zu singen. Seine Stimme war zuerst leise und belegt, doch nach und nach wurde sie lauter und klarer. Er sang das älteste aller Lieder, das Lied von der Erschaffung von Ea, das vom Gleichgewicht zwischen der Dunkelheit und der Helle handelt, und von ihm, der die grünen Lande geschaffen hat, dem Größten und Mächtigsten, von Segoy. Noch bevor er das Lied zu Ende gesungen hatte, war die Nacht verschwunden und hatte einem blaugrauen Himmel Platz gemacht, in dem nur noch der untergehende Mond und Gobardon schwachschimmernd schwammen. Die Fackeln zischten im kühlen Wind des frühen Morgens. Als das Lied zu Ende gesungen war, schwieg Arren, und die Tänzer, die sich um ihn versammelt und schweigend zugehört hatten,
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kehrten auf ihre Flöße zurück, während das Licht im Osten immer heller wurde. »Das ist ein gutes Lied«, sagte der Häuptling. Seine Stimme klang unsicher, obwohl er sich bemühte, kühl und überlegen zu erscheinen. »Es wäre schlimm gewesen, wenn wir den Langtanz beendet hätten, bevor die Nacht zu Ende gegangen war. Ich werde die faulen Sänger mit Nilguseilen auspeitschen lassen.« »Tröste sie lieber«, sagte Sperber. Er stand noch immer, und seine Stimme war hart. »Kein Sänger verstummt aus freiem Willen. Komm mit mir, Arren!« Er wandte sich seiner Hütte zu, und Arren folgte ihm. Doch der ungewöhnliche Tagesanbruch war noch nicht zu Ende. Während der östliche Rand des Meeres immer heller wurde, sah man, von Norden kommend, hoch am Himmel einen Vogel näherkommen. Er flog so hoch, daß die Strahlen der Sonne, die noch verborgen hinter dem Horizont war, sich auf seinen Schwingen fingen und diese golden aufleuchten ließen, während er mit mächtigen Flügelschlägen die Luft zerteilte. Arren sah ihn zuerst und deutete, laut rufend, hinauf. Der Magier schaute überrascht auf. Sein Gesicht spiegelte eine tiefe innere Bewegung wider. Er rief laut aus: »Nam Hietha Arw Ged Arkvaissa« — das von der Ursprache in die Umgangssprache übertragen heißt: »Wenn du Ged suchst, so findest du ihn hier!« Mit donnerndem Getöse, wie ein riesiges goldenes Senklot, die Flügel weit und hoch ausgestreckt, mit Krallen, die einen Ochsen packen konnten, als wäre er eine Maus, mit zwei langen, rauchenden, aus der Nase sich ringelnden Flammen ließ sich der Drache wie ein Falke auf dem plötzlich heftig schaukelnden Floß nieder. Das Floßvolk schrie auf; manche duckten sich, andere sprangen ins Wasser, und wieder andere standen stocksteif und starrten; sie waren so überwältigt, daß sie ihre Furcht vergaßen. Der Drache stand über ihnen. Die Spannweite seiner Flügel mußte hundert Fuß oder mehr betragen. Sie waren dünn, durchsichtig, und im hellen Licht des jungen Morgens schienen sie wie grauer, mit Gold durchsetzter Rauch; sein Körper war nicht weniger lang, doch schmal und sehnig, wie
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der eines Windhundes, doch hatte er Klauen wie eine Rieseneidechse und war mit den Schuppen einer Riesenschlange bedeckt. Sein gekrümmtes, rund gebeugtes Rückgrat war gezackt, die Form der Zacken war Rosendornen nicht unähnlich, nur waren sie auf dem höchsten Punkt des Höckers gute drei Fuß hoch und wurden, gegen die Schwanzspitze hin, immer kleiner, bis sie nicht viel höher als eine Taschenmesserklinge waren. Die Zacken waren grau, und auch die Schuppen hatten die Farbe von Eisen, doch funkelten sie, als seien sie mit Gold durchwirkt. Seine Augen waren grün und geschlitzt. Getrieben von der Furcht um sein Volk verließ der Häuptling seine Hütte; in seiner Hand hielt er eine Harpune, wie sie das Floßvolk bei der Jagd auf Walfische verwendete: sie war größer als er selbst, und an ihrer Spitze befand sich ein Widerhaken aus Walfischbein. Er legte sie auf seinen muskulösen Arm, zielte auf den nur dünn beschuppten Unterleib des Drachens, der über ihm schwankte, und nahm Anlauf, um seine Waffe mit größerer Kraft werfen zu können. Arren, aus seiner Erstarrung erwachend, stürzte sich auf ihn und hielt seinen Arm fest, und alle beide, mitsamt der Harpune, fielen übereinander. »Wollen Sie ihn mit Ihrer lächerlichen Nadel verärgern?« keuchte Arren. »Lassen Sie den Drachenfürsten erst reden.« Der Häuptling, sprachlos und außer Atem, starrte erst auf Arren, dann auf den Magier und den Drachen. Es verschlug ihm die Sprache. Der Drache begann zu sprechen. Nur Ged, an den seine Worte gerichtet waren, konnte ihn verstehen, denn Drachen reden in der Ursprache, die für sie Umgangssprache ist. Die Stimme war nicht klar, eher zischelnd wie die einer Katze, die leise fauchend ihre Wut ausdrückt, nur viel lauter, und ein Ton lag darin, der das Mark erstarren ließ. Wer diese Stimme vernahm, konnte sich nicht mehr fortbewegen: er mußte stillstehen und sie anhören. Der Magier antwortete kurz, und der Drache sprach wieder, sich über ihm auf flatternden Flügeln erhebend: fast wie eine Riesenlibelle, die in der Luft schwebt, dachte Arren. Dann sagte der Magier nur ein Wort: »Memeas«, — ich werde kommen, und er hob seinen Stab aus Erlenholz in die Höhe. Der Rachen des Dra-
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chens öffnete sich weit, und eine lange Rauchfahne rollte, sich verschlingend, daraus hervor. Die goldenen Flügel schlugen laut, und ein gewaltiger Wind erhob sich, der einen Brandgeruch mit sich trug. Dann stieg der Drache majestätisch in die Höhe, kreiste und flog, riesig und den Himmel verdunkelnd, Richtung Norden davon. Auf den Flößen war es still geworden; nur das leise Wimmern von Kinderstimmen und tröstende Frauenstimmen waren zu vernehmen. Die ins Wasser gesprungenen Männer kletterten, etwas verlegen, wieder zurück auf die Flöße, und die vergessenen Fackeln flackerten rußend in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Der Magier wandte sich zu Arren. Auf seinem Gesicht lag ein Licht, das von einer tiefen Freude oder von einer großen inneren Erregung herrühren mochte; doch seine Stimme war ruhig: »Jetzt müssen wir gehen, mein Junge. Sag Lebewohl und komm!« Er wandte sich zum Häuptling des Floßvolks, um ihm zu danken und um sich zu verabschieden. Dann schritt er über drei Flöße — von der vergangenen Nacht her lagen sie noch nahe beisammen — bis er das Floß erreichte, an dem die Weitblick angebunden war. Leer auf den Wellen schaukelnd war das Boot der Floßstadt auf ihrem langsamen Treck nach Süden gefolgt. Die Kinder der Hohen See hatten sein leeres Wasserfaß mit aufgefangenem Regenwasser gefüllt und es mit Proviant versorgt. Das war ihre Art, den Gast zu ehren, den viele unter ihnen als einen der Großen ansahen, der die Gestalt eines Menschen anstatt eines Walfisches angenommen hatte. Als Arren zum Boot kam, hatte er schon das Segel gesetzt. Arren löste das Seil und sprang ins Boot, und im gleichen Moment drehte sich die Weitblick vom Floß weg, und seine Segel füllten sich mit einer steifen Brise, obgleich nur der schwache Wind des frühen Morgens über das Wasser fächelte. Das Boot legte sich auf die Seite und flog nach Norden, der Spur des Drachens folgend, so leicht wie ein vom Winde gejagtes Blatt. Als Arren zurückblickte, sah er die Floßstadt weit in der Ferne liegen, wie winzige Stückchen Holz schwammen sie auf dem Wasser: die Pfosten und Hütten, die sich auf den Flößen erhoben. Bald verschwanden auch sie in der glitzernden Helle, die der frühe Morgen über das Wasser ausgoß. Die Weitblick flog wie ein Pfeil über die Wellen. Wenn der Bug
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das Wasser zerteilte, so stob Gischt auf. Der Wind blies Arrens Haar zurück, und er mußte seine Augen zusammenkneifen, um sie zu schützen. Kein Wind der Welt hätte das Boot mit dieser Geschwindigkeit über das Wasser jagen können, höchstens ein Sturm, doch dann hätte die Gefahr bestanden, daß es an den Wellen zerschellte. Aber dies war kein irdischer Wind, sondern das Wort und die Macht des Magiers; und sie jagten das Boot mit Pfeilesschnelle über das Meer. Der Magier stand lange am Mast und blickte prüfend in die Ferne. Endlich setzte er sich an seinen gewohnten Platz bei der Ruderpinne, auf die er seine Hand legte, und schaute Arren an. »Das war Orm Embar«, sagte er, »der Drache von Selidor, ein Nachkomme des großen Orm, der Erreth-Akbe getötet hatte und von ihm getötet worden war.« »War er auf der Jagd?« fragte Arren, denn er war nicht sicher, ob der Magier den Drachen willkommen geheißen, oder ihm gedroht hatte. »Er forschte nach mir. Wenn Drachen etwas suchen, so finden sie es auch. Er kam und bat mich um Hilfe.« Er lachte kurz auf. »Und wenn mir das jemand gesagt hätte, niemals hätte ich es geglaubt, daß ein Drache je einen Menschen um Hilfe bitten würde! Und dazu noch dieser! Er ist nicht der älteste, obwohl er auch sehr alt ist, doch ist er unter allen der Mächtigste. Er verbirgt seinen Namen nicht, wie das die anderen Drachen und die Menschen tun müssen. Er fürchtet nicht, daß irgendein Geschöpf, Mensch oder Tier, Macht über ihn erlangen könnte. Auch betrügt er, wie das die Art von Drachen ist, niemals. Vor langer Zeit, auf Selidor, schenkte er mir das Leben und offenbarte mir ein großes Geheimnis: er sagte mir, wo die Königsrune wiedergefunden werden kann. Ihm verdanke ich den Ring von Erreth-Akbe. Aber nie fiel mir ein, daß ich ihm das entgelten müßte, daß ich bei ihm, einem solchen Gläubiger, in Schuld stünde.« »Was wünscht er?« »Daß ich ihm den Weg zeige, den ich suche«, sagte der Magier; seine Stimme war hart geworden. Und nach einer Weile fügte er hinzu. »Er sagte: ›Im Westen ist ein anderer Drachenfürst; er bringt Zerstörung über uns
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alle, und seine Macht ist größer als unsre Macht.‹ Und ich sagte: ›Selbst größer als deine, Orm Embar?‹ und er sagte: ›Selbst größer als meine. Ich brauche deine Hilfe. Folge mir eilends!‹ Und so gebeten, folge ich.« »Doch mehr wissen Sie nicht?« »Ich werde bald mehr wissen.« Arren rollte das Ankertau zusammen, verstaute es und verrichtete andere kleinere Arbeiten im Boot. Er versuchte ruhig zu sein, doch es fiel ihm schwer. Die Ereignisse dieses Morgens, das Aufregende ihrer Situation, ließen sein Herz höher schlagen, und die Spannung, wie eine straffgespannte Bogensehne, sang in seiner Stimme, als er schließlich sprach. »Das ist ein besserer Führer als die vorigen«, sagte er. Sperber schaute ihn an und lachte. »Stimmt«, sagte er. »Ich glaube auch nicht, daß wir dieses Mal irregehen werden.« Und so begannen die beiden ihre große Fahrt über das Meer. Mehr als tausend Meilen lagen zwischen den auf keiner Karte verzeichneten Meeresströmungen des Floßvolkes und der Insel Selidor, der westlichsten aller Inseln der Erdsee. Ein Tag nach dem ändern erhob sich strahlend am Horizont und versank im rotglühenden Westen, und das Boot, unter der goldenen Sonnenbahn und den silberglänzenden Sternen, flog unentwegt nach Norden, allein auf dem weiten Meer. Manchmal ballten sich die Gewitterwolken des Hochsommers in der Ferne zusammen und warfen ihre dunkelvioletten Schatten gegen den Horizont; dann sah Arren zu, wie der Magier aufstand und mit Hand und Stimme den Wolken gebot, gegen sie zu treiben und ihren Regen über das Boot auszuschütten. Die Blitze schössen aus den Wolken hervor, der Donner krachte, doch der Magier stand mit ausgestreckter Hand, bis der Regen auf sie niederprasselte und die Gefäße, die sie aufgestellt hatten, und das Boot mit Wasser füllten, und die Wellen des Meeres unter ihrem Anprall flachdrückten. Und er lachte und warf Arren einen Blick des Einverständnisses zu, und auch Arren mußte lachen, denn an Nahrung litten sie keinen Mangel — aber auch keinen Überfluß — doch an Wasser fehlte es ihnen. Und das Gewitter, das sich in seinem gloriosen Zorn über ihnen entlud, bot einen überwältigenden Anblick.
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Arren war überrascht über die Macht, die sein Gefährte nun so bedenkenlos verschwendete, und einmal fragte er ihn: »Warum haben Sie, als wir unsere Reise begannen, keine Zauber gewirkt?« »Das A und O allen Unterrichts auf Rok gipfelt in dem Gebot: Wirke nur, was nötig ist. Nicht mehr.« »Der Unterricht dazwischen besteht dann wohl darin, das zu lernen, was nötig ist.« »Stimmt. Man muß immer das Gleichgewicht im Auge behalten. Doch wenn das Gleichgewicht selbst gestört ist — dann zieht man anderes in Erwägung: vor allem Eile.« »Wie kommt es, daß alle Zauberer im Süden — und jetzt bestimmt auch anderswo — selbst die Sänger auf den Flößen — ihre Macht verloren, während Sie Ihre Macht behalten haben?« »Weil ich meine Kunst als Kunst allein schätze und keinen Gewinn darin suche«, antwortete Sperber. Und nach einer Weile fügte er, weniger ernst, hinzu: »Und wenn ich sie schon bald hergeben muß, dann will ich sie wenigstens ausnutzen, solange ich sie noch habe.« Sein Wesen war überhaupt ganz anders, als Arren es bisher erlebt hatte. Eine gewisse Sorglosigkeit, eine kindliche Freude an seiner Geschicklichkeit, an seiner Kunst, hatte Besitz von ihm ergriffen, etwas, das Arren nie hinter seinem ernsten Wesen vermutet hätte. Arren wußte nicht, daß der wahre Magier mit Herz und Seele an seiner Kunst hängt und sich an seiner Geschicklichkeit erfreut. Sperbers Verwandlung in Hort, die Arren so erschreckt hatte, war ein Spiel für ihn gewesen. Und für einen, der nicht nur sein Gesicht und seine Stimme, sondern seine ganze Gestalt und sein Wesen in etwas anderes verwandeln konnte, wenn er wollte — einen Fisch, einen Falken, einen Delphin — für den war diese Verwandlung eine Kinderei. Einmal sagte er: »Schau her, Arren! Ich zeig dir Gont.« Und er deutete auf die Oberfläche des Wasserfasses, das er geöffnet hatte, und das bis an den Rand voll war. Viele Zauberer konnten ein Bild auf einer Wasseroberfläche erscheinen lassen. Es war nichts Besonderes, was er da vollbrachte: Man sah einen hohen Gipfel, von Wolken umgeben, der sich aus dem grauen
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Meer erhob. Das Bild änderte sich, und Arren sah einen steilen Felsen, der auf der Berginsel in die Höhe ragte. Er sah ihn aus der Perspektive eines Vogels, einer Möwe oder eines Falken, der vom Wind der Küste getragen durch diesen Wind auf diesen Felsen blickte, der sich gut zehntausend Fuß hoch über der Brandung erhob. Und ganz oben, auf einem kleinen Felsplateau, sah man ein kleines Haus. »Das ist Re Albi«, sagte Sperber, »dort wohnt mein Meister Ogion, der vor langer Zeit das Erdbeben gestillt hat. Er hält ein paar Ziegen und sammelt Krauter und schweigt. Ob er wohl noch in den Bergen wandert? Er ist jetzt schon sehr alt. Aber ich würde es wissen, gewiß würde ich es wissen, selbst jetzt, wenn Ogion gestorben wäre ...« Seine Stimme klang unsicher, einen Augenblick lang wurde das Bild undeutlich und verschwamm, und es sah aus, als ob der Fels zusammenkrachen würde. Dann wurde das Bild wieder klar, seine Stimme hatte sich gefangen. »Im Spätsommer und im Herbst begibt er sich gewöhnlich ganz allein auf eine Wanderung in die Berge. Auf einer dieser Wanderungen kam er einmal zu mir, ich war damals noch ein Lausejunge und wohnte in einem der Bergdörfer. Er hat mir meinen Namen und damit auch mein Leben gegeben.« Das Bild änderte sich, und der Beschauer sah jetzt — wie ein Vogel, der zwischen den Zweigen eines Baumes sitzend hinausspäht — eine sonnige, steile Berghalde unterhalb eines schneebedeckten Felsgrates liegen und einen steilen Pfad, der hinunter in ein tiefgrünes, vom goldenen Sonnenlicht durchbrochenes Dunkel führte. »Nichts kommt dem Schweigen dieser Wälder gleich«, sagte Sperber, und in seiner Stimme lag Sehnsucht. Das Bild wurde schwächer, bald war es verschwunden; nur die grelle Scheibe der Mittagssonne starrte ihnen aus dem Wasser entgegen, »Ja, ja«, sagte Sperber, und sein Blick ruhte nachdenklich und ein wenig spöttisch auf Arren, »wenn ich jemals wieder zurückkehren soll, selbst du könntest mir dorthin nicht folgen.« Vor ihnen lag Land. Niedrig und blau erhob es sich über dem Horizont. Im Dunst des Nachmittags glich es einer Nebelbank. »Ist das Selidor?« fragte Arren, und sein Herz begann heftig zu pochen, doch der Magier
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antwortete: »Ich vermute, es ist Obb oder Jessetsch. Wir haben noch nicht einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt, mein Junge! « Es war Nacht, als sie durch die Meeresstraßen zwischen den beiden Inseln segelten. Sie sahen keine Lichter, doch starker Brandgeruch lag in der Luft, und der Rauch war stellenweise so dick, daß ihre Lungen beim Atmen zu schmerzen begannen. Als es hell wurde und sie zurückblickten, sahen sie, daß die östliche Insel, Jessetsch, von der Küste landeinwärts, so weit der Blick reichte, schwarz und verbrannt aussah, ein blauer, schwerer Dunst lag darüber. »Man hat die Ernte verbrannt«, sagte Arren. »Stimmt. Und die Dörfer. Den Rauch habe ich schon einmal gerochen.« »Sind das hier Barbaren im Westen?« Sperber schüttelte verneinend seinen Kopf. »Bauern und Städter.« Arren starrte auf das schwarze, zerstörte Land, auf die verkohlten Stümpfe der Obstbäume, die sich gegen den Himmel reckten, und sein Gesicht wurde hart. »Was haben ihnen denn die Bäume getan?« sagte er. »Muß man seinen Haß am Gras auslassen? Menschen, die das Land verwüsten, weil sie sich untereinander streiten, sind Barbaren.« »Es fehlt ihnen die Führung«, sagte Sperber, »es fehlt ihnen der König; und all die herrschenden und zauberkundigen Menschen haben sich abgesondert und in sich selbst zurückgezogen; die suchen die Tür, die vom Tod zurückführt. So ist es im Süden, und so wird es vermutlich auch hier sein.« »Und ein Mann kann das bewerkstelligen — der, von dem der Drachen sprach? Das scheint doch kaum möglich.« »Warum nicht? Wenn es einen König aller Inseln gäbe, wäre das ja auch nur ein Mann, und er würde regieren. Ein Mann kann regieren, und genauso leicht kann ein Mann auch zerstören: sei ein König oder ein Antikönig.« In seiner Stimme lag wieder dieser leicht spöttische, herausfordernde Ton, der Arrens Blut aufwallen ließ.
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»Ein König hat Diener — Soldaten, Beamte, Gesandte. Er regiert durch die, die in seinem Dienst stehen. Wo sind denn die Diener dieses ... dieses Antikönigs?« »In unserem Herzen, mein Junge, in unserem Herzen! Der Verräter, das ist das eigene Ich, das schreit: Ich will leben, laßt die Welt verbrennen, wenn nur ich leben kann! Das infame, kleine Stimmchen, das in uns nistet, im Dunkel unserer Seele wie der Wurm im Apfel. Und es spricht zu jedem von uns. Doch nur wenige können es verstehen: die Zauberer und die Hexenmeister, die Sänger, die Künstler und die Helden, diejenigen, die versuchen, sich selbst zu finden und zu bejahen, die versuchen, sich zu verwirklichen. Und das ist etwas ganz Großes und Seltenes. Und sich in alle Ewigkeit verwirklichen zu können, ist das denn nicht noch viel besser?« Arren blickte Sperber direkt in die Augen. »Ihrer Ansicht nach ist es nicht besser. Aber sagen Sie mir, warum. Als ich diese Reise begann, war ich ein Kind, ein Kind, das nicht an den Tod glaubte. Sie glauben, daß ich noch immer ein Kind bin, aber ich habe inzwischen gelernt, nicht viel vielleicht, aber doch etwas. Ich habe gelernt, daß es einen Tod gibt, und daß ich sterben muß. Aber ich habe nicht gelernt, daß ich dieses Wissen willkommen heißen muß, daß ich Ihren oder meinen Tod begrüßen soll. Wenn ich das Leben liebe, ist es dann nicht natürlich, daß ich seinem Ende mit Widerwillen entgegensehe? Warum soll ich mir keine Unsterblichkeit wünschen?« Arrens Fechtmeister in Berila war ungefähr sechzig Jahre alt gewesen, ein kleiner, glatzköpfiger und kalter Mann. Arren hatte ihn jahrelang nicht ausstehen können, obgleich er wußte, daß er ein ausgezeichneter Fechtmeister war. Doch eines Tages, während einer Übung, hatte er den Meister in einer ungeschützten Stellung überrascht und fast entwaffnet, und der ungläubige, ungewohnte Ausdruck der Freude auf den strengen Züge n, die Überraschung, das Staunen, endlich einen Ebenbürtigen, endlich einen Partner gefunden zu haben — nie hatte er diesen Ausdruck vergessen können. Und von diesem Tag an hatte ihn der alte Mann erbarmungslos herangenommen und immer lag das gleiche Lächeln auf dem Gesicht des alten Manns und hellte sich auf, je mehr Ar-
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ren auf ihn eindrang. Und jetzt lag es auf Sperbers Gesicht, leuchtend wie Stahl im Licht der Sonne. »Warum sollst du dir keine Unsterblichkeit wünschen? Wie kannst du es vermeiden? Jede Seele strebt danach, und ihre Größe liegt in der Stärke dieses Strebens. — Doch hab acht, du gehörst zu denen, deren Wunsch in Erfüllung gehen kann.« »Und dann?« »Dann könnte es geschehen, daß ein falscher König an die Macht kommt, und die Kunst der Menschen ist vergessen, die Sänger sind stumm, und die Augen blind. Und hier! Schau dich um! Sieh dir die Verheerung, das Elend des Landes, die Wunde, die wir heilen wollen, an. Zwei sind es, Arren, die ein Ganzes formen: die Welt und der Schatten, die Helligkeit und das Dunkle. Das sind die beiden Schalen der Waage. Leben trägt den Keim des Todes, der Tod den Keim des Lebens in sich. Die beiden Pole sind sich entgegengesetzt und ziehen sich daher an, sie bringen sich gegenseitig hervor und werden ewig wiedergeboren. Und alles folgt ihnen, die Blüte des Apfelbaums, das Licht der Sterne. Im Leben ist der Tod beschlossen und im Tod die Wiedergeburt. Ein Leben ohne Tod, wie sähe das aus? Ein sich nie veränderndes, ewig dauerndes Leben? — Ist das nicht ein schrecklicher Tod — ein Tod, dem keine Wiedergeburt folgt?« »Wenn soviel davon abhängt, wenn eines Menschen Leben das Gleichgewicht des Ganzen stören kann, dann ist es doch sicherlich ... ich meine, dann würde doch nicht zugelassen werden ...« Er stockte, verwirrt. »Wer läßt zu? Wer verbietet?« »Ich weiß nicht.« »Ich auch nicht. Aber ich weiß, wieviel Böses ein Mensch anrichten kann. Ich weiß es nur zu gut, denn ich habe es selbst getan. Ich habe die gleiche böse Tat im Taumel meines Stolzes begangen. Ich habe die Tür zwischen den Welten geöffnet, nur einen Spalt weit, einen ganz winzigen Spalt, nur um zu zeigen, daß ich stärker als der Tod selbst sei... Ich war jung und war dem Tod — wie du — noch nie begegnet... Es bedurfte der ganzen Macht des Erzmagiers Nemmerle, seiner ganzen Kunst und sei-
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nes Lebens, um die Tür wieder zu schließen. Du siehst die Narben, die diese Nacht auf meinem Gesicht hinterlassen hat, doch sein Leben hat es gekostet. O ja, die Tür zwischen der Helligkeit und dem Dunkel kann geöffnet werden, Arren! Es bedarf der Stärke, doch es kann vollbracht werden. Doch sie wieder zu schließen, das, Arren, ist eine ganz andere Sache.« »Aber das, von dem Sie sprechen, das ist doch gewißlich ganz verschieden von dem hier...« »Warum? Weil ich ein guter Mensch bin?« Die Stimme war wieder hart und kalt, das Auge des Falken blickte ihn durchdringend an. »Was heißt das, ein guter Mensch zu sein, Arren? Ist der gut, der nie etwas Böses tun würde, der nie die Tür zur Finsternis aufmachen würde, der kein Dunkel in sich trägt? Denk nach und schau etwas tiefer, Junge! Was du lernst, wirst du dort gebrauchen können, wohin wir gehen müssen. Schau in dich selbst! Hast du nicht eine Stimme vernommen, die Komm! gesagt hat? Bist du ihr nicht gefolgt?« »Doch. Ich — ich habe es nicht vergessen. Aber ich dachte ... ich dachte, daß es ... daß es seine Stimme war.« »Gewiß, es war seine Stimme, aber es war auch deine Stimme. Wie anders hätte er über die Meere zu dir sprechen können, als in deiner eigenen Stimme? Wie kommt es, daß er die, die gelernt haben zu hören — die Magier, die Künstler, die Suchenden — ruft, und daß die seiner Stimme folgen? Wie kommt es, daß er mich nicht zu sich ruft? Weil er weiß, daß ich nicht hören will. Ich will diese Stimme nicht vernehmen. Du, Arren, du bist, wie ich, zur Macht geboren, zur Macht über andere Menschen, über andere Seelen. Ist das nicht das gleiche wie Macht über Leben und Tod? Du bist noch jung, du stehst an der Schwelle der Möglichkeiten, und im Land der Schatten und Träume vernimmst du die Stimme, die zu dir spricht: Komm! Aber ich, ich bin alt, ich habe getan, was ich tun mußte, ich stehe im Licht des Tages und sehe meinem eigenen Tod entgegen, dem Ende aller Möglichkeiten. Ich weiß, daß es nur eine Macht gibt, die es wert ist zu besitzen: die Macht, nicht zu nehmen, sondern zu empfangen.«
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Jessetsch lag schon weit hinter ihnen, ein blauer Strich am Horizont, ein Fleck. »Dann bin ich sein Diener«, sagte Arren. »Das bist du. Und ich bin deiner.« »Aber wer ist es denn? Was ist es?« »Ich glaube, es ist ein Mensch — so wie du und ich.« »Dieser Mann, von dem Sie einst sprachen — der Zauberer von Havnor, der die Toten heraufbeschworen hat, ist es der?« »Das kann gut sein. Er besaß große Macht, und sie war ausschließlich darauf gerichtet, dem Tod zu entgehen. Und er kannte die Großen Formeln, die in der Zauberkunde von Paln enthalten sind. Ich war jung und dumm, als ich in diesem Buch las und eine der Formeln benutzte. Ich habe mir selbst Unheil damit zugezogen. Sieh dir die Narben an. Doch wenn ein alter und mächtiger Mann sie benutzt und keine Rücksicht auf die Folgen nimmt, dann kann er uns alle ins Verderben stürzen.« »Wurde Ihnen nicht gesagt, daß dieser Mann tot sei?« »Doch«, sagte Sperber, »das wurde mir gesagt.« Sie sprachen nicht mehr weiter darüber. In dieser Nacht war das Meer wie von einem Feuer durchleuchtet. Die scharfen Wellen, vom Bug der Weitblick zurückgeworfen, und die Bewegungen jedes Fisches unter der Oberfläche des Wassers waren klar umrissen und lebendig im Licht. Arrens Arm lag auf der Ruderbank, und er ließ seinen Kopf darauf ruhen, während er die silbernen Wirbel und Strudel betrachtete. Er tauchte seine Hand in das Wasser und hob sie hoch, und ein sanftes Licht glitt von seinen Fingern herab. »Schauen Sie her«, sagte er, »ich bin auch ein Zauberer!« »Diese Gabe hast du nicht«, sagte sein Gefährte. »Und ohne sie«, erwiderte Arren und blickte in das ruhelose Glitzern der Wellen, »bin ich ja wirklich keine große Hilfe, wenn wir auf unseren Feind treffen.« Denn er hatte heimlich gehofft — schon von Anfang an —, daß der Grund, warum der Erzmagier ihn und keinen anderen auf diese Reise mitgenommen hatte, darin lag, daß eine Kraft in ihm schlummerte, die von seinem Vorfahren Morred auf ihn gekommen war und die
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sich in der äußersten Not in der dunkelsten Stunde offenbaren würde: dann würde er sich selbst und seinen Gebieter und die ganze Welt von diesem Feind befreien. Aber in letzter Zeit, wenn er an diese Hoffnung dachte, so schien sie ihm in weiter Ferne zu liegen; und es stieg in ihm eine Erinnerung an die Tage seiner Kindheit auf, als er den brennenden Wunsch hatte, die Krone seines Vaters aufzuprobieren, und als es ihm untersagt wurde, hatte er geweint. Die Hoffnung war genauso kindisch, genauso unreif. Er besaß keine Macht, taugte nicht zur Magie. Er würde diese Gabe auch nie besitzen. Wahrscheinlich war freilich, daß irgendwann der Zeitpunkt kommen würde, da er die Krone seines Vaters aufsetzen und als Prinz von Enlad regieren mußte. Doch das schien ihm jetzt nichts Besonderes mehr zu sein, seine Heimat kam ihm klein vor und lag in weiter Ferne. Das war keine Treulosigkeit. Seine Treue war sogar gewachsen, nur war sie jetzt auf etwas viel Größeres, auf eine viel umfassendere Hoffnung gerichtet. Er hatte seine eigene Schwäche erkannt und hatte gelernt, an ihr seine Stärke zu messen. Jetzt wußte er, daß er stark war. Doch was nutzte ihm diese Stärke, wenn er keine magische Gaben besaß, wenn er seinem Gebieter nichts anbieten konnte als seine Dienste und seine unverbrüchliche Liebe? Dort, wohin sie gehen mußten, würde das dort genügen? Sperber hatte gesagt: »Um das Licht einer Kerze zu sehen, muß man sie an einen dunklen Ort tragen.« Damit versuchte sich Arren zu trösten, aber er fand den Gedanken nicht sehr trostreich. Als sie am anderen Morgen erwachten, waren Luft und Wasser grau. Über dem Mast hellte sich der Himmel zu der sanften Bläue eines Opals auf, denn der Nebel hing tief. Den Männern aus dem Norden, zu denen Arren von Enlad und Sperber von Gont gehörten, war der Nebel vertraut; sie hießen ihn willkommen wie einen alten Freund. Sachte umhüllte er das Boot, so daß sie nicht weit blicken konnten, und es kam ihnen vor, als befänden sie sich in einem vertrauten Raum, nach Wochen in einer leeren, erbarmungslosen Helle in einem unablässig blasenden Wind. Sie kehrten in ihr gewohntes Klima zurück und befanden sich jetzt ungefähr auf der Höhe von Rok.
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Etwa sechshundert Meilen weit Östlich von der nebligen See, auf der die Weitblick segelte, schien die Sonne auf die Blätter der Bäume im Immanenten Hain, auf den grünen Gipfeln des Rokkogels und auf das spitze Schieferdach des Großhauses. In einem Zimmer im Südturm, dem Arbeitsraum eines Magiers, in dem sich Retorten und Destillierkolben und dickbauchige Flaschen, teils mit geradem, teils mit schiefem Hals befanden, in dem stabile Öfen und winzige Heizlämpchen, Zangen, Scheren, Blasebälge, Ständer, Rohre, eine Unzahl von Schachteln, Reagenzgläsern und verpfropften Flaschen, teils in Hardisch oder geheimnisvollen Runen markiert, herumlagen und -standen, in dem es alles gab, was zur Alchemie, Glasbläserei, Metallschmelze und zur Kunst des Heilens gehörte, in diesem Raum, zwischen den mit allem Möglichen angehäuften Tischen und Bänken, standen der Meister der Verwandlungen und der Meister des Gebietens von Rok. Der Meister der Verwandlungen hielt einen, wie ein ungeschliffener Diamant aussehenden Edelstein in seinen Händen. Es war ein Felskristall, der ganz tief im Innern amethystfarben und rosa schimmerte, doch sonst so klar wie Wasser war. Doch wenn das Auge sich in dieser klaren Tiefe verlor, so stieß es auf eine Trübung, die weder Widerspiegelung noch Bild der sie umgebenden Wirklichkeit war, sondern nur aus Flächen und Tiefen bestand, die immer weiter in eine Traumwelt hineinführten, die das Auge verbannt hielt. Dies war der Stein von Scheließ. Lange war er Teil des Schatzes der Prinzen von Weg gewesen, manchmal war ihm nicht mehr Bedeutung als jedem anderen Schmuckstück zugewiesen worden, manchmal hatte er als Schlafmittel gedient, doch manchmal erfüllte er einen grausamen Dienst: der Unerfahrene, der zu lange in die Tiefe des Kristalls blickte, wurde wahnsinnig. Der Erzmagier Genscher von Weg hatte, als er nach Rok kam, den Kristall mitgebracht, denn in den Händen eines Magiers enthüllte der Stein die Wahrheit. Doch die Wahrheit ist verschieden von Mensch zu Mensch. Und so beschrieb der Meister der Verwandlungen, der den Stein in seinen Händen hielt und durch die ungleichmäßig geprägte Oberfläche in die endlose, schimmernde, zart getönte Tiefe blickte, laut das Bild, das
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er sah: »Ich sehe die Erde vor mir liegen, so als ob ich auf dem Berge Onn im Mittelpunkt der Welt stünde, und mein Auge erschaut alles, was mir zu Füßen liegt, selbst die fernste Insel im fernsten B ereich und was jenseits liegt. Alles ist deutlich. Ich sehe Schiffe auf den Meeresstraßen von Ilien und die Herdfeuer auf Torheven und das Dach des Turmes, in dem wir uns befinden. Doch hinter Rok ist alles leer. Im Süden — nichts, im Westen — nichts, Wathort ist nicht dort, wo es sein soll, und auch die ändern Inseln im Westen fehlen, selbst Pendor, die nächstliegende, ist nicht sichtbar. Und wo ist Osskil und Ebosskil? Enlad ist vom Nebel verdeckt, ein schmutziges Grau liegt wie eine Spinnwebe auf der Insel. Immer mehr Inseln fehlen, und nichts ist auf dem Meer, so muß es ausgesehen haben vor der Schöpfung...«, seine Stimme brach, als er das letzte Wort aussprach, er mußte sich zwingen, es über seine Lippen zu bringen. Er legte den Stein vorsichtig auf den Ständer aus Elfenbein und trat zurück. Sein gütiges Gesicht sah erschöpft aus. Er sagte: »Sagen Sie mir, was Sie sehen!« Der Meister des Gebietens hob den Stein auf und hielt ihn in seinen Händen. Er drehte ihn langsam herum, als suche er auf der unebenen Oberfläche den Eingang zu einer Vision. Lange drehte er ihn hin und her, und sein Gesicht war angespannt. Endlich legte er ihn zurück und sagte: »Verwandler, ich sehe wenig. Fragmente, Fetzen, nichts, was sich zu einem Ganzen schließt.« Der grauhaarige Meister ballte die Hände zu Fäusten: »Ist das nicht schon an sich erschreckend?« »Wieso?« »Sind Ihre Augen oft blind?« rief der Verwandler, und Zorn lag in seiner Stimme. »Sehen Sie nicht, daß sich...«, und er stammelte ein paarmal, bevor er weiterreden konnte, »sehen Sie nicht, daß sich eine Hand über Ihre Augen gelegt hat, so wie sich eine Hand auf meinen Mund gelegt hat?« Der Meister des Gebietens sagte: »Sie sind überarbeitet, Meister.« »Gebieten Sie dem Wesen des Steines, zu erscheinen!« sagte der Meister der Verwandlungen, nachdem er sich gesammelt hatte, doch seine Stimme klang erstickt.
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»Warum?« »Warum? Weil ich Sie darum bitte.« »Hören Sie auf, Meister! Wollen Sie mich etwa herausfordern — wie Knaben vor der Höhle des Bären? Sind wir denn Kinder?« »Ja! Vor dem, was ich im Stein von Scheließ sehe, bin ich ein Kind — ein furchtsames Kind. Gebieten Sie dem Wesen des Steines. Muß ich Sie anflehen?« »Nein«, sagte der große Meister, aber seine Stirn war gefurcht, und er wandte sich von dem älteren Mann ab. Dann streckte er die Arme weit aus in der Großen Geste, mit der die Formeln seiner Kunst beginnen; er hob den Kopf und sprach die Worte der Invokation. Während er sprach, begann ein Licht im Stein zu leuchten. Das Zimmer verdunkelte sich, Schatten drängten sich näher. Als die Schatten tief waren und der Stein ganz hell, legte er die Hände zusammen, hob den Stein vor das Gesicht und blickte hinein in das leuchtende Kristall. Er schwieg eine Weile, dann begann er zu reden: »Ich sehe die Brunnen von Scheließ«, sagte er leise, »die Becken, die Schalen, die Wasserspiele, die silbernen Vorhänge vor den Spalten, wo Farne im Moos wachsen; ich sehe den gewellten Sand, über den die plätschernden Wasser sich ergießen, das Wasser, das aus der tiefen Erde dringt, das Geheimnis, die Unschuld des Ursprungs, die Quellen ...«Er verstummte und blieb lange stehen, ohne sich zu rühren; sein Gesicht war bleich, es sah silbern aus im Schein des Kristalls. Dann schrie er wortlos auf, und, den Kristall achtlos fallen lassend, stürzte er auf die Knie und barg das Gesicht in den Händen. Die Schatten waren verschwunden. Das Sonnenlicht strömte in den mit Geräten angefüllten Raum. Der große Bergkristall, der zu Boden gepoltert war, lag unbeschädigt im Staub und Abfall unter einem Tisch. Der Meister des Gebietens streckte die Hand suchend aus, wie ein Kind griff er nach der Hand des ändern. Er atmete schwer. Endlich stand er auf und lehnte sich ein wenig an den Meister der Verwandlungen. Mit noch zitternden Lippen versuchte er zu lächeln: »Meister, vor Ihren Herausforderungen muß man sich hüten!« »Was haben Sie gesehen, Thorion?«
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»Ich habe die Brunnen gesehen. Ich habe gesehen, wie sie versunken sind, und wie die Flüsse ausgetrocknet sind. Ich habe gesehen, wie die Lippen der Quellränder sich geöffnet haben, und darunter war alles schwarz und trocken. Sie haben das Meer vor der Schöpfung gesehen, ich habe gesehen, was danach - nach dem Ende kommt.« Seine Lippen waren trocken. »Ich wünschte, der Erzmagier wäre hier.« »Ich wünschte, wir könnten jetzt bei ihm sein.« »Wo? Niemand kann ihn jetzt finden.« Der Meister des Gebietens blickte auf und schaute durch das Fenster in einen blauen, heiteren Himmel. »Kein Senden, kein Gebieten kann ihn jetzt erreichen. Er ist dort, wo Sie das Meer gesehen haben, auf dem sich nichts befand. Er kommt an den Ort, wo die Quellen versiegen. Er ist dort, wo uns unsere Künste nichts helfen ... Doch vielleicht gibt es selbst jetzt noch Formeln, die ihn erreichen könnten, vielleicht einige aus der Zauber künde von Paln.« »Das sind doch Formeln, die Tote wieder ins Leben rufen.« »Und manche bringen die Lebenden ins Reich der Toten.« »Sie glauben nicht, daß er tot ist?« »Ich glaube, er geht dem Tod entgegen und wird von ihm angezogen. Wir alle werden davon angezogen. Unsere Macht verläßt uns, unsere Stärke, unsere Hoffnung, unser Glück flieht uns. Die Quellen versiegen.« Der Meister der Verwandlungen blickte ihn sorgenvoll an. »Versuchen Sie nicht, nach ihm zu senden, Thorion«, sagte er schließlich. »Er wußte, was er suchte, lange bevor wir es wußten. Ihm ist die Welt wie der Kristall von Scheließ: er schaut und sieht, was getan werden muß ... Wir können ihm nicht helfen. Die Großen Formeln sind alle gefährdet, und besonders die, die in der Kunde, die Sie erwähnt haben, enthalten sind. Wir müssen hier standhalten und uns um Rok kümmern. Wir müssen die Namen bewahren.« »Gewiß«, sagte der Meister des Gebietens, »doch ich muß gehen und darüber nachdenken.« Er verließ das Turmzimmer, etwas steif ausschreitend, und trug seinen dunklen, edel geformten Kopf hoch. Am nächsten Morgen suchte ihn der Meister der Verwandlungen auf. Als er keine Antwort auf sein Klopfen vernahm, öffnete er die Tür und fand ihn ausgestreckt auf dem Steinboden liegend, so als wäre er
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von einem schweren Wurf zurückgeschleudert worden. Seine Arme waren weit ausgestreckt, wie in einer Invokationsgeste, doch seine Hände waren kalt und seine Augen blicklos. Obwohl der Verwandler, neben ihm kniend, ihn mit der Macht des Magiers zurückrief, indem der seinen Namen Thorion dreimal wiederholte, bewegte er sich nicht. Er war nicht tot, aber nur noch ein bißchen Leben war in ihm, gerade genug, um sein Herz schlagen zu lassen und etwas Luft in seine Lungen zu bringen. Der Meister des Verwandeins griff nach seinen Händen und hielt sie fest, dann flüsterte er: »Oh, Thorion, ich habe dich gezwungen, in den Kristall zu blicken. Das ist meine Schuld!« Dann stand er hastig auf und ging hinaus in den Flur und sagte zu jedem, den er traf, Meister und Schüler: »Der Feind ist in unserer Mitte, in das gutgeschützte Rok ist er gedrungen und hat unsere Macht an der Wurzel angegriffen.« Sonst ein sanfter Mann, sah er jetzt so kalt und fremd aus, daß diejenigen, die ihn sahen, Furcht vor ihm hatten. »Schaut euch den Meister des Gebietens an!« sagte er. »Wer wird ihn zurückrufen können, wenn er, der Meister dieser Kunst, von uns gegangen ist?« Er ging auf sein Zimmer, und alle traten zurück, um ihn vorbeizulassen. Man ließ den Meister der Heilkunde kommen. Er o rdnete an, daß Thorion zu Bett gelegt und warm zugedeckt werde, aber er braute keinen Kräutertee und sang keinen der Gesänge, die einem kranken Körper oder einem gestörten Geist halfen. Einer seiner Schüler war bei ihm, ein junger Bursche, der noch nicht den Zaubergrad erworben hatte, aber in der Heilkunde hochbegabt war. Er fragte: »Meister, kann man denn nichts für ihn tun?« »Nicht auf dieser Seite der Mauer«, sagte der Meister. Dann, sich besinnend, zu wem er sprach, fügte er hinzu: »Er ist nicht krank, mein Junge, doch selbst wenn er ein Fieber oder eine Krankheit hätte, ich weiß nicht, ob unsere Kunst ihm groß helfen könnte. Mir scheint es, als ob unsere Krauter in letzter Zeit an Würze verloren hätten, und obwohl ich die Worte unserer Formeln wie eh und je spreche, so kommt mir doch vor, als wirkten sie nicht mehr so stark.«
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»So etwas ähnliches hat Meister Sänger gestern gesagt. Er hat mitten in dem Lied, das er uns gerade beigebracht hat, aufgehört. ›Ich weiß nicht mehr, was das Lied bedeutet‹, hat er verstört gemurmelt und ist dann aus dem Zimmer gegangen. Einige der Jungen haben gelacht, aber mir warʹs nicht danach, mir warʹs, als würde der Boden unter mir versinken.« Der Meister der Heilkunde schaute in das offene, kluge Gesicht des Jungen und dann hinunter auf das starre Gesicht des Gebieters. »Er wird zurückkommen«, sagte er. »Die Lieder werden nicht vergessen werden.« In dieser Nacht verließ der Meister der Verwandlungen Rok. Niemand hatte ihn fortgehen sehen. Das Fenster seines Zimmers, das auf den Garten hinausging, stand offen. Er blieb verschwunden. Sie nahmen an, daß er seine eigene Kunst dazu verwendet hatte, sich zu verwandeln, vielleicht in irgendeinen Vogel oder in ein anderes Tier, in Nebel oder in Wind, denn alle Formen, alle Substanzen lagen im Bereich seiner Verwandlungskunst. Und so war er entflohen, vielleicht um den Erzmagier zu suchen. Unter ihnen waren manche, die um die Gefahr wußten, die drohte, wenn jemand in seiner eigenen Verwandlung gefangen wird. Das kann geschehen, wenn die Macht nachläßt oder der Wille erlahmt. Sie fürchteten um ihn, doch sie sprachen nicht von ihrer Furcht. So kam es, daß drei Meister im Konzil der Weisen fehlten. Als die Tage vergingen und keine Nachricht vom Erzmagier sie erreichte, als der Meister des Gebietens weiterhin wie tot auf seinem Bett lag und der Meister der Verwandlungen verschwunden blieb, breitete sich Kälte und Bedrückung im Großhaus von Rok aus. Die Jungen flüsterten untereinander, und manche redeten davon, Rok zu verlassen, denn der Unterricht litt, und sie lernten nicht viel. »Vielleicht«, so meinte einer, »war alles, diese ganzen geheimen Künste und Mächte, von Anfang an nichts als Lüge und Täuschung. Von den Meistern übt nur noch Meister Hand seine Künste, und das weiß ja jeder, daß das nichts weiter ist als Spielerei und Illusion! Und die anderen verstecken sich und weigern sich, irgend etwas zu tun, weil ihre Künste jetzt offenbart sind.« Und ein anderer, der das überhörte, meinte: »Was ist Zauberei denn schon groß?
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Die ganze Magierkunst ist doch nichts weiter als Schein. Hat sie denn schon jemals einen Menschen vom Tod errettet oder ihm ein langes Leben verliehen? Wenn die Magier die Macht wirklich hätten, derer sie sich rühmen, dann würden sie doch alle ewig leben!« Und er und die anderen Jungen begannen, vom Sterben der großen Magier zu reden, wie Morred im Kampf gefallen war, wie Nereger vom Grauen Magier getötet wurde und Erreth-Akbe vom Drachen, und wie Genscher, der letzte Erzmagier, einfach krank wurde und im Bett starb, wie ein ganz gewöhnlicher Mensch. Manche Jungen hörten zu und freuten sich, denn sie besaßen neidvolle Herzen, andere aber hörten zu und litten. Und während der ganzen Zeit blieb der Meister der Formgebung im Immanenten Hain, in den er niemanden hineinließ. Doch der Pförtner, obgleich er selten gesehen wurde, hatte sich nicht verändert. Kein Schatten lag über seinen Augen. Er lächelte und hielt die Türen des Großhauses bereit zur Rückkehr seines Herrn.
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DIE DRACHENINSELN
DIESER HERR ÜBER DIE INSEL DER WEISEN wachte gerade auf, weit draußen auf dem Meer im äußersten Westbereich und streckte seine verkrampften, vom Liegen schmerzenden Glieder. Er gähnte. Der Morgen war klar und kalt. Ein paar Minuten später deutete er nach Norden und sagte zu seinem noch verschlafenen Gefährten: »Schau! Die zwei Inseln dort! Kannst du sie sehen? Das sind die südlichsten der Dracheninseln.« »Sie haben die Augen eines Raubvogels, mein Gebieter«, sagte Arren und spähte aus schlaftrunkenen Augen über das Meer. Er sah nichts. »Deswegen bin ich ja auch der Sperber«, sagte der Magier; er war noch immer in bester Stimmung; was ihnen drohte, schien ihn nicht zu bedrücken. »Ich sehe Möwen«, sagte Arren, nachdem er seine Augen wachgerieben und den blaugrauen Horizont, der sich vor dem Boot erstreckte, abgesucht hatte. Der Magier lachte. »Selbst einem Falken dürfte es schwerfallen, Möwen auf zwanzig Meilen Entfernung zu sehen, meinst du nicht auch?« Als die Sonne hinter dem Morgennebel im Osten immer heller wurde, sah Arren, wie die winzigen, kreisenden Punkte in der Luft zu schillern begannen, wie Goldblättchen, die im Wasser geschüttelt oder wie Staubkörnchen, die von einem Sonnenstrahl erfaßt wurden. Und plötzlich wurde Arren bewußt, daß es Drachen waren. Als sich die Weitblick den Inseln näherte, sah Arren, wie die Drachen, vom Morgenwind getragen, in die Höhe stiegen und ihre Kreise zogen, und sein Herz schlug höher, und ein Gefühl der Erfüllung durchströmte ihn, so heftig, daß es ihn schmerzte. Die ganze Glorie, die ganze Pracht des Lebens war in diesem Flug enthalten: eine ungeheure Stär-
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ke, eine ungezügelte Wildheit, eine Geschmeidigkeit, wie sie nur der Vernunft eigen war, lagen in diesem Flug. Denn dies waren denkende Geschöpfe, die über eine Sprache verfügten und über uralte Weisheit. In den gemessenen Bahnen ihres Fluges offenbarte sich ein gemeinsamer, mächtiger Wille. Arren sagte kein Wort, doch er dachte: Jetzt ist es mir gleichgültig, was folgt, denn ich habe die Drachen gesehen, wie sie auf den Schwingen des Morgenwindes geflogen sind. Manchmal wurden die gleichmäßigen Bahnen und Kreise unterbrochen, und dann und wann blies der eine oder der andere der Drachen eine lange Feuerflamme aus seinen Nüstern, die sich wand und einen Augenblick lang in der Luft schwebte und der Krümmung des langen Drachenkörpers folgte. Der Magier ließ seinen Blick prüfend auf ihm ruhen, dann sagte er: »Sie sind zornig. Sie drücken ihren Zorn im Tanz aus.« Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Jetzt sitzen wir im Hornissennest.« Denn die Drachen hatten das kleine Segel auf den Wellen erspäht, und einer nach dem anderen brach aus dem Reigen des Tanzes aus und kam, lang und gerade gestreckt, mit mächtigen Flügelschlägen die Luft zerteilend, auf das kleine Boot zugeschossen. Der Magier blickte auf Arren, der an der Ruderpinne saß, denn die Wellen schlugen heftig und unregelmäßig gegen das Boot. Der Junge hielt das Boot mit fester Hand auf geradem Kurs, doch seine Augen waren auf die mächtigen Schwingen gerichtet. Der Magier schien befriedigt, er wandte sich wieder um und, neben dem Mast stehend, ließ er den magischen Wind erschlaffen. Er hob seinen Stab und sprach laut. Beim Klang seiner Stimme und den Worten der Ursprache machten einige der Drachen in der Luft kehrt und flogen vereinzelt zu den Inseln zurück. Andere hielten inne und schwebten in der Luft, ihre langen Krallen zwar ausgestreckt, doch sie verharrten reglos. Einer kam herunter und flog langsam auf sie zu: zwei mächtige Flügelschläge brachten ihn über das Boot. Der schuppige Unterleib berührte fast die Mastspitze. Arren sah die verrunzelte, ungeschützte Haut zwischen den Schultergelenken und der Brust, die, wie das Auge, verletzbar war; nur ein mit außerordentlichen Zauberkräften gerüsteter Speer konnte dem
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Rest des Körpers Schaden zufügen. Der aus dem langen, mit Zähnen gespickten Rachen strömende Rauch erstickte ihn fast, und der Aasgestank ihres Atems würgte ihn. Er biß die Zähne zusammen und hielt den Atem an. Der Schatten flog vorbei. Er kam wieder zurück, und dieses Mal spürte Arren die heiße Glut des Rachens, bevor er den Rauch roch. Er vernahm Sperbers klare, gebieterische Stimme. Der Drache flog weiter. Dann zerstoben sie alle, wie feurige Funken vom Windstoß davongetragen. Arren atmete tief aus und wischte sich über die schweißbedeckte Stirn. Er blickte seinen Gefährten an und sah, daß dessen Haar weiß war, der Atem des Drachen hatte die Haarspitzen zu Asche verbrannt. Und das schwere Segeltuch war auch auf der einen Seite braun verkohlt. »Dein Kopf ist etwas angesengt, mein Junge.« »Mein Gebieter, auch Ihrer ist nicht mehr so, wie er war.« Sperber fuhr sich überrascht durchs Haar. »Du hast recht! Das war eine Frechheit, doch ich gehe einem Streit mit diesen Geschöpfen aus dem Wege. Sie scheinen toll oder ganz verängstigt zu sein. Sie haben nicht gesprochen. Noch nie habe ich einen Drachen gesehen, der nicht, bevor er auf seine Beute herabstieß, etwas sagte, wenn es auch nur ein paar Worte waren, genug jedenfalls, um die Qual zu verlängern ... Jetzt müssen wir weiter. Schau ihnen nicht in die Augen, Arren! Wende dein Gesicht zur Seite, wenn es nötig ist. Wir segeln mit dem Wind der Welt weiter. Er bläst ja ganz frisch aus dem Süden. Es ist möglich, daß ich meine Kunst für anderes brauche. Halte das Boot auf Kurs.« Die Weitblick segelte weiter, und bald tauchte linker Hand in der Ferne eine Insel auf, und rechts lagen die Zwillingsinseln, die sie zuerst gesehen hatten. Sie bestanden aus niederen Felsen, die nackt emporragten, weißlich gesprenkelt vom Kot der Drachen, mit kleinen, dunklen Punkten übersät, wo die schwarzköpfigen Seeschwalben nisteten, die sich furchtlos unter den Drachen tummelten. Die Drachen waren emporgestiegen und kreisten wie Aasgeier hoch in der Luft. Keiner kam mehr auf das Boot heruntergestoßen. Manchmal schrien sie sich etwas zu, hoch und krächzend, über den Abgrund
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hinweg, der zwischen ihnen lag. Arren konnte nicht verstehen, ob es Worte waren. Das Boot umsegelte eine kleine Landenge, und Arren sah etwas am Strand liegen, das wie eine zerfallene Festung aussah. Es war ein Drache. Ein schwarzer Flügel lag unter ihm, der andere streckte sich riesig über den Sand ins Wasser, und das Auf und Ab der Wellen hob und senkte ihn, eine klägliche Nachahmung des Fluges. Der lange, schlangenartige Körper lag ausgestreckt über Sand und Gestein. Eine Vorderklaue fehlte, die Schuppen und das Fleisch hingen von den Rippen los, der Bauch war aufgerissen, und giftiges Drachenblut hatte eine weite Fläche des Sandes schwarz gefärbt. Doch der Drache lebte noch. Die Lebenskraft eines Drachens ist so groß, daß nur eine ihm ebenbürtige Zauberkraft ihn schnell töten kann. Die grüngoldenen Augen waren offen, und als das Boot vorbeiglitt, bewegte sich der schmale, riesige Kopf ein wenig, und ein dünner Strahl Blut schoß aus den Nüstern. Der Strand zwischen dem sterbenden Drachen und dem Meer war plattgewalzt und zertrampelt von den Füßen und den schweren Körpern anderer Drachen, seine Eingeweide waren in den Sand hineingestampft worden. Weder Arren noch Sperber redeten, bis sie ein gutes Stück von der Insel entfernt waren und sich mitten auf der breiten Meeresstraße befanden, die, gespickt mit Untiefen, Riffen und Klippen, die nördliche der Doppelinselkette von der südlichen trennte. Da erst sagte Sperber mit ausdrucksloser, harter Stimme: »Das war ein schrecklicher Anblick.« »Fressen sie sich... gegenseitig auf?« »Nein, genauso wenig wie wir es tun. Sie sind wahnsinnig geworden. Sie haben ihre Sprache verloren. Sie, die lange vor den Menschen über Sprache verfügten, die älter sind als jedes heute existierende Lebewesen, die Kinder von Segoy — sie sind nun nichts weiter als Tiere und von einer blinden, primitiven Furcht besessen. ›Oh, Kalessin! Wohin haben dich deine Flügel getragen? Hast du noch erlebt, wie deine Rasse es gelernt hat, sich zu schämen?‹« Seine Worte hallten wie Metallschläge über das Meer, und er blickte suchend in die Höhe. Doch die Drachen waren zu-
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rückgeblieben. Sie kreisten jetzt niedriger über der Felseninsel und dem mit Blut getränkten Strand. Über Arren und Sperber spannte sich ein blauer Himmel, in dem die Mittagssonne hoch stand. Es lebte zu dieser Zeit kein Mensch, außer dem Erzmagier, der die Dracheninseln angesteuert und besichtigt hatte. Vor mehr als zwanzig Jahren hatte er sie mit seinem Boot von Osten nach Westen und wieder zurück durchmessen. Für einen Seemann waren sie beides: ein Wunder und ein Alptraum. Die Gewässer dort waren ein Labyrinth blauer Meerengen und türkisfarbener Untiefen, von Felsen und Riffen unterbrochen, und durch dieses Gewirr bahnten sie sich jetzt, mit allergrößter Vorsicht, Hand und Worte zu Hilfe nehmend, ihren Weg. Manche Felsen waren flach und verschwanden teils ganz, teils halb unter den sie umspülenden Wellen; sie waren mit Seeanemonen, Muscheln und sich schlangelnden Farnen bedeckt und sahen wie teils erstarrte, teils sich windende Wasserungeheuer aus. Manche ragten hoch aus den Wogen empor, spitze Türme, steile Felsen, wie Bögen und Halbbögen, wie gemeißelte Säulen, wie fantastische Tiere, wie Eberrücken oder Schlangenköpfe aussehend; alle waren riesig und unförmig, als stecke ein dumpfes, nur halb erwachtes Leben im Fels. Die See schlug dagegen, rhythmisch wie ein Atem, und sie waren naß und glänzten unter der hellen, harten Gischt. In einem dieser Felsen konnte man, von Süden kommend, die gebeugten Schultern und das schwere, edelgeformte Haupt eines Mannes erkennen, der sich gedankenverloren nach vorne neigte. Nachdem das Boot vorbeigesegelt war und weiter gegen Norden steuerte, war er verschwunden, nur eine Höhle, die sich in den riesigen Felsen hinein erstreckte, war sichtbar, in der das Wasser sich regelmäßig mit hohlem Klatschen hob und senkte. Und in diesem Geräusch schien ein Wort, eine Silbe, enthalten zu sein. Als sie weitersegelten, verloren sich die verstümmelnden Echos, und die Silbe wurde klar und vernehmbar, so daß Arren fragte: »Hat die Höhle eine Stimme?« »Die Stimme des Meeres.« »Aber sie spricht ein Wort.«
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Sperber horchte; er warf einen Blick auf Arren, dann zurück zur Höhle: »Was hörst du?« »Es klingt wie Ahm.« »In der Ursprache heißt das ›Anfang‹ oder ›vor langer Zeit.‹ Ich höre Ohb, und das kann heißen ›das Ende.‹ — Paß auf!« Er unterbrach sich, gerade als Arren warnend rufen wollte »Untiefe!« Obgleich die Weitblick sich geschickt wie eine Katze zwischen den gefährlichen Stellen hindurchwand, waren sie eine Weile vollauf mit dem Steuern beschäftigt. Die Höhle, in der gleichmäßig und unaufhörlich das rätselhafte Wort donnerte, blieb hinter ihnen zurück. Das Wasser wurde tiefer, und sie verließen die Fantasmagorie der Felsen. Vor ihnen lag eine Insel, die wie ein Turm über das Wasser ragte. Ihre steilen Flanken waren schwarz und schienen aus zahlreichen, dicht beisammen stehenden Säulen oder Zylindern zu bestehen, die spiegelblank und oben glatt abgeschnitten waren. Sie ragten mehr als dreihundert Fuß hoch aus dem Wasser. »Das ist Kalessins Hort«, sagte der Magier. »Das haben mir die Drachen erzählt, als ich vor vielen Jahren hier war.« »Wer ist Kalessin?« »Der Älteste...« »Hat er diese Insel so gebaut?« »Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt gebaut wurde, und auch nicht, wie alt er ist. Ich sage zwar ›er‹, aber selbst das weiß ich nicht... In Kalessins Augen ist Orm Embar noch ein Jährling. Und du und ich, wir sind nichts als Eintagsfliegen.« Er blickte prüfend auf die drohenden Palisaden, doch Arren schaute beklommen hinauf. Er stellte sich vor, wie ein Drache so schnell wie ein Schatten von diesem hohen, schwarzen Rand herunter auf sie zustoßen konnte. Doch kein Drache zeigte sich. Sie bewegten sich langsam durch das stille Wasser im Windschutz des Felsens und hörten nur das leise Raunen und Klatschen der beschatteten Wellen gegen die Säulen aus Basalt. Arren steuerte das Boot, und Sperber stand im Bug und spähte die Felsen entlang hinauf in den hellen Himmel, der sich vor ihnen auftat.
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Endlich glitten sie aus dem Schatten von Kalessins Horst hinaus in das helle Sonnenlicht des Spätnachmittags. Die Dracheninseln lagen hinter ihnen. Der Magier hob den Kopf wie ein Mensch, der endlich sieht, was er erwartet hat, und über die weite, lichtüberflutete Fläche, die sich vor ihnen erstreckte, kam auf goldenen Flügeln der Drache Orm Embar herangeschwebt. Arren hörte, wie Sperber ihm zurief: »Aro Kalessin?« Es war nicht schwer zu erraten, was das bedeutete, doch die Antwort des Drachen verstand er nicht. Immer wenn er die Ursprache hörte, kam es ihm vor, als verstünde er sie fast, als läge sie ihm auf der Zunge, als wäre es eine Sprache, die er vergessen, und nicht eine Sprache, die er nie gekannt hatte. Wenn der Magier in ihr redete, so war seine Stimme viel klarer, als wenn er hardisch redete, und doch lag eine Stille darin, wie sie von einer großen, nur ganz leicht berührten Glocke hervorgebracht werden kann. Die Stimme des Drachen dagegen war wie ein Gong, tief und schrill zugleich, oder wie eine Zimbel, klingend und schellend. Arren sah seinen Gefährten in dem schmalen Bug stehen und zu der riesigen Kreatur sprechen, die über ihnen schwebte und den halben Himmel bedeckte. Er jauchzte innerlich auf und Stolz durchflutete ihn bei diesem Anblick; er sah, wie schwach, wie gering und wie schrecklich zugleich ein Mensch sein kann. Denn der Drache hätte mit einem Schlag seiner gekrümmten Klaue den Kopf des Mannes von den Schultern reißen können, er hätte das Boot zermalmen und versenken können wie ein Stein ein schwimmendes Blatt versenkt — wenn es nur auf die Größe ankäme. Doch Sperber war so gefährlich wie Orm Embar, und der Drache wußte das. Der Magier wandte den Kopf: »Lebannen«, sagte er, und der Junge stand auf und kam nach vorne, obgleich er überhaupt kein Verlangen verspürte, sich diesem fünf Meter langen Rachen und den schmalen, gelbgrünen Augen mit den geschlitzten Pupillen zu nähern, die von oben auf ihn herabbrannten. Sperber sagte kein Wort zu ihm, doch er legte seine Hand auf Arrens Schulter und sprach wieder kurz zu dem Drachen.
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»Lebannen«, ließ sich die mächtige Stimme vernehmen, »Agni Lebannen!« Er blickte nach oben, doch ein leichter Druck von Sperbers Hand erinnerte ihn daran, dem Blick des Drachen nicht zu begegnen. Er konnte nicht in der Ursprache reden, aber er war nicht stumm und nicht dumm: »Ich begrüße Sie, Orm Embar, Fürst über alle Drachen«, sagte er mit klarer Stimme, wie ein Prinz, der einen Ebenbürtigen begrüßt. Danach war alles still, nur Arrens Herz schlug laut und heftig. Doch Sperber, der neben ihm stand, lächelte. Dann hob der Drache wieder an zu sprechen, und Sperber antwortete; Arren kam es wie eine Ewigkeit vor. Doch endlich, ganz plötzlich, war alles vorüber. Der Drache sprang mit einem Schlag seiner Schwingen so kraftvoll in die Höhe, daß er das Boot fast zum Kentern brachte; dann flog er davon. Arren sah, daß die Sonne dem Untergang nicht viel näher war als zuvor. Nur wenig Zeit war verstrichen, doch das Gesicht des Magiers war aschgrau und schweißbedeckt, und seine Augen glitzerten, als er sich Arren zuwandte. Er setzte sich auf die Ruderbank. »Du hast dich gut gehalten, mein Junge«, sagte er heiser. »Es ist nicht leicht — mit einem Drachen zu reden.« Arren holte etwas zu Essen heraus, denn sie hatten den ganzen Tag noch keinen Bissen zu sich genommen, und der Magier redete nicht mehr, bis er gegessen und getrunken hatte. Als sie fertig waren, stand die Sonne schon tief am Himmel, obwohl in diesen nördlichen Breiten, wenn die Mittsommernacht noch nicht allzu lange vorbei ist, die Nächte spät und langsam kommen. »Na«, sagte er endlich, »Orm Embar hat mir ja, wenn man in Betracht zieht, daß es von ihm kommt, ziemlich viel gesagt. Er sagte, daß der, den wir suchen, auf Selidor ist und doch nicht dort ist ... Einem Drachen fällt es schwer, sich klar auszudrücken. Ihre Gedankengänge sind komplex. Und selbst wenn einer von ihnen einem Menschen die Wahrheit sagen wollte, was selten vorkommt, dann weiß er immer noch nicht, was der Mensch als Wahrheit betrachtet. Deswegen
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habe ich ihn gefragt: ›So wie dein Vater Orm sich auf Selidor befindet?‹ Denn wie du ja weißt, Orm und Erreth-Akbe sind dort im Kampf gefallen. Und er antwortete: ›Ja und nein. Du wirst ihn auf Selidor, doch nicht auf Selidor finden! ‹« Sperber hielt inne und grübelte eine Weile über die Worte nach, während er an einer Brotkruste kaute. »Vielleicht wollte er damit sagen, daß der Mensch, den ich suche, nicht auf Selidor ist, doch ich muß nach Selidor, um zu ihm zu gelangen. Vielleicht... Dann habe ich ihn über die anderen Drachen ausgefragt. Er sagte, daß dieser Mensch sich unter sie gewagt habe, denn er habe keine Furcht vor ihnen, denn wenn er getötet würde, dann kehrte er in seiner anderen Gestalt lebendig wieder zurück. Daher fürchten sie ihn als ein Wesen, das außerhalb der Natur steht, das unnatürlich ist. Ihre Furcht verleiht seiner Magie mehr Kraft über sie, und er nahm ihnen die Ur—, die Schöpfungssprache weg und überließ sie ihren wilden Instinkten. Sie fressen sich gegenseitig auf, nehmen sich das Leben, indem sie sich ins Meer stürzen — ein abscheulicher Tod für die Feuerechsen, die Tiere des Windes und des Feuers. Dann habe ich gefragt: ›Und wo ist Kalessin, dein Herr?‹ Und darauf hat er nur gesagt: ›Im Western, und das kann bedeuten, daß Kalessin in andere Länder geflogen ist, die weiter entfernt liegen, als je ein Schiff gesegelt ist, wenn man den Drachen glauben kann; es kann aber auch etwas anderes bedeuten. Dann hörte ich auf, Fragen zu stellen, und er fragte mich: ›Ich flog über Kaltuel, als ich vom Norden zurückkehrte und über die Tore Torins. Auf Kaltuel sah ich, wie Dorfbewohner ein Kind auf einem Altar opferten, und auf Ingat sah ich, wie ein Zauberer von den Bürgern der Stadt gesteinigt wurde. Werden sie das Kind verzehren, was meinst du, Ged? Wird der Zauberer vom Tode zurückkehren und Steine auf die Städter werfen?‹ Ich dachte zuerst, daß er mich ausspotte, doch dann merkte ich, daß es ihm ernst war. Er fuhrt fort: ›Alles ist sinnlos geworden. Die Welt hat einen Sprung bekommen, die See rinnt davon, das Licht entflieht. Wir bleiben zurück im trockenen Land. Es wird keine Sprache, keinen Tod mehr geben.‹ Und dann verstand ich endlich, was er mir zu sagen hatte.«
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Arren verstand es nicht und war darüber hinaus tief beunruhigt. Denn Sperber, als er die Worte des Drachen wiederholte, hatte seinen wahren Namen genannt. Dies rief in Arren die unbehagliche Erinnerung an die Frau auf Lorbanery wach, die aufgeschrien hatte: »Mein Name ist Akaren!« Wenn die Zauberkräfte, wenn die Musik, die Sprache und das Vertrauen schwächer wurden und langsam abstarben, wenn diese irrationale Furcht sie überkam, die von den Drachen Besitz ergriffen hatte, und sie dazu trieb, sich gegenseitig zu zerstören, wenn das eintrat, konnte sein Gebieter dann noch widerstehen? War er stark genug dazu? Er sah nicht stark aus, wie er so dasaß, vornübergebeugt über sein Mahl aus Brot und geräuchertem Fisch, mit ergrautem, von Feuer angesengtem Haar, mit seinen ausdrucksvollen, schmalen Händen und seinem müden Gesicht. Doch der Drache hatte ihn gefürchtet. »Was liegt dir auf dem Herzen, Junge?« Es gab keinen Ausweg. Er mußte die Wahrheit sagen. »Mein Gebieter«, sagte er, »Sie haben Ihren wahren Namen ausgesprochen.« »O ja, stimmt. Ich habe vergessen, daß ich das nicht früher getan habe. Du mußt meinen wahren Namen wissen, wenn wir dorthin kommen, wo wir hingehen müssen.« Er blickte, noch immer kauend, auf und sah Arren an. »Hast du geglaubt, daß ich senil geworden bin und herumlaufe und meinen Namen vor mich hinschwätze, wie es alte, tattrige Männer tun, die keine Scham und keine Vernunft mehr haben? Noch bin ich nicht soweit, mein Junge!« »Nein«, antwortete Arren, so verwirrt, daß er nichts weiter hinzufügen konnte. Er war erschöpft, der Tag war lang gewesen und voll von Drachen. Und vor ihnen breitete sich die Dunkelheit aus. »Arren«, sagte der Magier, » — nein, Lebannen: dort wo wir hingehen, gibt es kein Versteck. Dort trägt alles seinen wahren Namen.« »Den Toten kann man nicht mehr weh tun«, sagte Arren besorgt. »Nicht unter den Toten allein werden Menschen bei ihrem wahren Namen gerufen. Die, die am tiefsten getroffen werden können, die am verwundbarsten sind, die Liebe gegeben und sie nicht zurückgenommen haben, die nennen sich auch bei ihren wahren Namen; all die, die treue Herzen haben, die Liebe schenken... Du bist ganz erschöpft, Junge.
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Leg dich hin und schlafe! Jetzt gibt es nichts mehr zu tun, nur der Kurs muß die ganze Nacht eingehalten werden. Und morgen früh werden wir die letzte Insel der Welt sehen.« In seiner Stimme lag wohltuende Wärme. Arren rollte sich im Bug zusammen, und der Schlaf überkam ihn sofort. Er hörte noch, wie der Magier einen leisen, fast flüsternden Gesang anstimmte, nicht in Hardisch, sondern in der Ursprache, und als er endlich verstand, was die Worte bedeuteten, gerade an der Schwelle des Verstehens, schlief er ein. Der Magier verstaute das Brot und den Fisch, sah nach dem Segel, überprüfte alles im Boot. Dann nahm er die Segelleine in die Hand und setzte sich auf die hintere Ruderbank. Er rief einen kräftigen magischen Wind herbei, der das Segel prall füllte, und die Weitblick flog pfeilschnell über das Meer. Er blickte auf Arren. Das Licht der Abendsonne lag rotgolden auf dem Gesicht des schlafenden Knaben. Das dichte Haar war vom Wind zerzaust. Der weiche, unbeschwerte, etwas hochmütige Ausdruck im Gesicht des Jungen, der vor ein paar Monaten im Brunnenhof des Großhauses vor dem Erzmagier gesessen hatte, war verschwunden; das Gesicht vor ihm war schmaler, härter und viel ausdrucksvoller geworden. Aber es war nicht minder schön. »Ich habe keinen gefunden, der mir auf meinem Wege folgen wird«, sprach der Erzmagier Ged laut zu dem schlafenden Jungen oder in den leeren Wind hinein. »Keinen außer dir. Und du mußt deinen eigenen Weg gehen, nicht den meinen. Doch dein Königtum, das wird man mir zum Teil verdanken. Denn ich erkannte dich als Erster, ich erkannte dich! Und man wird mich später für diese Tat mehr rühmen als für jede andere, die ich mit Hilfe meiner magischen Kraft vollbracht habe — wenn es ein Später geben wird. Denn zuerst müssen wir dorthin gehen, wo sich das Gleichgewicht der Welt die Waage hält, auf dem Zünglein selbst müssen wir stehen. Und wenn ich stürze, so wirst auch du untergehen, und mit dir der Rest — eine Zeitlang, eine Zeitlang. Kein Dunkel dauert ewig. Und selbst dort, selbst dort scheinen Sterne ... Doch, oh, wie gerne würde ich dich gekrönt in Havnor sehen, das Licht der
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Sonne hell auf dem Turm des Schwertes und auf dem Ring, den wir, Tenar und ich, aus den finsteren Gräbern von Atuan zurückgebracht haben, noch bevor du geboren wurdest.« Er lachte kurz auf und wandte sein Gesicht nach Norden, und zu sich selbst im vertrauten Dialekt sprechend sagte er: »Ein Ziegenhirte will den Erben Morreds auf seinen Thron erheben! Werde ich denn nie auslernen?« Nach einer Weile, während er mit dem Segeltau in der Hand da saß und das pralle Segel, rötlich leuchtend im untergehenden Sonnenlicht, betrachtete, sprach er leise: »Weder nach Havnor noch nach Rok zieht es mich zurück. Es wird Zeit, daß ich mein Streben nach Macht aufgebe, daß ich die alten Spiele hinter mir lasse und weitergehe. Es wird Zeit, daß ich heimgehe. Ich würde Tenar wiedersehen, und Ogion, und noch mit ihm reden können, bevor er stirbt, dort in dem Haus auf dem Felsen von Re Albi. Ich sehne mich danach, wieder auf dem Berg zu wandern, in den Wäldern auf dem Berge Gont, im Herbst, wenn die Blätter bunt sind. Kein Königreich kommt diesen Wäldern gleich. Es wird Zeit, daß ich dorthin zurückkehre, schweigend und allein. Und vielleicht werde ich dort das lernen, was mich keine Tat, keine Kunst und keine Macht lehren konnte, das, was ich nie gelernt habe.« Im Westen glühte es noch einmal auf in einer letzten, lodernden, wildschönen Pracht. Das Meer lag dunkelrot vor ihm, das Segel über ihm war so rot wie Blut. Dann kam auf leisen Sohlen die Nacht. Und die ganze Nacht hindurch schlief der Knabe, während der Mann wachte und aufmerksam nach vorne in das Dunkel spähte. Kein Stern schien am Himmel.
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SELIDOR
ALS ARREN FRÜH AM MORGEN aufwachte, erblickte er im Westen die blaue Küste Selidors, die lang und flachgestreckt in der Ferne vor ihnen lag. Im großen Saal zu Berila hingen alte Karten, die von der Zeit herrührten, als es noch Könige gab und Handelsschiffe und Forschungsexpeditionen von den Innenländern hinaus in die äußersten Bereiche segelten. Ein großes Mosaik, das sich über zwei Wände erstreckte und eine Karte des Ostens und des Westens darstellte, zierte den Thronsaal. Die Insel Enlad, in Grau und Gold ausgelegt, befand sich direkt über dem Thron. Die Karte, die er so oft in seiner Jugend betrachtet hatte, breitete sich jetzt vor seinem geistigen Auge aus. Im Norden von Enlad lag Osskil und westlich davon Ebosskil; im Süden lagen Semel und Paln. Diese vier stellten die Grenzen der Innenländer dar, dahinter erstreckte sich das helle Blaugrün einer leeren See, in die ab und zu ein winziger springender Delphin oder ein größerer Walfisch eingelassen war. Die See war leer bis zu der Ecke, wo die Nord-und Westwand zusammentrafen. Auf der westlichen Wand, gleich neben der Ecke, lag Narveduen und dahinter drei kleinere Inseln. Dann sah man wieder nichts als leere See, die sich über die ganze Wand erstreckte, bis man auf diese letzte Insel, Selidor, stieß, und dahinter hörte alles auf. Die Umrisse dieser letzten Insel lagen in allen Einzelheiten vor seinem geistigen Auge: lang und leicht geschwungen umschloß sie eine große Bucht direkt in der Mitte, die eine schmale Ein- und Ausfahrt zu der offenen See im Osten hatte. Sie waren nicht weit genug nach Norden gesegelt, um diesen schmalen Eingang in die Bucht zu sehen. Sie näherten sich der Insel von Süden her und steuerten auf eine kleine, tiefe Bucht
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am südlichsten Vorgebirge zu und hier, während die Sonne vom Dunst des Morgens noch bedeckt, niedrig am Himmel stand, gingen sie an Land. Sie hatten das Ende ihrer großen Fahrt von den Straßen von Balatran bis zu der westlichsten aller Inseln erreicht. Die Ruhe des Landes war ihnen ungewohnt, als sie — nachdem die Weitblick hoch aufs Ufer gezogen worden war — nach so langer Zeit endlich wieder auf festem Boden standen. Ged kletterte eine langgestreckte Düne hinauf, die mit Gras bewachsen war, und deren oberster Rand, von zähen Graswurzeln festgehalten, sich über einen steilen Abgrund wölbte. Als er oben angekommen war, ließ er seinen Blick weit über Norden und Westen schweifen. Arren war noch beim Boot und zog seine Schuhe an, die er so lange nicht getragen hatte. Er nahm auch sein Schwert aus der Gerätekiste und gürtete es. Dieses Mal stiegen keine Zweifel in ihm auf, ob er das Rechte tat. Dann kletterte er hinauf zu Ged und blickte ebenfalls über das Land. Die Dünen erstreckten sich ungefähr eine halbe Meile weit gegen das Landinnere, dann folgten Lagunen, mit Schilfrohr und Binsen dicht bestanden, und dahinter erhoben sich niedrige Hügel, die sich gelbbraun und kahl in der Ferne verloren. Selidor besaß seine eigene wilde und einsame Schönheit. Nirgends sah man die Spuren menschlicher Existenz. Kein Tier ließ sich blicken, die mit Schilf gefüllten Seen bargen keinen Vogel, keiner Wildente und keiner Möwe Schrei zerriß die Luft. Sie gingen die Düne hinab. Der Sandhügel erstickte das Geräusch der Brandung und hielt den Wind ab. Plötzlich umgab sie Stille. Zwischen der ersten und der nächsten Düne war ein kleines Tal, mit reinem Sand bedeckt und vom Wind geschützt; die Mittagssonne lag wärmend auf dem westlichen Hang. »Lebannen«, sagte der Magier, er nannte ihn jetzt bei seinem wahren Namen, »ich konnte heute nacht nicht schlafen, doch jetzt muß ich es nachholen. Bleib hier und wache!« Er legte sich in die Sonne, denn im Schatten war es zu kühl, hob seinen Arm schützend vor die Augen, seufzte tief und schlief ein. Arren ließ sich neben ihm nieder. Er sah nur die weißen Hügel des kleinen Tales und auf den Rändern der Dünen das kurze Gras, das sich vor
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einem milchigblauen Morgenhimmel bewegte, im dem die gelbe Sonne stand. Kein Laut, nur das gedämpfte Murmeln der Brandung und ab und zu das schwache Raunen des vom Wind bewegten Grases ließ sich vernehmen. Arren sah hoch oben etwas fliegen, das wie ein Adler aussah, doch kein Adler war. Der Vogel kreiste, dann stieß er herab und kam mit donnerndem Getöse und einem schrillen Pfeifen seiner ausgestreckten goldenen Flügel direkt auf ihn zu. Er ließ sich, mit gestreckten Klauen, auf dem Rand der Düne nieder. Der riesige Kopf hob sich schwarz und feurigglitzernd vor der Sonne ab. Der Drache kroch etwas näher, den Hang herunter, und sprach: »Agni Lebannen!« Zwischen ihm und Ged stehend, mit gezogenem, blanken Schwert, antwortete Arren: »Orm Embar!« Jetzt fühlte sich das Schwert ganz leicht an. Der glatte, abgenutzte Griff schmiegte sich in seine Hand: er paßte genau hinein. Die Klinge war bereitwillig, leicht und mühelos aus der Scheide geschlüpft. Die im Schwert steckende Kraft und sein hohes Alter waren auf Arrens Seite, und jetzt wußte er, wie es zu gebrauchen war. Erst jetzt war es sein Schwert. Der Drache sprach wieder, doch Arren konnte ihn nicht verstehen. Er warf einen Blick auf seinen schlafenden Gefährten, der weder von dem Lärm noch von dem plötzlichen Wind geweckt worden war, und sagte zu dem Drachen: »Mein Gebieter ist müde, er schläft.« Daraufhin begann Orm Embar näher zu kriechen und steuerte auf den Fuß des Hügels zu. Auf der Erde bewegte er sich schwerfällig, nicht leicht und geschmeidig wie im Flug, doch lag eine gewisse Grazie in dem langsamen, schweren Tappen seiner großen Klauen, in der kraftvollen Krümmung seines gezackten Schwanzes. Am Fuß des Hügels angekommen, faltete er seine Beine unter sich und legte sich darauf, dann hob er den Kopf und rührte sich nicht mehr. Jetzt glich er den Drachen, die sich auf den Helmen alter Krieger kunstvoll erhoben. Arren spürte, wie das gelbe Auge, nicht mehr als drei Meter entfernt, auf ihm ruhte. Er roch den leichten Brandgeruch, der ihn umgab, doch er nahm keinen
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Aasgeruch wahr, trocken und leicht metallisch riechend erinnerte der Drache an die See, an Salz und Sand: es war ein reiner, wilder Geruch. Die immer höher steigende Sonne warf ihre Strahlen auf Orm Embar, und er leuchtete wie eine Statue aus Eisen und Gold. Noch immer schlief Ged, entspannt und nahm von dem Drachen genauso wenig Notiz wie ein Bauer von seinem Hofhund. Eine Stunde verstrich. Arren schreckte auf. Der Magier saß neben ihm. »Bist du schon so an Drachen gewöhnt, daß du zwischen ihren Klauen einschläfst?« lachte Ged und gähnte. Dann stand er auf und sprach zu Orm Embar in der Ursprache. Bevor der Drache sprach, gähnte auch er, vielleicht aus Müdigkeit, vielleicht, um dem Magier nicht nachzustehen, aber es war ein Anblick, den nur ganz wenige gesehen und überlebt hatten: die Reihen gelbweißer Zähne, scharf und spitz wie Schwerter, die gespaltene, feurigrote Zunge, zweimal so lang wie ein Mensch, und der rauchende Schlund tat sich vor ihnen auf. Orm Embar sprach, Ged machte gerade den Mund auf, um zu erwidern, als beide sich nach Arren umdrehten. Sie hatten in der Stille das hohle Flüstern einer stählernen Klinge in der Scheide gehört. Arren blickte hinauf zum Rand der Düne, die sich hinter dem Kopf des Magiers erhob, und hielt sein Schwert zum Kampf bereit in der Hand. Dort oben, von der Sonne hell beleuchtet, stand ein Mann. Er stand bewegungslos, wie aus Stein gemeißelt, nur der Saum und die Kapuze seines leichten Umhangs bewegten sich leise im Wind. Sein schwarzes Haar war lang und fiel in dichten Locken auf seine Schultern; er war breitschultrig und groß, ein gutaussehender, kraftvoller Mann. Seine Augen blickten über sie hinweg, hinaus aufs Meer. Er lächelte. »Orm Embar kenne ich«, sagte er, »und dich kenne ich auch, obwohl du gealtert bist, Sperber, seit ich dich zum letztenmal gesehen habe. Man hat mir erzählt, daß du jetzt der Erzmagier bist. Nicht nur alt, auch berühmt bist du geworden. Und du hast einen Helfer dabei, ein Zauberlehrling zweifellos, einer von denen, die auf der Insel der Weisen weise werden wollen. Was führt euch beide hierher, so weit von Rok
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und seinen schützenden Wällen entfernt, die alles Dunkle von den Meistern fernhalten?« »Ein Riß geht durch mächtigere Wälle, als es jene sind«, sagte Ged, und seinen Stab mit beiden Händen fassend, blickte er fest auf den Mann: » Doch möchten Sie uns nicht als Mensch begegnen, damit wir Sie in unserer Mitte begrüßen können, denn lange haben wir nach Ihnen gesucht.« »Als Mensch?« wiederholte der Mann, und wiederum lächelte er. »Ist ein Körper, ist Fleisch von Bedeutung, wenn zwei Magier aufeinandertreffen? Gewiß nicht. Lassen wir Geist mit Geist sprechen, Erzmagier!« »Ich glaube nicht, daß wir das tun können. Junge, steck dein Schwert ein. Das hier ist nur ein Senden, eine Erscheinung, nicht der wahre Mensch. Gegen das hier zu kämpfen kommt einem Kampf gegen den Wind gleich. In Havnor, als Ihr Haar noch weiß war, wurden Sie Cob genannt. Doch das war nur ein Umgangsname. Wie sollen wir Sie hier nennen, wenn wir auf Sie treffen?« »Ihr werdet mich euren Fürsten heißen«, verkündigte die hohe Gestalt auf der Düne. »Gut, und wie sonst noch?« »König und Meister.« Bei diesen Worten zischte Orm Embar laut auf, und messerscharf zerschnitt der Ton die Luft. Seine großen Augen funkelten, doch er wandte den Kopf von dem Mann ab und sank in sich zusammen, als ob ihn eine unsichtbare Macht niederdrücke. »Und wann und wo wird die Zusammenkunft stattfinden?« »In meinem Reich und wann es mir gefällt.« »Gut«, sagte Ged und erhob seinen Stab in die Richtung des Mannes — und der Mann verschwand wie eine ausgelöschte Kerzenflamme. Arren starrte. Der Drache erhob sich langsam und schwerfällig, bis er auf seinen vier gekrümmten Beinen stand, seine Schuppen klirrten, und er fletschte die Zähne. Der Magier blieb unbeweglich stehen und lehnte sich auf seinen Stab. »Das war nur ein Senden, nur ein Gedankenbild des wirklichen Mannes, das zwar reden und hören kann, aber keine Macht hat, nur die, die ihm unsere eigene Furcht verleiht. Das Bild muß auch nicht unbedingt
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wahr sein, das hängt von dem ab, der es sendet. Ich nehme an, daß dieses Bild der Wahrheit nicht entspricht, daß er in Wirklichkeit nicht so aussieht.« »Glauben Sie, daß er in der Nähe ist?« »Ein Senden kann nicht über Wasser erfolgen, folglich ist er auf Selidor. Doch Selidor ist eine große Insel, breiter als Rok und Gont und fast so lang wie Enlad. Es kann lange dauern, bis wir ihn finden.« Daraufhin hob der Drache zu reden an. Ged hörte ihm zu und wandte sich dann zu Arren: »Das sind die Worte des Herrschers von Selidor: ›Ich bin in mein Land zurückgekehrt und werde es nicht verlassen. Ich werde den, der nach dem Ende allen Schöpfens strebt, finden und euch dorthin bringen, damit wir ihn gemeinsam vernichten können.‹ Und habe ich dir nicht gesagt, daß ein Drache das, was er sucht, immer finden wird?« Daraufhin ließ sich Ged wie ein Gefolgsmann, der den Treueeid leistet, auf einem Knie vor Orm Embar nieder und dankte ihm in seiner Sprache. Der Drache schnaubte nahe, und sein Atem lag heiß auf Geds gesenktem Haupt. Orm Embar schleppte seinen schweren, schuppigen Körper die Düne hinauf und schlug kraftvoll mit seinen Flügeln. Dann schoß er wie ein Pfeil davon. Ged klopfte den Sand von seiner Kleidung und sagte zu Arren: »Jetzt hast du mich knien sehen. Und vielleicht wirst du mich noch einmal knien sehen, bevor alles vorüber ist.« Arren fragte nicht, was er damit meinte. Während ihres langen Beisammenseins hatte er gelernt, daß der Magier immer einen guten Grund hatte, wenn er sich zurückhielt. Doch war es ihm, als läge ein böses Omen in den Worten. Noch einmal kletterten sie über die Düne zurück zum Strand, um nachzuschauen, ob das Boot hoch genug am Ufer lag, außerhalb des Sturmes und der Flut Reichweite. Sie nahmen ihre warmen Umhänge für die kalten Nächte und allen Proviant, der ihnen verblieben war. Ged blieb neben dem schmalen Bug stehen, der ihn so lange und so weit über fremde Meere getragen hatte; er legte seine Hand darauf, doch sagte er
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kein Wort, sprach keine magische Formel, um es zu schützen. Dann schlugen sie einen Weg ins Landesinnere ein, gegen die Hügel in der Ferne. Sie wanderten den ganzen Tag hindurch, und gegen Abend schlugen sie ihr Lager in der Nähe eines Baches auf, der hinunter zu den mit Schilfrohr dicht bestandenen Seen und Sümpfen eilte. Obwohl es Hochsommer war, blies ein scharfer, kalter Wind über die endlose, landlose Wasserfläche, die sich westlich von der Insel erstreckte. Ein Nebel verdeckte den Himmel, und keine Sterne gingen hinter den Hügeln auf, die nie ein Herdfeuer oder das Licht von Fenstern gesehen hatten. Arren wachte in der Dunkelheit auf. Ihr kleines Feuer war erloschen, doch im Westen stand der Mond und warf ein graues, nebliges Licht übers Land. Auf den Hügeln jenseits des Baches stand eine Menschenmenge, still, unbeweglich, ihre Gesichter gegen Ged und Arren gewandt. Kein Licht des Mondes spiegelte sich in ihren Augen. Arren wagte nicht zu sprechen, doch er legte seine Hand auf Geds Arm. Der Magier bewegte sich und setzte sich auf. »Was ist los?« fragte er. Er folgte Arrens Blick und sah die stummen Gestalten. Sie trugen, ob Mann oder Frau, die gleichen dunklen Gewänder. Ihre Gesichter waren in dem Ungewissen Licht nur undeutlich und verschwommen zu erkennen, doch kam es Arren vor, als seien unter denen, die ihm am nächsten standen, einige, die er kannte. Doch er konnte sich ihrer Namen nicht erinnern. Ged stand auf. Der Umhang fiel von seinen Schultern. Sein Gesicht, sein Haar und sein Hemd schienen silberweiß, als ob das Licht des Mondes sich auf ihm gesammelt hätte. Er breitete die Arme zu einer weitausholenden Geste aus und sprach laut: »Oh ihr alle, die ihr gelebt habt, geht und seid frei! Ich breche die Bande, die euch halten: Anvassa mane harw pennodathe!« Die Menschenmenge blieb noch einen Augenblick lang unbeweglich stehen. Dann wandten sie sich langsam um, gingen in das graue Dunkel hinein und waren verschwunden. Ged ließ sich nieder. Er atmete auf. Er blickte Arren an und legte die Hand auf die Schulter des Knaben; sie fühlte sich warm und fest an.
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»Da gibt es nichts zu fürchten, Lebannen«, sagte er, und leicht die Achseln zuckend fügte er hinzu: »Das waren ja nur Tote.« Arren nickte, aber seine Zähne klapperten, die Kälte war ihm bis ins Mark gedrungen. »Wie ...«, begann er, aber Lippen und Kinn gehorchten seinem Willen nicht. Ged verstand ihn. »Sie kamen auf seinen Befehl. Das ist es, was er ihnen verspricht: Leben. Und es mag sein, daß sie, seinem Befehl gehorchend, wieder erscheinen werden. Wenn er gebietet, müssen sie auf den Hügeln des Lebens wandern, obgleich sie nicht vermögen, auch nur den geringsten Grashalm unter ihren Füßen zu bewegen.« »Ist er ... ist er denn auch tot?« Ged schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Die Toten können den Toten nicht gebieten, ins Leben zurückzukehren. Nein, er besitzt die Macht eines lebendigen Menschen, noch mehr ... Doch wer geglaubt hat, ihm folgen zu können, der hat den Kürzeren gezogen. Er behält seine Macht für sich allein. Er spielt den König unter den Toten, und nicht nur unter den Toten... Doch das hier waren nur Schatten.« »Ich weiß nicht, warum ich mich so vor ihnen gefürchtet habe«, sagte Arren beschämt. »Du fürchtest sie, weil du den Tod fürchtest, und das tust du mit Recht: denn der Tod ist furchtbar und muß gefürchtet werden«, sagte der Magier. Er legte neues Holz auf und blies auf die Kohlen, die unter der Asche verborgen lagen. Eine kleine Flamme sprang aus den Zweigen des Reisigs empor, und Arren war dankbar für das Licht. »Und das Leben ist auch furchtbar«, sagte Ged, »und es muß gefürchtet und gepriesen werden.« Beide lehnten sich zurück und zogen ihre Umhänge enger um sich. Sie schwiegen beide. Dann sprach Ged, und seine Stimme war ernst: »Lebannen, ich weiß nicht, wie lange er uns hier mit seiner Erscheinung und mit den Schatten narren wird. Doch du weißt, wohin er letzten Endes gehen wird.« »In das Land des ewigen Dunkels.« »Ja, zu ihnen.« »Ich habe sie jetzt gesehen. Ich werde mit Ihnen gehen.«
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»Ist es der Glaube an mich, der dich bewegt? Du kannst meiner Liebe gewiß sein, doch verlaß dich nicht auf meine Stärke. Ich glaube, mein Gegner ist mir gewachsen.« »Ich werde mit Ihnen gehen.« Darauf erwiderte Ged: »Du wirst zum Mann an den Toren des Todes.« Und danach wiederholte er das Wort oder den Namen, mit dem der Drache ihn zweimal angeredet hatte; er sagte ihn ganz leise: »Agni — Agni Lebannen.« Sie sprachen nicht weiter miteinander, und nach einer Weile kehrte der Schlaf zurück, und sie legten sich neben das kleine, schnell niederbrennende Feuer nieder. Am nächsten Morgen marschierten sie in nordwestlicher Richtung weiter landeinwärts. Dies war Arrens Entschluß gewesen, nicht der Geds, der gesagt hatte: »Wähle du den Weg, Junge, jeder Weg ist mir recht.« Sie beeilten sich nicht, denn sie hatten kein Ziel, sie warteten auf ein Lebenszeichen von Orm Embar. Sie folgten der niedrigsten, am weitesten vorgelagerten Hügelkette, in Sichtweite des Ozeans. Das Gras war trocken und kurzhalmig und bewegte sich unaufhörlich im Wind. Die Hügel reckten sich goldfarben rechts von ihnen empor. Links lagen die sumpfigen, salzigen Marsche der Küste und dahinter das Meer des Westens. Einmal erspähten sie, ganz weit im Süden, Schwäne. Doch sonst sahen sie keine lebendige Kreatur. Das Warten, das ziellose Wandern, das Bevorstehende, Schwere, nagten an Arren. Die Ungeduld wurde zur dumpfen Wut, und nach stundenlangem Schweigen rief er aus: »Das Land hier ist so tot wie der Tod selbst!« »Sag das nicht!« unterbrach ihn der Magier erschrocken. Er schritt weiter voran, dann fügte er, mit veränderter Stimme, hinzu: »Schau dir das Land an! Schau dich um! Das ist dein Königreich, das Königreich des Lebens. Das hier ist deine Unsterblichkeit. Schau auf die Hügel, die sterblichen Hügel! Sie bestehen nicht in alle Ewigkeit. Die Hügel sind bedeckt mit Gras, das wächst und Nahrung zu sich nimmt, der Bach ist gefüllt mit sprudelndem Wasser ... Auf der ganzen Welt, in all den Welten, in all den Zeiten gibt es keinen Bach, der einem dieser Bäche hier gleicht, die kalt aus dem verborgenen Schoß der Erde quellen, die im Licht der
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Sonne und in der Dunkelheit dem Meer zueilen. Tief sind die Quellen des Seins, tiefer als das Leben, tiefer als der Tod ...« Er hielt inne, doch in seinen Augen, die auf Arren und auf den sonnigen Hügeln ruhten, lag eine tiefe, wortlose, schmerzvolle Liebe. Und Arren erkannte dies, und als er es wahrnahm, sah er Ged zum erstenmal ganz so, wie er wirklich war. »Ich finde nicht die Worte, um das auszudrücken, was ich meine«, sagte Ged unglücklich. Doch Arren erinnerte sich an die erste Stunde im Brunnenhof, an den Mann, der am plätschernden Brunnen gekniet hatte und eine Freude, so klar wie das Wasser damals, wallte in ihm auf. Er schaute seinem Gefährten in die Augen und sagte: »Ich habe meine Liebe dem gegeben, der wert ist, sie zu besitzen. Ist das nicht das Königreich und die nie versiegende Quelle?« »Doch, mein Junge«, sagte Ged voll Liebe und voll Schmerz. Sie schritten schweigend weiter ihres Weges. Doch Arren sah die Welt jetzt mit den Augen seines Gefährten an, er sah die Pracht des Lebens, die sich um sie herum in diesem schweigenden, öden Land mit einer Zaubermacht, größer als jeder anderen, in jedem Halm windbewegten Grases, in jedem Schatten, jedem Stein offenbarte. Wie einer, der, auf Nimmerwiedersehen verreisend, zum letztenmal einen geliebten Ort erschaut, ihn voll und ganz und deutlich vor sich liegen sieht, wie er ihn nie zuvor geschaut hat und nie mehr schauen wird. Zur Abendzeit erhoben sich dichtgedrängte Wolkenbänke im Westen, von den mächtigen Winden des Meeres getragen, feurig im Licht der Sonne, die rot unter dem Horizont versank. Als Arren in einem Flußtal Reisig für ihr abendliches Feuer sammelte, sah er, aufblickend, nur einige Meter weit entfernt, einen Mann in diesem roten Licht stehen. Das Gesicht des Mannes war seltsam und fremd, doch Arren erkannte ihn: es war Sopli, der Färber von Lorbanery, der tot war. Hinter ihm erschienen andere, alle mit traurigen, starrenden Gesichtern. Sie schienen zu reden, doch Arren konnte ihre Worte nicht verstehen, er hörte nur ein Wimmern, das vom Westwind fortgetragen wurde. Manche näherten sich ihm langsam.
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Arren stand, ohne sich zu rühren und schaute sie an. Sein Blick ruhte auf Sopli. Dann wandte er ihnen den Rücken zu und beugte sich, um mehr Reisig aufzuheben, obgleich seine Hände zitterten. Er legte das Reisig zu seinem Bündel und hob noch einen und noch einen Zweig auf. Dann erst richtete er sich auf und blickte zurück. Niemand war im Tal mehr zu sehen, nur das rote Licht lag noch auf dem Gras. Er kehrte zu Ged zurück und legte sein Bündel Reisig nieder, doch er erwähnte nicht, was er gesehen hatte. Die ganze Nacht hindurch im nebligen Dunkel dieses Landes, das keine lebendige Seele barg, hörte er, aus unruhigem Schlaf erwachend, das Wimmern der toten Seelen. Er nahm seinen ganzen Willen zusammen, um es nicht zu hören, und schlief wieder ein. Beide, Ged und er, erwachten spät, als die Sonne sich schon eine Handbreit über die Hügel erhoben hatte und durch den Nebel dringend das kalte Land mit ihrem Licht übergoß. Als sie ihr karges Morgenmahl zu sich nahmen, kam der Drache. Er kreiste über ihnen in der Luft, Feuer züngelte aus seinem Rachen, und Rauch und Funken flogen aus seinen Nüstern, seine Zähne schimmerten wie Halme aus Elfenbein in dem frühen Licht. Doch er sprach nicht, obgleich Ged ihm in seiner Sprache zurief: »Hast du ihn gefunden, Orm Embar?« Der Drache warf den Kopf zurück und krümmte seltsam seinen Rükken, während seine messerscharfen Klauen die Luft zerfetzten. Dann flog er eilends nach Westen davon und warf, während er flog, Blicke auf sie zurück. Ged packte seinen Stab und stampfte damit heftig auf den Boden. »Er kann nicht mehr sprechen!« sagte er. »Er kann nicht mehr sprechen! Die Worte des Schöpfens sind ihm genommen worden, er ist wie eine Schlange, wie ein zungenloser Wurm, seine Weisheit ist stumm. Doch er kann führen, und wir können folgen.« Sie schwangen ihre leichten Bündel auf die Schultern und schritten eilends über die Hügel gen Westen davon, der Richtung folgend, die Orm Embar eingeschlagen hatte. Ohne die Geschwindigkeit ihrer Schritte verlangsamt zu haben, waren sie sechs oder mehr Meilen gegangen. Jetzt lag das Meer zu beiden Seiten,
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und sie gingen einen Bergrücken hinunter, der sie schließlich durch trockenes Schilfrohr, einem gewundenen Flußbett entlang an einen Strand führte, der die Farbe von Elfenbein hatte. Dies war die westlichste Landzunge und das Ende aller Länder. Orm Embar kauerte auf diesem elfenbeinernen Sand, den Kopf gesenkt wie eine wütende Katze, sein Atem ging in feurigen Stößen. Zwischen ihm und dem langsamen, langgezogenen Brandungswellen stand etwas, das wie eine Hütte, wie eine Unterkunft aus weißgebleichtem Treibholz aussah. Doch an dieser Küste, der kein anderes Land gegenüberlag, gab es kein Treibholz. Als sie näher kamen, sah Arren, daß die primitiven Wände aus großen Knochen bestanden: aus Walfischgebein, dachte er zuerst, doch dann sah er die weißen messerscharfen Dreiecke und wußte, daß es die Gebeine eines Drachen waren. Sie kamen an den Ort. Das Sonnenlicht, das auf dem Meer lag, glitzerte durch die Fugen der Gebeine. Über dem Eingang lag ein gewaltiger Schenkelknochen, länge r als ein ausgewachsener Mann, und auf ihm stand der Schädel eines Menschen und starrte aus hohlen Augen auf die Hügel Selidors. Hier hielten sie an, und während sie zum Schädel hinaufblickten, trat ein Mann unter die Tür. Er trug eine Rüstung aus vergoldeter Bronze, wie man sie früher getragen hatte; sie war zerbeult von den Schlägen der Streitaxt, und die mit Edelsteinen besetzte Schwertscheide war leer. Sein Gesicht war streng, mit geschwungenen schwarzen Brauen und einer schmalen Nase; seine Augen waren dunkel, aufmerksam und tieftraurig. An seinen Armen, seiner Kehle und an seiner Seite trug er tödliche Wunden, doch kein Blut floß aus ihnen mehr heraus. Er stand aufrecht und schweigend und blickte sie unverwandt an. Ged machte einen Schritt auf ihn zu. Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden wurde offenbar, als sie sich gegenüberstanden. »Du bist Erreth-Akbe«, sagte Ged. Der andere blickte ihn unverwandt an, dann nickte er einmal, doch er sprach kein Wort. »Selbst du, selbst du mußt seinem Willen folgen.« Wut lag in Geds Stimme. »Du, unser Herr, der Beste, der Kühnste von uns allen, ruhe in Ehren und im Tode!« Und er hob seine Arme hoch, und sie mit einer
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ausladenden Geste wieder zusammenführend, wiederholte er die Worte, die er zu der Totenschar gesprochen hatte. Seine Hände hinterließen, ganz kurz, eine breite, helle Bahn in der Luft. Als sie verblaßte, war auch der Mann in seiner Rüstung verschwunden, und nur die Sonne lag schimmernd auf dem Sand, auf dem er gestanden hatte. Ged schlug mit seinem Stab gegen das Haus aus Gebein, und es verschwand. Nichts blieb zurück außer einer mächtigen Rippe, die aus dem Sand emporragte. Er wandte sich zu Orm Embar: »Ist es hier, Orm Embar? Ist das der Ort?« Der Drache öffnete seinen Rachen weit und zischte einmal laut und scharf. »Hier, am fernsten Ufer dieser Welt. Das ist gut!« Dann, seinen Stab aus schwarzem Erlenholz in der linken Hand haltend, öffnete er seine Arme weit zur Geste der Invokation. Er hob an zu sprechen. Und obwohl er in der Ursprache redete, verstand ihn Arren endlich, wie es alle, die diese Invokation hören, tun, denn sie hat über alle Macht. »Ich gebiete dir jetzt, mein Feind, hier vor meinen Augen als Mensch zu erscheinen, und ich binde dich mit dem Wort, das nicht gesprochen wird, bis das Ende aller Zeiten nahe ist!« Doch dort, wo der Name des Gerufenen hätte erscheinen sollen, dort sagte Ged nur Mein Feind. Stille trat ein. Selbst das Meer verstummte. Es kam Arren vor, als ob die Sonne schwächer und trüber schiene, obwohl sie hoch am klaren Himmel stand. Dunkle Schatten sammelten sich am Strand, der aussah, als ob ein rauchfarbenes Glas darauf läge. Direkt vor Ged war es am schwärzesten, und es war schwierig, dort etwas zu erkennen. Ein Etwas war dort erschienen, das von keinem Licht beschienen werden konnte, das keine Form und Farbe hatte. Dann trat ein Mann daraus hervor. Es war der gleiche Mann, den sie auf der Düne gesehen hatten, schwarzhaarig und langarmig, geschmeidig und groß. In seiner Hand hielt er jetzt eine lange Klinge aus Stahl, die bis zum Griff mit Runen bedeckt war. Er neigte sie gegen Ged, während
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er ihm gegenübertrat. Doch der Blick seiner Augen war merkwürdig, so als sei er von der Sonne geblendet und könnte nichts sehen. »Ich komme«, sagte er, »weil ich es will, und ich komme, wie es mir gefällt. Du, Erzmagier, kannst mir nicht gebieten. Ich bin kein Schatten. Ich lebe. Nur ich lebe! Du glaubst, du lebst, doch du stirbst, du stirbst. Weißt du, was ich in der Hand halte? Das ist der Stab des Grauen Magiers, des Magiers, der Nereger zum Schweigen gebracht hat, des Meisters meiner Kunst. Doch jetzt bin ich der Meister. Und ich habe es satt, Spiele mit dir zu spielen.« Bei diesen Worten streckte er die stählerne Klinge gegen Ged, der wie angewurzelt stand, als ob er sich nicht rühren und nicht reden könne. Arren stand einen Schritt hinter ihm, und sein ganzer Wille war darauf gerichtet, sich zu bewegen, doch er konnte nicht, er konnte nicht einmal mit der Hand nach seiner Klinge greifen, und die Stimme war ihm in der Kehle verstummt. Doch über Ged und Arren, über ihre Köpfe hinweg, riesig und feurig, setzte mit einem Sprung der mächtige Drachen und fiel mit seinem ganzen Gewicht auf den Mann, die magische Klinge bohrte sich in ihrer vollen Länge in die schuppige Brust; der Mann wurde unter dem Gewicht des gewaltigen Leibes begraben und verbrannte. Vom Sande sich erhebend stand der Drache wieder auf und schrie. Sein Rücken war gekrümmt, seine Flügel schlugen laut, und Feuer flog aus seinen Nüstern. Er versuchte zu fliegen, doch er konnte nicht. Giftig und eiskalt lag das Metall in seiner Brust. Er krümmte sich zusammen, und das Blut rann schwarz und dampfend aus seinem Rachen; das Feuer erlosch in seinen Nüstern, bis sie zu aschegefüllten Gruben wurden. Er legte sein mächtiges Haupt auf den Sand. Und so verschied Orm Embar, am selben Ort, an dem sein Vorfahre Orm gefallen war, auf dem Sand, unter dem die Gebeine Orms begraben lagen. Doch an der Stelle, wo Orm Embar seinen Feind erschlagen hatte, lag ein Scheusal, klein, ausgedörrt, wie eine Riesenspinne, die in ihrem Netz vertrocknet war. Das Ding, das da im Sande lag, war vom Atem des Drachen verbrannt, von der Wucht seiner Krallen zerschmettert
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worden. Doch Arren sah, wie es sich bewegte: Langsam kroch es weg von dem toten Drachen. Ein Gesicht erhob sich vom Sande und wandte sich ihnen zu. Keine Spur der männlichen Schönheit war verblieben, zerstört, zerfallen, ein Alter zeigend, das alles Altsein überlebt hatte. Der Mund war verschwunden, die Augenhöhlen waren schon lange leer. Ged und Arren blickten endlich in das wahre Gesicht ihres Feindes. Es wandte sich um. Die verbrannten schwarzen Arme streckten sich weit und schienen die schwarzen Schatten zu umfassen, die gleichen formlosen, immer dunkler werdenden Schatten, die das Sonnenlicht getrübt hatten. Zwischen den Armen dieses Wesens, dem Urfeind allen Schöpfens, allen Erschaffens, tat sich so etwas wie ein Tor auf, doch war auch dieses formlos und undeutlich. Dahinter lag weder der bleiche Sand noch das Meer, sondern ein langer, sich neigender Hang, der hinunter in ein grundloses Dunkel führte. Dorthin schlich sich die zerschundene, mühsam kriechende Kreatur, doch als sie das Dunkel betrat, schien sie plötzlich zu schwellen und zu wachsen, sie bewegte sich schneller und verschwand. »Komm, Lebannen!« sagte Ged und legte seine Rechte auf des Knaben Arm, und gemeinsam wandten sie sich ab von dem Ort und betraten das trockene Land.
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DAS TROCKENE LAND
EIN SILBERWEISSES LICHT ging von dem Erlenstab in des Magiers Hand aus, als sie die dumpfe, immer dichter werdende Düsternis betraten. Ein schwach schimmerndes weißes Licht zog Arrens Blick auf sich; entlang der entblößten Schwertklinge, die er in der Hand trug, zog sich ein schmaler Lichtstreif. Als der Drache am Strand von Selidor durch seine Tat und seinen Tod den Bann brach, mit dem das Schwert belegt gewesen war, hatte es Arren sofort aus seiner Scheide gezogen. Und jetzt, obwohl er hier nur als ein Schatten wanderte, trug er den Schatten seines Schwertes in der Hand. Kein anderes Licht war sonst zu sehen. Alles war trüb, wie eine späte Dämmerung im November, unter einem mit Wolken verhangenen Himmel. Eine bedrückende, kalte, unbewegliche Luft, in der man zwar sehen konnte, doch nur begrenzt und undeutlich, umgab sie. Arren kannte den Ort: es war das Moor, die öde Landschaft seiner hoffnungslosen Träume, doch kam es ihm jetzt vor, als befände er sich viel weiter darin als er je in seinen Träumen gewesen war. Er konnte nichts klar erkennen, außer daß er und sein Gefährte am Abhang eines Hügels standen, und daß sich vor ihnen eine niedere, aus Stein erbaute Mauer hinzog. Geds Hand lag noch auf Arrens Arm. Er schritt immer noch voran, und Arren ging mit ihm. Sie überstiegen die Steinmauer. Vor ihnen lag der Hang; seine Umrisse waren verschwommen; er neigte sich gegen ein Ungewisses Dunkel. Doch über ihnen, wo Arren eine dichte Wolkendecke vermutet hatte, erstreckte sich nun ein tief schwarzer Himmel mit Sternen. Er blickte auf, und es war ihm, als zöge sich sein Herz ganz kalt und klein in seiner Brust zusammen. Solche Sterne hatte er noch nie gesehen. Sie standen
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zwar an einem Himmel, doch kein Glanz ging von ihnen aus; sie standen unbeweglich, sie kannten weder Auf- noch Untergang, und keine Morgenröte ließ sie je verblassen. Starr und stumm blickten sie herab auf das trockene Land. Ged begann, auf der Seite jenseits des Lebens hinabzusteigen, Arren folgte ihm. Entsetzen war in ihm, doch sein Herz war entschlossen und sein Wille so fest, daß die Furcht keine Macht über ihn gewinnen konnte, er war sich ihrer gar nicht klar bewußt. Er fühlte nur, wie etwas tief in seinem Innern litt, wie ein Tier, das in einem verschlossenen Raum angekettet war. Es kam ihm vor, als wären sie schon ein großes Stück den Abhang hinuntergegangen, doch vielleicht war es nur ein kurzes Stück, die Zeit stand still hier; kein Wind blies, und die Sterne rührten sich nicht. Sie betraten jetzt eine der Städte, die es dort gibt, und Arren sah die Häuser, deren Fenster nie erleuchtet waren, und unter manchen Türen standen, mit ruhigen Gesichtern und mit leeren Händen, tote Menschen. Die Marktplätze waren alle leer. Hier wurde nichts gekauft oder verkauft, nichts gewonnen und nichts verloren. Nichts wurde benötigt und nichts wurde gemacht. Ged und Arren waren die einzigen, die durch die schmalen Gassen schritten, obgleich sie ab und zu eine Gestalt um eine Ecke huschen sahen, weit vorne und kaum sichtbar in der Trübnis. Als Arren zum erstenmal die Gestalt wahrnahm, schreckte er auf und deutete mit seinem Schwert darauf, doch Ged schüttelte den Kopf und ging weiter. Arren sah schließlich, daß es die Gestalt einer Frau war, die sich langsam bewegte und die nicht vor ihnen floh. All diejenigen, die sie sahen — es waren nicht viele, denn obgleich es viele Tote gibt, so ist das Land so riesig, daß sie sich darin verlieren — standen still oder bewegten sich langsam, gleichmütig, ohne Ziel. Keiner trug Wunden wie die Erscheinung von Erreth-Akbe, der gezwungen worden war, am Ort seines Todes ins Tageslicht hinauszutreten. Keiner trug die Zeichen einer Krankheit. Sie waren alle geheilt vom Schmerz und von dem Leben. Sie waren nicht abstoßend, wie Arren es befürchtet, nicht furchterregend, wie er es erwartet hatte. Ihre Gesich-
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ter waren ruhig, sie waren frei von den Lasten und Lüsten des Lebens, ihre umschatteten Augen bargen keine Hoffnung mehr. Und so kam es, daß Arren anstelle der Furcht nur großes Mitleid für sie empfand, und wenn das Mitleid auch der Furcht entsprungen sein mag, so fürchtete er nicht um sich selbst, sondern um alle Menschen. Denn er sah die Mutter und das Kind, die zur gleichen Zeit gestorben und im dunklen Land beisammen waren, doch das Kind rannte nicht herum und weinte nicht, und die Mutter hielt es nicht in ihren Armen und schaute es nicht an. Und die, die um der gemeinsamen Liebe willen gestorben waren, begegneten sich still auf der Straße und setzten gleichgültig ihren Weg fort. Die Scheibe des Töpfers stand still, der Webrahmen war leer, der Herd kalt. Keine Stimmen erhoben sich zum Gesang. Die dunklen Straßen zwischen den dunklen Häusern schienen kein Ende zu nehmen, sie schritten immer weiter. Der Tritt ihrer Füße war das einzige Geräusch. Und es war kalt. Am Anfang hatte Arren die Kälte nicht wahrgenommen, doch jetzt spürte er, wie sie in seinen Geist, der ihm hier Körper war, eindrang. Er fühlte, wie große Müdigkeit ihn überfiel. Der Weg, den sie zurückgelegt hatten, mußte lang gewesen sein. Warum noch weitergehen? fragte er sich, und seine Schritte verlangsamten sich. Ged blieb plötzlich stehen und wandte sich einem Mann zu, der an einer Kreuzung stand. Er war schlank und groß, und es kam Arren vor, als hätte er das Gesicht schon einmal gesehen, doch er konnte sich nicht mehr erinnern, wo das gewesen war. Ged sprach ihn an. Keine Stimme hatte — seit sie die Steinmauer überquerten — die Stille dieses Landes unterbrochen. »O Thorion, mein Freund, dich finde ich hier?« Und er streckte dem Gebieter von Rok seine Hände entgegen. Thorion erwiderte die Geste nicht. Er stand still und stumm, und sein Gesicht war unbeweglich, doch das silberne Licht von Geds Stab fand einen zaghaften Widerschein in den umschatteten Augen. Ged ergriff die Hand, die ihm nicht entgegengestreckt wurde, und sprach: »Was suchst du hier, Thorion? Du gehörst noch nicht in dieses Königreich. Kehre um!«
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»Ich folgte dem Unsterblichen. Ich habe meinen Weg verloren.« Die Stimme des Gebieters war leise und teilnahmslos, wie die Stimme eines Menschen, der im Schlaf redet. »Hinauf, auf die Mauer zu«, sagte Ged und deutete zurück auf die Straße, auf der sie heruntergekommen waren. Diese Worte lösten ein Zucken auf Thorions Gesicht aus, als ob die Hoffnung, scharf wie ein Schwert, in ihn zurückgekehrt sei. »Ich kann den Weg nicht finden«, sagte er. »Mein Meister, ich kann den Weg nicht finden!« »Vielleicht wirst du ihn jetzt finden«, sagte Ged und umarmte den Meister des Gebietens, dann ging er weiter seines Weges. Thorion blieb regungslos an der Kreuzung hinter ihnen stehen. Als sie weitergingen, kam es Arren vor, als gäbe es in dieser außerhalb jeder Zeit liegenden Trübnis kein Vorwärts und kein Rückwärts, keinen Osten und keinen Westen, als gäbe es überhaupt keinen Weg. Würden sie hier je wieder herausfinden? Ihm fiel auf, daß sie, gleichgültig, welche Straße sie wählten, immer abwärts gingen und daß sie, um die Steinmauer wieder zu finden, nur umkehren und immer bergauf gehen müßten. Doch sie wandten sich nicht um. Nebeneinander schritten sie weiter. Folgte er Ged? Oder führte er ihn? Sie ließen die Stadt hinter sich. Das Land der unzähligen Toten war leer. Weder Baum, noch Dorn, noch Grashalm wuchs auf dem steinigen Boden unter den unbeweglichen Sternen. Vor ihnen lag kein Horizont, denn das Auge konnte in diesem Schattenreich nicht weit blicken, doch weiter vorne, über eine große Strekke hinweg, spannte sich ein leerer Himmel, an dem keine kleinen reglosen Sterne hingen, und der von keinen Sternen beleuchtete Grund schien gezackt und gefurcht wie eine Bergkette zu sein. Als sie näherkamen, wurden die Umrisse deutlicher: hohe, schroffe Gipfel, von Wind und Wetter unberührt, ragten in die Höhe. Kein Schnee glitzerte im Sternenlicht, die Berge waren kahl und tief schwarz. Ihr Anblick rief neues Entsetzen in Arrens Herzen wach. Er wandte den Blick von ihnen ab. Doch er kannte sie, sie waren ihm vertraut, seine Augen wurden unwiderstehlich von ihnen angezogen. Und jedesmal, wenn sein Blick auf
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sie fiel, fühlte er eine kalte Last auf seiner Brust, und seine Nerven versagten ihm fast. Doch immer weiter führte sie ihr Weg, abwärts, zum Fuße dieser Berge. Endlich sagte er: »Mein Gebieter, was sind ...« Er deutete auf die Berge, denn er konnte nicht mehr weiterreden, seine Kehle war wie zugeschnürt. »Sie stehen, wie die Steinmauer, an der Grenze zwischen Licht und Dunkel«, antwortete Ged. »Sie haben keinen Namen. Man nennt sie nur die Pein. Es gibt einen Weg, der darüber führt. Ihn zu beschreiten ist den Toten untersagt. Er ist nicht lang, doch ist er bitterhart.« »Ich habe Durst«, sagte Arren, und sein Gefährte erwiderte: »Hier trinkt man Staub.« Sie schritten weiter ihres Weges. Es kam Arren vor, als ob sein Gefährte seine Schritte verlangsamte und manchmal zögerte. Er selbst fühlte kein Zögern, obgleich die Müdigkeit nicht verschwunden war, sondern sich merklich verschlimmert hatte. Sie mußten hinunter, sie mußten weitergehen. Und sie setzten ihren Weg fort. Manchmal durchquerten sie andere Städte, deren dunkle Dächer sich schräg vom Himmel und den unbeweglichen Sternen abhoben. Hinter den Städten lag wieder leeres Land, wo nichts wuchs. Sobald sie durch eine Stadt geschritten waren, verschwand sie hinter ihnen in der Dunkelheit. Nichts war vor oder hinter ihnen sichtbar, nur die Berge, die immer näherrückten, immer höher ragten. Rechts vor ihnen verlor sich der Hang, der keine Umrisse hatte, in der Tiefe, wie er es getan hatte, seit sie — wie lange war es schon her? — die Steinmauer überschritten hatten. »Was liegt vor uns?« murmelte Arren, zu Ged gewandt. Es verlangte ihn, einen menschlichen Laut zu vernehmen, doch der Magier s chüttelte nur den Kopf. »Ich weiß es nicht, vielleicht ein Weg ohne Ende.« Als sie weitergingen, wurde der Weg merklich flacher. Der Boden unter ihren Füßen knirschte laut, wie Lava, das zu grobkörnigem Schutt zerfallen war. Doch immer weiter führte sie der Weg. Jetzt dachte Arren an keine Umkehr mehr, auch nicht, wie sie zurückkehren würden. Auch an ein Anhalten dachte er nicht mehr, obwohl er todmüde war.
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Einmal versuchte er, die betäubende Dunkelheit, die Erschöpfung und die Furcht, die sein Herz umfangen hielten, zu erleichtern, und er dachte an seine Heimat, doch er konnte sich nicht mehr erinnern, wie das Sonnenlicht oder das Gesicht seiner Mutter ausgesehen hatten. Es blieb ihm nichts übrig, er mußte weitergehen. Und er ging weiter. Er fühlte, wie der Grund unter seinen Füßen eben wurde. Ged, neben ihm, zögerte. Da hielt auch er an. Der lange Abstieg war vorüber: hier war das Ende. Es gab keinen Weg, der weiter führte, es war nicht nötig weiterzugehen. Sie befanden sich in einem Tal am Fuß der Berge, am Fuß der Pein. Der Grund war mit Felsgestein übersät, neben ihnen ragten Felsblöcke wie Schlacken so rauh in die Höhe. Es schien, als ob dies schmale Tal einst ein Flußbett gewesen wäre, vielleicht hatte es einst Wasser geführt, vielleicht einen Feuerstrom, der längst erkaltet war und der von den Vulkanen, die ihre schwarzen, unerbittlichen Häupter emporreckten, ausgespien worden war. Hier, in diesem schmalen Tal im tiefen Dunkel hielten sie an. Sie standen wie die Toten und starrten schweigend, ohne Ziel, ins Nichts. Arren dachte, und es schreckte ihn wenig: »Wir sind zu weit gegangen.« Es war bedeutungslos geworden. Ged sprach seine Gedanken aus: »Wir sind zu weit gegangen, um umkehren zu können.« Geds Stimme war leise, doch ihr Schall wurde von der großen schwarzen Leere, die sie umgab, nicht völlig erstickt, und als Arren die Laute vernahm, verlor er etwas von der Gleichgültigkeit, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Waren sie nicht hierhergekommen, um den zu finden, dem ihre Suche galt? Eine Stimme aus der Dunkelheit sprach: »Ihr seid zu weit gegangen.« Arren antwortete: »Nur zu weit ist weit genug.« »Ihr befindet euch am Trockenen Fluß«, ließ die Stimme sich wieder vernehmen. »Ihr könnt nicht mehr zur Steinmauer zurück. Ihr könnt nicht mehr ins Leben zurück.« »Nicht auf diesem Weg«, sagte Ged in die Dunkelheit hinein. Arren konnte ihn kaum erkennen, obgleich sie nebeneinander standen, denn die Berge, unter denen sie sich befanden, hielten das schwache Sternen-
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licht ab, und die Strömung des Trockenen Flusses schien aus Dunkelheit selbst zu bestehen. »Doch wir könnten von dir lernen und den Weg erfahren.« Sie erhielten keine Antwort. »Hier treffen wir als Ebenbürtige aufeinander. Wenn du blind bist, Cob, so denke daran, daß auch wir uns im Dunkeln befinden.« Sie erhielten keine Antwort. »Wir können dir hier nichts antun. Wir können dich nicht töten. Wovor also fürchtest du dich?« »Ich kenne keine Furcht«, ließ die Stimme in der Dunkelheit sich vernehmen. Dann, ganz allmählich, begann es zu schimmern, wie das Licht, das manchmal an Geds Stab erschien, und der Mann wurde sichtbar. Er stand etwas stromaufwärts, nicht weit von Ged und Arren entfernt, zwischen den riesigen, undeutlichen Felsblöcken. Er sah wieder groß, breitschultrig und langatmig aus, wie die Gestalt, die auf der Düne am Strand von Selidor gestanden hatte, doch nun viel älter; sein Haar war weiß und hing in schütteren Strähnen über die hohe Stirn. So erschien er vor ihnen im Geist, im Königreich des Todes, unverbrannt und unverletzt vom Feuer des Drachen, aber doch nicht vollkommen: die Höhlen seiner Augen waren leer. »Ich kenne keine Furcht«, wiederholte er. »Wovor sollte sich ein Toter fürchten?« Er lachte. Das Lachen hallte so widerlich, so unheimlich durch das schmale, steinige Tal unter den Bergen, daß Arrens Herz einen Augenblick stehenblieb. Doch er umfaßte sein Schwert fester und hörte zu. »Ich weiß auch nicht, wovor sich ein Toter fürchten sollte«, antwortete Ged, »bestimmt nicht vor dem Tod. Doch mir scheint, daß du ihn fürchtest, obgleich du einen Weg gefunden hast, ihm zu entgehen.« »Das habe ich. Ich lebe. Mein Körper lebt.« »Nicht so besonders gut«, erwiderte der Magier trocken. »Die Illusion kann zwar das Alter verbergen, doch Orm Embar ging nicht eben sorgfältig mit diesem Körper um.« »Ich kann ihn heilen. Ich kenne die Geheimnisse des Heilens und der Jugend, und das ist keine Illusion. Wofür hältst du mich denn? Weil
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man dich zum Erzmagier gemacht hat, glaubst du vielleicht, daß ich nur ein Dorfzauberer bin? Ich allein unter all den Magiern habe den Weg zur Unsterblichkeit gefunden, keinem anderen ist das geglückt.« »Vielleicht haben wir es nicht versucht«, sagte Ged. »Ihr habt es versucht. Ihr alle. Ihr habt es versucht, und keinem ist es gelungen. Dann habt ihr weise Worte geredet vom Hinnehmen und vom Gleichgewicht der Dinge, vom Gleichgewicht des Lebens und des Todes. Worte, nichts als leere Worte — um euer Unvermögen zu vertuschen, um eure Angst vor dem Tode zu verbergen! Zeig mir den Menschen, der nicht ewig leben wollte, wenn er könnte! Ich kann es. Ich sterbe nicht. Ich tat, was du nicht tun konntest, und deswegen bin ich dein Meister, und das weißt du. Willst du wissen, wie ich es geschafft habe, Erzmagier?« »Ja, ich würde es gerne wissen.« Cob trat einen Schritt näher. Arren bemerkte, daß der Mann, obwohl er keine Augen hatte, sich doch nicht wie ein Blinder benahm; er schien genau zu wissen, wo Arren und Ged standen, er wußte auch, daß sie beide da waren, obgleich er kein einziges Mal den Kopf in Arrens Richtung wandte. Er mußte eine magische Kraft besitzen, die ihn sehen und erkennen ließ, wie es Erscheinungen eigen ist, die ja auch sehen und hören können; irgend etwas jedenfalls, das ihm seine Umgebung nahebrachte. »Ich war in Paln«, sagte er zu Ged, »als du in deinem Stolz annahmst, daß du mich beschämt und mir eine Lektion erteilt hättest. Oh, du hast mir eine Lektion erteilt, ganz gewiß, aber nicht die, die du im Sinne gehabt hast! Damals habe ich mir gesagt: ›Jetzt hast du den Tod erlebt, und das genügt. Setz alles dran, um ihn nicht erleiden zu müssen. Laß die blöde Kreatur auf ihrem dumpfen Weg dahinwandern, du stehst über der Natur, du bist besser als sie.‹ Ich wollte diesen Weg nicht beschreiten, ich wollte mein Selbst nicht aufgeben. Und so entschlossen war ich, daß ich die palnische Kunde wieder zur Hand nahm, doch ich fand darin nur Andeutungen und unzusammenhängende Hinweise. Da setzte ich mich hin und schuf und wirkte meine eigene Formel — die größte Formel, die je gewirkt wurde, die größte und die letzte!«
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»Und durch diese Formel fandest du den Tod.« »Jawohl! Ich starb. Ich hatte den Mut zu sterben, um das zu finden, was ihr Feiglinge nie gewagt habt zu suchen: den Weg zurück vom Tode. Ich öffnete die Tür, die seit dem Beginn aller Zeiten geschlossen war. Und jetzt kann ich mich frei bewegen, kann hierbleiben und die Welt der Lebenden betreten, wann es mir gefällt. Unter allen Menschen bin ich der einzige, der Herr über beide Welten ist. Und die Tür, die ich geöffnet habe, steht nicht nur hier offen, sondern im Innern jedes lebenden Menschen, in der Tiefe und den unbekannten Gründen seines Seins, dort, wo wir alle eins sind im Urgrund. Die Menschen wissen das und kommen zu mir. Und die Toten, die müssen zu mir kommen, alle müssen zu mir kommen, denn ich habe die Magie eines Lebenden behalten: sie müssen über die Steinmauer klettern, wenn ich es ihnen gebiete, all die Seelen, die Fürsten, die Magier und die stolzen Frauen, hin und her, vom Leben in den Tod und wieder zurück, wie es mir gefällt. Alle sind mir Untertan, die Lebenden und die Toten, denn ich bin gestorben und wieder auferstanden!« »Und wo treffen sie dich, Cob? Wo bist du?« »Zwischen den Welten.« »Aber dort ist weder Leben noch der Tod. Was ist Leben, Cob?« »Macht.« »Was ist Liebe?« »Macht«, wiederholte der Blinde schwer und zog seine Schultern in die Höhe. »Was ist Licht?« »Dunkelheit!« »Wie lautet dein wahrer Name?« »Ich habe keinen.« »Alle, die hier sind, tragen ihren wahren Namen.« »Dann sag mir deinen!« »Ich heiße Ged. Und du?« Der Blinde zögerte, dann sagte er: »Cob.« »Das war dein Umgangsname, nicht dein wahrer Name. Wo ist dein Name? Wo ist dein wahres Selbst? Hast du es in Paln gelassen, wo du
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gestorben bist? Viel hast du vergessen, o Herr über beide Welten! Das Licht, die Liebe und deinen wahren Namen hast du vergessen!« »Jetzt habe ich aber deinen Namen und Macht über dich, Ged, den Erzmagier, der Erzmagier gewesen war, als er noch lebte.« »Mein Name nutzt dir nichts«, sagte Ged. »Du hast keine Macht über mich. Ich lebe. Mein Körper liegt am Strand von Selidor unter der Sonne, auf der sich drehenden Erde. Und wenn der Körper stirbt, dann komme ich hierher, doch nur dem Namen nach, nur als Schatten. Verstehst du das? Hast du das nie begriffen, du, der die Scharen der Toten, die Schatten aus der Unterwelt zu dir heraufbefohlen hast; selbst meinem Herrn Erreth-Akbe, dem weisesten von uns allen, hast du befohlen, zu erscheinen? Hast du nie begriffen, daß er, selbst er, nur ein Schatten, nur ein Name ist? Sein Tod hat das Leben nicht vermindert, er selbst wurde nicht vermindert durch seinen Tod. Und dort, im Leben — dort ist er! Nicht hier, wo es nur Schatten und nur Staub gibt. Dort ist er, er ist Erde und Sonnenlicht, Blätter an den Bäumen, Adlerflug! Er lebt. Und alle, die sterben, leben, sie werden wiedergeboren, ihr Leben hört nicht auf, noch wird es je aufhören. Das gilt für alle, doch nicht für dich. Denn du wolltest nicht sterben. Du hast den Tod verloren und damit auch das Leben. Du wolltest dein Selbst retten. Dein Selbst! Dein unsterbliches Selbst! Wer bist du denn nun wirklich?« »Ich bin! Mein Körper wird nicht verfaulen und sterben...« »Ein lebender Körper leidet Schmerzen, Cob. Ein lebender Körper wird alt und stirbt. Der Tod ist der Preis, den wir für unser Leben, für alles Leben zahlen müssen.« »Ich zahle diesen Preis nicht! Ich kann sterben und im gleichen Moment wieder leben! Ich kann nicht getötet werden, ich bin nicht sterblich. Ich allein behalte mein Selbst auf alle Ewigkeit.« »Wer bist du denn?« »Der Unsterbliche.« »Sag deinen Namen!« »Der König.« »Nenne mich bei meinem Namen. Ich habe ihn dir gerade gesagt. Nenne mich bei meinem Namen!«
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»Du bist nicht wirklich. Du hast keinen Namen. Nur ich existiere.« »Du existierst: ohne Namen, ohne Gestalt! Du, Augenloser, du kannst das Licht des Tages nicht erschauen, du siehst das Dunkel nicht. Die Sonne, die Sterne, die grüne Erde hast du verkauft, um dein armseliges Selbst zu retten. Doch du hast kein Selbst. Du hast alles hergegeben und nichts dafür bekommen. Und jetzt versuchst du, die Welt an dich zu ziehen, das Licht und das Leben, das du verloren hast, damit du deine Leere füllen kannst. Doch sie wird leer bleiben. Alle Laute dieser Erde, alle Sterne des Himmels können diese Leere nicht füllen!« Geds Stimme hallte ehern in dem kalten Tal unter den Bergen, und der Blinde schreckte vor ihm zurück. Er hob das Gesicht in die Höhe, und das trübe Sternenlicht fiel darauf. Er sah aus, als ob er weinte, doch er hatte keine Tränen, denn er hatte keine Augen. Sein Mund öffnete sich und schloß sich wieder, die Dunkelheit füllte ihn, doch keine Worte kamen heraus, nur ein Stöhnen. Endlich sagte er, mühsam und mit verzogenen Lippen, das eine, einzige Wort: »Leben.« »Wenn ich könnte, würde ich dir dein Leben zurückgeben, Cob. Doch das kann ich nicht. Du bist tot. Doch kann ich dir den Tod geben.« »Nein!« Der Blinde schrie auf: »Nein, nein!« Er krümmte sich zusammen, schluchzend, obgleich seine Augenhöhlen so trocken wie das steinige Flußbett blieben, das nur Nacht, doch kein Wasser barg. »Das kannst du nicht. Niemand kann mich befreien. Ich habe die Tür zwischen den Welten geöffnet, und ich kann sie nicht mehr schließen. Niemand kann sie schließen. Sie wird nie mehr geschlossen werden. Dorthin zieht es mich, immer zieht es mich dorthin. Ich muß durch die Tür gehen und dann wieder zurückkommen. Hierher in die Kälte, in das Schweigen und in den Staub muß ich zurückkehren. Es saugt an mir, es saugt an mir. Ich komme nicht davon los. Ich kann sie nicht zuschließen. Und am Ende wird alles Licht aus der Welt gesogen sein, und alle Flüsse werden wie der Trockene Fluß sein. Es gibt keine Macht, die stark genug ist, die Tür, die ich geöffnet habe, wieder zu schließen.« Die Mischung von Verzweiflung und Triumph, von Furcht und Eitelkeit, die in seiner Stimme lag, hörte sich unheimlich an. Ged fragte nur: »Wo ist sie?«
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»Dort. Nicht weit. Du kannst hingehen. Aber du kannst dort nichts tun. Du kannst sie nicht schließen. Selbst wenn du deine ganze Macht und Kraft in dieser einen Tat verbrauchen würdest, wäre es nicht genug. Nichts ist dafür genug.« »Vielleicht«, antwortete Ged. »Du hast es aufgegeben, doch wir, wir haben es noch nicht aufgegeben. Führ uns dorthin!« Der Augenlose hob sein Gesicht. Angst und Haß lagen darauf und kämpften miteinander. Der Haß trug den Sieg davon. »Nein, ich führe euch nicht dorthin.« Da trat Arren hervor und befahl: »Du wirst uns dorthin führen!« Der Blinde rührte sich nicht. Die eisige Kälte und die Dunkelheit des Totenreiches umhüllte sie und umhüllte ihre Worte. »Wer bist du?« »Ich heiße Lebannen.« Ged sprach: »Du, der sich König nennt, du weißt nicht, wer das ist?« Wiederum stand Cob, ohne sich zu rühren. Dann sprach er stammelnd: »Aber er ist tot — du bist tot. Du kannst nicht zurück. Kein Weg führt hinaus. Du bist hier gefangen.« Noch während er sprach, erlosch der schwache Lichtflimmer, und sie hörten, wie er sich von ihnen wandte und sich hastig in die Dunkelheit davonstahl. »Geben Sie mir Licht, mein Gebieter!« rief Arren, und Ged hielt seinen Stab hoch über seinen Kopf, damit das weiße Licht die uralte Dunkelheit zerbreche, und sie sahen, wie die gekrümmte Gestalt des Blinden, ohne zu zögern, sicher und hurtig, doch mit merkwürdigem Gang das Flußbett hinauf eilte, die Felsen vermeidend und die Schatten suchend. Ihm auf den Fersen folgend rannte Arren, und dahinter kam Ged. Bald war Arren seinem Gefährten weit voraus. Das Licht wurde schwächer und war oft ganz verdeckt von den Felsen und den Windungen des Flußbettes. Doch Arren spürte Cobs Gegenwart, er hörte das Geräusch, das seine Füße verursachten, und der Abstand zwischen Arren und Cob verringerte sich, besonders, als der Weg steiler wurde. Sie kletterten eine enge Schlucht hinauf, die mit Steingeröll angefüllt war. Der Trockene Fluß wurde schmaler, je näher sie seinem Ursprung ka-
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men, und die Ufer zu beiden Seiten wurden steiler. Felsgestein bröckelte unter ihren Füßen und Händen, denn sie mußten oft auf allen vieren kriechen. Arren spürte, wie das Flußbett sich zu einer letzten Enge verschmalerte, er machte einen Satz, packte Cob beim Arm und hielt ihn fest. Sie waren an einem Becken angelangt, das ein bis zwei Meter breit war und wohl Wasser hätte halten können, wenn es Wasser gegeben hätte. Hinter dem Becken ragte eine steile, rauhe Wand aus Fels und Schiefer empor. Und in der Wand war eine schwarze Öffnung, der Ursprung des Trockenen Flusses. Cob versuchte nicht, sich seinem Griff zu entwinden. Er stand, ohne sich zu bewegen, während das Licht von Geds Stab immer heller auf sein Gesicht mit den leeren Augenhöhlen fiel. Der hatte es Arren zugewandt: »Hier ist der Ort, den du suchst. Siehst du ihn? Hier kannst du wiedergeboren werden. Du mußt nur mir folgen. Du wirst ewig leben. Und wir können beide zusammen Könige sein.« Arren schaute auf die schwarze, unheimliche Öffnung, auf den Ursprung des Trockenen Flusses, auf dieses Maul aus Staub, in das die tote Seele hineinkriecht und wieder herauskommt, doch nicht um zu leben, sondern um ein Schattendasein zu führen: abscheulich schien es ihm und seine Stimme klang erstickt, er würgte, denn Übelkeit hatte ihn überfallen: »Es soll geschlossen werden!« »Es wird geschlossen werden«, sagte Ged, der zu ihm getreten war. Und von seinen Händen und von seinem Gesicht ging ein Licht aus, als ob ein Stern in dieser endlosen Nacht auf die Erde gefallen wäre. Vor ihm gähnte die ausgetrocknete Quelle, die weitoffene Tür und hinter ihr war es hohl, wie weit und tief es ging, war nicht zu sehen. Nichts befand sich dahinter, worauf ein Licht hätte fallen können. Es war eine absolute Leere. Licht und Dunkel, Leben und Tod gab es dort nicht. Es war ein Weg, doch er führte in ein Nichts. Ged hob die Hände hoch und begann zu sprechen. Arren hielt noch immer Cobs Arm fest. Der Blinde hatte seine freie Hand auf das Felsgestein der Wand gelegt. Beide rührten sich nicht, die Macht der Zauberformel hielt sie in ihrem Bann. Die Kunst, um die sich Ged sein ganzes Leben lang bemüht hatte, die Kraft seines jähen, starken Herzens, jetzt halfen sie
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ihm in seinem Ringen mit der Tür, in seinem Bemühen, sie zu schließen und die Welt zu heilen. Und dem Befehl seiner Stimme und dem Wirken seiner Hände gehorchend schoben sich die Felsen mühsam, schmerzlich zusammen, versuchten knirschend, wieder eins zu werden. Doch zur gleichen Zeit wurde das Licht, das von seinen Händen und von seinem Gesicht ausging, immer schwächer, es starb ab, und sein Stab aus Erlenholz begann zu erlöschen, bis nur noch ein ganz geringes Lichtlein verblieb, doch in diesem schwachen Licht sah Arren, daß die Tür fast geschlossen war. Auch der Augenlose fühlte, wie die Felsen sich bewegten, fühlte, wie sie sich berührten: doch er fühlte gleichzeitig, wie Kunst und Macht geopfert wurden, wie sie gegeben wurden und erloschen, und er schrie plötzlich auf: »Nein!« und riß sich von Arren los. Er sprang nach vorne und umfing Ged mit blindem, eisernem Griff. Unter seinem Anprall wurde Ged zu Boden gerissen, und der Augenlose umschloß seine Kehle, um ihn zu erwürgen. Arren riß Serriadhs Schwert in die Höhe, die Klinge zerschnitt pfeifend die Luft und traf den gebeugten Nacken unter dem verfilzten Haar. Der Geist eines Lebenden hat Gewicht im Lande der Toten, und der Schatten seines Schwertes hatte eine scharfe Klinge. Das Schwert ging tief und durchschnitt Cobs Genick. Beim Licht des Schwertes spritzte schwarzes Blut in die Höhe. Doch es hat wenig Zweck, einen Toten töten zu wollen, und Cob war ein Toter, schon seit vielen Jahren. Die Wunde schloß sich, ihr eigenes Blut aufsaugend. Der Blinde erhob sich zu seiner vollen Größe und tastete mit langen Armen nach Arren, sein Gesicht war von Wut und Haß verzerrt; es schien, als hätte er erst jetzt gemerkt, wer sein wahrer Rivale und Feind war. So schrecklich war der Anblick dieses Mannes mit den leeren Augenhöhlen, der sich von seiner tödlichen Wunde erholte, der unfähig war zu sterben, viel schrecklicher, als es der Anblick jedes Sterbens sein konnte, daß Arren von einem unsäglichen Haß ergriffen wurde und wie ein Berserker auf Cob losging. Er hieb auf ihn ein, und Cob fiel mit gespaltenem Schädel auf die Erde, sein Gesicht von Blut überströmt, doch Arren
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hieb schon wieder auf ihn ein, bevor sich die Wunde schließen konnte, denn er wollte ihn erschlagen, bis er endgültig tot war... Ged, der sich neben ihm mühsam auf seinen Knien aufgerichtet hatte, sprach nur ein einziges Wort. Beim Klang seiner Stimme hielt Arren inne, als hätte jemand seinen Schwertarm gepackt. Auch der Blinde, der wieder dabei war, sich zu erheben, war erstarrt, Ged versuchte mühsam, auf die Füße zu kommen, bis er schwankend stand. Als er sich ganz aufgerichtet hatte, wandte er sich der Felswand zu. »Damit seist du geschlossen!« sprach er mit klarer Stimme und schrieb mit seinem Stab in feurigen Linien eine Figur auf das Felsentor: die Rune Agnen, die Rune des Endens, die Straßen schließt und in Sargdeckel geritzt wird. Zwischen den Felsen gab es keine Leere, keine Kluft mehr. Die Tür war geschlossen. Der Boden des Trockenen Landes zu ihren Füßen erbebte, über den unbeweglichen, leblosen Himmel rollte der Donner und verhallte. »Beim Wort, das am Ende aller Zeiten gesprochen werden wird, habe ich dir geboten, zu erscheinen, beim Wort, das am Beginn der Schöpfung gesprochen worden ist, löse ich deine Bande: Geh und sei frei!« Und er beugte sich zu dem Augenlosen, der auf seinen Knien vor ihm kauerte, und flüsterte ihm etwas ins Ohr unter dem weißen verfilzten Haar. Cob erhob sich. Er blickte sehenden Auges um sich, langsam und erstaunt. Er schaute Arren an, dann Ged. Er redete kein Wort, sondern blickte sie nur aus dunklen Augen an. In seinem Gesicht lag weder Wut noch Haß noch Schmerz. Langsam wandte er sich von ihnen ab, ging das Flußbett des Trockenen Flusses entlang und war bald verschwunden. Doch das Licht in Geds Gesicht und an seinem Stab war erloschen. Er stand im Dunkeln. Als Arren zu ihm trat, hielt er sich am Arm des jungen Mannes fest. Ein trockenes Schluchzen schüttelte seinen Körper. »Es ist vollbracht«, sagte er, »es ist vollbracht.«
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»Es ist vollbracht, mein Gebieter, mein geliebter Herr. Wir müssen gehen.« »Ja. Wir müssen heimgehen.« Ged war erschöpft. Er folgte Arren das Flußbett hinunter, stolperte und kam nur mühsam zwischen den Felsbrocken und dem Geröll vorwärts. Arren hielt sich dicht bei ihm. Als die Ufer des Trockenen Flusses weniger steil wurden und der Boden flacher, wandte sich Arren dem Weg zu, den sie gekommen waren: dem langen Hang ohne feste Umrisse, der hinauf ins Dunkel führte. Dann wandte er sich um. Ged redete nicht. Er war auf einem Brocken erstarrter Lava zusammengesunken, völlig erschöpft, mit gesenktem Haupt. Arren wußte, daß sie auf dem Weg, den sie gekommen waren, nicht mehr zurückkehren konnten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, sie mußten weiter vorangehen. Sie mußten den ganzen Weg zurücklegen. Selbst zu weit ist noch nicht weit genug, dachte er. Er blickte auf die schwarzen, stillen Gipfel, die sich gegen die unbeweglichen Sterne abhoben, schrecklich in ihrer Kälte und drohend. Doch wieder vernahm er die spöttische, ironische Stimme in seinem Innern, die ihn herausforderte: »Willst du auf halbem Weg umkehren, Lebannen?« Er ging zu Ged und sagte: »Wir müssen weitergehen, mein Gebieter.« Ged erwiderte nichts, aber er stand auf. »Ich glaube, wir müssen über die Berge gehen.« »Es ist dein Weg, mein Junge«, Geds Stimme war heiser, flüsternd. »Hilf mir!« Und so begannen sie ihren Weg in die Berge, die Hänge aus Staub und Schlacken hinauf. Arren half seinem Gefährten so gut er es vermochte. Es war stockfinster in den Schluchten und Klüften, und er mußte den Weg ertasten. Es war schwierig, Ged gleichzeitig zu stützen. Das Gehen war mühsam, es war ein fortwährendes Stolpern, doch als die Hänge steiler wurden und sie klettern mußten, wurde es noch viel schlimmer. Die Felsen waren rauh, und ihre Hände brannten, als faßten sie geschmolzenes Eisen an. Doch gleichzeitig war es kalt und wurde immer kälter, je höher sie stiegen. Es war eine Qual, diese Erde zu berühren, sie brannte wie feurige Kohlen; im Berg drinnen loderte ein
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Feuer. Doch die Luft, die sie umgab, war eiskalt und dunkel. Kein Laut war zu vernehmen. Kein Wind rührte sich. Die scharfen Steine zerbröckelten unter ihren Händen. Ihre Füße sanken ein. Schwarz und steil erhoben sich die Felsrücken und Felszacken vor ihnen und fielen an ihren Seiten jäh ins Dunkel ab. Hinter und unter ihnen versank das Reich der Toten. Vor und über ihnen hoben sich die Gipfel und Felsen gegen die Sterne ab. Und nichts rührte sich in dieser schwarzen Welt aus Fels und Stein, nur die zwei menschlichen Seelen. Ged stolperte und strauchelte oft. Er war völlig erschöpft. Er atmete immer mühsamer, und wenn seine Hände die Felsen berührten, stöhnte er auf vor Schmerz. Es brach Arrens Herz, ihn leiden zu sehen. Er versuchte, ihn vor dem Hinfallen zu bewahren, doch der Weg war oft zu schmal, um nebeneinander gehen zu können, und Arren mußte vorangehen, um zu ertasten, wohin sie ihre Füße setzen konnten. Als sie endlich einen Steilhang erreichten, der hinauf zu den Sternen zu führen schien, glitt Ged aus und fiel vornüber. Er stand nicht mehr auf. »Mein Gebieter«, sagte Arren und kniete bei ihm nieder; dann sprach er seinen Namen: »Ged!« Er rührte sich nicht und gab keine Antwort. Arren nahm ihn in seine Arme und trug ihn den Hang hinauf. Oben ging es ein Stück eben weiter. Arren legte seine Bürde nieder und ließ sich selbst erschöpft und ohne Hoffnung auf den Boden sinken. Dies war der höchste Punkt des Passes, der zwischen den beiden schwarzen Gipfeln lag, auf den er sich zugeschleppt hatte. Der Weg führte nicht weiter. Am Ende des ebenen Stücks Weges war ein Abgrund: jenseits davon erstreckte sich endlose Dunkelheit, und die kleinen Sterne hingen unbeweglich an einem schwarzen Himmel. Beharrlichkeit kann stärker als Hoffnung sein und sie überdauern. Arren kroch vorwärts, als er dazu in der Lage war. Er kroch langsam, ganz langsam. Er blickte über den Rand der Dunkelheit und dort, unter ihm, ganz nahe, sah er den elfenbeinernen Strand, die hellen, bernsteinfarbenen Wellen, die heranrollten und am Strand in weißer Gischt sich brachen. Über dem Meer, hinter einem Schleier aus Gold, neigte sich die Sonne gegen den Horizont.
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Arren wandte sich um gegen das Dunkel. Er ging zurück. Er hob Ged hoch, so gut er es vermochte, und ging vorwärts, bis er nicht mehr weiter konnte. Hier fanden alle Dinge ihr Ende: Durst, Schmerz und Dunkel, das Licht der Sonne und die Stimme des ewig ruhelosen Meeres.
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DER STEIN DER PEIN
EIN DICHTER NEBEL lag über dem Meer und über den Dünen und Hügeln von Selidor, als Arren erwachte. Die Brandungswellen rollten leise grollend aus dem Nebel hervor und verschwanden murmelnd wieder darin. Die Flut mußte inzwischen gekommen sein, denn der Strand war jetzt viel schmaler als zuvor, die letzte, kleinste Schaumwelle leckte an Geds ausgestreckter linker Hand. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Sand. Seine Kleidung und sein Haar waren naß, auch Arrens Kleider waren naß und umgaben ihn eisigkalt. Die Wellen mußten sie zumindest einmal überspült haben. Cobs Leichnam war spurlos verschwunden, vielleicht war er vom Meer fortgeschwemmt worden. Doch hinter Arren ragte, vom Nebel leicht verschleiert, riesig und starr, Orm Embars gewaltiger Leichnam wie eine Turmruine in die Höhe. Arren erhob sich. Er zitterte vor Kälte. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Seine Glieder waren eiskalt und steif, und eine Schwäche, die von dem langen, unbeweglichen Liegen herrührte, überfiel ihn. Er taumelte wie ein Betrunkener. Sobald er seiner etwas mächtig war, ging er zu Ged und zog ihn, so gut er konnte, etwas höher hinauf auf den Strand, wo die Wellen ihn nicht mehr erreichen konnten; mehr vermochte er im Moment nicht zu tun. Ged war eiskalt und schwer. Arren hatte ihn über die Grenze des Todes zurück ins Leben getragen, aber vielleicht war es vergeblich gewesen. Er legte sein Ohr auf Geds Brust, doch er vernahm nichts. Sein eigener Körper gehorchte ihm nicht, er zitterte, und seine Zähne klapperten. Er stand auf und stampfte mit den Füßen den Sand, um sein Blut in Bewegung zu bringen. Ganz allmählich fühlte er, wie die Kraft in seine Glieder zurückkehrte. Er raffte sich zusammen und ging mit zitternden, schleppenden Schritten gegen die Dünen
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zu, um ihre Beutel zu suchen. Sie hatten sie an einem klaren Bach, der munter zu Tal eilte, fallen lassen, als sie — vor so langer Zeit — hinunter zu dem Haus aus Gebein gelaufen waren. Diesen Bach, den suchte er jetzt, denn der Gedanke an frisches Wasser ließ ihn nicht mehr los. Schneller als er es erwartet hatte, stieß er auf den klaren Bach, der in tausend silberglänzenden Rinnsalen hinunter zum Meer floß. Er ließ sich niederfallen und trank gierig; er tauchte sein Gesicht und seine Hände ins Wasser; er sog das Wasser ein, durch den Mund in die Seele. Endlich hatte er genug. Er blickte auf und sah am anderen Ufer des Baches einen riesigen Drachen. Sein großer Kopf war eisengrau, nur an den Nüstern, um die Augen und am Rachen war er rostrot gefärbt. Er war ihm zugewandt, ja er hing fast über ihm. Die Krallen waren tief in den nassen, weichen Sand des Ufers eingesunken. Die Flügel, so groß wie Segel, waren zurückgelegt; sie waren, wie der Schwanz der Echse, nur teilweise sichtbar. Der Rest verlor sich im Nebel. Der Drache rührte sich nicht. Vielleicht lag er schon stunden—, tage —, jähre- oder jahrhundertelang hier — wie aus Eisen gegossen, wie aus Stein gemeißelt — doch die Augen, in die Arren nicht zu blicken wagte, die Augen waren wie Öl, das sich auf Wasser zusammengefunden hat, wie gelber Rauch hinter Glas. Und diese gelbverschleierten Augen ruhten auf Arren. Arren hatte keine Wahl, er mußte aufstehen. Wenn der Drache beabsichtigte, ihn zu töten, so konnte er ihn nicht daran hindern. Und wenn er ihn verschonte, so wollte er wenigstens Ged helfen, wenn ihm noch geholfen werden konnte. Er begann, sich den Bach aufwärts zu bewegen, wo ihre Beutel liegen mußten. Der Drache rührte sich immer noch nicht. Er lag regungslos am Ufer und beobachtete Arren. Der fand die beiden Beutel, füllte die Ledertaschen mit frischem Wasser und ging zurück zu Ged. Nach wenigen Schritten schon war der Drache hinter ihm im dichten Nebel verschwunden.
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Er gab Ged Wasser zu trinken, doch es gelang ihm nicht, ihn aufzuwekken. Sein Kopf lag schlaff und kalt auf Arrens Arm. Sein dunkles Gesicht sah grau aus, die Nase, die Backenknochen und die alten Narben traten scharf hervor. Selbst sein Körper sah dünn aus, wie von einem inneren Brand verzehrt. Arren saß auf dem feuchten Sand, das Haupt seines Gefährten lag auf seinen Knien. Der Nebel umgab sie wie ein graues, unbestimmtes Etwas, das sich nach oben hin erhellte. Irgendwo hinter ihnen lag der tote Orm Embar und weiter oben wartete der lebende Drache. Und irgendwo auf der anderen Seite von Selidor lag ihr Boot, die Weitblick, ohne Proviant und leer. Und hinter dem Boot lag das Meer, dreihundert Meilen weit bis zur nächsten Insel des Westbereiches und weit über fünfhundert Meilen bis zum Innenmeer. Im fernen, fernen Selidor, hieß es in den alten Märchen und Legenden, die man in Enlad den Kindern erzählte. Vor langer, langer Zeit, im fernen, fernen Selidor, lebte einst ein Prinz ... Er war der Prinz. Damit begannen die alten Märchen, doch dies hier schien das Ende zu sein. Er war nicht niedergeschlagen. Obgleich er müde war und der Kummer um seinen Gefährten schwer auf ihm lastete, so blickte er ohne das geringste Bedauern, ohne die geringste Bitterkeit zurück. Doch jetzt war nichts mehr zu tun. Alles war vollbracht. Er fühlte, wie die Kräfte langsam in seine Glieder zurückkehrten, und ihm fiel ein, daß er in seinem Beutel eine Angelschnur hatte, mit der er vom Ufer aus versuchen konnte, Fische zu fangen. Nachdem er nämlich seinen Durst gestillt hatte, begann der Hunger heftig an ihm zu nagen. Außer ein paar Scheiben Brot war nichts von ihrem Proviant verblieben, und er hatte beschlossen, das Brot aufzuheben und es später aufgeweicht seinem Gefährten zu füttern. Mehr war nicht zu tun. Weiter konnte er nicht blicken. Der Nebel umgab ihn von allen Seiten. Zusammengekauert saß er bei Ged und kramte in seinen Taschen herum. Vielleicht befand sich etwas Brauchbares darin. In der Tasche seiner Weste stießen seine Finger auf etwas Hartes, Scharfes. Er zog
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es heraus und schaute es verwundert an. Es war ein kleiner Stein, schwarz, porös und hart. Er hob den Arm, um ihn wegzuwerfen. Doch plötzlich hielt er inne. Er fühlte die scharfen Kanten, die in seiner Hand brannten, er fühlte sein Gewicht, und er wußte, was er in der Hand hielt: ein winziges Stück Fels, das von dem Berg der Pein abgebrochen war. Es mußte an seiner Tasche hängengeblieben und hineingefallen sein, vielleicht als er hinaufkletterte, vielleicht als er Ged über den Paß trug. Er schaute es an, dieses ewig unveränderliche Ding, den Stein der Pein. Seine Hand schloß sich darum und hielt ihn fest. Und er lächelte, ernst und doch tief beglückt, denn er hatte, zum erstenmal in seinem Leben, ganz allein und ganz ungepriesen, am Ende der Welt verspürt, was es heißt, den Sieg davonzutragen. Der Nebel wurde lichter und begann sich zu verziehen. Weit draußen sah Arren das Sonnenlicht auf dem Wasser glänzen. Die Dünen wurden sichtbar und verschwanden wieder, waren farblos und schienen größer zu sein in den wogenden, wallenden Nebelfetzen. Sonnenstrahlen fielen auf Orm Embars Leichnam und ließen ihn hell erstrahlen, kolossal und überwältigend selbst im Tod. Der riesige Drache lag regungslos, wie aus Eisen gegossen, am anderen Ufer des Baches. Gegen Mittag brach die Sonne endgültig durch den Nebel und schien warm und hell am wolkenlosen Himmel. Arren legte seine nassen Kleider ab, um sie zu trocknen. Er war nackt bis auf sein Schwert und seinen Schwertgürtel. Behutsam zog er Ged aus, um auch seine Kleidung zu trocknen und um die heilende, wärmende Lichtflut auf ihn herabströmen zu lassen; doch er blieb weiterhin regungslos liegen. Ein leises Kratzen ließ ihn aufhorchen. Es klang wie Metall, das gegen Metall reibt, wie das leise Klirren von gekreuzten Schwertern. Der eisengepanzerte Drache hatte sich auf seine krummen Beine erhoben. Er bewegte sich schwerfällig und überquerte den Bach. Knirschend schleppte er seinen langen Körper durch den Sand. Arren sah die Falten an den Schultergelenken, sah die langen, gelben, stumpfen Zähne und sah den Panzer, der verbeult und eingedrückt war wie die Rüstung von Erreth-Akbe. An den langsamen, bedächtigen Bewegungen, an der
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Ruhe, die unergründlich und fast erschreckend war, erkannte Arren das Alter des Drachen: ein Alter, größer als es Jahre messen können, größer als die Erinnerung reicht. Und als der Drache einige Schritte von Ged entfernt stehenblieb, stellte sich Arren zwischen beide und fragte auf hardisch, denn er war der Ursprache nicht mächtig: »Bist du Kalessin?« Der Drache antwortete nicht, doch schien es fast, als lächle er. Dann senkte er sein Haupt und streckte seinen langen Hals nach vorne gegen Ged und sprach seinen Namen. Seine Stimme war mächtig und sanft zugleich, und als er den Rachen öffnete, roch es wie aus einer Schmiedeesse. Noch einmal wiederholte er seinen Namen. Beim dritten Mal öffnete Ged die Augen. Nach einer Weile versuchte er, sich aufzurichten, doch die Kräfte fehlten ihm. Arren kniete bei ihm nieder und stützte ihn. Dann sprach Ged: »Kalessin«, sagte er, »Senvanissaiʹn ar Roke!« Seine Kräfte verließen ihn. Er lehnte den Kopf an Arrens Schulter und schloß die Augen. Der Drache antwortete nicht. Er lag wie zuvor unbeweglich im Sand. Der Nebel kam zurück, legte sich wie ein Schleier vor die Sonne und senkte sich langsam auf die See. Arren zog sich und Ged an und hüllte Ged in seinen Umhang. Die Ebbe war vorüber, der Strand, der sich weit hinaus erstreckt hatte, wurde von den zurückkehrenden Wellen immer weiter, immer höher überspült. Arren überlegte sich, wie er Ged die Dünen hinauf bringen konnte, wo es trockener war. Obwohl er sich viel kräftiger fühlte als zuvor, so war es doch keine leichte Aufgabe. Als er sich zu Ged hinunterbeugte, um ihn hochzuziehen, streckte der Drache seinen Fuß aus. Vier Riesenkrallen, ähnlich geformt wie ein Hahnenfuß, mit einem stählernen, sensenähnlichen Sporn, streckten sich ihm entgegen. »Sobriost«, sagte der Drache, und die Laute kamen pfeifend und so eiskalt wie der Wind des Januars, der durch gefrorenes Schilfrohr streicht. »Rühre meinen Gebieter nicht an! Er hat uns alle gerettet, und seine Tat hat ihn seine ganze Kraft, vielleicht sogar sein Leben gekostet. Rühre ihn nicht an!«
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Arrens Augen flammten, und seine Stimme klang gebieterisch. Was zuviel war, war zuviel. Er war zu eingeschüchtert gewesen, er hatte Angst gehabt, doch nun mochte kommen, was da wolle, der Zorn wurde übermächtig in ihm, Zorn gegen die Ungerechtigkeit, die er in der physischen Übermacht des Drachen sah. Er, Arren, hatte den Tod gesehen, er hatte ihn am eigenen Leibe verspürt und keine Drohung, selbst die eines Drachens, konnte ihn mehr schrecken. Kalessin, der alte Drache, blickte ihn aus schmalen, goldenen, schrecklichen Augen an. Unzählige Menschenalter blickten aus diesen Augen, weit reichten sie zurück, und in der letzten Tiefe lag der Morgen dieser Welt. Obgleich Arren das Auge vermied, so spürte er doch, daß es auf ihm ruhte, daß es ihn durchschaute und etwas lächerlich fand. »Arw sobriost«, sagte der Drache, und seine rötlichen Nüstern weiteten sich. Tief drinnen funkelte das unterdrückte Feuer. Arrens Arm war unter Geds Schulter. Er war gerade im Begriff gewesen, Ged hochzuheben, als Kalessins Bewegung ihn unterbrochen hatte; jetzt spürte er, wie Geds Kopf sich ihm leicht zuwandte, und er vernahm seine Stimme: »Er sagt, steigt auf!« Arren erstarrte. Das war reiner Wahnsinn. Doch vor ihm lag die Riesenkralle, wie eine Treppe ging es hinauf, über den Fuß, den Ellenbogen, die mächtige Schulter und die Muskulatur der Schwingen, die sich am Schulterblatt abzeichnete: vier Stufen waren es, wie eine Treppe. Und dort, zwischen den Flügeln und der ersten großen Zacke des Rückgrates war eine Vertiefung, gerade groß genug für einen oder für zwei Menschen, die verrückt genug waren, die alle Hoffnung aufgegeben, die nichts mehr zu verlieren hatten. »Steigt auf!« befahl Kalessin in der Ursprache. Und Arren stand auf und half seinem Gefährten auf die Füße. Ged hielt den Kopf hoch und mit Arrens Hilfe, der seinen Arm um ihn geschlungen hatte, stieg er die seltsamen Stufen empor. Beide ließen sie sich rittlings auf dem rauhen Panzer in der Vertiefung des Drachenhalses nieder. Arren saß hinter Ged, bereit, ihn, falls es nötig sein sollte, zu halten. Beide fühlten, wie dort, wo sie den Körper des Drachen berührten,
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eine Wärme in sie zurückströmte, willkommen wie das wärmende Sonnenlicht: Das Leben loderte feurig unter dem eisernen Panzer. Arren fiel ein, daß sie den Erlenstab des Magiers, der halb versteckt im Sand lag, vergessen hatten; die Wellen krochen immer höher und versuchten ihn hinauszuspülen. Er war schon im Begriff, hinunterzuklettern, um ihn zu holen, doch Ged hielt ihn zurück. »Laß ihn liegen. Ich habe meine ganze Kunst an der Trockenen Quelle verausgabt, Lebannen. Jetzt bin ich kein Magier mehr.« Kalessin wandte den Kopf und blickte sie von der Seite her an: in seinen Augen lag ein uraltes, weises Lachen. Es war ungewiß, ob Kalessin weiblich oder männlich war, man konnte auch nicht sagen, was er dachte. Langsam hob er seine Schwingen und streckte sie aus. Sie waren nicht golden, wie Orm Embars Flügel, sondern rot, dunkelrot, so rot wie Rost oder Blut, so rot wie die purpurne Seide von Lorbanery. Vorsichtig hob er sie in die Höhe, um seine winzigen Reiter nicht aus dem Sattel zu werfen. Vorsichtig setzte er seine mächtigen Hinterbeine zum Sprung, und dann sprang er mit einem Satz, federnd wie eine Katze, in die Luft, seine Flügel schlugen abwärts, und sie erhoben sich über den Nebel, der Selidor bedeckte. Mit seinen roten Schwingen in mächtigen Schlägen die Luft zerteilend flog Kalessin in den Abend hinein, kreiste, wandte sich gen Osten und flog davon. Hochsommer lag über der Insel Ully. Ein Drache flog niedrig darüberhin. Später wurde er in Usidero und im nördlichen Ontuego gesichtet. Obgleich Drachen im Westbereich nur allzu gut bekannt waren und mit Recht gefürchtet wurden, so sagten die Dorfbewohner, die ihn gesehen hatten, nachdem alle aus ihren Verstecken herausgekrochen waren: »Vielleicht sind die Drachen doch nicht alle tot, wie man angenommen hat. Vielleicht sind die Zauberer auch nicht alle tot. Es war doch ein herrlicher Anblick, wie er so über die Insel flog. Vielleicht war er der Älteste.« Niemand sah, wo Kalessin landete. Auf diesen weitab gelegenen Inseln gibt es Wälder und unbekannte Hügel, wo nur selten Menschen hinkommen und wo selbst Drachen ungesehen landen können.
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Doch in den Neunzig Inseln gab es ein großes Geschrei und viel Aufregung. Viele Leute ruderten zwischen den kleinen Inseln nach Westen und schrien: »Versteckt euch! Versteckt euch! Der Drache von Pendor hält sein Versprechen nicht mehr ein! Der Erzmagier ist verschwunden, und jetzt kommt der Drache, um uns zu verschlingen!« Doch der große eisenfarbene Wurm flog majestätisch seine Bahn, ohne zu landen, ja ohne einen Blick auf sie zu werfen. Er flog über die kleinen Inseln, Städte und Bauernhäuser, und das Volk dort unten war ihm viel zu nichtig, nicht einmal bedeutend genug, um einen feurigen Atemzug über ihnen auszustoßen. So flog er über Geath und über Serd, überquerte die Meeresstraßen des Innenmeeres und näherte sich Rok. Kein Drache hatte seit unvordenklichen Zeiten den sichtbaren und unsichtbaren Wällen der wohlgeschützten Insel getrotzt, nur in den allerältesten Legenden findet man vereinzelt Andeutungen über ein derartiges Ereignis. Dieser Drache flog sicher und ohne zu zögern auf seinen Riesenschwingen über das westliche Ufer von Rok, flog über Dörfer und Felder zu dem grünen Kogel, der sich hinter der Stadt Thwil erhebt. Dort, auf der stumpfen Spitze des Rokkogels setzte er behutsam zur Landung an, hob seine roten Schwingen einmal kurz hoch und, sie zurückfaltend, ließ er sich mit eingeknickten Beinen auf die Erde nieder. Die Jungen kamen so schnell sie konnten aus dem Großhaus gerannt. Niemand hätte sie halten können. Doch trotz ihrer Jugend waren sie langsamer als ihre Meister, die vor ihnen zum Rokkogel kamen. Als sie den Kogel erreichten, war der Meister der Formgebung schon da, sein helles Haar leuchtete in der Sonne. Mit ihm kam der Meister der Verwandlungen, der erst vor zwei Nächten als großer Fischadler, müde und mit lahmen Flügeln zurückgekehrt war; er war lange Zeit in seiner eigenen Verwandlung gefangen gewesen, und erst als er den Hain in der Nacht erreichte, als die Balance wieder hergestellt wurde, erst dann, als alles, was zerbrochen war, wieder heil wurde, konnte er in seine eigene Gestalt zurückkehren. Der Meister des Gebietens, der erst seit einem Tag wieder auf den Beinen war, befand sich, abgezehrt und blaß, unter ihnen. Neben ihm stand der Pförtner und die anderen Meister der Insel der Weisen.
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Sie sahen, wie die Reiter abstiegen, wie einer die Hand ausstreckte, um dem anderen zu helfen. Sie sahen, wie die beiden um sich blickten, erstaunt, verwundert und zufrieden. Der Drache lag auf der Erde wie aus Stein gemeißelt, während sie von ihm herunterkletterten und neben ihm standen. Er wandte den Kopf ein wenig, während der Erzmagier zu ihm sprach. Dann antwortete er. Die Beobachter sahen den Seitenblick des Drachen, seine kalten, gelben Augen, sahen das tiefe Lachen, das darin lag. Und die, die hören konnten und die Ursprache verstanden, vernahmen seine Worte: »Ich habe den jungen König in sein Königreich gebra cht und den alten Mann in seine Heimat.« »Noch ein kleines Stück weiter, Kalessin«, antwortete Ged. »Ich bin noch nicht dort, wo ich hingehen muß.« Er blickte hinunter auf die sonnenbeschienenen Dächer und Türme des Großhauses; er schien zu lächeln. Dann wandte er sich Arren zu, der groß und schmal, in seinen abgetragenen Kleidern, auf unsicheren Beinen, neben ihm stand, denn lang und anstrengend war ihre Reise gewesen und überwältigend all das Neue, das auf ihn eingestürmt. Im Anblick aller ließ Ged sich auf beide Knie vor ihm nieder und beugte sein graues Haupt. Dann erhob er sich, küßte den jungen Mann auf die Wange und sprach: »Mögest du lange und weise herrschen, wenn du deinen Thron in Havnor besteigst, mein Herr und mein liebster Gefährte!« Sein Blick kehrte zu den Meistern, den jungen Zauberern, den Knaben und den Stadtbewohnern zurück, die sich an den Hängen und am Fuße des Kogels versammelt hatten. Sein Gesicht war ruhig, und in seinen Augen lag so etwas wie das Lachen in den Augen von Kalessin. Er wandte sich von ihnen ab und stieg über den Fuß und die Schulter hinauf auf den Sitz am Hals des Drachen, zwischen den hohen Gipfeln der beiden Flügel, wo er keiner Zügel bedurfte. Die roten Schwingen öffneten sich mit lautem Rauschen, und Kalessin, der Älteste der Drachen, sprang in die Luft. Feuer und Rauch strömten aus dem Rachen, das Geräusch des Donners und des Sturms lag in den mächtigen Schlägen seiner Schwingen. Er kreiste einmal langsam über den Kogel, dann flog er gegen Nordosten davon, in den Teil der Erdsee, der die Berginsel Gont birgt.
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Der Pförtner lächelte und sprach: »Er hat genug getan. Er geht nach Hause.« Und sie sahen dem Drachen nach, der zwischen dem Sonnenlicht und dem Meer davonflog, bis er außer Sicht war.
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EPILOG
DAS GEDLIED BERICHTET, wie der einstige Erzmagier zur Krönung des Königs aller Inseln im Schwertturm zu Havnor ins Herz der Welt kam. Das Lied erzählt auch, wie er, als die Krönungszeremonie vorbei war und das Fest begann, hinunter zum Hafen von Havnor ging. Dort auf dem Wasser lag ein Boot, dem man ansah, daß es vielen Winden und Wettern getrotzt hatte; es hatte keine Segel und war leer. Ged rief es bei seinem Namen, Weitblick, und es kam auf ihn zu. Er wandte dem Land den Rücken zu, und das Boot bewegte sich auf der windstillen See, ohne Segel und ohne Ruder und trug ihn aus dem Hafen und aus der Bucht hinaus aufs Meer, an den Inseln des Westens vorbei auf die hohe See des Westens; und es ward nie wieder Kunde von ihm. Auf der Insel Gont dagegen wird erzählt, daß der junge König Lebannen gekommen sei, um Ged zur Krönung zu holen. Doch fand er ihn weder in der Stadt Gont, noch auf Re Albi. Niemand wußte, wo er geblieben, nur daß er zu Fuß hinauf in die Wälder des Berges gestiegen war. Das täte er oft, so erzählte man dem jungen König, und niemand kannte die einsamen Pfade, die er beschritt. Einige erboten sich, ihn zu suchen, doch der König verbot es ihnen. »Er herrscht über ein größeres Königreich als ich«, sprach er. Und er verließ den Berg, bestieg sein Schiff und fuhr nach Havnor, um dort die Krone zu empfangen.
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ANHANG
ERDSEE Karten
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Der Westbereich
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Der Nordbereich
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Der Südbereich
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Der Ostbereich
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Wenn es im 20. Jahrhundert überhaupt noch so etwas wie mythenschaffende Phantasie gibt, dann ist sie in diesem Werk von Ursula K. Le Guin zu finden, ihrer bezaubernden und vielgerühmten Erdsee-Trilogie:
Der Magier der Erdsee Die Gräber von Atuan Das ferne Ufer
Mit Karten der Erdsee von Erhard Ringer.
Ursula K. Le Guin wurde auf dem Weltcon in Brighton 1979 mit dem Gandalf Grand Master-Award ausgezeichnet.