TERRA ASTRA 129
Zwischen den Zeiten von Gerard Klein
1. Das große schwarze Rechteck strahlte ein düsteres, kaum noch ...
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TERRA ASTRA 129
Zwischen den Zeiten von Gerard Klein
1. Das große schwarze Rechteck strahlte ein düsteres, kaum noch sichtbares Licht aus. Die Zeitingenieure bereiteten sich auf die nun schon dritte Expedition in diesem Jahr vor. Die Älteren unter ihnen erinnerten sich noch gut an Zeiten, als solche Expeditionen viel seltener vorgekommen waren. Hätten sie sich Gedanken darüber gemacht, wären sie vielleicht beunruhigt gewesen. Aber darüber nachzudenken, fiel nicht in ihren Aufgabenbereich. Und Aufgabenbereiche waren auf Altair sehr genau abgesteckt. Ihr Job war es, die Multisensoren eines Horowitzraums auf eine bis in die sechzehnte Dezimalstelle stimmende Genauigkeit zu justieren. Bis zu einem bestimmten Prozentsatz konnte das zwar mit Geräten erreicht werden, aber hauptsächlich mußte Altair sich doch auf das Können der Zeitingenieure verlassen. Die meisten Bewohner des Planeten Altair II, des einzigen in diesem Sonnensystem, der Leben zu tragen vermochte, glaubten, ein Fehler der Zeitingenieure würde nur den Tod des siebenköpfigen Zeitberichtigungsteams bedeuten. Etwas, was sie natürlich bedauern würden, weil sie Menschen waren und weil sie einen gewaltsamen Tod kaum kannten. Aber auch, weil sie wußten, wieviel ein solches Team wert war- zweifelsohne nicht weniger als das Gesamtvermögen von zwei oder drei der mächtigsten Planeten der Föderation, die unter der Oberherrschaft des Arques nicht weniger als sechstausend Sonnensysteme vereinigte. Doch die Menschen von Altair II kannten die Wahrheit nicht. Die war nur dem Arque und seinen Ratsmitglie-
dern bekannt und natürlich auch den Zeitingenieuren, denen es klar war, daß ein Fehler ihrerseits entweder eine möglicherweise katastrophale Änderung der Zukunft von Altair II bedeutete und demnach auch der restlichen Föderation, oder der Zerstörung eines Teils der Galaxis, die sich schließlich in immer weiteren Kreisen auf den Rest des Universums ausdehnen würde. Aber die Zeitingenieure begingen keine Fehler, dazu waren sie viel zu sorgfältig ausgebildet. Wenn sie einem Laien ihre Arbeit erklären mußten, benützten sie gewöhnlich einen Vergleich. „Stellen Sie sich vor, das Universum sei ein Ballon aus Goldbeaterhaut und wir befinden uns an irgendeinem Punkt direkt an der Innenseite der Haut. Indem wir uns nun mit aller Kraft auf eine bestimmte Stelle konzentrieren, dehnen wir die Haut dort so aus, daß eine winzige Öffnung entsteht, durch die wir etwas nach außen schieben können. Ist die Dehnung zu gering, kann es passieren, daß dieses Etwas in der dikken Haut steckenbleibt und nicht mehr freizubekommen ist. Ist die Dehnung andererseits zu stark, so könnte sich die Haut an der provisorischen Öffnung nicht mehr zusammenziehen, und der Ballon würde entweder langsam Luft ablassen oder zerplatzen.“ So erklärten sie es. Die Zeitingenieure hielten diese Gefahr jedoch für weniger real als die Krümmung im Horowitzraum, die der Mensch mit Hilfe von Maschinen nach Jahrhunderten mathematischer Berechnungen zu schaffen vermocht hatte. Sie wußten, das große schwarze Rechteck war weder Materie, noch Raum, noch Zeit, sondern eine Tür, ein materialisiertes Abstraktum. Auf einer Seite dieser Tür erstreckte sich ein Kontinuum, das Milliarden galaktischer Sternhaufen enthielt, eine milliardenfach größere Anzahl von Galaxien und wiederum eine milliardenfach größere Zahl von Sternen, von denen jeder wiederum aus einer Milliarde Teilchen bestand. Auf der anderen Seite der Tür warnichts. Zumindest nichts, das der Verstand erfassen konnte; nichts, das irgendwelche Daten über dieses absolute Jenseits zu geben vermoch-
te. Vielleicht ließe sich noch am ehesten sagen, die Tür gewährte Eintritt in das Urchaos, in die Negation des Raumes, die dem ersten Moment des Universums vorhergegangen war, seinem ersten Atom, dessen Teilung erst seine Geburt bedeutete. Deshalb erlaubte diese Tür, jeglichen Ort des Universums zu jeglicher Zeit zu erreichen — unter bestimmten Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen schränkten die Reisen durch Raum und Zeit zwar ein, waren jedoch so dehnbar, daß sie dem Menschen im Laufe seiner Geschichte einen immensen Spielraum gelassen hatten. Darum begaben sich die Zeitberichtigungsteams durch diese Tür in die Leere und überwanden diese Negation, dieses absolute Jenseits, um auf anderen Welten in der Vergangenheit oder Zukunft wiederaufzutauchen. Um diese Vergangenheit oder Zukunft zu beeinflussen. Um der Föderation, die Schicksal spielte, die zeitbedrohte Macht zu sichern. * Die sieben Männer des Teams betraten den Raum. Sie sahen kaum menschlich aus, so sehr verformte die Ausrüstung ihre Silhouetten. Die Detektoren, die Waffen und Apparaturen, die sie trugen, garantierten ihnen das Überleben unter so gut wie allen Bedingungen — im Herzen einer Sonne genauso wie in der endlosen Leere zwischen den Galaxien. Sie waren in der Lage, eine Welt zu vernichten und einer schwerbewaffneten Flotte gegenüberzutreten. Ihre Ordzianstrahldetektoren ermöglichten es ihnen, durch einen Berg hindurchzublicken, und ihre Feldmanipulatoren gestatteten ihnen, sich mit größter Geschwindigkeit in jeglicher Höhe über einer Planetenoberfläche zu bewegen. Der äußerst komplexe Symbiator verschaffte ihnen Nahrung und Atemluft aus jeglichen Grundmaterialien. Ihre Ausrüstung machte sie mächtig wie die Götter der Mythen. Ihre bedeutendsten Waffen waren jedoch ihr Nervensystem und das Wissen und Können, das ihre Ausbildung ihnen unauslöschlich
eingeprägt hatte. Selbst nackt und unter den ungünstigsten Bedingungen war — ihre Überlebenschance größer als die fast jedes anderen Sterblichen. Das verdankten sie ihren Anlagen, aufgrund derer der Selektor sie auserwählt hatte, und auch ihrer ständigen körperlichen Ertüchtigung. Sie waren bereit, jeder nur möglichen Situation gegenüberzutreten und jeder Gefahr — zumindest jedweder, die der Mensch im Laufe seiner Reisen kennengelernt hatte. Ihre Weltanschauung kannte keine Niederlage. Jeder allein war fast unschlagbar — und sie waren ihrer sieben. Sieben, die der Zeit und ihren Schlingen getrotzt hatten. „Sieben, die der Selektor ausgewählt hatte, weil sie zusammen das perfekte Team abgaben. Sieben, die nun zum x-tenmal durch die Tür treten und die Zukunft einer obskuren Welt verändern würden, damit die Föderation bestehenblieb und ihre Macht in einer fernen Zukunft nicht in Frage gestellt werde. Sie waren Jorgenssen, der Koordinator, Arno Kano, Mario, Livius, Shan d'Arg, Erin und Nanski. Theoretisch war Jorgenssen der Führer, aber praktisch benötigte das Team gar keinen. Es arbeitete als Ganzes, wie ein gutgeölter Mechanismus. Doch keiner von ihnen war spezialisiert. Die Regel besagte, daß jeder Angehörige eines Zeitberichtigungsteams in jedem Gebiet zu Hause sein mußte. Zu Beginn der Zeitreisen bestand ein Team aus sich ergänzenden Spezialisten, aber das Ergebnis war enttäuschend, ja in manchen Fällen geradezu katastrophal gewesen. Spezialisten erwiesen sich außerhalb der eigenen Domäne als äußerst hilflos. Die Majorität auf Altair und den anderen Föderationswelten, die nur aus Spezialisten bestand, betrachtete die Mitglieder eines Teams geringschätzig als Hansdampf in allen Gassen, während diese selbst ihre heimliche Verbitterung darüber, von der eigenen Zivilisation nicht für ganz voll anerkannt zu werden, mühsam schluckten. Die sieben schritten auf das schwarze Rechteck zu, durch das sie die Vergangenheit eines Planeten erreichen würden, den sie nie gese-
hen, ja, dessen Namen sie vermutlich nie zuvor gehört hatten, da sie diesen Auftrag erst vor einigen Stunden erhielten. Es war eine Regel, die Teammitglieder sehr kurzfristig zu informieren. Sie hatten jederzeit bereit zu sein. Sie wußten nicht, wer bestimmte, wann und wohin sie gehen mußten, aber es kümmerte sie auch nicht. Sie erhielten ihre genauen Anweisungen und führten sie aus. Ihr gegenwärtiger Auftrag lautete, die Geschichte des Planeten Ygone im Sternbild der Sphinx zu ändern. * Jorgenssen hatte der Ruf im Studio seines Freundes Aran auf Igor II erreicht, als er gerade dessen neueste Schöpfung bewunderte. „Ich beneide dich“, seufzte er. „Du erschaffst, während ich zerstöre. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, was wir tun. Eine Zivilisation wächst auf einem Planeten heran. Spezialisten behaupten, daß sie zu einem bestimmten Zeitpunkt die Föderation gefährden könnte. Dann erscheinen wir auf der Bildfläche. Wir greifen ein und ändern ihre Geschichte. Die Zivilisation kann sich nicht mehr frei entfalten, wird sich nie der Föderation entgegenstellen können.“ „Vergiß nicht, daß die Föderation dadurch den Frieden in der Galaxis gewährleistet. Rechtfertigt das nicht den Untergang vereinzelter Zivilisationen?“ gab Aran zu bedenken. „Ich weiß nicht“, murmelte Jorgenssen. Bei Aran brauchte er nicht mit seiner ehrlichen Meinung zurückzuhalten; sein Freund würde ihn nie den Agenten des Arques ausliefern. „Ich habe eine Menge über die Geschichte so vieler Welten gelernt. Ich bin in ihre Vergangenheit eingedrungen und habe ihre Zukunft vorhergesehen — um sie zunichte zu machen. Alle wandeln sich. Nur die Föderation ist für alle Zeiten gleichbleibend, starr, unverändert. Warum?“ „Du weißt doch, was der Arque behauptet: Die Föderation ist eine gereifte, ausgewogene Zivilisation. Sie bedarf keines Wandels. Sie ist
so stark, daß sie keine Krisen, kein Altern und keinen Tod befürchten muß wie die kurzlebigen Zivilisationen. Sie ist stabil, weil sie stark ist. „Natürlich ist mir das alles bekannt“, gab Jorgenssen zu. „Aber hat der Arque auch recht? Verteidigt er nicht nur seine eigene Macht? Das ganze Universum ist einem Wandel unterworfen, selbst die Sterne und auch deine künstlerischen Schöpfungen. Lediglich die Föderation soll so bleiben wie sie wrar? Und wir, die Zeitsoldaten, geben ihr diese Stabilität, indem wir ihr die Skalps junger Welten verschaffen.“ In diesem Moment erhielt Jorgenssen über sein Sprechgerät die Aufforderung, sich sofort auf Altair II zu einem neuen Auftrag zu melden. Er verabschiedete sich von seinem Freund. * Arne Kano ging gerade seiner Lieblingsbeschäftigung nach, als man ihn rief. Er fischte auf dem Wasserplaneten Hydra mit seinem Segelschiff, dessen Prinzip im Laufe der Jahrtausende verlorengegangen war und das er neuentdeckt hatte. Obwohl man ihn in seinem Hobby störte, war er sofort bereit. * Mario liebte Musik und Mathematik fast genauso wie schöne Frauen. Er war auf einer der inneren Welten geboren, Sohn einer reichen, dem Arque sehr nahestehenden Familie. Er hatte sich aufgrund seiner obigen Liebhabereien nie für eine Spezialistenausbildung entscheiden können und weigerte sich, die hohen, ihm von seiner Familie angebotenen Stellungen anzunehmen. Dann lernte er Jorgenssen kennen, und nach zweijähriger Freundschaft hatte dieser ihm vorgeschlagen, sich um Aufnahme in einem Zeitberichtigungsteam zu bemühen. Mario zögerte zuerst, denn seine Freiheit ging ihm über alles; er sah auch keinen Grund, die Föderation zu schützen, für die er we-
nig Liebe empfand. Doch dann befolgte er Jorgenssens Rat und wurde sogar dessen Team zugeteilt. Nun bedeutete ihm seine Arbeit sehr viel. Deshalb freute er sich über den neuen Auftrag, der ihn in den Armen einer bezaubernden Opernsängerin auf Enguerrand III erreichte. * Livius stammte aus einer armen Welt. Sein Drang nach Abenteuern und Gefahr hatte ihn zum Team geführt. Sein Ruf war nicht der beste. Er war hitzköpfig und ständig in Schlägereien verwickelt. Nur sein Beruf schützte ihn vor den Schergen des Arques, von denen er einmal einen getötet hatte. Aber die Angelegenheit war vertuscht worden, denn ein ohnehin unbeliebter Polizist ist leichter zu ersetzen als das Mitglied eines Zeitberichtigungsteams. Er dankte dem vor fünf Jahrhunderten verstorbenen Entdecker der Zeitreise Arcimboldo Letemps, als er von dem neuen Auftrag erfuhr. Auf Shangrin war es eben doch zu langweilig für einen Mann wie ihn. * Shan d'Arg behauptete, aus dem Solarsystem, der mythischen Wiege der Menschheit, zu kommen. Er hatte gelbe Haut und Schlitzaugen. Die Anthropologen hielten ihn für eine Seltenheit, denn in ihm waren noch die die reinen Merkmale einer uralten Rasse erhalten, die sich im Laufe der Jahrtausende, wie die meisten Rassen, so sehr mit anderen vermischt hatte, daß nun aus all den ursprünglichen eine völlig neue entstanden war. Shan d'Arg war einer der zähesten Kämpfer überhaupt. Es gab keine Waffe, mit der er nicht umzugehen verstand, und kaum eine, die in seiner Sammlung fehlte. Auf vielen Planeten hatte er sich bereits mit den verschiedensten Gegnern gemessen und war noch immer als
Sieger hervorgegangen. Er kämpfte, weil es ihm Spaß machte, nicht als Blutlust oder Grausamkeit, die er verabscheute. Er sehnte sich nach einem neuen Auftrag, deshalb erkundigte er sich auf Altair II, wo man ihm mitteilte, daß er bereits eingeteilt sei. * Erin, der rothaarige, wortkarge Riese, vertrieb sich die Zeit mit der Erstbesteigung einer gefährlichen Felszacke auf Zephion VI, als er von dem neuen Auftrag erfuhr. Man holte ihn ein paar Meter vom Gipfel des Berges ab. * Nanski war ein Raumfahrer des alten Schlages. Mit seiner Frau und den beiden noch sehr kleinen Söhnen war er gerade unterwegs mit seiner Raumjacht auf der Suche nach einem vor Jahrhunderten verlorengegangenen Wrack. Er wollte es instandsetzen und seiner Art Raumschiffsmuseum einverleiben, das er sich im Laufe der Zeit im Tlon-System eingerichtet hatte. Nur sehr ungern ließ er Nelle, seine Frau, allein, die in steter Angst um ihn schwebte, wenn immer er einem Auftrag folgte. * So kamen die sieben zur selben Zeit von den weit entfernt liegenden, verschiedensten Planeten auf Altair II an, bereit, ihre Mission anzutreten.
2. Das Jahr? 3161. Der Ort? Der Planet Ygone, der um eine namenlose gelbe Sonne kreiste. Jorgenssen sagte sich, daß er erst in zweihundertfünfzig Jahren und Dutzende von Lichtjahren entfernt geboren werden würde. Aber es gelang ihm nicht so recht, sich selbst völlig zu überzeugen. Er lebte schließlich in der Gegenwart, darum war es ihm unvorstellbar, daß er auf seinem Heimatplaneten noch nicht existierte, ja, daß seine Vorfahren dort noch am Leben waren. Doch unvorstellbar oder nicht, er wußte, daß es stimmte. „Erster Artikel des Grundsatzes“, zitierte Jorgenssen: „Zeitreise ist unmöglich ohne eine räumliche Verschiebung, die ausreicht, Interferenzen im kausalen Netzwerk des Universums zu verhindern.“ Ganz hundertprozentig traf dieser erste Artikel natürlich nicht zu, denn Zeitreisen führten immer eine gewisse Interferenz herbei. Aber wenn Ausgangs- und Zielpunkt weit genug entfernt lagen, konnten die Interferenzen und ihre Auswirkungen unbeachtet gelassen werden. Das ist nur logisch, dachte Jorgenssen. Wäre es möglich, in die eigene Vergangenheit, die Vergangenheit der Heimatwelt, zurückzukehren, würden die dadurch ausgelösten Abweichungen im Geschichtsablauf alle möglichen Paradoxe herbeiführen. Die Schriftsteller hatten sich in der ersten Zeitreiseepoche mit all den Möglichkeiten befaßt. Ein Zeitreisender beispielsweise, der einen seiner Vorfahren tötet, würde selbst zu existieren aufhören und könnte deshalb auch die verhängnisvolle Reise gar nicht antreten, und so weiter. Aber die Wirklichkeit erlaubte keine Paradoxe. Es war nicht möglich, in die eigene Vergangenheit zurückzukehren und sie zu ändern — oder, wenn es möglich wäre, mußte man, um den Widerstand des
Kontinuums zu überwinden, eine unvorstellbar große Menge Energie aufwenden, so viel genau, wie für die Erschaffung eines neuen Universums erforderlich wäre. einschließlich der Umwälzungen im kausalen Netzwerk. Unter bestimmten Bedingungen war die Zeitreise natürlich möglich. Zwischen zwei weit entfernten Planeten bestand kaum eine kausale Verbindung. Es war, als befänden sich diese beiden Welten in zwei verschiedenen Universen, und nur darum gelang es mit ausgleichendem Energieaufwand, in die Vergangenheit ferner Planeten zu reisen. Der zweite Artikel des Grundsatzes lautete: „Das kausale Netzwerk einer gegebenen Welt kann mit einem Kegel verglichen werden, dessen Spitze in die Vergangenheit und dessen Grundfläche in die Zukunft reicht. Erste Folgerung: Je weiter man in die Vergangenheit reist, desto mehr Interferenzen erzeugt man in der globalen Struktur der Kausalität und desto mehr Energie ist für die Reise erforderlich. Zweite Folgerung: Je weiter entfernt eine Welt vom Ausgangspunkt liegt, desto tiefer läßt sich in die Vergangenheit dieser Welt dringen. Darum hatte man Altair ausgewählt. Die Welten um Altair gehörten alle zur Föderation. Die Teams griffen gewöhnlich weit davon entfernt ein, entweder im Herzen der Galaxis oder an ihrem äußersten Rand. „In zweihundertfünfzig Jahren werde ich geboren“, wiederholte Jorgenssen. „Ich kenne bereits die Zukunft der Föderation für die nächsten dreihundert Jahre. Was danach kommt, ahne ich nicht einmal. Aber vielleicht gibt es bereits zu diesem Zeitpunkt Reisende aus einer fernen Zukunft, die wissen, was nach uns kommt, nach der Föderation. Intelligenzen, die einer Zivilisation entspringen, für die wir nur Barbaren sind. Wenn wir ihnen doch begegnen könnten! Wenn wir wüßten, was aufgrund unserer Einmischung auf Ygone passiert!“ Diese Möglichkeit schloß jedoch der dritte Artikel aus: „jede Reise in die Zukunft und jede Kommunikation mit ihr würde mehr Energie
benötigen, als im gesamten Kontinuum seit seinem Ursprung entstanden war.“ * Ygone wirkte sehr einladend. Sie tauchten auf einer von riesigen Fungi umsäumten Lichtung auf. Die Erde war rot, der Himmel blau, die Sonne sanft wärmend und die Luft angenehm feucht. Nichts regte sich ringsum. Nanski und Mario fixierten die Zeitboje, die es ihnen ermöglichen würde, die Tür und damit ihre eigene Zeit und Altair wiederzufinden. Die anderen blickten sich schweigend und wachsam um. Als Nanski und Mario mit der Tarnung der Boje fertig waren, sah sie aus wie ein großer Stein. Ein Nichteingeweihter mochte dutzendmal daran vorbeimarschieren, ohne etwas Auffälliges zu bemerken. Falls es ihm in den Sinn käme, den „Stein“ zu berühren, würde er einen geringen elektrischen Schlag erhalten, und wenn er gar versuchte ihn aufzuheben, würde er feststellen, daß er unbewegbar mit dem Boden verankert war und Dutzende von Tonnen wog. Das einzige, was ihm durch einen primitiven Eingeborenen logischerweise passieren konnte, war, daß dieser einen Altar um ihn herum baute und ihn zu einem Ort der Andacht erhob. „Dalaam, unsere Operationsbasis, liegt ungefähr zehn Kilometer nördlich“, erklärte Jorgenssen seinen Gefährten. „Es führt von hier eine Art Straße dorthin, die Schlucht hinunter, von der aus man die ganze Stadt übersehen kann. Aber wir werden diesen Weg nicht einschlagen, sondern uns, so gut es geht, außer Sichtweite davon halten.“ Kritisch betrachtete er die Ausrüstung der sechs, obwohl er sie bereits auf Altair wenigstens dreimal vor dem Verlassen überprüft und für in Ordnung befunden hatte. Alles schien tadellos. Ein Fungus zerbarst mit lautem Knall und schickte Sporen in alle Himmelsrichtungen. Sofort sprangen die Männer mit schußbereiten
Waffen auseinander, steckten sie aber gleich zurück, als sie die Ursache des explosionsartigen Geräuschs erkannt hatten. Ein ironisches Lächeln spielte um Marios Lippen. „Was, jetzt schon nervös?“ meinte er. „Was wird dann erst in einer Woche sein?“ Die anderen ignorierten ihn. „Wir werden uns zu Fuß auf den Weg machen“, bestimmte Jorgenssen. „Das ist am unauffälligsten, wenn wir die Gegend erkunden wollen. Waffen und Schutzschirme dürfen nur im äußersten Notfall verwendet werden. Falls wir uns trennen müssen, treffen wir uns wieder hier. Die zuerst zurückkommen, warten mindestens drei Monate auf das Eintreffen der übrigen. Dann können sie nach Altair zurückkehren. Danach jedoch ist die Verbindung mit Ygone unterbrochen und wird kaum wiederhergestellt werden können. Wer also bis dahin noch nicht hier ist, wird auf dieser Welt bleiben müssen.“ Das war natürlich ein Risiko, das sie in ihrem Beruf in Kauf nehmen mußten. Es war sogar schon vorgekommen, daß einzelne Mitglieder verschiedener Teams aus eigenem Entschluß zurückblieben. Verständlicherweise war das strengstens verboten, denn es verursachte nicht unbeträchtliche Störungen im kausalen Netz, aber die Föderation hatte wenig Möglichkeiten, etwas gegen die im Zeitstrom Zurückgebliebenen zu unternehmen. „Ich glaube nicht, daß sich irgendwelche Probleme ergeben werden“, fuhr Jorgenssen fort. „Die Eingeborenen sollen sehr friedliebend sein.“ „Trotzdem könnten sie in vier oder fünf Jahrhunderten zur Gefahr für die Föderation werden?“ erkundigte sich Mario sarkastisch. „Vermutlich“, entgegnete Jorgenssen, „wenn ihre Technologie unaufhaltsame Fortschritte macht. Aber ich weiß auch nicht mehr als du. Es ist die Aufgabe der Prädikatoren, sich um solche Dinge zu kümmern. Sie bestimmen, was wir zu tun haben, ohne uns mit Einzelheiten zu belasten. Ich habe auch nicht die leiseste Ahnung, wie eine Welt wie Ygone einmal die Föderation bedrohen könnte.“
„Vielleicht kommen wir selbst dahinter“, warf Shan d'Arg ein. „Aber nach den Informationen, die wir erhielten, sind die Eingeborenen fast bemitleidenswert friedlich. Zwar ist ihre Sprache sehr ausdrucksvoll, aber ihr Vokabular, was Waffen betrifft, ist ausgesprochen beschränkt. Sie wissen nicht einmal, was Krieg ist.“ Lange schritten sie zwischen den riesigen Fungi hindurch. Zweimal änderten sie die Richtung, um nicht allzu dicht an die Straße zu geraten, für die Weg wohl eine treffendere Bezeichnung gewesen wäre. „Und das sind die Leute, die die Föderation fürchtet“, zischte Shan d'Arg geringschätzig durch die Zähne. „Es wäre nicht die erste Welt, auf der der Fortschritt Riesensprünge gemacht hat“, gab Mario zu bedenken. „Die Föderation geht keine Risiken ein.“ „Ich dachte, sie hätten zumindest bereits das Atomzeitalter erreicht und wären dabei, das erste Raumschiff zu bauen“, brummte Shan d'Arg. „Schließlich kann man eine Zivilisation nicht nach einer leeren Straße beurteilen“, wies Mario ihn nun zurecht. „Außerdem solltest du dich erinnern, daß man uns sagte, ihre Technologie wäre noch sehr primitiv.“ „An meinem Gedächtnis ist, dem Arque sei Dank, nichts auszusetzen, trotzdem verstehe ich nicht, warum man uns hierhergeschickt hat.“ „Versuche es gar nicht erst, das ist nicht unsere Aufgabe.“ „Sie ist es doch“, wollte Jorgenssen protestieren. Wenn wir es nicht verstehen, wer kann es dann? Die Spezialisten? Sicher nicht. Möglicherweise sind wir die einzigen, die sich über das große Ganze Gedanken machen können, weil wir es nicht durch die verzerrende Brille eines Spezialisten sehen. Aber er schwieg. Wie oft hatten sie schon über dieses Thema diskutiert. Als sich auf der Straße ein Reiter näherte, suchten sie rasch hinter den Fungi Deckung. Der Eingeborene schien menschlich. Er war alt und fett, und sein länglicher Schädel machte die Glatze nur noch auf-
fälliger. Sein Reittier hatte einen flachen Kopf mit zwei Dreiecksaugen, einen langen Saurierhals, dunkelblaues Fell und sechs seltsam verdrehte Beine. Der Reiter blickte offensichtlich zufrieden mit sich und der Welt vor sich hin und hätte die sieben sicher selbst dann nicht bemerkt, wenn sie ihm unmittelbar auf dem Weg entgegengekommen wären. „Er reitet bestimmt nach Dalaam“, flüsterte Jorgenssen. „Zweifellos ein Händler“, vermutete Mario. Livius erinnerte ihn: „Es gibt keinen Handel auf Ygone.“ „Das ist kaum vorstellbar“, protestierte Mario. „Es wäre nicht das erstemal, daß die Informationen, die wir erhalten, nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Hast du Mizar schon vergessen? Angeblich sollte sich die Technologie dort auf dem L-Stand befinden, doch tatsächlich war sie nahe am D. Die Eingeborenen zogen es eben vor, in strohbedeckten Hütten zu leben, anstatt in Beton-, Stahl- und Glasbauten zu vegetieren.“ „Wir haben den Fehler korrigiert“, wandte Mario ein. „Ja, in letzter Minute“, brummte Shan d'Arg. Die Sonne hing schon tief am Horizont, bereit, ihren einundneunzigstündigen Schlaf anzutreten, als sie den Rand der Schlucht erreichten, unterhalb der sich Dalaam befinden sollte. Die Stadt war jedoch nicht zu sehen. Die zweite unangenehme Überraschung war der plötzliche Angriff. Sie hatten nicht einmal mehr Zeit, sich auf den Boden zu werfen. Mehr als sie ihn sahen, spürten sie den orangeroten Blitz, der auf sie zuschoß, und die atemberaubende Hitze, die sie einhüllte. Nur gut, daß ihre Instrumente schneller reagierten als ihre Reflexe. Die Energieschirme hatten sich auf volle Kraft geschaltet, ehe die Strahlung wirklich gefährlich wurde. Die Antennen der Detektoren schoben sich aus den Helmen, begannen sich zu drehen und nach dem Ursprung der Hitzestrahlen zu peilen. Der Beschuß dauerte kaum eine Hundertstelsekunde. Mit bösem Gesicht zog Livius seine Waffe.
„Behalte die Nerven!“ brüllte Jorgenssen. „Du weißt ja nicht einmal, woher der Angriff kommt.“ Die Detektorennadeln zuckten, drehten sich mit den Antennen, konnten sich jedoch für keine Richtung entscheiden. Shan d'Arg, der Waffenexperte, zuckte die Schultern. „Entweder sind wir einer Halluzination zum Opfer gefallen, die eine Hundertstelsekunde auch unsere Detektoren beeinflußte, was kaum vorstellbar ist. Oder die gegen uns eingesetzte Feindwaffe befindet sich in einer Entfernung von mehr als dreißig Kilometer, was genauso unwahrscheinlich ist. Dann bliebe noch die Möglichkeiten, daß der Angreifer über ähnliche Waffen wie wir selbst verfügt. Diese letzte Hypothese ist jedoch nicht weniger phantastisch als die beiden ersteren. Waffen dieser Art existieren in der Föderation nur in, geringem Umfang. Lediglich Zeitberichtigungsteams verfügen über sie. Außerdem können nur Welten mit einem technologischen A+-Stand, also die fortgeschrittensten der Föderation, sie herstellen.“ „Wir sollten uns in Deckung begeben“, schlug Nanski vor. Zwar war er ein tapferer Mann, aber die Plötzlichkeit dieses ungewöhnlichen Angriffs hatte ihn einigermaßen erschüttert. Das war das letzte, das sie erwartet hatten, die erste echte Schwierigkeit, die sich ihnen je in den Weg gestellt hatte. Außerdem setzte er nicht das gleiche Vertrauen in die technologische Überlegenheit der Föderation wie die anderen. Dazu waren ihm auf seinen unzähligen Raumforschungsfahrten viel zu viele uralte Maschinen untergekommen, deren Zweck kaum vorstellbar war, und die ihn zum Nachdenken angeregt hatten. Sicher hatte es früher einmal irgendwo im All bereits Zivilisationen gegeben, die sich technologisch durchaus mit der Föderation zu messen vermochten. Vielleicht existierten sie sogar noch? „Wozu soll es gut sein?“ konterte Jorgenssen und warf einen verstohlenen Blick auf Livius, dessen Unbeherrschtheit er fürchtete. „Unsere Schirme schützen uns. Außerdem würde der Feind uns ohnehin finden, wohin wir uns auch begeben. Wogegen wir weder wissen, wo, noch wer er ist.“
„Es ist wohl anzunehmen, daß er von diesem Planeten stammt und den Grund unserer Anwesenheit kennt“, sagte Arne Kano bedächtig. „Niemand greift einen Fremden grundlos an, selbst wenn er noch so seltsam ausgestattet ist. Und nur die Bewohner dieses Planeten können ein Interesse daran haben, uns zu vernichten.“ „Glaubst du denn wirklich, daß sie technologisch so weit fortgeschritten sind? In den paar Jahrzehnten, seit das letzte Zeitforschungsteam auf Ygone war?“ warf Mario ein, ehe er überlegend fortfuhr. „Möglich wäre es natürlich.“ „Sie müssen auch die Zeitreise kennen, darum wissen sie wohl auch, warum wir hier sind“, murmelte Nanski. Alle widersprachen gleichzeitig. „Unsinn“, brummte Erin, und „mach dich nicht lächerlich“, Livius. Jorgenssen stellte wieder Ruhe her. „Wolltest du nicht noch etwas sagen?“ wandte er sich an Nanski. Der Astronaut nickte. Er setzte zum Sprechen an, zögerte jedoch. Dann holte er tief Luft. „Könnt ihr euch denn nicht vorstellen“, sagte er schließlich, „daß unser Gegner nicht von hier und schon gar nicht aus der Föderation stammen muß?“ „Unmö ...“, begann Livius. Er starrte Nanski an, dann einen nach dem anderen. Er las Skepsis in ihren Gesichtern, die jedoch die darunterliegende Angst nicht ganz zu verbergen vermochte. Es war unvorstellbar, und doch war es eine Befürchtung, die sie insgeheim schon seit langem hegten, gestand Jorgenssen sich ein. Nanski, der Raumfahrer, war der Richtige, sie zu offenbaren. Kein anderer durfte auch nur vor sich selbst zugeben, daß es noch eine andere interstellare Zivilisation geben könnte außer der Föderation. Trotzdem hatte sich ein jeder bei jeder neuen Expedition die Frage gestellt: Werden wir diesmal auf einen mächtigeren Gegner stoßen, der uns töten und durch uns die Föderation erreichen wird? Ein Feind aus dem Raum — oder aus der Zeit? „Wir müssen uns einen neuen Aktionsplan überlegen“, bestimmte Jorgenssen. „Unsere Anweisungen sahen vor, daß wir bestimmte
Schlüsselpositionen in Dalaam vernichten und eine gewisse Anzahl Eingeborener der vorgeschriebenen psychologischen Behandlung unterziehen. Aber die Lage hat sich nun von Grund auf geändert.“ Als Koordinator gab er jedem der sechs Anweisungen, dann setzten sie ihren Weg in Fächerformation fort. Sie erreichten ein Plateau, das über die tausend Meter abfallende Schlucht hinausragte. Auf halber Höhe hing ein Nebelschleier, der nur eine sehr verschwommene Sicht gestattete. Jorgenssen legte sich auf den Bauch und blickte über den Rand des Plateaus. Nach ihrer Karte müßte sich Dalaam unmittelbar am Fuß der Felswand befinden. Jorgenssens Augen suchten nach der Stadt, ohne sie zu sehen. Er hatte Gebäude erwartet, Straßen, Fahrzeuge und Verkehr, doch alles, was er erblickte, war ein ausgedehnter blauer und oranger Wald, den nur vereinzelte Lichtungen unterbrachen. Die Bäume waren wahre Giganten, manche mehr als dreihundert Meter hoch. Jorgenssen schraubte an seinem Spezialglas. Der Nebel störte jetzt kaum noch die Sicht. Er glaubte nun fast, in Baumhöhe zu schweben. Er entdeckte etwas Weißes, das sich scharf von den Bäumen und dem Boden abhob, ein Haus. Dann ein zweites und noch weitere. Langsam nahm die Stadt Form an. Sie war mit dem Wald verwachsen. Jorgenssen zweifelte nicht, daß die Eingeborenen diesen Wald in ihrer Stadt gepflanzt hatten. Ihr Einführungsreferat erwähnte eine völlig normale Stadt, wie sie für eine Gesellschaft aus Bauern und Viehzüchtern charakteristisch ist. Wie lang brauchte ein Baum, um dreihundert Meter hoch zu werden, fragte sich der Koordinator. Fünfhundert Jahre? Tausend? Er drehte noch einmal an seinem Glas. Nun vermochte er sogar durch das dichte Laubwerk der Bäume zu blicken und den Boden zu sehen. Er stellte etwas Ungewöhnliches fest: Es gab keine Stadt! Er erhob sich und winkte Mario herbei. „Was hältst du davon?“ fragte er ihn.
Der andere kaute an einer Nahrungskonzentrattablette und zuckte die Achseln. „Wären nicht die Sonne, das Terrain und die Vegetation genau wie beschrieben, würde ich sagen, wir befinden uns gar nicht auf Ygone“, antwortete er. „Alle anderen Angaben stimmen absolut nicht.“ „Diese Stadt“, Jorgenssen deutete nach unten, „befindet sich zwar genau an der angegebenen Stelle, aber — sie ist eigentlich gar keine Stadt.“ Marios Stimme triefte vor Sarkasmus: „Was ist eine Stadt?“ Ja, was ist eine Stadt? fragte sich Jorgenssen, als er die scheinbare Systemlosigkeit der Häuseranordnung zu verstehen versuchte. Eine Form des Gemeinschaftslebens? Eine größere Anzahl von Häusern, die nach einem bestimmten Plan angeordnet sind, mit Denkmälern und öffentlichen Gebäuden? Er kannte Städte der verschiedensten Arten auf Hunderten von Planeten. Eines hatten sie alle gemeinsam, ein Netzwerk von Straßen. In Dalaam gab es keine Straßen, lediglich Wege, die einzelne Häuser miteinander verbanden, aber keinesfalls zu einem Zentrum führten. Es konnte auch keine unterirdischen Verkehrswege geben, denn die Detektoren hätten sie angezeigt. Kein Verkehr war zu bemerken, nur hin und wieder tauchte ein einsamer Fußgänger auf. Auch Denkmäler oder öffentliche Gebäude waren nirgends zu entdecken, genausowenig wie Straßen, auf denen man Nahrungsmittel von außerhalb herbeischaffen konnte. Auch keine Felder um die Stadt oder unter den Bäumen. Jorgenssen überschlug, wie viele Einwohner die Waldstadt beherbergen mochte. Direkt unter sich zählte er etwa fünfzig Häuser, in denen möglicherweise je fünf bis sechs Menschen wohnten. Die Stadt dehnte sich über mehrere Dutzend Quadratkilometer aus, was insgesamt eine Bevölkerungsdichte von fünfhunderttausend bis zu einer Million ergeben konnte. Nach ihren Informationen sollte Dalaam die bedeutendste Stadt auf Ygone, fünfundzwanzigtausend Einwohner
haben, die hauptsächlich Landwirtschaft, Viehzucht und Jagd betrieben- keinen Handel. Die Informationen stimmten nicht. Eine Viertelsekunde, nachdem ihre Detektoren sie gewarnt hatten, spürten sie die Vibration unter ihren Füßen. Eilig zogen sie sich von dem Felsvorsprung zurück. Das Beben verstärkte sich. Kano schaffte es nicht ganz. Direkt vor seinen Beinen spaltete sich der Fels, und das ganze Plateau stürzte in die Tiefe. „Infraschall!“ brüllte Mario. Kano purzelte mit dem gewaltigen Felsstück in die Tiefe. Als die Fallgeschwindigkeit eine gewisse Höhe erreicht hatte, schaltete sich automatisch sein. Antigravschirm ein, und er schwebte wieder hoch, während die Steinbrocken in die Tiefe sausten. Es dauerte lange, bis das Poltern ihres Aufschlags ihre Ohren erreichten. Sie eilten zum neugebildeten Rand der Schlucht. Die Steinlawine hatte den Wald verschont. War es ein Wunder — oder Berechnung? Kano schaltete den Antigrav aus und gesellte sich zu seinen Gefährten. Er lächelte, aber sein Gesicht war kalkweiß. „Diesmal war es knapp“, keuchte er. „Bisher waren wir noch keiner echten Gefahr ausgesetzt“, widersprach Mario. „Bis jetzt schützte uns unsere Ausrüstung noch hinreichend. Ich glaube auch nicht, daß unser unbekannter Gegner die Absicht hat, uns zu töten. Ich meine eher, er warnt uns: ,Verlaßt den Planeten oder wir machen euch das Leben zur Hölle', oder so etwas Ähnliches will er sagen. Meines Erachtens hat er lediglich die Absicht, uns Angst einzujagen.“ Jorgenssen bemerkte, wie die anderen zusammenzuckten. Keiner fürchtete wirklich um sein Leben, aber die so ungewohnte Unsicherheit war ein sehr unangenehmes Gefühl. Wieder beobachtete Jorgenssen die Stadt am Fuße des Steilhangs. Ihre Bewohner schienen sorgenfrei herumzuspazieren und keine Arbeit zu kennen. Anscheinend gab es keine Spezialisten, nicht einmal
auf handwerklicher Basis. Und Handel war offensichtlich tatsächlich unbekannt. Doch wer sorgte dann für die Einwohner? Woher bekamen sie ihre Nahrungsmittel? Ihre seidenen Tuniken? Soviel Jorgenssen durch das Fernglas beurteilen konnte, waren sie frei und glücklich. War Ygone vielleicht der Planet, der in der ganzen Galaxis dem sprichwörtlichen Paradies noch am nächsten kam? Der Grund, den man dem Team für die „Geschichtsberichtigung“ angegeben hatte, war „die aggressive und kriegslüsterne Tendenz der Eingeborenen“ gewesen. Das paßte absolut nicht zu dem, was Jorgenssen sah. Aber hinter den offiziellen Gründen der Beauftragten des Arques steckte selten die Wahrheit. Sie dienten im Grunde genommen lediglich zur Beruhigung des Gewissens der Teammitglieder. Der wirkliche Grund war ja doch nur die Verstärkung und Aufrechterhaltung der Macht des Arques. Die Grundregeln der „Geschichtskorrektur“ waren einfach. In den früheren Zeiten hatten die Teams hauptsächlich physisch eingegriffen, das heißt, Menschen, Städte, ja ganze Planeten vernichtet. Nach einigen Jahrhunderten arbeiteten sie subtiler. Die Teams beeinflußten die „Psyche“ einer Gesellschaft. In das Unterbewußtsein bestimmter Individuen pflanzten sie gewisse Ideen, Meinungen, Vorstellungen, die nach mehreren Jahrzehnten das Kollektivbewußtsein durchdringen würden. Daraufhin brachen Kriege aus, oder aufstrebende Zivilisationen begannen zu stagnieren und scheinbar grundlos zu zerfallen. Daß die Keime für ihre eigene Vernichtung vor Jahrzehnten durch die Zeitteams injiziert worden waren, ahnte niemand auf dem Planeten. Die Keime als solche waren zu winzig, um aufzufallen. Ein neues Symbol, das sich entwickelte und wucherte wie eine Krebsgeschwulst; das manchmal zur Geburt einer neuen Religion führte oder zu einem Mythos, dessen Anhänger fanatische blutige Feldzüge begannen. Das war die erbarmungslose, unsichtbare Waffe, die die Föderation in ihrem langen Krieg gegen potentielle Gegner benützte.
Sie gegen die friedlichen, glücklichen Dalaamer zu richten, schien Jorgenssen ein Verbrechen. Er tastete nach dem versiegelten Metallkästchen in seiner Tasche, das die hypnotischen Aufnahmen enthielt, die es ihm ermöglichen würden, die destruktiven Ideen in die Gehirne bestimmter Eingeborener zu pflanzen. Er hatte gute Lust, dieses Kästchen in hohem Bogen über die Gipfel der riesigen Bäume hinwegzuschleudern, aber er brachte es nicht fertig, dazu saß die Indoktrination, der Föderation gegenüber immer loyal zu sein, viel zu tief. Aber es gab eine zeitweilige Lösung. Die Frage war nur, ob die anderen damit einverstanden sein würden. „Wir kehren nach Altair zurück“, tastete er sich vor. „Es hat wenig Sinn, zu bleiben. Zu viele Unbekannte haben sich ergeben, darum ist auch der ursprüngliche Plan undurchführbar. Die Hypnoaufnahmen bewirken vielleicht genau das Gegenteil. Möglicherweise vermögen die Dalaamer sich sogar dagegen zu schützen. Ich kann die Verantwortung für einen Mißerfolg nicht auf mich nehmen.“ Er wußte, daß er log, obwohl er sich selbst zu überzeugen versuchte. Er fragte sich, ob die anderen ihm das ansahen. „Das bedeutet also“, sagte Mario grinsend, „daß die erste Runde zumindest an die Eingeborenen geht.“ „An sie oder jemand anderen“, entgegnete Jorgenssen sanft. „Du glaubst also an Nanskis Theorie?“ erkundigte sich Mario. „Ich weiß nicht“, gestand Jorgenssen. „Wie dem auch sei, ich halte deinen Entschluß für richtig und sekundiere ihn“, erklärte Mario. „Alles Weitere sollen die Leute des Arques entscheiden.“ „Nein“, protestierte Livius. „Noch nie ist ein Team unverrichteter Dinge wieder abgezogen.“ Jorgenssen blickte ihn kalt an. „Das stimmt nicht. Vor hundertsiebenundzwanzig Jahren kehrte ein Team zurück, ohne den Plan ausgeführt zu haben, weil die Mitglieder einstimmig der Meinung gewesen waren, daß er keine Aussicht auf Erfolg hatte.“
Mario, Kano und Nanski stimmten für den Abzug, Livius war dagegen, Erin schwieg, und Shan d'Arg zögerte, schloß sich aber schließlich aus alter Freundschaft auch Jorgenssens Meinung an. Sie machten sich auf den Rückweg. Plötzlich surrten ihre Detektoren. Sie hielten an wie ein Mann. „Dort drüben“, flüsterte Livius und deutete auf einen Punkt zwischen zwei Riesenfungi. Eine Gestalt bewegte sich zwischen einer roten Sporenwolke. Sie war zweifellos menschlich, aber nur unklar zu erkennen, als umhülle sie ein Energieschirm. Schweigend fächerten die sieben aus, um den Unbekannten einzukreisen. „Sollen wir den Antigrav benützen?“ erkundigte sich Livius. Seine Stimme bebte vor Aufregung. „Nein, nein, bleibt am Boden“, bestimmte Jorgenssen. Vielleicht war es nur ein Eingeborener, der sie beobachtete. Aber das erklärte das lange Schweigen der Detektoren nicht. Der Eingeborene schien nicht überrascht, es hatte eher den Anschein, als ob er absichtlich die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hätte. Falls es sich überhaupt um einen Eingeborenen handelte! Der erste Schuß zischte wie ein weißer Blitz über ihre Köpfe hinweg und rasierte ein paar Fungi, die daraufhin purpurne Sporen in die Luft pufften. Sofort schalteten sich die Energieschirme der sieben automatisch ein. „Nicht schießen!“ brüllte Jorgenssen, während bereits der zweite Feuerstoß voll auf Livius' Schutzschirm prallte. Zwar vermochten die sieben ihren Angreifer nun nicht mehr zu sehen, aber die Detektoren zeigten an, daß sie ihm schon sehr nahe waren. „Antigrav?“ erkundigte sich Livius noch einmal durch die Kopfhörer. Jorgenssen zögerte. Wenn sie sich in die Lüfte erhoben, würden sie sofort sichtbar und verrieten dem Gegner außerdem ihre Möglichkeiten. Andererseits vergrößerte sich ihre Chance, ihn zu fassen.
„Also gut“ erklärte er sich schließlich einverstanden. Fast unmittelbar darauf vernahm er Livius' zorniges Fluchen. „Mein Antigrav funktioniert nicht'' keuchte er: „Versucht eure.“ Ohne lange zu überlegen, drückte Jorgenssen auf den winzigen Knopf an seinem Gürtel. Aber anstatt sich in die Luft zu erheben, blieb er wie am Boden festgeklebt. Er blickte sich nach den anderen um. Keiner schwebte. „Ein Neutralisationsfeld!“ schrie Mario. „Die haben ganz schön was los“, fügte er leiser, fast anerkennend hinzu, während er gleichzeitig schoß. Er hatte die Energie zwar nur auf halbe Stärke eingestellt, also auf Lahmen, traf den Fremden jedoch voll. Trotzdem lief der andere weiter und verschwand hinter einem Felsblock. „Die Schirme!“ brüllte Nanski. Seine Stimme klang verstört. Jorgenssen betrachtete Mario, der unmittelbar vor ihm rannte. Der flimmernde Schild hüllte ihn nicht länger ein. Ein Blick auf den Anzeiger genügte, auch er war ungeschützt. Der unbekannte Angreifer spielte mit ihnen Katz und Maus. Er versuchte gar nicht wirklich, sie zu vernichten. Da er sichtlich keine Schwierigkeiten hatte, auch ihre Schutzschirme zu neutralisieren — was eine komplexe Technologie und fast unbeschränkte Energiemengen voraussetzte —, hätte er sie von Anfang an zu töten vermocht. Offenbar zog er es jedoch vor, ihnen die Hölle heißzumachen. Handelte er aus reinem Sadismus? Würde er sie schließlich doch vernichten, nachdem er ihnen bewiesen hatte, daß ihn ihre Waffen und Ausrüstung, auf die sie so stolz waren, absolut nicht beeindruckten? „Stellt die Verfolgung ein!“ befahl Jorgenssen. „Ich hab' ihn!“ brüllte Mario. Danach knallten zwei Schüsse. „Ich hab' ihn erledigt“, jubilierte er nun. Doch darauf folgten weitere Schüsse. Einer zischte so knapp an Jorgenssens Gesicht vorbei, daß es ihn blendete. Er warf sich auf den Boden, stand aber schnell wieder auf und eilte in die Richtung, in der Mario verschwunden war.
Er entdeckte ihn in einem Felseinschnitt. Mario starrte auf etwas zu seinen Füßen, das, er Jorgenssen, nicht zu sehen vermochte. Er rief ihm zu, aber Mario hörte ihn nicht, er schien völlig erschüttert. Jorgenssen schob ihn zur Seite. Hinter einem großen Stein lag ein Mann. Der Energiestrahl hatte ihn voll getroffen und in zwei Teile getrennt. Der Tote trug die Uniform des Teams. Er glich Mario aufs Haar. * Sie marschierten mit gesenkten Köpfen. „Glaubst du, die Richtung stimmt?“ fragte Jorgenssen. Erin nickte. Nachdem ihre Instrumente nicht mehr funktionierten, blieb ihre einzige Hoffnung, die Raumzeitboje wiederzufinden. Doch selbst dann brauchten sie viel Glück, sie zu aktivieren. Inzwischen bemühten sie sich, den Weg, den sie gekommen waren, zurückzuverfolgen. Sie schleppten schwer an ihren nutzlosen Waffen, und ihre Köpfe unter den Helmen waren schweißnaß, aber sie konnten sich nicht entschließen, ihre Ausrüstung aufzugeben. Nun sind wir genauso unbewaffnet wie die Dalaamer, ging es Jorgenssen durch den Kopf. Vielleicht war das der Schlüssel zu dem Ganzen? Möglicherweise hatte der unsichtbare Gegner genau das bezweckt? Bei den bisherigen Einsätzen hatten ihre Opfer nie eine Chance gegen sie gehabt. Ihre Ausrüstung machte sie zu Göttern. Das war hier auf Ygone vorbei. Nun fühlten sie sich nackt ohne ihre Waffen. Ihr Leben lang hatten Maschinen ihnen geholfen, hatten zwischen ihnen und der Realität gestanden. Sicher, manchmal hatten sie freiwillig darauf verzichtet, aus Spaß an der Gefahr — beim Bergsteigen, im Beharren gegen die tobende See oder im Zweikampf. Aber sie wußten, daß sie jederzeit auf sie zurückgreifen konnten, daß sie nie wirklich gefährdet waren.
Schweigend setzten sie Fuß vor Fuß, erschöpft vom Durst — denn natürlich funktionierte auch ihr Wassergenerationssystem nicht —, der Hitze und dem ungewohnten Marsch. Vielleicht haben die Dalaamer ein Recht, so gegen uns vorzugehen, sinnierte Jorgenssen. Vielleicht wollen sie uns nur ihre Macht beweisen, damit wir friedlich zu ihnen in die seltsame Stadt kommen, um mit ihnen unter den Bäumen zu leben und nach den Rätseln und den geheimnisvollen Dingen zu suchen. Sie hatten die Leiche des zweiten Marios nach einer kurzen Untersuchung begraben. Es bestand kein Zweifel, es war Mario, obwohl ein Mario noch jetzt zwischen ihnen schritt. Sein Double hatte die gleichen Fingerabdrücke, die gleichen Narben; es war vollkommen identisch, mit dem einen Unterschied, daß ein Mario nun tot war, weil der andere schneller geschossen hatte. Und das Seltsame daran wiederum war, daß die ebenfalls identischen Waffen der beiden nicht auf Töten eingestellt waren. Welcher der zwei kam mit uns von Altair, fragte sich Jorgenssen und vermied es, Mario anzusehen. Mit welchem unterhielt ich mich über Dalaam? War es der tote Mario? Und ist der, der jetzt mit uns marschiert, der falsche? Der uns angriff und einen von uns tötete? Oder ist es gerade umgekehrt? Haben wir eine Schlacht gewonnen? Haben wir einen Schatten vernichtet, der uns irreführen sollte? Das Problem schien unlösbar. Darum schwiegen sie alle. Es war möglich, daß der lebende Mario ein Feind war, und sie wollten nicht, daß er irgend etwas erfuhr, das er gegen sie verwenden konnte. Sollten die Leute des Arques entscheiden, falls es gelang, je nach Altair zurückzukehren. Aber vielleicht diente ihr ganzes Abenteuer auf Ygone nur dazu, einen feindlichen Agenten, einen Spion, in das Zeitreisehauptquartier der Föderation auf Altair einzuschmuggeln? Kaum, dachte Jorgenssen. Der unsichtbare Gegner hatte bewiesen, daß er durchaus in der Lage wäre, auf weniger auffällige Weise zu jeglicher Welt der Föderation zu gelangen.
Aber möglicherweise nicht in ein bestimmtes Jahr? Vielleicht versuchte der unsichtbare Feind, den Ursprung unserer Zeitkorrekturen zu finden, um so seinerseits die Zukunft der Föderation zu ändern? Nichts war sicher, nicht einmal die Richtung, in die sie marschierten. „Mir kommt die Gegend völlig unbekannt vor“, gab Jorgenssen zu bedenken. „Ich bin sicher, daß der Fungiwald zu unserer Linken war, als wir kamen. Er müßte nun also rechts sein.“ Erin schüttelte den Kopf. „Wir haben noch mindestens eine Stunde zu gehen, wenn nicht mehr. Aber die Richtung stimmt.“ Sie mußten sich auf ihn verlassen. Er war der einzige, der es gewohnt war, sich nach landschaftlichen Orientierungspunkten zurechtzufinden. Wenn sie die Boje verfehlten, mochte es Jahrzehnte dauern, bis sie sie wiederfanden, denn die Fungussporen verdeckten bereits jetzt ihre Fußspuren.
3. Erin hob den Arm, und Jorgenssen erkannte die Stelle wieder. Die Nacht würde nicht mehr lange auf sich warten lassen und einundneunzig Stunden dauern. Auf Ygone waren Tag und Nacht gleich lang, und eine so ausgedehnte Nacht bedeutete natürlich einen starken Temperaturrückgang. Ihre Energiegeneratoren funktionierten nicht mehr, und die Klimaanlage ihrer Anzüge war längst ausgefallen. Es war also ohne weiteres möglich, daß sie erfrören, falls es ihnen nicht gelang, nach Altair zurückzukehren. Die Lichtung, auf der sie angekommen waren, lag direkt vor ihnen. Trotz ihrer Erschöpfung setzten Livius und Kano zu einem eiligen Endspurt an, während Shan d'Arg sein gleichmäßiges Tempo beibehielt. „Halt!“ brüllte Jorgenssen. Sie blieben sofort stehen.
Jorgenssen fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Was er nun tun mußte, gefiel ihm gar nicht. „Mario“, begann er in gezwungen hartem Ton, „laß deine Waffe fallen und öffne die Gürtelschnalle. Den Helm kannst du aufbehalten.“ Mario drehte sich langsam auf dem Absatz herum. Er erstarrte, dann lächelte er jedoch schwach. „Ich verstehe“, murmelte er. „Du mißtraust mir. Du befürchtest, ich könnte ein Feind sein.“ „Ich darf keine Risiken eingehen.“ Jorgenssens Augen blickten wachsam, während seine Rechte den nutzlosen Strahler umklammerte. Müde ließ Mario die Waffe fallen. Er öffnete die Magnetschließe des Gürtels und beobachtete, wie er auf dem Boden aufschlug. Mit ihm verlor er das Symbol seiner einstigen Macht — seinen Energiegenerator, seinen Antigrav und die symbiotische Apparatur. Von all dem funktionierte nichts mehr, es war lediglich totes Gewicht. Aber es war das Wahrzeichen der grenzenlosen Macht der Zeitteams. Vielmehr der Macht, die auf Ygone einen ebenbürtigen Gegner gefunden hatte, korrigierte Jorgenssen insgeheim. Er konnte sich vorstellen, wie Mario zumute war, wenn sie überhaupt den echten Mario vor sich hatten. „Livius“, rief er. „Ja“, brummte der Abenteurer. Schweiß lief über seine Stirn. „Hast du deinen Dolch bei dir?“ Es war eine unnötige Frage, denn Livius trennte sich nie davon. Er war der einzige des Teams, der gut mit einer solch primitiven Waffe umzugehen vermochte. Nicht einmal Shan d'Arg hätte ihn zu einem Zweikampf mit Messern herausgefordert. Er warf es genauso gut, wie er damit stechen konnte. „Natürlich“, antwortete er nur. „Bewache Mario“, ordnete Jorgenssen an, der es vermied, auch nur einem der beiden ins Gesicht zu blikken. „Bei der ersten verdächtigen Bewegung tötest du ihn. Verstanden?“
Livius nickte mit ausdruckslosem Gesicht. Die anderen schwiegen. Ihre Stiefel bedeckte roter Sporenstaub. „Wir versuchen nun, nach Altair zurückzukehren“, erklärte Jorgenssen. „Die Boje liegt direkt vor uns. Ihr müßt verstehen, daß ich kein Risiko eingehen darf. Falls der echte Mario tot ist, falls dieser Mario hier nur eine Kopie ist und falls seine „Waffe in dem Augenblick, in dem ich die Boje aktiviere, wieder zu funktionieren beginnt, falls er uns alle tötet und sich allein nach Altair absetzt, dann ...“ Er sprach den Satz nicht zu Ende. „Ich verstehe“, versicherte ihm Mario. Ich würde an deiner Stelle nicht anders handeln. Es gibt keine Möglichkeit, zu beweisen, daß ich der echte Mario bin. Keiner von uns kann beweisen, wer er ist, dachte Jorgenssen plötzlich. Kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn. Kein einziger von uns. Zu dem einen oder anderen Zeitpunkt war jeder von uns einmal allein. Vielleicht befinden sich hinter den Felsen, an denen wir vorbeigekommen sind, auch die Leichen von Livius und Kano und Nanski und ... Ich kann niemandem mehr trauen. Ich weiß nur, wer ich bin — oder kann ich mich sogar da täuschen? Er behielt seine Überlegungen für sich. „Du gehst voran, Mario“, befahl er mit trockener Kehle. Mechanisch marschierte Mario los. Livius hob Waffe und Gürtel auf und folgte ihm. Die anderen schritten langsam hinterher. Zu ihrer Linken färbte sich der Himmel tief rot, nur die Bergspitzen glühten noch. Die als Stein getarnte Boje erwartete sie in der Mitte der Lichtung. Eine Welle der Erleichterung überschwemmte Jorgenssen, als er sie sah. Er hatte solche Angst gehabt, die Lichtung nie mehr zu finden — oder leer zu finden. Er schritt auf den Tarnfelsen zu. Als er mit der Hand über die rauhe Oberfläche strich, durchzuckte ihn ein leichter elektrischer Schlag, denn seine Stiefel isolierten nicht ausreichend. Mit den Fingerspitzen suchte er nach der schmalen, gekrümmten Öffnung mit dem Kon-
taktknopf. Plötzlich verschwand das elektrische Prickeln. Aufgeregt tastete er in dem schmalen Spalt herum. „Livius“, rief er mit mühsam beherrschter Stimme, „gib mir Marios Strahler.“ Mit dem Griff schlug er hart gegen die Stelle, an der sich der Kontaktauslöser befinden sollte. Nichts geschah. Jorgenssen verdoppelte seine Anstrengungen. Seine Muskeln schmerzten bereits. Der Stein gab nach. Ein Splitter löste sich. Wie ein Wilder hämmerte er auf den Stein ein. Mehr und mehr Splitter brachen ab. Funken begannen zu sprühen. Hilflos wandte Jorgenssen sich seinen Leuten zu. Es war unnötig, etwas zu sagen. Die Boje würde wohl immer hierbleiben, aber sie nie mehr nach Altair zurückbringen können. Die als Stein getarnte Boje war aus unerklärlichem Grund nun wirklich zu Stein geworden. Mario schien als erster zu begreifen. Er brach in hysterisches Lachen aus. Man hatte sich von Anfang an einen Spaß mit ihnen erlaubt. Sie hatten versucht, die Boje zu verstecken, und ihr unbekannter Gegner bewies seinen diabolischen Humor, indem er sie ganz in Stein verwandelte und ihnen so den Rückweg abschnitt. Gefangen auf Ygone. Bald auch Gefangene der Nacht. Und möglicherweise hatte der Feind bereits ihre Reihen infiltriert. * Die Fungistämme brannten mit heller Flamme. Es war Livius gelungen, ein Feuer zu entfachen, indem er Marios Waffe gegen einen Stein schlug. Dutzende Male verglühten die Funken wirkungslos, ehe der kleine Haufen trockener Sporen endlich Feuer fing. Ehrfürchtig betrachteten die sieben die lodernden Flammen. Mit Ausnahme von Livius und Erin hatten sie noch nie Feuer gesehen.
Instinktiv hatten sie sich rund um das Feuer gesetzt und wärmten ihre müden Glieder. Livius spielte mit seinem Dolch und hatte ein stetes Auge auf Mario. Hier sind wir nun, tausend Jahre in die Vergangenheit zurückgeworfen, sinnierte Jorgenssen, in das Zeitalter des Feuers. Zum erstenmal erleben wir wirklich eine Zeitreise. Tausend, nein zehntausend oder hunderttausend Jahre zurück, ehe das erste Raumschiff die Erde verließ. Eine Zeit, in der der Mensch noch mit bloßen Händen gegen die wilden Tiere der Urzeit kämpfte — oder gegen seinesgleichen. Die Fungistämmc knisterten und prasselten, während die Flammen sie verzehrten. Es war ein völlig neues Geräusch für die sieben. Nur Livius schien entspannt. Erins Züge waren undurchschaubar. Mario starrte wie erschöpft, regungslos in das Feuer. Noch neunzig Stunden Nacht, dachte Jorgenssen mit einem trockenen Gefühl im Hals. Sie hatten fast das ganze Wasser getrunken, das ihre Symbiatoren enthielten. Wenn sie die Nacht überstanden, mußten sie gleich im Morgengrauen nach einer Quelle suchen. Nicht nur das Feuer und ihre Waffenlosigkeit setzte sie mit ihren Urvätern auf eine Stufe, überlegte Jorgenssen, sondern auch das Mißtrauen gegeneinander.. Keiner wußte, was hinter der Stirn des anderen vorging. In der Steinzeit mußte es nicht anders gewesen sein, wenn die Jäger nachts um das Feuer lagerten und ständig einen Angriff des nächsten Nachbarn befürchteten. Erst im Laufe der Zeit wuchs mit dem besseren Verstehen des Nächsten auch das Vertrauen zueinander. Trotzdem gab es noch jetzt im zweiunddreißigsten Jahrhundert Mißtrauen, hauptsächlich zwischen den unterschiedlichen Zivilisationen — und den verschiedenen Jahrhunderten. . Mißtrauen ist der Grund unserer Anwesenheit hier, dachte Jorgenssen plötzlich. Wir müssen eingreifen, weil die Föderation der Zukunft anderer Welten mißtrauisch gegenübersteht. Die stärksten oder intelligentesten der primitiven Jäger erschlugen ihre Nachbarn, aus Furcht, diese könnten sich mit anderen verbünden und über sie herfallen. Die Föderation, die Vereini-
gung der mächtigsten und zivilisiertesten Welten der Galaxis, handelt nicht anders, benimmt sich nicht besser als ein primitiver Jäger. Das Mißtrauen, das wie ein beklemmender Schatten über ihnen hing, das Mario stärker empfand als eiserne Ketten, war nichts als eine Widerspiegelung jenes Mißtrauens, das die Föderation anderen Zivilisationen entgegenbrachte. Sie befürchteten, Mario könnte ein Fremder, ein Feind sein, weil sie sich nicht vorzustellen vermochten, daß ein Fremder etwas anderes als ein Feind sei, weil sie selbst als heimliche Feinde, verstohlen wie Kriminelle, nach Ygone gekommen waren und sie deshalb innerlich auch erwarteten, wie Kriminelle behandelt zu werden. Hier hatte man ihnen mit gleicher Münze heimgezahlt. Sie waren hergekommen in der Annahme, daß die Dalaamer keine Chance gegen sie hätten. Nun waren sie es, die keine Chance gegen den unbekannten Gegner hatten. Sie trugen das Mißtrauen, die Angst und den Haß der Föderation in sich. Das alles richtete sich nun gegen sie. Für uns war Ygone bisher nur ein Spiegel, sinnierte Jorgenssen. Was uns hier so entsetzt hat, ist nichts als unser eigenes Benehmen. Wenn wir mit leeren Händen, aber offenem Herzen voll Vertrauen und Freundschaft gekommen wären und die Dalaamer um Einblick in ihre Art zu leben gebeten hätten und ihnen dafür ... Ja, was hätten wir ihnen denn dafür bieten können? Unsere Macht? Ihre ist größer als unsere. Wenn wir zu ihnen gekommen wären mit unseren Problemen, unserem Leben, unserer Zukunft, mit der Bereitschaft, zu verstehen, statt zu zerstören, was wäre dann geschehen? Es konnte nur dann eine Antwort darauf geben, wenn er sich zu den Bewohnern der Waldstadt begab und sie fragte. Schließlich haben sie nicht versucht, uns zu töten, wie wir es an ihrer Stelle getan hätten. Sie bedrohten uns mit unseren eigenen Waffen, unseren eigenen Ängsten. Zweifellos werden sie das auch weitertun. Sie zwingen uns zu nichts. Sie geben sich damit zufrieden, unsere eigenen Waffen gegen uns zu richten, uns mit unseren eigenen Problemen zu konfrontieren.
Es gab nur eine Lösung. Jorgenssen rang mit sich. Er mußte den ersten Schritt zur Wiederherstellung des Vertrauens unternehmen. Die Dalaamer würden ihn vielleicht verstehen, wenn sie überhaupt zuhörten. „Steck deinen Dolch ein, Livius“, befahl er. „Und du, Mario, vergiß, was ich gesagt habe. Ich hatte unrecht. Ich glaube, daß du einer von uns bist und der andere Mario, den wir dort hinten gefunden haben, nur ein künstlicher Körper war, der uns irreführen sollte. Nein, nicht, um uns zu narren, sondern uns eine neue Richtung zu weisen. Bis jetzt waren wir auf dem falschen Weg.“ „Du bist verrückt“, zischte Livius. „Willst du uns alle ans Messer liefern? Wir haben so schon keine große Chance.“ Shan d'Arg blickte Jorgenssen forschend an. „Ich bin nicht so impulsiv wie Livius“, begann er, „aber mir ist auch nicht klar, was du willst. Warum dieser Gesinnungswechsel?“ „Ich habe einiges begriffen. Natürlich ist es möglich, daß ich mich täusche, aber ich nehme das Risiko in Kauf. Und ich möchte, daß ihr dies auch tut. Die Sache ist es wert.“ „Welches Risiko?“ fragte Nanski unfreundlich. „Ich werde in die Stadt gehen und mich mit den Einheimischen in Verbindung setzen, um zu erfahren, was gespielt wird. Ich bin überzeugt, die Antwort ist in Dalaam zu finden.“ „Das darfst du nicht“, erinnerte ihn Kano. „Die Vorschriften verbieten jeglichen Kontakt mit Eingeborenen. Altair ...“ Jorgenssen warf einen Fungusstamm in das Feuer. Funken sprühten. „Altair!“ unterbrach er ihn. „Wer von euch kann mir am Sternenhimmel Altair zeigen? In welchem Jahrhundert von Altairs Geschichte befinden wir uns? Haben wir überhaupt noch eine Chance, dorthin zurückzukehren?“ Er stand auf. Sein Schatten tanzte hinter ihm. Ich gebe eine gute Zielscheibe ab, dachte er. Ich wollte, sie wäre noch größer, damit die Dalaamer. wenn sie uns im Dunkeln beobachten, wüßten, daß ich keine Angst vor ihnen habe, daß ich weiß, von ihnen habe ich nichts zu befürchten.
„Altair und seine Vorschriften, die Föderation und ihre Gesetze sind im Moment nur leere Worte für uns“, fügte er hinzu. „Diese Welt hier ist die Realität. Ich muß nach Dalaam ...“ „Um dort zu spionieren“, sagte Livius skeptisch. „Nein, nicht um zu spionieren. Ich habe nicht die Absicht, mich zu verstecken. Ich muß den Leuten Fragen stellen.“ „Die Eingeborenen werden dich töten“, warnte Kano. „Das könnten sie ebensogut hier tun. Du siehst doch sicher ein, daß wir längst alle nicht mehr am Leben wären, wenn sie es so wollten. Sie haben uns lediglich den Rückzug abgeschnitten. Ich glaube, das taten sie, weil sie uns näher kennenlernen wollen, weil sie möchten, daß wir zu ihnen in die Stadt kommen. Ich bin überzeugt, sie empfinden keinen Haß für uns. Vielleicht sind sie nur neugierig. Das hätte ich eigentlich gleich erkennen müssen, als ich ihre Stadt sah. Aber ich dachte an unseren Auftrag, an ihre Vernichtung.“ „Und jetzt?“ fragte Kano. „Nun möchte ich sie kennenlernen.“ „Und vergißt darüber die Föderation. Du bist bereit, ihnen zu sagen, warum wir hier sind, ihnen die Geheimnisse der Föderation und ihrer Waffen zu verraten und vielleicht auch dein Wissen über die Zeitreise.“ . „Es gibt keine Geheimnisse mehr, weder über Waffen, noch über die Zeitreise. Es gibt nur noch uns und sie.“ „Ich werde es nicht zulassen. In deinem eigenen Interesse, Jorgenssen. Ein Koordinator kann seines Amtes enthoben werden, wenn es erforderlich ist. Das Wohl der Föderation steht über allem. Erst danach kommt das Team. Dann lange nichts, und ganz am Schluß der Koordinator.“ „Da täuschst du dich, Kano. Du vergißt, daß wir keine funktionierende Ausrüstung mehr haben. Unsere Technologie war es, die uns die Macht gab und uns zusammenschweißte. Ohne sie sind wir nicht einmal mehr ein Team, nur noch eine Gruppe von Männern, in der jeder auf sich selbst gestellt ist und seine Probleme allein lösen muß.
Versuch nicht, mir Steine in den Weg zu legen. Ich schwöre dir, ich weiß, was ich tue.“ „Das eben bezweifle ich“, knurrte Kano. „Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist. Aber du erscheinst mir gefährlicher als Mario.“ Mit einem Satz sprang er über das Feuer. Er holte mit dem Strahler aus, und die Wucht des Schlages hätte Jorgenssen niedergestreckt, wenn er nicht im letzten Augenblick ausgewichen wäre. Der Griff streifte seine Wange und prallte mit voller Gewalt auf seine Schulter. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sprang Jorgenssen zur Seite. Er bedauerte, seinen Helm abgenommen zu haben. Mechanisch wischte er sich das Blut von Wange und Kinn. Zu spät bemerkte er Kanos Fuß und bekam ihn genau in die Magengrube. Übelkeit würgte ihn. Er rang nach Luft und warf sich vorwärts. Seine Rechte traf Kanos Brust mit einem dumpfen Schlag. Mit der Handkante schlug er nach der Kehle des anderen. Kano wich aus, und Jorgenssen taumelte im vollen Schwung vor. Automatisch rollte er sich ab und kam wieder auf die Beine. Seine tau-sendfach geübten kämpferischen Reflexe erwachten langsam. Es war sein Körper, der für ihn rang, während sein Geist seltsam losgelöst war von dem Geschehen. Er dachte: Jetzt schlagen wir einander, wie primitive Jäger, mit unseren Händen und Nägeln, wie die Tiere. Er hörte den anderen keuchen und das Klatschen von Schlägen. Kano stolperte. Mit beiden Füßen sprang Jorgenssen auf die Hand, die die Waffe hielt. Kanos Finger wurden gegen den Lauf gequetscht. Mit einem Fuß stieß Jorgenssen den Strahler außer Reichweite. Kano umklammerte seinen Gegner und brüllte den anderen zu: „Helft mir! Helft mir! Packt ihn!“ Aber die fünf rührten sich nicht. Mit unbewegten Gesichtern beobachteten sie den Kampf. Kano und Jorgenssen wälzten sich auf dem Boden neben dem Feuer. Als Kano über ihm zu liegen kam, umklammerte er mit beiden Händen Jorgenssens Hals. Es war Jorgenssen klar, daß der andere ihn töten wollte. Er versuchte gar nicht, den eisernen Griff zu lockern, sondern straffte sich, krümmte sich mit einem Ruck nach hinten, was
zur Folge hatte, daß Kano über seinen Kopf hinwegsauste und ihn dabei loslassen mußte. Jorgenssen öffnete die Augen. Kein Gewicht drückte mehr auf seine Brust. Er vermochte wieder ungehindert zu atmen. Langsam erhob er sich. Sein ganzer Körper schmerzte. Da drang ein entsetzliches, gellendes Schreien in sein Bewußtsein. Kano war ins Feuer gestürzt und brannte. Die anderen saßen immer noch unbewegt. Ich bin Sieger, triumphierte Jorgenssen und wischte sich das Blut vom Kinn. Ich bin ein großer Jäger. Er eilte zum Feuer, zog Kano an einem Arm heraus, hob ihn hoch und ließ ihn ein Stück entfernt fallen. Jorgenssen atmete tief ein. Er hörte Kanos pausenloses Wimmern und sah, wie Shan d'Arg sich schließlich über ihn beugte, mit Livius' Messer seine Kombination aufschnitt und wortlos Salbe auf die Brandwunden strich. „Warum habt ihr nicht eingegriffen?“ fragte Jorgenssen keuchend. „Es war euer Kampf. Jeder muß seine Probleme allein lösen, das sagtest du doch selbst. Du hast gewonnen. Wenn Kano nicht aufgestanden wäre, hätte ich dich herausgefordert.“ „Und jetzt?“ „Du hast den Kampf fair gewonnen. Niemand mehr wird dich aufhalten, wenn du noch nach Dalaam willst.“ „Dann werde ich jetzt gehen.“ „Gut.“ Shan d'Arg nickte. „Warte noch einen Augenblick.“ Er öffnete einen der Behälter, die von seinem Gürtel hingen, und streckte Jorgenssen einen kleinen Plastikbeutel entgegen. Es war der Rest Wasser aus seinem Symbiator. „Nimm es. Du wirst es brauchen. Ich habe noch ausreichend Wasser für Kano.“ „Danke“, murmelte Jorgenssen. Dann warf er einen Blick auf die vier anderen um das Feuer, ehe er sich auf den Weg machte. „Warte“, brüllte Mario. „Ich komme mit dir.“
„Nein“, wehrte Jorgenssen ab. ohne sich umzudrehen. „Später, wenn du es wirklich willst. Aber jetzt muß ich allein gehen.“ Ich habe allein gekämpft, dachte er, nun muß ich auch allein gehen. Jeder muß selbst den Grund finden, warum Dalaam so wichtig ist Er hob Livius' Messer vom Boden auf und steckte es in seinen Gürtel. Von nun an würde es weniger Waffe als Werkzeug sein, das er dringend benötigte. „Lebt wohl“, verabschiedete er sich leise. * Immer noch umhüllte ihn die Nacht, als Jorgenssen nach fünfzehnstündigem tiefen Schlaf erwachte. Er öffnete die Schließe seines Gürtels. Dann trennte er mit Livius' Messer die Riemen davon ab, die seine Ausrüstung hielten. Er wollte ohne unnütze Geräte und Waffen zu den Dalaamern. Nur seine Uhr behielt er, obwohl sie sich nur sehr unregelmäßig zum Ticken bequemte. Er entschloß sich, der schmalen Straße zu folgen, die sich im Zickzackkurs den Abhang hinabwand. Schwach leuchtende Steine grenzten den Rand ab, was darauf hindeutete, daß auch die Eingeborenen sie des Nachts benützten. Eine lange Zeit lauschte er dem Knirschen der Steine unter seinen Füßen. Je näher er dem schwachen Schimmer kam, der wie eine Wolke über dem Tal hing, desto deutlicher wurden die Konturen. Das Gleißen enthielt heller leuchtende Flecken und dunkle Zonen, die eine Art Knotennetz bildeten. Bald erkannte er es als das, was es war: Dalaam bei Nacht. Das Licht hatte jedoch nichts Künstliches an sich, es kam auch nicht von bestimmten Punkten oder von Stellen unterhalb der Baumwipfel, sondern es war mit dem Wald verschmolzen. Die Bäume selbst strahlten es aus. Sofort brachte er es in Zusammenhang mit den Leuchtsteinen, die die Straße umsäumten. Die Erde enthielt offensichtlich phosphoreszierende Substanzen, die von den Bäumen ab-
sorbiert würden. Der Wald war dadurch in der Lage, die ganze Stadt zu beleuchten. Das war ein neuer Aspekt der so engen Symbiose zwischen Stadt und Wald. Jorgenssen fragte sich, ob die Bäume von Natur aus geleuchtet, oder ob die Eingeborenen sie so gezüchtet hatten. Im letzteren Fall mußten sie in hohem Maße in die Geheimnisse der Genetik eingedrungen sein. Jorgenssen tauchte in die leuchtende Wolke ein. Die runden, riesigen Blätter bildeten ein Dach über seinem Kopf. Ohne Übergang begann auch die Straße zu leuchten. Erst nach wenigen Metern erkannte er den Grund: Sie bestand nun aus Holz und führte direkt an einem überdimensionalen Ast entlang zu einer Öffnung im gigantischen Stamm. Jorgenssen zögerte. Die Öffnung schien eines der Stadttore zu sein. Keine Wache, keine Sicherheitsvorkehrungen waren zu bemerken. Der Wind, der durch die Blätter strich, war das einzige Geräusch. Die Einwohner schliefen oder gingen ihren ihm unverständlichen Beschäftigungen nach. Nach kurzem Zaudern schritt Jorgenssen durch das Tor und folgte der Tunnelstraße, die nach zweihundert Metern wieder aus dem Baum heraus und an einem weiteren riesigen Ast entlang zum Boden führte. Er folgte ihr noch ein paar Meter, bis sie plötzlich endete. Verblüfft blickte Jorgenssen sich um. Ein halbes Dutzend schmale Pfade führten in alle Richtungen und verloren sich zwischen den titanischen Stämmen. Er entschied sich für einen, der sich am weitesten vom Abhang entfernte. Nach einiger Zeit erreichte er ein niedriges bungalowartiges Wohnhaus aus großen Steinen, mit einer Tür aus Leuchtholz. Die Fenster waren dunkel, und nichts deutete darauf hin, daß es bewohnt war. In respektvoller Entfernung umrundete er es. Dabei überquerte er einen Pfad, der zu einem zweiten Haus führte, von dem er allerdings nur ein Stück Mauer zwischen den Bäumen zu sehen vermochte.
Er kehrte zu seinem Ausgangspunkt zurück und überlegte. Natürlich hätte er an die Tür klopfen können und warten, ob jemand öffnete. Aber er befürchtete, sein Aussehen würde die Bewohner erschrekken. Er streckte sich hinter einem breiten Stamm auf dem Boden aus. Durch das hohe Gras versteckt, beobachtete er lange Zeit die Tür. Mehrmals nickte er ein, doch nie hatte sich etwas verändert, wenn er die Augen wieder öffnete. Langsam begann Durst ihn zu quälen. Unterwegs hatte er das ganze Wasser getrunken, das Shan d'Arg ihm mitgegeben hatte. Nun lutschte er an ein paar mit Zucker überzogenen Nahrungskonzentratpillen, die seine Erschöpfung ein wenig behoben. Seine Gesichtswunde schmerzte zwar nicht mehr, aber sein ganzer Körper fühlte sich von dem Kampf wie zerschlagen. Das schwache Knarren der Haustür weckte ihn. Er blinzelte, um besser zu sehen. Ein Mädchen oder eine junge Frau verließ das Haus. Soweit er aus der Entfernung erkennen konnte, war sie völlig menschlich. Sie trug ihr blondes Haar kurzgeschnitten, hatte eine leichte dalaamische Tunika umgeworfen und besaß eine grazile Figur. Man konnte sie sogar als schön bezeichnen, doch war sie von einer natürlichen Schönheit, die sich völlig von der hochkultivierten der Frauen in der Föderation unterschied. Sie hielt eine Art Krug aus Leuchtholz in der Hand und betrat den Pfad, der unmittelbar an Jorgenssen vorbeiführte, aber sie bemerkte ihn nicht. Er beobachtete sie, dann sprang er auf und folgte ihr. Bei einer Wegkrümmung um einen Stamm herum verlor er sie mit einem Mal aus den Augen. Er rannte, weil er dachte, sie habe sich plötzlich beeilt, aber er kam an der Kreuzung an, ohne sie überholt zu haben. Als er langsam zurückschritt, bemerkte er einen noch schmaleren Pfad, der direkt auf einen der riesigen Stämme zu und offensichtlich um ihn herum führte. Er folgte ihm, doch als er an der höhlenartigen Öffnung vorbeischritt, hätte er sie fast nicht gesehen. Nur das Knistern ihrer Tunika machte ihn auf sie aufmerksam. Vorsichtig spähte er ins Innere. Die junge Frau trällerte ein Lied vor sich hin,
während sie sich anmutig mit irgend etwas beschäftigte, aus dem er nicht recht klug wurde. Nachdem sie damit fertig war, füllte sie den Krug und wandte sich um. Jorgenssen sprang zur Seite und versteckte sich hinter dem Baum. Er befürchtete schon, sie habe ihn gesehen, aber sie schritt arglos zum Haus zurück. Fünfzehn Minuten wartete er, ehe er sich vorsichtig in den Baum wagte. Die Höhle schien weder künstlich angelegt, noch war der Baum hohl, weil er am Absterben war. Es schien, als wäre er völlig natürlich so gewachsen, daß die Kammer entstand. Sie war sehr geräumig. Erst dachte Jorgenssen, sie diente den Dalaamern vielleicht als Wohn- oder Lagerraum, doch sie stand völlig leer. In der Mitte allerdings erhoben sich Auswüchse des Stammes, die bottichähnliche Gefäße formten. Eines davon enthielt eine klare Flüssigkeit, ein zweites war bis zum Rand mit etwas Breiartigem gefüllt. Am meisten beeindruckte ihn jedoch das dritte Gefäß. In ihm wuchsen Pflanzen, oder vielmehr Früchte. Die Kammer diente demnach als natürlicher Schutz der Baumprodukte, die hier auf diesem Planeten nicht an den Zweigen, sondern im Bauminneren gediehen. Jorgenssen fragte sich, ob die Eingeborenen das durch Züchtung bewerkstelligt hatten. Er tauchte einen Finger in die farblose Flüssigkeit und kostete sie. Es war klares, frisches Wasser. Er füllte seine Hände und trank wie ein Verdurstender, dann benetzte er sein Gesicht. Gleich fühlte er sich viel wohler. Der Wasserstand im Bottich hatte sich nicht gesenkt. Der Brei, den er ebenfalls probierte, war schwach süßlich und schmeckte nach Mandeln. Er wagte nicht, davon zu essen, weil er die Flora Ygones zu wenig kannte. Ihm genügte das Risiko, das er durch das Trinken des Wassers eingegangen war. Ein Freudentaumel erfüllte ihn. Er hatte entdeckt, warum die Dalaamer keine Felder bestellten und keinen Handel trieben: Die Bäume versorgten sie mit Nahrung — und mit Kleidung.
Neben dem dritten Bottich schien das Holz faltig, doch in Wirklichkeit formte sich dort ein Zellgewebe, das gerade dabei war, sich vorn Stamm zu lösen. Jorgenssen betastete es, es fühlte sich an wie feinstes, geschmeidiges Leder. Ein schwacher Duft von Vanille hing in der Luft. Tief füllte Jorgenssen seine Lungen damit. Er fühlte sich geborgen im Herzen des Baumes und so sicher wie im Mutterschoß. Urplötzlich kehrte die Erschöpfung zurück. Er beschloß, ein wenig zu schlafen und streckte sich auf dem weichen Boden aus. Sofort schlief er ein. Irgendwann begannen die Träume.
4. Im Traum schritt er inmitten einer Menschenmenge, aber die Leute sahen ihn nicht. Er war für' sie nicht real. Er konnte auch sie nicht deutlich erkennen, weil er sich viel zu schnell bewegte. Hin und wieder versuchte er langsamer zu gehen, das gelang ihm aber nicht. Die Menge drängte sich in den Straßen einer Stadt. Er lief durch immer enger werdende Straßen und Gassen, und obwohl es heller Tag war, umgab ihn bald Halbdünkel, weil die Mauern so hoch waren und die Häuser so nah beieinander. Es strengte sich an, den Kopf zu heben, um den Himmel zu sehen, doch die Muskeln gehorchten ihm nicht. Das ärgerte ihn sehr. Plötzlich tat sich vor ihm ein riesiger und völlig menschenleerer Platz auf, von Stufen umgeben, die zum Zentrum der kreisförmigen Arena hinabführten. Er spürte, daß der Platz voll Menschen war, aber er konnte sie nicht sehen, auch dann nicht, als er immer größere Schwierigkeiten hatte, sich einen Weg durch sie zu bahnen. Erst jetzt entdeckte er in der Mitte eine kugelförmige Skulptur auf einem Podest. Ein Zeitsymbol, war sein erster Gedanke. Die Kugel hatte jedoch noch eine zweite Bedeutung, die ihm nicht einfallen wollte. Es war keine glatte, völlig runde Kugel. Der Teil, der ihm am
nächsten war, trug die Züge eines Gesichts, das ihm bekannt vorkam. Er schritt auf das Podest zu, um die Skulptur aus der Nähe zu betrachten. Eine Silhouette ragte plötzlich drohend hinter der Kugel auf, aber sie leuchtete so sehr, daß er keine Einzelheiten zu erkennen vermochte. Sie war die eines hochgewachsenen Mannes in einer seltsamen Uniform. Sein Schädel glänzte, als wäre er völlig glattrasiert. In seinem Traum wußte Jorgenssen, daß der Fremde ihn davon abhalten wollte, die Kugel zu erreichen; daß er sogar versuchen würde, ihn zu töten. Er bemühte sich, wegzulaufen und sich zu verstecken, denn er wußte, er konnte nichts gegen diesen Gegner ausrichten. Aber sein Rückweg war auf allen Seiten von der Menschenmenge blockiert. Sie drängte ihn immer näher an das Podest. Er begann zu laufen, um seinem Feind zu entkommen. Der Platz wurde zur Arena, die sich stetig verengte. Plötzlich wußte er, daß er. gerettet wäre, wenn er die Kugel nur berührte. Er lief, so schnell ihn seine Beine trugen. Sein Atem kam schwer. Aber er hatte nicht die geringste Chance. Der Feind stand mit einem Mal zwischen ihm und der Kugel und hielt eine Waffe auf ihn gerichtet. Jorgenssen blickte seinem Gegner ins Gesicht, dessen Züge plötzlich klar zu sehen waren. Wie gut er dieses Gesicht kannte! Es war nicht sein Spiegelbild. Er selbst war es. Und er wußte nun, daß er wie Mario durch die Hand seines Doppelgängers sterben würde. * Er warf sich im Schlaf unruhig hin und her. Der Traum endete und begann von neuem. Jedesmal war er völlig sicher, daß er sich bereits einmal in genau derselben Lage befunden hatte, aber nie wußte er, wo oder wann. Jedesmal hörte der Traum mit der gleichen Situation auf, und jedesmal drängte es ihn stärker danach, zu erfahren, was
geschehen würde, wenn der andere ihn tötete. In jedem folgenden Traum fühlte er sich ermatteter. Das Bild gewann an Klarheit und Schrecken. Er zweifelte nicht daran, daß er zu guter Letzt wirklich getötet werden würde. Hände schüttelten ihn. Er erwachte nicht. Er spürte nur, daß jemand ihn forttrug. * Ein Gefühl von Frische. Jorgenssen öffnete die Augen. Tageslicht flutete durch ein schmales Fenster auf den glatten Holzboden neben ihm. Er hörte noch etwas verschlafen eine Mädchenstimme dalaamisch auf ihn einreden. „Du bist von weit zurückgekommen“, sagte sie. „Wie kann man nur in einem Baum schlafen! Wer immer du auch bist, es hätte dein Tod sein können, wenn ich dich nicht gefunden hätte.“ Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Er brachte kaum ein Krächzen hervor, und sein Kopf schien bersten zu wollen. Mühsam stützte er sich auf die Arme und betrachtete das Mädchen. Es war dasselbe, dem er vergangene Nacht gefolgt war. Nun war heller Tag, es mußten also zumindest vierzig Stunden vergangen sein. Hatte er die ganze Zeit geschlafen? Was war aus den anderen geworden? Er bemerkte, daß er völlig nackt unter einer weichen Decke lag. Sie schien aus dem gleichen Material wie die Tuniken. Was die Dalaamer wohl mit seiner Kleidung gemacht hatten? „Wasser“, krächzte er. Sie brachte ihm eine bis zum Rand gefüllte Holztasse, die er an seine zitternden Lippen setzte und erst zurückgab, als er sie bis auf den Grund geleert hatte. „Ich heiße Anema.“ Sie lächelte ihn an. „Jorgenssen“, stellte er sich vor. „Ich — ich komme von sehr weit her.“ „Ich weiß.“ Anema nickte. „Du bist offensichtlich nicht auf dieser Welt geboren. Aber das macht nichts.“
„Woher weißt du es?“ So hatte er sich eigentlich sein erstes Interview mit einem Dalaamer nicht vorgestellt. „Du glaubst doch nicht im Ernst, ein Bewohner unserer Stadt würde sich je in einer solchen Verfassung befinden. Sieh dich nur an.“ Sie hielt ihm einen Metallspiegel vors Gesicht. Instinktiv schreckte er davor zurück. Sein Spiegelbild rüttelte an einer vergessenen Erinnerung, die sich nicht an die Oberfläche bringen ließ. Das Gesicht, das ihm entgegensah, war eingefallen, die Haut spannte sich über die Backenknochen, und die Augen lagen tief in den Höhlen. Es war die Maske eines Menschen, der Entsetzliches, etwas Schrecklicheres noch als den Tod, gesehen hatte. Anema legte den Spiegel auf ein niedriges Tischchen zurück, das aus dem Boden gewachsen schien. Jorgenssen betastete es. Es stimmte tatsächlich. Es war ein Teil des Baumes, eine Art Auswuchs. Er fragte sich, warum die Dalaamer nicht in ganz von den Bäumen „produzierten“ Häusern wohnten. Plötzlich kam ihm die Erkenntnis. Die Bäume mußten ja atmen und füllten vermutlich die Luft in ihren Höhlen mit allen möglichen Giftgasen. Die Dalaamer blieben nie lange in diesen Kammern, er aber hatte stundenlang dort gelegen. Die Hypothese war plausibel. Er versuchte es dem Mädchen zu erklären. „Nein“, sie schüttete den Kopf. „Die Bäume fügen niemandem ein Leid zu. Es käme ihnen nie in den Sinn, einen Menschen zu vergiften.“ „Aber Bäume haben doch keinen eigenen Willen.“ Das war auf Dalaamisch sehr schwer auszudrücken. Die Sprache von Ygone. war in mancher Beziehung sehr unklar. „Das nicht“, sagte sie überlegend. „Nicht genau. Trotzdem könnte man sagen — ja — sie wissen schon, was sie tun. Sie sind damit einverstanden, uns das zu geben, was sie geben. Aber ich verstehe nicht sehr viel davon. Ich -muß meinen dritten Vater fragen, der kennt sich da ganz genau aus. Er hat sich sehr viel mit der Beziehung zwischen den Bäumen und uns befaßt. Er sagt, es ist nicht sicher, ob wir als Lebensform überhaupt noch von den Bäumen zu trennen sind.“
Jorgenssen nahm sich vor, noch auf den Begriff dritter Vater zurückzukommen. Es gab ihn nicht in der Sprache von Ygone, wie die Linguisten sie gelehrt hatten. Sogar die Sprache war hier einem Wandel unterworfen worden. Manche von Anemas Worte verstand er nur, wenn er sie aufgliederte und zu ihrer Wurzel zurückverfolgte. Ygones Sprache verriet eine Weltanschauung, die sich extrem von der der Föderation unterschied. Wie sehr, vermochte er noch nicht zu entscheiden. Anema schlug die Decke schnell und völlig unbefangen zurück. Jorgenssens Gesicht lief rot an. Die gute Gesellschaft der Föderation hatte andere Sitten. Er gewann jedoch schnell seine Beherrschung wieder und ließ sich scheinbar unbewegt von dem Mädchen eine Salbe einmassieren. „Als wir dich hierherbrachten“, verriet sie ihm, „waren deine Muskeln hart wie Holz. Ich habe noch nie einen so verkrampften Körper gesehen. Wären deine Knochen spröder gewesen, hätten sie leicht brechen können. Es sah fast so aus, als bliebst du gelähmt. Aber nun ist es schon viel besser.“ Dieser Meinung war Jorgenssen absolut nicht. Er kam sich wie gerädert vor. Eine unangenehme Erinnerung lauerte am Rand seines Bewußtseins. „Aber was machte mich dann so krank?“ fragte er, „wenn die Bäume nicht dafür verantwortlich sind.“ Die Antwort war unerwartet und erschütterte ihn bis ins Mark. „Du selbst“, erklärte Anema. „Wie sehr mußt du dich verabscheuen, daß es so weit gekommen ist. Du selbst bist dein ärgster Feind.“ Sie redet wie ein Psychoanalytiker, dachte er. Ist das Zufall? Sie scheint mich für durch und durch neurotisch zu halten. Es gefiel ihm nicht. Für galaktische Begriffe war er relativ normal, aber die Normen waren von Gemeinschaft zu Gemeinschaft verschieden. Und seit er Dalaam vom Rand der Schlucht aus entdeckt hatte, hatte er sich sogar in seinen eigenen Augen völlig abwegig benommen. „Du mußt jetzt schlafen“, mahnte sie.
Allein bei dem Gedanken verkrampfte sich sein Magen. „Ich habe Angst davor“, wehrte er sich. „Ich möchte nicht schlafen.“ Sie riß die Augen weit auf. „Du erinnerst dich also an den Traum?“ „An den Traum? An welchen Traum?“ „Das ist schade“, seufzte sie. „Wenn du dich erinnern könntest, wärst du schon fast geheilt. Du wirst später einmal wieder in den Baum zurückkehren müssen, um diesen Traum in dein Bewußtsein zu bringen. Die Bäume können jemanden, der so krank ist wie du, nicht auf einmal heilen. Du hast eine ganz ordentliche Dosis abbekommen. Beim erstenmal hätten ein paar Minuten gereicht.“ Er verstand nicht die Hälfte von dem, was sie sagte. „Ich war krank? Die Bäume können Menschen heilen? Was bedeutet das alles?“ Anema blickte ihn sehr ernst an. „Das sind Dinge, die man schon von Kindheit an weiß. Die Bäume helfen einem, sich selbst zu verstehen. Ich vergaß, daß du nicht von hier bist.“ „Erkläre es mir doch.“ „Ich weiß nicht so recht. Es könnte dir schaden. Du hast einen großen Schock erlitten. Du hast beinahe entdeckt, wer du wirklich bist. Außerdem verstehe ich nur sehr wenig davon. Mein dritter Vater dagegen weiß fast alles, was es darüber zu wissen gibt.“ „Versuch's trotzdem“, bat er. Sie schloß die Augen und konzentrierte sich. Dann begann sie in einfachen Worten langsam und mit monotoner Stimme: „Jeder Mensch hat mehrere Ichs, sie sind Teil seiner Persönlichkeit. Im Kindesalter wissen sie noch kaum etwas voneinander. Später können sie gegeneinander kämpfen oder zusammenarbeiten. Eines dieser Ichs hat eine direkte Verbindung zur Außenwelt, die anderen nur in geringem Maße oder überhaupt nicht. Es gibt einige, die sind blind und taub und entbehren jeglicher Willenskraft und Logik. Manchmal, wie in deinem Fall, sind sie die Gefangenen der anderen. Sie versuchen sich zu befreien, um Herr über ihre MitIchs zu werden. Die anderen verbrauchen eine Menge Energie, um sie zurückzuhalten. Wenn der Kampf zu erbittert wird, kommt es
vor, daß die Persönlichkeit explodiert. Dann ist dieser Mensch dem Irrsinn verfallen.“ „Ich verstehe“, murmelte er. Das Bewußtsein und das Unterbewußtsein, dachte er. Das Bewußtsein verdrängt bestimmte Elemente des Unterbewußtseins, die trotzdem auf irgendeine Weise Druck auf das Bewußtsein ausüben. Wenn der Druck stetig anhält, führt er zur Neurose. Wenn er das empfindsame Bewußtsein sprengt, kommt es zur Psychose, zum Wahnsinn. „Dann ist da natürlich auch die Beziehung zur Umwelt“, fuhr sie fort. „Man kann andere nur dann wirklich akzeptieren, wenn man geistig gesund ist, wenn man mit sich selbst völlig im reinen ist. Da helfen uns die Bäume. Sie schaffen die Möglichkeit, die verschiedenen Ichs unserer Persönlichkeit in Einklang miteinander zu bringen. Wir schicken unsere Kinder jeden Tag für eine kurze Zeit in die Baumkammern, damit sie ihr wahres Ich entwickeln. Mein dritter Vater sagt, die Bäume spielen eine sehr wichtige Rolle in unserer Zivilisation. Er meint, wir verdanken es ihnen. daß Ygone einmalig in der Galaxis ist. Er glaubt, wir sind die einzigen, die wahres Glück kennen.“ Sie blickte ihn nachdenklich an. „Ich weiß nicht, wie die Bäume es machen. Sie vermitteln uns Träume. Wenn man sich an sie erinnert, ist man eine ausgereifte, ausgewogene Persönlichkeit. Ich erinnere mich sehr gut an meine Träume. Mein dritter Vater sagt, ich sei für mein Alter erstaunlich ausgeglichen.“ Sie schien recht zufrieden mit sich, aber in ihrer Stimme war keine Spur von Selbstgefälligkeit. Selbstgefälligkeit, dachte Jorgenssen, ist ein neurotisches Gefühl, ein Gefühl von Überheblichkeit, das schließlich zur Entwertung der gesamten Umwelt führt. Die Föderation platzt schon fast vor Selbstgefälligkeit. Die Föderation ist im höchsten Maße neurotisch. Sofort korrigierte er sich — verglichen mit Ygone. Er fühlte sich plötzlich wohler, geradezu erfrischt. Noch nie hatte er eine solche innere Ruhe empfunden. „Die Bäume gehören allen“, sprach sie weiter. „Ich glaube, sie teilen sich gegenseitig alle Träume aller Leute mit. Mein Vater sagt, sie un-
terscheiden sich viel weniger voneinander, sind viel weniger individualistisch als wir. Aber er meint auch, daß nur die oberflächlichen Schichten unserer Persönlichkeit diesen Unterschied bewirken. Im Grund genommen, sagt er, haben wir sehr viel Gemeinsames, und das kommt von der Gesellschaft, in der wir leben, und auch von den Bäumen. Aber tieferliegende Dinge sind mitverantwortlich dafür, daß ganze Zivilisationen so verschieden voneinander sind — verschiedener, als zwei Individuen einer Gesellschaft auf dieser oberflächlichen Basis je sein können. Trotzdem haben auch die unterschiedlichsten Kulturen vieles gemein, und mein Vater hofft darum, daß sie sich später einmal mit Hilfe der Bäume alle zusammenschließen lassen.“ Nun redet sie wie ein Soziologe, dachte Jorgenssen als er einzuschlafen begann und ihre Stimme immer entfernter klang. Sie war bestimmt noch keine zwanzig Jahre alt und sprach schon mit solchem Verständnis und in so simplen Worten über Probleme, die die klügsten Köpfe der Föderation mehr oder weniger heimlich — weil gegen den Willen des Arques — zu lösen versuchten. Jorgenssen spürte, daß eine tiefe Wahrheit in ihren Worten lag; vielleicht sogar die Lösung der Frage nach dem Sinn der Föderation und seines eigenen Lebens, die ihn schon so lange quälte. Noch nie war sein Geist so offen gewesen. Nur eines war ihm noch nicht klar: Wie wirkten die Bäume? Füllten sie doch die Luft mit Drogen? Oder mußte er nach einer phantastischeren Erklärung suchen? Bestand eine Art Telepathie zwischen Bäumen und Menschen? Waren es die Erinnerungen der Bäume an die unzähligen Träume gewesen, die fast seine Existenz bedroht hatten? Er erkannte, daß er immer noch nicht daran glaubte, er selbst könnte seinen Tod gewünscht haben. * Als er diesmal erwachte, stand neben Anema auch ihr dritter Vater an seinem Bett. Jorgenssen fragte sich, ob die Eingeborenen Ygones
wirklich menschlichen Ursprungs waren. Nichts im Gesicht des Mannes war ungewöhnlich, und trotzdem wirkte es fremdartig. Die weitauseinanderstehenden Augen in dem mächtigen Schädel verrieten scharfe Aufmerksamkeit gemischt mit amüsierter Gelassenheit. Seine Haltung deutete gleichzeitig auf ungewöhnliche Geschmeidigkeit und große Kraft. Seine Bewegungen waren harmonisch wie die einer großen Raubkatze, doch ohne deren Angst und Wildheit. Trotz seines durchtrainierten Körpers kam Jorgenssen sich ihm gegenüber plump und schwerfällig vor. In den Augen des anderen sah er, daß in geistiger Hinsicht wohl ähnliche Unterschiede bestanden. Erst jetzt fiel Jorgenssen auf, daß auch Anema trotz ihrer Jugend dieselben Eigenschaften aufwies. Ob sich auf Ygone vielleicht eine Mutation ergeben hatte? Oder waren die Dalaamer gar das Ergebnis eines genetischen Experiments, so wie die Bäume? Jorgenssen fühlte immer stärker, daß viel mehr hinter allem steckte, als sich auf den ersten Blick erkennen ließ; daß Ygone nicht mehr war als ein Feld auf dem riesigen Schachbrett des Universums; daß die Bewohner der Baumstadt mit ihren fremdartigen Gebräuchen nur die Figuren eines mächtigen, noch unbekannten Spielers waren — und er selbst lediglich eine Schachfigur der Föderation. Verwirrt mied er die Augen des anderen. Es schien unmöglich, daß dieser Mann von einem Höheren manipuliert wurde. Nie hatte Jorgenssen einen Menschen gekannt, der dem Ideal der Freiheit, einer Freiheit ohne Gewissensqualen, näherkam, mit Ausnahme vielleicht von Anema. „Es geht dir besser“, stellte der andere fest. „Was wirst du nun machen?“ Die Frage traf Jorgenssen unerwartet. „Ich- ich weiß es nicht“, stammelte er. „Ich möchte gern eine Weile hierbleiben.“ „Du bist frei. Du kannst bleiben, solange du magst. Nur glaube ich nicht, daß du Lust hast, lange zu bleiben. Aber du wirst selbst entscheiden.“
Jorgenssen verstand. Es würde für ihn nicht angenehm sein, unter anderen zu leben, denen er so sehr unterlegen war. „Ich bin Daalquin“, stellte sich Anemas dritter Vater nun vor. „Das ist gleichzeitig ein Name und eine Funktion. Ich glaube, die Kleine hat bereits begonnen, dir einiges zu erklären. aber ich weiß nicht, wie gut sie es gemacht hat. Du kannst mir Fragen stellen, wenn du willst, aber ich meine, du wirst uns besser kennenlernen, wenn du unter uns lebst. Ich weiß, du bist sehr wissensdurstig.“ Er blickte ihn nachdenklich an. dann fügte er leicht ironisch hinzu: „Es gibt hier keine Geheimnisse, aber wenn man andere Sitten gewohnt ist, ist manches nicht leicht zu verstehen.“ „Du siehst so glücklich, so völlig entspannt aus“, sagte Jorgenssen impulsiv. Er fuhr sich über den Kopf, sein Haar war gewachsen, aber trotzdem noch nicht länger als ein paar Millimeter. Plötzlich beneidete er den anderen um sein dichtes, schwarzes Haar. Seine bisherige Gewohnheit, sich den Schädel zu rasieren, schien ihm mit einem Mal absurd. „Wir haben auch unsere Probleme“, versicherte ihm Daalquin. „Aber es sind echte Probleme.“ „Ich möchte aufstehen“, lenkte Jorgenssen ab. „Habt ihr etwas zum Anziehen für mich?“ Anema half ihm beim Ankleiden, während Daalquin drei Holztassen auf das Tischchen stellte. „Ich würde dich gern etwas sehr Persönliches fragen“, begann Jorgenssen zögernd. „Ich hoffe, du fühlst dich dadurch nicht beleidigt. Anema erwähnte mehrmals ihren dritten Vater. Ich nehme an, damit meinte sie dich. Was bedeutet dieser Ausdruck? Biologisch ...“, er hielt verlegen inne. Daalquin und Anema lachten laut auf. „Unsere Gesellschaftsform ist wohl, wie ich mir vorstelle, so ganz anders als die eure“, begann Daalquin. „Ich kann mich natürlich irren, aber ich nehme an, in eurer dominiert immer noch die Erbschaft eurer Räuber-Jäger-Vorfahren. Sie kombiniert Individualismus mit Sklaverei, was sie durch Speziali-
sierung auszugleichen versucht — eine falsche Lösung des Problems, die auf die Dauer nicht gefahrlos ist.“ Jorgenssen blickte ihn über den Tassenrand hinweg an. Wie respektlos der andere doch von der Föderation sprach. „Der einzelne ist eifersüchtig auf seine Freiheit bedacht, trotzdem kann die Einigkeit nur durch Zwang aufrechterhalten werden. Als Resultat betrachtet der einzelne alles, was von außen auf ihn zukommt, mit Mißtrauen, ja sogar Feindseligkeit. Es ist sehr schwierig für ihn, diese Einstellung zu überwinden und so einem anderen näherzukommen.“ Er beugte sich zu Jorgenssen, der in den Augen des Dalaamers Mitleid zu lesen glaubte. „Du glaubst, das ganze Universum beneidet euch um eure Macht“, fuhr Daalquin fort. „Aber in Wirklichkeit bedauern wir euch. Ihr bildet eine Rasse von Einsiedlern. Die logische Folgerung: Ihr seid theoretisch monogam, auf Familienebene, und in der Praxis polygam. Ich könnte soweit gehen und sagen, daß es bei uns genau umgekehrt ist, aber dann würdest du mich mißverstehen.“ Er schien zu überlegen, ehe er weitersprach. „Der Mensch ist gefühlsmäßig sehr abhängig von den Personen seiner Umgebung. Ohne ihre Hilfe vermag er nicht völlig er selbst zu werden und zu sein. In letzter Hinsicht kann er natürlich keine enge Bindung zu einer größeren Anzahl von Personen haben, aber er kann trotzdem gleichzeitig für mehrere eine gleichstarke Liebe empfinden. Dadurch bereichert er nicht nur sein eigenes, sondern auch das Gefühlsleben der Betroffenen mehr, als wäre seine Liebe auf eine einzige Person konzentriert.“ Jorgenssen begann durch die Bemühungen des anderen, ihn nicht zu schockieren, einen Schimmer der Wahrheit zu erkennen. Er kam sich vor wie ein Kind, das vorsichtig aufgeklärt wird. „Unsere Familien sind ein vielfältiges und wechselndes Ganzes. Sie setzen sich gewöhnlich aus sechs bis sieben, selten jedoch aus mehr als ein Dutzend Personen zusammen. Zwischen den Männern und
Frauen, den Eltern und Kindern besteht eine Art Netzwerk von Beziehungen. Nach euren Begriffen habe ich mehrere Frauen, sie jedoch haben auch mehrere Ehemänner. Es ist eine freie Verbindung. Jeder kann sich jederzeit zurückziehen oder der Gruppe zugesellen, wenn er einen Partner findet. Andererseits gibt es auch sehr enge Gefühlsbeziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen. Bestimmte Personen ziehen von einer zur anderen Gruppe. Doch die Familiengruppe als solche ist äußerst stabil, viel fester als eure Zweipersonenehe. Und Menschen, die ihr unbeständig nennen würdet, spielen eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft. Ich hoffe, du kannst mich verstehen.“ „Aber gibt es denn keine Eifersucht?“ fragte Jorgenssen verwundert. Er hatte lange nachdenken müssen, ehe ihm überhaupt ein einigermaßen ähnliches ygonisches Wort eingefallen war. Irgendwie klang es selbst in seinen Ohren überholt, altmodisch. Daalquin wiederholte es zweimal, ganz langsam, als fiele es ihm schwer, ihm eine Bedeutung beizumessen. „Eifersucht — Eifersucht? Das hat doch etwas mit Minderwertigkeit zu tun, nicht wahr? Es ist also auch etwas, das unsere Bäume kurieren.“ Mit offensichtlich väterlicher Zärtlichkeit fuhr er dem Mädchen über das Haar. „Die Kinder“, erklärte er. „werden von all den .Eltern' erzogen. Sie entbehren bestimmt keine Liebe. Mit der Zeit schließen sie sich dem Familienmitglied am engsten an, das sie am liebsten haben, das aber durchaus nicht biologisch ein Elternteil sein muß. Ich bin nicht Anemas erster, sondern ihr dritter Vater, womit ausgedrückt wird, daß ich ihr helfe, erwachsen zu werden. Ihr erster Vater half ihr ins Leben, der zweite durch ihre Kindheit. Verstehst du das?“ Jorgenssen nickte. Ermutigt schloß Daalquin: „Sie wird eine noch größere Schönheit als ihre Mutter. Manchmal bedaure ich, daß ich nicht ihr biologischer Vater bin. Das ist eines der großen Probleme unserer Gesellschaft. Theoretisch erlaubt die Aufspaltung des Menschen in zwei Geschlechter jeden möglichen genetischen Austausch. Aber viel Zeit
würde gespart, wenn ein Kind die Eigenschaften mehrerer Elternteile erben könnte, zum Beispiel die der Mutter und verschiedener Väter, und von allen nur die positiven Anlagen. Das ist eines der Probleme, die wir eines Tages zu lösen hoffen.“ Dalaams Gesellschaftsform, sinnierte Jorgenssen, war nicht utopisch, kein gleichbleibendes Paradies, festgefroren in seiner Perfektion, sondern sie entwickelte sich stetig weiter. Ihre Probleme galten der Zukunft und nicht der Sorge, ein starres Abbild der Vergangenheit aufrechtzuerhalten. Er stellte sich plötzlich vor, was die Föderation von einer Welt wie Ygone zu befürchten hatte. Allein eine Frau wie Anema mit ihrer natürlichen Schönheit, ihrer innerlichen Ruhe und Ausgeglichenheit, war eine Gefahr, wenn man sie mit den hochgezüchteten, gekünstelten Weibchen der Föderation verglich. Jorgenssens Herz war schwer. Daalquin hatte nur allzu recht. Er gehörte einer Rasse von Eigenbrötlern an, die dem Universum nichts geben konnte. Er wagte es nicht, Anema in die Augen zu sehen. Sie schien so unerreichbar für ihn. Daalquin riß ihn aus seinen Gedanken. „Hast du noch irgendwelche Fragen?“ „Nein, nicht im Augenblick“, sagte Jorgenssen schwer. „Ich möchte erst über alles nachdenken.“ „Gut, dann sehen wir dich später.“ * Während der nächsten vier Ygone-Tage, versuchte er Dalaam kennenzulernen. Manchmal wanderte er mit Anema, manchmal allein durch die Stadt. Die Bewohner kümmerten sich wenig um ihn, waren ihm jedoch wohlgesinnt und gastfreundlich. Nie stellten sie ihm Fragen, aber zumindest manche schienen seine Herkunft zu kennen und besser über die Föderation Bescheid zu wissen, als er über Ygone. Nirgends sah er jedoch Geräte oder Apparaturen, mit denen sie Informationen über die Föderation hätten erhalten können. Es schien
überhaupt keine Technologie auf Ygone zu geben — außer sie war ihm irgendwie verborgen geblieben. Die Dalaamer führten ein einfaches Leben. Die Bäume gaben ihnen offensichtlich alles, was sie benötigten. Sie verbrachten ihre Zeit mit Spazierengehen, geistreichen Unterhaltungen und auch mit künstlerischer Betätigung und verschiedenen Studien. Anema, beispielsweise, beschäftigte sich mit genetischer Biologie und hatte mit Hilfe der Bäume, wie sie ihm erklärte, schon sehr überraschende Experimente durchgeführt. Doch nie sah Jorgenssen sie mit irgendwelchen Instrumenten. Es gab auch anscheinend keine Laboratorien. Offenbar war es also möglich, Forschungen auf weniger brutale Weise durchzuführen, als es bei den Experten der Föderation üblich war. Eine eigentliche Verwaltung gab es in Dalaam nicht, doch einige der Einwohner übten aus freiem Willen Ämter des öffentlichen Interesses aus, die sie von Zeit zu Zeit wechselten. Dieses Fehlen einer kollektiven Organisation machte sich auch im Stadtbild Dalaams bemerkbar, wie Jorgenssen vom Rand der Schlucht aus gesehen hatte. Es gab nur zwei oder drei öffentliche Plätze, und diese schienen aus einer längst vergessenen Zeit zu stammen, denn wenn er Dalaamer danach fragte, erhielt er recht unbestimmte Antworten. Offenbar aber waren sie für die Einwohner von großer Bedeutung. Zu gewissen Zeiten trafen die Dalaamer sich dort und tranken ehrfurchtsvoll das Wasser, das aus den Springbrunnen sprudelte und direkt aus der Erde kam und nicht destilliert war wie das in den Bäumen. Auf einen dieser Plätze stieß er zufällig, und er erschrak zutiefst, als er ihn sah. Er war kreisrund und lag etwas tiefer als der Rest der Stadt. Stufen führten ringsum zu ihm hinunter. Er erinnerte ihn an etwas, aber er vermochte sich einfach nicht zu entsinnen, woran. Ein Podest ragte in der Mitte des Springbrunnens empor. Es trug eine stilisierte Büste, deren Gesichtsschnitt dem der Dalaamer glich. Als Jorgenssen sie sah, blieb er verstört stehen. Er kannte das Gesicht. Er hatte es bereits auf Altair und den verschiedensten Welten der Föde-
ration gesehen. Das Schlimme war nur, er vermochte sich nicht zu erinnern, wen die Büste darstellte. „Wer ist das?“ fragte er Anema aufgeregt. „Das ist der Erste“, sagte sie ehrfurchtsvoll. Die Bedeutung dieses Wortes war ihm nicht recht klar. „Der Erste“ mochte heißen, daß diese Büste für die Dalaamer den ersten Menschen symbolisierte oder auch den ihnen am wichtigsten darstellte. Jeden Tag wurde es ihm bewußter, wie groß der geistige Unterschied zwischen ihm und den Dalaamern war. Einmal sagte Anema zu ihm: „Du faszinierst mich.“ Er fühlte sich sehr geschmeichelt, bis sie fortfuhr. „Du bist mir ein Rätsel, denn ich weiß nicht, was hinter deiner Stirn vorgeht. Bei den Dalaamern ist das etwas anderes. Selbst wenn ich sie nicht kenne, weiß ich, was sie denken, was sie lieben, wer sie sind. Bei dir ist das ganz anders. Du bist ein Fremder. Das ist wunderbar.“ Sofort verschwand seine Freude. Ich bin ein Fremder, nur darum interessiert sie sich für mich. Nie werde ich etwas anderes als ein Fremder, ein Studienobjekt für sie sein. Sie will wissen, was ich denke, nur deswegen kümmert sie sich um mich. Sie spürte, daß sie ihm weh getan hatte, darum sprach sie gleich weiter. „Ich muß mich beeilen, wenn ich dich verstehen lernen will, denn bald wirst du sein wie wir. Die Bäume werden dir helfen. Wenn du es möchtest, kannst du das gleiche Leben wie wir führen. Es gibt noch eine Menge Aufregendes, das du bisher nicht entdeckt hast.“ „Nein.“ Er weigerte, sich störrisch. „Ich werde bald fortgehen.“ „Das steht dir frei“, murmelte sie, „aber warum?“ Ich muß dorthin zurück, von woher ich kam. Ich muß meine Freunde wiederfinden. Hier werde ich nie etwas anderes „als ein Fremder sein.“ „Ist dir das so unerträglich?“ Er wich ihrem Blick aus. „Du verabscheust dich immer noch so sehr“, sagte sie. „Die Bäume haben bis jetzt kaum etwas für dich getan. Du möchtest gar nicht
wirklich fort. aber du willst dir selbst weh tun. Kannst du denn die Dinge nicht sehen, wie sie sind?“ Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und zwang ihn so, sie anzusehen. „Du bist ein Kind“, sagte sie. „Warum muß ich dir das alles erklären? Es kann zwischen uns jetzt nichts sein. Später vielleicht — ich weiß es nicht. Aber siehst du denn nicht ein, daß mit all der Unruhe, all dem Haß in dir, es fast so ist, als gehörtest du einer völlig anderen Gattung an?“ „Als wäre ich ein Tier“, sagte er bitter. „Aber nein.“ Sie lächelte. „Es ist doch nicht deine Schuld. Die Gesellschaft ...“ „Ich werde gehen“, erklärte er noch einmal. „Wie du willst.“ * Stundenlang hatten sie sich unterhalten — Jorgenssen, Daalquin, Anema, ihre Mutter Daalna, Burquin, Loordin und Sineva, die alle zu Anemas Familie gehörten. Sie hatten über die Föderation gesprochen, über Ygone, über die Probleme des Menschen und seine Zukunft. Zu vielen Punkten hatte Jorgenssen sich nicht geäußert. Er bereute es innerlich, denn sie schienen völlig offen mit ihm zu reden, aber er brachte es nicht fertig, so schnell seine Loyalität zu wechseln. Er konnte sich nicht einfach von seiner Vergangenheit lossagen, genausowenig wie er es gewagt hatte, ihnen zu gestehen, warum er wirklich nach Ygone geschickt worden war. Vage hatte er etwas von Forschungen gemurmelt. Nun waren sie alle gegangen, nur Daalquin blieb noch bei ihm. „Na, was hältst du von Dalaam?“ fragte er. „Glaubst du, wir sind eine große Gefahr für die Föderation?“ Die Frage traf Jorgenssen völlig unerwartet. Es war das erstemal, daß man ihm hier überhaupt eine so direkte Frage stellte.
„Dalaam ist eine Oase der Glückseligkeit in der Galaxis“, wich er aus. „Ich glaube, eure Gesellschaftsordnung unterscheidet sich grundlegend von der der Föderation.“ „Ich werde dich etwas fragen“, sagte Daalquin. „Es steht dir frei, mir zu antworten oder auch nicht. Als du hierherkamst, warst du voll Angst, voll Haß und Pein. Das hat sich leider auch noch nicht völlig gegeben. Aber wenigstens was uns betrifft, bist du doch nun beruhigt, nicht wahr?“ „Ich weiß es nicht“, gestand Jorgenssen. „Ich verstehe euch so wenig.“ „Deine Freunde haben jedenfalls noch nicht aufgehört, uns zu fürchten“, sagte Daalquin. „Eine Zeitlang wanderten sie um die ganze Stadt herum. Jetzt lagern sie an der Straßenabzweigung zum Fluß. Es ist mir nicht ganz klar, was sie vorhaben. Vielleicht beabsichtigen sie einen Überraschungsangriff auf die Stadt, um dich zu ,befreien', denn sie nehmen zweifellos an, daß wir dich hier gefangenhalten.“ Das klärte etwas für Jorgenssen, das ihn schon seit seiner Ankunft in Dalaam beschäftigte. Er hatte sich gefragt, ob seine Gefährten unbemerkt geblieben waren. „Fürchtet ihr etwas? Möchtest du, daß ich ihnen die Wahrheit erzähle und sie hierherbringe?“ „Sie würden nicht mitkommen“, sagte Daalquin überzeugt. „Sie haben eine merkwürdige Vorstellung von uns. Ich glaube nicht, daß sie uns, so wie die Dinge jetzt stehen, einen großen Schaden zufügen könnten, aber sie denken mit der größten Kaltblütigkeit an unsere Vernichtung.“ Er schien völlig unbekümmert, als handelte es sich nicht um seine eigene Stadt und deren schlimmsten Feinde. Nachdenklich fuhr er fort. „Ich glaube, man muß sie als geistesgestört betrachten.“ Fast wäre Jorgenssen über die Lippen gerutscht: „Dann müßte man auch die ganze Bevölkerung der Föderation als geisteskrank ansehen.“ Statt dessen erklärte er jedoch: „Ihr habt ihnen eure Macht demonstriert. Da ist es kein Wunder, daß sie euch fürchten.“
„Wir haben euch keinen Beweis unserer Macht gegeben“, sagte Daalquin mit harter Stimme. „Ohne irgendwie einzuschreiten, ließen wir euch tun, was ihr wolltet. Obwohl wir wußten, daß der einzige Zweck eurer Anwesenheit die Zerstörung unserer Zivilisation ist. Aber wir taten nichts, uns zu schützen. Erstens, weil wir keine Angst hatten, daß ihr das Gleichgewicht unserer Gesellschaft gefährden könntet, und zweitens, weil wir gar nicht über Waffen verfügen, die den euren gleichwertig sind, zumindest denen, die ihr bei eurer Ankunft trugt.“ „Ihr habt sie unschädlich gemacht“, sagte Jorgenssen tonlos. „Nicht, daß ich es euch verübeln kann — aber ihr habt uns zweimal angegriffen. Ihr habt sogar einen von uns getötet, beziehungsweise uns mit einer Leiche konfrontiert, die einem von uns in allen Einzelheiten glich. Ihr zerstörtet unsere Instrumente und Apparate, was uns eine Rückkehr in unsere Welt unmöglich macht.“ Daalquin schien völlig überrascht. „Wir haben nichts dergleichen getan“, versicherte er. „Das mußt du mir glauben.“ „Wer dann?“ fragte Jorgenssen. „Gibt es denn außer eurer noch eine Zivilisation auf Ygone? Noch eine weitere Macht?“ „Nein, aber es gab eine und wird vielleicht wieder eine geben.“ „In der Zeit?“ „In der Vergangenheit und vielleicht in der Zukunft. Du weißt, wir beschäftigen uns nicht sehr viel mit Physik. Du verstehst viel mehr vom Wesen der Zeit, auch wenn du vorzogst, nicht davon zu sprechen.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Züge. „Was uns von der Zeit bekannt ist, entnehmen wir unserem Wissen über alles Lebendige und unserer Gesellschaftsform. In jedem Geschöpf steckt eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. In einem bestimmten Stadium der geistigen Reife wirken die Gegenwart und auch die Zukunftsvorstellungen auf die Vergangenheit ein, versuchen sie, zu bewältigen. Als Gegenleistung schützt die Vergangenheit sie vor der Wiederholung bestimmter Situationen.“
Er blickte Jorgenssen nachdenklich an. „Ich glaube, dasselbe gilt für Zivilisationen. Ab einem gewissen Zeitpunkt beginnen sie ihre Entwicklung in bestimmte Bahnen zu lenken. Soviel ich weiß, hat eure Föderation dieses Stadium bereits erreicht, schlug aber einen neurotischen Kurs ein.“ „Ihr — ihr wißt, daß wir die Zeitreise beherrschen?“ stammelte Jorgenssen. Die Holztasse entglitt seiner Hand, und der aromatische Likör verteilte sich auf dem Boden, wo er jedoch sofort absorbiert wurde, ohne Flecken zu hinterlassen. Daalquin nickte. „Lange schon, ehe ihr kamt. Wir erwarteten diese Krise. Unsere Astronomen sagten sie voraus. Ich habe keine Ahnung, wie ihr diese Zeitreisen möglich macht, aber ich weiß, daß die Föderation systematisch die Vergangenheit beeinflußt, um sich der uneingeschränkten Macht in der Zukunft zu versichern. Es wäre möglich, daß unsere Zivilisation etwas Ähnliches bereits in der Vergangenheit unternommen hat — oder es in der Zukunft tun wird — und daß eure mysteriösen Gegner genausowenig der Gegenwart angehören wie ihr selbst. Jedenfalls handeln sie nach meiner Meinung völlig anders, als die Föderation es unter den Umständen vorgeschrieben hätte.“ „Du weißt es aber nicht sicher“, fragte Jorgenssen. „Durchaus nicht. Ich könnte mir sogar noch eine andere Möglichkeit vorstellen, aber sie würde dir nicht gefallen.“ „Sprich.“ „Einverstanden“, sagte Daalquin ernst. „Im Augenblick existieren nur zwei Mächte auf dieser Welt — eure und unsere. Eure Gegner können der Vergangenheit oder Zukunft der einen oder anderen angehören. Vielleicht waren eure seltsamen Feinde niemand anderes als ihr selbst?“ Jorgenssen sprang wütend auf. „Das ist unmöglich!“ „Ich sagte: vielleicht“, erinnerte ihn Daalquin. „Aber diese Möglichkeit ist wahrscheinlicher als jede andere. Denke doch nur daran
zurück, wie sehr du dich haßtest, als du hier ankamst, wie nahe du daran warst, dich im Herzen des Baumes selbst zu vernichten.“ „Du lügst! Das war lediglich die Wirkung der Baumgase, sie hatten mich vergiftet!“ „Es steht dir frei, zu glauben, was du willst. Die Möglichkeit, die ich in Betracht zog, stimmt vielleicht tatsächlich nicht mit der Wirklichkeit überein. Aber eines steht fest: Die Föderation hat keinen ärgeren Feind als sich selbst. Du wiederum hast keinen ärgeren Feind als dich selbst. Versöhne dich erst mit dir, dann kannst du hier, oder wo immer du auch es vorziehst, in Frieden leben.“ Daalquin erhob sich und schritt zur Tür. Er öffnete sie, drehte sich jedoch wie bedauernd kurz um, bevor er ging, und sagte leise: „Lebewohl!“ Aber Jorgenssen antwortete nicht darauf, ja schien nicht einmal zu bemerken, daß der andere ihn verließ. Er hatte den Kopf auf die Arme gestützt und grübelte. Nach einer Weile stand er auf und lief im Zimmer auf und ab, bis er es schließlich nicht mehr aushielt und in die Nacht hinausstürzte. Er mußte mehr erfahren. Seine Unterhaltung mit Daalquin hatte mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Er folgte dem schmalen Weg, der sich zwischen den Bäumen dahinschlängelte. Die Stämme und das Laubwerk strömten ein sanftes, beruhigendes Licht aus. Er kam zu Daalquins Häuschen und klopfte sacht an die Tür. Irgend jemand rief „herein“, und er betrat das Haus. Daalquin und Sineva befanden sich in einer Art Hobbyraum. Das bleiche Licht aus dem Boden erhöhte die Schönheit der Frau und den Kontrast zwischen ihrem langen schwarzen Haar und der hellen Haut. Offensichtlich hatten Daalquin und sie an einem kleinen Kunstwerk gearbeitet, das noch unvollendet auf einem Tischchen stand. „Ich möchte mich für mein Benehmen entschuldigen“, begann Jorgenssen.“ „Das ist nicht nötig“, versicherte ihm Daalquin, aber seine Augen strahlten.
„Ich hätte dir noch gern eine Frage gestellt — eine einzige. Ich würde mich freuen, wenn du sie mir beantwortetest.“ Jorgenssen machte eine kurze Pause. „Danach werde ich fortgehen.“ „Ich höre.“ „Ich möchte gern wissen, woher ihr stammt. Wie eure Zivilisation auf Ygone entstand. Ich kann nicht glauben, daß sie sich spontan entwickelte. Und eure Baumstadt ist noch nicht sehr alt. Vorher gab es an derselben Stelle eine andere Stadt, die nicht in Symbiose mit den Bäumen lebte. Es war eine völlig normale, gewöhnliche Stadt. Zu der Zeit lebten die Dalaamer auch noch vom Ertrag des Bodens, und es gab Handel und in beschränktem Maß sogar Handwerk. Wie seid ihr bei eurem gegenwärtigen Stand angelangt? Was ist eure Geschichte?“ Daalquin wandte sich seiner Frau zu. „Was meinst du, hat er nicht recht ordentliche Fortschritte gemacht? Er entwickelt Intelligenz. Er beginnt einzusehen, daß man die Dinge nur verstehen kann, wenn man ihren Ursprung erforscht. Ich glaube, wir werden noch etwas erreichen.“ Sineva lachte, und dadurch entspannte sich die Atmosphäre. Ihr Lachen hatte nichts Spöttisches, Ironisches oder Grausames an sich. Es war eine aus dem Herzen kommende Fröhlichkeit. Jorgenssen fragte sich, wie alt Sineva wohl war. Manchmal schien sie ihm kaum älter als Anema, und doch gehörte sie der Generation deren Eltern an. „Ich werde dir offen antworten“, versprach Daalquin. „Wenn du schon eher den Mut aufgebracht hättest, die Fragen zu stellen, die dich beschäftigten, hätten wir gründlicher darauf eingehen können. Aber du wolltest ja nicht. Du warst so überzeugt, daß wir dich zu belügen versuchen würden — genau wie die Föderation es Fremden gegenüber getan hätte. „Das stimmt“, gab Jorgenssen zu, ohne beleidigt zu sein. „Leider muß ich dich jedoch enttäuschen“, fuhr Daalquin fort. „Wir wissen so gut wie gar nichts über unsere Herkunft. Das ist übrigens
eines unserer größten Probleme. Wir haben keine schriftlich niedergelegte Geschichte, zumindest keine, die weiter als ein paar Dutzend Jahre zurückreicht. Es gibt absolut keine Unterlagen, und die mündliche Überlieferung berichtet nur von ein paar grundlegenden Dingen.“ „Und was ist das?“ „Alles, was uns kollektiv bekannt ist“, erwiderte Daalquin. „Eine Erkenntnis, die noch bis vor die Erschaffung dieser Stadt zurückgeht und alles enthält, was wir über das Universum, die anderen Welten der Galaxis, über die Föderation, die Zeit und viele andere Dinge wissen, die wir nicht so ohne weiteres selbst erforschen könnten. Sie hilft uns, unseren Platz im Universum zu begreifen und Krisen vorherzusehen.“ „Das ist, als hätten eure Vorfahren ihr Wissen für ein- und allemal aufgezeichnet, um sich von da ab mit etwas anderem zu beschäftigen und einer neuen Lebensweise zuzuwenden. Sie sorgten für die Überlieferung, um eurer Gesellschaft, die sich ausschließlich an biologischen Richtlinien orientiert, ein Gleichgewicht zu geben.“ „Genau“, stimmte Daalquin zu. Er schien plötzlich etwas beunruhigt. „Aber ich sehe eine Gefahr darin“, sagte Jorgenssen kalt. Er glaubte, einen schwachen Punkt in der scheinbar so perfekten Gesellschaftsform entdeckt zu haben. „Die Überlieferung, einmal niedergelegt, ist starr, erlaubt keine Entwicklung, während die Realität einem steten Wandel unterworfen ist. Ihr werdet nicht in der Lage sein, abstraktes Wissen auf die Dauer weiterzugeben, vor allem eben, weil diese Überlieferung bald nicht mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Dadurch verurteilt ihr euch, zumindest auf bestimmten Gebieten, zur Stagnation.“ Zwei tiefe Falten gruben sich in Daalquins Stirn. „Du hättest recht“, gab er zu, „wenn diese Überlieferung tatsächlich unverändert bliebe. Doch dem ist nicht so. Auch sie ändert sich. Das ist fast niemandem in Dalaam bekannt, aber ich weiß es, Sineva ebenfalls. Und es ist
kaum vorstellbar. Neues Wissen, das altes verdrängt hat, überliefert sich, und kaum einer bemerkt es.“ „Das ist unmöglich!“ protestierte Jorgenssen. „Ihr betreibt keinerlei Forschungen in diesen Richtungen, ihr verfügt über keine Instrumente, ihr verlaßt diese Welt nicht, habt absolut keine Verbindung zu anderen Planeten.“ „Das sage ich mir selbst auch“, gestand Daalquin. „Aber ich weiß genau, daß die Überlieferung nicht gleichbleibt. Die Änderungen sind fast unmerklich. Du mußt wissen, unsere Kinder lernen auf zwei verschiedene Arten. Erstens durch das, was die Erwachsenen ihnen beibringen und aus den Büchern, und zweitens durch die Bäume, die ihnen auf halbhypnotische Weise Wissen vermitteln. Die Überlieferung entwickelt sich von Generation zu Generation weiter. Dadurch bleibt unsere Gesellschaft stabil. Wir unternehmen keinerlei Anstrengungen, die ganze Domäne des Wissens zu beherrschen, trotzdem erfahren wir alles. Das bedeutet, daß unsere Gesellschaftsform offener ist, als es den Anschein hat. Irgendwie hat sie Verbindung zur Außenwelt, auch wenn wir nichts davon wissen. Das ist es, was mich beunruhigt, denn es ist immer gefährlich, von etwas Unbekanntem abhängig zu sein.“ „So unbekannt wie unser Feind“, murmelte Jorgenssen. „Daran habe ich auch schon gedacht — aber es beruhigt mich nicht.“ „Ich nehme an, du hast eine Theorie über diese unbekannte Macht“, forschte Jorgenssen. „Eine Theorie, die alle Faktoren in Betracht zieht.“ „Ich habe verschiedene, aber keine, die wirklich zufriedenstellend ist.“ „Nämlich?“ drängte Jorgenssen. Die Situation hat sich plötzlich völlig gewendet, dachte er mit Genugtuung. Die scheinbare Selbstsicherheit der Dalaamer verbarg also ein Problem, das ebenso beängstigend war wie seines. Sie kannten ihre Herkunft nicht; sie wußten nicht, wer über ihr Geschick bestimmte.
„Meine erste Theorie vereinbart sich am ehesten mit unserer Weltanschauung“, erklärte Daalquin. „Sie deutet auf eine Art kollektive unterbewußte Existenz hin, die gerade unsere besondere Gesellschaftsform in Verbindung mit den Bäumen schaffen konnte. Eine Entität, die in der Lage ist, die Realität zu erkennen, ohne sich unseres Bewußtseins bedienen zu müssen. Bis zu einem gewissen Grad schlummert eine solche Möglichkeit in jedem Menschen. Es könnte sein, daß es uns irgendwie unbewußt gelang, sie zu kollektivieren. Ganz Dalaam könnte unter diesen Umständen als ein einziges Lebewesen betrachtet werden, eine Spezies von Superleben, in der wir lediglich Zellen darstellen, und zwar nicht nur gesellschaftlich, sondern sogar organisch. Ich vermag nicht einmal, mir die potentiellen Fähigkeiten dieses Hyperwesens auszumalen, aber ich bin überzeugt, daß es auch von einer so mächtigen Gesellschaft wie der Föderation nichts zu befürchten hätte. Die zweite Theorie gefällt mir bedeutend weniger. Sie fundiert auf der Vorstellung, daß wir von einer über uns stehenden Macht abhängig sind, die uns mehr oder weniger ohne unser Wissen mit dem intellektuellen Material versorgt, das wir benötigen, und die uns schützt, damit wir uns ungestört mit unseren Forschungen beschäftigen können. Diese Theorie ist phantastischer oder auch weniger phantastisch als die erste, je nach Gesichtspunkt.“ „Eine Macht, die Dalaam geschaffen haben könnte, die alle Spuren der Vergangenheit auszulöschen vermochte“, sagte Jorgenssen ungläubig, „die in Dalaam eine einmalige Gesellschaftsform schuf, die Bäume pflanzte, euch eure Lebensweise gab, euer Forschungsprogramm aufstellte eine Macht außerhalb Dalaams und der Föderation, die bisher völlig unbekannt geblieben ist. Nein, das könnte ich mir nicht vorstellen.“ „Eben“, brummte Daalquin. „Ich ziehe auch die erste Hypothese vor, kann aber trotzdem die zweite nicht von der Hand weisen. Ganz abgesehen davon, daß die eine die andere nicht völlig ausschließt.“
Jorgenssen fuhr sich über die Stirn. Er war nicht um ein Iota weitergekommen und tappte immer noch im absoluten Dunkeln. Das Problem, das er in Dalaam zu lösen gehofft hatte, bestand nach wie vor. „Ich gehe jetzt“, sagte er. „Ich muß zu meinen Freunden, ehe sie irgend etwas Unüberlegtes unternehmen. Ich möchte diese Stadt schützen.“ „Gegen wen?“ fragte Daalquin sarkastisch. „Gegen die Föderation?“ „Laß ihn zufrieden“, sagte Sineva mit ihrer warmen Stimme. „Er wird zurückkehren. An dem Tag, an dem er mit sich selbst ins reine gekommen ist, wird er zurückkehren, denn hier hat er etwas gefunden, an das er schon lange nicht mehr zu hoffen wagte.“ Sie wandte sich, an Jorgenssen. „Wenn du wieder hier bist, werden dir die Bäume helfen, einen Weg zu Anema zu finden.“ Jorgenssen schwieg. Dann blickte er Sineva und Daalquin lange an. „Lebt wohl“, sagte er leise und schritt zur Tür hinaus. Er wußte zwar, wo er seine Gefährten finden würde, nicht jedoch, was er tun sollte, wenn er sie erreichte.
5. Deutlich sah er Marios Silhouette gegen den helleren Himmel. Obwohl der andere offensichtlich als Wache eingeteilt war, bemühte er nicht sich zu verbergen. Noch ehe Jorgenssen sich aus dem schützenden Gras erhob, hatte Mario sich in seine Richtung gewandt. Jorgenssen hob die Hand, damit der andere ihn erkenne. „Sei gegrüßt“, sagte Mario nur. Erst jetzt bemerkte Jorgenssen den massiven Schatten Erins auf Mario zukommen. „Wer ist es?“ erkundigte Erin sich. „Jorgenssen“, rief Mario ohne Aufregung zurück.
Jorgenssen hatte mit einer etwas enthusiastischeren Begrüßung gerechnet Immerhin war er mehr als vierhundert Stunden fort gewesen. „Schlafen die anderen?“ fragte er leise. „Ja. Soll ich sie wecken?“ „Nein, noch nicht. Erzähle mir erst, was ihr gemacht habt.“ Er spürte mehr den fragenden Blick Marios, als er ihn in der Dunkelheit sah. Zweifellos hoffte er, etwas über Dalaam zu erfahren. Doch das mußte warten. Jorgenssen war noch nicht bereit, über die Stadt mit den leuchtenden Bäumen zu berichten. Erst mußte er selbst alles ordnen, was er gesehen und erfahren hatte. „Wir irrten eine Zeitlang herum“, begann Mario, „bis wir schließlich eine Quelle fanden. Sonst hätten wir das Risiko eingehen müssen, vom Flußwasser zu trinken. Dann zogen wir um die Stadt herum, aber wir wagten es nicht, dir zu folgen. Wir entdeckten etwas sehr Wichtiges, aber davon erzähle ich dir später. Doch ich möchte dich gleich darauf vorbereiten, daß das Teamklima sich geändert hat. Die Männer sind schweigsam geworden, beunruhigt. Es wird Zeit, daß wir einen Ausweg finden.“ Jorgenssen ging nicht darauf ein. „Wie geht es Kano?“ fragte er. „Ist er wütend auf mich?“ „Er ist völlig wiederhergestellt“, versicherte ihm Mario. „Ich glaube auch nicht, daß er dir etwas nachträgt. Aber um ehrlich zu sein — ich weiß es nicht. Jeder verbirgt irgendwie seine Gefühle vor den anderen. Nur Erin scheint von allem, was vorgefallen ist, völlig unberührt zu sein. Aber er war ja schon immer recht wortkarg.“ „Mißtrauen sie einander?“ „Nein, nicht direkt. Sie scheinen nur zu grübeln.“ „Ich verstehe“, murmelte Jorgenssen. Er würde wohl über Dalaam sprechen müssen, über Daalquin und Anema, aber er erinnerte sich rechtzeitig, was Mario gesagt hatte. „Ihr habt also etwas entdeckt“, erinnerte er den anderen. „Ja, ich werde es dir zeigen.“
Mario ging in die Richtung der Schlafenden. Er bückte sich, dann hob er etwas auf und kam zurück. „Dein Gürtel.“ Er hielt ihn Jorgenssen entgegen. „Ich brauche ihn nicht mehr.“ „Sieh dir erst mal die Detektoren an.“ Jorgenssen betrachtete die winzigen Armaturen. Die Zeiger leuchteten nur sehr schwach, trotzdem stellte er fest, daß einer nicht mehr wie die anderen in Nullstellung stand, sondern in eine bestimmte Richtung wies. Er klopfte auf die Skala. Der Zeiger zuckte, sprang aber gleich wieder zurück. ..Aber das ist doch völlig unmöglich“, keuchte er fast. „Es kann doch gar keine Raumzeittür in der Nähe sein.“ „Das glaubten wir zuerst auch“, versicherte ihm Mario. „Trotzdem suchten wir danach — und fanden sie. Sie befindet sich ungefähr sechs bis sieben Kilometer von hier in einer Art Moräne.“ „Habt ihr — habt ihr nachgesehen, was auf der anderen Seite ist?“ fragte Jorgenssen mit bebender Stimme. „Nein, wir wollten erst dich finden.“ Dann gibt es also tatsächlich eine Verbindung zwischen Ygone und draußen, dachte Jorgenssen. Und eine stabile noch dazu. Langsam fügten sich die Mosaiksteinchen zusammen. Er schnallte den Gürtel um und setzte sich ins Gras. Die Sterne funkelten am Himmel, und zu seiner Linken leuchtete die Stadt wie glitzernder Nebel. „Wir müssen das Risiko auf uns nehmen, Mario“, sagte er. „Wir müssen herausfinden, wohin die Tür führt. Es ist unsere einzige Chance, diese Welt zu verlassen. Doch erst erzähle ich dir von Dalaam.“ Er redete mehrere Stunden. Vier- oder fünfmal reichte ihm Mario, der ihn kein einziges Mal unterbrach, seine Wasserflasche. Als er geendet hatte, war er regelrecht ermattet. Er streckte sich im Gras aus und schlief ein. Ein sehr nachdenklicher Mario erhob sich, um Shan d'Arg zu wecken, der an der Reihe war, die Wache zu übernehmen.
* „Wir müssen Dalaam vernichten“, sagte Livius nachdrücklich. „Ach nein“, höhnte Jorgenssen. „Und womit, wenn ich fragen darf?“ „Das weiß ich nicht. Aber wir müssen einen Weg finden. Du sagtest doch selbst, daß sie keine Waffen haben und daß nicht sie es waren, die uns angriffen.“ „Ich wollte, ich könnte da ganz sicher sein.“ „Selbst wenn wir Waffen hätten“, schaltete Mario sich ein, „steht noch lange nicht fest, daß wir Dalaam zerstören könnten. Wir sollten erst einmal herauszufinden versuchen, wer Dalaam schützt und wer uns angegriffen hat.“ . „Genau“, pflichtete Jorgenssen ihm bei. „Die Antwort liegt vermutlich auf der anderen Seite der Tür.“ Schweigend musterten sie das schwarze Rechteck, das sich deutlich vom ockerfarbigen Boden abhob. Auf allen Seiten versperrten Steinablagerungen die Sicht. Endlich war der Tag angebrochen. Der Himmel war wolkenlos, und ein kalter Wind nahm ihnen den Atem. „Ich weiß nicht“, brummte Shan d'Arg. „Mir gefällt die Sache gar nicht. Das Ganze sieht viel zu sehr nach einer Falle aus. Wir haben keine Waffen, keinen Schutzschild. Wir könnten auf der anderen Seite direkt auf mächtige Feinde stoßen oder auf einer für uns tödlichen Welt auftauchen. Eine Spur von Gift in der Atmosphäre würde genügen, auch zu hohe oder niedrige Temperatur.“ „Wir müssen das Risiko eingehen“, erklärte Jorgenssen. „Anders haben wir nicht die geringste Chance, Ygone jemals zu verlassen. Außerdem wollen wir doch auch herausbekommen, wer der Drahtzieher ist.“ „Sag doch lieber gleich, ‚ich will es herausbekommen’“, fauchte Livius. „Was willst du eigentlich. Was möchtest du herausfinden?“
Jorgenssen zuckte die Schultern, ohne seinen Blick von dem schwarzen Rechteck zu nehmen. Es gab keinerlei Anzeichen von Apparaturen, zumindest waren keine im Boden vergraben. Infolgedessen mußte der Generator sich auf der anderen Seite der Tür befinden. „Ich weiß nicht“, gestand er. „Ich bin nicht einmal darauf aus, nach Altair zurückzukehren. Ich möchte nur diese Welt hier verstehen. Ich möchte herausbekommen, wer für Dalaams einzigartige Existenz verantwortlich ist.“ „Ich glaube, ich weiß besser, was du vorhast, Jorgenssen“, widersprach Livius. „Ich habe darüber nachgedacht, was du uns erzählt hast. Du hast Angst, wir könnten auf Ygone bleiben und deine kostbare Stadt in Gefahr bringen, stimmt's? Du möchtest, daß wir so schnell wie möglich von hier verschwinden. Du hast die Seiten gewechselt. Es ist keine Rede mehr von der Verteidigung der Föderation, von der ehrenvollen Aufgabe der Tearns, von Geschichtskorrekturen, selbst wenn wir unsere Anordnungen mit bloßen Händen ausführen müßten, und ähnlichen großen Sprüchen. Nein, nicht mehr! Du hast dir diese Stadt angesehen, und seit du zurück bist, sprichst du von diesen Wilden, als wären sie Genies oder Halbgötter.“ „Ich weiß nicht“, wiederholte Jorgenssen murmelnd. „Vorher hatte ich an die Föderation geglaubt, an die Notwendigkeit der Geschichtsberichtigungen. Nun bin ich der Meinung, daß ich mich geirrt habe. Ich glaube nicht mehr daran, daß die Föderation ein Recht hat, sich in die Entwicklung anderer Welten einzumischen. Und als ihre Handlanger machen wir uns mitschuldig.“ „Du hast dich ja ganz schön einwickeln lassen“, höhnte Livius. „Ich bin weit herumgekommen im All, und ich fand überall nur ein Gesetz — das der Gewalt. Nun steht der Föderation vermutlich der mächtigste Feind ihrer Geschichte gegenüber, und du denkst nur daran, deine Hände in Unschuld zu waschen und deine kleinen persönlichen Probleme zu lösen.“
„Sei endlich still“, zischte Shan d'Arg. „Ich habe Vertrauen zu Jorgenssen. Er ist besser als du. Ich werde mit ihm durch die Tür gehen.“ „Und ich dachte immer, du haßt die Föderation, Livius. Warum verteidigst du sie dann jetzt?“ fragte Mario. Livius schnitt eine wütende Grimasse. Wenn ich in der Föderation bin, dann hasse ich sie. Das ist mein gutes Recht. Seht euch doch an. Ihr haßt sie ja ebenfalls, aber ihr wollt es euch nicht einmal selbst eingestehen. Ihr lehnt sie ab, weil ihr anders seid, weil die Spezialisten euch nicht als voll ansehen. Warum liebt Kano das Meer so sehr und Erin die Berge und Nanski das All und Shan d'Arg den Kampf und du, Mario, die Musik und blutlose Frauen. Warum quält Jorgenssen sich mit Fragen, die er für sich behält, die man jedoch mit Leichtigkeit von seinem Gesicht ablesen kann? Die Föderation lehnte euch alle ab. Mich hat sie wie Ungeziefer behandelt, bis ich genügend Kraft hatte, :ihr zu entreißen, was ich haben wollte. Stimmt, wenn ich in der Föderation bin, schreie ich nach ihrem Untergang. Aber wenn ich draußen bin, im Raum oder in der Zeit, dann bin ich ein Mann der Föderation. Sie hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Sie gibt mir Macht. Innerhalb ihrer Mauern bin ich ein Wolf, außerhalb ihr Wachhund.“ Daalquin hat recht, dachte Jorgenssen. Haß und Mißtrauen — eine tiefsitzende Neurose. „Bleib hier, Livius“, sagte er müde. „Wir müssen ja nicht alle durch die Tür gehen. Aber ich möchte nicht, daß du etwas gegen die Stadt unternimmst, ehe ich nicht zurück bin.“ Das Team löst sich auf, sinnierte er. Das ist der Anfang vom Ende der Föderation. Ein winziger Riß in einem kleinen Teilchen. Aber langsam, unaufhaltsam, wird der ganze Mechanismus aufhören zu funktionieren, wird verrotten und allmählich zu Staub zerfallen. Der Anfang dazu wurde auf Ygone gemacht. Nein, widersprach er sich. Alles begann auf Altair, kurz bevor wir den Planeten verließen. Wer waren wir denn? Woran dachten wir? Seit zweieinhalb Jahrhunderten liegt das alles schon fest, denn wir befinden uns in unserer Vergangenheit. „Ich komme mit“, erklärte Mario.
Jorgenssen lächelte. „Gut. Sonst noch jemand?“ „Ich“, antworteten Erin und Shan d'Arg gleichzeitig. „Einverstanden. Die anderen bleiben. Livius fungiert als Koordinator. Ihr wartet in der Nähe vom Dalaam auf uns. Wenn ihr Verpflegung braucht, dann habt keine Hemmungen, die Dalaamer darum zu bitten. Viel Glück.“ „Viel Glück“, erwiderte Livius unbewegt. Nanski und Kano wichen Jorgenssens Blick aus. „In der Stadt wohnt ein Mann namens Daalquin. Falls war nicht zurückkommen, Livius, dann sag ihm, daß ich versucht habe, Licht in Ygones Vergangenheit zu bringen“, bat Jorgenssen. „Er wird es verstehen.“ Livius gab keine Antwort. Die vier wandten sich dem schwarzen Rechteck zu und tauchten in die Schwärze. Einen kurzen Augenblick schwebten sie im absoluten Nichts, dann umfing sie plötzlich eine übelriechende Hitze, die an Raubtieratem erinnerte. Die Tür hatte sie direkt in einen Dschungel geführt. * Die Luft war mit den verschiedensten Gerüchen überladen. Der Dschungel selbst war eine Mauer aus tropischen Schlinggewächsen, die die Feuchtigkeit festhielten, eine Decke aus Ästen und Laub. Der Boden hatte sich voll Wasser gesogen, und im Dämmerlicht wiegten sich riesige Blumen auf Stengeln so dick wie Schiffstaue. Instinktiv scharten die Männer sich enger zusammen. Die Lichtung war sauber, als hätte jemand einen gigantischen Rasenmäher genommen und sie von jeglicher Vegetation befreit. Ein Moosteppich bedeckte sie gleichmäßig, außer am Rande des schwarzen Rechtecks. Auch hier fanden sie keinerlei Apparaturen. Der Dschungel umgab die Lichtung wie eine hohe Wand. Zweites Stadium, überlegte Jorgenssen und hob den Kopf. Eine riesige blaue Sonne
bemühte sich, ihre Strahlen durch die dichte Wolkendecke zu schikken. „Auf Ygone sind wir sicher nicht“, murmelte Jorgenssen. „In Übereinstimmung mit den Grundsätzen wurden wir sowohl im Raum als auch in der Zeit versetzt. Nun ist das Problem, herauszubekommen, wo und in welchem Jahr wir uns befinden.“ Das schien so gut wie unmöglich. Selbst wenn sie den Sternenhimmel hätten sehen können, wäre die Chance eins zu einer Million gewesen, daß sie auch nur eine der Konstellationen erkannt hätten. Was die Zeit betraf — sie war vermutlich von keiner Bedeutung mehr. Das Universum hat sozusagen keine Gegenwart. Ein bestimmtes Datum, ein Jahr, eine Stunde hatten nur Bedeutung in Beziehung zu einer Welt. Das Licht der Sterne, das wir sehen, kommt aus der Vergangenheit. Die Gegenwart eines Planeten ist nur ein spitzer Zeitstrahl, der in der Vergangenheit versinkt, je weiter man sich räumlich von ihm entfernt. Zweites Stadium, wiederholte Jorgenssen für sich, und wir haben uns noch mehr verirrt, sind noch weiter von Altair und der Föderation entfernt und sind noch stärker uns selbst überlassen. Wir sind allein und gezwungen, eigene Entscheidungen zu treffen. Ist es auch wirklich das zweite Stadium? Marios falscher Tod — war das nicht das erste? Und die Neutralisierung unserer Waffen das zweite? Und mein Besuch in Dalaam das dritte? Lagen dazwischen vielleicht noch weitere Stadien, di? wir nicht bemerkt haben? Jorgenssen war überzeugt, daß all dies als eine Art Labyrinth diente, in dem sie den richtigen Weg suchen sollten. Darum war er auch so unbesorgt durch die Tür geschritten. Er wollte den Ausgang aus dem Irrgarten finden, selbst wenn er den Rest seines Lebens darin verbringen müßte, denn den Ausgang finden, war gleichbedeutend mit der Antwort auf all seine Fragen. Alle vier überprüften gleichzeitig ihre Detektoren, die nicht besser funktionierten als auf Ygone, denn auch hier existierte offenbar ein Neutralisationsfeld. Trotzdem zeigten sie etwas an, zwar sehr
schwach, aber doch deutlich genug, als hätte jemand ihnen ein Zeichen hinterlassen, der Spur zu folgen. Die Detektoren wiesen auf eine Raumzeittür in einer bestimmten Richtung. Die Entfernung ließ sich allerdings nicht messen. Sie betrug jedenfalls nicht weniger als zwanzig und nicht mehr als siebenhundert Kilometer. „Heitere Aussichten“, stöhnte Mario. „Aber hier können wir nicht bleiben. Also, machen wir uns auf den Weg.“ Sie hatten wieder Vertrauen zu sich, stellte Jorgenssen erleichtert fest. Das war wichtig, viel wichtiger als ihre Waffen, die nicht funktionierten. Es machte ihnen nichts mehr aus, bis ans Ende zu gehen, um die Wahrheit zu finden. Nun bildeten sie wieder ein Team, auch wenn es kleiner geworden war- und ein anderes Ziel hatte. Aber wahrscheinlich war es gerade das. was ihre unbekannten Gegner bezweckt hatten. „Es wird nicht leicht sein“, murmelte Erin und starrte auf die dichte Dschungelwand. „Wir brauchten Äxte“, seufzte Jorgenssen. Er schritt voraus. Nicht nur einmal mußten sie auf ihren eigenen Spuren umkehren, um einen gangbareren Pfad zu suchen, und oft hatten sie keine andere Wahl, als auf dem Bauch zu kriechen oder auch von Ast zu Ast zu klettern. Ständig waren sie auf der Hut vor den Rieseninsekten, die sie fast überall antrafen und deren Biß tödlich sein mochte. Nach zwei Stunden änderte sich der Dschungel merklich. Der Boden wurde trockener, die Bäume höher und weiter auseinander stehend. Die Hitze war mörderisch, und sie hatten keinen trockenen Faden mehr an ihren Körpern. Plötzlich spaltete eine glatte grüne Fläche den Dschungel. Sie hielten sie für eine Straße, aber als Jorgenssen sie betrat, versank er bis zu den Schultern in Wasser und Schlamm. Die anderen zogen ihn sofort heraus. Jorgenssen schüttelte sich, aber er lächelte. „Gut, daß wir auf diesen Fluß gestoßen sind.“
Seine Gefährten blickten ihn verständnislos an. „Wir werden schwimmen oder waten“, erklärte er. „Dadurch sparen wir Kilometer.“ „Aber das kann doch sehr gefährlich sein“, gab Mario zu bedenken. „Die Tiere ...“ „... sind im Dschungel auch nicht gerade harmlos“, unterbrach Jorgenssen ihn. Wir müssen das Risiko eingehen. Na, kommt schon.“ Er sprang in das schlammige Wasser. Nach kurzem Zögern folgten ihm die anderen. Sie hielten sich, so gut es ging, in Ufernähe, wo ihnen das Schmutzwasser nur bis zur Mitte reichte. Sie kamen nur langsam voran, aber doch viel schneller als durch das Dickicht des Dschungels. Sie wollten bis Einbruch der Dunkelheit weiterwaten, aber es wurde nicht wirklich finster. Zwei riesige orangefarbige Monde hingen am Himmel, und ihr Licht .schmeichelte dem meergrünen Wasser des Flusses, das mit der Zeit immer sauberer wurde, denn der schlammige Grund hatte sandigem Boden Platz gemacht. Sie kamen nun schneller voran, obwohl eine leichte Strömung sich bemerkbar machte, gegen die sie kämpfen mußten. „Wenn ich daran denke“, brummte Shan d'Arg, „daß wir normalerweise ganz einfach in hundert Meter Höhe über den Dschungel geflogen wären, so völlig risikolos!“ Jorgenssen grinste. „Wir kommen auch ohne Maschinen aus. Wir sind zäher, als wir dachten.“ „Wieviel Kilometer haben wir schon zurückgelegt?“ „Ich weiß nicht, vielleicht zehn oder zwölf.“ „Mir kommt's eher wie fünfzig vor“, stöhnte Mario. Trotz der körperlichen Erschöpfung fühlte Jorgenssen sich entspannter und leichter als je zuvor. Bald hörten sie ein fernes Tosen, das sich hundert Meter weiter als das Brausen eines Wasserfalls herausstellte. „Hier endet unsere bequeme Straße“, brummte Erin. Der Fluß wurde zu einem Becken, das auf einer Seite von im Halbkreis angeordneten Klippen begrenzt wurde, von denen der Wasser-
fall herabtobte, während auf der anderen der Dschungel wieder wie eine hohe Mauer emporragte. Am Fuß der Klippen leuchtete ein Licht — kein loderndes Feuer, sondern eine gleichmäßige elektrische Beleuchtung. Sie schwammen über den Fluß und kletterten mühsam auf das steinige Ufer. Wortlos verteilten sie sich, um das Licht zu umringen. Da entdeckten sie die Boje und die Hütte. Bei der Raumzeitboje handelte es sich um ein uraltes Modell, das sie nicht kannten. Sie war nicht getarnt, darum war ihr Zweck nicht zu verkennen. An ihrer Spitze leuchtete der Strahl, den ihre Detektoren angezeigt hatten. Er mochte schon eine Ewigkeit sein Licht ausschicken. An der Oberfläche war kein Herstellungsdatum eingestanzt. Die Kontrollen funktionierten, aber die Männer vermochten die Anzeigen nicht abzulesen, weil ihnen die Symbole völlig fremd waren. Sie wandten sich der Hütte zu, einer metallenen Unterkunft, die offensichtlich ebenfalls aus uralter Zeit stammte. Die Tür stand halb offen, und sie traten ein. Bis zu den Knien versanken sie im Staub, der sich im einzigen Raum der Hütte angesammelt hatte. Sie wateten im schwachen Strahl ihrer Taschenlampen auf den stählernen Tisch in der Zimmermitte zu und fanden darauf eine an einer Halskette hängende metallene Erkennungsmarke. Jorgenssen drehte sie um. Schwach leuchtende Buchstaben hoben sich ab, ergaben einen Namen: ARCIMBOLDO LETEMPS Es war ein mythischer Name. Es war der Name des Wissenschaftlers, der die Zeitreise erst möglich gemacht hatte. Neben der Erkennungsmarke, fast gänzlich im Staub begraben, lag ein Buch mit Bronzeeinband. Jorgenssen hob es hoch und öffnete es. Die Blätter zitterten und zerfielen langsam zu feinster Asche. Im In-
nern des Einbands war mit ungeübter Hand ebenfalls der Name Arcimboldo Letemps eingekratzt. Doch die Notizen des Wissenschaftlers waren nun für die Menschheit für immer verloren. * Der Kreis schloß sich. Durch eine Zeitreise waren sie auf den Begründer der Zeitreise gestoßen „Unglaublich“, entfuhr es Mario, „daß Letemps vor uns hiergewesen sein soll.“ „Absolut nicht“, widersprach Jorgenssen. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Letemps hatte Ygone entdeckt und dort ein Experiment gestartet. Vielleicht war er sogar der Schöpfer des neuen Dalaams. Er hatte in diesem Kontinuum eine Anzahl von Türen aufgestellt, um die Entwicklung seines Experiments aus der Ferne beobachten zu können. Aber warum nur, fragte sich Jorgenssen, fand sich zweihundertfünfzig Jahre später — oder wie viele Jahre es auch waren, denn er wußte nicht, in welchem Jahrhundert sie sich jetzt befanden — in den Archiven der Föderation absolut keine Erwähnung dieses Experiments des großen Mannes? Warum war überhaupt so wenig über Letemps bekannt? Warum waren alle Angaben über ihn so vage? Schließlich waren fünfhundert Jahre keine so lange Zeit. Das Leben mancher viel früheren Persönlichkeiten war in den kleinsten Einzelheiten bekannt. Über Letemps dagegen waren nur Anekdoten überliefert worden, die sicher kein wahres Bild vermittelten. Hatte Letemps es selbst nicht anders gewollt? Oder war es vielleicht gar so, daß verschiedene Aspekte dem Arque gefährlich erschienen, so daß er sie aus den Aufzeichnungen entfernen ließ? Hatte vielleicht Letemps die Gefahr erkannt, die die Zeitreise in den Händen der Föderation bedeuten konnte? War er deshalb sogar liquidiert
worden? Und hatte man das Team nach Ygone geschickt, um alle Spuren von Letemps' Experiment zu beseitigen? Die Föderation hatte versagt. Falls Letemps tatsächlich der Gründer, nein, der Schöpfer des neuen Dalaams war, so hatte er der Stadt ausreichende Verteidigungsmöglichkeiten gegen das Team in die Hand gegeben. Andererseits behaupteten die Dalaamer, nichts von dem Angriff zu wissen. Logen sie? Oder war es gar Letemps selbst oder einer seiner Anhänger, der die Stadt verteidigte — gegen die Föderation, gegen die Invasoren aus der Zeit. Jorgenssen fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Kalter Schweiß rann ihm über den Rücken. Wenn seine Annahme stimmte, dann kämpfte die Föderation in Wirklichkeit gegen sich selbst. Ihre Gegenwart mißbilligte die Vergangenheit. Während eines bestimmten Augenblicks in der Geschichte hatten sich zwei Möglichkeiten ergeben. Obwohl die Kräfte völlig ungleich verteilt schienen, gelang es der schwächeren der beiden zumindest die erste Runde für sich zu entscheiden. Der Dschungelplanet war nicht der letzte Schlupfwinkel Letemps' gewesen. Das verriet allein schon die Boje, die zu einer weiteren Welt führen mußte, vielleicht gar direkt nach Altair. Nach dieser nächsten Welt gab es vielleicht noch eine dritte, eine vierte oder gar unendlich viele Welten. Von Letemps, wie von vielen anderen großen Männern vor ihm, hatte man behauptet, daß sein Genie nahe an den Wahnsinn grenzte. Aber niemand in der Föderation, dachte Jorgenssen, wußte genau, in welcher Weise er verrückt war. Die vier blickten sich an, sie brauchten keine Worte. Schweigend drückte Jorgenssen den Hebel an dem altmodischen Modell nieder. Das düstere Licht umhüllte sie und zerrte sie mit sich fort. *
Diesmal tauchten sie inmitten einer Wüste auf. Keine Wolke linderte die brennenden Strahlen der riesigen blauen Sonne. Ganz tief am Horizont schwebten zwei Monde wie gigantische Ballone. „Derselbe Planet“, staunte Shan d'Arg. „Nicht vorstellbar! Wir haben uns nur in der Zeit, nicht aber im Raum bewegt.“ „Welches Jahr?“ fragte Mario. „Das ist unmöglich zu sagen?“, erwiderte Jorgenssen. „Wenn unsere Instrumente funktionierten, könnten wir es vielleicht annähernd feststellen, indem wir die blaue Sonne studierten, oder die Bodenbeschaffenheit. Aber so läßt sich nicht einmal ermitteln, ob der Dschungel vorher war oder erst in weiter Zukunft sein wird. Sie waren so aufgewühlt, daß ihnen die prekäre Lage, in der sie sich befanden, nicht einmal sofort bewußt wurde. Die Wüste reichte bis zum Horizont, und die Boje war auf dem Dschungelplaneten zurückgeblieben. Nun hatten sie keine Möglichkeit, dorthin oder gar nach Ygone zurückzukehren. „Diesmal, fürchte ich, sind wir am Ende unserer Reise angelangt“, konstatierte Mario. Er betrachtete nachdenklich seinen Detektor. Keine Spur einer Raumzeittür, keinerlei Anzeichen einer Boje. Die Instrumente schwiegen. „Vielleicht doch nicht!“ schrie Erin mit einer Aufregung, die ihn selbst am meisten überraschte. „Schaut doch! Kommt euch das nicht bekannt vor?“ Sie blickten in die Richtung, die sein Finger wies. In der Ferne, kaum noch zu erkennen, entdeckten sie halbkreisförmige Klippen, die sich aus dem Wüstensand hoben. „Die Landschaft hat sich nicht sehr verändert“, erklärte Erin. „Dort war einmal der Wasserfall.“ „Oder dort wird er einmal sein“, korrigierte ihn Jorgenssen. Beide Möglichkeiten waren gleich wahrscheinlich. Wieviel Zeit war vergangen, bis der Dschungel zur Wüste geworden war, oder wieviel Zeit mußte vergehen, bis die Wüste zum Dschungel würde? Zehn Millionen Jahre? Oder nur tausend? Ein zeitlicher Eingriff mochte die
Entwicklungsdauer bedeutend verkürzt haben. Aber wer hatte ihn vorgenommen? Arcimboldo Letemps? Vielleicht hatte die Hütte am Fuß der Klippen die Zeit überdauert? Vielleicht war die Boje nur im Sand vergraben? Das war zwar kaum vorstellbar, aber die Umleitung des Zeitstroms auf diesem namenlosen Planeten war es nicht weniger. Und doch, sinnierte Jorgenssen, muß das Ganze eine Bedeutung haben — Dalaam, der Dschungel, die Wüste. „Sie“ führten uns doch nicht grundlos in diesen Irrgarten. Die Reihenfolge des Geschehens mußte einen tieferen Sinn haben, wie ein aus bestimmten Worten zusammengesetzter Satz. Nur fehlte ihnen der Schlüssel. In den Tiefen der Zeit hatte die Sphinx ihnen ein Rätsel gestellt. Wenn es ihnen gelang, es zu lösen, durften sie überleben, und ein ungeahntes Begreifen würde ihnen die Türen zu einem neuen Universum öffnen. Falls sie es nicht zu lösen vermochten ... Ygone, der Dschungel, die Wüste: drei Stadien der Entwicklung des Lebens. Auf Ygone waren Wald und Stadt eine Einheit. Der Überlebenskampf war das Gesetz des Dschungels. In der Wüste dagegen gab es noch kein Leben oder aber keines mehr. Jorgenssen fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er empfand Mitleid mit seinen Gefährten. Das war ein völlig neues Gefühl. Plötzlich entdeckte er, daß er eine tiefe Zuneigung für Mario, Erin und Shan d'Arg empfand, die mehr war als ein kameradschaftliches Zusammengehörigkeitsgefühl. Es wurde ihm bewußt, daß sie nicht nur Objekte in seinem Universum waren, sondern außerhalb seiner selbst existierten; daß jeder seine eigene Zeit, seine persönliche Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart hatte und daß er sie nie wirklich gesehen hatte, obwohl er sich einbildete, sie zu kennen. Er entdeckte, daß er sie im gleichen Augenblick, als er sich ihrer Individualität bewußt wurde, viel besser verstand. „Es tut mir leid, daß ich euch hier mithereingezogen habe“, sagte er. „Wer weiß, ob wir jemals zurückfinden werden.“
Mario lächelte schwach. „Wir kamen, weil wir selbst uns dafür entschieden. Du bist nicht verantwortlich dafür. Aber glaubst du nicht, wir sollten versuchen, die Klippen zu erreichen?“ Jorgenssen hatte das Bedürfnis, ihm für seine Worte zu danken, aber er seufzte nur. „Ja, natürlich“, pflichtete er Mario bei. Todmüde setzten sie sich in Marsch, vier winzige Punkte in der endlosen Wüste, wie magnetisch von den fernen halbrunden Klippen angezogen. Der Sand wurde feiner, und ihre Füße sanken immer tiefer ein. Während sie sich dahinschleppten, unterhielten sie sich mit einer Offenheit wie nie zuvor. Sie sprachen über die Föderation und die Welten, die sie kennengelernt hatten, über ihre geheimsten Sehnsüchte und die Mißerfolge, die sie hatten einstecken müssen. Jorgenssen erzählte von Dalaam und erwähnte, daß er hoffe, Anema wiederzusehen, falls sie überlebten. Erin sprach von einem Schwindelgefühl, das ihn auf hohen Bergen immer erfaßte. Shan d'Arg gab zu, daß seine Lust am Kampf einer geheimen Todessehnsucht entsprang; und Mario verriet, daß er Angst vor der Zeit hatte. Da begannen die Spiegelungen. Manchmal nahe, manchmal weit entfernt erhob sich plötzlich dichter Dschungel aus dem heißen Sand, Wasser sprudelte aus frischen Quellen und machte ihren Durst unerträglich. Jorgenssen rieb sich die Augen. Die ganze Atmosphäre schien zu funkeln und zu sprühen. So beginnt das Delirium, dachte er, ohne jedoch zu verzweifeln. Hinter einer plötzlich transparenten Düne erkannte er Livius' Silhouette. Ein dalaamischer Riesenbaum verankerte seine Wurzeln neben ihm in den Boden — und verschwand. Ein tiefer Spalt öffnete sich vor seinen Füßen und schloß sich gleich wieder. Verwirrt blieb Jorgenssen stehen. Die anderen schienen durchsichtig und von starken Vibrationen gerüttelt. Ihre überraschten Stimmen klangen verzerrt. Eine dunkle Wand verbarg das grelle Sonnenlicht. Halluzinationen, dachte er, ehe seine Augen über die Detektorenan-
zeiger streiften. Ein entsetzlicher Schreck durchzuckte ihn, noch bevor Shan d'Arg aufbrüllte. „Ein Zeitsturm!“ keuchte er. Die Zeit — mißhandelt, deformiert, mißbraucht- rächte sich. Die Kräfte, welche die verschiedenen Möglichkeiten parallel gehalten hatten, gaben unter dem gewaltigen Gewicht der Wirklichkeit nach. Ein Zeitsturm! Es gab nichts, das die Teams mehr fürchteten. Manchmal entstanden sie auf natürliche Weise in bestimmten Gebieten des Universums, wo die Energieentladungen so gewaltig sind, daß selbst die Struktur des Kontinuums angegriffen wird. Meistens jedoch waren sie die Folge eines gewaltsamen, stümperhaften Eingriffs. Die Zeit brach lokal zusammen. Wellen der Vergangenheit überrollten die Zukunft und zerstörten so die Gegenwart. Ein Mensch, auf den der Regen der Zeit niederträufelte, konnte plötzlich seine jugendliche Hand zu der runzeligen eines Greises zusammenschrumpfen sehen, oder sein ganzer Körper kehrte in das Fetusstadium zurück. In einem letzten lichten Moment erkannte er, daß die herausgeforderten Götter sich gerächt hatten. Im Sternbild Cygnus hatte eine solche Katastrophe sieben Planeten zerstört: Ein Stern war zur Nova geworden. Zwanzig Milliarden Menschen fielen dem Sturm zum Opfer. Die Überlebenden litten bis zu ihrem Tod unter Wahnsinn, weil ihnen ein Blick in etwas Schrecklicheres als ihre eigene Vernichtung gestattet gewesen war — die des Universums. Der Dschungel. Die Wüste. Auf dieser namenlosen Welt im Licht der blauen Sonne folgten gegensätzliche Eingriffe aufeinander. Nun erbarst sie. Aber Jorgenssen kam der Gedanke, daß dieser Zeitsturm beabsichtigt, daß er der Schlußpunkt hinter dem logischen Satz aus den unverständlichen Wörtern „Dalaam“, der „Dschungel“ und die „Wüste“ war — daß nach diesem Satz Unfruchtbarkeit, Vernichtung kamen. Gleichzeitig zeigte er das Schicksal der Föderation an: Durch ihre Manipulation der Zeit unterminierte sie das Universum. Indem sie die Gegenwart stürzte, verzehrte sie die Zukunft. Eines Tages mußte auch die Galaxis zerbersten. Zehn Millionen Sterne würden
erlöschen, aufgerieben durch die fluktuierenden zehn Milliarden Möglichkeiten, und der Mensch würde nicht mehr sein. Die Stimmen der anderen erreichten ihn nur noch wie ein fernes Rauschen. Er sah sie noch, wenngleich verschwommen, und er entdeckte auch Livius, Nanski und Kano, die aus dem Nichts auftauchten. Eine unvorstellbare Möglichkeit oder ein meisterlicher Eingriff hatte sie dem Zeitsturm anvertraut und auf diese Welt geworfen, um sie wieder zu vereinen. Jorgenssen sah sie alle sieben, einschließlich sich selbst, gegen den Sturm ankämpfen. Manchmal erkannte er sie, wie sie vor zehn Jahren gewesen waren, und manchmal, wie sie in zehn Jahren sein würden. Im Bruchteil einer Sekunde wußte er, daß er alles gut überstehen und Anema wiedersehen würde, und schon einen Augenblick später war jede Erinnerung daran aus seinem Gedächtnis gelöscht. Und hinter den sieben Silhouetten erblickte er sieben weitere — viel blasser, fast durchsichtig —, die ihnen folgten, sie bedrohten und zum tödlichen Schlag ausholten. Er erkannte die Züge der Mörder, es waren die gleichen wie die der Verfolgten, nur verzerrt durch die Zeit. Er wollte die Warnung ausstoßen, aber nur ein Krächzen drang über seine Lippen. Er stolperte weiter, und ein Stückchen Vergangenheit holte ihn ein. Er erlebte noch einmal den Traum im Herzen des Baumes, und er entsann sich Anemas Worte: Wenn du dich an den Traum erinnerst, bist du geheilt. Du wirst aufhören, dich selbst zu hassen. Er konnte sich nun erinnern und hatte gewonnen. Der Traumgegner schritt auf ihn zu, er lächelte und streckte ihm die Hand entgegen. Er kannte auch die Träume der anderen, genau wie sie die Träume aller miterlebten. Das war ein Teil des Labyrinths. Jedem von ihnen stand der ärgste Feind gegenüber, den es für ihn überhaupt gab — sein eigenes Ich, und jeder mußte eine Lösung finden, so wie er, ehe der Tod ihn traf. Die anderen konnten von seiner Erfahrung profitieren. Die Lösung war einfach, wenn man sie kannte: Akzeptiere dich selbst, eliminiere jegliche Dualität in dir. Doch um das zu erreichen,
mußte man sich erst selbst besiegen und seine Persönlichkeit neu formen. Nur der drohende Tod vermochte einen genügend dazu aufzurütteln. Das war logisch. Das war auch der Zweck des Irrgartens. Nur um diese Metamorphose zu erreichen, hatte man sie dort ausgesetzt. Dalaam, der Dschungel und die Wüste waren die Prüfungen. Aber wer war dafür verantwortlich? Die Frage stand noch offen, im Irrgarten blieben noch unerforschte Gänge. * Der Sturm ließ nach. Der Boden unter ihm wurde ruhiger. Direkt vor Jorgenssen ragten die Klippen empor, so hoch, daß sie den Himmel verbargen. Er sah die Hütte fast ganz im Sand vergraben. Mühsam watete er durch die offene Tür. Das Buch lag auf dem Tisch. Er wollte es aufheben, da entdeckte er das über den Tisch gebeugte, von der Zeit gebleichte Skelett, das eine Erkennungsmarke umhängen hatte. Er kannte den darauf eingeprägten Namen, ohne erst nachsehen zu müssen. So hatte Arcimboldo Letemps sein Leben also hier ausgehaucht. Das Labyrinth ergab plötzlich keinen Sinn mehr. Es hatte nur zu einem Toten geführt. Vor Jahrhunderten war es vermutlich geschaffen worden, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen — um Dalaam zu schützen und die Gesinnung seiner Gegner zu wandeln. Doch nun hatte es jeglichen Sinn verloren. Sie hatten sich umsonst der Gefahr ausgesetzt und würden nie erfahren, warum. Tiefe Verzweiflung erfüllte Jorgenssen. Er griff nach dem Buch. Als er den Einband zurückschlug, mußte er wohl einen Mechanismus ausgelöst haben, denn plötzlich drehte sich das Universum um ihn, und er wußte, er hatte das absolute Jenseits betreten und reiste in der Zeit.
6. Das Jahr? Unbestimmbar. Der Ort? Nirgendwo. Ein Garten unter einer blauen Sonne, ein Paradies aus riesigen Bäumen, die ihre Schatten über saftige Wiesen warfen. Flüsse trennten sanfte Hügel. Grünes Gras duftete, und aus einer nahen Quelle sprudelte klares, erfrischendes Wasser. Ein rotbraunes, vierbeiniges Tier tänzelte hinter den Bäumen hervor, musterte Jorgenssen neugierig und verschwand so friedlich, wie es gekommen war. Vögel zwitscherten in den Zweigen, und Fische schwammen im nahen Fluß. Nun war hier kein Dschungel mehr, auch keine Wüste, aber immer noch befand er sich auf demselben Planeten, nicht weit von den halbrunden Klippen entfernt. Logischerweise müßte sich an ihrem Fuß die Hütte befinden, und falls er Glück hatte, auch die Boje. Mit leichten Schritten machte er sich auf den Weg. Jetzt kannte er die Bedeutung des Labyrinths: Es war eine Prüfung und gleichzeitig eine Behandlung. Der Test hatte ihn von den Vorurteilen der Föderation befreit, und die Behandlung hatte ihn geistig gesund gemacht. Doch nach einem Augenblick spürte er eine Leere, spürte er, daß etwas fehlte: Anema; seine Gefährten. Er war allein, und ein Garten Eden, den man mit niemandem teilen kann, ist nur ein halbes Paradies. Aber sein Alleinsein hatte nichts gemeinsam mit dem Gefühl der Einsamkeit, das ihn so lange gequält hatte. Es war nicht mehr jene geistige Abgeschlossenheit, die durch das Mißtrauen entstand, sondern ein rein physisches Alleinsein. Er mußte nun alles tun, um die anderen wiederzufinden, sich einer Gemeinschaft anzuschließen. Er hielt kurz inne, um eine goldene Frucht zu pflücken. Wo der Fluß eine Biegung machte, tauchte plötzlich ein Mann auf und lächelte ihm zu. Er war alt, fett, haarlos und trug einen verblichenen Anzug, der früher einmal orange gewesen sein mußte. Er
blickte Jorgenssen mit wachen, intelligenten Augen entgegen, während er aus einer Hosentasche eine Pfeife holte und sie anzündete. „Sei gegrüßt“, sagte er auf Dalaamisch und winkte Jorgenssen zu, näher zu kommen. „Ein herrlicher Tag, nicht wahr?“ Jorgenssens Aussehen, sein schmutzverschmiertes Gesicht, die zerrissene Uniformkombination schien ihn absolut nicht zu überraschen. „Sei gegrüßt“, dankte Jorgenssen. Er versuchte sein Erstaunen zu verbergen. Nie zuvor hatte er je einen alten, noch dazu so fetten Mann gesehen, denn die Biologen der Föderation sorgten dafür, daß jeder Bürger sein fast jugendliches Aussehen bis zum Tode behielt. „Gibt es eine Stadt in der Nähe?“ erkundigte sich Jorgenssen. Der Alte lächelte. „Nein. Im Augenblick sind wir beide die einzigen Menschen auf dieser Welt. Ich glaube übrigens, daß du mich gesucht hast. Ich bin Arcimboldo Letemps. Jorgenssen schluckte. Seine Glieder waren wie Blei. Er brachte keinen Ton heraus. Die Pfeife im Mundwinkel, die Daumen im Gürtel, lächelte Letemps. „Ich freue mich, daß du wiederhergestellt bist. Ich brauche nämlich deine Hilfe. Selbstverständlich kannst du dich frei entscheiden.“ „Entschuldige“, würgte Jorgenssen hervor. „Worum geht es?“ „Um die Zukunft der Föderation und Dalaam, und natürlich auch um deine eigene.“ Seine Stimme war angenehm beruhigend. Endlich fand Jorgenssen wieder zu sich. „Du — du bist also nicht tot? Das war nicht dein Skelett?“ Er biß sich auf die Lippe. Letemps' Lächeln wurde breiter. „Das hängt vom Jahr ab. In der Zeit, in der du hier ankamst, war ich tatsächlich tot. Aber nicht jetzt. In der Hütte, in der Wüste, das war wohl mein — mein Skelett. Aber die Wüste wird erst in fünf oder sechstausend Jahren existieren. Bis dahin ...“, er ließ den Satz offen. „Und starr mich nicht an wie einen Geist. Die Theorie lehrt, daß wir in Beziehung zueinander nicht existieren, weil ich sterbe, bevor du überhaupt geboren bist, und die beiden Ereignisse erfolgen auf der-
selben kausalen Kurve. Das jedenfalls ist die Theorie der Föderation. Ich muß gestehen, daß ich selbst ein wenig dazu beigetragen habe. Aber nach meinem Verschwinden arbeitete ich erst richtig. Es gibt, nichts Besseres als geistige Arbeit, um den Verstand flexibel zu halten, weißt du? Mir bleiben immerhin noch weitere zwanzig Jahre.“ Er weiß, wann er sterben wird, dachte Jorgenssen. Er hat seine eigene Zukunft erforscht, so unglaublich das auch scheint. Er hat die Zeit herausgefordert und sie bezwungen. Er ist nicht vor Schreck gelähmt, weil er den Tag und die Stunde kennt. Dann sinnierte er weiter. Die Dalaamer fürchten sich auch nicht vor dem Tod. Sie akzeptieren ihn ohne Vorbehalt. Einen Augenblick schien ihm das kaum vorstellbar — bis er entdeckte, daß seine eigene Angst davor verschwunden war. Die Furcht, zu sterben und die Furcht, zu leben, waren dasselbe. Wer den Tod nicht anerkennt, versteht nicht zu leben. „Die anderen?“ fragte er mit völlig veränderter Stimme. Er vermochte einfach nicht die Augen von dem blauen Rauch zu nehmen, der aus der Pfeife stieg und uralte Zeiten heraufbeschwor. Er hatte sich Arcimboldo Letemps immer ganz anders vorgestellt — als einen Giganten mit strengen Zügen, einer tiefen Stimme — aber nie als kleinen, freundlichen Mann mit einem runden Bauch und diesen pfiffigen Augen, der ein wenig komisch aussah. „Deine Gefährten? Mach dir keine Sorgen um sie. Wir werden uns später darüber unterhalten. Im Augenblick möchte ich dir ein paar Fragen stellen, einiges erklären. Und du wirst eine Entscheidung treffen müssen.“ „Ich höre“, murmelte Jorgenssen leise. „Entspanne dich. Du bist müde. Du hast die anstrengendsten Tests überstanden. Du hast alles zurückgelassen — alles, was du einmal warst. Nun bist du ein völlig neuer Mensch — wie ein Schmetterling, der gerade noch eine Puppe war. Deine Flügel müssen erst noch trocknen, um sich entfalten zu können. Laß sie in der Sonne stark werden.“ „Ich will es versuchen“, versprach Jorgenssen.
„Setz dich ins Gras, iß eine Frucht, es gibt nichts Besseres.“ Jorgenssen gehorchte. „Gut“, sagte Letemps freudig. „Wir haben Zeit. Was sind schon fünf Minuten im Verhältnis zu fünftausend Jahren? Wir jonglieren mit der Zeit, du und ich, nicht wahr? Da dürfen wir doch nicht den Anschein erwecken, daß wir ihr zuviel Bedeutung beimessen. Darum rauche ich eine Pfeife. Es ist eine längst vergessene Gewohnheit, und ich glaube, daß ihr Verschwinden die Todesstunde der Föderation einläutete. Pfeifenraucher sind friedliche, ausgeglichene und nachdenkliche Leute. Es braucht eine Menge Zeit, eine Pfeife richtig zu stopfen. Die meine, die ich gerade rauche, ist noch aus echtem Bruyèreholz von der Erde.“ Er seufzte tief. „Du kennst die Erde natürlich nicht. Die wenigsten der jungen Leute in der Föderation, selbst zu meiner Zeit, wissen nicht mehr von ihr als das, was sie aus historischen Romanen erfahren. Fast alle der Spezies hier auf dieser Welt stammen von dort. Solche, die sich nicht akklimatisieren ließen, habe ich kopiert und aus einheimischen Pflanzen mutiert. Es ist erstaunlich, was sich genetisch alles machen läßt, wenn man die Zeit beherrscht.“ „Dann warst du es also auf Ygone“, murmelte Jorgenssen bewundernd, und er dachte an die herrlichen Bäume und den Zweck, den sie erfüllten. „Ich habe schon immer Bäume geliebt“, gestand Letemps. „Und ich bin sehr stolz auf die in Dalaam. Ich glaube nicht, daß es im ganzen Universum etwas Ähnliches gibt.“ „Das glaube ich auch nicht“, pflichtete Jorgenssen ihm bei. „Auch dieser Garten ist einmalig“, fuhr Letemps fort. „Er stellt ein Rätsel dar, ein sehr wichtiges. Ich werde die Sphinx spielen und sehen, ob du es zu lösen vermagst. Du hast diesen Planeten hier mit drei verschiedenen Gesichtern gesehen: als Dschungel, als Wüste und als Garten. In welche chronologische Reihenfolge würdest du sie stellen?“
„Ich weiß nicht“, zögerte Jorgenssen. „Laß mich nachdenken. Du selbst sagtest, die Wüste würde fünf- bis sechstausend Jahre nach dem Garten existieren. Und der Garten ist dein Werk. Also müßte der Dschungel zuerst gekommen sein. Dschungel — Garten — Wüste. Aber ich weiß nicht, was es bedeuten soll.“ „Das weißt du nicht? Drei Aspekte der Realität einer Welt, die ineinanderfließen, und du kannst ihre Beziehung zu deiner Mission nicht sehen? Alles, was du erlebt hast, ist demnach umsonst gewesen. Natürlich könnte ich es dir verraten, aber das würde deine Zukunft beeinflussen. Und dazu hat niemand ein Recht. Die Zukunft, der freie Willensentscheid eines Menschen, darf nie manipuliert werden.“ Jorgenssen überlegte. Irgendwo mußte es eine Analogie gegeben haben, die ihm irgendwie entgangen war. Der Dschungel, die Wüste, der Garten. Zwischen Dschungel und Garten gab es eine Reihe von Zeitinterventionen — genau wie jene des Teams. Und zwischen Garten und Dschungel? Nichts. Die logische Schlußfolgerung des Zeiteingriffs war die Wüste. Die Teilchen fügten sich nahtlos aneinander. Das Universum vor der Föderation, dann die Zeitreisen, die Manipulierungen der Vergangenheit, die Aufgaben der Teams. Die Föderation war gleichbedeutend mit dem Garten, das war offensichtlich, und das logische Ende der Föderation war die Wüste, war die Dekadenz, der Tod jeglicher Zivilisation. Er, Jorgenssen, mußte sich entscheiden: der Untergang der Föderation durch die Ausführung des Auftrags oder ihr Untergang, indem er sich widersetzte. Er betrachtete den Garten um sich. Er war ein Paradies, eine Traumoase, aber in einem komplizierten Gleichgewicht. Irgendwo ein kleiner Fehler in seiner empfindsamen Struktur, und er war zum Verschwinden verurteilt. Waren die Schönheit des Gartens, der Glanz der Föderation es nicht wert, sie um ihrer selbst wollen zu erhalten, auch wenn sie vergänglich waren? Nein, flüsterte eine Stimme in ihm. Nein, echoten die Stimmen seiner sechs Gefährten. Nein, wisperten die namenlosen Stimmen der Dalaamer. Es gab
Dinge, die wichtiger waren als Schönheit und Glanz, wichtiger als Ordnung, als eine einzelne Zivilisation. Da war das Leben, lall die Arten, die noch geboren werden würden, die Zukunft der Menschheit, die Kulturen, die noch entstehen würden. Er seufzte tief. „Ich verstehe“, murmelte er schließlich. Er warf den Kern der goldenen Frucht über seine Schulter. Ein Gefühl der Übelkeit würgte ihn. Was fehlt diesem Garten? Was fehlt der Föderation? überlegte er. Konkurrenz? Ein ebenbürtiger Gegner? Alle gefährlichen Spezies sind aus dem Garten eliminiert. Alle potenziellen Bedrohungen sind aus der Zukunft der Föderation getilgt. Das legte er Letemps dar. „Ich führte ein Experiment durch“, erklärte der Alte. „Du mußt verstehen, als ich anfing, die Zeit zu meistern, hatte ich entsetzliche Angst vor den Folgen meiner Entdeckung. Darum stellte ich alle möglichen Versuche an. Dieser Garten ist das Ergebnis eines dieser Experimente. Du fragtest dich, was ihm fehlt. Nein, es ist nicht der mangelnde Überlebenskampf.“ Er hielt kurz inne. „Ihm fehlen Abwechslung, Zusammenspiel, ein natürliches Gleichgewicht der Zeit. Und genauso ist es mit der Föderation. Ihr Untergang ist unaufhaltsam, weil sie jegliche Variationsmöglichkeit im Keim erstickt. Ich könnte diesen Garten in seiner gegenwärtigen Form vielleicht zehntausend, zwanzigtausend oder möglicherweise sogar eine Million Jahre aufrechterhalten. Aber ich würde immer öfter eingreifen müssen und dadurch die Zeit mehr und mehr deformieren, und das würde natürlich zur Katastrophe führen.“ „Das ist es, was die Föderation praktiziert.“ Jorgenssen nickte. „Ich verstehe jetzt. Die Zeitberichtigungsteams werden immer häufiger eingesetzt. Aber auf lange Sicht hat die Föderation keine Chance, sie ist dem Untergang geweiht.“ „Stimmt genau“, brummte Letemps. „Das habe ich vorhergesehen und es ihnen klargemacht. Sie bedrohten mich, ließen mich nicht weiterarbeiten. Sie versuchten sogar, mich zu töten. Sie sahen in der Beherrschung der Zeit das ideale Machtmittel. Sie hatten eine falsche Vorstellung von der Zeit und der Menschheit. Sie dachten nur ein-
gleisig. Die Zeit ist ein komplexes Ganzes — wie ein Netz, ein feines Gespinst, ein Zellgewebe. Sie kann in Stücke gerissen werden, und das wollte ich verhindern. Darum schuf ich Dalaam. Ygone ist ein Antidot zur Föderation.“ Jorgenssen stand auf und streckte sich. Sein Körper fühlte sich zerschlagen an. „Was habe ich zu tun?“ fragte er. Die Stimme des Alten war schneidend. „Das mußt du selbst entscheiden“, knurrte er. „Du bist doch mündig, oder?“ Sie spazierten am Fluß entlang zur Hütte, von der aus Arcimboldo Letemps die Entwicklung seiner Experimente beobachtet hatte, und zur Zeitboje, die es ihm ermöglichte, Vergangenheit und Zukunft zu beherrschen. „Noch vor ein paar Wochen“, wandte Letemps sich an Mario, „warst du nicht fähig, unbeeinflußte Entscheidungen zu treffen. Du warst ein Mann der Föderation, auch wenn du gegen sie rebelliertest. Der Mensch ist immer Gefangener seiner Zeit und seiner Gesellschaft. Du mußtest davon losgerissen, davon befreit, dir selbst zurückgegeben werden.“ „Ich verstehe“, sagte Mario. „Der Wahnsinn der Föderation hatte uns angesteckt. Du brachtest uns in Schwierigkeiten, damit wir zu denken begannen.“ Letemps lächelte breit. „Ich tat gar nichts. Ich erklärte dir doch bereits, daß niemand das Recht hat, in das Leben anderer einzugreifen, indem er die Zeit manipuliert. Das ist nicht nur eine Frage der Moral, sondern auch der Stabilität. Erinnere dich des Gartens und der Wüste.“ „Aber wer sonst?“ „Denke nach. Niemand hat das Recht die Zukunft oder Vergangenheit eines anderen zu ändern. Aber seine eigene ...“ Wie vom Blitz getroffen blieb Mario stehen. „Das — das bedeutet, daß wir selbst ...“ „So ist es“, bestätigte Letemps.
* Der Wasserfall lag vor ihnen. Die Flußufer waren mit Moos bewachsen. Die Hütte erhob sich inmitten einer mit Blumen übersäten Wiese. „Das heißt also, daß wir in unsere Vergangenheit zurückgekehrt sind, uns selbst angegriffen und unsere Ausrüstung außer Funktion gesetzt haben“, überlegte Shan d'Arg. „Aber nachdem es bereits geschehen ist, haben wir gar keine andere Wahl. Es wird geschehen. Es gibt keine freie Entscheidung für uns.“ „O doch“, versicherte ihm Letemps. „Die Zeit ist keine lineare Serie von Geschehnissen. Wenn sie es wäre, gäbe es keine Zeitreise. Die Zeit setzt sich aus einer Unzahl von Möglichkeiten ungleicher Wahrscheinlichkeit zusammen. Jeden Augenblick kann sich eine bestimmte Zahl von Ereignissen verwirklichen. Manche sind sehr wahrscheinlich, andere weniger. Unter normalen Bedingungen realisiert sich die wahrscheinlichste Möglichkeit; die anderen aber bleiben latent. Durch die Zeitreise wird die Reihenfolge der Wahrscheinlichkeiten durcheinandergebracht. Eine sehr bedeutsame Möglichkeit kann die Stelle einer sehr wahrscheinlichen einnehmen. Ich hoffe, du verstehst mich.“ „Ich versuche es“, murmelte Shan d'Arg. „In diesem Augenblick“, fuhr Letemps fort, „befinden wir uns in einer recht unwahrscheinlichen Möglichkeit, eine, die nicht sehr real ist. In diesem Moment versuchen sieben Arcimboldo Letemps in sieben verschiedenen Möglichkeitsebenen, den sieben Teammitgliedern so gut es geht die Zeitstruktur zu erklären.“ „Aber was ist mit den Grundsätzen?“ fragte Shan d'Arg. „Sie sind falsch“, erwiderte Letemps. „Oder genauer gesagt, sie stimmen nur zum Teil. Ich weiß das besser als jeder andere. Ich habe sie formuliert und bin dabei von den Werken Horowitzs ausgegangen. Aber damals betrachtete ich das Ganze als ...“, er lächelte, „...
sagen wir, eine beschränkte Zeit. Die Verallgemeinerung kam später.“ „Warum erfährt man von dieser Verallgemeinerung auf den Welten der Föderation nichts?“ Letemps bog sich vor Lachen. „Ich sagte doch, daß die Föderation paranoisch angehaucht ist. Was glaubst du, wie schnell der Arque diese Aspekte unterdrückte! Ich hatte sie kaum öffentlich geäußert, da war ich schon in Ungnade gefallen und wurde zum gefährlichen Feind der Föderation gestempelt. Daher also die Geheimniskrämerei um das Leben Arcimboldo Letemps', dachte Shan d'Arg. Der Arque hatte zwar nicht die Unverforenheit gehabt, auch die Erinnerung an den Namen zu löschen, aber er wandelte sie zu einem vagen, harmlosen Mythos. „Natürlich“, fuhr Letemps fort, „zog ich die Konsequenzen und verschwand. Es war mir klar, daß ich der Föderation eine mächtige Waffe in den Rachen geworfen hatte, die sie nicht imstande war, zum Wohle der Menschheit einzusetzen. Es war nicht ihre Schuld, sie wußte nur eben zu wenig über den Wert der Freiheit, als daß sie alle möglichen Folgen sorgfältig abgewogen hätte. Die Tragödie war, daß ihr das Mittel zur Verfügung stand, jegliche Änderung zu verhindern — und ich gab es ihr!“ Letemps' Gesicht verfinsterte sich. „Ich fühlte mich natürlich verantwortlich, obwohl sicherlich einem anderen irgendwann einmal die Entdeckung geglückt wäre, wenn ich sie nicht gemacht hätte. Jedenfalls konnte ich nicht bloß herumsitzen und Däumchen drehen. Eine andersgeartete Kultur als ihre mußte es sein, die die Zeit zum Wohl der Menschen beherrschen durfte. Diese wiederum konnte nur einem Zeitexperiment entspringen. Das Problem verlief im Kreis, und nur mit Hilfe der Zeitreise war es mir möglich, da herauszukommen. Die Zukunft mußte der Vergangenheit helfen. Ich startete einen Gegenangriff. Ich begann damit, daß ich auf unzähligen Welten Zivilisationen ins Leben half, die einmal imstande sein würden, das Gleichgewicht der Föderation ins Schwanken zu bringen. Aber überall griffen früher oder später die Zeitbe-
richtigungsteams ein. Sie waren besser ausgerüstet als ich und vermochten deshalb ihren Auftrag zum Schutz der Föderation auszuführen. Ich hatte nur eine einzige Chance.“ „Willst du damit sagen, daß seit drei oder vier Jahrhunderten die Teams nur gegen dich arbeiteten, ohne daß sie es ahnten?“ Letemps schüttelte den Kopf. „Nicht nur. Allerdings wurde tatsächlich eine große Anzahl der Zeitkorrekturen auf Welten durchgeführt, wo ich interveniert hatte. Ich sah schließlich ein, daß ich“ einen falschen Kurs beschritten hatte. Es war erforderlich, eine stabile Gesellschaftsform zu errichten, der die Teams nichts anhaben konnten, und außerdem war es nötig, mir die Hilfe der Teams selbst zu sichern.“ „Es gibt also bereits Temas, die für dich arbeiten?“ „Nein. Chronologisch seid ihr die ersten, mit denen ich mich in Verbindung gesetzt habe. Ihr seid die ersten, die nach Ygone geschickt wurden. Aber ich weiß, daß es weitere geben wird. In bestimmter Hinsicht, wenn man das Ausmaß der Zeit in Betracht zieht — die übrigens auf unserer Seite ist —, schließt ihr euch einer auch zahlenmäßig starken Armee an.“ „Die wir dir zusammenstellen helfen werden“, versicherte Shan d'Arg. „Genau“, pflichtete Letemps ihm bei. „Aber überschätzt eure Wichtigkeit nicht. Ob ihr nun einwilligt oder ablehnt, die Wahrscheinlichkeit der Legion wird davon kaum beeinflußt.“ „Was ist die wahrscheinlichste Möglichkeit?“ Letemps vermied eine direkte Antwort. „Es ist immer die, in der zeitliche Eingriffe am geringsten sind.“ * Sie betraten die Hütte. Sie war mit Möbeln aller Epochen vollgestopft und mit Maschinen, die Letemps selbst konstruiert hatte. Auf Wandregalen reihte sich Buch an Buch. Letemps ließ sich in einen Lederses-
sel fallen. Auf der anderen Seite des Metalltischs setzte sich Livius auf einen schmiedeeisernen Stuhl. „Dann“, fuhr Letemps fort, „erschuf ich Dalaam. Das Institut für theoretische und angewandte Möglichkeitsforschung half mir sehr dabei.“ „Ich habe nie von einem solchen Institut gehört“, sagte Livius verwundert. „Das ist auch nicht gut möglich, denn es wird erst in fünfzehnhundert Jahren gegründet. Neunhundertfünfzig Jahre nach dem Sturz des letzten Arques und dem Zusammenbruch der Föderation.“ „Du redest über diese Ereignisse, als seien sie schon passiert.“ „Sie liegen natürlich noch vor uns“, berichtigte Letemps. „Das heißt, eine sehr starke Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie sich realisieren. Das Institut und ich tun unser Möglichstes, diese Wahrscheinlichkeit noch zu verstärken. Mit eurer Hilfe wird diese Möglichkeit die wahrscheinlichste.“ „Ein wechselseitiger Einfluß von Vergangenheit und Zukunft“, staunte Livius. „Das hielt ich bisher für unmöglich. Und du entschiedst dich für die Zerstörung deiner eigenen Zivilisation.“ „Das sollte dich nicht schockieren. Ich sagte dir doch, eine andersgeartete müsse ihren Platz einnehmen.“ Letemps öffnete die Tür eines Wandschränkchens. „Probier das mal“, forderte er Livius auf, nachdem er ein Glas mit Likör gefüllt hatte. „Ich erwähnte auch“, fuhr er fort, „daß die Grundsätze unvollständig sind. Konträr zu ihnen ist es möglich, in die eigene Vergangenheit zu reisen. Es ist möglich, seinen eigenen Lebenslauf zu ändern.“ „Also einen Vorfahren umzubringen, oder sein eigener Vater zu sein?“ Letemps nickte. „Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Wenn du ganz schnell um einen Baum herumrennst, bezweifle ich, daß du dich selbst fangen wirst. In der Zeit ist es nicht anders.“ Livius leerte das Glas in einem Zug. Er verschluckte sich beinah. Noch nie hatte er je so etwas Scharfes getrunken.
„Die Grundsätze treffen lediglich zu, wenn man eine einzige Möglichkeit in Betracht zieht. Wenn man in dieser Möglichkeit nur geringfügige Änderungen vornehmen möchte, die die Gegenwart so gut wie gar nicht beeinflussen, dann richtet man sich am besten nach den Grundsätzen. Aber sie sind keine natürlichen Beschränkungen. Die Natur ist viel großzügiger. Die Föderation hat diese Gesetze als absolut hingestellt, weil sie ihre Gegenwart in der jetzigen Form nicht angetastet haben will. Aber die Realität kann alles einschließen, auch Paradoxe. Das heißt, in Wirklichkeit gibt es gar keine Paradoxe. In der Zukunft, die der Föderation folgen wird, schwankt die Gesellschaft ständig zwischen mehreren möglichen Existenzformen. Die Menschen sind daran gewöhnt. Sie haben sogar ein Wort dafür erfunden, nämlich Fluenz. Sie haben gleichzeitig verschiedene Existenzen auf verschiedenen Ebenen. Die Zeit scheint nicht länger eine lineare Folge von Geschehnissen, sondern eine komplexe Struktur. Ihre Physik kennt den Begriff einer Art Metazeit, die alle Linien der spezifischen Zeit umfaßt. „Ich verstehe“, murmelte Livius mit schwerer Zunge. Alles um ihn drehte sich. Schließlich war auch Alkohol ein Mittel, Fluenz zu erreichen. * „Anlagen dieser Art stecken in den Dalaamern“, murmelte Nanski, dessen Kopf immer schwerer wurde. „Ja, im Embryonalstadium“, pflichtete Letemps ihm bei. „Ihre Überlieferung, beispielsweise, bewegt sich von einer Möglichkeit zur anderen. Dalaamische Kinder erfahren im Unterbewußtsein, was andere in einer anderen Möglichkeitsebene bewußt lernen. Verstehst du, was das bedeutet. Es erweitert praktisch die Kapazität eines Menschen ins Unendliche. Eine einzige Persönlichkeit könnte sich auf einer Unzahl von möglichen Welten dem Studium eines bestimmten
Faches widmen oder der Lösung eines Problems — tausend Leben gleichzeitig leben.“ „Und die Bäume?“ fragte Nanski. „Sie dienen als Mittler“, erwiderte Letemps. „Sie schicken ihre Wurzeln tief in die Erde, in die Zeit. In ihren Kammern liegen die Möglichkeiten neben- und übereinander, kreuzen sich, laufen zusammen.“ „Aber die Dalaamer wissen nicht alles über die Struktur der Zeit.“ „Es ist noch zu früh. Ihre Überlieferung muß langsam wachsen. Was in ihrem Unterbewußtsein ruht, wird im Laufe der Jahrhunderte in ihr Bewußtsein vordringen. Die Dalaamer wissen genug, um ihre Probleme zu lösen. Sie geben ihre Erfahrungen an ihre Zweitexistenzen weiter.“ „Ich verstehe“, sagte Nanski und gleichzeitig mit ihm die sechs anderen. Die unvollständige Kultur der Dalaamer war damit erklärt: Sie stellte nur einen einzigen Aspekt einer weitreichenderen Realität dar. „Was du mit all dem sagen willst, ist also, daß wir zwischen der Existenz Dalaams und der der Föderation wählen sollen.“ Letemps blickte ihm fest in die Augen. „Ich sehe, du hast es verstanden“, sagte er sanft. * „Es genügt, wenn wir uns nicht einmischen“, brummte Kano, „dann wird Dalaam überleben. Das müßte doch ausreichen.“ „Nein“, erwiderte Letemps. Er füllte sein Glas, leerte es. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen. Seine überschäumende Vitalität wurde durch sein Alter und auch durch die Anstrengung, gleichzeitig auf sieben verschiedenen Ebenen zu existieren, einer harten Probe unterzogen. Sein Gesicht wirkte plötzlich eingefallen, und er vermochte nur mit größter Mühe zu atmen. „Nein“, wiederholte er. „Vergiß nicht, die wahrscheinlichste Möglichkeit ist die mit der geringsten Intervention. Es gibt eine Ebene, in
der ihr euren Auftrag durchführtet und in der kein weiterer Eingriff stattfindet.“ „Dann ist da auch eine, auf der nie ein Team nach Ygone kam“, vermutete Kano. „In der Ebene existiere ich nicht“, hauchte Letemps, „genausowenig wie Dalaam. Alles hängt zusammen. Ich brauche euch. Ihr müßt mir helfen. Ihr müßt sobald wie möglich alle eure Spuren verwischen. Ihr müßt das Team sofort bei seiner Ankunft unschädlich machen. Das verstärkt die Wahrscheinlichkeit günstiger Möglichkeiten enorm.“ Er rang nach Luft. „Ihr — könnt euch frei entscheiden.“ „Wir müßten uns selbst töten“, stellte Kano bitter fest. „Das stimmt“, gab Letemps zu. „Deshalb hört ihr jedoch nicht zu existieren auf. Ihr müßt mir glauben. Ihr ...“ Mühsam schnappte er nach Luft. „Du mußt dich hinlegen“, mahnte Kano. „Du bist krank.“ „Nein“, erwiderte Letemps. „Ich bin alt. Das ist nicht dasselbe. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.“ Kano-Erin-Nanski beugte sich über ihn. Jorgenssen-Mario öffnete seinen Hemdkragen. Livius-Shan d'Arg fühlte seinen Puls. Die Gesichter verschmolzen. * „Im Wandschrank“, stieß Letemps. nach Atem ringend, hervor. Mit viel Anstrengung setzte er sich wieder auf. Er versuchte abzuschätzen, wieviel Zeit ihm noch blieb. Höchstens noch Minuten. Die sieben hatten sich nur schwer überzeugen lassen, doch war er fast sicher, daß es ihm geglückt war. „Dein Puls ist ganz schwach“, sagte Erin. „Dein Herz ...“ „Ich weiß“, murmelte Letemps. „Ich muß euch jetzt verlassen, aber ich habe euch bisher noch nicht die ganze Wahrheit verraten. Mir bleiben noch zwanzig Jahre, aber nicht in dieser Möglichkeitsebene. Hier bin ich am Ende. Ich habe so lange wie möglich durchgehalten.
Hier war der günstigste Ort, euch zu treffen, aber hier existiere ich bereits über meine Zeit hinaus.“ Sein Atem kam rasselnd. „Ich lebe hier nicht mehr. Ihr werdet jedoch nicht allein bleiben. Ich folge euch. Aber entscheiden müßt ihr selbst.“ Sein Kopf sank auf die Brust. „Ist Dalaam wirklich die ideale Gesellschaftsform?“ fragte Erin rasch. „Möchtest du, daß auf allen Planeten der Galaxis Dalaams entstehen?“ „Ja und nein“, Letemps rang nach Luft. „Dalaam ist nicht die Idealstadt. Dalaam ist ein Modell — ein Experiment, versteht ihr? Ein maßstabgetreues Modell der Gesellschaft — die nach der Föderation kommt — wenn Verbindungsmöglichkeiten die Räume zwischen den Planeten kreuzen — wie die Straßen Dalaams — alle Menschen werden frei sein — die ganze Galaxis — das ganze Universum — wird eine einzige Stadt sein — sie müssen lernen, in der Stadt, deren Lichter die Sterne sind, frei zu leben.“ Erins Hände zitterten, als die Augen des Alten nach oben rollten und er nur noch das Weiße sah. Aber Letemps kämpfte noch. „Es ist von immenser Wichtigkeit, daß Dalaam überlebt. Ich kann nun nichts mehr tun. Ich bin völlig fertig. Es ist entsetzlich anstrengend, sieben gleichzeitig zu sein — in Möglichkeiten mit solch geringer Wahrscheinlichkeit. Ihr müßt ...“ Er schnappte mühsam nach Luft. „Sie sind meine Kinder. Dalaam. „Ihr werdet verstehen — ich liebe sie.“ Erin hielt es für eine Redewendung. „Im Wandschrank — meine Kinder — ich mußte die genetische Kapazität herausfinden und brauchte dazu einen konstanten Chromosomenvorrat. Die der Eingeborenen reichten nicht aus — verwendete meine eigenen — gelang mir, Auswirkungen in der Zeit zu vermeiden.“ Sein Kopf fiel zur Seite. „Wenigstens drei Minuten habe ich nun gestohlen. Bedeutet, Wahrscheinlichkeit wächst. Ich habe gewonnen ...“
Ein Ruck ging durch seinen Körper. Auf einem namenlosen Planeten, im Licht einer blauen Sonne, war Arcimboldo Letemps tot. * Ist es nur eine Illusion, fragte sich Jorgenssen. In Letemps' Todessekunde verwelkten die Blumen, und die ganze Gegend schien von unwirklicher Transparenz. Die Wahrscheinlichkeit dieser Möglichkeit mußte sehr niedrig gewesen sein, und Letemps' Tod hatte sie noch geschwächt. Was passiert, wenn sie völlig verschwindet? Die Zeit drängte. Er öffnete den Wandschrank. Eine komplette Ausrüstung hing darin. Alles war neu, so neu, wie er die Sachen vor seinem Einsatz auf Altair bekommen hatte. Schnell schlüpfte er in die Kombination und streifte den Helm über, dann schnallte er sich den Gürtel um. Seine Finger streiften liebkosend über die Waffen und die üblichen Instrumente. Überrascht stockten sie bei einem zusätzlichen Gerät, einer winzigen Raumzeitboje. Mit ihrer Hilfe vermochte er Raum und Zeit zu durchqueren. Sie war auf Ygone im Jahre Null eingestellt. Als er noch einen hastigen Blick auf die Leiche des Alten warf, wurde ihm plötzlich klar, daß sein Tod genau berechnet war. Letemps hatte erwähnt, er würde in anderen Möglichkeitsebenen noch länger leben. In dieser hatte er vorgezogen, zu sterben, um aus der Reichweite des Teams zu gelangen. Denn wenn sie sich gegen Dalaam entschieden, so konnten sie ihn nicht als Geisel verwenden. Er hatte sich auf alle Möglichkeiten vorbereitet, selbst auf eine Niederlage. Jorgenssen hätte ihn gern beerdigt, aber ihm blieb keine Zeit. Jede Sekunde mochte sich diese Welt auflösen. Die Leiche aber würde hier an dieser Stelle bleiben und noch in sechstausend Jahren hier sein — wenn die Wüste den Garten verdrängt hatte —, um auf ihn, Jorgenssen zu warten, als Skelett.
Arcimboldo Letemps' Skelett. So heißt diese Welt, beschloß Jorgenssen-Mario-Livius-Shan d'Arg-Nanski-Erin-Kano. Die sieben drückten in einem Simultangeschehen auf den winzigen Knopf der Boje und tauchten in das absolute Jenseits. Ygone im Jahre Null. Der Funguswald. Die sieben blickten sich um. Einen langen Augenblick sprach keiner. Sie alle wußten dasselbe, wußten, was sie tun würden. Es gab kein Zögern. Oder doch? Jorgenssen-Mario-Livius-Shan d'Arg-Nanski-Erin-Kano dachten an die Leiche Letemps'. Wenn sie sich für Dalaam entschieden, würden sie den Möglichkeiten, in denen er lebte, mehr Realität geben. Vielleicht konnte er dann länger in dem Paradies leben, in dem sie ihn getroffen hatten. Im anderen Fall würde in ein paar Minuten auf der nahen Lichtung das Team aus dem Nichts, von Altair, erscheinen, um die Geschichte Dalaams zu korrigieren. Und sie würden verschwinden und ihren realeren Ichs Platz machen. Dann würde die galaktische Stadt, deren Modell Dalaam darstellte, nie sein. Die Dalaamer, die von Letemps' Chromosomen stammten, würden aus dem Universum verschwinden. Und in einer noch unbestimmten Zukunft würde die Galaxis zur Wüste, und die Sterne würden zu ihrem Sand. Knopf des Neutralisators, der den Neuankömmlingen jeglichen Schutz nehmen würde. Ein Blitz — und sieben Männer mit einer Boje standen auf der Lichtung. Sie erkannten sich sofort. Und schossen. Jorgenssen auf Jorgenssen, Mario auf Mario, Livius auf Livius und so weiter. Sie wußten, daß sie sich in einer vorhergegangenen Möglichkeit schon bekämpft hatten und Mario bereits damals Mario tötete, und daß das nötig gewesen war, damit sie ihre Aufgabe, die Befreiung der Zeit, erfüllen konnten. Die sieben Silhouetten, die sich um die Boje scharten, schwankten. Jorgenssen las in Jorgenssens Augen Verwirrung. In den Augen des sterbenden Livius' erkannte der zum Leben bestimmte Livius den
brennenden Haß, den er nicht mehr fühlte. Mit ihren anderen Ichs starben auch ihre früheren Neurosen, und ihre Freiheit wurde geboren. Es war vollbracht. Ygones Sonne schien jetzt noch heller zu strahlen. Jorgenssen steckte seine Waffe ein und wischte sich den Schweiß von der Stern. „Wir haben den alten Menschen in uns getötet“, wandte er sich heiser an Mario. „Wir — wir haben uns gewandelt.“ Mario schüttelte den Kopf. „Hast du schon daran gedacht, daß andere unsere Zukunft beeinflussen könnten, so wie wir es für Dalaam getan haben?“ Jorgenssen zögerte. „Ich sehe, was du meinst. Aber wir sind frei. Letemps tat alles, das wir uns frei zu entscheiden vermochten.“ Er kehrte der Lichtung den Rücken. Die anderen folgten ihm. Er wollte nach Dalaam, wollte Anema wiedersehen, sich mit Daalquin unterhalten und von den Bäumen all das lernen, was ihm seine anderen Möglichkeiten boten. Er wußte, daß ihr Weg nun vorherbestimmt war: Sie würden die ersten sein, würden die Zeit durchqueren, gegen die Teams der Föderation kämpfen und versuchen, die Männer Altairs für ihre Sache zu gewinnen. In größeren Abständen würden sie vielleicht Letemps wiedersehen und vermutlich viel von ihm lernen. Aber nie würden sie alles wissen. Das war etwas, das Letemps sie gelehrt hatte, vielleicht sogar das Wichtigste: Die Realität erschöpfte sich niemals. Freiheit bedeutet, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen, ohne alle Möglichkeiten zu kennen. In der Zukunft würde man das Fluenz nennen. Dalaam hatte sich leicht verändert. Die Stadt schien Jorgenssen dichter, realer. War es vielleicht eine Illusion, wie das Transparentwerden der Landschaft, als Letemps gestorben war? War es möglicherweise nur seine Freude darüber, daß er Anema wiedergefunden hatte? Oder vielleicht existierte Dalaam nun auf einer höheren Realitätsebene?
Die Frage konnte warten, entschied Jorgenssen. Er schritt Hand in Hand mit Anema zwischen den gigantischen Bäumen dahin und kam zu dem runden Platz mit der Büste inmitten des Springbrunnens, den er vor langer Zeit — oder auch erst gestern — entdeckt hatte. Das frische Wasser streichelte die Büste. Ihre Züge waren nicht völlig menschlich, aber sie erinnerten Jorgenssen an jemanden. Die Symbolik war unverkennbar: Das Wasser floß über die Büste, wie die Zeit über die Menschen, die sich ihrer erosiven Kraft beugen mußten. Nichts vermochte sie aufzuhalten. Sie konnte zwar umgeleitet werden, aber schließlich folgte sie wieder ihrem eigenen Kurs und vernichtete den, der sie vergewaltigt hatte. Jorgenssen machte ein paar Schritte auf den Brunnen zu, um die Büste näher betrachten zu können. Überlegend musterte er die Züge des steinernen Gesichts, als ihn plötzlich die durch die künstlerische Fertigkeit des Bildhauers leicht veränderte Ähnlichkeit wie ein Schlag traf. Er holte tief Luft. Die Züge der Büste waren die des Dr. Arcimboldo Letemps. Wortlos kehrte er zu Anema zurück. ENDE