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Leif GW Persson
Zweifel
Roman Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs und Nina Hoyer
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Für Mikhail und den ...
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Leif GW Persson
Zweifel
Roman Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs und Nina Hoyer
btb 2
Für Mikhail und den Bären Ungeachtet der Frage, ob Wahrheit absolut oder relativ ist, und ungeachtet der Tatsache, dass viele von uns unablässig auf der Suche nach ihr sind, bleibt sie am Ende doch fast allen verborgen. In der Regel aus Notwendigkeit oder zumindest aus Fürsorge für jene, die sie doch nicht verstehen würden. Die Wahrheit ist kein Allgemeingut. Wir haben ein Problem, das wir lösen müssen, so einfach ist das. Der Professor 3
Mittwoch, der 10. Oktober. Der Hafen von Puerto Pollensa im Norden von Mallorca. Unmittelbar vor sieben Uhr morgens hatte die Esperanza ihren Stammplatz an der Charterbrücke im inneren Hafen verlassen. Ein kleines schönes Boot mit einem schönen Namen. Acht Wochen zuvor, Mittwoch, der 15. August. Hauptquartier des Landeskriminalamtes auf Kungsholmen in Stockholm. »Olof Palme«, sagte der Leiter des Landeskriminalamtes, Lars Martin Johansson. »Ist der Name den Herrschaften bekannt?« Aus einem unerklärlichen Grund wirkte er fast ein wenig ausgelassen, als er das sagte. Er war soeben aus dem Urlaub zurück, war vornehm gebräunt, trug rote Hosenträger und ein Leinenhemd ohne Schlips, ein ungezwungenes Zeichen des Übergangs von Ruhe zu Alltag. Er beugte sich auf seinem Stuhl an der Stirnseite des Besprechungstisches vor und ließ seinen Blick über die anderen vier am Tisch Versammelten wandern. Diese anderen wirkten nicht so begeistert. Hauptkommissarin Anna Holt, Kriminalkommissar Jan Lewin und Kriminalkommissarin Lisa Mattei hatten skeptische Blicke gewechselt, während der vierte im Bunde, Kriminalkommissar Yngve Flykt, der Leiter der Palme-Einheit, die Frage fast peinlich zu finden schien und offenkundig versuchte, das durch eine höflich zerstreute Miene zu überspielen. »Olof Palme«, wiederholte Johansson, jetzt in eindringlicherem Tonfall. »Klingelt es da denn nirgendwo?« Es war Lisa Mattei, die schließlich das Wort ergriff. Zwar die Jüngste in der Runde, aber schon lange an die Rolle der Klassenbesten gewöhnt. Zuerst hatte sie dem Leiter der Palme-Einheit einen verstohlenen Blick zugeworfen, doch der Leiter hatte nur müde genickt, dann hatte sie in ihren Notizblock geschaut, der nicht wie sonst mit irgendwelchen Notizen oder den üblichen Kritzeleien gefüllt war, mit denen sie ihn sonst vollschmierte, ganz unabhängig davon, worüber gesprochen wurde. Danach hatte sie in zwei Sätzen 4
Olof Palmes politische Karriere und in vier Sätzen sein Ende zusammengefasst: »Olof Palme, Sozialdemokrat und Schwedens bekanntester Politiker der Nachkriegszeit. Zweimal Ministerpräsident, von 1969 bis 1976 und von 1982 bis 1986. Ermordet an der Kreuzung SveavägTunnelgata mitten in Stockholm vor einundzwanzig Jahren, fünf Monaten und vierzehn Tagen. Es war Freitag, der 28. Februar 1986, zwanzig Minuten nach elf Uhr abends. Er wurde mit einem Schuss von hinten getroffen und war vermutlich sofort tot. Ich war elf Jahre alt, als es passiert ist, deshalb befürchte ich, dass ich nicht viel mehr beizusteuern habe.« »Sag das nicht«, hatte Johansson mit breitem norrländischem Dialekt geantwortet. »Unser Opfer war Ministerpräsident und ein feiner Kerl, und wie oft gibt es an einem solchen Ort ein solches Mordopfer? Ich bin zwar nur der Chef der Zentralen Kriminalpolizei, aber ich bin auch ein ordnungsliebender Mensch und im höchsten Grad allergisch gegen unaufgeklärte Fälle«, hatte er hinzugefügt. »Ich nehme die geradezu persönlich, falls ihr euch jetzt fragt, warum ihr hier sitzt.« Diese Frage hatte sich niemand gestellt. Zugleich wirkte niemand sonderlich enthusiastisch. Aber jedenfalls hatte alles so angefangen. Wie das in solchen Fällen meistens ist. Ein paar Polizeibeamte sitzen an einem Tisch und reden über einen Fall. Ohne Blaulicht, ohne Sirenen und definitiv ohne gezückte Dienstwaffen. Beim ersten Versuch allerdings, vor gut zwanzig Jahren, hatte es so angefangen, wie es fast nie anfängt. Mit Blaulicht, Sirenen und gezückten Dienstwaffen. Das hatte nichts geholfen. Es hatte ein böses Ende genommen. Danach hatte Johansson seine Auffassung davon dargelegt, was nun zu tun sei. Er sprach von seinen Motiven und wie das alles rein praktisch angegangen werden sollte. Wie schon so oft hatte er sich dabei auf seine persönliche Erfahrung gestützt und keinerlei Anflüge von echter oder falscher Bescheidenheit gezeigt. »Nach meiner persönlichen Erfahrung ist es manchmal sinnvoll, wenn ein Fall sozusagen ins Stocken geraten ist, ein paar neue Leute dazuzuholen, die alles gewissermaßen mit unverfälschtem Blick sehen können. Man sieht leicht den Wald vor lauter Bäumen nicht«, sagte Johansson. 5
»Ich hab schon verstanden«, erwiderte Anna Holt und klang schnippischer, als sie wollte. »Aber wenn du entschuldigst...« »Natürlich«, fiel Johansson ihr ins Wort. »Lass mich nur erst den Satz beenden.« »Ich bin ganz Ohr«, sagte Holt. Ich lern das einfach nie, dachte sie. »Wenn man ein wenig in die Jahre kommt, so wie ich, dann steigt leider das Risiko, dass man sich nicht mehr erinnern kann, was man sagen wollte, wenn man unterbrochen wird«, erklärte Johansson und lächelte Holt noch freundlicher an. »Wo war ich gleich noch stehengeblieben?«, fragte er. »Wie du die ganze Sache aufziehen willst«, warf Mattei ein. »Unsere Ermittlung, meine ich«, fügte sie erläuternd hinzu. »Vielen Dank, Lisa«, erwiderte Johansson. »Hab vielen Dank dafür, dass du einem alten Mann auf die Sprünge hilfst.« Wie macht er das nur?, dachte Holt verwundert. Und ausgerechnet bei Lisa? Laut Johansson ging es nicht darum, eine neue Palme-Einheit ins Leben zu rufen, und die Ermittler, die zum Teil ihre gesamte Zeit im Dienst bei der Kriminalpolizei an dem Fall gearbeitet hatten, sollten natürlich ungestört weitermachen können. »Das möchte ich von Anfang an klarstellen, Yngve«, sagte Johansson und nickte dem Leiter der Palme-Einheit freundlich zu, doch der wirkte eher besorgt als erleichtert. »Nee, nee«, sagte Johansson. »So was könnt ihr gleich vergessen. Ich hatte mir etwas viel Schlichteres und weniger Offizielles vorgestellt. Ich möchte ganz einfach eine zweite Meinung einholen. Keine neue Ermittlung. Nur eine zweite Meinung von ein paar klugen Kolleginnen und Kollegen, die den Fall mit unverfälschtem Blick betrachten können. - Ich möchte, dass ihr die Ermittlungsakten durchgeht«, fügte er hinzu. »Gibt es etwas, was wir nicht getan haben, aber hätten tun sollen? Gibt es im Material ein Detail, das wir übersehen haben und das wir uns jetzt vornehmen sollten? Das wir uns immer noch vornehmen können? Wenn ja, dann will ich das wissen, so einfach ist das.« Ganz abgesehen von seinen Hoffnungen, die er mit dem letzten Punkt verband, war die darauffolgende Stunde mit der Diskussion von Einwänden seiner Kollegen verbracht worden. Die Einzige, die 6
nichts sagte, war Lisa Mattei, aber als die Besprechung zu Ende war, war ihr Notizblock vollgekritzelt wie immer. Zum einen mit den Kommentaren der anderen, zum anderen mit Matteis üblichen Kritzeleien und Krakeleien, die nichts mit den Äußerungen der anderen zu tun hatten. Als Erster meldete sich Kriminalkommissar Jan Lewin zu Wort, der sich nach einem einleitenden und vorsichtigen Räuspern schnell auf Johanssons ausschlaggebendes Motiv konzentrierte, nämlich das Bedürfnis, den Fall mit neuen Augen zu sehen. Die Idee als solche sei ganz hervorragend. Er selbst habe sich oft dafür eingesetzt. Nicht zuletzt während seiner Zeit als Leiter der »cold cases«Einheit, die sich mit alten Fällen befasste, bei denen man ins Stocken geraten war. Aus ebendiesem Grunde sei aber gerade er für diese Aufgabe nicht geeignet. In den ersten Jahren der Ermittlungen im Palmefall hatte Lewin nämlich die Hauptverantwortung für das Sammeln von großen Teilen des Ermittlungsmaterials getragen. Erst, als die Zentrale Kriminalpolizei die Ermittlungen übernommen hatte, war er zu seinen alten Aufgaben bei der Kriminalpolizei zurückgekehrt. Jahre später hatte er sich zur Zentralen Kriminalpolizei versetzen lassen und dort eine Zeitlang die Palme-Einheit bei der Registrierung und Beurteilung von Hinweisen aus der Bevölkerung unterstützt. »Ich weiß ja nicht, ob der Chef sich daran erinnert, aber der Ermittlungsleiter, also der damalige Chef der Bezirkspolizei, Hans Holmer, hatte Unmengen von Informationen zusammengetragen, die nicht unmittelbar mit dem Mord zu tun hatten, die sich aber manchmal doch als wertvoll erweisen könnten.« Lewin nickte zu Lisa Mattei hinüber, die ja zum Zeitpunkt des Geschehens noch ein kleines Mädchen gewesen war. »An den damaligen Polizeichef kann ich mich erinnern«, bestätigte Johansson. Unseligen Angedenkens, dachte er. Aber das meiste von seinen Schandtaten habe ich wohl verdrängen können. »Was ist damals auf deinem Tisch gelandet, Jan?« Ein ganzer Haufen von bestenfalls ungeklärtem Nutzen, fand Lewin. »Alle Hotelregister aus Stockholm und Umgebung aus der Zeit vor dem Mord. Alle Reisen ins und aus dem Land, die sich durch die übliche Pass- und Grenzkontrolle belegen lassen, alle Falschparker aus dem Großbereich Stockholm zum Zeitpunkt des Mor7
des, alle Geschwindigkeitsübertretungen und andere Verkehrsvergehen im ganzen Land am Mordtag, am Tag vor und am Tag nach dem Mord, alle anderen Verbrechen und Festnahmen in Stockholm aus der Zeit vor der Tat. Wir hatten alles von Trunkenheit, Beleidigung über Einbruch und sonstige geringe Delikte, die am fraglichen Tag gemeldet wurden. Auch Unfallberichte haben wir gesammelt. Dazu alle Selbstmorde und ungeklärten Todesfälle, die sich vor und nach dem Mord an Palme ereignet hatten. Ich weiß, als ich die Einheit verlassen habe, waren sie noch immer damit beschäftigt. Es war ganz schön viel, wie ihr euch sicher vorstellen könnt. Hunderte von Kilo an Papier, zehntausende Seiten, und ich rede nur von dem, was während meiner Zeit zusammengetragen wurde.« »Der breite und bedingungslose Ermittlungsansatz«, kommentierte Johansson und klang dabei verdächtig zufrieden. »Ja, so nennt man das ja«, sagte Lewin, »und manchmal bringt es ja auch etwas, aber in diesem Fall blieb fast alles unbearbeitet liegen. Wir hatten einfach keine Zeit, den Hinweisen nachzugehen. Ich habe das überflogen, was hereinkam, und war vollauf mit den Details beschäftigt, die mir sofort ins Auge stachen. Neunzig Prozent aller Unterlagen wanderten direkt wieder in die Kartons, in denen sie von Anfang an gelegen hatten.« »Gib mal ein paar Beispiele«, forderte ihn Johansson auf. »Was hat dir ins Auge gestochen, Lewin?« »Ich erinnere mich unter anderem an vier Selbstmorde«, antwortete Lewin. »Der erste geschah nur wenige Stunden nach dem Mord am Ministerpräsidenten. Ich kann mich so genau daran erinnern, denn als die Unterlagen auf meinem Tisch landeten, hatte ich das Gefühl, gleich würde etwas in Flammen aufgehen.« Lewin schüttelte nachdenklich den Kopf. »Der Selbstmörder hatte sich im Partykeller seines Hauses erhängt. Ein Frührentner, ehemals Nachtwächter, der auf Ekerö zwei Kilometer außerhalb von Stockholm wohnte. Er war der Nachbar eines Kollegen, und dem verdankte ich diesen Hinweis. Außerdem hatte der Wächter einen Waffenschein, zu allem Überfluss für einen Revolver, der sehr wohl mit dem übereinstimmen konnte, was wir damals über die Mordwaffe wussten. Seine Bekannten bezeichneten ihn unisono als etwas wunderlich. Eigenbrötler, seit ein paar Jahren geschieden, Alkoholprobleme, das Übliche. Kurz gesagt, es sah ziemlich gut aus, aber er hatte ein Alibi für den Tatabend. Einer8
seits hatte er sich mit zwei anderen Nachbarn gestritten, als die gegen zehn Uhr abends ihren Hund Gassi geführt hatten. Danach hatte er seine Exfrau von zuhause aus angerufen, insgesamt dreimal, wenn ich mich nicht irre, und sie angepöbelt, ungefähr zu dem Zeitpunkt, zu dem Palme erschossen wurde. Es war für mich überhaupt kein Problem, ihn abzuschreiben. Seinen Revolver haben wir übrigens bei der Hausdurchsuchung gefunden. Wir haben ihn sogar von der Technik untersuchen lassen, obwohl wir gleich sehen konnten, dass es das falsche Kaliber war.« »Und andererseits?« Johansson sah seinen Kollegen fast gierig an. »Nein«, sagte Lewin. »Auch auf die Gefahr hin, dass ich dich enttäuschen muss. Ich habe das damals alles sehr genau genommen. Ich weiß noch, als die Medien anfingen, wegen der so genannten Polizeispur Lärm zu schlagen, dass also Kollegen von uns Palme ermordet haben sollten, damals habe ich mich auf eigene Faust in unser Material vertieft und diese Behauptung überprüft. Alle Parksünden und andere Verkehrsvergehen, bei denen Fahrzeug oder Täter etwas mit Kollegen zu tun hatten, ob die nun im Dienst waren oder nicht.« »Aber auch dabei ist nichts herausgekommen«, fasste Johansson zusammen. »Nein«, sagte Lewin. »Abgesehen von ziemlich phantasievollen Erklärungen, warum ausgerechnet dieser Kollege sein Bußgeld nicht bezahlen musste oder warum jener Wagen an einem so seltsamen Ort gelandet war.« »Genau«, sagte Johansson. »Immer dieselben Weibergeschichten, wenn du mich fragst. Aber trotzdem wäre es doch sicher interessant für dich, dich noch einmal diesen alten Kartons zu widmen? Jetzt, wo du alles aus größerer Distanz betrachten kannst, meine ich. Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass dir diese Aufgabe nicht ganz unangenehm sein würde. Und du könntest auch noch einen Blick auf alles andere werfen, wenn du schon dabei wärst, meine ich.« »Mit einer gewissen Einschränkung, was den unverstellten Blick angeht«, sagte Lewin und hörte sich positiver an, als er vorgehabt hatte. »Ja, vielleicht. Die Idee an sich ist ja gar nicht schlecht.«
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Feigling, dachte Anna Holt, die keineswegs vorhatte, es Johansson ebenso leicht zu machen. »Bei allem Respekt, Chef, auch wenn ich viel von dem Ansatz mit den frischen Augen halte und auch wenn ich nie mit dieser Ermittlung zu tun hatte, so halte ich trotzdem nichts von der Idee«, sagte Holt. Jetzt ist es raus, dachte sie. »Ich bin ganz Ohr, Anna«, sagte Johansson mit dem Blick, den er sich von seinem ersten Elchhund abgeguckt hatte. Ein Blick, der sich ganz natürlich aus ungeteilter positiver Aufmerksamkeit ergibt. Wenn sie beide auf der Jagd eine Pause gemacht und er dem Hund befohlen hatte, brav sitzen zu bleiben, und kurz bevor er ihm eine Scheibe Faluwurst aus seiner Proviantbox gab. »Wie meinst du das?« »Ich meine, dass ich in der Geschichte der schwedischen Polizei keinen sorgfältiger bearbeiteten Fall kenne. Es wurde immer wieder in alle vorstellbaren und unvorstellbaren Richtungen ermittelt. Ohne technische Beweise, die diesen Ausdruck verdient hätten. Mit Zeugen, die schon vor zwanzig Jahren verschlissen wurden und von denen viele sicherheitshalber schon tot oder inzwischen unansprechbar sind. Der einzige Tatverdächtige, der diese Bezeichnung überhaupt verdiente, ich denke an Christer Pettersson, aber das ist dir sicher klar, wurde vor fast zwanzig Jahren vom Amtsgericht in Stockholm verurteilt, um dann ein halbes Jahr später vom Obersten Gerichtshof wieder freigesprochen zu werden. Derselbe Pettersson, der vor zehn Jahren noch einmal angeklagt werden sollte, es aber nicht einmal zu einer Gerichtsverhandlung kam. Derselbe Pettersson, der vor einigen Jahren gestorben ist. Als wäre das, was vorher passiert ist, nicht Grund genug gewesen, die Ermittlungen gegen ihn einzustellen.« »Das erinnert mich an diesen klassischen Sketch, Anna. Ich glaube, der hat irgendeinen Preis als bester Fernsehsketch der Welt gewonnen. Diese Monty-Python-Geschichte über den toten Papagei, erinnerst du dich?«, fragte Johansson. »War das nicht ein Norwegian Blue? So hieß der doch? Der Papagei, meine ich? - This parrot is dead. Die Szene, wo der empörte Kunde in der Zoohandlung steht und seinen toten Papagei auf den Tresen knallt«, erzählte ein strahlender Johansson und schlug gleichzeitig bekräftigend mit der Faust auf den Tisch. 10
»Verstanden!«, sagte Holt. »Wenn du so willst. Diese Ermittlung ist tot. Wie Monty Pythons Papagei.« »Vielleicht ist sie aber auch nur ein bisschen müde«, sagte Johansson. »Sagt das nicht der Verkäufer? Als der Kunde sich beschweren will. Der ist nicht tot, nur ein bisschen müde. Mir ist die Idee gekommen, dass es hier auch so sein könnte. Nicht tot, nur ein bisschen müde.« Komm mir ja nicht so, dachte Holt. Sich geschlagen zu geben war das Letzte, was sie vorhatte, egal, was ihr Chef auch für Verschleierungstaktiken und leicht durchschaubare Witze zu servieren gedachte. »Die Ermittlungen im Fall Palme sind nicht ins Stocken geraten«, sagte Holt deshalb. »Die Palme-Ermittlung ist ausgelutscht, leergesaugt. Sie ist kein cold case, nicht mal ein eiskalter Fall. Die Ermittlungen sind tot.« »Du brauchst dich nicht so aufzuregen, Holt. Ich höre sehr gut, was du sagst«, sagte Johansson, der plötzlich überhaupt nicht mehr lieb und freundlich klang. »Ich selbst habe den Eindruck, dass sie nur ein bisschen müde sind. Dass man sie vielleicht mit neuen Augen ansehen sollte. Dass man von der guten alten polizeilichen Grundregel ausgeht, die in solchen Fällen immer gilt.« »Dass man das Beste aus einer Situation machen muss«, sagte Holt, die ihren Johansson schon seit etlichen Fällen und Jahren kannte. »Genau«, sagte Johansson und lächelte so freundlich wie zuvor. »Schön zu hören, dass wir einer Meinung sind, Anna.« Als Letzter meldete sich Yngve Flykt zu Wort, der Leiter der Palmegruppe. Wenn er etwas zu sagen gehabt hätte, dann hätte diese Besprechung niemals stattgefunden. Er war ein friedliebender Mann, und was er über seinen Vorgesetzten gehört hatte, vor allem was er mit ungehorsamen Mitarbeitern anstellte, hatte ihn von Anfang an jeden Mut verlieren lassen. Bei allem Respekt, er selbst sei natürlich ein warmer Anhänger der vorgetragenen Grundidee und gleichermaßen froh und dankbar über die klare und entschiedene Ansage, dass Veränderungen bei einer eingespielten und funktionierenden Organisation nicht einmal in Frage kommen sollten, bei allem Respekt vor diesem und allem anderen, was er in der Eile jetzt vergessen 11
habe, wolle er doch und natürlich mit den besten Absichten auf einige praktische Probleme hinweisen, die auch Kollege Lewin bereits erwähnt habe... »Worauf willst du eigentlich hinaus?«, fiel Johansson ihm ins Wort. »Auf unser Ermittlungsmaterial«, sagte der Leiter der Palmeermittlung und sah Johansson fast flehend an. »Das ist kein normales Material, sondern eine ziemlich große Angelegenheit, wenn man das so sagen kann. Ich weiß nicht, ob du schon einmal bei uns unten warst und es dir angesehen hast, aber es ist einfach kolossal. Gigantisch. Wie du vielleicht weißt, so belegt es sechs Räume in dem Gang, wo unsere Abteilung untergebracht ist. Wir haben schon fünf Zwischenwände weggenommen, und bald wird wohl eine nächste notwendig sein. Wir stapeln Ordner und Kartons vom Boden bis zur Decke.« »Ich bin ganz Ohr«, sagte Johansson. Er legte die Fingerspitzen aneinander, formte mit seinen langen Fingern ein Gewölbe und ließ sich in seinem Sessel zurücksinken. Flykt, dachte er. Flucht. Muss angeboren sein. »Wenn meine Kollegen von der Einheit und ich das richtig verstanden haben, dann ist es sogar das umfangreichste Ermittlungsmaterial in der Weltgeschichte. Angeblich ist es sogar umfassender als das Material der Voruntersuchung zum Mord an Kennedy und als das zur Ermittlung im Attentat gegen diesen Jumbojet über Lockerbie in Schottland.« »Ich höre, was du sagst«, fiel Johansson ihm ins Wort. »Aber wo ist das Problem? Große Teile davon sind doch mittlerweile im Computer gespeichert.« »Natürlich, und jeden Tag wird es mehr, aber das ist doch nichts, wo man sich einfach hinsetzt und darin herumblättert. Wir reden hier von ungefähr einer Million DIN-A 4-Seiten. Das meiste sind Vernehmungsprotokolle, und es gibt tausende davon, die ein Dutzend und manchmal noch mehr Seiten lang sind. Ganz zu schweigen von allen Kartons, in denen wir das unterbringen, was sich nicht in einem Ordner verstauen lässt. In der letzten Regierungskommission, und das ist bestimmt bald zehn Jahre her, hat irgend so ein Experte ausgerechnet, dass ein qualifizierter Mitarbeiter auf einer Vollzeitstelle mindestens zehn Jahre benötigen würde, um das Material durchzusehen. Wenn du mich fragst, dann glaube ich, dass es 12
noch länger dauern würde, und ständig kommen ja neue Informationen dazu.« »Ich höre, was du sagst«, sagte Johansson und machte mit der rechten Hand eine leicht abwehrende Geste. »Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, Material auszusortieren? Wenn ich nicht alles vollkommen missverstanden habe, dann gibt es doch zum Beispiel zehntausende von Seiten mit den üblichen Hinweisen von Idioten. Die müsste man doch einfach ad acta legen können?« »Und das würde nicht reichen, fürchte ich«, wandte Flykt ein. »Es sind vermutlich noch weit mehr Hinweise von Idioten darunter. Und das Hauptproblem bei denen ist doch, das wissen wir alle, dass manche anfangs total überzeugend klangen. Ich habe vor einiger Zeit ein Interview mit unserem Professor aus den Reihen der Zentralen Polizeileitung gelesen, und da hat er behauptet, wenn wir plötzlich den Palmemord aufklärten und das Ergebnis vorläge, dann würde sich herausstellen, dass neunundneunzig Prozent des gesamten Ermittlungsmaterials nichts mit dem Fall zu tun hatten und dass uns fast alles, was wir gesammelt haben, auf eine falsche Fährte geführt hat. Ausnahmsweise sind wir da ganz einer Meinung.« »Das ist übel«, sagte Johansson und grinste. »Zu hören, dass du mit so einem einer Meinung bist, meine ich. Was ich zu sagen versuche, ist nur, dass es natürlich möglich sein muss, das Material zu sortieren. Für kluge Kollegen, die es mit neuen Augen betrachten. Ich selbst bin im Laufe der Jahre gut zurechtgekommen mit Tathergangsbeschreibungen, also den wichtigsten Augenzeugen, dem Bericht der Spurensicherung und dem rechtsmedizinischen Protokoll.« Johansson zählte an den Fingern ab, während er das sagte, und lächelte liebenswürdig, als er drei hochhielt. »Außerdem«, sagte er dann, »gibt es gerade in diesem Fall doch sicher auch die eine oder andere nette Zusammenfassung, die uns über das Notwendige zu Wo, Wann und Wie aufklärt. Wer das Opfer war, scheinen ja sogar die Kollegen von der Sitte bereits zwei Minuten nach der Tat begriffen zu haben.« »Das stimmt.« Flykt nickte zustimmend und wirkte fast erleichtert, als ob er plötzlich wieder festeren Boden unter den Füßen spüren würde. »Unsere Profiler haben in Zusammenarbeit mit Kollegen vom FBI eine Fallanalyse und ein Täterprofil angefertigt. Außerdem gibt es mehrere andere Analysen von externen Fachleuten, 13
die wir hinzugezogen haben. Analysen der Tat in ihrem Grundriss und von verschiedenen Details. Zum Beispiel geht es um die Mordwaffe und die beiden Kugeln, die am Tatort gesichert worden sind. Es gibt da eine ganze Menge von Fragen.« »Natürlich gibt es das«, sagte Johansson und hob die Hände in derselben festen Überzeugung wie ein Prediger aus seiner ängermanländischen Kindheit. »Worauf warten wir also noch?« Kaum hatte Johansson vom Leiter der Palmegruppe abgelassen, fingen die Kollegen an, mit den Stuhlbeinen zu scharren, aber Johansson ignorierte ihre Hoffnungen. »Ich begreife ja, dass die Herrschaften am liebsten sofort anfangen würden«, sagte Johansson und grinste, »aber ehe wir auseinandergehen, möchte ich doch noch eins betonen. Ein mahnendes Wort mit auf den Weg geben.« Er nickte nachdrücklich und schaute alle nacheinander mit düsterer Miene an. »Ihr dürft mit keinem Schwein über das Gesagte reden. Ihr dürft miteinander nur so viel darüber reden, wie es nötig ist, um das tun zu können, was ihr zu tun habt. Wenn ihr aus demselben Grund mit anderen reden müsst, habt ihr zuerst meine Genehmigung einzuholen.« »Was soll ich meinen Mitarbeitern sagen?« Der Leiter der Palmegruppe sah nicht glücklich aus. »Ich meine...« »Nichts«, fiel Johansson ihm ins Wort. »Wenn irgendjemand Fragen stellt, dann schick ihn oder sie zu mir. Das müsste dir doch klarer sein als allen anderen«, fügte er hinzu. »Erinnere dich an die Hölle, die euch die Medien in all diesen Jahren bereitet haben. Ich will keine Kollegen haben, die durch die Gegend rennen und eine Menge Unsinn reden. Was glaubst du, woher die Medien den ganzen Dreck haben, den sie schreiben? Das Letzte, was ich in der Zeitung lesen will, wenn ich morgens die Augen aufmache, ist, dass eine neue Ermittlung im Mordfall Olof Palme eingeleitet worden ist.« »Aus diesem Grund fände ich etwas Information für meine Leute nicht so schlecht. Um eine Menge unnötiges Gerede zu vermeiden, meine ich.« Flykt sagte das mit fast flehendem Blick. »Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel, dass wir sagen, du hättest Holt, Lewin und Mattei gebeten, sich die Einträge anzusehen. Ich meine, solche Arbeiten werden doch andauernd ausgeführt, und das oft von Kol14
legen außerhalb der Gruppe. Oder wir sagen, es handle sich um eine rein administrative Maßnahme.« »Wie gesagt«, sagte Johansson. »Kein Wort zu niemandem. Schicke alle Neugierigen zu mir, dann werde ich ihren Wissensdurst löschen, und wenn sie dann immer noch nicht zufrieden sind, werde ich ihnen andere Aufgabenbereiche zuweisen können. Alle Anwesenden sehen sich in einer Woche wieder. Selbe Zeit, selber Ort. Noch Fragen?« Niemand hatte Fragen, und als sie sich trennten, nickte Johansson erst kurz dem Kollegen Flykt zu. Danach lächelte er Lisa Mattei freundlich an, bat um ein Exemplar ihres Besprechungsprotokolls und ermahnte sie, auf sich aufzupassen. Holt wurde vollständig ignoriert, und als die anderen den Raum verließen, zog er Lewin zur Seite. »Eins stört mich bei diesem Fall«, sagte Johansson. »Dass ihm von Anfang ein Gedankenfehler zugrunde liegt?«, antwortete Lewin, der schon mehr als einmal Johansson ungefähr dasselbe hatte sagen hören. »Genau«, nickte Johansson zustimmend. »Ein einsamer Irrer, der ganz zufällig mitten in der Nacht im Stadtzentrum einem vollkommen unbewachten Ministerpräsidenten über den Weg läuft und der außerdem ebenso zufällig einen spanferkelgroßen Revolver in der Tasche hat. Das scheinen offenbar die meisten zu glauben, sogar die Mehrheit unserer lieben Kollegen. Eine bescheidene Frage von einem Mann im gesetzten, mittleren Alter. Wie häufig kommt so etwas vor?« »Ich verstehe, was du meinst«, sagte Lewin. »Gut«, sagte Johansson. »Dann sehen wir uns in einer Woche wieder, und wenn du den Quälgeist vorher ausfindig machst, darfst du dich gern bei mir melden.«
2 Nach der Besprechung mit Johansson kehrte Anna Holt in ihr Zimmer im nationalen Verbindungsbüro zurück, wo sie seit einem guten Jahr als Kommissarin arbeitete. Sie schloss sorgfältig die Tür, ehe sie sich hinter den Schreibtisch setzte und dreimal tief durchatmete. Danach fluchte sie laut und ausführlich über erwachsene Jungs mit zwanzig Kilo Übergewicht, roten Hosenträgern und der 15
Doppelrolle als norrländischer Bauernkomiker und Chef der Zentralen Kriminalpolizei des Landes. Das verschaffte ihr ein wenig Erleichterung, aber nicht so viel, wie sie gehofft hatte, und als Lisa Mattei eine halbe Stunde später an ihre Tür klopfte, war sie deshalb immer noch schlecht gelaunt. »Wie sieht's aus, Anna?«, sagte Mattei. »Du kommst mir ein wenig niedergeschlagen vor.« »Wie kommst du denn darauf?«, erwiderte Holt schroff. »Mach dir bloß nicht so viele Gedanken über Johansson«, entgegnete Mattei. »Johansson ist, wie er ist, aber er ist nun einmal Johansson. Ich habe mit Flykt geredet, und wir können einfach loslegen. Er besorgt uns eigene Passierscheine.« »Höchste Zeit, die Situation zu mögen«, sagte Holt. »Höchste Zeit, einen toten Papagei wieder zum Leben zu erwecken.« »Genau«, nickte Mattei. »Und du weißt, man kann einer Katze auf vielerlei Weise das Fell abziehen, wie Lars Martin sagen würde.« »Schon gut, schon gut, schon gut«, sagte Holt, seufzte und stand auf. Jetzt sind wir also plötzlich per Lars Martin mit dem besten Johansson aller Zeiten, dachte sie. Und ausgerechnet Lisa. Auch Lewin war an seinen Schreibtisch zurückgekehrt. Dort saß er dann mindestens eine halbe Stunde und machte sich Vorwürfe, weil er schon wieder in einer Situation gelandet war, die er doch eigentlich hätte vermeiden können. Und noch dazu mit seinem Vorgesetzten, Lars Martin Johansson, dem er ansonsten um jeden Preis aus dem Weg zu gehen versuchte. Der Mann, der um Ecken schauen kann, dachte Lewin traurig. So wurde Johansson von vielen Kollegen genannt, vor allem dann, wenn sie sich ein paar Gläser zu viel genehmigt hatten. Der sagenumwobene Lars Martin Johansson aus dem nördlichen Ädalen in Ängermanland. Polizist und Jäger und mit demselben Sinn für Gerechtigkeit wie auf der Jagd, und zwar unabhängig, ob er es mit Menschen aus Fleisch und Blut oder mit unschuldigen Tieren zu tun hatte. Johansson mit seiner großen Nase und seiner unwahrscheinlichen Fähigkeit, den kleinsten Hauch menschlicher Schwäche wittern zu können. Mit seinem jovialen Auftreten und seiner menschlichen Wärme, die er ganz nach Lust und Laune ein- und ausschalten konnte. Schlau, hart und vollkommen rücksichtslos, wenn es darauf 16
ankam, sobald seine Beute in Sicht war und der Mühe wert erschien. Dann beschlich ihn sein schlechtes Gewissen. Johansson war schließlich ein Kollege, außerdem sein Vorgesetzter, und was für ein Recht hatte er, einen Mitmenschen zu verurteilen, zu dem er niemals engeren Kontakt gehabt hatte und den er eigentlich überhaupt nicht gut kannte? Höchste Zeit, die Situation zu mögen, dachte Lewin. Griff zum Telefon auf seinem Schreibtisch und tastete Flykts Durchwahl ein. »Willkommen im Allerheiligsten«, sagte Flykt freundlich und nickte zu dem Gebirge aus Papieren hinüber, das ihn umgab. Ordner und Kartons, die die Wände von oben bis unten bedeckten. Stapel von Kartons, die auf dem Boden zu peniblen Reihen geordnet waren. Ein Zimmer von knapp siebzig Quadratmetern, das viel zu klein zu sein schien. »Ja, Jan, du bist ja nicht zum ersten Mal hier«, sagte Flykt und wandte sich an Lewin, »aber für dich, Anna, und für dich, Mattei, ist es das erste Mal, oder?« »Ich war schon mal bei einer Führung hier«, erzählte Holt. »Das ist zwar einige Jahre her, aber die Menge scheint seitdem nicht kleiner geworden zu sein.« Wenn Johansson hier gewesen ist, dann ist er entweder blind oder blöd, dachte sie. »Eine Frage«, sagte Holt zu Flykt. »Hat Johansson dieses Material hier gesehen? Bei unserer Besprechung heute Morgen hatte ich den Eindruck nicht.« »Das dachte ich auch zuerst«, antwortete Flykt, »aber vorhin hat einer meiner Kollegen erwähnt, dass Johansson offenbar vor seinem Urlaub hier vorbeigeschaut hat. Aber da ich da selbst frei hatte, habe ich diesen Besuch verpasst. Außerdem habe ich den Verdacht, dass er sich vor allem die Teile des Materials angesehen hat, die bei der Säpo lagern. Ich weiß noch, dass der Antrag auf Vervollständigung einlief, als er dort als operativer Chef tätig war. Aber das weißt du wahrscheinlich besser als ich, du hast doch auch dort gearbeitet. Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass er als Sachverständiger in sämtliche Regierungskommissionen berufen war, die untersuchen sollten, wie wir einfacheren Polizisten dieser Einheit uns im Laufe der Jahre verhalten haben. Wenn du mich fragst, dann weiß Johansson vermutlich mehr als die meisten von uns.« 17
»Niemand weiß, wie der Hase läuft«, erwiderte Holt und lächelte. »Wie wahr, wie wahr«, stimmte Flykt ihr zu und lächelte ebenfalls. »Noch Fragen?« Dabei sah er Mattei an. Oh, Gott, dachte Lisa Mattei, der es schwerfiel, ihre Blicke von den Unterlagen loszureißen. Das wird wie die Besteigung eines Berges. Und ich hab Höhenangst. »Für mich ist das hier der erste Besuch«, sagte sie. »Es wird interessant zu sehen, was ihr alles zusammengetragen habt.« Wie eine Bergbesteigung, dachte sie noch einmal, während sie ihren Blick über die Ordner wandern ließ. »Doch, im Laufe der Jahre ist so einiges zusammengekommen, und noch heute kommt jede Woche ein neuer Ordner dazu. Meistens unbrauchbar, wenn ihr mich fragt«, antwortete Flykt. »Das Mindeste, was ich tun kann, ist wohl, euch viel Glück zu wünschen«, fügte er hinzu. »Wenn ihr etwas findet, das ich und die Kollegen übersehen haben, wird sich niemand mehr freuen als wir.« Klingt wie ein ziemlich risikoloses Versprechen, dachte Holt, die sich mit einem Lächeln und einem Nicken begnügte. Wunder gibt es immer wieder, dachte Lewin, sagte das aber natürlich nicht. Und dabei leide ich doch an Höhenangst, dachte Mattei, aber sie hatte wirklich nicht vor, ihren Kollegen das zu beichten. Lars Martin Johansson war bester Laune. Er war ganz im Allgemeinen und vor allem mit sich selbst äußerst zufrieden. Am zufriedensten war er mit seinem Entschluss, endlich etwas gegen dieses polizeiliche Elend zu unternehmen, das unter dem Namen Palme-Einheit lief. Seit mehr als zwanzig Jahren war sie der Zentralen Kriminalpolizei zugeteilt, seit zwei Jahren unter seiner Leitung und darum höchste Zeit, dass etwas passierte. Im vergangenen Jahrzehnt, nach dem letzten Reinfall mit dem mittlerweile verschiedenen »Palmemörder« Christer Pettersson, hatte sich die mit dem Fall beschäftigte Einheit meistens anderen Dingen gewidmet. Die Identifizierung der schwedischen Opfer der Tsunamikatastrophe in Thailand hatte mehr als ein Jahr lang alle ihre Kräfte beansprucht. Danach waren ähnliche Aufgaben über die Ermittler geradezu hereingebrochen. Schwedische Staatsbürger, die im Ausland politischen Attentaten, Naturkatastrophen und normalen 18
Unfällen zum Opfer gefallen waren. Das wenige, was in der Zwischenzeit im Palmefall geschah, bestand hauptsächlich darin, den Kreis aus Privatermittlern, Besserwissern und solchen Leuten im Auge zu behalten, die innerhalb der Polizei als »Verstrahlte« bezeichnet wurden. Alle die, die unablässig ihre Hilfe aufdrängten und außerdem zu erfahren verlangten, was er und seine Kollegen herausgefunden hatten. Aber so geht das natürlich nicht, dann können wir den ganzen Quatsch auch gleich lassen, dachte Johansson. Danach hatte er seinen Entschluss gefasst. Kaum hatte Flykt sie verlassen, schlug Holt vor, sich zu einer kleinen Unterredung unter vier Augen zurückzuziehen. Vielleicht nicht im Raum mit den Palmeunterlagen, die sie umgebenden Papierberge erfüllten sie mit einem rein physischen Unbehagen, was sie natürlich nicht sagte, sondern sie schlug einen Ort vor, wo sie sich bequemer hinsetzen könnten. Die anderen hatten keine Einwände gehabt. Erst hatten sie sich Kaffee geholt, dann hatten sie sich in ein leeres Besprechungszimmer gesetzt und die Tür hinter sich zugezogen. »Also«, sagte Holt. »Hier sitzen wir nun. Höchste Zeit, dass wir anfangen, die Situation zu mögen, auch im Hinblick darauf, was uns bevorsteht. Die gute Nachricht ist wohl, wenn wir das Material aufteilen, dann wird es für jeden weniger zu lesen sein.« »In dem Fall wollte ich vorschlagen, dass ich mir das Ereignis an sich vornehme«, sagte Lewin. »Das, was Johansson erwähnt hat, die Zeugenaussagen vom Tatort, die Berichte der Spurenuntersuchung und das rechtsmedizinische Protokoll. Zumindestens dachte ich, ich könnte damit anfangen.« »Ich habe absolut keine Einwände«, sagte Holt. »Jetzt du, Lisa«, sagte sie dann. »Sehnst du dich nach irgendeinem besonderen Bruchstück der Ermittlungen? Jetzt hättest du Gelegenheit dazu.« »Ich weiß zu wenig über den Fall«, wandte Mattei ein. »Ich müsste mir einen besseren Überblick verschaffen. Über die vielen Spuren, oder vielmehr Arbeitshypothesen, um ganz korrekt zu sein, von denen ich gehört habe, seit ich bei der Polizei angefangen habe. Ja, ihr wisst schon. Kurdische Terroristen und einsame Irre und geheimnisvolle Waffengeschäfte und die so genannte Polizeispur, dass Kollegen involviert waren.« 19
»Ausgezeichnet«, sagte Holt. »Ich glaube nicht, dass es dir an Lesestoff fehlen wird.« Immerhin eine, der die Situation gefällt und die das Beste daraus machen will, dachte sie. »Und du, Anna?«, fragte Lewin und räusperte sich vorsichtig. »Ich wollte die Arbeiten leiten und die Aufgaben auf dich und Lisa verteilen«, sagte Holt und lächelte freundlich. »Spaß beiseite, ich wollte mich auf Christer Pettersson konzentrieren. Unabhängig davon, was Johansson über meinen Blick mit neuen Augen deuten mag, und unabhängig davon, dass ich nicht viel mehr über den Fall weiß, als ich in den Zeitungen gelesen und bei der Arbeit gehört habe, war ich die ganze Zeit der Auffassung, dass Christer Pettersson Olof Palme erschossen hat. Das glaube ich auch heute noch, wenn das irgendjemanden interessiert, aber da es schon einmal vorgekommen ist, dass ich mich geirrt habe, bin ich zumindest bereit, einen neuen Versuch zu wagen.« »Aha«, sagte Lewin und nickte. »Dann machen wir das so. Für den Anfang.« »Klingt gut«, meinte Mattei und stand auf. »Ja«, nickte Holt. »Und haben wir eine Wahl?« Dann seufzte sie laut und schüttelte den Kopf, trotz des Versprechens, das Johansson ihr abverlangt hatte. 3 Zufrieden mit sich und seinem Entschluss, den er schon am ersten Arbeitstag nach dem Urlaub in die Tat umgesetzt hatte, entschied Johansson, früh Feierabend zu machen und den Rest des Tages zu Hause zu arbeiten. Seine Sekretärin hielt das für eine hervorragende Idee, nicht zuletzt im Hinblick auf das schöne Sommerwetter. Sie hätte gerne dasselbe getan, wenn sie die Wahl oder auch nur die Möglichkeit gehabt hätte, einen entsprechenden Wunsch vorzubringen. »Klingt klug, Chef«, sagte sie zustimmend. »Bei diesem Wetter, meine ich. Muss ich sonst noch irgendetwas wissen?« »Bin nur im äußersten Notfall zu erreichen. Und sonst gilt das Übliche, du weißt ja Bescheid«, erwiderte Johansson. »Dass ich auf mich aufpassen soll«, sagte seine Sekretärin. »Genau. Du musst versprechen, auf dich aufzupassen.« »Versprochen«, antwortete sie. »Allerdings hatte ich für heute Abend auch keine größeren Abenteuer geplant. Ich wollte eigentlich 20
nur die Blumen auf dem Balkon gießen, wenn ich nach Hause komme. Wäre das in Ordnung?« »Klingt nach einer hervorragenden Idee«, entgegnete ihr Chef, der mit seinen Gedanken schon weit weg zu sein schien. »Wenn du nur nicht über das Geländer fällst oder so.« »Versprochen«, sagte sie ein weiteres Mal. Was sollte mir denn schon passieren?, dachte sie, als er den Raum verließ. Fünfzig Jahre alt, alleinstehend, keine Kinder, meine einzige Freundin ist mit ihrem neuen Typen in Urlaub gefahren, und ich habe nicht mal eine Katze, die ich streicheln könnte. Johansson spazierte in der angenehmen Sommerbrise, die über das Wasser des Mälarsees zog und seinen norrländischen Körper erfrischte, an den Kais der Stadt entlang nach Hause. Ein Amerikaner in Paris, fiel Johansson aus heiterem Himmel ein, und danach dachte er über sein eigenes Leben nach. Ein einfacher Junge vom Lande, aus Näsäker und dem roten Ädalen im nördlichen Ängermanland, der vor vierzig Jahren in die Königliche Hauptstadt gereist war, um an der Polizeischule in Solna anzufangen. Der das Schicksal in eigene Hände genommen und es auf starken Armen getragen hatte, der das gut gemacht hatte und seinen Weg hinauf an die Spitze der Polizeipyramide begleitet und bewacht hatte. Ein einfacher Junge vom Lande, der sich jetzt dem Ende der Reise näherte und ungefähr zu dem Zeitpunkt in Pension gehen würde, an dem der Mord am Ministerpräsidenten des Landes verjährte. Was könnte wohl ein besserer Abschluss sein, als diesen Fall aufzuklären, ehe er seinen Hut nahm? Versunken in diese und ähnlich angenehme Überlegungen ging er den ganzen Weg vorbei an Norr Mälarstrand, Ridderholmen und dann hoch nach Söder. Dort machte er einen Abstecher zu den Söderhallen, um allerlei Leckerbissen für das sommerliche Festmahl zu erstehen, mit dem er seine Frau überraschen wollte, wenn sie von ihrer Arbeit in einer Bank nach Hause kam. Snacks und Delikatessen, vor allem Fisch, Schalentiere und Gemüse, am Ende waren es zwei prallgefüllte Tüten, die er in die Wohnung in der Wollmar Yxkullsgata schleppte. Für den restlichen Nachmittag betätigte er sich als emsiger Koch. Bei dem schönen Wetter hatte er auf ihrem neuen zum Garten hin gelegenen Balkon gedeckt, der gerade fertig geworden war, ehe sie 21
in Urlaub gefahren waren, und der deshalb erst jetzt eingeweiht werden konnte. Er hatte einen Salat mit frischem Lachs, Avocado und milder Ruccola zubereitet, hatte frischen Thunfisch in ausreichend dicke Scheiben geschnitten, hatte gehackte grüne Kräuter darübergestreut und alles für später in den Kühlschrank gestellt. Danach schälte er dünne Möhren und Kartoffeln, legte sie jeweils in einen Kochtopf und goss Wasser darüber. Überprüfte die Temperatur des trockenen Rieslings, den er zur gesamten Mahlzeit servieren wollte. Nach kurzem Überlegen hatte er zudem eine Flasche Champagner in einen Kühler gestellt. Sie beide tranken den am liebsten sehr kalt. Dann erledigte er alles andere, was zwischen dem frischen Spargel mit zerlassener Butter, der Käseplatte und den abschließenden Himbeeren noch zu erledigen war. Das alles in der richtigen Reihenfolge natürlich, und während dieser Arbeit belohnte er sich mit einem kalten tschechischen Pils. Als seine Frau anrief und mitteilte, dass sie soeben die Bank verlassen habe und in einer Viertelstunde zu Hause sein werde, stellte er die Kochtöpfe auf den Herd und prostete sich zu. Prost, Lars, dachte der Leiter der Zentralen Kriminalpolizei, Lars Martin Johansson, und hob sein Bierglas. Es gibt auf diesem ganzen Planeten kein Schwein, das behaupten könnte, du seist kein einzigartiger vielseitiger Teufelskerl. »Um Gottes willen«, rief Pia Johansson, kaum hatte sie die Diele betreten und ihre Handtasche auf einen Seitentisch gestellt. »Ich hab einen solchen Hunger, ich könnte ein gekochtes Hundebaby verschlingen. Mit Fell!« »Das wird wohl nicht nötig sein«, antwortete Johansson. Beugte sich ein wenig vor, legte seine rechte Hand um ihren schmalen Hals und den Daumen in das Grübchen in ihrem Nacken, ließ seine linke Hand leicht an ihrer rechten Wange ruhen, atmete ihren Duft ein und streifte mit den Lippen ihren Haaransatz. »Was hältst du davon, wenn wir zuerst essen?«, fragte Pia. »Natürlich«, sagte Johansson. »Sonst hätte ich dich sofort zu Boden geworfen.« »Das war ja vielleicht lecker«, seufzte Pia zwei Stunden später, als sie bei den Himbeeren und einer Riesling-Spätlese angekommen 22
waren, die Johansson just für diesen Zweck aufbewahrt hatte. »Wenn ich vierzig Jahre jünger wäre, würde ich jetzt rülpsen.« »Unmöglich«, sagte Johansson. »Das tun nur ganz kleine Kinder. Und Chinesen«, fügte er hinzu. »Das scheint in China Brauch zu sein, um sich für das Essen zu bedanken.« »Gut, dass nur ich dich höre. Na gut, wenn ich fünfundvierzig Jahre jünger wäre. Dann würde ich rülpsen.« »Kinder rülpsen, Männer schnarchen, furzen heimlich, geben manchmal sogar richtige Rauchbomben von sich, wenn sie allein sind oder in entspannter Gesellschaft. Frauen tun so etwas nicht.« »Woran kann das wohl liegen?« »Nicht die geringste Ahnung.« Johansson schüttelte den Kopf. »Was hältst du von einer Tasse Kaffee?« »Natürlich, sehr gerne«, sagte Pia. »Aber zuerst möchte ich mich bei dir für diese fürstliche Mahlzeit bedanken.« »Nicht der Rede wert, nur ein schlichter Imbiss«, sagte Johansson bescheiden. »Notwendige Wegzehrung auf unserer einsamen Erdenwanderung.« »Das macht mich fast ein wenig nervös«, sagte Pia. »Du hast doch hoffentlich keine Dummheiten gemacht?« »Ganz bestimmt nicht«, sagte Johansson. »Ich wollte mich nur der Frau meines Lebens gefällig erweisen.« »Du musst keinen Kredit aufnehmen?« »Kredit aufnehmen«, schnaubte Johansson. »Ein freier Mann nimmt keinen Kredit auf!« »Na dann«, sagte Pia. »Dann hätte ich gern einen doppelten Espresso mit Milch.« »Gute Entscheidung«, sagte Johansson zustimmend. »Ich dachte auch noch an einen kleinen Cognac, der Verdauung zuliebe.« »Darauf verzichte ich«, entgegnete Pia. »Wenn ich an morgen denke. Nach dem Urlaub gibt es eine Menge zu tun.« Aber vor allem, weil ich eine Frau bin, dachte sie. »Ich selbst habe vor, morgen alles verdammt ruhig anzugehen«, sagte Johansson. Man ist ja nicht umsonst Chef, dachte er. Jeder Tag ein neues Abenteuer, dachte Johansson, nachdem er die Espressokanne auf den Herd gestellt und sich der Verdauung zuliebe einen Cognac eingeschenkt hatte. Ich bin ein glücklicher Mann, und manche Tage sind besser als andere. 23
Nach dem Essen machten sie es sich auf dem Sofa in Johanssons Arbeitszimmer bequem. Johansson schaltete den Fernseher ein und sah sich die Spätnachrichten an. Alles blieb ruhig, und da sein rotes Mobiltelefon den ganzen Abend geschwiegen hatte, hatte seine abschließende Bewertung bei der Besprechung offenbar Erfolg gezeitigt. Kein Mucks über einen vor Jahren ermordeten Ministerpräsidenten. Irgendwann war Pia mit dem Kopf auf seinen Knien eingeschlafen. Lautlos, während er ihre Stirn mit der Hand streichelte. Du schläfst ruhig wie ein Kind, dachte er. Regungslos, lautlos, ab und zu nur ein leichtes Zittern der Augenlider. Allerdings eine Planänderung, das ist ja auch in Ordnung, wenn wir an das ganze Essen und den vielen Wein denken, aber was mach ich jetzt? Seine Frau löste das Problem für ihn. Plötzlich setzte sie sich mit einem Ruck auf, schaute auf die Uhr und schüttelte den Kopf. »Herrgott«, sagte Pia. »Schon elf. Jetzt geh ich ins Bett. Bleib nicht zu lange auf. Morgen ist ein Arbeitstag.« »Versprochen«, sagte Johansson. Jeder Tag ein neues Abenteuer, dachte er und streckte die Hand nach dem Fernsehprogramm aus. Zuerst zappte er zwischen den verschiedenen Filmkanälen, von denen ihm mittlerweile eine zweistellige Anzahl zur Verfügung stand. Die meisten Filme hatte er schon gesehen, und keiner von denen, die er noch nicht gesehen hatte, schien ihm die Mühe wert zu sein. Es war vor allem eine Menge Unsinn über rätselhafte Serienmörder, die immerhin den guten Geschmack besaßen, einen Bogen um seinen Schreibtisch zu machen. Plötzlich hatte er eine Idee. Im Palmeraum gab es Ordner, Mappen und Kartons, die sämtliche Wände und einen Großteil des Fußbodens bedeckten. In Johanssons großem Arbeitszimmer waren die Bücher vom Boden bis zur Decke gestapelt. Bücher über alles Mögliche zwischen Himmel und Erde, aber nur, wenn etwas darin stand, was ihn interessierte. Was ihn nicht interessierte, landete auf dem Dachboden oder wurde verschenkt. Der Palmeraum war zwar doppelt so groß wie Johanssons Arbeitszimmer, aber der Unterschied in der Anzahl Buchstaben und Wörter war eher gering. Bücher, Bücher, Bücher... Videokassetten, DVD- und CD-Ordner, dazu etliche Regale mit alten ehrlichen Schallplatten. Vor allem aber Bücher, fast nur Bücher. Bü24
cher, die er gelesen hatte, die ihm gefallen hatten und die er gern noch einmal lesen würde. Bücher, die er brauchte, um dieses oder jenes zu lernen und um besser denken zu können. Bücher, die er ganz einfach liebte, da ihre physische Existenz bewies, dass er schon längst Herr über sein eigenes Leben war und dass er gut auf sich aufgepasst hatte. Alle diese Bücher, die ihm in seiner Kindheit auf dem Hof bei Näsäker so sehr gefehlt hatten, dass die Sehnsucht bisweilen seine Brust zusammengepresst hatte. Für ihn waren sie niemals ein Berg gewesen, zu dessen Besteigung er gezwungen werden musste. In Johanssons Elternhaus hatte es nur wenige Bücher gegeben. Das Leben hatte keinen Raum zum Lesen geboten. In der guten Stube gab es einen Bücherschrank mit alten Bibeln, Gesangbüchern, Bauernpredigten und den freikirchlichen Betrachtungen, die ein elementarer Teil des lokalen Kulturerbes waren und die für wichtig genug gehalten worden waren, um gebunden zu werden. Mehr aber gab es nicht. Im Arbeitszimmer seines Vaters - dem Hofbüro - lagen dicke Kataloge über alles Mögliche zwischen Himmel und Erde, das mit Alltag und Arbeit zu tun hatte. Unterlagen von Herstellern großer Traktoren, Landbau- und Forstmaschinen, von Verkäufern von Waffen und Munition, Angelgeräten, Schrauben, Nägeln, Teer, Farben und Lack, Bolzen und Brettern, Motorsägen, normalem Werkzeug, Saatgut, Zuchttieren und anderen Gütern, die ein Teil des Lebens auf dem Hof waren und mit Hilfe der Post befördert werden konnten, die sich gegen Verlust auf dem Postweg versichern ließen und für die am Ende dem Landbriefträger die Hand geschüttelt wurde, um den Handel zu besiegeln. Im Zimmer seiner älteren Brüder hatte es mehrere zerfledderte Jahrgänge von Rekordmagasinet, Se und Lektyr gegeben, achtlos aufeinandergetürmt in ihrem eigenen wackligen Bücherregal. Außerdem gab es noch ganz andere Publikationen, in denen ein Bild mehr sagte als tausend Worte und die seine Brüder lieber unter der Matratze versteckten. Die letzteren publizistischen Erzeugnisse fehlten natürlich im Zimmer seiner Schwestern. Dort gab es stattdessen Anne auf Green Gables, Pollyanna, Die Kinder vom Frostmofjäll und Kulla-Gulla und 25
alles andere zu diesem Thema, das kleine Mädchen zu jungen vorsichtigen Frauen und guten Müttern machte. Nicht so bei Johansson, der schon als kleiner Junge wie ein Kuckuckskind zu lesen begonnen hatte. Der sich selbst das Lesen beigebracht hatte, ehe er auf die Grundschule gekommen war, und das unter ungeklärten Umständen. Die Leselust des kleinen Lars Martin beunruhigte seinen gütigen Vater zutiefst, und sie war der anhaltende Auslöser dafür, dass seine älteren Brüder ihn schikanierten und ihm Prügel verpassten, wenn sie ihn mit einem zu dicken Buch ohne Abbildungen erwischten. Es hatte mit Verbrechen angefangen. Türe Sventon, Agaton Sax, Kalle Blomkvist, der Meisterdetektiv, Sherlock Holmes, der Größte von allen. Lesefrüchte, die erforderten, dass er sich in Geräteschuppen, Wagenremisen und Scheunen versteckte, um sie in Ruhe ernten zu können. Erst, als er groß genug geworden war, um sich zu wehren, hatte er sich in sein eigenes Zimmer mit Leselampe zurückziehen können und die relative Ungestörtheit gehabt, die zum Lesen vonnöten war. Dort hatte er mit Abenteuern im weitesten Sinne weitergemacht, aus einer anderen Zeit und Wirklichkeit als seiner eigenen, und gerade deshalb hatte er seiner Phantasie freien Lauf lassen können. Biggles' unzählige Schicksalsschläge und Abenteuer, die Gemeinschaft der drei Musketiere und Robinson Crusoes Einsamkeit. In achtzig Tagen um die Erde und Gullivers Reisen. Er selbst reiste durch Zeit und Raum, in freiem Flug zwischen Wirklichkeit und Phantasie und so weit weg, wie die Volksbibliothek in Näsäker Fahrkarten ausstellen konnte. Die glücklichste aller Reisen, die ein Mensch antreten könnte, falls jemand auf die Idee gekommen wäre, den kleinen Lars Martin danach zu fragen. Als er neun Jahre alt geworden und die Grundschule beendet hatte, hatte sein Vater ihn ins Auto gesetzt und auf eine andere Reise mitgenommen, eine dreißig Kilometer lange Reise zum Provinzarzt in der Kreisstadt. Höchste Zeit, Gefahr in Verzug, und der jüngste Sohn, der sich die Augen ruinierte, da er Bücher las wie ein Verrückter. Da er ansonsten absolut normal wirkte, konnte sein Vater jedenfalls nicht ausschließen, dass etwas in seinem Kopf sich verhakt haben könnte. Ungefähr wie bei einer Schallplatte mit ei26
nem Kratzer, falls man einen Laien wie ihn nach dieser Angelegenheit befragen wollte. »Es ist also nicht, dass er wirklich gestört oder ein böser Bengel wäre oder so«, erklärte Papa Evert, nachdem er die Tür zwischen sich und dem Arzt und dem kleinen Patienten im Wartezimmer geschlossen hatte. »Nein, so etwas liegt nicht vor, wenn Sie mich fragen. Er ist sonst wirklich brav, angelt gern und ist absolut geschickt mit dem Luftgewehr, das ich ihm zu Weihnachten geschenkt habe. Aber da ist eben die Sache mit dem Lesen. Er steckt mit der Büchereitante unten im Ort und mit seiner Lehrerin unter einer Decke, und kaum wendet man die Augen ab, schon schleppt der Junge säckeweise Bücher nach Hause, die sie ihm aufgeschwatzt haben. Ich habe Angst, dass seine Augen bald zum Teufel sind.« Der Arzt hatte den Fall untersucht. Hatte Lars Martin Johansson, neun Jahre, in Augen, Ohren und Nase geleuchtet. Hatte seinen Kopf zusammengedrückt und ihm mit einem Hämmerchen aufs Knie geklopft, und so weit schien alles gesund und richtig. Danach hatte der Junge die untere Buchstabenreihe auf der Wandtafel vorlesen müssen. Zuerst mit beiden Augen, dann mit der Hand zuerst vor dem linken, dann vor dem rechten Auge, und auch das war alles kein Problem gewesen. »Der kleine Teufel ist gesund wie ein Fisch im Wasser«, fasste der Arzt die Lage zusammen, nachdem sein Patient ins Wartezimmer zurückgekehrt war. »Und Sie sind nicht der Meinung, dass er eine Brille braucht? Man muss doch irgendetwas tun können«, beharrte Evert. »Er braucht so wenig Hilfe wie ein Habicht, wenn du mich fragst«, sagte der Arzt. »Aber diese ganze Leserei? Der Junge wirkt doch total besessen davon. Du findest keinen Fehler in seinem Kopf?« »Er liest offenbar gern. Das kommt vor«, sagte der Bezirksarzt und seufzte tief. »Das Schlimmste, was passieren kann, ist wohl, dass er Landarzt wird«, fügte er hinzu und seufzte ein weiteres Mal. Danach waren Evert und sein jüngster Sohn auf den Hof zurückgefahren und hatten nie wieder über diese Angelegenheit gesprochen. Etwa zehn Jahre später war Lars Martin nach Stockholm gegangen, um Polizist zu werden und in Ruhe lesen zu können. Vor al27
lem über Verbrechen, so hatte es sich ergeben, die meisten spielten in der Wirklichkeit, seltener in der Welt der Phantasie. Ein ziemlicher Umweg, so könnte man meinen, aber nicht alle Reisen sind einfach, und oft gibt es mehr als einen Weg zum Ziel. Nach einigem Herumwühlen in seinen Regalen fand Johansson endlich das gesuchte Buch. Band 7, über das Gustavianische Zeitalter, Carl Grimbergs klassisches Werk über die schwedische Geschichte: Die wunderbaren Schicksale des Schwedischen Volkes. Ein schönes kleines Buch mit einer greifbaren Sinnlichkeit, erste Auflage, Halbfranzband, Kalbsleder und Golddruck auf dem Buchrücken. Das und die Details, die den Computergnomen entgehen, trotz aller Netzwerke und Suchmaschinen, dachte Johansson zufrieden, dann goss er den letzten Rest Wein in sein Glas, machte es sich auf dem Sofa bequem und las alles über den Mord an Gustav III. und über das Zeitalter, in dem er gelebt hatte. Wie nahe liegen mein eigenes Mordopfer und dieses vergleichbare schwedische Verbrechen beieinander, dachte er. Die Lektüre dauerte eine gute Stunde, das meiste wusste er bereits. Danach griff er zu Papier und Stift, um sich Notizen machen zu können, während er überlegte. Der Maskenball in der Stockholmer Oper am 16. März 1792. Ein Kreis von Tätern in der Nähe des Opfers, die das Opfer und alles, wofür es stand, hassten. Adlige, Höflinge, Angehörige der Königlichen Garde. Ein Kreis von Tätern, denen die Gelegenheit auf einem silbernen Tablett serviert worden war. Mit persönlicher Einladung und Zeit genug, um die Gelegenheit zu nutzen. Ein Kreis von Tätern, die Masken anlegen mussten, ehe sie zur Tat schreiten konnten. Ein Kreis von Tätern, die allesamt Zugang zu Schusswaffen hatten. Johansson grinste, als er das notierte, und von denen jedenfalls einer motiviert genug war, um vor das Opfer zu treten, die Waffe zu ziehen, auf den anderen zu zielen und abzudrücken. Motiv, Gelegenheit und Mittel, fasste Johansson zusammen, so wie seine Kollegen es seinerzeit sicher auch getan hatten. Ein Opfer, das von vielen gehasst wurde, von Adligen, Militärs, reichen Bürgern. Von den feinen Leuten, kurz gesagt, die die Macht 28
in ihren Schwertern hatten, ihren Geldsäcken, ihrer Geschichte und die fürchteten, ein absoluter Monarch könnte ihnen diese Macht für immer nehmen. Ein Opfer, das von vielen geliebt wurde. Von Dichtern und Künstlern wegen des Glanzes, der angeblich über König Gustavs Tagen lag, und gerade was sie anbetraf auch aus berechtigten, ökonomischen Gründen, dachte Johansson. Dass auch große Teile des einfachen Volkes ihren König offenbar geliebt hatten, war nicht so leicht zu verstehen. Von ständigen Kriegen heimgesucht, die Finanzen des Reichs ruiniert, das alltägliche Elend, hervorgerufen durch Missernten, Hunger, Seuchen und Krankheiten. Die Leute wussten es wohl nicht besser, dachte der Bauernsohn Johansson und seufzte. Von vielen gehasst, von vielen geliebt, aber kein Raum für besonders viele Gefühle dazwischen. Was kann man von einem so genannten Motivbild noch verlangen, fasste Johansson zusammen, als er sich nach einem Tag voller harter Arbeit, einer hervorragenden Mahlzeit, die er selbst zubereitet hatte, und ein wenig abschließender Lektüre zum Vergnügen vor dem Badezimmerspiegel die Zähne putzte. Bestenfalls habe ich auch noch etwas gelernt, dachte er. Zehn Minuten darauf war er bereits eingeschlafen. Mit einem Lächeln auf den Lippen und ansonsten genau wie immer. Auf dem Rücken, die Hände vor der Brust verschränkt, mit männlichem Schnarchen, geborgen in seinem eigenen Körper, frei von Träumen. Oder jedenfalls solchen Träumen, an die er sich erinnern oder von denen er auch nur eine Ahnung haben würde, wenn er am nächsten Morgen erwachte. Meistens war es Lars Martin Johansson, der zuletzt einschlief und zuerst aufwachte, aber an diesem Morgen war ausnahmsweise einmal seine Frau vor ihm aufgestanden. Es war der schwache Kaffeeduft, der seine sensible Nase erreichte und ihn weckte. Obwohl es erst sieben Uhr morgens war, war das zwei Stunden später als gewöhnlich. Pia hatte schon den Frühstückstisch gedeckt - »ich hab geschuftet wie ein Tier, um das Essen gestern Abend zurückzahlen zu können« -, und mit einem unschuldigen Lächeln machte sie ihn im Vorübergehen auf die Morgenzeitung aufmerksam. »Du stehst übrigens in der Zeitung«, sagte Pia, als sie ihm Kaffee eingoss. »Warum hast du nichts gesagt?« 29
»Worüber denn?«, fragte Johansson und schüttete heiße Milch in seine Kaffeetasse. »Dass du neue Ermittlungen im Palmefall aufgenommen hast.« Was zum Teufel faselst du da, Weib?, dachte Johansson, der so etwas nicht einmal im Traum laut gesagt hätte. Niemals zu seiner geliebten Gattin und auch nicht nach fast zwanzig Ehejahren. Dass nicht alle Tage gut gewesen waren, war nichts im Vergleich zu der Tatsache, dass viele gut und einige viel besser gewesen waren, als ein Mann von seiner Frau begehren kann. »Was sagst du da, Herzchen?«, sagte Johansson. Was zum Teufel faselt sie da, dachte er. »Lies selbst«, sagte Pia und reichte ihm die Zeitung, die sie unverständlicherweise neben ihrem eigenen Stuhl auf den Boden gelegt hatte. »Lieber Jesus«, stöhnte Johansson und starrte das wenig schmeichelhafte Photo von sich an, das die Titelseite der größten schwedischen Morgenzeitung zierte. »Allerhöchste Zeit, wenn du mich fragst«, sagte Pia. »Für eine neue Palmeermittlung, meine ich«, erklärte sie. »Aber du solltest denen vielleicht ein besseres Bild von dir zukommen lassen. Seit das da aufgenommen worden ist, hast du doch ziemlich viel abgenommen.«
4 Als Johansson sein Frühstück beendet hatte, duschte er zuerst, dann zog er sich mit Bedacht an. Kein am Hals offenes Leinenhemd, keine roten Hosenträger. Stattdessen einen grauen Anzug, ein weißes Hemd mit diskretem Schlips, schwarze blankgeputzte Schuhe, das war die Rüstung, mit der einer wie er ins Feld zog. Danach ging er in die Küche, faltete die Zeitung zusammen, steckte sie in seine Jackentasche und fuhr zur Arbeit. Den Artikel hatte er nicht gelesen. Das war auch nicht nötig gewesen, ein kurzer Blick hatte genügt, um ihm in allen Einzelheiten klarzumachen, was darin stand. Bei der Arbeit angekommen hatte er wie immer seine Sekretärin begrüßt, hatte abweisend die Zeitung geschwenkt, war in sein Zimmer gegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Erst dann hatte er genau und mit dem gezückten Kugelschreiber gelesen, was als großes Medienereignis des Tages verkauft wurde. Dass der Lei30
ter der Zentralen Kriminalpolizei eine »neue geheime Ermittlung im Mordfall Olof Palme« aufgenommen habe. Stimmt's oder hab ich recht, dachte Johansson und seufzte, da alles, was dort stand, seine Befürchtungen bestätigte. Sogar das Bild. Einige Jahre alt, mit einem zwanzig Kilo fetteren Lars Martin Johansson, der vergrätzt in die Kamera glotzte. Natürlich war ein solches Subjekt für einen Kommentar nicht zu erreichen gewesen, während die beiden anonymen Quellen der Zeitung freie Bahn gehabt hatten und ausführlich über ihre Leiden berichten konnten. Unzulängliche Mittel, verständnislose Chefs und wie ihnen jetzt ihre Aufgaben genommen wurden. Fetter fieser Chef, der seine eigenen Unzulänglichkeiten an seinen armen unschuldigen Untergebenen auslässt, fasste Lars Martin Johansson zusammen. »Wir haben offenbar einiges zu tun«, sagte Johansson zu seiner Sekretärin, nachdem sie sich auf der anderen Seite seines großen Schreibtisches niedergelassen hatte. »Etliche Personen haben sich gemeldet und möchten mit dir reden«, antwortete sie mit einer ebenso unschuldigen Miene wie seine Frau. »Und was haben die so auf dem Herzen?« »Etwas, das sie in der Zeitung gelesen haben«, antwortete seine Sekretärin. »Über eine neue geheime Ermittlung im Mord an Olof Palme, die du angeblich gestern eingeleitet hast.« »Wer sind die denn? Die sich gemeldet haben, meine ich.« »Eigentlich alle, wie mir scheint«, antwortete seine Sekretärin, während sie zugleich die Papiere in ihrer Hand überflog. »Gib mir ein paar Namen«, sagte Johansson. »Flykt natürlich. Er war schon zweimal hier. Er will persönlich mit dir reden, um mögliche Missverständnisse im Hinblick auf den Artikel ausräumen zu können.« »Sieh an«, sagte Johansson. »Und ich wusste gar nicht, dass Flykt für Dagens Nyheter arbeitet. Sag dem Idioten, dass er warten soll«, sagte Johansson. »Ja, vielleicht lieber nicht wortwörtlich«, sagte seine Sekretärin. »Denn das sagst du ihm dann doch wohl besser selbst. Ich teile ihm mit, dass du dich im Laufe des Tages meldest und dass er sich bereithalten soll.« 31
»Hervorragend«, sagte Johansson zufrieden, da er wusste, dass Flykt sehr gern frühzeitig Feierabend machte, vor allem an Tagen wie diesem, der ein ganz hervorragendes Golfwetter verhieß. »Sorg dafür, dass er im Haus bleibt, bis ich mich bei ihm gemeldet habe.« »Ich weiß genau, was du meinst«, sagte seine Sekretärin, die ihren Chef kannte und in diesem Augenblick Kommissar Yngve Flykt von der Palmegruppe keineswegs beneidete. »Wer sind die anderen?«, wiederholte Johansson seine Frage. »Eigentlich alle, wie gesagt. Alle von den Medien zumindest, die rufen wie besessen an, und ich schicke sie weiter an unsere eigene Presseabteilung. Aber ich fange mal hier im Haus an: Der Pressesprecher dieser neuen du weißt schon hat sich im Namen unseres Landespolizeichefs gemeldet. Der Polizeichef ist offenbar zu Besuch bei der Polizei von Haparanda. Seine Stellvertreterin dagegen, sie scheint vor Ort zu sein, und sie hat auch angerufen und gefragt, ob es etwas gibt, was sie wissen müsste oder bei dem sie behilflich sein könnte. Ich habe versprochen, das weiterzureichen. Dann hat Anna Holt angerufen und gefragt, ob es etwas Neues gibt, das sie und die anderen wissen müssten. Dein bester Freund hat ebenfalls angerufen, falls ihr euch nicht wieder zerstritten habt, meine ich.« »Jarnebring«, sagte Johansson glücklich. »Bo hat angerufen? Was wollte er denn?« »Ja«, sagte seine Sekretärin. »Was er wollte? Ja, er wollte mit dir reden. Sagt, dass er die Morgenzeitung gelesen hat und sich Sorgen um dich macht.« »Wortwörtlich«, forderte Johansson. »Okay«, seufzte sie. »Er wollte wissen, ob du eine Gehirnblutung erlitten hast. Ob er dir irgendwie helfen kann und dass du dich melden sollst, wenn du Zeit hast.« »Das hat er also gesagt«, sagte Johansson bedächtig. »Die Oberstaatsanwältin von Stockholm hat angerufen. Zweimal sogar schon. Sie möchte sofort mit dir sprechen. Wenn ich mich nicht irre, dann ist sie die Leiterin des Ermittlungsverfahrens im Fall Palme, also hat es vielleicht etwas damit zu tun.« »So, glaubst du das?«, erwiderte Johansson. »Na gut, ja. Dann machen wir das so. Ruf dieses magere Frauenzimmer von der Staatsanwaltschaft an und sag, wenn sie noch immer mit mir reden will, dann ist das natürlich überhaupt kein Problem. Ansonsten kannst du ihr einfach mitteilen, dass sie nicht jeden Dreck glauben 32
soll, den sie in der Zeitung liest. Unsere eigenen Medienfuzzis kann ich in einer Viertelstunde treffen, und zwar hier bei mir. Die anderen können warten, bis ich von mir hören lasse. Sonst noch was?« »Lass uns damit anfangen«, sagte seine Sekretärin zustimmend. Die Erste, die Zugang zu Johanssons Telefon erhielt, war Stockholms Oberstaatsanwältin, Leiterin des Ermittlungsverfahres und formell betrachtet die höchste Verantwortliche für die Untersuchungen im Mordfall am Ministerpräsidenten. Wenn man sich die Formalia und nicht so sehr den Fall ansah. Aber warum sollte man das? Johanssons Rolle in diesem Zusammenhang war bescheidener und bestand darin, sie mit den polizeilichen Mitteln zu versorgen, die sie ihrer Ansicht nach brauchte, um ihren Auftrag auszuführen. Das alles war ihm natürlich nur allzu bewusst, und ehe er seinen Beschluss gefasst hatte, hatte er etliche Tage darüber nachgedacht, wie er mit dieser Angelegenheit umgehen sollte. Damit etwas geschah und damit die, die etwas geschehen lassen sollten, Ruhe und Frieden dabei hatten. Die große Gefahr des Durchsickerns hatte alles entschieden. So hatte er damals gedacht, und alles andere hatte warten können, aber nun war es nicht so gekommen, und deshalb war es höchste Zeit für eine Modifikation. »Ich habe in Dagens Nyheter gelesen, dass Sie neue Ermittlungen im Fall Palme eröffnet haben«, sagte die Oberstaatsanwältin mit beherrschter Stimme und verdächtig freundlichem Tonfall. »Und da frage ich mich...« »Ja, das habe ich auch gelesen«, fiel Johansson ihr freundlich ins Wort. »Was für verdammte Hohlköpfe! Wie kommen die bloß auf solche Ideen?« »Wie bitte?« »Sauregurkenzeit«, sagte Johansson. »Pure Phantasie. Typische Sauregurkengeschichte, Aber dieses Schmierblatt hat ja offenbar das ganze Jahr über Sauregurkenzeit.« »Darf ich das so verstehen, dass Sie keine neue Ermittlung eingeleitet und keine Veränderungen in der Ermittlung vorgenommen haben, die ich ja nun einmal leite?« Sie klang nicht mehr ganz so beherrscht, und es war höchste Zeit, der Sache ein Ende zu machen, fand Johansson. »Da wäre ja noch schöner«, entgegnete Johansson mit verärgerter Miene, obwohl er allein im Zimmer war. »Das wissen Sie 33
doch viel besser als ich. Sie sind doch die Chefermittlerin. Außerdem sind Sie die Juristin, wenn ich das richtig verstanden habe.« »Dann verstehe ich wirklich überhaupt nichts mehr.« »Ich auch nicht«, stimmte Johansson energisch zu. »Wie Sie wissen, lag das gesamte Ermittlungsmaterial seit Jahren in Kartons, und erst vor ein paar Monaten konnten wir dafür Platz schaffen und es wieder in Regalen unterbringen. Das ist Ihnen doch sicher bekannt?« »Natürlich«, sagte sie. »Das hatte ich doch zusammen mit Flykt und den anderen in der Einheit beschlossen.« »Genau«, sagte Johansson zustimmend. »Aber dann hieß es, sie brauchten noch mehr Platz, und wenn wir anderen, die hier arbeiten, nicht auf der Straße landen wollen, weil wir keinen Platz zum Sitzen haben, dann wird es wohl höchste Zeit, die Erfassung des Materials zu beenden, dachte ich. Ganz einfach ein besseres und moderneres System zu finden. Vielleicht alles auf solche kleinen Disketten zu übertragen und dann die Unterlagen in den Keller zu bringen. Oder einen Teil davon zumindest. Auf diese Möglichkeit hat mich übrigens Flykt aufmerksam gemacht. Ich hielt das für eine hervorragende Idee, und deshalb habe ich einige von meinen jüngeren Mitarbeitern gefragt, ob sie da eine gute Idee hätten. Moderne Datenverarbeitung und Datenspeicherung und das alles, Sie wissen schon, wovon so alte Gäule wie ich keine Ahnung haben, trotz aller Kurse, zu denen wir geschleift worden sind.« »Und Lewin?«, fragte die Oberstaatsanwältin, die noch immer nicht ganz überzeugt wirkte. »Der ist zwar nicht uralt, aber ihn als jüngeren Mitarbeiter zu bezeichnen wäre doch wohl leicht übertrieben.« »Weil er schon länger mit dem Material vertraut ist und Ihre Leute offenbar anderweitig ausreichend zu tun haben«, erklärte Johansson. Sie muss mit irgendjemandem hier im Haus gesprochen haben, dachte Johansson. Im Artikel wird Lewin mit keinem Wort erwähnt. Bei der Zentralen Kriminalpolizei gibt es über siebenhundert Polizisten mit diesem Namen, und was für ein Glück, dass Sie hier nicht in einer Vernehmung bei mir sitzt, dachte er. »Es liegt mir natürlich fern, mich in Ihre administrativen Maßnahmen einzumischen«, sagte die Staatsanwältin.
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»Nein, das wäre ja noch schöner«, sagte Johansson und hörte sich so froh an wie jemand, der nicht gehört hatte, was er soeben gesagt hatte. Der Rest des Gesprächs war wie ein Tanz gewesen, bei dem Johansson führte. Der Sache zuliebe hatte er fast ganze fünf Minuten für die üblichen Höflichkeiten veranschlagt und das Gespräch mit der Hoffnung beendet, dass sie sich bald zu eher privaten und geselligen Aktivitäten treffen könnten. Johansson und seine liebe Frau hätten schon häufig darüber gesprochen, die Oberstaatsanwältin und ihren Mann einzuladen. Gut essen und trinken, und was die Medien angehe, so brauche sie sich nicht im Geringsten zu beunruhigen. Mit denen werde er sich schon selbst befassen, es sei ja schließlich seine Suppe, in die sie Salz geschüttet hätten. »Man fragt sich ja doch immer wieder, woher die das alles haben«, seufzte Johansson und schüttelte sicherheitshalber den Kopf, obwohl er noch immer ganz allein in seinem Zimmer saß. Danach hatte er sich mit dem Pressesprecher des Landespolizeichefs und seiner eigenen Presseabteilung getroffen, um die mediale Strategie festzulegen. Johansson sah keine größeren Probleme. Er hatte keine neue Ermittlung eingeleitet. Er hatte auch nicht die kleinste Veränderung in der Ermittlung durchgeführt, die seit zwanzig Jahren lief. Das sei nämlich nicht sein Bier, sondern das der Leiterin des Ermittlungsverfahrens, und das sei bekanntlich die Oberstaatsanwältin von Stockholm. »Worum es hier geht«, sagte Johansson, beugte sich vor und stützte sich mit den Ellbogen auf die Tischplatte, »ist, dass ich drei Ermittler hier von der Zentralen Kriminalpolizei gefragt habe, wie wir das Material so lagern können, dass die Palmegruppe damit arbeiten kann, ohne dass wir hier im Haus noch eine Etage anbauen müssen. Sie verfügen über besondere Erfahrungswerte im Umgang mit großen Mengen von Ermittlungsmaterial, was die allerneuesten Methoden angeht, die Entwicklung der Computertechnik schreitet ja im Eiltempo vorwärts, das wisst ihr jungen Leute natürlich viel besser als ich. Das war übrigens Flykts Idee, wenn das irgendjemanden interessiert.« »Ja, ich habe schon verstanden, dass das Ermittlungsmaterial zwei Jahre lang in Kartons verpackt war«, sagte der Pressesprecher des Landespolizeichefs mit listiger Miene. 35
»Genau«, stimmte Johansson zu. »Und das geht doch wirklich nicht. Die Leute aus der Einheit müssen schnellen Zugang dazu haben, damit sie damit arbeiten können. Sonst können wir es auch gleich in den Keller bringen und den Fall für abgeschlossen erklären.« Tüchtiger Junge, dachte er. »Was machen wir mit den Medien?«, fragte sein Pressesprecher. »Die übliche Pressemitteilung. Ich will sie sehen, ehe sie rausgeht. Der Elpezeh will sie sicher auch vorher sehen«, sagte Johansson und warf dem Pressesprecher des Landespolizeichefs fragend einen Blick zu, weil er seinen Vorgesetzten mit dem Kürzel meinte. »Was machen wir mit dem Fernsehen?«, fragte sein Kollege von der Zentralen Kriminalpolizei. »Soll ich für heute Nachmittag Zeit für Interviews hier beim Chef anberaumen?« »Damit sie in ihren Scheißredaktionen sitzen und nach Lust und Laune zusammenschneiden und kleben können? Auf keinen Fall«, sagte Johansson und ließ seinen Medienverantwortlichen seinen alten Polizeiblick spüren, den er von seinem besten Freund Bo Jarnebring gelernt hatte. »Wenn sie noch immer Interesse haben, kann ich heute Abend in einer Livesendung auftreten, im ersten, zweiten und vierten. Nur ich, niemand sonst, und vor allem keine so genannten Experten.« Dich muss ich wohl genau im Auge behalten, dachte er. Flykt kann warten, dachte Johansson zwei Stunden später, als er die Papiere auf seinem Schreibtisch erledigt, in einem in der Nähe des Polizeigebäudes gelegenen japanischen Restaurant zu Mittag gegessen hatte und merkte, dass er langsam das Ruder seines Schiffes wieder fest im Griff hatte. Dafür sollte ich vielleicht mit unserem Ännchen sprechen, dachte er. Sie kann zwar verdammt stur sein, aber man kann sich jedenfalls darauf verlassen, dass sie sagt, was sie denkt. Fünf Minuten später saß »unser Ännchen«, genauer gesagt Kommissarin Anna Holt, 47, im Besuchersessel seines Büros. »Wie geht's?«, fragte Johansson mit einem freundlichen Lächeln und interessierten blauen Augen. »Du meinst, was die Durchsicht der Palmedaten angeht?«, parierte Holt säuerlich. Das mit dem Chef oder dem Elkazeh kann warten, dachte sie. Sie waren allein im Zimmer, kannten einander seit vielen Jahren und ehrlich gesagt, war es nicht ihre Schuld. 36
»Genau«, sagte Johansson. »Habt ihr den Idioten gefunden, der dahintersteckt?« »Ich glaube, du brauchst dir meinetwegen oder wegen Lisa oder Lewin keine Sorgen zu machen«, erwiderte Holt. »Die Medien haben uns zwar gehetzt, aber wir haben mit niemandem geredet. Werden das auch nicht tun.« »Da bist du dir sicher?«, fragte Johansson. »Ja«, sagte Holt. Dann stimmt es vermutlich, dachte Johansson. Holt war keine Lügnerin. Vermutlich war es sogar so, dass sie nicht einmal wusste, wie man das machte. Und Mattei war eben Mattei. Und Lewin? Der sprach doch vermutlich überhaupt mit keiner Menschenseele, wenn er nicht gerade eine Vernehmung leitete und deshalb dazu gezwungen war. »Dafür gibt es zwei andere Dinge, über die du dir vielleicht ein paar Gedanken machen solltest«, sagte Holt. »Ich bin ganz Ohr«, sagte Johansson und ließ sich in den Sessel zurücksinken. »Erstens«, sagte Holt, »halte ich die ganze Idee für den puren Wahnsinn. Wie sollen drei Menschen mit so genannten neuen Augen darauf sehen und etwas Neues und Brauchbares finden können, wenn das hunderten von unseren Kollegen in über zwanzig Jahren nicht gelungen ist? Denn du kannst doch wohl nicht allen Ernstes meinen, dass alle, die in diesen Jahren mit dem Palmefall gearbeitet haben, Hohlköpfe, Spatzenhirne, Blindfische, Pilzfüße und Glühwürmchen sind, um einige von deinen Lieblingsmetaphern zu benutzen.« »Nein, nicht alle«, stimmte Johansson zu und lächelte. Lieblingsmetaphern, dachte er entzückt. Anna wird langsam eine gebildete Frau. Muss am Umgang mit der kleinen Mattei liegen. Dieser Hänfling hatte vor zwei Jahren in Philosophie promoviert. Zwar mit einer unglaublichen Arbeit darüber, wie schade es ist, wenn Frauenzimmer von ihren Typen umgebracht werden, aber insgeheim hatte der akademische Titel die Funktion, den hungrigen Mediengeiern bei Bedarf den Rachen zu stopfen, dachte er. »Der Materialumfang ist gigantisch«, sagte Holt. »Es ist ein Berg aus Papier, nicht einfach nur ein Heuhaufen, in dem sich vielleicht eine Nadel versteckt. Egal, ob es die Nadel gibt, wir werden sie nicht finden. Aber das wusstest du vorher schon?« 37
»Natürlich«, sagte Johansson versöhnlich. »Also müssen wir wirklich versuchen, die Situation zu mögen. Und das andere, das du erwähnt hast? Was ist das?« »Na gut«, sagte Holt. »Angenommen, wir machen es. Angenommen, wir finden etwas Entscheidendes, das uns zu einem Durchbruch in den Ermittlungen verhilft. Dann möchte ich behaupten, dass du mit einigen Personen in deiner Nähe noch viel größere Probleme kriegen wirst. Wenn wir bedenken, dass du ihnen glatt ins Gesicht gelogen hast. Von den Medien ganz zu schweigen. Ich bin vor der Mittagspause in unserer Presseabteilung vorbeigelaufen und habe mir den Entwurf für deine Pressemitteilung angesehen. Ich verstehe nicht, wie du das wagen kannst.« »Ich höre dir zu«, sagte Johansson, der mit seinen Gedanken schon wieder woanders zu sein schien. »Ich habe von meinem Vater eine Sache gelernt«, fuhr er dann fort. »Ja?« »Als ich ein kleiner Junge war und noch auf unserem Hof wohnte, bekam mein Vater Besuch von einem Versicherungsvertreter, der ihm eine Forstversicherung für eine Parzelle aufschwatzen wollte, die mein Vater soeben gekauft hatte. Die Parzelle lag ein wenig ungünstig, falls es einen richtigen Sturm geben sollte, und mit Sturmschaden und Wipfelbruch sind keine guten Geschäfte zu machen. Das Problem war, dass die Versicherung mehr gekostet hätte, als er für die Parzelle bezahlt hatte. Das wäre also auch kein gutes Geschäft gewesen. Weißt du, was mein gerissener Alter geantwortet hat?« Jetzt geht das wieder los, dachte Holt. Einmal einfache Fahrt fünfzig Jahre in die Vergangenheit. Von den Ermittlungen im Palmefall, einem aktuellen und überaus konkreten Problem, zu einer weiteren von Johanssons Kindheitserinnerungen. »Nein«, sagte Holt. »Woher sollte ich das wissen?« Darum geht es doch gerade, dachte sie. »Darüber kann ich mir immer noch Sorgen machen, wenn es so weit ist«, zitierte Johansson. »Das hat er gesagt. Also gab es keine Versicherung, aber als er zwanzig Jahre später dort den Wald fällte, strich er einen feinen Verdienst ein. Du glaubst doch wohl nicht in vollem Ernst, dass ich zum Sündenbock gestempelt werden würde, wenn wir nun entgegen aller 38
Wahrscheinlichkeit, das gebe ich ja zu, Ordnung in diese Geschichte bringen könnten? Das Einzige, was ich dann riskiere, ist wohl, dass ich unten vor dem Eingang in der Polhemsgata als Reiterstandbild ende.« »Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Holt. »Darüber mache ich mir Sorgen, wenn es so weit ist«, sagte Johansson und zuckte mit den Schultern.
5 Erst um Viertel nach sechs wurde Kommissar Flykts Wartezeit beendet. Er hatte schon dreimal anrufen müssen, um seine immer sarkastischer werdenden Golffreunde zu beruhigen, als sein Chef plötzlich die Tür aufriss und hereinkam. »Klopf, klopf«, sagte Johansson, lächelte freundlich und schwenkte seine rechte Pranke. Wo der Idiot wohl seine Golftasche stehen hat, überlegte er, nachdem er sich kurz in Flykts Büro umgesehen hatte. »Ja, ich weiß ja, du hattest alle Hände voll zu tun«, sagte Flykt und versuchte, ebenso unbeschwert zu klingen wie Johansson. »Das war ja eine unangenehme Geschichte, aber ich hatte wirklich versucht, dich zu warnen...« »Ach, scheiß drauf, Flykt«, sagte Johansson mit einer wegwerfenden Geste. »Mir liegt es fern, herausfinden zu wollen, bei welchem von deinen Mitarbeitern die Zunge schneller war als sein bisschen Verstand. Dass du das nicht selbst warst, hab ich von Anfang an gewusst.« »Ja, das will ich doch wirklich hoffen, Chef«, sagte Flykt. Nein, dachte Johansson. Vermutlich hast du nur den Schnabel ein bisschen zu weit aufgerissen. »Hast du die Pressemitteilung gelesen?«, fragte Johansson. »Irgendwelche Einwände?« »Nein«, sagte Flykt und schüttelte sicherheitshalber den Kopf. »Gut«, sagte Johansson. »Dann ist es höchste Zeit, dass wir beide jetzt losfahren und mit den Fernsehleuten reden. Zwischen den Sendern holen wir uns einen Happen zu essen.« »Aber ich bin überhaupt nicht auf ein Fernsehinterview vorbereitet«, wehrte sich Flykt. 39
»Musst du auch nicht«, sagte Johansson. »Du sollst nur mitkommen, um den Trotteln zu zeigen, wie eine geeinte Front aussieht.« Auch wenn du die Golftasche schon ins Auto gepackt hast, dachte er. Es war fast elf Uhr abends, als Johansson endlich seine eigenen vier Wände in der Wollmar Yxkullsgata betreten konnte. Sie hatten zwei Interviews für drei verschiedene Sender absolviert, dann hatte sein Fahrer Flykt vor dem Büro abgesetzt, weil dieser seinen Wagen aus der Tiefgarage holen musste. In der Wohnung war es still und dunkel. Johanssons Gattin war zu einer Kick-off-Veranstaltung mit der Bank, in irgendeinem Seminarhotel draußen in den Schären, und würde erst am nächsten Tag zurückkommen. Johansson freute sich auf einige ruhige Stunden nach einem harten Tag, der ein böses Ende hätte nehmen können, hoffentlich aber gut ausgegangen war. Im Korb unter dem Türbriefschlitz lag eine CD mit seinen Fernsehauftritten, die seine Sekretärin aufgenommen und die einer seiner vielen Mitarbeiter zu ihm nach Hause gebracht hatte. Superb, dachte Johansson, der mit sich und dem Abend zufrieden war. Zuerst deckte er ein Tablett mit einer angemessenen Auswahl von den Resten des Vortages und einem kalten Bier. Nach kurzem Überlegen schenkte er sich dann noch einen großzügigen Schnaps ein. Es ist schließlich Donnerstag und bald Wochenende, dachte Johansson mit einem zufriedenen Grinsen. Dann trug er das Tablett in sein Arbeitszimmer, goss sich das Bier ein und gönnte sich eine gute altmodische kalte Platte mit gemischten Leckerbissen, schob die CD ein und nahm in dem großen Sessel vor dem Fernseher Platz. Dann wollen wir doch mal sehen, sagte das blinde Huhn, dachte Johansson, biss herzhaft in eine Brotscheibe, halbierte den Schnaps, spülte mit Bier nach und schaltete den Fernseher ein. Ungefähr derselbe Beitrag in den frühen und den späten Nachrichten in den beiden Kanälen des staatlichen Fernsehens. Zu wenig Zeit, um allzu viel wegwerfen und zusammenschneiden zu können. Der wesentliche Unterschied war, dass der Beitrag in der späteren 40
Sendung kürzer war. Ein gutes Zeichen dafür, dass die ganze Angelegenheit bald vergessen sein würde. Ein korrekter Moderator, der die erwarteten Fragen stellte, der aber am Ende nur schwer seinen Ärger verbergen konnte, als Johansson die Behauptungen der größten Morgenzeitung energisch abstritt. Vor allem ärgerte der Moderator sich darüber, wie Johansson das machte, und vermutlich begnügte er sich deshalb auch mit den üblichen abschließenden Versuchen. »Aber ein Mann in Ihrer Position muss sich doch sicher fragen, wie es zu so einem Gerücht kommen kann«, erklärte der Chefsprecher der schwedischen Nachrichten. »Natürlich habe ich mir diese Frage gestellt«, sagte Johansson. »Die Existenz von Gerüchten ist an meinem Arbeitsplatz ein ebenso großes Problem wie an Ihrem, und sicher auch aus denselben Gründen. Das meiste, wovon die Medien berichten, trifft ja tatsächlich zu, und das meiste, worüber wir in meinem Job sprechen, trifft ebenfalls zu. Insofern sind also Spekulationen oder Einzelheiten, die jemand missverstanden hat oder die ganz einfach falsch sind, einfach der Preis, den wir dafür bezahlen, dass wir überhaupt einen Dialog miteinander führen können.« »Und diesmal wurde das alles aus den Fingern gesogen?«, meinte der Interviewer. »Ja«, nickte Johansson. »So war das. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass es sich schließlich um den Mord am Ministerpräsidenten dieses Landes handelt, und ich würde mir große Sorgen machen, wenn ich eines Tages feststellen müsste, dass die Medien kein Interesse mehr daran haben, über diesen Fall zu reden.« »Da Sie das gerade erwähnen... wird der Mord an Olof Palme jemals aufgeklärt werden?« Jetzt kommt es darauf an, dachte Johansson. Jetzt werden deine Worte auf die Goldwaage gelegt. »Wenn man als Polizist an einem Mordfall ohne Verdächtige arbeitet, dann gilt nur eins. Das Beste aus dieser Situation zu machen«, sagte Johansson. »Aber was glauben Sie selbst?« »In den vielen vergangenen Dienstjahren bei der Polizei habe ich an den Ermittlungen von vielen Morden mitgewirkt«, hob Johansson an und schien mit seinen Gedanken plötzlich weit weg zu sein. 41
»Aber mit dieser Ermittlung hatte ich nie etwas zu tun.« Passend für einen schwermütigen und grüblerischen alten Bullen, dachte er. Und dieser in sich gekehrte Ermittlerblick von seinem besten Freund, den er allerdings noch immer nicht so richtig beherrschte... »Aber Sie müssen doch trotzdem...« »Sie fragen den Falschen«, fiel Johansson ihm ins Wort. »Die Frage sollten Sie der Oberstaatsanwältin von Stockholm stellen oder den Ermittlern aus der Palmeeinheit, die mit dem Fall betraut sind.« »Aber denen bringen Sie großes Vertrauen entgegen?« »Natürlich«, sagte Johansson. »Das sind gute Leute.« Das hat gesessen, dachte Johansson zufrieden. Drückte auf den Pausenknopf, aß den Rest seines leckeren Brotes auf und trank die andere Hälfte des Schnapses, spülte mit Bier nach und schaltete den Fernseher wieder ein. Zeit für härtere Bandagen, dachte er zufrieden. Jetzt kam eine Reporterin, um einiges jünger als er, fast so hübsch wie seine eigene Frau und hoffentlich ein wenig zu gerissen, als gut für sie war. Zuerst hatte er seinen Spruch aufsagen dürfen. Die Botschaft seiner eigenen Pressemitteilung zusammengefasst. Dann wurde es plötzlich ernst. »Was ich nicht richtig verstehe, ist, dass Sie drei der erfahrensten Mordermittler des Landes eingesetzt haben, um etwas zu tun, was mir als eine typische Aufgabe für Computerfachleute erscheint«, sagte sie mit einem Lächeln, das so freundlich war, dass es hundertprozentig etwas anderes verbarg. »Für mich liegt das auf der Hand«, sagte Johansson. »Wenn man ein solches Material sortieren können will, muss man, wie Sie bereits gesagt haben, über eine große Erfahrung als Mordermittler verfügen.« »Aber Computer und Datenverarbeitung sind doch nicht wirklich deren Spezialgebiet?« »Ich fürchte, Sie unterschätzen meine Mitarbeiter«, sagte Johansson. »Alle verfügen neben ihrer polizeilichen auch über eine akademische Ausbildung, und eine von ihnen ist sogar Doktor der Philosophie. Wenn Sie mich fragen, ist sie unter Umständen die Polizistin hierzulande, die über die größte Erfahrung verfügt. Als Mordermittlerin greift sie ebenfalls auf eine 42
bedeutende Erfahrung zurück. Für eine Polizistin besitzt sie eine einzigartige Erfahrung, rein wissenschaftlich und auch statistisch, und ebenfalls in Bezug auf computertechnische Fragen, also wie man am besten mit einem sehr umfangreichen Ermittlungsmaterial umgeht.« »Aber was ist mit Ihnen?«, fragte plötzlich die Reporterin, »Sie sind doch ein legendärer Mordermittler. Sind Sie nicht verlockt, den Mord am Ministerpräsidenten aufzuklären?« »Was Computer und eine Menge Daten und so was angeht, bin ich doch ein alter Trottel«, lächelte Johansson. »Ich bin jeden Tag froh, wenn ich es schaffe, mich in meinen Rechner einzuloggen.« »Sie haben sich also nie versucht gefühlt?« »Doch, natürlich«, gab Johansson zu. »Aber glücklicherweise bin ich jetzt alt und klug genug, um das Leuten zu überlassen, die sich damit besser auskennen als ich. Ich habe gute Leute, die in der Palmesache tätig sind. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sie nicht in den Unterlagen ertrinken, die sie angehäuft haben.« »Bei Ihnen klingt das wie eine kühle Frage der Arbeitsorganisation?« »Ja«, bestätigte Johansson. »Und gerade mit solchen Fragen soll ich mich doch befassen. Eine gute Arbeitsatmosphäre schaffen, damit meine Mitarbeiter arbeiten können. Sie erinnern sich vielleicht noch, was letztes Mal passiert ist, als ein Haufen von alten Chefs plötzlich auf die Idee verfallen ist, durch die Gegend zu rennen und Mordermittler zu spielen.« Auch Anna Holt, Jan Lewin und Lisa Mattei hatten einen Großteil des Abends damit verbracht, Johansson bei seinen Fernsehauftritten zuzusehen. Dieser Mann spottet doch jeder Beschreibung, dachte Anna Holt, als sie die Spätnachrichten auf TV 4 ausschaltete. Wie schafft er das nur immer wieder, gesunde, normale Menschen den Faden verlieren zu lassen und plötzlich über etwas ganz anderes zu reden als das, worüber er eigentlich reden soll? Außerdem war es höchste Zeit, ins Bett zu gehen, wenn sie auf den Berg aus Papieren steigen wollte, unter dem Johansson sie begraben hatte.
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Der Mann kann um die Ecke sehen, dachte Lisa Mattei feierlich, und plötzlich hatte sie nicht mehr die geringste Höhenangst. Danach setzte sie sich an ihren Computer, weil ihr eine Idee gekommen war. Umfassende akademische Ausbildung, so kann man das auch nennen, dachte Jan Lewin, als er in der erdrückenden Einsamkeit seiner kleinen Wohnung oben auf Gärdet saß. Bei ihm ging es um ein Grundstudium in Jura, zwei Semester in Kriminologie und eines in Statistik, das er abgebrochen hatte, weil er die vielen Formeln nicht in den Griff bekommen konnte. Das Schlimmste war allerdings, dass das wenige, was er in seiner akademischen Ausbildung gelernt hatte, aus lauter Selbstverständlichkeiten bestand oder aus Dingen, die er bereits gewusst hatte. Abgesehen von Statistik natürlich, die ihn vor allem verwirrt hatte. Höchste Zeit, ins Bett zu gehen, dachte er. Er zog sich aus, putzte sich die Zähne und legte sich hin. Wie üblich wälzte er sich zwei Stunden hin und her, ehe er dann endlich einschlafen konnte. Die Situation mögen, dachte er. Wie soll das gehen, wenn die Einsamkeit deinem Leben Sinn und Zweck nimmt? Johansson selbst fühlte sich ganz ausgezeichnet. Er hatte den Abend mit ein paar Kapiteln aus Grimbergs Buch über das Gustavianische Zeitalter und den Mord an Gustav III. beendet. Danach hatte er sich an den Computer gesetzt und im Netz nach weiteren Informationen über ähnliche Mordfälle recherchiert. Seine Vorgehensweise hätte zumindest eine Reporterin von TV 4 ganz bestimmt überrascht. Interessant, dachte Johansson zwei Stunden später. Obwohl du den Verdacht bestimmt die ganze Zeit schon gehabt hast. Er stand unter der Dusche und ging seine neuen Erkenntnisse durch, während zugleich eine ganz eigene Idee anfing, in seinem Kopf Gestalt anzunehmen. Unbeabsichtigt musste er an die polizeilichen Maßnahmen bei den Ermittlungen im Mordfall des großen Königs Gustav III. vor über zweihundert Jahren denken. Hervorragende Ermittlungsarbeit. Unter den damaligen Umständen hatte der zuständige Polizeichef Georg Liljensparre alles getan, was von einem richtigen Polizisten erwartet werden konnte. Alles, was seinen Amtsnachfolgern 194 Jahre später misslungen war. 44
Zuerst hatte Liljensparre die Türen des Opernhauses verriegeln lassen, so dass niemand entwischen konnte. Er hatte die Namen aller Anwesenden notiert und erste Vernehmungen durchgeführt. Danach hatte er selbst die beiden Pistolen untersucht, die der Täter am Tatort weggeworfen hatte. Eine geladene, eine soeben erst abgefeuerte, beide unlängst hergestellt. Er hatte so vorgehen können, ohne auch nur einen Gedanken an Fingerabdrücke oder genetische Spuren verschwenden zu müssen, dachte Johansson und lächelte unter dem fließenden Wasser. Am darauffolgenden Tag hatte Liljensparre alle Waffenschmiede der Stadt zu sich gerufen, und einer von ihnen hatte seine Waffe wiedererkannt. Er hatte sie vor gerade einmal vierzehn Tagen für den Hauptmann Jakob Johan Anckarström angefertigt. Derselbe Anckarström, der den Maskenball am Abend zuvor besucht hatte und dem der Ruf vorauseilte, den König zu hassen. Anckarström war zur Vernehmung geladen worden, hatte mehr oder weniger alles gestanden, und Liljensparre hatte fröhlich weiterstapfen können. Vermutlich in den roten Wollstrümpfen, die er auf dem Ganzkörperporträt trug, das noch heute im Gang des Polizeidirektors im alten Stockholmer Polizeigebäude hing. Einer nach dem anderen waren Anstifter, Mitläufer, Verschworene und Oppositionelle hinter Gittern gelandet, wo die meisten versuchten, ihren Kopf zu retten, indem sie alle anderen anschwärzten, die bereits festgenommen worden waren. Die müssen damals gute vernehmende Beamte gehabt haben, dachte Johansson zufrieden, während er sich die Achseln besonders sorgfältig einseifte. Als die Menge der Festgenommenen auf über hundert anstieg, befanden die Machthaber offenbar, das würde vorerst genügen. Liljensparre wurde von seinem Auftrag entbunden, die Ermittlungen wurden abgeschlossen, die meisten Verhafteten auf freien Fuß gesetzt. Nur diejenigen, die unmittelbar beteiligt waren, wurden verurteilt und zwar zu überraschend milden Strafen, in Anbetracht der Zeit und des Vergehens. Mit Ausnahme von Anckarström, der bildlich gesprochen in Stücke gehackt worden war. Undank ist der Welten Lohn für einen armen Polizisten, ganz egal, wie es ausgeht, dachte Lars Martin Johansson. Darüber mache ich mir Sorgen, wenn es so weit ist, fügte er hinzu. Drehte das Wasser ab und streckte die Hand nach dem Handtuch aus. 45
Dann ging er ins Bett, und fünf Minuten später schlief er tief und fest und ohne dass sein Schnarchen irgendeinen Menschen auf der Welt hätte stören können.
6 Entgegen der Zusage, die er beim ersten Gespräch mit Holt und Mattei geäußert hatte, hatte Lewin mit seinen alten Kartons angefangen. Denselben Kartons, die alles Mögliche enthielten, allerdings von zweifelhaftem polizeilichen Wert. Das Ergebnis der Abteilung »Innere Ermittlungen«, für die er zwanzig Jahre zuvor verantwortlich gewesen war. Damals hatte er nichts gefunden und dann das Gefühl gehabt, es nicht einmal versucht zu haben. Drei handelsübliche Umzugskartons aus Pappe standen unter hunderten von anderen. Natürlich unten in jedem Stapel, so war das ja immer. Er hatte sie mit Hilfe seines handgeschriebenen Inhaltsverzeichnisses gefunden, das er vor zwanzig Jahren auf die Kartons geklebt hatte. Abgesehen davon, dass offenbar jemand die Kartons verschoben hatte, und das nicht nur einmal, lagen die Papiere so, wie er sie hineingelegt hatte. Das Einzige, was hier noch fehlt, sind Spinnweben, dachte Lewin, und seine erste Maßnahme bestand darin, den alten Selbstmord auf den Mälarinseln hervorzusuchen. Die erste Meldung - »verdächtiger Todesfall« - datierte vom Tag nach dem Mord am Ministerpräsidenten, Samstag, dem l. März 1986, registriert von der Polizei auf Norrmalm -ein Hinweis des Kollegen, der sich an Lewin gewandt hatte. Aus ungeklärten Gründen war dieser Fall auf Norrmalm gelandet, die Mälarinseln gehörten zu einem anderen Polizeibezirk, aber vermutlich lag es daran, dass der Kollege, der den Hinweis gegeben hatte, dort arbeitete sowie am allgemeinen Chaos, das nach dem Mord am Ministerpräsidenten ausgebrochen war. Die Anzeige lag ganz oben in einem Ordner, der außerdem einen Obduktionsbericht enthielt, weiterhin das Untersuchungsergebnis der Spurensuche im Haus auf Ekerö, in dem der ehemalige Wächter sich im Partykeller erhängt hatte, eine ballistische Untersuchung des Revolvers, der bei der Hausdurchsuchung gefunden worden war und jedoch nichts mit dem Selbstmord zu tun hatte, sowie das Protokoll eines Probeschusses aus derselben Waffe und eines ballis46
tischen Vergleichs mit zwei Kugeln, die am Tatort des Mordes am Ministerpräsidenten gefunden worden waren. Obwohl man damals schon gewusst hatte, dass die Waffe des Selbstmörders von einem anderen und um einiges kleineren Kaliber war als die Waffe, mit der der Täter den Ministerpräsidenten erschossen hatte. Ganz hinten im Ordner waren die Vernehmungen mit fünf Zeugen abgeheftet, der geschiedenen Gattin und vier Nachbarn des Toten. Ganz zuletzt kam die Aktennotiz, die Lewin beim Abschreiben des Vorgangs damals angelegt hatte. Überzeugt und frei von jedem Zweifel, der ihn sonst mehr als die anderen Kollegen quälte, dass der Mann, der sich das Leben genommen hatte, rein gar nichts mit dem Mord an Olof Palme zu tun hatte. Wie viel einfacher sonst alles gewesen wäre, dachte Lewin und seufzte. Die Kopien der alten Parkbescheide hatten einen eigenen Karton beansprucht. In der Zeit vom Freitagnachmittag, dem 28. Februar, bis zum Samstagnachmittag, dem 1. März, hatten Politessen und Polizisten fast zweitausend falsch geparkte Fahrzeuge im Großraum Stockholm, am Flughafen Arlanda, an den Hauptbahnhöfen in Uppsala, Enköping und Södertälje sowie an den Fähranlegern, in Nynäshamn, Norrtälje, Kapellskär sowie Hargshamn oben im nördlichen Uppland ausgestellt. Sie waren nach den Polizeibezirken und den Wachbezirken in Stockholm sortiert worden. In chronologischer Reihenfolge nach der auf dem Bußbescheid angegebenen Uhrzeit. Sorgfältig mit Gummibändern umwickelt und vermutlich hatte er selbst die meisten damals durchgesehen. Oben auf einem Haufen lag ein blauer Ordner. In diesem Ordner befanden sich Kopien von neunzehn Bußgeldbescheiden, die Lewin seiner eigenen Behörde oder einzelnen Polizisten zugeordnet hatte. Sechs davon verfügten über zivile Dienstwagen, und alle Bußgeldverfahren waren eingestellt worden. Die restlichen dreizehn bezogen sich auf Wagen, die auf Lewins Kollegen registriert waren. Neun von ihnen hatten in der vorgeschriebenen Frist ihren Bußbescheid beglichen, und da ihre Fahrzeuge in der Nähe ihrer Wohnungen gestanden hatten, war daran nichts Verdächtiges. Zwei hatten nach Erhalt einer Mahnung bezahlt, und auch dort hatte Lewin nichts Auffälliges finden können. 47
Er hatte mit beiden Fahrzeugbesitzern gesprochen, und einer hatte offen zugegeben, bei seiner Geliebten gewesen zu sein. Einer Kollegin übrigens, wie er eingestand, und wenn die Ermittler im Mordfall Palme nichts Besseres zu tun hätten, könnte man sie natürlich dazu befragen. Besser, als im Fernsehen zu landen, als Teil der so genannten Polizeispur. Wenn Lewin bitte so freundlich sein könnte, der Ehefrau nichts zu verraten, wäre er der glücklichste aller Kollegen. Lewin hatte sich mit der Kollegin/Geliebten begnügt und nach vollendetem Gespräch eine weitere Person als möglichen Mörder des Ministerpräsidenten abgeschrieben. Blieben noch zwei falsch geparkte Fahrzeuge an dem fraglichen Tag, die Polizisten gehörten und wo die Bußgeldverfahren eingestellt worden waren. In beiden Fällen hatte der Fahrer den Wagen dienstlich benutzt. Im ersten Fall hatte ein Ermittler des Drogendezernats einen Informanten getroffen und seinen eigenen AlfaRomeo einem Dienstwagen vorgezogen, da er viel weniger auffiel als ein Saab oder Volvo der Polizei. Im zweiten Fall handelte es sich um einen Kollegen von der Säpo, der einen Kronzeugen besuchte, den die Säpo an einem sicheren Ort untergebracht hatte. Ansonsten schien auch dort alles seine Richtigkeit zu haben. Beide Adressen, an denen die Fahrzeuge gestanden hatten, und die Zeitpunkte, zu denen die Bußgeldbescheide ausgestellt worden waren, sprachen dafür, dass diese Geschehnisse nichts mit dem Mord am Ministerpräsidenten des Landes zu tun gehabt hatten. Außerdem hatte er vom Drogendezernat und der Säpo Unterlagen zu beiden Fällen erhalten. Ich verstehe nicht, wie ich das ertragen habe, auch vor zwanzig Jahren nicht, schüttelte Lewin den Kopf, als er seine alten Kartons zurückschleppte und sie zu einem neuen Stapel auftürmte, um seinen Rücken zu schonen. Danach hatte er angefangen, sein Versprechen einzulösen, das er Holt und Mattei gegeben hatte. Allein die Unterlagen herauszusuchen, die er dafür benötigte, hatte ihn bis zum späten Abend beschäftigt. Erst gegen zehn Uhr hatte er das Polizeigebäude verlassen können. Er war mit der U-Bahn nach Gärdet gefahren. Hatte vor dem Nachtkiosk an der Ecke kurz gezögert. Hatte sich einen Ruck gegeben, war hineingegangen und hatte sich ein belegtes Brot und eine Flasche Mineralwasser ge48
kauft. Als er seine Wohnung betrat, war alles wie immer. Was ihn erwartete, war eine weitere Nacht voller Einsamkeit und am nächsten Morgen wieder ein Tag mit demselben Inhalt. Eine Reihe von Nächten und Tagen, die nie ein Ende zu nehmen schienen, dachte Lewin, als er endlich einschlief.
7 Anna Holt hatte keineswegs vor, sich in den Raum mit den Palmeakten zu setzen. Nicht an einen wackeligen Klapptisch, den sie selbst aufgebaut hatten und wo dann kaum Platz für die Rechner war, die Lisa Mattei für sie angeschlossen hatte. Deshalb hatte Lisa mit Hilfe ebenjener Rechner die Dokumente ausfindig gemacht, die Holt für ihre Recherchen über den »Palmemörder« Christer Pettersson benötigte. Am Ende hatten sie das Material gemeinsam in Holts Büro gebracht, damit sie dort alles in Ruhe und Frieden lesen konnte. Insgesamt etwa ein Dutzend Ordner, was nur ein geringer Teil der gesamten Unterlagen über Pettersson war. Gleichzeitig aber auch jene Akten, die Mattei zufolge die wesentlichsten Informationen über ihn bis zur Anklageerhebung im Mai 1989 enthalten sollten, über das zwei Monate später ergangene Urteil zu lebenslänglicher Haft und wie alles auf den Kopf gestellt worden war, als der Oberste Gerichtshof ihn im November desselben Jahres einstimmig freigesprochen hatte. Als Holt mit ihrer Last verschwand, registrierte sie den besorgten Blick von Jan Lewin. In Lewins Welt waren Unterlagen dieser Art nichts, was man sich einfach unter den Arm klemmte, um damit loszugehen. Schon gar nicht Unterlagen, die im Palmeraum aufbewahrt wurden. Entnommene Unterlagen mussten in eine besondere Liste eingetragen, sobald wie möglich zurückgebracht und auf derselben Liste dann wieder abgehakt werden. Datum, Zeitpunkt, Unterschrift. Dass sich alle anderen Kollegen auch wie Holt verhielten, war eine Tatsache, zugleich aber die traurige Erklärung dafür, dass sorgfältige Personen wie er selbst oft ein wahres Elend erlitten, wenn sie die Unterlagen suchten, die sie für ihre Arbeit benötigten. Schade, dass Jan immer so ängstlich ist. Er sieht nämlich eigentlich ziemlich gut aus, ging es Holt durch den Kopf, als sie und Lisa den Raum verließen und die Ungestörtheit in Holts eigenem Zimmer anstrebten. 49
»Kann ich sonst noch irgendwie behilflich sein?«, fragte Lisa Mattei, als sie die Ordner auf Holts Schreibtisch packte. »Das reicht vorerst«, sagte Holt lächelnd. »Du hast doch sicher auch eine Menge zu tun.« »Ich hab dir das hier rausgesucht«, sagte Mattei und gab Holt eine Plastikhülle, die sie unter dem Arm geklemmt hatte. »Was ist das denn?«, fragte Holt. »Ein paar interessante Daten über Christer Pettersson und seine Auszüge aus dem Personen- und Vorstrafenregister. Du findest das bestimmt auch in diesen Ordnern, aber eine zusätzliche Kopie ist doch niemals falsch, wenn du noch eigene Notizen anlegen willst. Ansonsten ist es nichts Besonderes, und das meiste weißt du sicher schon. Aber ab und zu kann es doch nützlich sein, exakte Daten und so zu haben.« »Wann hast du das gemacht?« »Als ich wusste, worüber Johansson sprechen wollte.« »Aber das war doch, ehe wir beschlossen haben, dass ich mir Pettersson ansehen soll.« »Eine von uns hätte es in jedem Fall gemacht«, erwiderte Mattei und zuckte mit den Schultern. »Das konnte ich mir doch ausrechnen«, fügte sie lächelnd hinzu. »Danke«, sagte Holt. Kleine, kleine Lisa, dachte sie. Die hat mehr im Kopf als wir anderen zusammen. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, entfernte sie alles andere von ihrem Schreibtisch. Stellte die Ordner in Reichweite auf, zog Notizblock und Stift hervor, ließ sich in ihrem nicht allzu unbequemen Schreibtischsessel zurücksinken, griff zu der Plastikhülle mit den Daten über Christer Pettersson, die Mattei ihr gegeben hatte, und legte dann gemütlich die Füße auf die Tischplatte. Alles in Übereinstimmung mit den allgemeinen Tipps und guten Ratschlägen in allen Lebensfragen, die ihr Vorgesetzter so großzügig mit seinen Untergebenen teilte, wenn er in der richtigen Stimmung war. Nach Ansicht von Lars Martin Johansson, dem »Genie aus Näsäker«, wie die Untergebenen ihn nannten, die nicht glaubten, dass er um »Ecken schauen« konnte, kaum waren sie ganz sicher, dass er nicht hörte, was sie sagten, laut Johansson also war das nämlich die ideale Körperhaltung, um sich »anspruchsvollerer Lektüre« zu 50
widmen. Füße und Beine sollten höher als der Kopf platziert werden, um den Zufluss vom Blut ins Gehirn zu erleichtern, und das Allerbeste war es, wenn man, versehen mit der nötigen Kissenmenge, auf einem bequemen und ausreichend großen Sofa liegen konnte. Es war auch wichtig, dass es in dem Zimmer, in dem das Sofa stand, nicht zu warm war. Nach Ansicht von Johansson, der in diesem Zusammenhang auf eine größere sozialmedizinische Studie aus Japan verweisen und sogar deren Autoren nennen konnte, erforderte diese Art des Lesens ungefähr dieselbe Temperatur, die auch für die Lagerung besserer Weine galt. Zum ersten Mal hatte Johansson seine Predigt über diese Herzensfrage gehalten, als sie nach einem durchaus gelungenen Betriebsfest vor ein paar Jahren in einer Bar gesessen hatten. »Das hört sich aber sehr kalt an«, wandte Holt ein. »Was heißt schon kalt?«, schnaubte Johansson. »Man muss es kalt haben. Dann denkt man am besten. Es muss genau so kalt sein, dass man klar in der Birne wird, sich aber nicht den Hintern abfrieren muss.« »Schon, aber ich dachte, Weine sollten bei zehn, zwölf Grad oder so gelagert werden.« »Kommt drauf an«, sagte Johansson vage. »Aber es darf im Zimmer nicht wärmer als sechzehn Grad sein. Beim Lesen, meine ich«, fügte er erklärend hinzu. »Beim Schlafen muss es um einiges kälter sein.« »Zu kalt«, sagte Holt und schüttelte energisch den Kopf. »Viel zu kalt für mich. Ich könnte überhaupt nicht denken, wenn es in meinem Zimmer so kalt wäre.« Ob seine arme Frau wohl Eskimo ist, überlegte sie. »Ja, das hatte ich mir fast schon gedacht«, sagte Johansson, und an diesem Abend wurde dann über diese Angelegenheit kein Wort mehr verloren. Daran, das Fenster zu öffnen, war an einem solchen Tag nicht zu denken. Holt seufzte und schielte zu den Sonnenstrahlen hinter den heruntergelassenen Jalousien hinüber. Das mit dem Sofa konnte sie auch vergessen. Johansson hatte jedenfalls keine konkreten Schritte in diese Richtung unternommen, und der Einzige in der gesamten Zentralen Kriminalpolizei, der für intellektuell anspruchsvollere 51
Aufgaben ein ausreichend großes und bequemes Sofa hatte, war natürlich er selbst. Wohlunterrichteten Quellen zufolge wurde dieses ausschließlich für seinen täglichen Mittagsschlaf genutzt. Bisher hatte niemand ihn jemals auf dem Sofa liegen und lesen sehen. Dieser Mann ist wie ein großes Kind, dachte Holt. Seufzte abermals und fing an, die Unterlagen über den Palmemörder Christer Pettersson durchzugehen, die sie von Mattei erhalten hatte. Christer Pettersson wurde am 23. April 1947 in Solna geboren. Vor knapp drei Jahren, am 29. September 2004, war er im Alter von siebenundfünfzig Jahren verstorben. Im Ermittlungsmaterial der Palmeeinheit war er erstmalig bereits am Sonntag, dem 2. März 1986 aufgetaucht, weniger als zwei Tage nach dem Mord am Ministerpräsidenten. Damals hatten nämlich Jan Lewin und seine Kollegen, die die Abteilung »Innere Ermittlungen« geleitet hatten, eine erste Auflistung von vergangenen Delikten grober Gewaltverbrechen erstellt, die sämtlich in der Nähe der Kreuzung SveavägTunnelgata, wo der Ministerpräsident erschossen worden war, geschehen waren. Es war eine lange Liste, die tausende von Verbrechen und mehr als tausend Personen enthielt. Eine davon war Christer Pettersson, der sechzehn Jahre zuvor, im Dezember 1970, in der U-Bahnstation mit einem ihm Unbekannten in Streit geraten war, nur fünfzehn Meter von der Stelle entfernt, wo der Ministerpräsident ermordet worden war. Pettersson hatte diesen Mann hinauf auf die Straße verfolgt und dort die Diskussion damit beendet, dass er seinem Opfer ein Bajonett, das er bei sich trug, ins Herz gerammt hatte. Innerhalb weniger Wochen hatte die Polizei ihn gefasst, und im Juni des folgenden Jahres war er wegen Mordes verurteilt und in eine geschlossene psychiatrische Klinik eingewiesen worden. Wobei er sich nicht zum ersten Mal mit dem schwedischen Gerichtswesen angelegt hatte. Im Auszug aus dem polizeilichen Vorstrafenregister waren mehrere hundert Delikte aufgeführt. Vom ersten Mal im Jahre 1964, mit siebzehn , bis zu seinem Tod. Die letzten Eintragungen datierten im Sommer seines Todesjahres. Pettersson hatte fast die Hälfte seines Erwachsenenlebens in Gefängnissen, psychiatrischen Krankenhäusern und Entzugsanstalten verbracht. In seinem Register fanden sich etliche Gewaltdelikte. Es gab jedoch keine Vermerke über Schusswaffengebrauch, weder vor 52
noch nach dem Mord am Ministerpräsidenten. Auch über seine politischen oder ideologischen Beweggründe lag nichts vor. Petterssons Gewaltverbrechen hatten sich offenbar gegen Personen gerichtet, die aus einem ähnlichen sozialen Umfeld stammten wie er, oder solche, die Menschen wie ihn im Zaum halten sollten, Männer, mit denen er sich gestritten hatte, denen er Geld oder Drogen gestohlen hatte, Frauen, die er gekannt oder mit denen er gelebt und die er ebenfalls misshandelt hatte. Und Polizisten, Sicherheitswachen, Ladendetektive. In seinem Vorstrafenregister dominierten dann auch kleine Diebstähle und Bagatellvergehen, und das am häufigsten als Geschädigter erwähnte Zivilopfer war der staatliche Alkoholladen. Auf diese Weise hatte Pettersson sich zudem drei seiner vier Alias zugelegt, die die Polizei registriert hatte, nämlich »Verdufter«, »Verpisser« und »Halbe Biegung«. Pettersson konnte den Alkoholladen betreten, um eine Flasche Wodka bitten, um klaren Schnaps oder Sahnelikör, sich die Flasche schnappen, sowie sie auf den Tresen gestellt worden war, und dann ganz einfach aus dem Laden »verduften« oder »sich verpissen«. »Halbe Biegung« war die Körperbewegung, die ein Verkäufer vollführte, wenn er die halbe Flasche klaren Schnaps hervorzog, die aus praktischen Gründen oft unter dem Tresen in der Nähe der Kasse aufbewahrt wurde und die offenbar die geringste Bestellung in Petterssons Leben gewesen war. Vor diesem Hintergrund war sein viertes Alias umso überraschender. Petterson war nämlich auch bekannt als der »Graf«, oder genauer gesagt der »Grave mit v und e«. Ein Detail, das er Bekannten gegenüber häufig betont hatte. Ein echter »Grave«, der großen Wert auf diese korrekte, altertümliche Schreibweise legte. Warum er so genannt wurde, ging aus den polizeilichen Unterlagen nicht hervor, aber für Holt war das Mysterium bereits mit Hilfe der sorgfältigen Lisa Mattei gelöst worden. Unter einem Sternchen am Rand hatte sie mit ihrer eleganten Schrift folgende Notiz gesetzt: »CP, geboren und aufgewachsen in Bromma. Bürgerliches Zuhause. Vater Geschäftsmann, Mutter Hausfrau. Gymnasium geschmissen. Ein Jahr Theaterschule. Hat sich und seine Herkunft im Umgang mit Gleichgesinnten oft als wesentlich vornehmer ausgegeben, als wirklich der Fall war.« 53
Alkohol- und Drogenmissbrauch, Berufskrimineller von der einfachsten Sorte, das alles wissen wir doch längst, dachte Holt. Aber diese Tatsache verursachte ihr nicht das unangenehme Gefühl nach der einleitenden Lektüre. Bereits am dritten Tag, am Sonntag, dem 2. März 1986, war er zusammen mit tausend Gleichgesinnten wegen einer sechzehn Jahre zurückliegenden Messerstecherei auf einer Liste von Verdächtigen gelandet. Danach schien sich zwei Jahre lang keiner der Kollegen für ihn oder für seinen Handel und Wandel interessiert zu haben. Erst im Sommer 1988 hatte man begonnen, ihn zu observieren, und ihn dann im Dezember des selben Jahres festgenommen. Warum gerade zu diesem Zeitpunkt?, fragte sich Holt. Und warum um Himmels willen hat es so lange gedauert?
8 Ohne auf Sorgfalt oder Objektivität zu verzichten, hatte Mattei dennoch versucht, sich ihre Aufgabe zu erleichtern. Mit Hilfe des Computers hatte sie alle Zusammenfassungen und Analysen aus dem Ermittlungsmaterial herausgefischt. Danach hatte sie alles chronologisch geordnet, um auf diese Weise einen Überblick zu erhalten, welche Auskünfte zu einem bestimmten Zeitpunkt für so wichtig erachtet worden waren, dass sie außergewöhnliche Überlegungen erfordert hatten. Da das Material für ihren Geschmack viel zu mager ausfiel, hatte sie danach mit Hilfe der unterschiedlichen für die Ermittlungen erstellten Register eine Auswahl an Dokumenten getroffen und diese herausgesucht und durchgesehen, um sich ein Bild von ihrem Inhalt zu verschaffen. Ungefähr jedes zehnte Dokument war nicht auffindbar, was daran lag, dass es im falschen Ordner gelandet war, dass der gesamte Ordner auf Abwege geraten war oder dass das Dokument einfach verschusselt worden war. Ob Johansson das wohl weiß?, überlegte Mattei. Danach hatte sie ein paar Schätzungen darüber aufgestellt, wie viel Arbeitsvolumen ihre früheren Kollegen wohl in die unterschiedlichen Arbeitshypothesen oder Ermittlungsberichte gesteckt hatten. In diese vielen »Spuren«, wie der Leiter der Ermittlungen, Chef der Bezirkspolizei Hans Holmer, sie unbedingt hatte 54
nennen wollen, obwohl dieses Wort eine ganz andere und sehr konkrete kriminaltechnische Bedeutung besaß. Jede Menge Holmersche Spuren, dachte Mattei. Aber fast keine von den ermittlungstechnisch üblichen. Keine Fuß- oder Fingerabdrücke, keine Fasern, Körperflüssigkeiten oder verlorengegangene Habseligkeiten, die zu einem Täter hätten führen können. Natürlich keine DNA, denn die hatte zur Zeit des Mordes am Ministerpräsidenten in der polizeilichen Vorstellungswelt noch nicht einmal existiert. Alles, was sie gefunden hatten, waren die beiden Revolverkugeln, die in der Mordnacht zur Anwendung gekommen waren, und die Tatsache, dass diese am Tatort von Privatpersonen entdeckt und der Polizei übergeben worden waren, machte die Sache auch nicht leichter. Mit Hilfe etlicher Dokumente, die zu den verschiedenen Spuren gehörten, hatte Mattei sich bereits nach einem Tag eine ganz anschauliche Vorstellung davon machen können, womit sich ihre vielen Kollegen fast zwanzig Jahre lang beschäftigt hatten. Die unterschiedlichen Spuren waren gekommen und gegangen. Wie bei einem Spaziergang durch eine Winterlandschaft, wo bestimmte Abdrücke im Schnee eben häufiger vorkommen als andere. Als einer der Ersten darin und als Erster wieder heraus war eine Person, die die Medien anfangs nur den Dreiunddreißigjährigen« genannt hatten, die aber schon ziemlich bald darauf unter ihrem bürgerlichen Namen hatte auftreten dürfen, Äke Victor Gunnarsson. Bereits in den ersten Tagen nach dem Mord waren bei der Polizei mehrere Hinweise eingegangen, in denen auch Gunnarsson erwähnt wurde. Er besaß eine große Ähnlichkeit mit der Beschreibung des Täters, besaß angeblich einen Revolver von dem Typ, den der Täter verwendet hatte, pflegte Kontakte zu einer palmefeindlichen Organisation und hatte sich mehrmals hasserfüllt über das Mordopfer geäußert. Und nicht zuletzt hatte er sich kurz vor dem Mord in der unmittelbaren Nähe des Tatortes aufgehalten, war in den Stunden darauf in der Umgebung herumgelaufen und hatte sich gelinde gesagt seltsam aufgeführt. Knapp vierzehn Tage nach dem Mord, am Mittwoch, dem 12. März, war er dann festgenommen worden. Eine Woche später war er auf freien Fuß gesetzt worden, und nach weiteren zwei Monaten, 55
am 16. Mai 1986, hatte der Staatsanwalt beschlossen, die Ermittlungen gegen ihn einzustellen. In diesen zwei Monaten war jedoch allerlei passiert, das mit Gunnarsson zu tun hatte, und das hatte nach und nach zu einem halben Dutzend dicker Ordner im Archiv der Palme-Einheit geführt. Untersuchungsergebnisse der Spurensichering in Gunnarssons Wohnung und an seinen Kleidungsstücken, Vernehmungen von Angehörigen und Zeugen, allerlei Expertisen und ein präziser Überblick über seinen sozialen Hintergrund und seinen Lebensstil. Danach war es für Jahre still um ihn geworden. Befreit von dem Verdacht, den Ministerpräsidenten ermordet zu haben, war er Anfang der neunziger Jahre in die USA ausgewandert. Erst als die amerikanische Polizei sich im Januar 1994 meldete und mitteilte, dass Gunnarsson ermordet aufgefunden worden sei - mit mehreren Schüssen getötet und dann in einem abgelegenen Wald in North Carolina abgelegt -, landete er abermals in den Schlagzeilen. Ein normales Eifersuchtsdrama, wie sich dann herausstellte. Dass der Täter, dem Gunnarsson Hörner aufgesetzt hatte, noch dazu Polizist war, war irgendwie konsequent, wenn wir bedenken, was für ein Leben er geführt hatte. Der Beamte der Palme-Einheit, der für die Ermittlungen zu Gunnarsson verantwortlich gewesen war, hatte mit seiner Enttäuschung nur schwer umgehen können. In seiner Welt war nach wie vor Gunnarsson der Mörder von Olof Palme, und nur einige Jahre nach Gunnarssons Dahinscheiden hatte er deshalb ein Buch herausgebracht, in dem er versuchte, das auch zu beweisen. Mattei hatte in einem der Ordner ein Exemplar gefunden, mit einer persönlichen Widmung, »vom Autor für die Kollegen der Palme-Einheit«, und als Lewin den Raum kurz verließ, um für sie beide Kaffee zu holen, hatte sie das Buch in ihrer Handtasche verschwinden lassen, um es zu Hause in aller Ruhe lesen zu können. Sechs vollgestopfte Ordner über Äke Victor Gunnarsson, aber geradezu verschwindend wenig im Vergleich mit dem Material, das sich auf die so genannte Kurdenspur bezog. Oder vielmehr die PKK-Spur, die offenbar in den ersten Jahren der Ermittlungen fast zweihundert Polizisten rund um die Uhr beschäftigt hatte. Die Vorstellung, die PKK, die Partiya Karkeren Kurdistan oder Arbeiterpartei Kurdistans, könnte den Ministerpräsidenten ermor56
det haben, hatte beim Leiter der Ermittlungen schon in der ersten Woche nach der Tat einen tiefen Eindruck hinterlassen. Das ursprüngliche Material stammte von den Kollegen bei der Säpo, die sich in ganz anderen Zusammenhängen für diese Organisation interessiert hatten. In den zwei vergangenen Jahren hatte die PKK für insgesamt drei Morde und einen Mordversuch in Schweden und Dänemark verantwortlich gezeichnet, deren Opfer Aussteiger aus der Organisation gewesen waren. Abgesehen jedoch von einer gewissen strukturellen Ähnlichkeit in der Methode war es ein großes Rätsel, warum sie auch den schwedischen Ministerpräsidenten hätten angreifen sollen. Die PKK war dafür bekannt, dass sie Aussteiger und Infiltratoren in den eigenen Reihen ermordete. Und nicht dafür, westliche Politiker anzugreifen, schon gar nicht den schwedischen Ministerpräsidenten. Ein Politiker und ein Land, die dem kurdischen Befreiungskampf Sympathien entgegenbrachten und einer großen Anzahl kurdischer Flüchtlinge Asyl gewährten. In der zweiten Julihälfte des Jahres 1986 jedoch hatte die Ermittlungsleitung entschieden, dass die PKK »mit großer Wahrscheinlichkeit« hinter dem Mord am Ministerpräsidenten stecke. Sie hatten sogar mehrere Sitzungen zu diesem Thema durchgeführt, und in einem ihrer vielen Ordner fand Mattei ein ausführliches Protokoll der Führungsriege der Ermittlungsleitung, in dem diese Überzeugung zu Papier gebracht worden war. Im folgenden halben Jahr war die Kurdenspur, oder die PKKSpur, deshalb zur so genannten Hauptspur geworden. Das alles war die Terminologie des obersten Chefs und für Linda Mattei fachlich betrachtet ein Rätsel. Ohne Rücksicht auf Verluste hatte man damals, vor zwanzig Jahren, die gesamte Energie auf diese Spur konzentriert, die sich mit einem riesigen Knall in Luft aufgelöst hatte. Am frühen Morgen des 20. Januar 1987 hatte Ermittlungsleiter Holmer einen umfassenden Zugriff veranlasst. An die zwanzig Kurden wurden festgenommen, mehrere Hausdurchsuchungen und unzählige Beschlagnahmungen wurden durchgeführt. Schon einige Stunden darauf setzte die Staatsanwaltschaft die Mehrzahl der Inhaftierten wieder auf freien Fuß, innerhalb weniger Tage wurden alle beschlagnahmten Gegenstände zurückgegeben, und die noch in Haft verbliebenen zwei Personen wurden nach einer Woche entlassen. 57
Der Skandal war unabwendbar. Holmer wurde als Ermittlungsleiter gefeuert und trat von seinem Posten als Bezirkschef der Polizei zurück. Die Verantwortung für die Ermittlungen wurde dem Generalstaatsanwalt übertragen, und die Zentrale Kriminalpolizei sollte ihn mit der Anzahl von Beamten versorgen, die für die Aufgaben vonnöten waren. Die Kurdenspur war plötzlich im Sande verlaufen. Alles, was zwanzig Jahre später davon noch übrig war, waren an die hundert mit Papier gefüllte Ordner und etliche Kartons, die Dinge enthielten, die sich nur schwer in Ordner stopfen ließen. Seufz und stöhn, dachte Lisa Mattei, obwohl sie nur sehr selten so dachte. Aber es gab noch andere Dinge. Die ganzen nicht zweckdienlichen Hinweise und falschen Spuren, zum Beispiel. Weitere hundert Ordner und tausende von Hinweisen, die sich zumeist auf Einzeltäter bezogen, die angeblich Olof Palme ermordet hatten. Das war auch der wesentliche Grund, warum die Liste jener Personen in unterschiedlichem Stärkegrad verdächtigt, aus unterschiedlichen Gründen denunziert, ohne plausiblen Anlass ausgewählt, nur als Ergebnis von Vermutungen und Vibrationen im Kopf des Denunzianten - an die zehntausend Namen enthielt. In den meisten Fällen waren diese Namen direkt im Ordner gelandet, ohne dass die Polizei vorher auch nur das geringste Interesse an ihnen gezeigt hätte. Wollen wir doch nur hoffen, dass es keiner von denen war, dachte Lisa Mattei inbrünstig. Blieben noch die vielen Spuren, die immerhin den guten Geschmack besaßen, nur eine geringere Anzahl von Ordnern zu füllen. Häufig hatten ein oder zwei gereicht, meistens waren es fünf geworden. Hier war auch der Bereich der Nachforschungen, wo die Ermittler offenbar ihre politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Ambitionen zum Ausdruck gebracht hatten. Hier gab es Spuren, die sich auf Südafrika, den Irak/Irankonflikt oder auch den Iran/Irakkonflikt bezogen, auf den »Mittleren Osten inklusive Israel«, auf »Indien/Pakistan« alias »Die indische Waffenaffäre« alias »die Boforsaffäre«. Hier gab es noch andere unterschiedliche »Terrorspuren« oder Hinweise auf »Gewaltbereite Organisationen«, von der Baader58
Meinhof-Bande über die Roten Brigaden, den Schwarzen September und die Ustascha bis zu den kurzgeschorenen Talenten der BSS, Bewahrt Schweden Schwedisch, und den alten enttäuschten Altsozis, die angeblich die treibende Kraft hinter »Wir, die Schweden aufgebaut haben« ausmachten. Es gab auch Material über Organisationen und Personen, die es besser hätten wissen oder die zumindest Erbarmen mit dem Opfer hätten zeigen müssen. Staatliche Sicherheitsorgane auf dem Balkan, in Südafrika und etlichen Diktaturen und Bananenrepubliken sowie die CIA. Militärs und die schwedische Polizei, diverse Freunde, Bekannte und ehemalige Arbeits- und Parteikollegen. Sogar die Familienmitglieder des Opfers waren damals bespitzelt worden. Die Familienspur, dachte Lisa Mattei und kicherte. Unvermittelt sah sie ihre Mutter vor sich, die seit über zwanzig Jahren als Hauptkommissarin bei der Sicherheitspolizei tätig war. Hier gab es für jeden etwas, und was die sachliche Grundlage der polizeilichen Spekulationen anging, konnte Mattei zumindest feststellen, dass diese jedenfalls stringent wirkte. Geheimnisvolle Informanten mit rätselhafter Vergangenheit, allerlei Entlarvungen in den Medien, ehemalige Fernsehjournalisten mit psychiatrischer Diagnose sowie natürlich die üblichen Hohlköpfe, die in allen öffentlichen Debatten auftauchen. Ansonsten wenig bis gar nichts. Der konkreteste Beitrag, den Mattei bisher gefunden hatte, waren die Berichte der verschiedenen Ermittler der Palme-Einheit. Vorausgesetzt, die Spur führte in wärmere Gefilde und die Jahreszeit war die richtige, war man allerlei Spuren nämlich vor Ort nachgegangen. Leider und in sämtlichen Fällen ohne Ergebnis, aber die ausländischen Kollegen schienen sich um ihre schwedischen Besucher doch rührend gekümmert zu haben. Immerhin etwas, dachte Lisa Mattei. Vor allem aber ging es um den »Palmemörder« Christer Pettersson. Es gab zwei Perioden, in denen sich die Ermittlungen hauptsächlich auf ihn bezogen hatten. Vom Sommer 1988 bis zum Ende des darauffolgenden Jahres, als ihn der Oberste Gerichtshof freigesprochen hatte. Danach folgten mehrere Jahre relativer Ruhe, bis 1993 ein Wiederaufnahmeantrag vorbereitet worden war, um den Freispruch noch einmal überprüfen zu lassen. 59
Der Antrag war im Dezember 1997 eingereicht und im Mai des darauffolgenden Jahres vom Obersten Gerichtshof abgewiesen worden. Vor drei Jahren hatte Pettersson sein irdisches Leben beendet, und was auch immer er zur Ermittlung hätte beisteuern können, er hatte es mit ins Grab genommen. Das Ermittlungsmaterial hatte danach jahrelang in Kartons gelegen. Seit mehreren Jahren beschäftigten sich die Dutzende von Ermittlern hauptsächlich mit ganz anderen Aufgaben. Sie trafen sich einmal pro Woche, tranken einen Kaffee zusammen und redeten über ihren Fall. Über alte Geschichten, ehemalige Kollegen, die gestorben oder in Pension gegangen waren, über Christer Pettersson, der noch immer das beliebteste Thema für diese Runde war. Und bald sind sie alle tot, dachte Lisa Mattei, die damals, als Schwedens Ministerpräsident ermordet worden war, erst elf Jahre alt gewesen war.
9 Trotz der Ereignisse am Donnerstag hatte Johansson sich auf ein ruhiges Wochenende gefreut. Sein vorbildlich klares und deutliches Dementi bei allen größeren Fernsehsendern hätte doch einen gewissen Eindruck machen müssen, sogar auf die Holzköpfe, die für die größte Morgenzeitung des Landes arbeiteten. Bei den übrigen Medien schien seine Botschaft ihre Wirkung getan zu haben. Jedenfalls rief niemand mehr an, um sich nach den Ermittlungen im Palmefall zu erkundigen. Bei Dagens Nyheter aber war das anders. Am Freitagmorgen wurde Johanssons Verdauung bereits beim Frühstück durch einen längeren Leitartikel mit der besorgniserregenden Überschrift »Der Untergang der Polizeimacht« gestört. Natürlich ohne Autorenkürzel, wie immer, wenn es hart auf hart kam. Bestimmt einer von diesen ewig sauren Frauenzimmern, die da arbeiten, dachte Johansson. Ob die Behauptung des Chefs der Zentralen Kriminalpolizei nun zutraf oder nicht, frühere Erfahrungen hatten die schreibende Zunft jedenfalls gelehrt, dass man solchen Typen wie Johansson niemals trauen sollte, schon gar nicht, wenn es um den Mord an 60
Olof Palme ging. Die Lage schien noch schlimmer zu sein, als die Zeitung befürchtet hatte. Die Palmeermittlung sei in Wirklichkeit klammheimlich eingestellt worden, obwohl es sich vielleicht um das wichtigste Ereignis in der Geschichte der schwedischen Innenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg handelte. Das Ermittlungsmaterial habe man stillschweigend in Kartons verstaut, die Ermittler beschäftigten sich mit ganz anderen Dingen. Angesehene Staatsanwälte und Polizisten, die offenbar vorhätten, dieses polizeiliche Fiasko im Keller verschwinden zu lassen. Bald würde der Mord an Olof Palme verjähren. Danach würde das Ermittlungsmaterial für sehr viele Jahre für geheim erklärt werden und unter Verschluss bleiben. In dieser Hinsicht hatte man in der Redaktion der Dagens Nyheter nicht den geringsten Zweifel. Auch nicht was die selbstverständliche Schlussfolgerung anbetraf, dass es höchste Zeit für die Regierung sei, eine neue Ermittlungskommission einzusetzen, in der Angehörige sämtlicher im Parlament vertretenen Parteien und Mitbürger vertreten sein sollten, die das Vertrauen der Bevölkerung besaßen. Der zukünftige Leiter dieser Kommission lag nach Ansicht der Zeitung ebenfalls bereits auf der Hand, nämlich der Justizkanzler, der sich bei Johansson und dessen Kollegen einen Namen gemacht hatte mit seinen ewigen Klagen über fehlende Tatkraft, Ordnungsliebe und Moral bei der Polizei. Ein Schicksal schlimmer als der Tod, dachte Lars Martin Johansson, und dabei meinte er sich selbst. Nicht den Ministerpräsidenten, der einem ungeklärten Mord zum Opfer gefallen war und der deshalb seinen Ordnungssinn störte. Als er endlich im Büro ankam, war es Zeit für die nächste Variation zum gleichen Thema. Seiner Sekretärin zufolge »insistierte« Kommissar Flykt auf einer sofortigen Unterredung mit seinem Vorgesetzten. Trotz des Namens, dachte Johansson düster. »Na gut«, sagte er. »Kannst den Idioten reinschicken.« Kommissar Flykt sah nicht glücklich aus. Sichtlich nervös sogar, mit roten Wangen unter seiner sonst so gleichmäßigen Sonnenbräune. 61
»Setz dich, Flykt«, grunzte Johansson und nickte kurz zu seinem Besuchersessel hinüber. Er selbst saß bequem zusammengesunken in seinem Sessel, die Hände über dem Bauch gefaltet, ernster Gesichtsausdruck. Hör auf, dich wie ein verdammter Erststraftäter aufzuführen, Flykt, dachte er. »Womit kann ich dir behilflich sein?« Es gebe Probleme, so Flykt. Zwei Probleme, obwohl die beiden miteinander zusammenhingen. »Ich bin ganz Ohr«, sagte Johansson und bohrte seinen dicken rechten Daumen in sein linkes Nasenloch, auf der Jagd nach unschönen Haaren und ganz ordinärem Popel. Dagens Nyheter hätten sich offenbar noch nicht geschlagen gegeben. Trotz des eigentlich unmissverständlichen Dementis des Chefs lagen sie noch auf der Lauer. Flykt selbst habe deutliche Anzeichen dafür beobachten können. »Sicher«, sagte Johansson. »Was hattest du denn erwartet? Damit müssen wir eben leben. Die dingfest zu machen, die den Schnabel zu weit aufgerissen haben, können wir doch vergessen. Das weißt du so gut wie ich.« Natürlich. Das wisse Flykt auch, aber die Situation sei doch beunruhigend und... »Jetzt vergiss die DN«, fiel Johansson ihm ins Wort. »Die springen doch ab, sobald sie etwas Neues finden, über das sie ihren Dreck ausschütten können. Was ist das andere?« »Das andere?«, wiederholte Flykt überrascht. »Du hattest zwei Probleme«, erklärte Johansson. »Welches ist das zweite? Das mit dem ersten zusammenhängt? Das hast du selbst noch vor einer Minute gesagt.« Sicher, sicher, und der Chef müsse Geduld mit ihm haben, wenn er ein wenig konfus wirke. Es sei nämlich so, dass er und seine Kollegen schon seit dem Vortag einem wahren Bombardement durch die verschiedenen Informanten und die selbstberufenen privaten Ermittler ausgesetzt seien, die für die Hauptarbeitsbelastung verantwortlich gewesen waren, seit der Oberste Gerichtshof den Wiederaufnahmeantrag im Fall Pettersson abgelehnt hatte. Seit einigen Jahren war es stiller um sie geworden, aber jetzt habe Johansson sie wieder zum Leben erweckt. 62
»Ja, also nicht der Chef selbst, sondern dieser unselige Artikel in der DN«, sagte Flykt. »Was recht ist, muss recht bleiben«, fügte er hinzu. »Die altbekannten Verstrahlten, die Hundekacke und alte Patronen schicken, die sie am Tatort gefunden haben wollen«, fragte Johansson und grinste. »Ja«, antwortete Flykt. »Und dann die ganzen Anrufe.« Flykt zufolge war ihre Telefonzentrale mehr oder weniger blockiert. Außerdem strömten Mails und sogar SMS für die Kollegen herein, die unvorsichtigerweise ihre Mobilnummern herausgegeben hatten. Die Poststelle hatte sich bereits beklagt. Wäschekörbeweise Sendungen, und der Bomben- und Kotdetektor lief auf Hochtouren. Die interne Sicherheitsabteilung hatte schon fast ein Dutzend Anzeigen wegen mutmaßlichem Hausfriedensbruch und Bedrohung eines Beamten registriert, der versucht hatte, das Elend in den Griff zu bekommen. »Du musst entschuldigen«, sagte Johansson. »Aber ich verstehe das Problem noch immer nicht.« Wirf alles in den Müll und gib der Post die Schuld, wenn alle Stricke reißen, dachte er. Flykts Problem war banal. Ihm fehlten Leute, die ihm beim Notieren, Registrieren, Auswerten und Analysieren der neuen Flut von Hinweisen helfen konnten. Normalerweise bestand seine Einheit aus insgesamt zwölf Ermittlern. Dazu kam seine Sekretärin und eine Halbzeitkraft. Im Moment waren sie jedoch bedeutend weniger. Die Hälfte der Truppe war in Urlaub oder bummelte Überstunden ab. Zwei waren in Kanada auf Fortbildung. Drei hielten sich auf den Kanarischen Inseln auf, um bei der Identifizierung der Opfer eines Hotelbrandes behilflich zu sein, der sich vor zehn Tagen ereignet hatte. Blieben Flykt selbst, seine Sekretärin sowie eine Kollegin, die wegen Burn-out-Syndrom nur halbtags arbeiten konnte. »Sag mir«, sagte Johansson. Er beugte sich vor und starrte Flykt an. »Wie soll ich dir also helfen?« Quengel, quengel, quengel, dachte er. Flykt hatte schon Anlauf genommen. Es sei nur ein flüchtiger Gedanke. Wäre es nicht möglich, dass Holt, Lewin und Mattei sich 63
um die Registrierung kümmerten, bis seine Mannschaft wieder im Hause wäre und die Sache übernehmen könnte? »Auf keinen Fall«, sagte Johansson mit Erz in der Stimme. »Das wäre ja noch schöner. Die sind doch gerade damit beschäftigt, sich einen administrativen Überblick über eure Methoden der Datenverarbeitung zu verschaffen. Wie sollten sie sich in eure Ermittlungsarbeiten einmischen können? Die Tante von der Staatsanwaltschaft würde sich freuen, dich jetzt zu hören, Yngve.« »Hast du keinen anderen Vorschlag, Chef?« »Schmeiß den ganzen Kram in den Mülleimer«, sagte Johansson. »Gib der Post die Schuld, wenn sich jemand beschwert.« Johanssons restlicher Tag verlief relativ normal und akzeptabel. Als er gerade nach Hause gehen wollte, bat Mattei um eine Besprechung, und da Johansson auf seinem Dienstsofa lag und sich bereits überlegte, was er zu Abend essen wollte, hatte er ganz gute Laune, als seine Sekretärin Mattei hereinschickte. »Nimm Platz, Lisa«, sagte Johansson freundlich und zeigte mit dem Arm auf den nächststehenden Sessel. »Wie läuft es bei dir denn so?« »Meint der Chef den Überblick über die Methoden der Datenverarbeitung?«, fragte Mattei. »Genau«, sagte Johansson. »Hast du den Schuldigen schon gefunden?« Tüchtiges Mädchen, dachte er. Sie erinnerte ihn ein wenig an die Sparmarie aus den Filmen über die zwei Mädchen Sparmarie und Prassmarie, die ihm seine Lehrerin damals auf der Grundschule in Näsäker gezeigt hatte. Nein. Mattei hatte den Täter nicht gefunden. Dagegen hatte sie jetzt eine Meinung darüber, warum das auch sonst niemandem gelungen war. Und sie hatte sich zudem einen Überblick verschafft, was das Ermittlungsmaterial beinhaltete. »Im Großen und Ganzen«, erklärte Mattei. »Ausrichtung und Struktur, wenn man das so sagen kann.« »Ach was«, sagte Johansson. Du kleine Scharfnase, dachte er. »Shoot«, sagte Johansson. »Ich dachte, ich könnte eine kleinere soziologische Untersuchung vornehmen«, sagte Mattei. 64
Johansson nickte natürlich, aber Mattei registrierte das minimale Flackern in seinen grauen Augen. Eine kleinere soziologische Untersuchung, in der sie ganz einfach die Kollegen interviewte, die noch immer Jagd auf Palmes Mörder machten. Die noch am Leben waren und mit denen man reden konnte. Sie wollte sie ganz einfach fragen, wer es ihrer Meinung nach gewesen sei und warum alles so gelaufen war. »Du glaubst nicht, dass man damit schlafende Hunde weckt?«, wandte Johansson ein, dem plötzlich der morgendliche Leitartikel eingefallen war. Im Gegenteil, meinte Mattei. Wenn ihre Aufgabe darin bestand, bessere Methoden für den Umgang mit diesem umfangreichen Material zu entwickeln, dann musste unbedingt eine Art umfassende Bewertung vorgenommen werden. Und wer könnte sich besser darüber äußern als die, die sich in all den Jahren damit beschäftigt hatten? »Ich verstehe, was du meinst«, sagte Johansson zögernd. »Ich an deren Stelle würde mich geschmeichelt fühlen«, fügte Mattei hinzu. Du nicht, dachte er. Ich auch nicht. Aber fast alle anderen. »Klingt gut«, sagte Johansson. »Das kaufe ich. Sag Bescheid, wenn du Unterstützung brauchst.«
10 Johanssons erste Arbeitswoche nach dem Urlaub endete so gut, wie sie begonnen hatte, und allen Ärger und alles Elend dazwischen wollte er vergessen. Am Freitagabend ließ er sich von seiner Gattin beurlauben, um mit seinem besten Freund zu Abend zu essen, Kriminalkommissar Bo Jarnebring, der mittlerweile bei der Bezirkskriminalpolizei in Stockholm als stellvertretender Ermittlungsleiter arbeitete. Der Größte der Alten Wölfe. »Kommt wie gerufen«, sagte Pia. »Möchte noch bei Papa vorbeischauen, wenn wir am Wochenende wegwollen. Grüß Bo und trink nicht zu viel.« »Versprochen«, log Johansson. Johansson und Jarnebring trafen sich am »üblichen Ort«. In dem italienischen Restaurant, das fünf Minuten zu Fuß von Johanssons 65
Wohnung entfernt lag und seit über zwanzig Jahren sein Stammlokal war. Er war ein gewissenhafter Gast, ein großzügiger Gast, aber auch ein Gast, der seine Spuren hinterlassen hatte. Seit Jahren konnte er seinen Lieblingsschnaps aus seinen eigenen, kristallenen Schnapsgläsern trinken, von denen er ein Dutzend hatte bringen lassen. Dazu genoss er allerlei italienische Varianten alter schwedischer Klassiker wie Kartoffelsalat mit Sardellen, Krabben auf Schwarzbrot und gebratenen Strömling. »Du siehst fit aus, Lars. Ich glaube sogar, du hast ein paar Kilo abgenommen«, sagte Jarnebring, nachdem sie ihre einleitenden Begrüßungen absolviert und sich an ihrem Stammtisch in der Ecke des Lokals niedergelassen hatten, wo sie nach guter polizeilicher Manier in Ruhe essen und zugleich im Blick behalten konnten, wer kam und wer ging. »Ein paar ist wohl untertrieben«, sagte Johansson mit unverhohlenem Stolz. »Wenn es nach meiner Badezimmerwaage geht, dann reden wir hier von einer zweistelligen Zahl.« »Du bist doch nicht krank? Ich war ein wenig beunruhigt, als ich neulich die Zeitung aufschlug und gesehen habe, dass du eine neue Palme-Ermittlung eröffnet hast. Dachte, dich hätte ein kleiner Alzheimer-Anfall erwischt.« »Ich bin so fit wie ein Turnschuh«, sagte Johansson. »Und wenn du mich im Fernsehen gesehen hättest, dann...« »Gute Arbeit«, sagte Jarnebring mit breitem Grinsen. »Ich hab es gesehen. Du änderst dich auch nie. Sag Bescheid, wenn du einen richtigen Job möchtest, dann lege ich bei der Bezirkskripo ein gutes Wort für dich ein.« »Darüber mache ich mir Sorgen, wenn es so weit ist«, sagte Johansson mit einem Hauch von Wehmut in der Stimme. Johansson ließ das Thema fallen, um über wichtigere Dinge zu sprechen. Über die Speisenfolge, die er und der italienische Wirt zur Feier des Abends komponiert hatten. »Da wir uns den ganzen Sommer nicht gesehen haben, dachte ich, wir könnten gründliche Arbeit leisten«, sagte Johansson. »Das ganze Programm, und ich bezahle die Chose. Da hast du doch wohl nichts gegen einzuwenden?« »Ist der Papst Muslim?«, fragte Jarnebring. 66
Das ganze Programm. Zuerst hatten zwei geschickte Kellner ein kleines kaltes Büffet aufgetischt, das eine notwendige Voraussetzung dafür war, Bier und Schnaps trinken zu können. Ein leider vernachlässigter Teil der ansonsten so hervorragenden italienischen Essenskultur, aber in diesem Lokal war dieses Problem schon seit langem von Johanssons vorausschauender Weise beseitigt worden. »Nichts Besonderes, nur ein paar gemischte Köstlichkeiten«, erklärte Johansson mit einer abwehrenden Handbewegung. »Diese kleinen Minipizzen da in der Schüssel...« »Die sind doch nicht größer als mein Daumennagel«, fiel Jarnebring ihm ins Wort. »Genau. Kleine Pizzen mit schwedischen Sardellen und gehacktem Schnittlauch belegt und mit Parmesan überbacken.« »Ist der Papst Katholik?«, zischte Jarnebring gierig. »Danach gibt es Sardinen in einer Marinade aus Knoblauch, Senf, Kapern und Öl.« »Ich kack mir in den Schuh...« »Der Schinken dort«, sagte Johansson. »Der ist weder schwedisch noch italienisch. Sondern spanisch. Wird pata negra oder Schwarzklauenschinken genannt. Frei laufende Schweine, die Eicheln fressen, bis sie umgebracht, gesalzen und an der Luft getrocknet werden. Das beste Schwein der Welt, wenn du mich fragst.« Es duftete nach den grünen Bergen der Sierra Madrona, dachte Johansson sehnsüchtig und schnupperte mit seiner großen Nase. Nicht einmal im Traum hätte er das laut gesagt. Unter Männern und echten Polizisten gab es Dinge, die man niemals aussprach, und warum sollte er seinen besten Freund unnötig beunruhigen. »Verdammt gutes Schwein, wenn du mich fragst«, wiederholte Johansson und hob sein volles Schnapsglas. »Prost, Chef«, sagte Jarnebring. »Wollen wir trinken oder quasseln?« Als Johansson nach dem zweiten Schnaps das bevorstehende Hauptgericht schilderte, zeigte sich in Jarnebrings Gesicht ein Hauch von Zweifel. Zum ersten und einzigen Mal an diesem Abend und offenbar mehr aus einem alten Reflex heraus. »Ich habe mich für Pasta als Hauptgang entschieden«, sagte Johansson. 67
»Pasta«, wiederholte Jarnebring zögerlich. Schläft Dolly Parton seit neuestem auf dem Bauch?, dachte er. »Mit gebratenen Rinderfiletstreifen, Pfifferlingen und einer Soße aus Sahne und Cognac«, verkündete Johansson. »Klingt interessant«, nickte Jarnebring begeistert. Dolly schläft zum Glück so wie immer schon, dachte er. Drei Stunden später hatten sie die üblichen Gesprächsthemen abgearbeitet, die eigene Familie und Verwandten. Normalerweise war dieses Thema in fünf Minuten abgehakt, so dass man den Rest des Abends in Ruhe und Frieden der Aufgabe widmen konnte, über alle nicht anwesenden Idioten herzuziehen, egal, ob es sich dabei um Kollegen, Verbrecher oder schnöde Zivilisten handelte. Aber diesmal nicht, weil Jarnebring plötzlich anfing, über seinen jüngsten Sohn zu reden, und wie es war, Papa zu werden, wenn man die fünfzig hinter sich und längst entschlossen hatte, sich keine weiteren Kinder zuzulegen. Aber gerade das sei eben das Größte, was ihm jemals passiert sei. Auch im Vergleich zu all den Verbrechern, die er im Laufe der Jahre einkassiert habe. Muss die gute Pasta sein, dachte Johansson. Die plötzlich eine neue und weichere Seite bei dem lieben Bo hervorgelockt hat. »Und da stehst du plötzlich mit zwei neuen kleinen Rackern da. Dem Kleinen, meine ich. Und natürlich auch dem Mädchen«, sagte Jarnebring und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Dieser Kleine ist etwas ganz Besonderes. Das kann ich dir sagen, Lars.« »Und seine große Schwester«, fragte Johansson, um abzulenken. »Wie geht es der denn?« »Du meinst die kleine Lina?«, sagte Jarnebring überrascht. »Ihrer Mama wie aus dem Gesicht geschnitten, wenn du mich fragst.« Klein und klein, dachte Johansson. Muss doch inzwischen auch schon fünfzehn sein. Pia und er hatten sich niemals Kinder zugelegt. Es hatte sich einfach nicht ergeben. Aus den unterschiedlichsten Gründen, über die er nicht sprechen wollte, darum wechselte er das Thema. »Apropos komische Kollegen«, sagte Johansson, »ich bin vor kurzem deiner reizenden Chefin begegnet.« Irgendwann verließen sie dann das Lokal und trotteten zu Johansson nach Hause, für den obligatorischen Absacker. Auf halbem 68
Weg stießen sie auf vier junge Männer, die ihnen mit erwartungsvollen Blicken nebeneinander auf dem Bürgersteig entgegenkamen. Jarnebring blieb stehen. Schaute den Größten der vier angriffslustig an, und als der Jarnebring erkannte, war der Rest reine Routine. »Was ist los, Marek?«, fragte Jarnebring. »Willst du dich umbringen?« »Respekt, Chef«, sagte Marek, schlug die Augen nieder und zog seine Kumpels auf die andere Straßenseite. »Passt auf euch auf, Mädels«, grunzte Johansson. Wir sind zu alt für so was, dachte Johansson, als er den Schlüssel in sein privates Tor zu Frieden und Sicherheit steckte. Falsch, dachte er. Du warst immer schon zu alt für so was. Bo ist, wie er ist, und so wird er immer sein. »Erzähl mir von Palme«, sagte Johansson zehn Minuten später, als sie in ihren Sesseln in seinem großen Arbeitszimmer saßen. Jarnebring mit einem beachtlichen Whisky-Soda und der Flasche in bequemer Reichweite. Er selbst mit einem Glas Rotwein und einer Flasche Mineralwasser. In seinem Alter musste man sich schonen, und abgesehen von dem obligatorischen Schnaps zu Beginn eines opulenten Mahls, denn der würde ihn sicher für den Rest seines Lebens begleiten, begnügte er sich inzwischen mit Bier, Wein und Wasser. Und ab und zu einem Cognac, der Verdauung zuliebe. Jarnebring sah das natürlich anders. Er war, wie er war. Mit einem Körper, der dem menschlichen Verstand trotzte und vom Alkohol restlos unbeeinflussbar zu sein schien. Ich wüsste ja gern, wieso er überhaupt trinkt, dachte Johansson. »Erzähl mir von Palme«, forderte er ihn erneut auf. »Du warst doch dabei, als es passiert ist.« »Du willst Tipps haben, wie du die vielen Ordner in den Regalen unterbringen sollst? Ich mache das mit dem Rücken nach außen. Dann klebe ich Zettelchen darauf, auf denen steht der Inhalt«, zog Jarnebring ihn auf. »Lass meine Ordner in Ruhe«, sagte Johansson. »Es ist einfach passiert«, sagte Jarnebring. »Wenn wir uns normal verhalten hätten, hätten wir den Idioten natürlich erwischt. Wenn wir die Vorgehensweise wie sonst auch hätten bestimmen dürfen«, verdeutlichte er. »Wenn wir nicht einen Haufen bescheuerter Juristen gehabt hätten, die angeordnet haben, was wir zu tun 69
hatten. Du hättest ihn bestimmt erwischt, wenn du von Anfang an dabei gewesen wärst. Du hättest nicht länger als einen Monat gebraucht. Aber du warst ja wie üblich mit deinen Ordnern beschäftigt.« »Wer war es denn jetzt?« »Weiß der Geier«, sagte Jarnebring und kratzte sich am Kopf. »Aber Christer Pettersson war es nicht. Den kannte ich nämlich, weiß nicht, wie oft ich den Arsch im Laufe der Jahre eingebuchtet habe. Friede seiner Asche«, sagte Jarnebring, grinste breit und hob sein Glas. »Aber er wirkte verrückt genug«, wandte Johansson ein. »Christer Pettersson war in gewisser Hinsicht verrückt. Aber er war zum Beispiel nie so verrückt, dass er mich angegriffen hätte, wenn ich ihn festgenommen habe. Dann wusste er nämlich, dass die Kacke dann richtig dampfen würde, und so verrückt war er eben nicht. Er hat gesoffen und Drogen genommen, hat einen Haufen Scheiß gebaut und kleinere und betrunkenere Kumpels und seine Weiber geschlagen. Außerdem glaube ich, dass er Palme sogar leiden konnte. Wen er nicht leiden konnte, waren solche Typen wie du und ich.« »Der, der Palme erschossen hat, war ein guter Schütze«, sagte Johansson. Was Palme wohl von Christer Pettersson gehalten hätte?, dachte er plötzlich. Einer, der am Rand der Gesellschaft steht? Ein Mensch, der einfach auf die schiefe Bahn geraten ist? Unverschuldet? »Derjenige, der geschossen hat, ja«, bestätigte Jarnebring. »Der war ein ebenso guter Schütze wie du oder ich. Vergiss alle Kollegen, die darüber rumlabern, dass es keine Kunst sei, jemanden aus einer Entfernung von unter einem Meter zu treffen, und wieso er Lisbeth Palme verpasst hat, als er auf sie geschossen hat. Vergiss dieses ganze Scheißgerede von allen, die noch nie scharf auf jemanden geschossen haben. Wenn die Leute sich bewegen und auf- und abhüpfen und wie verwirrte Hühner hin und her jagen, wenn es knallt.« »Ich verstehe, was du meinst«, stimmte Johansson zu. »Die Kugel, die Lisbeth Palme trifft, durchschlägt auf ihrer linken Seite den Mantelstoff, passiert in dem Zwischenraum von Haut und Bluse den ganzen Weg am Rücken entlang, auf Höhe der Schulterblätter, und tritt rechts wieder aus. Wenn du auf diese Weise vorbeischießt, bist du ein verdammt geübter Schütze. Wenn sie ihren Oberkörper auch nur eine Zehntelsekunde später verdreht hät70
te, hätte er ihr den Rücken durchtrennt. So gut konnte er also schießen. Ich bin hundertpro sicher, dass er überzeugt war, er hätte ihre Lunge getroffen, und weil er auch wusste, dass das genügen würde, hat er dann die Beine in die Hand genommen.« »Sie sinkt neben ihrem Mann auf die Knie«, fuhr Johansson fort. »Genau«, sagte Jarnebring mit Emphase. »Zuerst erschießt er Palme. Erwischt ihn von hinten, und Palme knallt vornüber auf die Straße. Er hat mitten auf der Stirn einen blauen Fleck so groß wie ein Zweikronenstück. In der nächsten Sekunde nimmt er Lisbeth ins Visier, zielt auf ihren Rücken, aber in dem Moment, als er abdrückt, dreht sie sich weg, um zu sehen, was mit ihrem Mann los ist, der plötzlich vor ihre Füße stürzt. Den Schützen hinter ihr hat sie nicht einmal gesehen. Also das mit Pettersson, das kannst du gleich vergessen. Prost, mein Guter«, sagte Jarnebring und grinste breit. »In dieser Runde hier wird viel zu viel geredet, wenn du mich fragst.« Auf keinen Fall Christer Pettersson. Einfach total falsch, laut Jarnebring. So falsch wie dieses Gefasel über die Kurden. Diese Typen haben doch einem wie Palme oder auch dem »Dreiunddreißigjährigen« aus der Hand gefressen. »Ganz klarer Fall von Mythomanie«, fasste Jarnebring zusammen. »Aber wer war es dann?« »Hervorragende Lokalkenntnisse, gut in Form, geübter Schütze, geistesgegenwärtig, selbstsicher, volle Kontrolle über die Situation, verdammt clever und bereit, zu Gewalt zu greifen, wenn es so weit ist. Eiskalter Typ. Nicht so wie Pettersson, denn der musste erst mal ausgiebig rumhüpfen und sich aufspielen, ehe er mit den Armen herumfuchtelte, wenn der Gegner klein und harmlos genug war. Wenn Pettersson Palme hätte kaltmachen wollen, hätte er zuerst einen Kriegstanz vor ihm aufgeführt, und dann wäre er trotzdem abgehauen und hätte ihm im Laufen den Stinkefinger gezeigt. Aber dieser Täter hat das nicht getan. Der hat seinen Job erledigt. Ruhig und leise, und dann ist er einfach weitergegangen.« »Verstehe«, nickte Johansson. »Ein eiskalter Typ, der nur auf einen Knopf zu drücken braucht, um einen anderen Menschen von hinten zu erschießen. Nicht die geringste Ähnlichkeit mit Christer Pettersson.« 71
»Hätte auch ich sein können. Der Palme das Licht ausgeknipst hat, meine ich«, sagte Jarnebring und grinste. »Nein«, sagte Johansson. »Das glaube ich nicht, aber alles andere glaube ich.« »So einer wie ich war es«, beharrte Jarnebring. Du doch nicht, dachte Johansson. Es war niemand, der einfach nur größer und stärker ist als alle anderen und noch nie bei einer Schlägerei verloren hat. Es muss jemand gewesen sein, der nur auf einen Knopf drückt und sich plötzlich von einem Menschen in einen Henker verwandeln kann, dachte er. Aber das hatte er eigentlich schon die ganze Zeit geglaubt, deshalb sprachen sie nicht weiter darüber.
Mittwoch, der 10. Oktober. Die Bucht vor Puerto Pollensa im Norden von Mallorca. Nach knapp zehn Minuten Fahrt, zwei Minuten Luftlinie vom Hafen entfernt und auf Höhe der Landspitze vor La Fortaleza, hatte die Esperanza ihren Kurs um zwanzig Grad backbord geändert und fuhr jetzt auf die Spitze der Halbinsel vor Formentor zu. Backbords und steuerbords lag Land, die steil abfallenden Felsen im Norden von Mallorca, einfach unmöglich, sie von der Meerseite her zu erklimmen. Vor dem Bug der Esperanza war nur das Meer zu sehen. Das Meer, das nach einer ruhigen Nacht erwacht war und dessen aufkommende Dünung wie ein langsamer ruhiger Atem war. Das Meer. Die Esperanza. Die Sonne, die schnell an der blassblauen Himmelswand hochklettert. Der Morgendunst, der sich auflöst. Und das Meer unter der Esperanza. So tief wie die gezackten Felsenkanten im Spiegel der Wasseroberfläche. Kiel, Rumpf, Seiten, dazwischen ein knapper halber Meter, der sie über die Tiefe trägt. Einsam auf dem Meer. Die Esperanza, ein schönes Boot mit einem schönen Namen.
11 Sieben Wochen früher, Mittwoch, der 22. August. Hauptquartier der Zentralen Kriminalpolizei auf Kungsholmen in Stockholm.
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»Kollege Flykt musste leider absagen«, sagte Johansson und lächelte Holt, Lewin und Mattei freundlich an. »Bei ihm sind plötzlich Unmengen von Hinweisen eingegangen, denen er nachgehen muss. Vielleicht könntest du anfangen, Jan«, sagte er dann. »Erzähl uns Unkundigen, was an jenem unglückseligen Freitagabend, dem 28. Februar 1986 geschehen ist.« »Ich habe dazu eine kleine Aktennotiz verfasst«, sagte Lewin mit seinem obligatorischen und vorsichtigen Räuspern. »Ihr habt die per Mail bekommen. Und der Ausdruck liegt vor euch. Ich schlage vor, wir geben uns zehn Minuten, damit ihr sie in aller Ruhe lesen könnt.« »Hervorragend«, sagte Johansson und erhob sich. »Dann kann ich uns Kaffee besorgen und mir so lange die Beine vertreten.« Johansson wirkt ja sehr zufrieden, dachte Holt. Verdächtig zufrieden, überlegte sie und zog Lewins Aktennotiz aus der Plastikhülle, die vor ihr lag. Was ist das denn?, dachte sie. Zwanzig Seiten Text und noch zusätzlich zehn Seiten Register. Letzteres enthielt an die zweihundert Personen, mit Namen und Personenkennziffer, wobei jedem Namen eine unterschiedliche Anzahl von Aktennummern folgte. »Das sind die Zeugen, die zu den unterschiedlichen in meiner Aktennotiz aufgeführten Bereichen vernommen worden sind«, erklärte Lewin, dem ihr Staunen offenbar aufgefallen war. »Die Aktenzeichen beziehen sich auf die Vernehmungsprotokolle im Ermittlungsmaterial, wo die unterschiedlichen Auskünfte aufgeführt sind.« »Alles klar«, sagte Holt und nickte. Was ist bloß mit Jan los, dachte sie. Der ist kein Typ, der sich wichtigzumachen versucht. Reiß dich zusammen, Anna, überlegte sie und fing an zu lesen. »Ministerpräsident Olof Palme (im folgenden OP) verließ seinen Arbeitsplatz im Regierungsgebäude Rosenbad (Adresse Rosenbad 4) am Freitag, dem 28. Februar 1986 um ca. 18.15. Soweit bekannt, anderslautende Auskünfte sind bei der Ermittlung jedenfalls nicht zu Tage getreten, ging er zu Fuß auf dem kürzesten Weg nach Hause in seine Wohnung in der Västerlänggatan 31 in Gamla Stan. OP verlässt Rosenbads Haupteingang, biegt oberhalb der Strömgata nach links ab und geht ca. 60 m in Richtung Riksbro. Danach biegt OP nach rechts ab und passiert Riksbro, Riksgata und die 73
Brücke über den Stallkanal bis zum Mynttorg, insgesamt ca. 200 Meter. Vom Mynttorg aus folgt OP der Västerlänggata in südlicher Richtung, ca. 250 Meter. Er erreicht seine Wohnung um ungefähr 18.30 oder kurz davor. Die gesamte Wegstrecke von knapp sechshundert Metern entspricht ca. 10 Minuten Fußweg in normaler Schnelligkeit, und dieser Zeitraum deckt sich durchaus mit den oben angegebenen Zeitpunkten und übrigen Umständen. OP ging allein nach Hause und scheint während dieses Weges mit niemandem gesprochen oder andere Kontakte gehabt zu haben. Unmittelbar vor 12.00 am selben Tag hat er seinen Leibwächtern mitgeteilt, dass er sie an diesem Freitag nicht mehr benötigen wird. Die beiden Leibwächter geben bei der Vernehmung an, er habe vorgehabt, den Nachmittag an seinem Arbeitsplatz zu verbringen, Abend und Nacht dagegen in seiner Wohnung, zusammen mit seiner Ehefrau Lisbeth Palme (im folgenden LP), und deshalb brauche er sie an diesem Freitag nicht mehr. Der eine Leibwächter informierte danach telefonisch seinen Vorgesetzten bei der zuständigen Abteilung der Sicherheitspolizei, der bei der Vernehmung angibt, er habe ‘den Mitarbeitern vor dem Hintergrund der Angaben des Schutzobjektes’ befohlen, die Bewachung für den Rest des Tages einzustellen.« Ein klassischer Lewin, dachte Lisa Mattei. Jan Lewin - im folgenden JL - dachte sie, und sicherheitshalber legte sie die rechte Hand über Mund und Kinn zu einer nachdenklichen Geste, ehe sie umblätterte und weiterlas. Lewin hatte nichts bemerkt. Er schien vollkommen in seinem eigenen Text versunken zu sein. »...Die Zeit zwischen ca. 18.30 und unmittelbar nach 20.30 verbrachte OP in seiner Wohnung, zusammen mit seiner Ehefrau LP. Andere Personen waren während dieses Zeitraums nicht in der Nähe oder zu Besuch. OP telefonierte mit drei Personen, dem Parteisekretär Bo Toresson, dem ehemaligen Minister Sven Aspling sowie seinem Sohn Märten Palme (im folgenden MP), außerdem aß er mit seiner Ehefrau LP zu Abend. In diesem Zeitraum beschloss das Ehepaar P, an diesem Abend ins Kino zu gehen. Nach dem Telefonat mit MP beschließen sie, zusammen mit MP und dessen damaliger Freundin (und heutiger Frau) den Film ‘Die Mozart-Brüder’ (Regie: Suzanne Osten) im Grand-Kino im Sveaväg anzusehen, das 74
ca. 330 Meter nordwestlich des Tatortes an der Kreuzung SveavägTunnelgata gelegen ist. Diese Entscheidung wurde laut der Vernehmungen von LP und MP erst gegen 20.00 gefasst. Unmittelbar nach 20.30 verlassen OP und LP ihre Wohnung in der Västerlänggata, um sich zu Fuß zur U-Bahnstation Gamla Stan zu begeben. OP und LP biegen nach links in die Västerlänggata und danach nach rechts in den Yxsmedgränd ein. Die Entfernung zwischen Wohnung und Eingang zur U-Bahnstation beträgt 250 Meter, und die geschätzte Zeitdauer beträgt 3-4 Minuten...« Es muss die Angst sein, dachte Holt. Nur eine starke innere Unruhe kann dieses manische Interesse an Details erklären. Sie selbst musste ihre Lesart ändern. Eine ganze Seite Text, und unser Opfer ist noch nicht einmal in Gamla Stan in die U-Bahn gestiegen, der Teufel soll Jan holen, dachte sie. Danach fasste sie in sechs kurzen Sätzen gute zwei Seiten von Jan Lewin zusammen und platzierte das Ehepaar Palme in seine Sitze im Grand-Kino. »Steigen ca. 20.40 in Gamla Stan in die U-Bahn. Fahren drei Stationen und steigen ca. 20.50 in der Rädmansgata aus. Betreten das Kino unmittelbar vor 21.00. Reden mit Sohn und Freundin. OP kauft Karten für sich und LP. Sitzen ca. 21.10 im Kinosaal«, notierte Holt auf einer Rückseite des Ausdrucks. Die Vorstellung endete um kurz nach elf Uhr, und als sie dann wieder auf der Straße standen, redeten der Ministerpräsident und seine Frau noch einige Minuten mit Sohn und Freundin. Danach trennten sie sich und gingen in unterschiedliche Richtungen auseinander. Das Ehepaar Palme südlich in Richtung Zentrum auf der Westseite des Sveavägs, mittlerweile ist es ungefähr Viertel nach elf Uhr. Es ist sechs Grad über null, sechs bis sieben Sekundenmeter Wind und viele Menschen sind unterwegs. Etliche Zeugen haben den Ministerpräsidenten und seine Frau gesehen. Sie gehen in schnellem Tempo nebeneinander, er links von ihr, auf der Seite der Straße. Bei der Adolf Fredriks Kyrkogata, der Querstraße vor der Tunnelgata, wechseln sie auf die andere Seite des Sveavägs über. Bleiben ungefähr eine Minute vor einem Schaufenster stehen und gehen dann weiter in Richtung Zentrum. Diese Straßenseite ist mehr oder weniger menschenleer.
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Als sie die Kreuzung zur Tunnelgata überqueren, taucht hinter ihnen plötzlich der Täter auf. Er ist weniger als einen Meter entfernt, hebt die Waffe, gibt den ersten Schuss auf Olof Palme ab. Der trifft ihn mitten im Rücken, auf der Höhe der Schulterblätter, und der Ministerpräsident fällt vornüber auf den Bürgersteig. Seine Gattin sieht ihn plötzlich dort liegen, schaut ihn an, der Mörder gibt den zweiten Schuss auf sie ab, während sie sich bewegt und neben ihrem Mann auf die Knie sinkt. Jetzt ist es einundzwanzig Minuten und dreißig Sekunden nach elf Uhr abends. Mit einem Spielraum von zehn Sekunden mehr oder weniger, denn genauer kann es nicht mehr werden, und diese Tatsache ist im Hinblick auf das Geschehen von geringerer Bedeutung. Der Mörder betrachtet einige Sekunden lang die beiden, die da auf dem Boden liegen. Macht dann kehrt und verschwindet in der Dunkelheit der Tunnelgata. Und damit verschwindet er aus der Szene, dachte Anna Holt. Die einzige sinnvolle Erklärung muss sein, dass er ihnen bereits seit dem Kino gefolgt ist. Als sie bei der Adolf Fredriks Kyrkogata, der Querstraße vor der Tunnelgata, den Sveaväg überqueren, geht er vor ihnen her, überquert die Straße, überholt sie und wartet an der nächsten Ecke. So wenig konspiratorisch ist das alles, dachte sie. Trotz der vielen Seiten á la Jan Lewin mit allen denkbaren Voraussetzungen, Vorbehalten und Alternativen. Woher kommt diese ganze Angst?, dachte sie plötzlich. Ein fescher Typ, gutaussehend, durchtrainiert, zwar über fünfzig, aber er sieht mindestens zehn Jahre jünger aus, und im Umgang mit uns anderen verhält er sich vollkommen normal. Höflich, vielleicht ein wenig zu zurückhaltend, aber absolut normal, im Gegensatz zu unserem allseits geliebten Chef, dem Genie aus Näsäker, dachte Anna Holt. Ein attraktiver Mann mit einer ungeheuer starken inneren Unruhe. Woher kommt die, fragte sie sich.
12 Johansson war nach zwanzig Minuten zu ihnen zurückgekehrt, und was er so lange getrieben hatte, war unklar. Den Kaffee konnte er kaum selbst geholt haben, denn den hatte seine Sekretärin unmittelbar vorher gebracht. Es war schon seltsam. Kaum war Holt mit 76
dem Lesen fertig gewesen und hatte die Unterlagen weggeschoben, da war er plötzlich hereingekommen und hatte sich an seinen Platz gesetzt. So gut gelaunt wie beim Verlassen des Zimmers, wenn man von seinem Gesichtsausdruck ausgehen durfte. Er kann eben um die Ecken schauen, dachte sie. Vom Sofa in seinem Zimmer, auf dem er bestimmt die ganze Zeit gelegen hat. »Okay«, sagte Johansson. »Danke, Jan. Vorbildlich klar und deutlich«, fügte er hinzu. Und verdammt noch mal viel zu lang, dachte er. »Ich habe etliche Fragen, und da wäre es gut, wenn du, Lisa, für uns ein paar Notizen machtest. Und könntest du mir bitte den Kaffee geben?«, fügte er hinzu und nickte zu Holt hinüber. »Wo war ich gerade?« »Du hattest einige Fragen«, sagte Holt. Wie ist es möglich, dass ich mich plötzlich erinnere?, dachte sie. »Genau«, sagte Johansson. »Diese Sache mit dem Kinobesuch. Wann hat er sich eigentlich dazu entschlossen, und wie viele wussten, dass er an einem Freitagabend mitten in der Stadt herumlaufen wollte, am Tag der Gehaltszahlungen, mitten zwischen all den Besoffenen, Glühwürmchen und normalen Verbrechern? Mir kommt das fast ein wenig todessehnsüchtig vor. Was sagst du dazu, Lewin?« »Na ja«, erwiderte Lewin und rutschte verlegen hin und her. »Ich habe den Eindruck gewonnen, dass sein Sicherheitsbewusstsein um einiges höher war, als man sich allgemein vorgestellt hat, und den Vernehmungen zufolge fiel diese Entscheidung sehr spät. So gegen acht Uhr abends. Den Vernehmungen von Gattin und Sohn nach war es jedenfalls so«, fasste er noch einmal zusammen. »Die Kollegen von der Säpo«, sagte Johansson unbeeindruckt. »Hat er denen was gesagt?« »Den Vernehmungen nach nicht«, antwortete Lewin. »Den Vernehmungen nach hat er gesagt, er wolle den restlichen Tag an seinem Arbeitsplatz und den Abend mit seiner Frau in der Wohnung verbringen. Von einem Kinobesuch oder irgendeinem anderen Anlass, in die Stadt zu gehen, war nicht die Rede.« »Ist denn danach gefragt worden?«, fragte Johansson. »Das geht aus den Vernehmungen nicht hervor«, sagte Lewin. »Kann daran liegen, dass sie zusammengefasst worden sind und 77
dass niemand auf die Idee gekommen ist, das in die Zusammenfassung einzubeziehen.« Ich hätte diese Frage natürlich gestellt, dachte er, aber das hätte er natürlich nicht getan. Nicht zwanzig Jahre später und davon ausgehend, dass seine Kollegen damals hoffentlich genauso gedacht hatten wie er. »Aber so läuft das doch wohl nicht, wenn so einer wie er ins Kino will«, beharrte Johansson. »Überlegt doch mal. Er muss doch mit seiner Frau darüber geredet haben? Ich meine, so einer wie er muss doch eine Menge zu tun haben, und ein Kinobesuch ist schließlich nichts, was einem mal kurz einfällt, unmittelbar, ehe man losmuss?« »Ich verstehe nicht so ganz, worauf du hinauswillst, Chef«, sagte Holt. Das ist vielleicht dein Menschenbild, dachte sie. Deine kleine Welt, bevölkert von Betrunkenen, Glühwürmchen und normalen Verbrechern. »Ich meine nur Folgendes«, sagte Johansson. »Angenommen, er hat etwas in dieser Richtung gesagt. Dass er und seine Gattin einen kurzen Abstecher in die Stadt machen wollen, dass er aber ausnahmsweise mal seine Ruhe haben möchte. Keine Kollegenmassen von der Säpo, die ihm über die Schulter glotzen. Ob er nun so etwas gesagt hat oder ob er es nur angedeutet oder diese Möglichkeit offengelassen hat, ist es dann sonderlich wahrscheinlich, wenn wir bedenken, was dann passiert ist, meine ich, dass die, die die Verantwortung für ihn trugen, dieses Detail bei der Vernehmung erwähnt hätten? Du verstehst, was ich meine, Anna? So einer wie er muss sich doch wohl nicht nur wegen Betrunkenen, Glühwürmchen und normalen Verbrechern Sorgen machen?« »Du meinst, dass jemand von der Säpo den Schnabel zu weit aufgerissen hat und dass das an die falschen Ohren geraten ist, Chef?«, fragte Holt. Manchmal bist du wirklich ein bisschen unheimlich, dachte sie. »Das muss nicht unbedingt sein«, sagte Johansson und zuckte mit den Schultern. »Er hatte sicher jede Menge Arbeitskollegen, mit denen er die ganze Zeit geredet hat. Diesen Spezialreferenten, zum Beispiel, den er als Laufburschen hatte. Der sein Büro im selben Gang in Rosenbad hatte und sich vor allem mit Sicherheitsfragen beschäftigt hat. Alle Freunde bei der Arbeit. Was habt ihr beide denn so vor am Wochenende? Ach, wir überlegen, ob wir nicht mal ins Kino gehen sollten. Vielleicht in der Stadt einen Happen essen. Ach, soso. Ja, ihr wisst schon, wie das so geht«, sagte Johansson. »So 78
sind wir doch, wir Menschen. Reden die ganze Zeit über irgendwas. Ich bin Palme nie begegnet, aber ich habe den Eindruck, dass er so war, wenn er sich wohl fühlte und es ihm gut ging. Ein fröhlicher Geselle, der mit allen, denen er vertraute, über Gott und die Welt plauderte.« Vermutlich hat er sogar recht, dachte Lisa Mattei. Wie immer ich das auch zwanzig Jahre später feststellen soll. »Du meinst also, Chef, dass dieses Wissen relativ spät bei den falschen Ohren angekommen sein könnte, dass es nicht besonders exakt war und dass die Planung des Mordes entsprechend ausgefallen ist?«, fasste Mattei zusammen. »Genau«, sagte Johansson. Dieser kleine Spatz kann es ungeheuer weit bringen, dachte er. Ein Weibchen ist sie noch dazu, und das wird ihr wohl dreißig Prozent Rabatt einbringen. »Eine etwas spontanere und bescheidenere Verschwörungstheorie«, sagte Holt und klang schnippischer als geplant. »Sag ich doch«, sagte Johansson, den das nicht weiter getroffen zu haben schien. »Ich kann dir sagen, Anna, dass ich durchaus nichts gegen Verschwörungstheorien habe. Das Problem bei den meisten ist wohl nur, dass sie so verdammt verschwörerisch sind, um nicht zu sagen, total verrückt, was wiederum darauf beruht, dass die, die sie sich ausdenken, selten alle Tassen im Schrank haben. Eine ganz andere Tatsache ist zugleich, wenn solche Personen wie Palme ermordet werden, und ich rede hier nicht von Promis wie John Lennon oder so, dann ist der gewöhnlichste Erklärungsansatz eine Verschwörung in ihrem engsten Umfeld. Selten etwas Seltsames. Aber eben doch eine Verschwörung mit mehreren Beteiligten, die über besondere Kenntnisse über ihr Opfer verfügen. Der einsame Irre ist nur die zweithäufigste Erklärung. Natürlich fast ebenso häufig, aber wenn wir diese beiden Möglichkeiten wegnehmen, bleibt uns fast nichts. Nicht alle Verschwörungen sind blödsinnig. Es gibt genug, die plausibel, logisch und durch und durch rational sind, wenn wir nur von der Durchführung reden.« »Keiner der Zeugen, die vernommen worden sind, will irgendeine Beobachtung gemacht haben, die andeuten könnte, dass das Ehepaar Palme überwacht worden ist, als es an diesem Abend seine Wohnung verlassen hat«, sagte Lewin. »Während und nach dem Kinobesuch dagegen schon. Es gibt mehrere Zeugen, die zumindest einen unbekannten Mann gesehen haben, der sich in der Nähe des 79
Grand-Kinos und der Palmes aufhielt und der ihnen gefolgt sein kann. Aber ich verstehe, was du meinst, Chef«, fügte er rasch hinzu. »Unter der Voraussetzung, dass die Überwachung kompetent genug war, kann sie selbstverständlich auch unentdeckt geblieben sein.« »Genau.« Johansson nickte zufrieden. »Vor einer entsetzlichen Menge von Jahren, als ich als Ermittler in Stockholm auf Streife gegangen bin, hatten wir ein Motto...« »Sehen, aber nicht gesehen werden«, fiel Holt ihm ins Wort, die ebenfalls als Ermittlerin bei der Stockholmer Polizei gearbeitet hatte. Sogar zusammen mit der Legende Bo Jarnebring, Johanssons bestem Freund. »Das weißt du noch, Anna«, sagte Johansson. »Also, lasst euch das mal durch den Kopf gehen«, fügte er plötzlich hinzu. »Und dann noch eins...« »Aber Moment mal«, sagte Holt. »Angenommen, du hast recht. Warum hat er sie dann nicht früher erschossen? In irgendeiner dunklen Gasse? Nicht in der U-Bahn vielleicht, denn da war sicher eine Menge Menschen, und es wäre mehr oder weniger unmöglich, ungesehen zu entkommen.« »Er hatte vielleicht keine Gelegenheit«, sagte Johansson. »Es reicht, dass in einer Querstraße ein Streifenwagen vorüberfährt, und schon überlegt er sich die Sache anders. Dass jemand kommt. Oder dass einfach die Zeit nicht reicht.« »Ich glaube, er hat sie aus Zufall gesehen, als sie ins Kino gingen, oder vielleicht sogar, als sie herauskamen«, sagte Holt. »Ich glaube nicht an Zufall.« Johansson schüttelte den Kopf. »Dass er sie gesehen hat, als sie aus dem Kino gekommen sind, glaube ich nicht eine Sekunde. Ein verrückter Verbrecher, der Palme über alles hasst und zufällig mit einem spanferkelgroßen geladenen Revolver in der Jackentasche durch die Gegend spaziert. Dass just so einer so eine Gelegenheit findet? Nein, das glaube ich nicht.« »Wenn er sie vor der Vorstellung gesehen hat, dann hatte er zwei Stunden, um dieses Detail mit der Waffe in Ordnung zu bringen«, erklärte Holt, die nicht vorhatte, sich geschlagen zu geben. »Es gibt außerdem mehrere Zeugenaussagen, die sich so verstehen lassen. Dass sich zumindest ein Unbekannter ganz in der Nähe des GrandKinos aufhält, während das Ehepaar Palme die Vorstellung besucht.« 80
»Kann schon sein«, sagte Johansson und zuckte mit den Schultern. »Aber ich setze nicht viel auf diesen geheimnisvollen Mann und schon gar nicht auf diese Zeugenaussagen. Ganz abgesehen davon, ob die nun Christer Pettersson oder einen von seinen Unglücksbrüdern gesehen haben.« »Na gut«, sagte Holt und hob abwehrend die Hände. Ein letzter Versuch, dachte sie. »Nehmen wir an, du hast recht«, sagte sie dann. »Eine ganz andere und viel kompetentere Person als Christer Pettersson, kein einsamer Irrer also, erfährt, dass das Opfer und seine Frau ihre Wohnung verlassen, um ins Kino zu gehen...« »Ja, oder einfach in die Stadt«, warf Johansson dazwischen. »Er folgt ihnen von ihrer Wohnung in Gamla Stan, hat aus den unterschiedlichsten Gründen keine Möglichkeit, ehe sie ins Kino gehen, und dort sind so viele Menschen, dass er nichts unternehmen kann. Also wartet er, bis sie wieder herauskommen. Folgt ihnen, überholt sie, als sie den Sveaväg überqueren, stellt sich in den Hinterhalt und schießt an der Kreuzung Tunnelgata auf sie.« »Hätte das selbst nicht besser zusammenfassen können«, sagte Johansson. »Aber warum um alles in der Welt macht er das an einer so blöden Stelle?« »Beste Stelle auf der Welt, wenn du mich fragst«, sagte Johansson. »Sonst würden wir hier nicht sitzen. Der Idiot hat sich doch in Luft aufgelöst.« »Verstehe«, sagte Holt. Wie oft sich wohl die vielen anderen Kollegen gerade über diese Frage gestritten haben?, überlegte sie. »Gut«, sagte Johansson. »Was uns natürlich zur nächsten Frage bringt: Wohin ist er gegangen? Darauf, dass er sich nicht in Luft aufgelöst hat, können wir uns ja wohl alle einigen.«
13 Der Täter hatte sich nicht »in Luft aufgelöst«. Er war »schnell gelaufen«, »geschlichen«, »getrottet« oder »gejoggt«, und zwar über die Tunnelgata in Richtung der Treppen, die zur Malmskillnadsgata hochführen. Die Wortwahl der Zeugen variierte, aber beim wesentlichen Inhalt ihrer Aussagen stimmten sie überein. Insgesamt waren der Täter, die Tat an sich, Teile der Tat 81
oder das, was unmittelbar danach passiert war, von an die dreißig Zeugen gesehen worden. Wie der Täter die Tunnelgata hinunterläuft. Auf der linken Straßenseite, vom Sveaväg aus gesehen. Wie er »breitbeinig« am Bordstein zwischen Bürgersteig und Straße entlanghastet. Wie er im Laufen seine Waffe in die rechte Jackentasche steckt. Eine Wahl hatte er bei seinem Fluchtweg auch nicht. Auf der rechten Seite stehen Baubaracken, da wäre er also nicht weitergekommen. Auf den Sveaväg hinauszulaufen ist ausgeschlossen, dort wimmelt es von Menschen und Autos, und es gibt von dort keinen Ausweg. Hinunter in die Tunnelgata, die offenbar menschenleer ist und wo ihn jedenfalls niemand bedrohen kann, hinein in die Dunkelheit, die Treppen hoch und weg. Das alles weiß er schon, und er weiß auch, dass es keinen besseren Fluchtweg geben kann. »Wie lange dauert das, Lewin?«, fragte Johansson. »Im gemächlichen Tempo vom Tatort die Tunnelgata hinunter und die Treppen zur Malmskillnadsgata hochzulaufen? Gemächlich?« »Das steht auf Seite siebzehn der Aktennotiz, Chef«, sagte Lewin und fing an, in seinen Unterlagen zu blättern. »Frisch meine elende Erinnerung auf«, sagte Johansson. Und wenn es geht, noch heute, dachte er. An die sechzig Meter vom Tatort zur Treppe. Danach fünfzig Meter die Treppe hoch zur Malmskillnadsgata. Insgesamt an die hundert Meter mit einem Höhenunterschied von fünfzehn Metern. In ruhigem Laufschritt, den Rekonstruktionen zufolge, hat er zwischen fünfzig und sechzig Sekunden gebraucht. Für einen wie mich, unter der Voraussetzung, dass ich alle Kräfte aufwende, dachte Johansson, der lieber gemächlich spazierte, wenn er sich Bewegung verschaffen musste. »Und wenn man so schnell rennt, wie man nur kann?« »Höchstens dreißig Sekunden für eine durchtrainierte Person«, sagte Lewin. »Unseren Zeugen zufolge läuft er zunächst ziemlich langsam, aber wie schnell er dann wird, als er die Treppe erreicht hat, wissen wir nicht so genau. Da haben wir nur einen Zeugen, und dessen Aussage ist nicht ganz eindeutig. Es gibt auch eine gewisse Unsicherheit, wie viel die Zeugen überhaupt gesehen haben können. Abgesehen davon, dass er die Treppe hochläuft, in diesem Punkt ist sich zumindest unser Hauptzeuge ganz sicher. 82
Ich sollte vielleicht hinzufügen«, sagte Lewin nach einem vorsichtigen Blick auf seinen Chef, »dass wir keine technischen Beweise haben. Auf Bürgersteig, Bordstein und Straße lag zwar stellenweise noch Eis und Schnee, aber es wurden keine Fußabdrücke oder andere Spuren gesichert, die uns einen Eindruck von seiner Schrittlänge geben könnten.« »Nein, das wurde es leider nicht«, sagte Johansson, ließ sich zurücksinken und faltete die Hände über seinem Bauch. »Der Chef der Spurensicherung und zwei von seinen Mitarbeitern waren zwar eine gute Stunde nach dem Mord zur Stelle, aber im Hinblick auf die aktuelle Situation beschlossen sie, keine solchen Maßnahmen durchzuführen. Die wurden als aussichtslos eingestuft.« »Und da ist man dann lieber nach Hause gefahren. Zum Frauchen und der gemütlichen Wärme, denn es war schließlich Freitagabend«, erklärte Johansson. Verdammte Faulpelze, dachte er. »Ja, genau das haben sie leider getan«, sagte Lewin. »Dass er breitbeinig läuft, ein wenig hinkend, das ist von drei verschiedenen Zeugen so beschrieben worden.« »Ja«, sagte Johansson. »Ich glaube, er hat das gemacht, um nicht auszurutschen«, sagte Lewin. »Aber irgendwelche Spuren, die das bestätigen könnten, haben wir wie schon gesagt nicht gesichert.« Ganz unbegreiflich, dachte er. Einfach einen Tatort seinem Schicksal zu überlassen. Wer aber war er, dass er seinen Kollegen von der Spurensicherung Vorwürfe machen könnte? Wo er doch zu Hause in seiner Wohnung im Bett gelegen hatte und wie üblich erst gegen zwei Uhr morgens eingeschlafen war. Um dann bereits vor sechs Uhr morgens geweckt zu werden, als sein Vorgesetzter anrief und berichtete, der Ministerpräsident sei am Vorabend ermordet worden und jetzt gelte es, die Situation zu mögen und sich unverzüglich im Büro einzufinden. »Und was passierte dann?«, fragte Johansson. Lewin zufolge war Folgendes passiert: Der Täter überquert Brunkebergsäsen und schlägt einige Haken, um eventuelle Verfolger abzuschütteln. »Das ist die erste Vorstellung, die die Kollegen sich über den Fluchtweg des Täters gemacht haben«, sagte Lewin. »Dafür haben 83
sie sich ziemlich früh entschieden. Nachdem er den Ministerpräsidenten erschossen hat, läuft er die Tunnelgata hinunter, dann die Treppe zur Malmskillnadsgata hoch, dann weiter über die Malmskillnadsgata und die David Bagares gata hinunter. Nach circa hundert Metern in der David Bagares gata biegt er nach links in die Regeringsgata ab und verschwindet dann in nördlicher Richtung. Wohin er dann geht, ist weniger klar, aber die herrschende Auffassung ist, dass er, nach weiteren hundert Metern im Laufschritt durch die Regeringsgata, nach rechts abbiegt und über Snickarbackan in den Smala gränd hinunterläuft. Danach erreicht er an der Ecke beim Park die Birger Jarlsgata, beim Humlegärden etwa. Das sind circa fünfhundert Meter vom Tatort, und in dem Tempo, in dem er sich bewegt hat, müsste er das in circa drei Minuten geschafft haben.« »Woher wissen wir das alles?« »Wir haben fünf verschiedene Zeugen«, sagte Lewin. »In einer Art Zeugenkette, wenn ihr so wollt. Obwohl sich über die verschiedenen Glieder so einiges sagen lassen würde. Egal, das ist der Fluchtweg, für den man sich bereits nach einer Woche entschieden hat, und es ist auch der, den die Kollegen, die die Tatanalyse und das Täterprofil erstellt haben, vorzuziehen scheinen. In einem Umkreis von fünfhundert Metern vom Tatort gibt es natürlich zahllose Alternativen. Aber...« Lewin zuckte mit den Schultern. Eine Zeugenkette mit fünf Gliedern, und wie alle anderen Ketten war sie so stark wie ihr schwächstes Glied. Zuerst gab es etliche Zeugen, die gesehen hatten, wie der Täter durch die Tunnelgata verschwunden war. In dieser Hinsicht herrschte rührende Einigkeit, und dieser Fluchtweg war auch der einzig vorstellbare, wenn wir bedenken, wie es am Tatort aussah. Nach nur vierzig Metern verschwindet er aus dem Blickfeld der Zeugen, und es bleibt nur die Kette mit den fünf Gliedern. Der erste Zeuge in der Kette, ein Mann von etwa dreißig, ist der Einzige, der gesehen haben will, wie der Täter die Treppe zur Malmskillnadsgata hochgelaufen ist. Dass er den Täter gesehen hat, hat er ebenfalls begriffen, denn er hat die beiden Schüsse gehört und zumindest Teile des Handlungsverlaufs erfasst. Der Täter läuft die Treppe hoch, immer zwei Stufen auf einmal. Oben auf der Treppe, in der Malmskillnadsgata, bleibt er für einen 84
Augenblick stehen, um sich zu orientieren, Atem zu holen oder nachzusehen, ob er verfolgt wird. Zumindest den Vorschlägen zufolge, die der Zeuge bei der ersten Vernehmung vorgebracht hat. Der Zeuge ist ihm dann gefolgt. Bei den Vernehmungen macht er auch keinen Hehl daraus, dass er fürchterlich aufgeregt war und sich nicht sonderlich beeilt hat. Als er die Malmskillnadsgata erreicht, stößt er auf die nächste Zeugin und fragt sie, ob sie jemanden gesehen habe. Das hat sie. Sie hat einen Mann gesehen, der in Richtung Birger Jarlsgata auf der David Bagares gata verschwunden ist. Viel mehr hat sie allerdings nicht gesehen, und als der erste Zeuge diese Straße entlangschaut, sieht er den Mann, der die Treppe hochgelaufen ist, nicht mehr. Als der Täter um die Ecke David Bagares gata und Regeringsgata biegt, läuft er, Zeugin Nr. 3 und Zeuge Nr. 4 zufolge, direkt in Zeugin Nr. 3 geradezu hinein. Der Täter kommt von hinten angerannt, die Frau hört Schritte, schaut sich um und rutscht aus, der Täter stößt gegen sie, sie schreit ihm einige Verwünschungen hinterher, der Täter achtet nicht darauf, sondern rennt weiter und verschwindet praktisch sofort aus dem Blickfeld der beiden. Das fünfte und letzte Glied der Kette erregte von allen die größte öffentliche Aufmerksamkeit und wurde von Lewin am skeptischsten betrachtet. Eine Frau, die von den Medien bald die »Zeichnerin« genannt worden war, hatte im Smala gränd einen geheimnisvollen Mann beobachtet, ungefähr eine Viertelstunde nach dem Mord und knapp fünfhundert Meter vom Tatort entfernt. Der Mann geht gekrümmt und mit den Händen in den Hosentaschen weiter, und als er merkt, dass die fünfte Zeugin ihn ansieht - natürlich ohne, dass sie eine Ahnung davon gehabt hätte, was dem Ministerpräsidenten widerfahren ist -, macht er »ein erschrockenes Gesicht«, dreht sich um, beschleunigt sein Tempo und verschwindet in Richtung Birger Jarlsgata und Humlegärden. Abgesehen von allen Unklarheiten im Zusammenhang mit der eigentlichen Beobachtung hatte er doch nicht nur bei der Zeugin, sondern auch bei der Leitung der Ermittlungsabteilung einen tiefen Eindruck hinterlassen. Sie hatten ein Phantombild von ihm anfertigen lassen, das schon in der Woche nach dem Mord in allen Medien veröffentlicht wurde und das der Leitung der Ermittlungsabteilung 85
zufolge einen Mann darstellte, der »möglicherweise mit dem Täter identisch sein könnte«. »Aber das glaubt heute ja wohl kaum noch jemand«, sagte Lewin und seufzte. Ich hab es ohnehin nie getan, dachte er. »Eine neugierige Frage«, sagte Johansson mit Unschuldsmiene. »Diese Frau, mit der unser Täter angeblich zusammengestoßen ist, als er um die Ecke der Birger Jarlsgata lief und dann in die Regeringsgata abbog. Die Frau, die Verwünschungen hinter ihm her geschrien hat. Was hat sie geschrien?« »Pass doch auf, du Scheißkanake«, sagte Lewin mit einem vorsichtigen Blick zu Anna Holt hinüber. »Kanake«, sagte Johansson, hob die Augenbrauen und betonte jede Silbe. »Was wusste sie denn über solche?« Aus irgendeinem Grund schien diese Frage Jan Lewin unangenehm zu sein. »Sie ist in dieser Hinsicht sehr entschieden. Das hat sie ihm hinterhergeschrien. Das sei ihre exakte Wortwahl gewesen, erklärt sie, und zwar, wie sie bei der Vernehmung gesagt hat, weil er aussah wie ein... Zitat... typischer Kanake... Zitat Ende. Um deine Frage zu beantworten. Ja, ich habe schon den Eindruck, dass sie eine genaue Vorstellung davon hat, wie so einer aussieht. Ihre Schilderung wird außerdem durch die Vernehmung des Mannes gestützt, mit dem sie an dem Abend zusammen war.« »Ihr sind natürlich Bilder von Christer Pettersson vorgelegt worden. Unser aller Palmemörder«, sagte Johansson. »Ja«, sagte Lewin. »Aber wie der Chef sicher weiß, erst im Herbst 1988. Es dauerte an die zwei Jahre, bis Pettersson in der Palmeermittlung wirklich aktuell wurde.« Der hat es auf Anna abgesehen, dachte Lewin. »Und?« »Nein«, sagte Lewin und schüttelte den Kopf. »Sie hat Pettersson nicht wiedererkannt.« »Jetzt, wo du das sagst«, sagte Johansson. »Ich habe auch eine schwache Erinnerung an diese Vernehmung. Ist es nicht so, dass sie die direkte Frage, ob Christer Pettersson sie angerempelt habe, ungefähr so beantwortet... dass sie dann ja wohl nicht Scheißkanake hinter ihm hergeschrien hätte.« 86
»Ja«, sagte Lewin. »Ungefähr so. Ich kann mich an ihre exakte Wortwahl nicht erinnern. Aber diese Frage wird aufgeworfen. Es gibt sie sogar auf Band. Nicht in der Reinschrift, denn da ist dieser Teil der Vernehmung nur zusammengefasst worden.« »Was hätte sie denn dann gesagt?«, schaltete Holt sich ein und sah Johansson an. Verdammt nachlässig, dass ich diese Vernehmung übersehen habe, aber das ist jedenfalls nicht Jans Schuld, dachte sie. »Sie findet, dass Pettersson aussieht wie ein typischer schwedischer Suffkopp, ein echter schwedischer Penner, wenn man so will. Einwandfrei kein Kanake«, sagte Johansson zufrieden. »Was uns ungebeten zum nächsten Programmpunkt führt, nämlich zu Christer Pettersson, und dazu hast du, Anna, wohl so einiges zu sagen, wenn ich das alles richtig verstanden habe«, sagte er dann mit Unschuldsmiene. »Ja, einiges schon«, stimmte Holt zu, denn sie hatte sich entschieden, mitzuspielen und gute Miene zu machen. »Dann machen wir das so«, sagte Johansson. »Aber zuerst wollte ich vorschlagen, dass wir uns für etwa eine Viertelstunde die Beine vertreten. Ich muss nämlich kurz mal telefonieren.«
14 Holt und Lewin hatten sich in Lewins Zimmer gesetzt, um ungestört reden zu können. »Ich muss mich bei dir entschuldigen, Anna«, sagte Lewin. »Warum denn?«, fragte Holt. Hör auf, immer um Entschuldigung zu bitten, Jan, dachte sie. »Ich habe das Material über Pettersson gesehen, das du mitgebracht hast. Das waren die Grundlagen für die Anklage gegen ihn, und diese Zeugin, mit der der Täter zusammengestoßen ist und die hinter ihm hergeschrien hat, die taucht darin nicht auf.« »Das ist wirklich nicht deine Schuld«, sagte Holt. »Nur eine neugierige Frage. Gibt es noch weitere Zeugen, die bei der Anklage gegen Pettersson nicht berücksichtigt worden sind?« »Das wurde bestimmt so gehandhabt wie sonst auch«, sagte Lewin. »Sie haben das mitgenommen, was die Anklage unterstützte, und über den Rest hat man stillschweigend hinweggesehen. Es ist eine trübe Soße.« Lewin sah sie mit düsterer Miene an. »Als der 87
Verdacht gegen Pettersson in den Medien landet und er plötzlich im ganzen Land bekannt ist, geht jede Menge Hinweise über ihn ein. Er ist an allen möglichen Orten in der Nähe beobachtet worden. Ab und zu habe ich gedacht, dass es in dieser Sache für alles und jedes Zeugen gibt. Die in alle denkbaren und undenkbaren Richtungen zeigen.« »Aber am Anfang«, sagte Holt. »Wenn wir uns an Christer Pettersson halten.« »Am Anfang«, wiederholte Lewin und nickte nachdenklich. »Ja, keiner von den Augenzeugen des Mordes hat ihn erkannt. Was vielleicht kein Wunder ist, denn die meisten sind ganz normale anständige Menschen, die solche Leute wie ihn eben nicht kennen. Die ersten Bilder von ihm werden den Zeugen erst im Herbst 1988 vorgelegt, wie ich schon gesagt habe, zweieinhalb Jahre nach der Tat. Mehrere von ihnen glauben, eine gewisse Ähnlichkeit mit Pettersson zu erkennen, aber das ist alles. Zunächst. Bei der Anklageerhebung tauchen dann weitere Zeugen auf, die Pettersson gesehen haben wollen, Personen, die sich in derselben Situation befinden wie er, solche, die ihn kennen, und daraufhin scheinen auch einige der früheren Zeugen beschlossen zu haben, dass sie wohl doch Christer Pettersson gesehen haben. Mit einer Ausnahme. Die Einzige, die ihn schon auf den ersten Blick erkennt, ist Lisbeth Palme. Und zwar bei der berühmten, oder soll ich sagen, berüchtigten Videokonfrontation am 14. Dezember 1988.« Lewin deutete ein Lächeln an und schüttelte langsam den Kopf. »Daran kannst du dich bestimmt erinnern«, sagte Lewin. »Ja, natürlich«, sagte Holt. »Aber ich höre gern zu. Wie siehst du das alles?« »Ja, zuerst sagt sie ja, Lisbeth Palme, meine ich, dass man doch wohl sofort sieht, wer hier Alkoholiker ist. Dieser Idiot von Staatsanwalt, der dabei war, hatte ihr leider schon vor der Gegenüberstellung erzählt, dass der Verdächtige Alkoholiker sei. Dann sagt sie, ja, der ist es, der stimmt mit meiner Beschreibung überein, seine Gesichtsform, seine Augen und sein heruntergekommenes Aussehen. Christer Pettersson war Nummer acht bei dieser Gegenüberstellung, wie du weißt.« »Wie sicher war sie, was glaubst du?« »Na ja. Ich weiß nicht. Erst war da diese unglückliche Äußerung des Staatsanwalts. Dann das eigentliche Video von der Gegenübers88
tellung. Es ist eine seltsame Geschichte. Pettersson fällt eindeutig auf. Im Vergleich zu den anderen sieht er ziemlich heruntergekommen aus. Leider. Ich weiß es einfach nicht.« »Alles nicht so ganz überzeugend«, sagte Holt. »Hätte wirklich besser sein können«, sagte Lewin und seufzte ein weiteres Mal. »Ich hab noch eine Frage«, sagte Anna. »Wenn du noch kannst.« »Aber sicher«, sagte Lewin, lächelte und nickte. »Warum hat es so lange gedauert, bis sie angefangen haben, sich für Pettersson zu interessieren? Das waren doch über zwei Jahre. Obwohl er schon zwei Tage nach dem Mord auf der Liste der interessanten Personen auftaucht und obwohl im Frühjahr 1986 allerlei Hinweise über ihn eingehen. Ich habe gesehen, dass Ende Mai 1986 eine routinemäßige Vernehmung mit ihm durchgeführt worden ist. Er wurde gefragt, was er am Mordabend gemacht hat. Aber das war alles. Erst zwei Jahre später geht es wirklich los.« »Das ist eine gute Frage«, sagte Lewin zustimmend. »Aber ich fürchte, es gibt keine wirklich gute Antwort. Die Ermittler hatten in den ersten beiden Jahren vielleicht andere Interessen.« Er verzog den Mund. »Was glaubst du denn?«, fragte Holt. »Schlimmstenfalls ist es so banal, dass er selbst dafür gesorgt hat«, sagte Lewin. »Das musst du mir erklären«, sagte Holt. »Ja, gerade das ist den Medien seltsamerweise entgangen, aber Tatsache ist, dass schon einige Monate nach der Tat Hinweise eingehen, dass Christer Pettersson in der Stadt herumläuft und behauptet oder andeutet, dass er Olof Palme erschossen habe. Hinweise von verschiedenen Personen aus seinem Umfeld und mit steigender Tendenz, je höher die Belohnung wird.« »Aber es wird nichts unternommen?« »Nein«, sagte Lewin. »Man hat alle Hände voll zu tun mit anderen Dingen, die man für interessanter hält. Er ist auch nicht der Einzige, der damit protzt, Olof Palme erschossen zu haben. Das machen noch etliche andere aus der Szene. Aber wie gesagt, es dauert, ehe er beim Wort genommen wird. Das geschieht erst im Sommer 1988. Da wird überprüft, was er so getrieben hat. Es kommt heraus, dass er am Mordabend in einem illegalen Spielclub in der Nähe des Tatorts war. Dass sein Dealer eine Wohnung in der Tegnergata in 89
der Nähe des Grand-Kinos hatte. Eins führt zum anderen, und plötzlich geht es nur noch um ihn. Das ist eine seltsame Geschichte.« »Was sagt er denn bei den Vernehmungen dazu? Dass er damit geprotzt haben soll?«, fragte Holt. »Das streitet er kategorisch ab, schwört Stein und Bein, dass es nicht so war«, sagte Lewin. »Die Kollegen machen auch keine große Nummer daraus. Bestimmt aus Rücksicht auf ihre Informanten. Das sind nämlich Typen, mit denen Leute wie Pettersson sich umgeben. Es ist übrigens höchste Zeit, zu unserem lieben Chef zurückzukehren«, sagte Lewin mit einem Blick auf seine Armbanduhr. »Der eine sagt so, der andere so«, sagte Holt. »Also, bitte sehr«, sagte Johansson und blickte Holt erwartungsvoll an, nachdem sie sich auf ihren Platz gesetzt hatte. »Jetzt werden wir die Wahrheit über Christer Pettersson hören.« »Das kann ich nicht versprechen«, sagte Holt. »Aber ich verspreche zu sagen, was ich denke.« Das ein oder andere kann ich dir schon mit auf den Weg geben, dachte sie. »Ich bin ganz Ohr«, sagte Johansson und ließ sich, mit auf dem Bauch gefalteten Händen, im Sessel zurücksinken. »Christer Pettersson hat Olof Palme erschossen«, sagte Anna Holt. »Einfach so in die Rübe«, sagte Johansson. »Ja, genau«, sagte Holt. Nenn es, wie du willst, dachte sie. »Du hast keine Lust, ein wenig... ja, ein wenig konkreter zu sein.« Johansson war noch einige Zentimeter tiefer in seinen Stuhl gesunken. »Natürlich«, sagte Holt. »Ich habe sogar eine kleine Aktennotiz darüber geschrieben.« Sie zog eine Plastikhülle aus ihrem Ordner, öffnete sie und verteilte ein A4-Blatt. Erst gab sie Johansson ein Exemplar, dann Lewin und schließlich Mattei. Eine Seite mit fünf Punkten und nicht mehr als eine Zeile unter jedem Punkt. »Vorbildlich knapp«, sagte Johansson nach einem kurzen Blick auf sein Blatt. »Ich bin ganz Ohr«, sagte er und nickte zu Holt hinüber. Entweder hab ich Holt überschätzt, oder sie will mich verarschen, dachte er.
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15 Der erste Punkt auf Holts Liste trug die Überschrift: »Täterbeschreibung«. Den Augenzeugen vom Tatort zufolge war der Täter mindestens eins achtzig groß und zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. Er trug eine längere dunkle Jacke oder einen kürzeren Mantel, der bis zur Mitte des Oberschenkels reichte. Seine Bewegungsmuster wurden beschrieben als »unbeholfen«, »humpelnd«, »hinkend«, »schlingernd«, »wie ein Elefant«. »Passt eigentlich ziemlich gut auf Pettersson, wenn ihr mich fragt«, fasste Holt zusammen. »Ja, das ist wirklich eine phantastische Beschreibung«, sagte Johansson mit Unschuldsmiene. »Was hältst du übrigens von den Zeugen, die den Täter als geschmeidig wie einen großen Bären beschrieben, als jemanden mit kraftvollen, beherrschten Bewegungen, die den Eindruck von Fitness und Stärke vermittelten, als er loslief und auf der Treppe zur Malms-killnadsgata immer zwei Stufen auf einmal nahm? Ganz zu schweigen von unserer Kanakenzeugin. Der einzigen Zeugin, die Körperkontakt zum Täter hatte. Oder allen vor dem Grand, die einen Irren mit flammendem Blick gesehen haben. Oder diesem feingliedrigen Künstlertypen, den unsere so genannte Zeichnerin unten auf der Birger Jarlsgata gesehen hat. Dem auf dem ersten Phantombild. Die Frau, die selbst im Privatieben irgendeine Art Pseudokünstlerin war. Soll ich weiterreden?« »Reicht schon«, sagte Holt mit freundlichem Lächeln. »Einige von diesen Auskünften können ebenfalls auf Pettersson zutreffen.« »Und Gesicht, Haare?« Johanssons Miene wurde noch unschuldiger. »Abgesehen von Lisbeth Palme hat kein Zeuge und keine Zeugin dazu etwas sagen können«, entgegnete Holt. »So ist es!«, sagte Johansson. »Manchmal trägt unser Mörder eine Mütze, und manchmal ist er barhäuptig, und das offenbar gleichzeitig. Bei Lisbeth glaube ich, dass es tatsächlich so ist, dass sie den Täter nie gesehen hat. Ich glaube, er stand in ihrem toten Winkel, wenn dieser Ausdruck gestattet ist, schräg hinter ihr.« »Auf Lisbeth Palme komme ich noch zurück«, sagte Holt. »Jetzt wollte ich mir den nächsten Punkt vornehmen. Punkt Nr. zwei.« »Ich bin ganz Ohr«, sagte Johansson. 91
Zum Zeitpunkt des Mordes hielt Christer Pettersson sich in unmittelbarer Nähe des Tatortes auf. Nach eigener Aussage besuchte er den illegalen Spielclub Oxen oben in der Malms-killnadsgata. »Da war er also eindeutig«, sagte Holt. »Dann haben wir den anderen Zeugen, der ihn beim Grand-Kino gesehen hat. Da hat übrigens sein Dealer eine Wohnung in der Tegner-gata.« »Unser aller Nationaldealer damals, Sigge Cedergren«, ergänzte Johansson. »Er weilt nun mehr nicht mehr unter uns, und wie alle anderen zugedröhnten Hohlköpfe vor dem Grand wurde er seiner Sache immer sicherer, je mehr Jahre seit dem Mord vergangen waren. Denn anfangs hatten sie nicht sehr viel zu sagen.« »Zugegeben«, sagte Holt. »Aber es verbirgt sich eine Logik darin. Es besteht durchaus die Chance, dass er aus purem Zufall auf Olof Palme gestoßen ist. Er hat sich oft in der Gegend aufgehalten, und das nicht, um ins Kino zu gehen und sich ‘Die Mozart-Brüder’ anzusehen.« »Im letzten Punkt sind wir ganz einer Meinung«, sagte Johansson. »Ich glaube, dass der Täter beim Grand-Kino und später am Tatort landet, weil sein Opfer ihn dort hinführt. Ich glaube, dass er ihm aus Gamla stan gefolgt ist, ein größerer Zufall als das war es aber nicht.« »Habe verstanden!«, sagte Holt. »Mein dritter Punkt«, sagte sie dann und hob ihr Blatt. »Es gibt etliche Aussagen, nach denen sich Christer Pettersson zumindest zeitweise Zugang zu einem Revolver von der Sorte verschafft hatte, die bei dem Mord verwendet worden ist. Unter anderem von Sigge Cedergren, der ihm angeblich so einen geliehen hat.« »Was ihm und den lieben Freunden aus Petterssons Umfeld übrigens erst zehn Jahre später einfällt. Erst hatten sie es abgestritten, dann ist es ihnen wieder eingefallen, um dann die Aussage abermals zurückzuziehen. In diesem Zusammenhang sind mir zwei ganz andere Dinge aufgefallen«, sagte Johansson. »Welche denn?«, fragte Holt. »Dass es keinerlei Hinweis darauf gibt, dass Pettersson in seiner gut und gern zwanzig Jahre währenden Verbrecherkarriere vor dem Mord jemals eine Schusswaffe benutzt hat. Und nachher auch nicht. Das Einzige, was wir haben, sind die Dinge, die Cedergren 92
und den anderen zehn Jahre nach dem Mord an Palme eingefallen sind.« »Das andere«, sagte Holt. »Was ist das andere, das dir aufgefallen ist?« »Dass ich auf Tod und Teufel davon überzeugt bin, dass unser Täter ein erfahrener und tüchtiger Schütze von so genannten Einhandwaffen ist, also Pistole oder Revolver. Pettersson war es nicht. Der konnte bei einem Revolver doch kaum vorn und hinten unterscheiden.« »Der Täter ein erfahrener Schütze? Obwohl er Lisbeth Palme aus nur einem Meter Entfernung verpasst hat?« »Glaub mir«, sagte Johansson. Hat doch keinen Sinn, mit einem Frauenzimmer über so was zu reden, dachte er. »Verstehe, schon klar«, sagte Holt. Aber ich bin nicht deiner Meinung. Ich kann auch schießen, dachte sie. »Ich ahne so langsam, dass wir nicht einer Meinung sind«, sagte Johansson. »Der vierte Punkt? Dass Lisbeth Palme Pettersson erkannt haben will. Ich vermute, du weißt, wie es dazu gekommen ist?« »Ja«, sagte Holt. »Ich halte sie aber trotzdem für glaubwürdig.« »Warum das denn, um alles in der Welt?«, fragte Johansson mit einer gewissen Schärfe. »Zuerst dieser bescheuerte Staatsanwalt, der davon faselt, dass der Täter Alkoholiker ist. Dann das so genannte Konfrontationsvideo, das die reinste Parade der Weihnachtsmänner gewesen wäre, wenn nicht einer von denen mit Bartstoppeln, Turnschuhen und einem verdreckten alten Pullover dabei gewesen wäre.« Holt waren zwei andere Umstände aufgefallen. Dass Lisbeth Palme beim Anblick von Christer Pettersson sichtlich unangenehm berührt gewesen war. »Sie war total außer sich, vollkommen verängstigt«, sagte Holt. »Was hättest du denn erwartet?«, schnaubte Johansson. »So, wie der auf dem Video ausgesehen hat!« »Dann weist sie spontan darauf hin, dass der Täter keinen Schnurrbart hatte. Was Pettersson auf dem Konfrontationsvideo hatte, aber der Ermittlung zufolge zur Zeit des Mordes nicht.«
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»Aber süßer Jesus«, sagte Johansson, »so einer wie Christer Pettersson, glaubst du denn, der rasiert sich jeden Tag? Der hatte jede dritte Woche einen Schnurrbart, wenn du mich fragst.« »Es gibt noch etwas, worüber ich mir Gedanken gemacht habe«, fuhr Holt unbeirrt fort. »Der Grund, aus dem der Oberste Gerichtshof Lisbeth Palmes Aussage verwirft, ist unter anderem der, den du gerade genannt hast. Bei der Gegenüberstellung sind zu viele Fehler begangen worden.« »Natürlich«, sagte Johansson. »Alles andere wäre ja auch noch schöner gewesen.« »Angenommen, Lisbeth wäre ermordet worden und Olof Palme hätte überlebt. Und er hätte ausgesagt und wäre bei dieser hirnrissigen Gegenüberstellung dabei gewesen, die sie durchmachen musste. Angenommen, er hätte Christer Pettersson ausgewählt. Glaubst du, die Sache wäre dann zum Obersten Gerichtshof weitergereicht worden?« »Dann wäre Pettersson vermutlich verurteilt worden. Auch Gerichte begehen Fehler.« »Du stellst in diesem Zusammenhang keine weiteren Überlegungen an?«, fragte Holt. »Nein«, antwortete Johansson entschieden. Im schlimmsten Fall haben sich Holt und die kleine Mattei zu irgendeiner verdammten Genderperspektive zusammengerottet, dachte Johansson. Obwohl sie doch eigentlich ziemlich unschuldig wirkt, überlegte er und starrte vergrätzt zu Mattei hinüber. Holts fünftes und abschließendes Argument war, dass Christer Pettersson sehr wohl mit dem Täterprofil übereinstimmte, das ihre Kollegen von der Zentralen Kriminalpolizei damals in Zusammenarbeit mit Fachleuten des FBI erstellt hatten. »In diesem Profil wird der Täter folgendermaßen beschrieben«, begann Holt. »Es handelt sich um einen Einzelgänger mit vor allem chaotischen und psychopathischen Zügen, eine intolerante und rücksichtslose Person, die von Impulsen, Launen und spontanen Einfällen gelenkt wird. Eine gestörte Person, der es schwerfällt, normale Beziehungen zu anderen Menschen aufrechtzuerhalten. Die zwar auf den ersten Blick als selbstsicher erscheinen kann, die aber zugleich arrogant und unehrlich ist. Ein Mensch, dem der innere Kompass fehlt. Er ist politisch nicht interessiert, hegt aber vermut94
lich einen tiefen Hass auf die Gesellschaft und deren Vertreter. Ein einsamer Mensch, der ein missratenes Leben führt. Der seit der Kindheit eine schlechte Beziehung zu seiner Familie hat. Dass er sich an einer Verschwörung beteiligen könnte, und sei es auch nur eine kleine, kann ganz und gar ausgeschlossen werden.« »Sieh an, sieh an«, schnaubte Johansson. »Ja, sieh an«, wiederholte Holt. »Er ist also an die eins achtzig groß und relativ kräftig gebaut. Er ist Rechtshänder und nicht gerade durchtrainiert. Er ist vermutlich irgendwann in den vierziger Jahren geboren worden und besitzt eine gewisse Erfahrung mit Schusswaffen. Er wohnt und lebt allein, hat nur sporadische Kontakte zu Frauen und vermutlich keine Kinder. Er hat vermutlich keine Fachausbildung und ist arbeitslos. Wenn er je Arbeit hatte, dann nur über kürzere Zeiträume, und es waren unqualifizierte Aufgaben. Seine finanzielle Situation ist schlecht, er lebt in einer billigen Mietwohnung mit niedrigem Wohnstandard. Er ist vermutlich bei der Polizei wegen früherer, weniger schwerwiegender Vergehen bekannt. Er wohnt, arbeitet oder hält sich aus anderen Gründen oft in der Nähe des Tatortes und des Grand-Kinos auf.« Holt schaute von ihren Unterlagen auf und sah Johansson an. »Derselbe Mann also, der laut demselben Profil, korrigiere mich, wenn ich mich irre, keine Kontakte zur Psychiatrie gehabt haben soll. Der kein starker Konsument von Alkohol oder Drogen ist«, sagte Johansson. »Dann kann es jedenfalls nicht Sigge Cedergren gewesen sein, Petterssons eigener Zapfhahn und Hoflieferant, den der Täter aufsuchen wollte, um Nachschub zu holen«, sagte Johansson. »Vielleicht wollte er also doch ins Kino gehen?« »Ach ja?«, sagte Holt. »Zu neunzig Prozent weist trotzdem alles auf Christer Pettersson, auch wenn...« »Neunzig Prozent? Das wüsste ich aber«, fiel Johansson ihr ins Wort. »Eine Person, die laut Profil kleinere Gelegenheitsverbrechen begangen haben kann, aber niemals jemanden mit einem Bajonett erstochen oder jede Menge Leute bedroht oder ausgeraubt hat. Pettersson hat zehn Jahre lang in den verschiedenen Knasten gesessen, nur aus diesem Grund. Ganz zu schweigen von den vielen Jahren für Drogenvergehen und den ganzen anderen Dreck, mit dem er sich beschäftigt hat. Und er hat, seit er ein kleiner Junge war, so gut wie jeden Tag gesoffen und Drogen eingeworfen.« 95
»Du meinst, das spricht zu Christer Petterssons Gunsten«, sagte Holt mit Unschuldsmiene. »In diesem Fall bin ich durchaus dieser Meinung«, bestätigte Johansson. »Möchtest du wissen, was ich über den Täter glaube?« »Gerne«, sagte Holt. Das will ich ja wirklich, dachte sie. »Erstens glaube ich, dass er Hilfe hatte. Was vielleicht nicht weiter merkwürdig ist, aber ich glaube, dass er einen oder mehrere Kontakte hatte. Ehe er ans Werk gegangen ist.« »Okay«, sagte Holt. »Er ist ein organisierter und intelligenter Täter. Er ist physisch in guter Verfassung. Stark. Er ist nicht vorbestraft und nimmt keine Drogen. Er verfügt über Autorität und Geistesgegenwart, und in unserem Fall ergreift er die Flucht in der Sekunde, in der sich eine Gelegenheit dazu bietet. Er verfügt über eine bedeutende persönliche Erfahrung, wenn es um Gewaltanwendung geht, und er ist ein sehr geübter Schütze, der mit der rechten Hand schießt. Die Waffe, die er benutzt, ist vermutlich seine eigene, er hat sie jedenfalls nicht auf der Platte unten am Sergels torg gekauft. Er verfügt über hervorragende Ortskenntnisse, Führerschein, Auto, eine schöne Wohnung und gute finanzielle und andere Mittel. Kurz gesagt, er besitzt alle Eigenschaften, die vonnöten sind, um spurlos verschwinden zu können, obwohl das eigentlich unmöglich sein müsste, wenn wir bedenken, wie er das gemacht hat.« »Er ist also das genaue Gegenteil des Täterprofils«, fasste Holt zusammen. »Nein«, sagte Johansson und schüttelte den Kopf. »Dass er Palme gehasst haben soll, kann ich akzeptieren. Dieser psychologische Unsinn über ihn und seine Kindheit lässt mich kalt. Er ist ein böser Mensch. Keine Frage. Normale Menschen schießen jemanden wie Palme nicht von hinten nieder, egal, für wen sie bei der Wahl stimmen.« »Da wären wir also einer Meinung«, sagte Holt und deutete ein Lächeln an. »Darum geht es nicht!«, sagte Johansson. »So einer darf nicht frei rumlaufen. Der gehört lebenslänglich hinter Gitter, und wenn ich entscheiden dürfte, würde ich Leim aus dem Arsch kochen.« »Letzterem würde ich nicht zustimmen, ansonsten sind wir aber einer Meinung«, sagte Holt.
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»Gut«, sagte Johansson und sprang auf. »Wir sehen uns in einer Woche wieder. Selbe Zeit, selber Ort. Und dann will ich einen Namen.« »Diese Sache scheint unserem Chef doch sehr am Herzen zu liegen«, sagte Lewin, als er und Holt die Besprechung verließen. »Ich stelle ja auch nicht sein Engagement in Frage«, sagte Holt und lächelte. »Ich verstehe, was du meinst«, stimmte Lewin zu. »Das große Problem gerade in diesem Fall ist wohl, dass es einfach unmöglich ist, sich hinzusetzen und die Wahrheit in den Akten zu finden. Wie schon gesagt. Egal, was man meint und glaubt, man findet immer eine dazu passende Zeugenaussage.« »Du denkst an diese Zeugin, die den Täter als Scheißkanaken bezeichnet hat«, sagte Holt. »Schlampig von mir, die zu übersehen.« »Nein«, sagte Lewin. »Ich dachte eigentlich an eine ganz andere Zeugin. Aber die ist früh aus den Ermittlungen verschwunden. Aus der Untersuchung gestrichen. Ihre Aussage wurde als uninteressant eingestuft. Ich habe eine Kopie davon ausfindig machen können. Ich hab sie in meinem Zimmer, wenn dich das interessiert. Ich habe niemals etwas damit unternommen. Dazu ist es einfach nicht gekommen«, sagte Lewin und seufzte. »Die lese ich gern«, sagte Holt. »Prima«, sagte Lewin. »Dann kannst du sie haben. Aber ich sollte dich vorher vielleicht warnen. Das ist alles andere als eine unproblematische Zeugin.« »Hat sie solche Probleme, die Zeugen nicht haben dürften? Solche Zeugen, die unser Chef als Hohlköpfe, Glühwürmchen und Verstrahlte bezeichnet?« Holt blickte Lewin fragend an. »Selbstredend«, sagte Lewin. »Aber in diesem Fall ist das nicht das Hauptproblem.« »Was denn sonst?«, fragte Holt. »Das große Problem entsteht, wenn du dir vorstellst, dass das, was sie sagt, stimmt«, sagte Lewin, öffnete seine Zimmertür, hielt sie für Holt auf und zog sie hinter sich wieder zu. »Wie meinst du das?«, fragte Holt. »Wir können nur hoffen, dass sie sich irrt«, erläuterte Lewin. »Hier ist es übrigens.« 97
Lewin öffnete einen Ordner, den er aus seinem sehr ordentlichen Bücherregal genommen hatte, nahm eine dünne Plastikhülle voller Papier heraus und reichte sie Holt. »Wohl bekomm's, Anna. Du bist bestimmt mutiger als ich«, sagte Lewin. »Was passiert, wenn das, was sie sagt, richtig ist?«, fragte Holt nach und prüfte das Gewicht der dünnen Hülle in ihrer Hand. »Dann gibt es Probleme«, sagte Lewin und musterte sie mit ernster Miene. »Große Probleme«, sagte er und nickte nachdenklich. 16
Am Tag nach der zweiten Besprechung beendete Lisa Mattei ihre kleine soziologische Untersuchung. Sie hatte dreizehn ehemalige Palmeermittler befragt, allesamt Männer natürlich, von denen sechs in Pension gegangen waren, drei noch bei der Palme-Einheit arbeiteten und vier zu anderen Aufgaben innerhalb des Staatsapparates übergewechselt waren. Insgesamt hatten ihre dreizehn älteren Kollegen an die hundert Jahre ihres Arbeitslebens der Suche nach dem Täter gewidmet, der über zwanzig Jahre zuvor den Ministerpräsidenten ihres Landes ermordet hatte. Keiner schien Probleme mit der Begründung für ihren Gesprächswunsch zu haben. Im Gegenteil, alle hielten das für eine hervorragende Idee. Es sei doch höchste Zeit, etwas mit den Papierstapeln zu machen, die sonst nur Staub ansammelten. Mehrere von ihnen hatten auch sofort den eigentlichen Grund ihres Besuchs zur Sprache gebracht, ohne dass sie auch nur danach hätte zu fragen brauchen. »Eine hervorragende Idee. Ich habe Ihren Chef Johansson im Fernsehen gesehen, als er dieser Pressebande die Leviten gelesen hat. Das ist ein echter Polizist. Keiner von diesen üblichen Bürohengsten mit Juraexamen. Wir kennen uns seit unserer aktiven Zeit bei der Streife in Stockholm, und wenn jemand die richtige Nase für den Job hatte, dann Lars Martin Johansson. Obwohl er damals noch ein junger Spund war. Sie können ihm von mir ausrichten, alles, was mit Christer Pettersson zu tun hat, kann er gleich in den Keller bringen, und das Allereinfachste wäre wohl, es einfach gleich 98
zu verbrennen. Denn feige war er nie. Das kann ich als Erster bestätigen...« »Die Kurden. Die Kurden haben Palme erschossen. Diese Terroristen in dieser so genannten revolutionären Arbeiterpartei, der PKK. Das war mir und vielen Kollegen von Anfang an klar, und die Papierberge, die die Einheit in den späteren Jahren angehäuft hat, kann man uns nicht anlasten, aber jetzt ist es bestimmt zu spät, diesen Irrtum noch zu korrigieren. Der wirklich große Skandal ist, dass wir unsere Arbeit nicht beenden konnten. Die Politiker und die Journalisten haben sie uns weggenommen, ganz einfach aus politischen Gründen. Die Journalisten haben Druck ausgeübt, und die Staatsanwälte haben es nicht geschafft, sich zu wehren, und die Politiker haben wie immer einfach Ja und Amen gesagt, obwohl Palme Sozialdemokrat war und wir eine sozialdemokratische Regierung hatten. Was sie unserem ersten Ermittlungsleiter angetan haben, Hasse Holmer, der war damals Bezirkspolizeichef von Stockholm, wie Sie wissen, und ich sage das vor allem, weil das vor Ihrer Zeit war. Das war der pure Skandal, wenn Sie mich fragen. Er wurde ganz einfach gefeuert, weil er sich weigerte, die Ermittlung einem Haufen von Politikern und Zeitungsschmierern zu überlassen...« »Klingt wie ein hervorragender Vorschlag. Schmeißt als Erstes alles weg, was mit diesen Kurden zu tun hat. Die hatten nichts mit dem Mord an Palme zu tun. Dem hatten sie es doch zu verdanken, dass sie herkommen konnten. Palme war ausländerfreundlich, und ich habe an sich dagegen nichts einzuwenden. Wenn man sich über ihn aufregte, dann meistens über andere Dinge, die mit seiner Person zusammenhingen. Dass einer wie Christer Pettersson es gewesen sein soll, glaube ich auch nicht. Der war einfach zu konfus, um das zu schaffen. Wusste doch kaum, wer Palme überhaupt war. Außerdem ist er ja seit Jahren tot, allein das reicht schon, um ihn aus der Palmesache herauszunehmen. Dann gibt es die vielen politischen Spekulationen über Iran und Irak und Indien und die Boforsaffäre und Südafrika und ich weiß nicht, was noch alles. Ich meine, selbst wenn es so war, dann können wir Polizisten daran doch nichts ändern. Außerdem glaube ich das auch nicht. Ich glaube, dass die Erklärung viel einfacher ist. Irgendein ganz normaler Bürger hatte Palme und seine Politik satt und hat ihn vielleicht noch dazu für ei99
nen Spion für die Russen gehalten. Das taten damals viele, müssen Sie wissen. Jemand, der ganz einfach die Sache in die eigene Hand genommen hat, als er ihm durch Zufall vor dem Grand im Sveaväg über den Weg gelaufen ist...« In den Antworten, die Mattei bekam, gab es ein durchgängiges Muster. Ein erwartetes Muster. Man glaubte an das, woran man gearbeitet hatte, oder vielmehr an das, womit man sich hauptsächlich beschäftigt hatte. Dagegen selten an etwas, an dessen Ermittlungen man nicht beteiligt gewesen war. In einem Punkt, mit einer überaus überraschenden Ausnahme, stimmte man indes überein. Alle, außer einem der Befragten, wiesen die so genannte Polizeispur kategorisch ab, und der, der am wenigsten daran glaubte, war der Ermittler, der sich insgesamt an die fünf Jahre seines Polizistenlebens damit befasst hatte herauszufinden, was seine Kollegen zum Zeitpunkt des Mordes an Palme eigentlich unternommen hatten. »Ich schwöre und versichere«, sagte er und nickte seiner Besucherin mit ernster Miene zu. »Diese vielen Hinweise, auf die sich die Medien in den vergangenen Jahren gestürzt haben. Wenn Sie sich genauer ansehen, worum es dabei wirklich geht, dann ist das bestenfalls der pure Blödsinn. Ich sage bestenfalls, denn viel zu oft war es reiner böser Wille bei den Besserwissern und Kriminellen, die hinter den Denunzierungen unserer Kollegen steckten.« Diese alten Ermittler haben etwas Besonderes, dachte Mattei, als sie sich in ihren Dienstwagen setzte, um die kleine rot angestrichene Sörmlandskate hinter sich zu lassen, in der ihr letztes Interviewopfer nunmehr seinen ländlichen Lebensabend genoss und wo er sie zu Kaffee, Zimtschnecken, Saft und Plätzchen eingeladen hatte. Vor allem, wenn sie in Pension gegangen sind. Die Pension löste ihre Zunge und schenkte ihnen Zeit und Lust zu erzählen, wie das alles eigentlich zusammenhing. Vor allem, wenn sie es mit einer jüngeren Kollegin zu tun hatten, die »gescheit und bescheiden« zugleich wirkte. Wenn die nur wüssten, dachte Mattei und kicherte. Aber eigentlich war das meiste wohl ziemlich harmlos, und die meisten waren wenigstens gute Geschichtenerzähler. Ihr hatte nur vor einer ganz bestimmten Begegnung gegraust, und bei dem Gespräch hatte sie die meiste Zeit die Zähne zusammengebissen, während ihr klei100
nes Tonbandgerät sich drehte und sich ihr Gesprächspartner über die Wahrheit über Olof Palme und alles andere zwischen Himmel und Erde ausließ. Kriminalkommissar Evert Bäckström, »der legendäre Ermittler mit dreißig Jahren Amtszeit und von vielen als der beste von allen betrachtet«, so die anonyme Quelle, die eifrig in Dagens Nyheters neuestem Artikel über die elenden Zustände bei der Zentralen Kriminalpolizei zitiert wurde. Zusammen mit dem Phänomen der schwedischen Missgunst sei dies die einzige Erklärung dafür, dass der Chef der Zentralen Kriminalpolizei besagten Bäckström ein Jahr zuvor von der Mordkommission in die Abteilung für die Zuordnung von Diebesgut bei der Stockholmer Polizei versetzt hätte. »Das Genie aus Lappland braucht also Hilfe, um den Fall Palme aufzuklären«, sagte Bäckström, ließ sich im Sessel zurücksinken und kratzte sich durch den größten Spalt, den sein zu eng sitzendes Hawaiihemd auf seinem Bauch warf, am Nabel. »Nein, so ist das nicht«, widersprach Mattei. »Wir sollen uns lediglich einen Überblick über die Registrierung des Materials der Palmeermittlung verschaffen, und er interessiert sich für Ihre Einschätzung. Welche Prioritäten die unterschiedlichen Teile des Materials zugewiesen bekommen sollen.« »Ja klar, das kann ich mir vorstellen«, sagte Bäckström mit listigem Blick hinter halb gesenkten Augenlidern. »Wer hätte das gedacht, ‘Überblick über die Registrierung’« »Wenn ich das richtig verstanden habe, dann waren Sie in der einleitenden Phase dabei und haben unter anderem den ‘Dreiunddreißigjährigen’ aufgespürt, Ake Victor Gunnarsson.« »Stimmt genau«, sagte Bäckström. »Ich habe dieses kleine Brechmittel gefunden, und wenn ich nur hätte weitermachen dürfen, dann hätte ich wenigstens dafür gesorgt, dass wir der Sache auf den Grund gekommen wären. Stattdessen hat sich ein älterer so genannter Kollege eingemischt und die Sache an sich gerissen. Einer, der sich im Hintern der so genannten Leitung der Polizei die Zunge braun geleckt hatte. Wenn ihr euch also jetzt über die vielen Fragezeichen wundert, die es in Bezug auf Gunnarsson gibt, dann müsst ihr euch an ihn wenden. Nicht an mich.« »Gibt es denn etwas, von dem Sie meinen, dass man es prioritieren sollte?«, versuchte Mattei abzulenken. 101
»Papier und Stift«, dröhnte Bäckström und nickte auffordernd. »Dann haben Sie etwas, mit dem Sie sich Notizen machen können«, erklärte er und stopfte sich dabei seinen eigenen Kugelschreiber ins Ohr, um das störende Schmalz zu entfernen. »In dem Material gibt es eine ganze Menge, was in den Keller kann«, sagte Bäckström, musterte das Ergebnis seines hygienischen Einsatzes und strich mit dem Stift über die Schreibunterlage. »Als Erstes können Sie alle Weiber aussortieren. Motiv, Modus operandi und alle vorstellbaren Täter, die Weiber sind, ob sie nun Hosen tragen oder nicht. Ich will mich nicht weiter dazu äußern, was ich von dem so genannten Opfer gehalten habe, aber ein Weib hätte Palme niemals auf diese Weise umnieten können. Nicht mal so eine Oma wie Palme«, fügte er erklärend hinzu. »Das war ein kompetenter Idiot, der damals die Knarre gehalten hat.« Danach dozierte Bäckström fast eine Stunde lang, ohne sich unterbrechen zu lassen. Über mögliche Täter, Motive und Vorgehensweisen. Mehr oder weniger alle, das heißt, normale schwedische Männer, so wie er selbst, hätten Kommissar Bäckström zufolge ein Motiv gehabt, um den Ministerpräsidenten zu ermorden. Der Antrieb - nach seiner persönlichen und beruflich begründeten Erfahrung - sei wahrscheinlich umso stärker gewesen, je mehr man mit dem Opfer zu tun gehabt habe. Das Gute dabei sei gleichzeitig gewesen, dass die Dichte an Weibern, egal, ob sie Hosen oder Röcke trugen, in Palmes Umgebung besonders hoch gewesen sei, was wiederum große Möglichkeiten geboten habe, in den Unterlagen ausgiebig aufzuräumen. »Sag mir, mit wem du dich umgibst, und ich sage dir, wer du bist«, fasste Bäckström zusammen. »In unserer guten alten Bibel steht allerlei Denkwürdiges.« »Ich verstehe Ihre Äußerungen so, dass Sie nicht an die oft vorgebrachte Hypothese glauben, dass ein Verrückter durch Zufall Olof Palme vor dem Grand-Kino gesehen hat«, warf Mattei dazwischen. Purer Blödsinn, fand Bäckström. Erstens brauchte man nicht verrückt zu sein, um gute Gründe für den Mord an Palme zu haben. Dagegen, zweitens, brauchte man »verdammt große Eier« und das 102
Allerbeste wäre natürlich, drittens, wenn man sich vorher ein wenig darüber informierte, was Leute wie Palme so trieben. »Vergiss das mit Christer Pettersson und allen anderen Suffköppen«, schnaubte Bäckström. »Kanaken, Suffköppe und normale Verbrecher. Warum hätten die es auf Palme abgesehen haben sollen? Der hat ihnen doch gerade die Stange gehalten. Worüber wir hier reden, ist ein Kerl mit erstklassiger Sachkenntnis, prima Ortssinn, Geschicklichkeit im Umgang mit einer Knarre und verdammt viel Eis im Bauch.« »Sie meinen zum Beispiel einen Polizisten oder einen aus dem Militär oder sonst jemanden mit so einem Hintergrund?«, fragte Mattei. »Ja, oder einen alten Schützen oder Jäger. Oder vielleicht sogar diesen Gilljo. Der einzige Schriftsteller hierzulande, der diesen Namen verdient hat, wenn Sie mich fragen«, sagte Bäckström. »Außerdem steht er auf der Liste möglicher Verdächtiger. Wir haben damals eine Menge Hinweise bekommen, die zu ihm führten. Also sehen Sie sich Janne Gilljo an, wenn Sie nichts Besseres zu tun haben. Ich glaube eher an einen wie den oder an einen aus dem Militär als an einen Kollegen«, fasste Bäckström zusammen und nickte. »Ich meine, ich und die Kollegen hatten ja immerhin die Hoffnung, ihn hopsnehmen zu können, wenn er besoffen war«, erklärte er. »Auch ein kleiner Trost ist ein Trost, auch wenn das Elend noch so groß ist. So wie es zu Palmes Lebzeiten war.« »Palme wegen Betrunkenheit festnehmen?«, wiederholte Mattei ungläubig und schielte sicherheitshalber zu ihrem Tonbandgerät hinüber. »Der gängigste feuchte Traum unter uns Kollegen damals«, sagte Bäckström grinsend und schaute unvermittelt auf die Uhr. »Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen, Mattei, aber auch ich habe noch zu tun.« »Natürlich«, sagte Mattei und sprang mit aller wünschenswerten Schnelligkeit auf. »Ich muss mich wirklich dafür bedanken, dass Sie sich die Zeit genommen haben.« »Noch zwei Dinge«, sagte Bäckström. »Der Ordnung halber. Ich betrachte das hier als vertrauliches Gespräch und verlasse mich darauf, dass alles unter uns bleibt.« »Wie ich schon anfangs gesagt habe, sind alle Interviewpartner anonymisiert.« 103
»Das will ich meinen«, sagte Bäckström und grinste. »Sie wollten noch etwas sagen«, erinnerte Mattei ihn, während sie Tonbandgerät, Papier und Stift in die Handtasche steckte und sicherheitshalber den Reißverschluss zuzog. »Sie brauchen den Strömlingsfresser nicht von mir zu grüßen«, sagte Bäckström. »Versprochen«, sagte Mattei. »Sie müssen sich da keine Sorgen machen.« »Ich mache mir niemals Sorgen«, sagte Bäckström. »Das ist nicht mein Bier.« Lisa Mattei hatte fünf Tage für ihre kleine Untersuchung benötigt, und die Schlussfolgerung hatte sie schon gezogen, bevor sie überhaupt damit angefangen hatte. Das Material im Palmeraum war das Ergebnis der langjährigen Arbeit der Kollegen, und mit zwei Ausnahmen waren die Befragten überzeugt von ihren Leistungen. Die einzige Unterstützung, die der Polizeispur zuteil wurde, beschränkte sich auf Bäckströms allgemeine Überlegungen, und das dazu gesammelte Material war nicht gerade umfassend. Die große Ausnahme war die so genannte Kurdenspur, wo die polizeilichen Ermittlungen sogar noch mehr Papier erzeugt hatten als zu Christer Pettersson. Nicht weniger als zweihundert Arbeitskräfte, die ein Jahr lang recherchierten und jede Menge Ordner produzierten. Übrig war nur noch ein Ermittler von ursprünglich dreizehn, der glaubte, was dort stand. Unter den hunderten, zu denen sie keinen Kontakt aufgenommen hatte, würde sie nicht viele finden, die ebenfalls so dachten. Am Abend nach dem letzten Interview saß sie noch spät im Büro und schrieb eine kleine Aktennotiz über ihre Ergebnisse. Zwei Seiten, im Unterschied zu Jan Lewins fünfundzwanzig. Die mailte sie dann an Johansson. Nur an Johansson, weil sie fand, er müsse entscheiden, ob das noch andere lesen sollten. Was mache ich jetzt?, überlegte Mattei, als sie ihren Rechner ausschaltete. Etwas sehr Konkretes und höchste Zeit, mal wieder mit meiner kleinen Mama zu reden, entschied sie.
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17 Johansson war wie üblich als Erster im Büro eingetroffen. Die Stunde, ehe seine Sekretärin sich einfand, nutzte er zumeist, um in aller Ruhe eine Tasse Kaffee zu trinken, seine Mails zu lesen und alles andere zu erledigen, wozu er im Verlauf des Tages nicht mehr kommen würde. Vorbildlich kurz und gut geschrieben, dachte Johansson, als er die von Mattei gemailte Aktennotiz gelesen hatte. Fleißig ist sie auch, der Spatz, dachte er. Die Mail war bereits am Vorabend um kurz nach elf bei ihm eingetroffen. Aber nicht sonderlich aufregend, denn was da steht, wusste ich ja schon, dachte er. In dieser Hinsicht waren alle Hoffnungen, dass einer der alten Traber etwas Neues, Spannendes und ausreichend Konkretes haben könnte, von Anfang an im Sand zerronnen. Aber das hast du dir ja schon vorher gedacht, sagte sich Johansson und seufzte. Der einzige Trost war, dass zumindest einer der älteren Kollegen in dieselbe Richtung zu denken schien wie er. Eine kleinere Verschwörung in der Nähe des Opfers und ein überaus fähiger Täter, der das Praktische erledigt hatte. Muss Melander sein, dachte er. Er war Jarnebrings und sein Mentor gewesen, als sie vor über dreißig Jahren bei der Zentralen Streife von Stockholm angefangen hatten. Wie es ihm wohl geht, dem alten Sack, dachte er in dem Moment, in dem Anna Holt durch seine offene Tür kam, an den Türrahmen klopfte und mit weißen Zähnen lächelte. »Klopf, klopf«, sagte Holt. »Sagst du das nicht immer, wenn du bei anderen reinplatzt?« »Setz dich, Anna«, sagte Johansson und nickte zu seinem Sofa hinüber. »Was machst du um diese Zeit schon im Büro?« Sie ist wirklich ein überaus fesches Frauenzimmer, dachte er. Vielleicht ein wenig mager und ab und zu ganz schön streitsüchtig, aber... »Muss weiterschuften«, sagte Holt und schüttelte den Kopf. »Nur eine kurze Frage.« »Shoot«, erwiderte Johansson. »Wenn du Palme erschossen hättest und dann durch die Tunnelgata und die Treppe zur Malmskillnadsgata hochgerannt wärst, wohin wärst du danach gelaufen?« Hoppla, dachte Johansson. 105
»Ich habe drei Möglichkeiten«, antwortete er. »Ich kann auf der Malmskillnadsgata nach rechts zum Park bei der Johanneskirche gehen, ich kann die Straße überqueren und geradeaus gehen, wie das der Täter angeblich getan hat, also quer über Brunkebergsäsen. Oder ich kann auf der Malmskillnadsgata nach rechts gehen, in Richtung Kungsgata.« »Und wohin wärst du gegangen?« »Ich wäre nach rechts gegangen«, sagte er und nickte, um das noch zu betonen, »die Treppe zur Kungsgata hinunter, wäre dort in der Menge untergetaucht und dann in der U-Bahn verschwunden.« »Und warum?«, fragte Holt. »Weil das der beste Weg wäre«, antwortete Johansson. »Danke«, sagte Holt. Nickte, lächelte, machte auf dem Absatz kehrt und ging. Worauf die wohl hinauswill, überlegte Johansson, und obwohl er angeblich um die Ecke schauen konnte, hatte er keine Ahnung davon, dass Holt seit fast vierundzwanzig Stunden ebenfalls diese Wahl getroffen hätte. Ob die kleine Mattei wohl schon da ist?, fragte er sich plötzlich und schaute auf die Uhr. Einen Versuch ist es wert, dachte er, und tippte ihre Nummer ein. »Setz dich, Lisa«, sagte Johansson und zeigte auf den Sessel auf der anderen Seite seines Schreibtisches. »Danke, Chef«, sagte Mattei und tat, wie ihr geheißen. Reiß dich zusammen, Lisa, dachte sie. »Danke für die Mail«, sagte Johansson. »Vorbildlich kurz. Und gut geschrieben«, fügte er hinzu. »Danke«, sagte Mattei. »Obwohl ich fürchte, dass es keine neuen Ideen gebracht hat.« »Nein«, sagte Johansson. »Aber das haben wir ja wohl beide nicht erwartet. Apropos neue Ideen. Ich hatte gehofft, du hättest vielleicht welche.« Jetzt muss ich es darauf ankommen lassen, dachte Mattei, und wenn nun alles in die Hose ging, dann wäre es sicher nicht schlecht für sie, wenn Johansson das vorher schon wüsste. »Ich habe allerdings eine Idee«, sagte Mattei. »Ich weiß nicht, aber...« »Weiter«, sagte Johansson und nickte aufmunternd. »Ich habe daran gedacht, was du gestern bei der Besprechung gesagt hast. Das über Palmes Kinobesuch. Ich bin da ganz deiner 106
Meinung, Chef. Ich glaube sehr wohl, dass er vorher darüber gesprochen haben kann und dass seine Kollegen vielleicht davon wussten und dass die Kollegen von der Säpo das auch gehört haben können.« »Und jetzt spielst du mit dem Gedanken, dich und den mittlerweile pensionierten Chef vom Personenschutz von deiner Mama zum Essen einladen und das gute Essen und Trinken den Rest erledigen zu lassen«, sagte Johansson. Dieses Mädel kann es so weit bringen wie ich, dachte er. »Ungefähr so«, sagte Mattei. Er kann tatsächlich um die Ecken sehen, aber das wusste ich ja schon, dachte sie. »Wie lange ist sie jetzt schon bei der Säpo? Deine Mama, meine ich«, sagte Johansson. »Seit ich im Kindergarten war«, sagte Mattei. »Fast dreißig Jahre. Jetzt ist sie Kommissarin beim Verfassungsschutz. Geht nächstes Jahr in Pension.« Meine kleine Mama wird Rentnerin, dachte sie. »Aber so was darf man ja eigentlich nicht sagen«, sagte Johansson, der selbst operativer Chef der Sicherheitspolizei gewesen war, ehe er bei der Zentralen Kriminalpolizei gelandet war. »Ich meine mich erinnern zu können, dass sie auch beim Personenschutz war?« »Ja, in den achtziger Jahren. Sie war mehrere Jahre dort, auch zum Zeitpunkt des Mordes an Palme. Sie war verantwortlich für die Königin und die kleinen Königskinder«, sagte Mattei. »Wenn ich das so sagen darf.« Was soll man da mit Frauen auch sonst anfangen?, dachte sie. »Mir kannst du alles sagen«, sagte Johansson mit gebieterischer Miene. »Es bleibt nämlich hier im Zimmer.« »Deshalb kennt sie Kommissar Söderström gut. Er war damals für die Regierung und Palme zuständig, aber das weißt du sicher noch, Chef. Er hatte immer schon eine Schwäche für meine kleine Mama.« Aber wer hatte das damals nicht?, dachte sie. »Natürlich«, sagte Johansson. »Wer hatte das nicht? Sie ist eine elegante Frau, deine Mama. Aber Söderberg hat nach dem Mord an Palme wohl nicht mehr richtig zu sich gefunden«, fügte er hinzu. Alles andere wäre aber auch seltsam gewesen, dachte er. »Er scheint es anfangs sehr schwergenommen zu haben«, sagte Mattei. »Aber als ich ihm zuletzt begegnet bin, das war übrigens an Mamas sechzigstem Geburtstag, war er munter und gut aufgelegt. 107
Aber sicher erinnert er sich ganz genau daran, was damals passiert ist, als Palme ermordet wurde.« »Klingt gut«, sagte Johansson. »Dann machen wir das so«, sagte er und nickte. »Sag Bescheid, wenn ich dir irgendwie behilflich sein kann.« Übrigens, da ist noch etwas«, sagte Johansson, dem plötzlich ein Gedanke gekommen war. »Welcher von den alten Palmeermittlern hatte eigentlich dieselbe gute Idee wie ich?« »Das kann ich wirklich nicht sagen«, sagte Mattei und schüttelte ungewöhnlich entschieden ihren blonden Kopf. Herrgott, dachte sie. »Ich bin noch immer ganz Ohr«, sagte Johansson. »Nicht einmal dem Chef«, beharrte Mattei. »Ich habe allen Anonymität zugesichert. Du kannst eine Liste meiner Interviewpartner haben, aber ich kann nicht darüber reden, was dieser oder jener gesagt hat.« »Ich verstehe«, sagte Johansson. »Wie geht es übrigens Melander?«, fügte er mit Unschuldsmiene hinzu. »Wir haben vor unendlich vielen Jahren zusammen bei der Streife gearbeitet.« »Gut«, sagte Mattei. »Ich soll übrigens grüßen.« Diese Hürde hast du nicht genommen, dachte sie. »Kann ich mir vorstellen«, sagte Johansson zufrieden. 18
Was soll das eigentlich?, dachte Holt, als sie am Vortag in ihr Zimmer zurückgekehrt war und anfing, die Unterlagen zu lesen, die Lewin ihr gegeben hatte. Insgesamt zehn Seiten, und ganz oben lag ein Formular für eine Zeugenaussage, ausgefüllt am Samstag, dem 1. März 1986, einen Tag nach dem Mord. Damals war es einer jungen Frau gelungen, bei der überlasteten Telefonzentrale der Stockholmer Polizei durchzukommen, und offenbar hatte sie auf den Kollegen, der das Gespräch angenommen hatte, einen so starken Eindruck gemacht, dass er sie nach Kungsholmen zur Vernehmung gebeten hatte. Die Vernehmung der jungen Frau, Madeleine Nilsson, geboren 1964, hatte am späten Samstagabend stattgefunden. Die Vernehmung war als Zusammenfassung zu Papier gebracht worden und nahm nur eine A4-Seite in Anspruch. Die Vernehmung hatte ein 108
Holt unbekannter Kollegen namens Andersson durchgeführt, der die Unterlagen offenbar für weitere Behandlung und andere Maßnahmen an die Gewaltsektion weitergereicht hatte. »Nilsson gibt zusammengefasst Folgendes an. Sie hielt sich am Freitagabend in einer Kneipe unten auf der Vasagata auf, wo sie sich mit Bekannten zu einem Bier traf. Nilsson kann sich an den Namen des Lokals nicht erinnern, gibt aber an, es liege in der Nähe der Kungsgata schräg gegenüber vom Hauptbahnhof. Nachdem sie sich gegen dreiundzwanzig Uhr abends von ihren Bekannten getrennt hatte, machte sie sich zu Fuß auf den Heimweg zu ihrer Wohnung in der Döbelnsgata 31. Sie ging in östlicher Richtung durch die Kungsgata, überquerte den Sveaväg und nahm dann auf der linken Seite der Kungsgata die Treppe hoch zur Malmskillnadsgata. Danach ging sie durch die Malmskillnadsgata und Döbelnsgata nach Norden zu ihrer Wohnung, die sie gegen 23.30 erreichte. Auf der Treppe von der Kungsgata zur Malmskillnadsgata begegnete ihr ungefähr auf halber Höhe ein Mann, der in schnellem Tempo die Treppe zur Kungsgata hinunterging. Nilsson weiß den Zeitpunkt nicht genau, nimmt aber an, dass es gegen 23.20 gewesen sein muss. Der Mann war an die eins achtzig groß, weder dick noch dünn. Er machte einen durchtrainierten Eindruck und wirkte nicht betrunken oder unter Drogen. Er hatte kurze dunkle Haare, und Nilsson schätzt ihn auf 35 bis 40. Der Mann trug keine Kopfbedeckung, einen halblangen dunklen Mantel oder eine längere Jacke mit hochgeschlagenem Kragen, dazu eine dunkle Hose (allerdings keine Jeans). Über seine Fußbekleidung ist nichts bekannt. Nilsson kann sich auch nicht über sein Aussehen äußern, da der Mann sich die Hand vors Gesicht hielt, so als wolle er sich die Nase putzen, als er an ihr vorbeiging. Sie hat jedoch den Eindruck, dass er gut aussah, regelmäßige Gesichtszüge, dunkle Augen und kurzgeschnittene dunkle Haare. Auf dem Weg zwischen der Kreuzung Sveaväg-Kungsgata und ihrer Wohnung in der Döbelnsgata hat sie keine weiteren interessanten Beobachtungen gemacht. Sie gibt abschließend an, dass es ihrer Überzeugung nach ruhig in der Stadt war. In der Döbelnsgata sind ihr nur sehr wenige Menschen begegnet, und keiner davon hat 109
sich auf irgendeine Weise auffällig verhalten. In der Döbelnsgata sah sie einen Polizeibus, der in Richtung Malmskillnadsgata fuhr. Der Bus fuhr in ruhigem Tempo und ohne Blaulicht oder Sirene. Sie weiß das noch, weil der Bus ihr mit dem Scheinwerfer zugeblinkt hat.« Sieh an, ja, sagte Holt, bisher wirkte alles gut und schön, abgesehen davon, dass die Zeugenkette der Ermittlung schon beim zweiten Glied gerissen war. Falls das nun stimmt, dachte sie. Am Mittwoch, dem 5. März, in der Woche nach dem Mord, war Madeleine Nilsson bei der Gewaltsektion in Stockholm ein weiteres Mal vernommen worden. Es hatte einen Dialog gegeben, mit einer siebenseitigen Vernehmungsniederschrift. Auch hier hieß der Beamte Andersson, auch er war Holt unbekannt und dem Vornamen nach ein anderer Andersson als der, der sich einige Tage zuvor mit der Zeugin getroffen hatte. Außerdem hatte er ihr gegenüber eine ganz andere Einstellung. Zunächst hatte sie die Geschichte, die sie bereits einige Tage zuvor erzählt hatte, noch einmal wiederholen dürfen. Danach war sie um die Namen der Personen gebeten worden, mit denen sie in der Kneipe in der Vasagata zusammen gewesen war. Die wollte sie nicht nennen, sie wollte auch nicht verraten, warum nicht. Die folgenden Fragen kamen gleich zur Sache und ließen keinen Raum für irgendwelche Zweifel an der Richtung, die die Vernehmung nun genommen hatte. Was sie eigentlich am Freitag, dem 28. Februar abends in der Innenstadt zu suchen gehabt habe. Das habe sie doch bereits gesagt. Sie habe sich nicht zufällig in der Gegend um die Malmskillnadsgata aufgehalten, um einen »Kunden aufzureißen«? Oder um »einen kleinen Beruhigungsschuss« zu kaufen? Oder gar einen kleinen »Aufputschschuss«? Dazu wolle sie keinen Kommentar abgeben. Sie habe getan, was sie bereits gesagt habe. Nicht mehr und nicht weniger. Sie habe die Polizei angerufen, weil sie helfen wollte. Aber wenn das so ausarte, wolle sie nicht mehr mitmachen. Nach einigen weiteren Fragen zum selben Thema war die Vernehmung beendet worden, und die handgeschriebenen Notizen, die 110
der Beamte in der Niederschrift hinterlassen hatte, schienen das Ende der Zeugin Madeleine Nilsson besiegelt zu haben. »Zeugin Nilsson nicht glaubwürdig. Taucht im Polizeiregister in fünf verschiedenen Rubriken auf (Diebstahl, Betrug, Ladendiebstahl, Drogenvergehen usw.). Ist registriert als drogensüchtig und Prostituierte.« Der Kommissar bei der Gewaltsektion, der die verschiedenen Zeugenaussagen in Bezug auf die Beschreibung des Täters hin untersuchte, hatte jedenfalls denselben Schluss über den Wert dieser Zeuginnenaussage gezogen. Der Fotokopie seines Vermerks zufolge fehlte es dem Bericht der Zeugin an »Relevanz«. »Die Zeugin ist mit größter Wahrscheinlichkeit bereits vor dem Mord an OP am Tatort vorbeigekommen.« Seine Unterschrift war absolut unlesbar, Holt aber wusste sehr gut, wer er war. Als sie einige Jahre nach dem Mord an Palme zur Stockholmer Kriminalpolizei gekommen war, war sie ihm etliche Male über den Weg gelaufen. Er war eine der alten Legenden dort, Kriminalkommissar Fylking. Nunmehr sowohl pensioniert als auch verschieden. Was soll das eigentlich?, dachte Holt, und dabei fiel ihr der Kollege Jan Lewin ein, der die letzte Seite in dem dünnen Papierstapel verfasst hatte. Mit der Maschine geschrieben, ordentlich, wie alles, was von Lewin kam, verfasst am Freitag, dem 30. März 1986, genau vier Wochen nach dem Mord. Erstaunlich kurz für Lewins Verhältnisse. Nur sechs Punkte auf einer einfachen A4-Seite. Unterschrieben vom damaligen Kriminalinspektor Jan Lewin von der Gewaltsektion in Stockholm, und in allen wesentlichen Aspekten schien er damals derselbe gewesen zu sein wie heute. An sich war das, was dort stand, so unantastbar, wie es das unter den gegebenen Umständen überhaupt nur sein konnte. Es war quasi die Quintessenz dessen, was die Polizei über die Ereignisse wusste. Das Problem war Lewins Genauigkeit. Diese vielen Orte, wo die verschiedenen Beteiligten sich aufgehalten hatten, am liebsten auf den Meter genau angegeben. Diese vielen Zeitpunkte, zu denen sie sich an einem bestimmten Ort aufgehalten hatten, wenn möglich auf die Sekunde genau angegeben. Die vielen Bewegungen und alles an111
dere Menschliche, dem Täter und Zeugen sich zwischendurch gewidmet hatten. Natürlich auf Meter und Sekunde genau berechnet. Der Aufklärungswert war gleich null, das Leseerlebnis nicht vorhanden, und Holt brauchte eine gute Viertelstunde, um die Lewinschen Wortschlingen zu durchdringen und endlich zu begreifen, was dort stand. Der erste Punkt seiner Aktennotiz war wenigstens noch verständlich. Bei den folgenden vier wuchs der Schwierigkeitsgrad exponentiell. »(1) Schwedens Ministerpräsident Olof Palme wurde am Freitag, dem 28. Februar 1986 um ca. 23:21:30 an der Kreuzung Sveaväg und Tunnelgata ermordet.« Sieh an, ja, dachte Holt, als sie eine gute Viertelstunde später endlich auf der anderen Seite angekommen war. Lewin hatte die Uhr nach Zeuge 1 gestellt. Der hat den Film gestartet, als der Täter flieht, und an sich kannst du auf alle anderen Uhren pfeifen, die anders gehen, ob sie nun vor- oder nachgehen. Zeuge 1 geht durch die Tunnelgata auf den Tatort zu, als er den ersten Schuss hört und in derselben Sekunde erfasst, was dreißig Meter weiter auf der Straße passiert. Er versteckt sich - im Schutz von Dunkelheit, Baubaracken, altem Baumaterial und allem anderen Müll, der auf der rechten Straßenseite aufgestapelt ist - während der Täter in nur wenigen Metern Entfernung links von ihm »vorüberjoggt«. Erst, als der Täter vorübergegangen und für einen Moment aus dem Blickfeld des Zeugen verschwunden ist, schaut der aus seinem Versteck heraus und sieht den Täter die Treppe zur Malmskillnadsgata hochlaufen, oben für einen Moment stehen bleiben und danach aus dem Blickfeld des Zeugen verschwinden. Nach dem, was Zeuge 1 bei der ersten Vernehmung sagt, der ersten von vielen, zu der er von der Polizei in der folgenden Zeit geladen wird, wartet er danach »ungefähr eine Minute«, ehe er sein relativ sicheres Versteck verlässt und dem Täter folgt. Vorsichtig, vorsichtig, erst über die Tunnelgata zur Treppe, dann die Treppe hoch zur Malmskillnadsgata. Lewin zufolge braucht er für diese Strecke »weitere ca. 60 Sekunden«. 112
Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand. Zeuge 1 taucht »erst ca. 5 Minuten nach dem Täter« an der Stelle auf, wo der Täter aus seinem Blickfeld verschwunden ist. Der Täter ist spurlos verschwunden. Das Einzige, was Zeuge 1 sieht, ist Zeugin 2, und sie wird gefragt, ob sie gesehen hat, wie »ein Mann in einer dunklen Jacke vorbeigelaufen« ist. Das hat sie. »Vorhin erst«, hat sie »einen dunkel gekleideten Typen« quer über die Malmskillnadsgata und die David Bagares gata hinunterlaufen sehen. Das Problem ist, dass sie ihn nicht hätte sehen dürfen, wenn wir bedenken, dass er zwei Minuten früher hätte vorbeikommen müssen. In Lewins eigenen Worten: »Im Hinblick auf die Position der Zeugin, als sie den Mann beobachtet hat, der Tatsache, dass sie bei der Vernehmung angibt, die ganze Zeit nach Norden gegangen zu sein, über die Brücke über die Kungsgata und dann auf die Treppe zur Tunnelgata, und ihren rein physischen Möglichkeiten, diese Beobachtung zu machen, kann es frühestens dreißig Sekunden später gewesen sein, als sie mit Zeuge l weiter unten auf der Malmskillnadsgata zusammentrifft, d.h. ca. anderthalb Minuten, nachdem der Täter die fragliche Stelle bereits wieder verlassen hat.« Dasselbe gilt Lewin zufolge für Zeugin Nilsson. Knapp eine Minute, ehe Zeugin 2 die Malmskillnadsgata hochkommt, ist Nilsson an der Treppe zur Tunnelgata vorbeigegangen und außer Sichtweite verschwunden, nach links die Döbelnsgata hinunter und befindet sich auf dem Weg zu ihrer Wohnung in der Döbelnsgata 31. Der Täter? Der Täter ist weit weg. Noch eine Minute früher will Zeugin Nilsson ihm nämlich auf der Treppe zwischen Malmskillnadsgata und Kungsgata begegnet sein. An die sechzig Meter rechts von der Treppe zwischen Tunnelgata und Malmskillnadsgata und in einer ganz anderen Richtung als alle, außer Lewin, zu glauben scheinen. Im sechsten und letzten Punkt seiner Aktennotiz begründet Lewin seine Schlussfolgerungen. Auf eine immerhin angenehm verständliche Weise, verglichen mit den Überlegungen, die er angestellt hat, um zu ihnen zu gelangen. »...es lässt sich nicht ausschließen, dass der Mann, dem die Zeugin Nilsson auf der Treppe zur Kungsgata hinunter begegnet, der 113
Täter ist. Das schließt jedoch aus, dass der Mann, den Zeugin 2 durch die David Bagares gata laufen sieht, mit dem Täter identisch ist. Dass Zeugin 2 aber durchaus einen laufenden Mann gesehen hat, wirkt überaus wahrscheinlich im Hinblick auf die Aussage von Zeugin 3, die circa fünfzig Meter weiter auf derselben Straße von einem Mann angerempelt wird, sowie die Aussage von Zeuge 4, dem Mann, mit dem Zeugin 3 zusammen war und der die von Zeugin 3 bei der Vernehmung gemachten Aussagen bestätigt. Dass der Mann, der von den Zeuginnen 2, 3 und 4 beobachtet worden ist, der Täter sein könnte, wirkt jedoch weniger wahrscheinlich, wenn wir bedenken, dass er anderthalb Minuten zu spät dort auftaucht.« Endlich, dachte Holt. »Setz dich, Anna«, sagte Jan Lewin fünf Minuten später, lächelte und nickte zu dem freien Sessel vor seinem Schreibtisch hinüber. »Eine ganze Stunde!«, sagte er und schaute auf seine Armbanduhr. »Long time no see, wie der Engländer sagt.« »Ich war schon immer langsam«, sagte Holt. »Wir Mädels sind doch ein bisschen begriffsstutzig, wie du weißt.« »Das glaube ich nie im Leben«, sagte Lewin. »Bei dir und Lisa ist es doch wohl eher so, dass ihr viel schneller begreift als die meisten von uns.« »Nun gut, zumindest habe ich mit Hilfe deiner Notizen begriffen, worauf du hinauswolltest. Was ich jedoch nicht richtig verstehe, ist, warum du Zeugin Nilsson den Zeugenketten der ehemaligen Kollegen vorziehst. Kann es nicht so einfach gewesen sein, wie Fylking glaubte? Dass Nilsson zwar auf der Treppe zur Kungsgata jemandem begegnet sein kann, dass diese Begegnung dann aber stattgefunden hat, ehe Palme erschossen wurde?« »Sicher«, sagte Lewin. »Natürlich kann es so gewesen sein. Das Problem ist nur, dass das unsere anderen Probleme nicht lösen würde.« »Sag das noch einmal. Ich glaube, ich verstehe, aber erklär es trotzdem. Ich bin ein bisschen begriffsstutzig, wie du weißt«, sagte Holt. »Das Problem mit dem Mann, den Zeugin zwei in der David Bagares gata gesehen haben will, ist, dass sie ihn viel zu spät sieht. Ich weiß jetzt nicht mehr genau, zu welchem Ergebnis ich damals ge114
kommen bin, aber ich bilde mir ein, dass es sich um anderthalb Minuten gehandelt hat. Wenn sie den Täter gesehen hat, hätte sie ihn anderthalb Minuten früher sehen müssen, und wenn wir bedenken, wo sie sich dann befindet, es ist ein ganzes Stück von der Treppe zur Tunnelgata entfernt, dann kann sie ihn nicht gesehen haben. Es ist ausgeschlossen, dass sie gesehen hat, wie der Täter über die Malmskillnadsgata gelaufen ist. Darum geht es hier. Und das ist der große Haken in der Beweiskette der Kollegen, wenn man so will.« »Dem kann ich folgen«, sagte Holt. »Ich verstehe deine Argumentation.« »In anderthalb Minuten kann in einem so begrenzten Bereich viel passieren«, fuhr Lewin mit nachdenklicher Miene fort. »Wenn du schnell gehst, schaffst du in anderthalb Minuten hundertfünfzig Meter. Wenn du läufst oder joggst, schaffst du mindestens zweihundert Meter oder sogar mehr.« »Okay«, sagte Holt. »Gehen wir das der Reihe nach durch. Wen hat Zeuge 1 unten in der Tunnelgata gesehen?« »Den Täter«, sagte Lewin. »In dem Punkt habe ich nicht den geringsten Zweifel. Habe ich auch nie gehabt.« »Und Zeugin 2?«, sagte Holt. »Wen sieht sie die Malmskillnadsgata überqueren und die David Bagares gata hinunterlaufen?« »Einen anderen als den Täter«, erklärte Lewin. »Jemanden, der in unserem Zeitschema anderthalb Minuten hinter dem Täter liegt.« »Aber warte mal«, warf Holt ein. »Wenn er nicht der Täter ist, warum verhält er sich so seltsam? Zeugin 2 zufolge versucht er doch, sein Gesicht zu verstecken, als er an ihr vorbeikommt. Du schreibst selbst, dass es derselbe ist, der weiter unten auf der David Bagares gata Zeugin 3 anrempelt.« »Keine Frage«, sagte Lewin und nickte. »Wenn wir von dem Viertel oberhalb des Tatortes reden, zwischen Malmskillnadsgata, David Bagares gata, Regeringsgata, dann gibt es, nach unseren eigenen Ermittlungen, über hundert Personen, die sich zur fraglichen Zeit auf der Straße befinden. Wie viele davon, wenn wir an Zeitpunkt und Ort denken, wollen um jeden Preis verhindern, mit Leuten wie dir und mir sprechen zu müssen? Vergessen wir nicht, dass es sich um Stockholms klassisches Prostituiertenviertel handelt und dass sich zudem jede Menge Kleinkriminelle und Drogensüchtige dort aufhält.« 115
»Ein alternativer Verbrecher«, sagte Holt und lachte. »Er hat Palme zwar nicht erschossen, aber er hat begriffen, dass in der Tunnelgata hinten beim Sveaväg etwas passiert ist, worin er nicht hineingezogen werden möchte.« »So ungefähr.« Lewin nickte. »Du erinnerst dich vielleicht, dass Zeugin 2 bei der Vernehmung gesagt hat, dass er nicht nur versuchte, sein Gesicht zu verdecken...« »Stimmt«, fiel Holt ihm ins Wort. »Sie hat gesehen, dass er etwas in eine Herrentasche steckte und versuchte, diese dann in seine Manteltasche zu stopfen.« »Genau«, sagte Lewin. »Das hat viele Kollegen tief beeindruckt. Sie dachten nämlich, es könne sich um ein kleines Waffenetui handeln, dass er also versucht hatte, seine Waffe zu verstecken.« »Klingt doch ziemlich plausibel«, sagte Holt. »Ich glaube das aber nicht«, sagte Lewin und deutete ein Lächeln an. »Warum nicht?« »Drei Gründe«, sagte Lewin. »Erstens ist die Rede von einem Revolver. Einem großen Revolver. An die fünfunddreißig Zentimeter lang vom Abzugsbügel bis zur Mündung des Laufes. Einem, der kaum in eine Manteltasche passt. Wenn du ihn zudem in ein rechteckiges Futteral stopfst, dann brauchst du sehr große Taschen, um mich vorsichtig auszudrücken. Zweitens«, fügte er hinzu, »ist es... und vermutlich aus diesem Grund... sehr ungewöhnlich, gerade Revolver in Taschen oder taschenähnlichen Behältern aufzubewahren. Mit Pistolen sieht das schon anders aus. Dafür gibt es kleine Taschen. Unter anderem gab es welche für unsere damaligen Dienstwaffen, unsere Walther-Pistolen.« »Das weiß ich noch«, sagte Holt und lächelte. »Ich bin damals nämlich selbst mit so einer Tasche rumgelaufen.« Sogar zu dem einen oder anderen königlichen Essen, dachte sie. »Ich ahne, warum«, sagte Lewin, und nun lächelte auch er. »Dann weißt du sicher auch, dass deine Waffe nur halb so viel Platz einnahm wie dieser Revolver mit dem fünfzehn Zentimeter langen Lauf, mit dem Palme aller Wahrscheinlichkeit nach erschossen worden ist.« Ich verstehe, wie du denkst, dachte Holt. »Und der dritte? Der dritte Grund?« 116
»Die Frage, wann er das tut«, sagte Lewin. »Wenn sie den Täter gesehen hat, dann ist er weniger als hundert Meter vom Tatort entfernt, und das ist wohl kaum ein geeigneter Augenblick, um die Waffe in eine Tasche zu stopfen. Eine Tasche, die dafür sorgt, dass er die Waffe nicht benutzen kann, falls er sie braucht, und was er in der Tasche hat, wird doppelt so auffällig und noch leichter zu finden, falls er angehalten und durchsucht wird. Aber ich glaube, dass es eine Tasche gab«, sagte Lewin und lächelte. »Das ist nämlich die Sorte Beobachtung, die Zeugen nur sehr selten erfinden.« »Was wollte er denn mit der Tasche?« »Mir kommt das so vor wie eine kleine Handtasche, in der Drogensüchtige ihr Besteck aufbewahren. Ihre Spritzen, damit sie sich nicht stechen, was leicht passiert, wenn man die einfach so in die Tasche steckt, einen verbogenen Löffel, in dem sie ihre Dosis mischen und anwärmen, einen Kerzenstummel, eine Plastikflasche Wasser, um den Schuss zu strecken, eine Schachtel Streichhölzer oder ein Feuerzeug, vielleicht auch ein Tütchen mit übriggebliebenem Stoff. Ja, du weißt, was ich meine.« »Ich verstehe genau, was du meinst«, sagte Holt zustimmend. Einer, der sich einfach weggeschlichen hatte, um sich am miesesten Ort in der ganzen Stadt einen Schuss zu setzen. »Du glaubst nicht, dass es ein Mittäter gewesen sein kann?«, fragte sie dann. »Der Mann, den Zeugin 2 gesehen hat, als er über die Malmskillnadsgata gelaufen ist? Jemand, der im Hintergrund gewartet hat, um den Rückzug des Schützen zu decken vielleicht?« Lewin wand sich auf seinem Stuhl. »Der Gedanke ist mir auch gekommen«, sagte er. »Aber ich glaube es trotzdem nicht.« »Warum nicht?« »Wenn er weiter hinten in der Tunnelgata stand, im Hintergrund sozusagen, dann müsste Zeuge 1 ihn gesehen haben, als der die Tunnelgata hochkam. Das ist vielleicht nur so ein Gefühl, das mir sagt, dass er mit dem Fall nichts zu tun hat. Jemand, der einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war. Das glaube ich.« »Lass uns noch einmal zu den Zeiten zurückgehen«, sagte Holt. »Gerne«, sagte Lewin. »Eine andere Möglichkeit ist natürlich, dass unser erster Zeuge, Zeuge 1 in der Zeugenkette, viel schneller ist, als du glaubst«, wandte Holt ein. »Er wartet vielleicht nur zwanzig Sekunden, keine Minute, nachdem er gesehen hat, wie der Täter oben in der Malmskill117
nadsgata verschwunden ist. Er braucht vielleicht keine ganze Minute, um die Treppe hochzulaufen. Er läuft vielleicht genauso schnell wie der Täter. Er steht vielleicht nur eine Minute nach dem Täter oben in der Malmskillnadsgata. Er ist doppelt so schnell, wie du glaubst, Jan.« »Dann zeigt er bei den Vernehmungen, die mit ihm durchgeführt worden sind, ein hohes Maß an falscher Bescheidenheit«, entgegnete Lewin mit der Andeutung eines Lächelns. »Aber selbst wenn er doppelt so schnell war, dann löst das unser Problem auch nicht. Er ist noch immer eine halbe Minute zu spät oben in der Malmskillnadsgata.« »Damit die Sache zeitlich aufgeht«, fügte er hinzu, »muss er also dem Täter in hohem Tempo hinterherrennen, sowie er ihn oben in der Malmskillnadsgata verschwinden sieht. Er darf keine Sekunde warten, um sicher zu sein. In hohem Tempo durch die Tunnelgata und die Treppe hoch. Das schafft er in dreißig Sekunden. Dann stimmt seine Aussage immerhin einigermaßen mit den Beobachtungen von Zeugin 2 überein.« »Aber nicht mit seiner eigenen Aussage, die habe ich nämlich gelesen«, sagte Holt und schüttelte den Kopf. »Ganz abgesehen davon, dass das seinerseits der reinste Selbstmordversuch gewesen wäre.« »Nein, er versucht wirklich nicht, den Helden zu spielen, so, wie er das dargestellt hat. Macht auf mich einen glaubwürdigen und sympathischen Eindruck«, sagte Lewin und nickte zustimmend. »Alles, was wir bisher geschafft haben, ist also, die Zeugenkette für unbrauchbar zu erklären«, stellte Holt fest. »Ohne uns dafür auch auf die Zeugin Madeleine Nilsson stützen zu müssen. Sie kann nach wie vor kurz vor dem Mord vorbeigegangen sein, und der Mann, der ihr begegnet ist, braucht auch nichts mit der Sache zu tun zu haben.« »Richtig«, sagte Lewin. »Die Rekonstruktion des Fluchtwegs, den der Täter genommen hat, hat mich dagegen von Anfang an nicht überzeugt. Die Zeiten stimmten einfach nicht, wenn du verstehst.« »Hast du mit den Kollegen darüber gesprochen?«, fragte Holt. »Nein. Ich war mit anderen Sachen vollauf beschäftigt. Bußgeldbescheide für Parksünder und alte Selbstmorde, du weißt vielleicht noch, dass ich davon erzählt habe«, sagte Lewin und räusperte sich vorsichtig. 118
»Du hast bereits vier Wochen nach dem Mord eine Aktennotiz dazu geschrieben. Du musst dir doch vorher schon so allerlei gedacht haben.« »Ungefähr vierzehn Tage vorher«, bestätigte Lewin. »Madeleine Nilsson hat sich ungefähr eine Woche nach der zweiten Vernehmung bei mir gemeldet. Wir haben uns getroffen und geredet. Danach habe ich mich hingesetzt und versucht, die Rekonstruktion des Fluchtweges noch einmal zu hinterfragen, die von den Kollegen erstellt worden war und die damals schon als etablierte Wahrheit galt.« »Du hast also Nilsson vernommen?«, fragte Holt. »Was heißt schon vernommen«, sagte Lewin und zuckte mit den Schultern. »Sie wollte sich mit mir treffen, wir haben uns getroffen, haben eine Tasse Kaffee getrunken und darüber geredet, was passiert war.« »Aber warum wollte sie sich mit dir treffen?«, hakte Holt nach. Das hier wird ja kurioser und kurioser, dachte sie. Ausgerechnet Lewin trifft sich zum Kaffee mit einer amtlich registrierten Prostituierten und Drogensüchtigen. »Ich kannte sie«, sagte Lewin. »Sie war ein guter Mensch, der ein sehr trauriges Leben führte.« »Du kanntest sie? Woher das denn?« »Ich habe sie zwei Jahre vor dem Mord an Palme kennengelernt. Und zwar bei einer Ermittlung, die ich damals führte. Eine Bekannte von Madeleine, in derselben Situation wie Madeleine, hatte einen so genannten Freund, der sie brutal zusammengeschlagen und ihr zum Abschluss die Kehle durchzuschneiden versucht hatte. Sie hatte glücklicherweise überlebt, aber sie hatte eine Todesangst und weigerte sich, mit uns zu reden. Bei Madeleine war das anders. Sie hat nicht nur gegen den Freund ihrer Bekannten ausgesagt, sie hat die Bekannte auch zur Vernunft bringen können, deshalb konnten wir die Sache ausnahmsweise einmal zum Ende führen. Er bekam sechs Jahre Gefängnis für versuchten Totschlag, schwere Kuppelei und noch ein paar Dinge und wurde nach Absitzen seiner Strafe ausgewiesen.« »Du glaubst also, dass Nilsson tatsächlich dem Täter auf der Treppe zur Kungsgatan begegnet ist?« »Ja, genau genommen, ja«, sagte Lewin. »Aller Wahrscheinlichkeit nach ja. Ich sehe kein zeitliches Problem, und sie war ein119
wandfrei kein Mensch, der log oder einfach versuchte, sich interessant zu machen. Sie war ein guter Mensch, ehrlich, begabt, sympathisch, immer für andere da. Im Hinblick auf das Leben, das sie führte, glaube ich auch, dass sie in diesen Dingen sehr aufmerksam war.« Ein guter Mensch, der ein trauriges Leben führte, dachte Holt. »Du hast nicht mit deinen Kollegen darüber gesprochen? Nachdem du dich mit ihr getroffen hattest, meine ich«, sagte sie. »Ich habe es bei Fylking zur Sprache gebracht«, sagte Lewin. »Einerseits, weil das in sein Ressort fiel, andererseits, weil er mein direkter Vorgesetzter war. Bei der Palmeermittlung und auch sonst.« »Und was hat er gesagt?« »Er sah das anders als ich«, sagte Lewin und lächelte erneut. »Er wies zudem sehr betont daraufhin, und das war für ihn sehr ungewöhnlich, dass es vollkommen uninteressant sei, wer nun recht hatte, da die hohen Herren von der Ermittlungsleitung, das war sein eigener Ausdruck, sich schon entschieden hätten.« »Lebt sie noch?«, fragte Holt. »Hätte es einen Sinn, sie noch einmal zu befragen?« »Das hätte es bestimmt«, sagte Lewin. »Wie gesagt, sie war ein ganz großartiger Mensch. Sie ist nur kurz nach dem Palmemord an einer Überdosis gestorben. Im September des folgenden Jahres, wenn ich mich nicht irre.« »Ach so«, sagte Holt und seufzte leise. »Da reißt unsere Zeugenkette schon zwischen dem ersten und dem zweiten Glied. Stattdessen bekommen wir die Zeugin Madeleine Nilsson, die aber leider schon seit zwanzig Jahren tot ist.« »Ja«, stimmte Lewin zu. »Aber wenn wir Christer Pettersson als Favoriten haben, dann fürchte ich, dass unsere Zeugenkette schon viel früher den Geist aufgegeben hat.« »Mit Zeuge 1?«, sagte Holt mit fragendem Blick. »Der so vernünftig wirkt? Was war denn an dem auszusetzen?« »An dem war nicht besonders viel auszusetzen«, sagte Lewin. »Nur haben unsere lieben Kollegen möglicherweise vergessen, ihm die obligatorische einleitende Frage zu stellen.« »Die obligatorische Frage?«, wiederholte Holt erstaunt. »Du meinst, ob er den Täter gekannt oder erkannt hat?« 120
»Genau. Aber das ist ganz offensichtlich nicht passiert. Stattdessen sind sie sofort zur Beschreibung des Täters übergegangen. Sie haben nie gefragt, ob er den Täter kannte oder erkannt hatte.« »Du meinst also, dass Zeuge 1 Christer Pettersson gekannt hat?« Worauf will der denn nur hinaus?, dachte Holt. »Zeuge l hat Christer Pettersson nicht persönlich gekannt«, erklärte Lewin. »Aber er hatte von ihm gehört und wusste, wer er war. Nicht zuletzt wusste er, wie er aussah, da sie beide draußen in Sollentuna in derselben Gegend gewohnt haben. Er hatte Pettersson in den Jahren davor mehrmals gesehen, manchmal mehrmals pro Woche. Pettersson war so einer, um den alle normalen Menschen aus der Gegend einen Bogen machten.« »Wann hat er das denn erzählt?« Das wird ja kurioser und kurioser, dachte Holt. »Gegen Ende Sommer 1988. Fast zwei Jahre nach dem Mord. Als die Kollegen von der Ermittlung angefangen hatten, sich für Christer Pettersson zu interessieren. Da wird Zeuge 1 noch einmal vernommen. Dabei werden ihm unter anderem Bilder von Christer Pettersson gezeigt.« »Was hat er dazu gesagt?« »Er sagte, dass er Pettersson kennt. Vom Sehen her jedenfalls.« »Und?« »Nein«, sagte Lewin und schüttelte den Kopf. »Bei ihm klingelte rein gar nichts. Er hat den Täter, als der zehn Sekunden nach dem Mord in der Tunnelgata an ihm vorüberlief, nicht als Christer Pettersson erkannt. Die berühmte Münze ist auch nicht gefallen, als er Pettersson in den folgenden zwei Jahren wiederholt bei sich in der Gegend gesehen hat. Und das hätte doch passieren müssen, befand er selbst. Wenn es Pettersson gewesen sein sollte, der Palme erschossen hatte.« »Wie erklärt er das denn?«, fragte Holt. »Dass der Täter und Pettersson keine besondere Ähnlichkeit miteinander hatten«, sagte Lewin. »Ansonsten wäre ihm das bestimmt eingefallen, und er hätte sich dann natürlich bei der Polizei gemeldet. Zeuge 1 ist ein ganz normaler rechtschaffener Mann. Bei ihm gibt es nicht den geringsten dunklen Fleck, wenn du mich fragst.« »Wie viele wissen davon?« »Einige von denen, die wichtig sind«, sagte Lewin und zuckte mit den Schultern. »Und jetzt auch du«, sagte er und lächelte kurz. 121
»Aus den üblichen Gründen ist das nichts, worüber viel geredet wird. Unter Kollegen.« »Unter Kollegen«, wiederholte Holt, und aus irgendeinem Grund sah sie dabei Johansson vor sich. »Unter Kollegen«, bestätigte Lewin, und sicherheitshalber räusperte er sich vorsichtig, ehe er das sagte. 19
Kaum hatte Lisa Mattei Johanssons Büro verlassen, rief sie ihre Mutter an, Linda Mattei. Die arbeitete als Kommissarin in der Verfassungsschutzabteilung der Säpo. Sie saß im Nachbarhaus der Arbeitsstelle ihrer Tochter - im »geheimen Haus« -, dem großen Polizeihauptgebäude in Kronoberg und war genau doppelt so alt wie diese. Abgesehen davon, dass sie beide blond waren, sahen sie sich nicht sonderlich ähnlich. Linda Mattei war eine große und üppige Blondine. Als junge Polizistin wurde sie von ihren Kollegen als »Granate« bezeichnet. Inzwischen, seit fast zwanzig Jahren, immerhin noch als eine »überaus ansehnliche und elegante Frau«. Ihre Tochter Lisa war eine kleine dünne, zierliche Blondine. Laut Johansson die netteste und gewissenhafteste »Spara«, die Sparerin aus seinem sorgsam archivierten Exemplar der Kinderzeitschrift Lyckoslanten. Das Aussehen hatte Lisa Mattei von ihrem Papa geerbt. Außer der Haarfarbe natürlich. Papa Claus Peter Mattei war Ende der sechziger Jahre als junger Chemiestudent nach Stockholm an die technische Hochschule gekommen. Klein, mager und radikal, dunkel und mit eindringlichen braunen Augen und fast ein politischer Flüchtling aus dem München, das er verlassen hatte, weil es für einen jungen Menschen, der so dachte und fühlte wie er, nicht mehr möglich war, dort zu leben. In der seltsamen Welt, in der wir alle leben, hatten er und Linda sich rettungslos ineinander verliebt, hatten sich auf die klassische Weise gerettet, hatten eine Tochter bekommen und sie Lisa genannt und sich einige Jahre darauf scheiden lassen, als die Unterschiede zwischen ihnen zu groß geworden waren, um von einer immer kleiner werdenden Liebe verdeckt zu werden. Aber Lisa gab es noch. Abgesehen von der Haarfarbe war sie ihrem Vater ungeheuer ähnlich, den sie nur selten sah, seit er sie verlassen hatte. Dem Vater, der schon lange ein anderer war als der, 122
der Lisa und Schweden verlassen hatte. Noch immer klein, dunkel und mager. Sein Blick jetzt melancholisch und weise auf die Art, die jeder echte deutsche Investor von einem Doktor der Chemie und Forschungsleiter einer der größeren Tochtergesellschaften des Bayerkonzerns verlangen kann. Zurückgekehrt in das München seiner Kindheit, Humanist, konservativer Liberaler, natürlich auch Opernliebhaber, Weinkenner und Philanthrop. Mama Linda und Tochter Lisa hatten zusammen zu Mittag gegessen. In einem Restaurant in Fußnähe vom großen Polizeigebäude, Lisas Vorschlag. Etwas zu teuer, um ihre Kollegen anzulocken, und damit diskret genug für jemand, der ungestört reden will. Steak mit Zwiebeln für Linda, Meeresfrüchtesalat für Lisa, Mineralwasser für beide. Es folgte die einleitende Mutter-TochterKonversation, aber kaum hatten sie mit dem Essen angefangen, da machte Lisa denselben Vorschlag wie bei Johansson, und da Linda ihre Mutter war, sagte sie sogar, warum. »Johansson«, sagte Linda Mattei stirnrunzelnd. »Mit dem solltest du ein bisschen vorsichtig sein. Habt ihr das gemeinsam ausgeheckt?« »Meine Idee, aber er hat sie sofort übernommen«, sagte Lisa Mattei. »Der beste Chef, den ich je hatte. Der beste Polizist, der mir je begegnet ist. Du weißt doch, dass er um die Ecken sehen kann?« Na ja, fast immer, dachte sie. »Doch, das habe ich gehört. Leider«, sagte Linda Mattei, die nicht sonderlich begeistert wirkte. »Du hast dich doch hoffentlich nicht in ihn verguckt?« »Aber Mama«, rief Lisa und schüttelte entrüstet den Kopf. »Der ist doch doppelt so alt wie ich, fast jedenfalls. Und außerdem ist er schon verheiratet.« »Das sind sie doch immer«, erklärte Linda Mattei. »Aber das hält sie nur selten davon ab.« Auch wenn Lisa sicher nicht Johanssons Typ ist, dachte Linda Mattei. Obwohl ich ihre Mama bin. »So ist das wirklich nicht«, beteuerte Lisa Mattei. »Aber was sagst du zu dieser Idee?« Ob die wohl mal was miteinander hatten? Meine kleine Mama und Johansson.
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»Ich verspreche, Söderberg anzurufen«, sagte Linda Mattei, und mehr wurde im Folgenden über diese Angelegenheit nicht mehr gesagt. Nach ihrer zweiten Besprechung mit Lewin ließ sich Holt auf einen Nahkampf mit den Zeugen vom Tatort ein. Mit der Lupe las sie jede Vernehmung der dreißig Zeugen, die den Mord oder Teile davon mit angesehen hatten. Dazu die Aussagen der sechs Zeugen, die den Täter bei der Flucht vom Tatort gesehen haben wollten. Sowie das gute Dutzend derjenigen, die sich mehrere Jahre später daran erinnerten, dass sie auf jeden Fall Christer Pettersson unmittelbar vor und unmittelbar nach dem Mord gesehen hatten. Zum Schluss die hunderte von Zeugen, deren Aussagen die Polizei nicht in Betracht gezogen hatte. Wie zum Beispiel Madeleine Nilsson, die aus irgendeinem Grund in derselben Computerliste gelandet war wie die beiden Teenager, die schon bei der zweiten Vernehmung, eine Woche nach dem Mord, zugaben, alles nur erfunden zu haben. Sie waren zwar in der Kungsgata im Kino gewesen, aber nach Ende der Vorstellung waren sie in einen Club unten auf dem Stureplan weitergezogen. Und nicht am Sveaväg vorbeigekommen, als gerade Olof Palme erschossen wurde. Miese Gören, dachte Holt mit plötzlich aufflammender Wut, denn die Durchsicht dieser Unterlagen allein hatte sie fast einen ganzen Tag gekostet. Antworten hatte sie nicht erhalten, nur neue Fragezeichen. Und das große Fragezeichen, das Lewin ihr in die Hände gelegt hatte, war so groß wie zuvor. Mit Lewins Berechnungen konnte sie eigentlich leben. Dem Täter war vielleicht etwas ganz und gar Unerwartetes widerfahren, als er unbeobachtet oben in der Malmskillnadsgata stand. Vielleicht blieb er einfach für eine Minute oder so dort stehen, bis er sich endlich zusammenriss und die David Bagares gata hinunterrannte, wo ihn die Zeugin 2 ein Stück weiter die Straße hinunter auf sich zukommen sah. Und wenn es sich so verhielt, dann kam plötzlich Ordnung und Logik in die Zeitpunkte, und es gab keine gerissenen Glieder mehr in der Zeugenkette. Aber in Hinblick auf Zeuge 1 und dessen Kenntnisse über Christer Pettersson, oder Zeugin 3 und ihren »Scheißkanaken«, der sie ja schließlich übel angerempelt hatte, 124
konnte es wohl kaum Pettersson gewesen sein, der dort stand und sich sammelte, ehe er weiterrannte und mit dem nächsten Glied der Zeugenkette zusammenstieß. Dachte Anna Holt und seufzte tief. Mit Johanssons intuitiven Aussagen - durch und durch überzeugt und unbegreiflich treffsicher - konnte sie ebenfalls leben. Johansson hatte zwar fast immer recht, aber hier und da irrte er sich, und einige vereinzelte Male konnte er geradezu sagenhaft danebenliegen. Die seltenen Male, bei denen ihn Holt daran erinnerte, hatte er nur gegrinst und mit den Schultern gezuckt. Um etwas Kluges von sich geben zu können, war es auch notwendig, dass man ab und zu eine absolute Dummheit absonderte, und wenn man richtig damit umging, war es eine unschlagbare Methode, um etwas Neues zu lernen, so sah Johansson das. Das Problem war die unwahrscheinliche Allianz zwischen Lewins monomanen Berechnungen, seiner ganz bestimmt von Angst getriebenen Genauigkeit und Johanssons ungehemmter Intuition. Ein von Angst getriebener Buchhalter, der sich mit einer männlichen Kartenlegerin zusammengetan hatte, und der Teufel soll sie beide holen, dachte Holt. Der Teufel hole Lewin, der fast immer recht hat, aber vor zwanzig Jahren, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte, nicht Manns genug gewesen war, dafür einzustehen. Der Teufel hole Johansson, der fast immer recht hatte, trotz seines riesigen Egos, seiner Ichbezogenheit und seines sonstigen Gehabes. Aber wenn beide dasselbe glauben, dann scheint es wohl leider so schlimm zu sein, dass es der Wahrheit entspricht, dachte Holt. Und was machst du jetzt damit?, fragte sie sich. Mit den Schultern zucken, so tun, als ob es regnet, und mit dem Leben weitermachen? Linda Mattei rief ihre Tochter Lisa weniger als eine Stunde nach Beendigung des gemeinsamen Mittagessens an. »Heute Abend, neunzehn Uhr«, sagte sie. »Björn will übers Wochenende angeln fahren. Und einen ehemaligen Kollegen unten in Strömstad besuchen und die ganze nächste Woche dort verbringen. Aber da Johansson dahintersteckt, eilt es vermutlich, und er hat nichts dagegen, schon heute Abend zu kommen.« Schnelle Truppe, dachte Lisa. »Der ist doch in dich verknallt, Mama«, sagte sie neckend. »Kaum rufst du an, schon kommt er angestürzt.« 125
»Klar«, sagte Linda Mattei. Wer ist das nicht, dachte sie. Das Problem war, dass alle so viel älter waren als sie. »Was gibt es denn zu essen?«, fragte Lisa. »Jedenfalls keinen Salat«, antwortete ihre Mama. »Sorg bitte dafür, dass du pünktlich bist.« Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Linda Matteis beiden Gäste sich an ihrem schön gedeckten Küchentisch niederließen, beschloss Anna Holt, in den sauren Apfel zu beißen und einen über zwanzig Jahre alten Tatort aufzusuchen. Das Beste aus der Situation machen, aber was hättest du auch sonst für Alternativen?, sagte sich Anna Holt, als sie im Taxi auf dem Weg in die Stadt saß. Ein ganz normaler Abend, nichts im Fernsehen, kein Film, den sie sehen wollte, keine Freunde oder auch nur Bekannte, die sich gemeldet hatten, um sich mit ihr zu treffen. Absolut keine Kerle, obwohl mehr als einer zur Auswahl stand und keiner einen Grund zur Klage haben dürfte. Nicht einmal ihr einziges Kind, ihr Sohn Nicke. Nur der Anrufbeantworter seines Mobiltelefons, wo er mit jugendlicher Selbstverständlichkeit erklärte, er habe gerade keine Zeit, man könne es gern später wieder versuchen. Er braucht nicht einmal mehr Geld, dachte Holt und seufzte. Holt verbrachte etwas mehr als zwei Stunden in der Umgebung des Tatortes. Sie folgte den Spuren des Täters und probierte sogar die von den Zeugen beschriebenen unterschiedlichen Gangarten aus. Blätterte in ihrer Sammlung von alten Tatortfotos, maß Entfernungen ab, benutzte ihre Stoppuhr, ging, joggte und rannte um ihr Leben. Tat alles, was die Zeugen oder der Täter getan haben sollten. Endlich wägte sie die verschiedenen Alternativen ab und dampfte sie auf zwei Schlussfolgerungen ein. Lewin hatte vermutlich recht. Wenn Zeugin 2 den Täter gesehen hatte, dann hatte sie ihn viel zu spät gesehen. Die einzige Möglichkeit war - der Grund dafür jedoch unklar und äußerst unwahrscheinlich -, dass er oben an der Treppe zur Tunnelgata in der Malmskillnadsgata stehen geblieben war und dort ungefähr anderthalb Minuten gewartet hatte. Aber warum um alles in der Welt hätte er etwas so Bescheuertes tun sollen?, dachte Holt.
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Johansson hatte einwandfrei recht. Gegen seine hypothetische Argumentation gab es keine Einwände. Nur, dass sie hypothetisch war, natürlich. Der Fluchtweg, den er vorgeschlagen hatte, war einwandfrei der beste, wenn man sich ungesehen entfernen wollte. Die Treppen von der Tunnelgata zur Malmskillnadsgata hoch, dann nach rechts, sechzig Meter in schnellen Schritten, dann die nächste Treppe auf derselben Straße hinunter. Die Treppe, die von der Malmskillnadsgata zur Kungsgata führte. Es war Freitag und Zahltag, und unten waren sehr viele Menschen unterwegs, die nichts davon wussten, was nur zweihundert Meter weiter geschehen war. Alle Restaurants, Cafes, Kinos, alle UBahneingänge, sicherer konnte es für einen Täter, der soeben auf offener Straße einen Ministerpräsidenten erschossen hatte, doch gar nicht sein. Times Square, Piccadilly oder die Kungsgata in Stockholm, wenn man sich in der Menge verstecken will, kommt das aufs selbe raus, dachte Anna Holt. Eine eiskalte Seele mit hervorragenden Ortskenntnissen, ohne Erbarmen und ohne Schmetterlinge im Bauch. Ob Johansson wohl die Vernehmung der Zeugin Nilsson gelesen hat?, fragte sie sich. Björn Söderström, ehemals Kommissar bei der Abteilung für Personenschutz der Sicherheitspolizei hatte sich schon sehr lange nicht mehr so wohl gefühlt, und wenn wir bedenken, dass es eigentlich ein ganz normaler Tag gewesen wäre, so war das schlichtweg unbegreiflich. Erst eine unerwartete Einladung zum Essen bei einer noch immer überaus anziehenden Frau, die er seit fast dreißig Jahren kannte und die in ihrer Anfangszeit bei der Polizei »eine echte Granate« gewesen war. Dann der achtzehn Jahre alte Single Malt Whisky, den sie angeboten hatte, kaum, dass er zur Tür hereingekommen war, und bis dahin hätte alles perfekt sein müssen. Wenn da nicht ihre Tochter gewesen wäre, natürlich. An sich wirkte sie ja gescheit und wohlerzogen, aber es war doch eine Überraschung, da ihre Mutter kein Wort über sie verloren hatte, als sie einige Stunden zuvor angerufen hatte, um ihn einzuladen. »Prost und willkommen, Björn«, sagte Linda Mattei und hob ihr Glas. Was tut man nicht alles für sein einziges Kind?, dachte sie. »Ich muss mich bedanken«, erwiderte Söderström. »Ein alter Junggeselle wie ich erhält nicht jeden Tag solche Einladungen.« Die 127
Tochter ist bestimmt nur als Anstandsdame hier, dachte er hoffnungsvoll. »Nett, dich zu sehen«, stimmte Lisa Mattei ein. »Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, aber wir sind ebenfalls ehemalige Kollegen.« »Natürlich erinnere ich mich«, sagte Söderström herzlich. »Du warst doch eine von den jungen Leuten, die Johansson mitgebracht hatte, als er unser operativer Chef wurde. Du und Holt und noch ein paar andere, wenn ich mich nicht irre. Jetzt hat er euch wieder auf Palme angesetzt, wenn ich das richtig verstanden habe. Ich habe neulich so was in der Zeitung gesehen.« »Er hat uns gebeten, uns die Registrierung des Materials anzusehen«, erläuterte Lisa Mattei. »Höchste Zeit, dass etwas passiert«, meinte Söderström. »Und das kann ich dir sagen, Lisa. Du bist an den Richtigen geraten, denn was ich nicht über Olof Palme weiß, braucht man auch nicht zu wissen.« Was sagt frau, wenn sie schon kurz vor dem Ziel ist?, dachte Lisa Mattei. Nichts, dachte sie. Frau lächelt züchtig und nickt. Es ist schon zehn, dachte Anna Holt und schaute auf ihre Armbanduhr. Höchste Zeit, zu meinem Schönheitsschlaf nach Hause zu fahren, beschloss sie. Dann stieg sie die Treppe von der Malmskillnadsgata zur Tunnelgata hinunter und bog in den Sveaväg. Die ganze Zeit kamen Taxis, und bei dem geringen Verkehr müsste sie sich in zwanzig Minuten in ihrer Wohnung in Jungfrudansen in Solna die Zähne putzen können, dachte sie. Es ging aber noch schneller. Kaum hatte Holt den Fuß auf den Bürgersteig des Sveavägs gesetzt - zwei Meter von der Stelle entfernt, wo ein schwedischer Staatsminister, von einem Schuss im Rücken getroffen, hilflos auf die Straße gestürzt war -, als ein Streifenwagen der Polizei von Västerort neben ihr bremste. Der ältere Kollege, der neben dem Fahrer saß, hatte bereits das Fenster heruntergekurbelt und nickte zum Rücksitz hinüber. »Wenn du nach Hause willst, kannst du mit uns fahren«, sagte er. »Nett von euch«, sagte Holt. Öffnete die Tür zum Rücksitz und setzte sich hinter den Fahrer. Die Welt ist klein, dachte sie. Sie hatte ihn sofort erkannt. »Wir fahren zurück zum Polizeipräsidium«, erklärte er. 128
»Kommen von einem Einsatz unten beim Grand Hotel, und du wohnst doch oben in Jungfrudansen, wenn ich mich nicht irre.« Sie hatten sich erst fünfzig Meter vom bekanntesten schwedischen Tatort aller Zeiten entfernt, als er schon anfing zu erzählen. »Ich war damals dabei«, sagte er. »Arbeitete bei der Streife auf Södermalm, und wir waren als zweiter Wagen vor Ort. Die Besserwisser behaupten, dass wir drei Minuten, nachdem er erschossen worden war, aus dem Bus gesprungen sind. Das Opfer, also Palme, lag noch dort, und zuerst habe ich gar nicht begriffen, wer es war, aber dass etwas Schlimmes passiert war, das habe ich sofort gesehen. Die Leute schrien und gestikulierten, und ich und drei Kollegen rannten durch die Tunnelgata und die Treppe hoch, und da standen noch zwei und fuchtelten mit den Armen und zeigten die David Bagares gata hinunter. Ich bin so schnell gerannt, dass ich Blutgeschmack im Mund hatte, und das kannst du mir glauben, Holt, damals sah ich nicht so aus wie heute.« Dann strömten die Kollegen herbei. Die Streife von Norrmalm, mehrere Funkwagen, mindestens zwei Patrouillen von der Verkehrspolizei und eine von der Sitte. »Zehn Minuten später haben wir bestimmt mit mindestens zwanzig Kollegen die Gegend um die Malmskillnadsgata durchsucht. Haben versucht, ein wenig Ordnung ins allgemeine Chaos zu bringen. Was wir dort auch immer zu suchen hatten. Denn der, der Palme erschossen hatte, war doch inzwischen über alle Berge.« »Ich dachte, Christer Pettersson wohnte im Norden der Stadt«, sagte Holt und lächelte. »Pettersson«, wiederholte der Kollege und schüttelte den Kopf. »Das wäre schön gewesen. Nein, das war ein Kerl von einem ganz anderen Kaliber, wenn du mich fragst.« »Was du nicht sagst«, sagte Holt. Offenbar hat Johansson seinen eigenen kleinen Fanclub, dachte sie. Der ehemalige Kommissar Björn Söderström hatte sich schon sehr lange nicht mehr so wohl gefühlt. Zuerst diese unerwartete Einladung von einer überaus anziehenden ehemaligen Kollegin, die außerdem den guten Geschmack besessen hatte, ihre junge Tochter einzuladen. Auch diese eine ehemalige Kollegin, aber vor allem eine überaus bezaubernde junge Frau. Dann der Single-Malt bei seinem 129
Eintreffen, danach das gute Essen. Essen, mit dem ein alter Junggeselle wie er ansonsten nicht verwöhnt wurde. Zuerst hatte er Matjesheringe mit gehackten Eiern, feingeschnittenem Dill, zerlassener Butter und Kartoffeln bekommen. Ein kaltes Bier und einen noch kälteren Schnaps. Die beschlagene Karaffe auf dem Tisch verhieß dazu noch mehr, falls er das wünschte. »Ja, ich muss schon sagen«, sagte Söderström und hob sein Glas. »So etwas passiert einem alten Junggesellen wie mir nicht jeden Tag. Das kann ich den Damen sagen.« »Es war wirklich nett, dass du dir die Zeit genommen hast, Björn«, sagte Lisa Mattei mit wohlerzogenem Lächeln. Der Weg zum Gehirn des Mannes geht durch seinen Magen, dachte sie. Genau wie bei allen anderen Tieren. »Prost, Björn«, sagte ihre Mutter und hob ihr Glas zum obersten Knopf ihres Ausschnitts, der sie schon vor vierzig Jahren bei der Truppe berühmt gemacht hatte. Was tut man nicht alles für seine Tochter?, dachte sie. Eine Viertelstunde später hatten ihre Kollegen sie vor ihrem Haus abgesetzt. Ihr älterer Kollege brachte sie zur Tür. »Die Truppe hat wohl nie wieder so viel Prügel bezogen wie nach dem Mord an Palme. Das Waterloo der schwedischen Polizei«, fasste er zusammen, als er die Haustür für sie aufhielt. »Uns wäre ja so viel Elend erspart geblieben, wenn die sonst auch zuständigen Kollegen von der Mordkommission die Sache hätten übernehmen dürfen. Das kann ich dir wirklich sagen. Ich weiß nicht, wie viele Jahre diese Idioten im Fernsehen über ihre Polizeispur gefaselt und behauptet haben, ich und die Kollegen von der Streife steckten hinter dem Mord am Ministerpräsidenten.« »Ja, das habe ich gesehen«, sagte Holt und schüttelte den Kopf. »Danke fürs Bringen«, sagte sie, streckte die Hand aus und lächelte freundlich. Daran erinnere ich mich noch sehr genau, dachte sie, als sie eine Minute später in ihrer Diele stand. Wenn sie sich nicht verrechnet hatte, gab es mindestens zwanzig Ermittlungsberichte im Material der Palmeermittlung, die sich auf ihn und seine direkten Kollegen bei der Streife der Stockholmer Polizei bezogen.
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Das ist wohl der beste Tag in meinem Leben. Zumindest seit ich mich erinnern kann, dachte der ehemalige Kommissar Björn Söderström und bohrte die Zähne in eins seiner absoluten Lieblingsgerichte, ein gut gegrilltes Entrecote mit Knoblauchbutter, Gemüsegratin und dazu einem guten Rioja. Multebeeren, Schlagsahne und Vanilleeis als Nachtisch. Den Portwein lehnte er dankend ab, zu süß für seinen Geschmack, aber das machte nichts, denn seit einer halben Stunde saß er mit Kaffee und einem hervorragenden Cognac in einem bequemen Sessel im Wohnzimmer seiner Kollegin Matteis. Der beste Tag überhaupt seit wirklich sehr vielen Jahren, entschied er. Und das Einzige, was ein wenig seltsam war, war, dass er seit einer Viertelstunde vollständig vertieft war in die Schilderung des zweifellos schlimmsten Freitags in seinem ganzen Leben, dem 28. Februar 1986. Wie immer wir auf dieses Thema gekommen sein mögen, dachte Söderström und schnupperte nachdenklich an seinem Cognacschwenker. Wohin er wohl dann als Nächstes gegangen ist, überlegte Holt, als sie aus der Dusche kam. Zuerst durch die Kungsgata, aber dann? Wenn er so durchorganisiert ist, wie Johansson offenbar glaubt, dann zieht es ihn an einen sicheren Ort, dachte sie. Sich waschen, sich von Kleidern und allen belastenden Schmauchspuren befreien, seine Waffe verstecken. Einen sicheren Ort, denn dahin wollen wir doch wohl alle, egal, ob wir normale Irre oder professionelle Mörder sind, dachte sie. Ein normaler Mensch oder ein normaler Irrer würden wahrscheinlich nach Hause gehen. Aber so eine Gestalt? Wohin geht der? In ein Hotelzimmer, eine angemietete Wohnung? Besser, ich frage Johansson, dachte sie und grinste ihrem Spiegelbild zu. Dann putzte sie sich die Zähne und ging zu Bett. »Der schlimmste Tag meines Lebens«, sagte Söderström und stöhnte. »Ich erinnere mich wirklich an jedes Detail.« »Ich war damals erst elf«, sagte Lisa Mattei. »Deshalb kann ich mich nicht an sehr viel erinnern. Aber ich habe den Unterlagen, die ich kürzlich gelesen habe, entnommen, dass viele die Frage gestellt haben, wieso Palme an diesem Abend ganz ohne Schutz war.« »Ja«, sagte Söderström und seufzte. »Das habe ich mich auch immer wieder gefragt. Der Einzige, der diese Frage beantworten könnte, wäre wohl er selbst. Ein leichtes Objekt war er wirklich 131
nicht, aber er war ein sehr begabter und insgesamt doch sympathischer Bursche. Die Jungs, die sich um ihn gekümmert haben, er wollte fast immer dieselben Kollegen, also das waren Larsson und Fasth. Ab und zu Svahn und Gillberg und Kjellin, die einspringen mussten, wenn Larsson und Fasth nicht konnten. Die Jungs haben ihn sehr gemocht. Ich kann ohne Zögern sagen, dass keiner von ihnen gezögert hätte, für ihn die Kugel zu kassieren, wenn es sich so ergeben hätte.« Söderström nickte feierlich und nahm, beim Gedanken an den Ernst des Augenblicks, einen vorsichtigen Schluck. »Ich habe gehört, dass er ein schwieriges Bewachungsobjekt war«, versuchte Lisa ihn zu locken und neigte sicherheitshalber ihr blondes Haupt ein wenig zur Seite. »Er hatte seine Seiten, wie gesagt«, sagte Söderström. »Wenn er die Wahl gehabt hätte, dann hätte er uns sicher in die Wüste geschickt. Sein Privatleben war ihm sehr wichtig, wenn man das so sagen kann.« »Und an diesem Freitag...« »Und an diesem Freitag«, fuhr Söderström fort, »hatte er Larsson und Fasth schon mittags gesagt, dass sie jetzt Feierabend machen könnten. Er wollte noch ziemlich lange im Büro bleiben und dann direkt zu seiner Wohnung in Gamla stan gehen und mit seiner Frau zu Abend essen. Ein gemütlicher Abend im Schöße der Familie, wie man so schön sagt. Deshalb sollten sie sich keine Sorgen um ihn machen. Aber Kollege Larsson, der kannte seinen Pappenheimer, und er machte ein paar Witze und sagte, dass... kann man sich wirklich darauf verlassen, Chef?... oder so... hat er gesagt... Palme war keiner, der sowas übel nahm. Er und die Kollegen schätzten einander wie gesagt sehr. Das kann ich bezeugen.« »Ein gemütlicher Abend zu Hause«, wiederholte Mattei. »Ja, aber als Larsson mit ihm Witze machte, sagte er, er habe jedenfalls keine größeren Abenteuer vor. Genau so hat er das gesagt. Dass er jedenfalls keine größeren Abenteuer vorhabe. Er und seine Frau hätten über einen Kinobesuch gesprochen, aber noch sei nichts entschieden, und sie hätten auch mit dem Gedanken gespielt, sich am Wochenende mit einem der Söhne zu treffen. Ich glaube, mit Märten, wenn ich mich richtig erinnere, denn der Jüngste war wohl in Frankreich, als es passiert ist, und wo der dritte war, weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr. Mit Märten und dessen Freundin, so war das. Aber auch das stand noch nicht fest.« 132
»Aber er hat etwas von einem Kinobesuch mit seiner Frau erwähnt?« »Wenn man genau sein will, so hat er das jedenfalls nicht ausgeschlossen. Aber wahrscheinlicher war, dass er den ganzen Abend mit seiner Frau zu Hause verbringen würde«, sagte Söderström und trank einen energischeren Schluck. »Als er das gesagt hatte, hat Larsson übrigens noch einen Witz gemacht und gesagt, wenn er sich das anders überlegt, müsse er sofort bei uns anrufen. Das hat er dann versprochen. Er war guter Laune, das war er übrigens meistens, und es lag keine aktuelle Bedrohung vor, aber jedenfalls hat er gesagt, er würde sich melden, wenn er seine Pläne noch änderte. Er hatte eine eigene Nummer, um uns zu erreichen, wie du sicher weißt. Also hätte er bei Bedarf rund um die Uhr anrufen können.« »Aber das hat er nicht getan«, fügte Lisa Mattei hinzu. »Nein«, sagte Söderström. »Das hat er nicht getan. Ein Kinobesuch, auf die Schnelle entschieden, er fand wohl, das sei der Mühe nicht wert. In dieser Hinsicht war er wirklich nicht schwierig.« »Aber du hast immerhin gewusst, dass solche Pläne existiert hatten?«, hakte Mattei nach. »Ja, natürlich, Larsson hat mich gleich danach angerufen und Bericht erstattet. Hat gesagt, was Sache war. Dass er und Fasth unerwarteten Heimaturlaub bekommen hatten, sozusagen, und dass das Schutzobjekt den Abend zu Hause verbringen wollte. Möglicherweise wollte er mit seiner Frau ins Kino gehen oder sich mit seinem Sohn treffen, aber noch sei nichts entschieden.« »Was hast du da gemacht?«, fragte Mattei. »Ich bin zu Abteilungsleiter Berg gegangen, meinem damaligen Vorgesetzten«, berichtete Söderström, »und habe ihn über alles informiert. Ich darf wohl sagen, dass ich rein beruflich solche Situationen nicht gerade schätzte.« »Wie meinst du das?« »Wäre es nach mir gegangen, dann wäre Palme immer bewacht worden«, sagte Söderström. »Und Berg? Wie hat der reagiert?« »Er hat sich auch nicht gefreut«, sagte Söderström. »Er war sehr besorgt über Palmes... ja... diese bohemienhafte Seite, die er hatte. Berg hat daraufhin gesagt, er wolle seinen Kontaktmann in Rosenbad anrufen. Das war dieser Nilsson, der als Sonderberater angeheuert war und sich mit Sicherheitsfragen beschäftigte; wenn ich 133
nicht falsch unterrichtet worden bin, sitzt er noch immer dort, und er wollte noch einmal fragen, ob wir nicht eine etwas klarere Anordnung haben könnten. So war das«, erklärte Söderström. »Berg wollte bei der Regierungskanzlei anrufen und sich noch einmal erkundigen. Und wenn sich die Pläne änderten, versprach Berg, mich sofort zu informieren, damit ich umdisponieren könnte.« »Was ist dann passiert?«, fragte Mattei. »Er hat nicht angerufen«, sagte Söderström und schüttelte den Kopf. »Berg hat nicht angerufen?« »Nein«, sagte Söderström und sah plötzlich ziemlich mitgenommen aus. »Er hat nicht angerufen. Kurz vor zwölf, also gegen Mitternacht, rief der Kollege an, der bei uns Dienst hatte, und berichtete, was geschehen war. Das war der absolut schlimmste Moment in meinem ganzen Leben.« Unmittelbar vor dem Einschlafen, in den kurzen Sekunden zwischen Dämmern und Schlaf, war es Holt eingefallen. Plötzlich hatte sie sich kerzengerade und hellwach im Bett aufgesetzt. Natürlich, genauso hat er es gemacht, dachte sie.
20 Bereits am Freitag hatte Holt Lars Martin Johansson eine Mail geschickt und die Vernehmung der Zeugin Madeleine Nilsson, Lewins Aktennotiz sowie eine schriftliche Zusammenfassung der Angelegenheit beigefügt. Wohin war der Mörder verschwunden, nachdem er Palme erschossen hatte? Von Johansson hatte sie nicht einen Mucks gehört. Nach dem Wochenende war sie ihm zufällig in der Kantine begegnet, hatte ihn eilig an den abgelegensten Tisch entführt und ihn ohne Umschweife nach seiner Meinung über das von ihr Geschriebene befragt. Wenn wir bedenken, was er früher gesagt hatte, wirkte Johansson seltsam uninteressiert. Er habe Holts Bericht gelesen. Die Vernehmung der Zeugin Nilsson sei ihm unbekannt gewesen. Was sollte er jetzt, zwanzig Jahre später, damit anfangen? In der Sache gebe er ihr natürlich recht. Was aber sollte er jetzt zwanzig Jahre später damit anfangen? 134
»Mir ist nicht unentdeckt geblieben«, sagte Johansson, »dass du glaubst, unser Täter sei durch die Kungsgata zum Stureplan gegangen und habe von dort die U-Bahn in Richtung Osten genommen. In die feinen Gegenden von Östermalm und Gärdet, von denen normale Schurken wie Christer Pettersson nicht einmal träumen würden.« »Ungefähr so«, sagte Holt. Wenn wir davon ausgehen, dass er seinem Opfer gefolgt ist, hätte er kein eigenes Auto bereitstellen können. Er wusste nicht, wo er enden würde. Dass er einen Helfer gehabt hatte, der ihn irgendwo auflesen würde, wirkte auch nicht sonderlich wahrscheinlich, schließlich war das vor der Zeit der Mobiltelefone gewesen. Er hätte allein zurechtkommen müssen, ganz einfach, und logisch und rational, wie er war, hätte er es in der falschen Richtung versucht. Für ihn die richtige Richtung, aber falsch für alle, die nach ihm suchten. Er hätte die Umgebung der City gemieden, wo es gleich nach dem Mord sowohl in der U-Bahn als auch oben auf der Straße von Polizei nur so wimmelte. »Das Problem war, dass das gar nicht der Fall war«, sagte Johansson und seufzte. »Die wenigen, die überhaupt da waren, sind oben in der Malmskillnadsgata herumgerannt wie kopflose Hühner.« »Aber das wusste er ja nicht«, wandte Holt ein. »Sie hätten unten in der City sein können, und wir haben es doch mit einem rationalen Mann zu tun.« »Neulich ist mir etwas eingefallen«, erklärte Holt. »Plötzlich musste ich daran denken, was Mijailo Mijailovic gemacht hat, nachdem er die Außenministerin Anna Lindh ermordet hatte.« »Statt in die City zu rennen und möglicherweise allen Kollegen in die Arme zu laufen, die da unten unterwegs waren, ist er ruhig und gelassen durch Strandväg und Östermalm spaziert«, nahm Johansson den Faden auf und nickte. »Dort hat er ein Taxi genommen, und das hat ihn dann später in die südlichen Vororte gebracht, wo Leute wie er ja meistens wohnen«, sagte Holt. »Er hat genau das Richtige getan. Egal, wie verrückt er auch war.« »In unserem Fall glaube ich aber nicht an ein Taxi«, sagte Johansson und schüttelte den Kopf. »Alle gemeldeten Taxifahrer sind doch überprüft worden, und wenn er ein nicht zugelassenes ge135
nommen hätte, dann hätte die Belohnung den Fahrer doch bestimmt aus seinem Schweigen hervorgelockt.« »Das sehe ich auch so«, sagte Holt. »Aber darüber hinaus glaube ich auch, dass er nach Östermalm oder Gärdet zurückgekehrt ist, weil er von dort gekommen war«, sagte sie. »Einen Versuch wäre es immerhin wert«, fügte sie hinzu. »Klar«, sagte Johansson und seufzte. »Es wimmelt bestimmt nur so von heißen Spuren, wenn man da nachschaut.« Was ist hier eigentlich los?, dachte Holt. Was ist denn bloß in Johansson gefahren? »Lars«, sagte Holt. »Ich erkenne dich nicht wieder. Was ist mit deinem Motto passiert: Die Situation mögen?« »Das ist eigentlich deine Schuld, Anna«, sagte Johansson und sah plötzlich wieder aus wie sonst. »Sprich«, sagte Holt. »Die Zeugin Madeleine Nilsson«, sagte Johansson. »Ich war einfach so teuflisch deprimiert, als ich las, was sie gesagt hatte. Sie hat es am ersten Tag von Schwedens größter Mordermittlung gesagt, und heute ist es einundzwanzig Jahre und sechs Monate her, dass sie es gesagt hat. Ich kann natürlich nicht beschwören, dass sie damals den Täter gesehen hat, aber ich hätte sie jedenfalls nicht so abgeschrieben, wie dieser Superidiot von Kollege es getan hat. Angenommen, es hätte sich herausgestellt, dass sie die Wahrheit sagte?« Johansson warf Holt einen taxierenden Blick zu. »Ich bin noch immer ganz Ohr.« Holt nickte. »Ich will ja nicht zu viel sagen«, sagte Johansson, »aber ich kann dir jedenfalls versprechen, dass ich und Bo Jarnebring und alle anderen Kollegen von damals, wir, die wussten, was man zu tun hat, wir, die das schon so oft getan hatten, wir hätten den Idioten aufgespürt.« »Ich verstehe, was du meinst«, sagte Holt. »Dieser verdammte Lewin!«, schrie Johansson und sprang auf. »Fleißig wie der Teufel, über die Maßen genau und dazu mit einem hervorragenden Gehirn ausgestattet. Aber was nützt ihm das alles, wenn er zu feige ist, um es zu benutzen? Warum zum Teufel geht einer wie der zur Polizei?« »Jetzt echauffier dich nicht, Lars«, sagte Holt und lächelte ihn freundlich an. »Ich verstehe, was du meinst, du hast wirklich keine 136
besondere Ähnlichkeit mit Jan Lewin«, und wie gut für ihn, dass er dich nicht hören kann, fügte sie in Gedanken hinzu. »Ich werd's versuchen«, knurrte Johansson. »Wir sehen uns am Mittwoch. Und dann will ich einen Namen haben.« Polizeikommissarin Anna Holt, siebenundvierzig, hatte das Wochenende mit Workout verbracht, und als sie am Sonntag nach einer zweistündigen Trainingsrunde in ihre Wohnung zurückgekehrt war, wartete dasselbe alternativlose Dasein auf sie wie schon den ganzen langen Sommer lang. Stimmt vielleicht etwas nicht mit meinem Badezimmerspiegel? Stimmt mit mir etwas nicht? Oder stimmt was mit den Typen nicht?, dachte Holt. Das Aufsehenerregendste, was geschehen war, während sie durch das Terrain um die Polizeihochschule rannte, war, dass ihr Sohn, Nicke, vierundzwanzig, auf ihrem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen hatte. Seit einer Woche war Nicke mit »der heftigsten Frau im ganzen Junivörs« draußen auf einer Schäreninsel. Das Leben, das er jetzt führte, war »fett« und »geil«, und außerdem war es praktisch, dass die Eltern der heftigsten Frau in diesem Universum auch das »coolste« Haus in den Stockholmer Schären besaßen. »Was heißt hier Pool? Mama! Wir reden hier von Pooooools.« Außerdem hatten ihre »Alten«, »die Parents, meine ich«, den Takt besessen, so gut wie umgehend in die Stadt zu fahren, als ihre einzige Tochter mit dem neuen Freund aufgetaucht war. Spitzenleute, sagte Nicke. »Alles total koscher«, die Alten und ihre Butze, ganz zu schweigen von ihrer Tochter. »Da fehlen mir ganz einfach die Worte«, sagte Nicke. Die Parents mit der koscheren Butze. Ob das Mädel wohl auch einen Namen hat?, überlegte Anna Holt und klickte die nächste Mitteilung auf ihrem Anrufbeantworter durch. »Sie heißt übrigens Sara«, sagte Nicke, und das war alles. Zumindest einer, dem es gutzugehen scheint, dachte Holt, und ohne richtig zu begreifen, wie das geschehen war, hatte sie Jan Lewins Nummer gewählt und gefragt, ob er mit ihr zu Abend essen wolle. Ein spontaner Impuls. Weil Johansson sich ausgekotzt hatte oder weil sie nichts Besseres zu tun hatte?
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»Essen?«, fragte Lewin und räusperte sich, als er nach dem siebten Klingelzeichen endlich abhob. »Bei mir zu Hause«, erwiderte Holt. »Dann können wir in aller Ruhe reden«, fügte sie zur Erklärung hinzu. Du weißt schon, Abendessen, die Mahlzeit, die man zu sich nimmt, bevor man schlafen geht, aber wenn ich das sage, dann fällst du vor Schreck tot um, dachte sie. »Klingt nett«, sagte Lewin. »Soll ich irgendwas mitbringen?« »Es reicht, wenn du selbst kommst. Ich hab alles da«, sagte Holt. Und das hab ich auch, dachte sie eine Stunde später, als sie für den Salat, den sie servieren wollte, Scampi und Jakobsmuscheln briet. Ob sie wohl in mich verliebt ist, dachte Jan Lewin, der in diesem Augenblick draußen in Huvudsta aus der U-Bahn stieg, und ohne dass seine Gastgeberin geahnt hätte, was ihm da durch den Kopf ging. »Ich hab über eine Sache viel nachgedacht, Jan«, sagte Anna Holt drei Stunden später. Eine bessere Chance bekommst du nicht, dachte sie. Die erste Weinflasche lag geköpft im Mülleimer in der Küche. Die zweite stand zwischen ihnen auf dem Tisch und war noch zur Hälfte gefüllt. Anna hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht, und Jan Lewin saß in ihrem Lieblingssessel und wirkte merkwürdig ruhig und zugleich ganz zufrieden mit seinem Dasein. »Ja«, sagte Lewin. Kein Räuspern, registrierte Holt. Nur ein leichtes Lächeln und ein neugieriger Blick. Er sollte auf diese Augen aufpassen. Wenn er nur diese Angst daraus vertreiben könnte, dann würde ich mich sofort flach auf den Rücken legen, dachte sie. »Diese ganzen Details, mit denen du es so genau nimmst«, sagte Holt. Damit wäre es endlich gesagt, dachte sie. »Du bist nicht die Erste, die mich danach fragt«, sagte Lewin. Auch jetzt kein Räuspern, nur dieses vage Lächeln. Und diese braunen Augen, aber ohne Angst, ohne Wachsamkeit. »Ja«, sagte Holt. »Vor einem Jahr«, sagte Jan Lewin. »Da war ich bei einer Psychiaterin. Es war das erste Mal in meinem Leben, aber es ging mir so schlecht, dass mir nichts anderes übrig blieb.« »Das bleibt unter uns«, sagte Holt. 138
»Diese Ärztin war eine großartige Frau«, sagte Lewin. »Ein sehr kluger Mensch, ein sympathischer Mensch, und ich habe auch eine ganze Menge über mich selbst gelernt. Unter anderem über diese Genauigkeit. Diese angstbezogene Genauigkeit, über die alle Kollegen sich ärgern.« »Ich nicht«, widersprach Holt. »Ich ärgere mich nicht darüber. Aber ich habe darüber gestaunt.« Und wie, und das ist ja auch kein Wunder, dachte sie. »Ich weiß«, sagte Lewin ernst. »Ich weiß, dass du dich nicht ärgerst.« Denn dann wäre ich nicht hergekommen, dachte er. »Woran liegt es denn?«, fragte Holt. »Willst du die kurze oder die lange Version?«, fragte Lewin. »Die lange«, sagte Holt. »Wenn dir das nicht zu schwerfällt, natürlich nur.« »Es fällt mir schwer«, sagte Lewin. »Die lange wie die kurze, aber ich kann schon darüber reden. Auch wenn ich das noch nie gemacht habe.« Nie mit einer Kollegin, dachte er. »Du bekommst die lange«, sagte Lewin. Und dann erzählte er. In dem Sommer, in dem Jan Lewin sieben Jahre alt geworden war und sein erstes Fahrrad bekommen hatte, war sein Vater an Krebs gestorben. Zuerst hatte er Jan das Radfahren beigebracht, und als Jan es konnte, hatte sein Vater losgelassen und war an Krebs gestorben. »Es war so, als ob ich auf irgendeine seltsame Weise den Boden unter den Füßen verloren hätte«, sagte Lewin. »Mein Vater hat all meine Sicherheit mitgenommen, als er verschwunden ist.« Übrig waren Jan und seine Mama. Keine Geschwister. Nur Jan und seine Mutter, und da auch sie den Boden unter den Füßen verloren hatte, drehte sich ihr ganzes Leben nur noch um Jan. »Es ist nicht leicht, eine Mutter zu haben, die alles für dich tut. Eine bessere Möglichkeit, um allem und allen gegenüber ein schlechtes Gewissen zu haben, kann es kaum geben«, erklärte Lewin. Vermutlich war er deshalb eher erleichtert gewesen, als auch sie an Krebs starb. Ja, so war es gewesen. Eher erleichtert. Das schlechte Gewissen ihres Todes wegen hatte sich erst später eingestellt. 139
Jan Lewin war damals zwanzig gewesen, er hatte soeben an der Polizeischule angefangen. Holt hielt nun den Zeitpunkt für eine erste Frage für gekommen. Warum war er zur Polizei gegangen? Diese Frage konnte er nicht beantworten. Sein Vater hatte einen Vetter bei der Polizei gehabt. Bestimmt keine stellvertretende Vaterfigur, aber er hatte sich regelmäßig gemeldet und war für Jan da gewesen, wenn es wirklich Probleme gegeben hatte. Er war ein netter Mensch, fasste Lewin zusammen. Aber vor allem hatte der Vetter sich energisch dafür ausgesprochen, dass auch Jan zur Polizei gehen sollte. Die perfekte Arbeit für jeden sympathischen und rechtschaffenen Burschen, dem Recht und Gerechtigkeit und andere Menschen wichtig waren. Sympathische rechtschaffene Menschen, die niemandem etwas Böses wollten. Solche wie er selbst oder wie Jans Eltern und wie Jan. Hinzu kam diese schöne Kameradschaft. Polizisten waren immer füreinander da. Genau wie in einer großen glücklichen Familie. »Wir waren damals gerade halb so viele wie jetzt, aber ich war von diesem Argument sofort restlos überzeugt. Plötzlich eine Familie mit siebentausend Mitgliedern zu bekommen, die immer für mich da sein würden. Das musste jemanden wie mich doch überzeugen«, meinte Lewin. »Und dann hast du festgestellt, dass nicht alle Familienmitglieder gleichermaßen reizend waren«, warf Holt ein und lächelte. »So ist es wohl in allen Familien, und ich habe es schon am ersten Tag bemerkt«, sagte Lewin. »Als Erstes stellte ich fest, dass diese Familie fast nur aus Männern bestand, aus jungen Männern, und dass nicht alle gleichermaßen reizend waren und dass eigentlich keiner so war wie ich.« »Aber du bist trotzdem dabeigeblieben«, sagte Holt. Warum bist du nicht ausgestiegen, dachte sie. »Ja«, sagte Lewin. »Ich war ja schon dabei, und da bin ich natürlich geblieben. Einfach aufzuhören und zu sagen, sie sollten doch machen, was sie wollten, das hätte nicht zu mir gepasst.« Jan Lewin war geblieben. Eine Figur, die nicht ganz ins Bild passte, aber zum Glück gut genug im Sport war, um nicht wie damals üblich gemobbt zu werden. Außerdem ein guter Kontakt, wenn juristische und andere Examen vor der Tür standen. »Ob du es glaubst oder nicht«, sagte Lewin. »Ich war damals ein ziemlich guter Läufer und ein ganz passabler Schütze.« 140
»Aber in den theoretischen Fächern warst du der Beste«, entgegnete Holt. »Ja«, nickte Lewin. »Aber die Konkurrenz war auch nicht gerade bedrohlich. Nicht gegen Ende der sechziger Jahre auf der Polizeischule in Solna«, sagte er und sah plötzlich ziemlich fröhlich aus. »Unser Lehrer für Kriminologie hatte einen Narren an mir gefressen«, fuhr er fort. »Schon nach dem ersten Kurs kam er zu mir und behauptete, seit Jahren keinen so vielversprechenden Schüler gehabt zu haben. Was meinst du, wer der letzte gewesen war?« »Johansson«, lautete Holts prompte Antwort. »Aber nach der Geschichte, die ich gehört habe, warst du noch besser.« »Genauer«, sagte Lewin und nickte. »Das Einzige, was unser alter Lehrer gegen Lars Martin Johansson anführen konnte, war, dass der einen Hang zur Boheme hatte. Dass er nicht bescheiden genug war und keine Hemmungen davor hatte, zu widersprechen. Aber was machte das schon, wenn man so war wie er?« Die Jahre nach der Schule waren einfach vorübergegangen, und Jan Lewin hatte sich ins Glied eingefügt und seine Arbeit getan. Sein alter Lehrer von der Schule hatte ihn nicht vergessen. Kaum hatte Lewin die vorgeschriebenen Jahre bei der Ordnungspolizei absolviert, hatte ein Mentor sich gemeldet und ihm einen Posten bei der Gewaltsektion in Stockholm angeboten, und besser hätte er es gar nicht treffen können. »Es war kein Zufall, dass die Gewaltsektion damals Erste Sektion hieß und dass die Kommission der ersten Sektion, die sich um Mordermittlungen kümmerte, KKi war, Kriminalkommission eins«, erklärte Lewin. »Genau genommen waren das die glücklichsten Jahre meines Lebens«, sagte Lewin. »Wir hatten einen Chef bei der Gewalt, der damals sagenumwoben war wie Johansson heute.« »Dahlgren«, sagte Holt. »Dahlgren«, bestätigte Lewin und nickte. »Als er mich willkommen hieß und wir ein so genanntes Einzelgespräch führten, erzählte er, dass er der Einzige bei der Sektion sei, der Abitur habe, noch dazu von der Hvitfeldska-Schule in Göteborg, und er habe registriert, dass wir jetzt zu zweit seien. Und auch wenn das Södra Latin in Stockholm sich bei weitem nicht mit dem Hvitfeldska messen könnte, so würde von Ihnen doch etwas mehr erwartet als von den 141
anderen, ein wenig schlichteren Kollegen. Dahlgren war schon ein Guter. Er war gebildet, hatte Humor, er war sogar innerhalb der Mordkommission ein ziemlich ungewöhnlicher Polizist. Immerhin arbeiteten dort die Besten der Truppe.« Und trotzdem hat er sich umgebracht, dachte Holt. Denn sie hatte nicht vor, das laut zu sagen. »Und trotzdem hat er sich umgebracht«, sagte Lewin plötzlich. »Aber das wusstest du, oder?« »Ja«, erwiderte Holt. »Ich habe gehört, dass er krank wurde, invalid sogar, und kaum wurde er aus dem Krankenhaus entlassen, hat er sich umgebracht.« »Das Herz. Er konnte sich ein solches Leben nicht vorstellen«, sagte Lewin. »Anderen zur Last zu fallen, war unvorstellbar für ihn.« Und da war es besser, sich zu erschießen, oder was? Denn ganz egal, wie gebildet und humorvoll er auch gewesen sein mag, eben ein Mann, dachte Holt. Wie bescheuert können die eigentlich sein?, überlegte sie. »Danach bekam ich meinen ersten größeren Fall«, sagte Lewin. »Daran erinnere ich mich noch. Genauso wie an den Sommer, in dem mein Vater gestorben ist.« Und jetzt hat er wieder diesen Blick, dachte Holt. »Das war 1978, im Herbst«, sagte Lewin. »Ich war knapp dreißig, und es war nicht üblich, dass einem so jungen Ermittler eine Mordermittlung übertragen wurde, aber gerade in diesem Herbst hatten wir alle Hände voll zu tun. Deshalb musste ich die Sache übernehmen. Dahlgren hatte das angeordnet. Und natürlich gab es Probleme«, sagte Lewin und seufzte. »Aber nicht die, mit denen ich gerechnet hatte.« Eine junge polnische Prostituierte war in ihrem Atelier in Vasastan ermordet worden. Einer der großen Morde jener Zeit, Schlagzeilenstoff für die Abendzeitungen, von der Polizei niemals aufgeklärt und in dem Augenblick im Archiv abgelegt, als der Hauptverdächtige sich das Leben genommen hatte. »Der Katarynamord«, sagte Lewin. »Das Opfer hieß Kataryna Rosenbaum. Ich weiß nicht, ob du den Fall kennst? Der Täter hatte sie übel zugerichtet. Eine wirklich grausame Gewalttat.« 142
»Ich habe darüber gelesen«, sagte Holt. Und davon gehört, dachte sie. Darüber, wie Jan Lewin durch das Perlentor der Polizei geschritten war. »Der Mann, der dann irgendwann festgenommen wurde, saß zwei Monate in Untersuchungshaft, und den Abendzeitungen zufolge war er natürlich der Täter. Er war ein Bekannter der Toten gewesen. Sie hatten sich in einem Restaurant kennengelernt und waren eine Beziehung miteinander eingegangen, er hatte nicht gewusst, dass sie Prostituierte war. Er behauptete, sie habe gesagt, dass sie ein Schreibbüro leitete. Er war ein ganz normaler Mann. Geschieden zwar, aber das waren damals doch fast alle. Hatte ein Kind mit der ersten Frau, eine kleine Tochter, wohnte allein in einer größeren Wohnung draußen in Vällingby, Ingenieur, geordnete Verhältnisse, gute Finanzlage.« »Von dem wenigen, was ich gelesen habe, liegt es auf der Hand, dass er es war«, sagte Holt. »Ja, das glaube ich auch«, sagte Lewin. »Als ihm aufging, dass seine neue Frau Prostituierte war, drehte er durch und brachte sie um. Das ist zumindest meine Erklärung.« »Aber die Beweise reichten nicht, und der Staatsanwalt setzte ihn auf freien Fuß.« »Ja«, bestätigte Lewin. »Bevor ich und die Kollegen neue Maßnahmen ergreifen konnten, brachte er sich um. Und noch dazu am Heiligen Abend«, sagte Lewin. »Aber das ist ja wohl kaum deine Schuld«, wandte Holt ein. »Wenn du ein einigermaßen normaler Mensch bist und einen Mord begangen hast, dann ist das doch wohl Grund genug. Sich das Leben zu nehmen, meine ich.« »Er glaubt das jedenfalls nicht«, sagte Lewin und schnitt eine Grimasse. »Verzeihung?«, fragte Holt verwirrt. Was redet er denn jetzt?, dachte sie. »Nicht, wenn er mich in meinen Träumen heimsucht, jedenfalls«, sagte Lewin. »Und was sagt er dann?« »Dass er unschuldig war«, sagte Lewin. »Dass es meine Schuld war, dass er sich das Leben genommen hat. Dass ich ihn umgebracht habe.« »Ich kann mir denken, was deine Psychiaterin dazu gesagt hat.« 143
»Ja«, sagte Lewin. »In diesem Punkt hat sie kein Blatt vor den Mund genommen. Es gehe gar nicht um ihn. Es ginge nur um mich.« »Da bin ich ganz ihrer Meinung«, sagte Holt. »Ich weiß nicht«, murmelte Lewin. »Aber es hat geholfen, darüber zu sprechen.« »Es hat geholfen?« »Ja«, sagte Lewin. »Jetzt hat er mich schon eine ganze Weile nicht mehr besucht. Was hältst du übrigens von einem kurzen Spaziergang? So eine Therapiesitzung ist doch ziemlich anstrengend. Mir sind die Beine eingeschlafen.« »Gerne«, sagte Holt. »Das da können wir ja nachher noch in uns reinschütten«, sagte sie und nickte zu der Weinflasche auf dem Tisch hinüber. Jetzt lächelt er wieder. Du solltest vielleicht den Beruf wechseln, Anna, dachte sie. Mittwoch, der 10. Oktober. Die Bucht vor Puerto Pollensa im Norden von Mallorca. Nach einer knapp einstündigen Fahrt hatte der dieselbetriebene Volvo-Penta-Motor, das Herz der Esperanza, das Schiff zwölf Seemeilen hinaus in die Bucht gebracht. Vorbei an der Platja de Formentor, der Cala Murta und den hervorragenden Fischgründen vor El Bancal, wo man fast das ganze Jahr über Seebarsch, Tintenfisch und Rochen fangen kann. Kaum eine Seemeile von der Spitze der Halbinsel am Cap de Formentor und weiter in die tiefe Fahrrinne zum Canal de Menorca. Dünung mit weißen Schaumkronen tiefer unter dem Kiel, mit dem Ruder gegensteuern, bald Zeit für die Entscheidung und die Kursänderung. Die Sonne wie ein Feuerball auf halbem Weg zum Zenit. Hoch genug, um den Morgennebel zu verdampfen und dem Schatten dreißig Grad zu schenken. Ein heißer Tag auch hier, obwohl es hier bis spät in den Herbst bis zu zwanzig Grad warm wird. Andere Boote in Sicht, und die Esperanza ist nicht mehr allein auf dem Meer. Sechs Wochen zuvor, Mittwoch, 29. August. Hauptquartier der Zentralen Kriminalpolizei auf Kungsholmen in Stockholm. »Flykt gehört nicht mehr zu unserer Gruppe«, sagte Johansson. »Die Flut der Hinweise hat wieder zugenommen, so dass die PalmeEinheit mehr als genug zu tun hat. Wir müssen also versuchen, ohne 144
ihn zurechtzukommen, und ich dachte, du, Lisa, könntest anfangen zu berichten«, sagte Johansson und nickte Mattei zu. »Okay«, begann Lisa Mattei. »Wie ich schon erzählt habe, Chef, habe ich vorige Woche mit Söderström gesprochen. Wie ihr sicher wisst, war er der Leiter der Abteilung für Personenschutz, als Palme ermordet wurde.« »Ich bin ganz Ohr«, sagte Johansson feierlich, faltete die Hände über dem Bauch und ließ sich in seinen Sessel sinken. Der war doppelt so groß wie alle andern, die um den Tisch in seinem Besprechungszimmer standen. Und er hatte eine Nackenstütze, Armlehnen, eine herausklappbare Fußbank sowie integrierte Massagefunktionen. Dann erzählte Mattei, was Söderström gesagt hatte. Dass der Ministerpräsident am Tag, an dem er ermordet worden war, erwähnt hatte, er werde vielleicht ins Kino gehen oder sich außerhalb seiner eigenen Wohnung mit Familienmitgliedern treffen. Vielleicht, betonte Mattei. Die Entscheidung, ins Kino zu gehen und dann zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und den Sohn Märten samt Freundin dort zu treffen, war jedoch erst eine halbe Stunde, ehe Olof Palme mit seiner Frau die Wohnung verlassen hatte, gefasst worden. »Ja, ja, aha«, warf Johansson ein. »Wie viele von den Kollegen oben bei der Säpo wissen von diesen Plänen, bevor er sich tatsächlich entscheidet?« »Wenn ich kurz etwas vorschieben darf, bevor ich darauf zurückkomme«, sagte Lisa Mattei und warf ihrem Vorgesetzten einen Blick zu. »Natürlich«, sagte Johansson mit einer großzügigen Handbewegung. »Ich habe die Vernehmungen seiner Frau und seines Sohnes gelesen. Sie haben an dem Abend, an dem er ermordet wurde, beschlossen, ins Kino zu gehen. Was den Fall einwandfrei entscheidet, ist wohl sein Telefonat mit dem Sohn gegen acht Uhr abends. Aber von dem Plan, es vielleicht zu tun, hat er schon früher an diesem Tag gesprochen.« »Welche Kollegen bei der Säpo wussten davon, von diesen Plänen, meine ich?«, fragte jetzt auch Holt. 145
»Erstens die beiden Kollegen, die an diesem Tag für seinen Schutz zuständig waren«, zählte Mattei auf. »Das waren seine Leibwächter. Die beiden Kollegen, die in den Zeitungen damals immer Bill und Bull genannt wurden«, fügte sie hinzu. Kriminalinspektor Kjell Larsson und Kriminalassistent Orvar Fasth. Als der Ministerpräsident ihnen gegen zwölf sagte, er brauche sie nicht mehr, rief Kollege Larsson bei Söderström an und informierte ihn über diesen Stand der Dinge. Söderström ging sofort zu seinem Vorgesetzten, Abteilungsleiter Berg, und informierte ihn, und das macht insgesamt vier Personen bei der Säpo, die schon gegen Mittag am Tag des Mordes von allem wussten.« »Und dann?«, sagte Lewin. »Dann wird die Sache komplizierter«, fuhr Mattei fort. »Da Söderström möglicherweise umdisponieren und für Larsson und Fasth zwei Ersatzleute schicken muss, informiert er den Kollegen, der an diesem Abend Wache hat. Der seinerseits, das glaubte zumindest Söderström, spricht mit den sechs Kollegen vom Personenschutz, die für das Wochenende auf dem Dienstplan stehen. Noch sieben Kollegen und insgesamt sind wir jetzt bei elf angekommen«, fasste Mattei zusammen. »Was bedeutet, dass inzwischen der ganze Abschnitt Bescheid gewusst haben kann«, stellte Lewin fest und räusperte sich vorsichtig. »Nicht alle«, wandte Mattei ein. »Meines Wissens jedenfalls nicht.« »Warum nicht?«, fragte Holt. »Schon zu meiner Zeit gab es das Kaffeezimmer.« »Du hast recht, mehr als elf«, Mattei nickte. »Einige haben bestimmt mit anderen darüber geredet. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es nicht gerade eine Riesensensation war. Das Opfer war bekannt dafür, wenn ich das mal so sagen darf. Ab und zu wollte er ganz einfach seine Ruhe haben.« Und wer will das nicht?, dachte sie. »Zwanzig«, schlug Johansson mit einer leichten Bewegung der rechten Hand vor. »Etwa zwanzig Kollegen vom Personenschutz wussten also, dass der Ministerpräsident den vagen Plan hatte, sich abends noch Bewegung zu verschaffen.« »Kann gut sein«, sagte Mattei. »Insgesamt arbeiteten damals da zwanzig Kollegen.« 146
»Na gut«, sagte Johansson. »Wie viele wussten am Arbeitsplatz des Opfers davon?« »Keine Ahnung«, sagte Mattei und schüttelte den Kopf. »Meine Kontakte in die Regierungskanzlei sind weiterhin gering oder genauer gesagt nicht vorhanden. Ich habe die Vernehmungen von denen gelesen, die dort arbeiteten.« »Und was sagen die so?«, fragte Johansson. »Die Frage nach dem Kinobesuch ist überhaupt nicht gestellt worden.« »Was ist das für ein Blödsinn?«, sagte Johansson. »Natürlich müssen die danach gefragt haben.« »Nein«, beharrte Mattei. »Das Nächste wäre noch die Frage, ob der Ministerpräsident gesagt habe, dass er an diesem Abend seine Wohnung verlassen wollte. Aber das ist ja nicht ganz dasselbe«, erklärte sie. Das stimmt nicht, dachte Johansson. »Alle drei Befragten antworteten, er habe nichts davon gesagt. Nach anderen Plänen sind sie jedoch nicht gefragt worden.« »Ich habe einen Kontakt in der Regierungskanzlei«, sagte Johansson. »Er war schon damals dort. Ich glaube, ich werde mit ihm reden, und dann sehen wir weiter.« »Der Sonderberater, späterer Staatssekretär, die graue Eminenz der Regierung, der Mann ohne Namen, Schwedens Antwort auf Kardinal Richelieu«, sagte Mattei, die ihre Begeisterung nur mit Mühe verbergen konnte. »Na ja«, sagte Johansson. »So verdammt seltsam ist das nun auch wieder nicht. Er heißt übrigens Nilsson.« Den kennst du also auch, dachte er. »Er ist sogar vernommen worden«, sagte Mattei. »Und was hat er gesagt?«, fragte Johansson. »Nichts, absolut nichts zu dem Fall«, sagte Mattei. »Er hat ganz einfach nichts zu sagen. Das sagt er auch. Das ist so ungefähr das Einzige, was er sagt. Aus Gründen der Staatssicherheit könne er nichts sagen. Aus Gründen der Staatssicherheit könne er auch nicht erklären, warum er nichts sagen kann. Das ist einfach total unsinnig. Als ihm anfangs diese Routinefragen nach Namen, Adresse, Personenkennziffer und diesem ganzen Kram gestellt werden, sagt er, der Beamte solle mit dem Unsinn aufhören. ‘Hören Sie mit dem Unsinn auf, nächste Frage, Herr Wachtmeistern Wortwörtlich.« 147
»Und was sagt der Kollege, der ihn vernommen hat?«, fragte Johansson. »Der bittet um Entschuldigung. Er hat sich vermutlich fast in die Hose gepisst«, sagte Mattei glücklich. »Ich werde mit ihm reden«, sagte Johansson mit entschiedener Miene. »Und dann sehen wir weiter.« »Etwa zwanzig bei der Säpo, eine unbekannte Anzahl an seinem Arbeitsplatz, aber mindestens einer...« »Wer denn?«, fiel Johansson ihr ins Wort. »Dieser Sonderberater«, sagte Mattei. »Das hat Abteilungsleiter Berg nämlich in seiner Erinnerungsnotiz vom Mordtag bestätigt. Das ist auch ins Untersuchungsmaterial übernommen worden, und laut Bergs Aufzeichnungen hat er gegen drei Uhr nachmittags verschiedene Sicherheitsfragen und auch den Personenschutz für den Ministerpräsidenten mit ihm diskutiert. Worum es laut Söderström ganz konkret ging, waren nämlich die Pläne des Ministerpräsidenten, an diesem Abend möglicherweise ins Kino zu gehen.« »Aber nach seinem Gespräch mit Berg muss doch der Kollege, der ihn vernommen hat, ihn befragt haben«, hakte Johansson nach. »Das hat er auch. Aber aus Rücksicht auf die Staatssicherheit bla bla bla und nächste Frage, bitte. Absolut phantastische Vernehmung«, schwärmte Mattei. »Bleibt die Familie des Opfers«, sagte sie dann. »Seine Frau, sein Sohn Märten und dessen damalige Freundin. Das macht drei, und den Vernehmungen zufolge haben sie alle drei nicht mit anderen gesprochen. Gattin und Sohn wirken außerdem ziemlich sicherheitsbewusst, wenn ich das mal so sagen darf.« »Und was ist mit Freunden und Bekannten?«, beharrte Johansson. »Der Vernehmung vom ehemaligen Minister Sven Aspling und dem damaligen Parteisekretär Bo Toresson zufolge, mit denen er an diesem Abend, außer mit seinem Sohn, von seiner Wohnung aus telefoniert hat, hat er nichts davon gesagt.« »Sie sind also wenigstens gefragt worden«, sagte Johansson. »Ja«, sagte Mattei. »Die schon.« »Also kann so ungefähr die ganze Welt etwa sechs Stunden, ehe er sich entschlossen hat, von diesen Plänen gewusst haben«, seufzte Johansson. 148
»Maximal fünfzig Personen, wenn du mich fragst, Chef. Zwanzig bei der Säpo. Vielleicht ebenso viele an seinem Arbeitsplatz und zehn als Pufferzone. Macht höchstens fünfzig Personen«, sagte Mattei. Immerhin, dachte Johansson. Datum und Zeitpunkt des Maskenballs in der Stockholmer Oper im März 1792 waren schon Monate vorher mehreren hundert Personen bekannt. An die hundert hatten zwei Monate zuvor eine schriftliche Einladung erhalten, und mindestens zehn von ihnen waren in den Mord an Gustav III. verwickelt. »Höchste Zeit, sich ein wenig die Beine zu vertreten«, schlug Johansson vor und sprang auf. 22
Nach dem Beinevertreten erklärte Holt, dass sie nicht mehr an Christer Pettersson als Täter oder an den Fluchtweg glaube, den die Ermittler damals so schnell festgelegt hatten. Sie glaube dagegen an die Zeugin Madeleine Nilsson und sogar an Johanssons Profil des Täters. »Du hast endlich die Wahrheit und das Licht gesehen«, sagte Johansson. »Nenn es, wie du willst. Ich habe meine Ansicht geändert«, entgegnete Holt. »Aber das hat eine Weile gedauert, Anna«, tadelte Johansson. Ihr Zweifel schien nun aber von Mattei übernommen worden zu sein. Bei allem Respekt vor den Überlegungen von Holt und Lewin verhielt sie sich Zeugenaussagen gegenüber ganz allgemein skeptisch. Das Einzige, was die beiden bisher geschafft hatten, war, die Thesen einer früheren Ermittlung in Frage zu stellen und stattdessen eine neue Hypothese zu lancieren. Keine Antithese, nur eine Hypothese. »Aber sicherer als das könnt ihr nicht sein«, sagte Mattei. »Eine dramatische und konfuse Situation. Sekunden mehr oder weniger, das ist nichts für mich«, erklärte sie und schüttelte ihren blonden Schopf. »Meinst du denn, es hat Sinn, sie auf die Probe zu stellen, unsere neue Hypothese, meine ich?«, fragte Johansson. 149
»Natürlich«, antwortete Mattei. »Wir haben doch sonst keine. Wir müssen nicht einmal Prioritäten setzen. Aber es wird nicht leicht, in diesem Ermittlungsmaterial alternative Täter zu finden. Falls er darin überhaupt vorkommt. Das kannst du mir glauben, Chef.« »Ganz hoffnungslos sieht es aber nicht aus«, wandte Johansson ein. »Ein gutausgebildeter Täter zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig, Militär, Polizist oder jemand, der sich mit solchen Dingen auskennt, nicht vorbestraft, hat Zugang zu Waffen, verfügt über gute finanzielle und andere Mittel, hat Kontakte in die Regierungskanzlei, bei der Säpo oder in Palmes Familie. Für mich klingt das nicht wie eine ganz und gar unlösbare Aufgabe. Vor allem nicht, wenn wir bedenken, dass er die U-Bahn nach Östermalm oder Gärdet genommen hat, nachdem er seinen Auftrag erledigt hatte«, fügte er hinzu und lächelte Holt an. »Das Problem ist, dass man ihn nicht auf diese Weise suchen kann«, sagte Mattei. »Das ist nicht wie im Netz, wo du eine bestimmte Anzahl Suchwörter eingeben kannst, um die Menge der Alternativen zu begrenzen. Das Material der Palmeermittlung ist auf eine ganz andere Weise geordnet. Oder nach ganz anderen Prinzipien, wenn ich korrekt sein soll.« »Und was sind das für Prinzipien?«, fragte Johansson und schaute Mattei misstrauisch an. »Sehr unklare«, sagte Mattei. »Ich glaube, das wissen sie nicht einmal selbst. Sie behaupten, das Material nach Ermittlungsthemen geordnet zu haben, aber so, wie du das vorschlägst, Chef, kann man es nicht durchsuchen.« »Ermittlungsthemen?«, wiederholte Johansson mit fragender Miene. Da wissen ja wohl alle, was damit gemeint ist, dachte er. »Ja, und damit sind ganz unterschiedliche Dinge gemeint«, fuhr Mattei fort. »Das häufigste Thema sind die so genannten Hinweise, bei denen es in der Regel darum geht, dass irgendeine Informationsquelle eine Person nennt, es gibt tausende solcher Hinweise, das zweithäufigste ist irgendeine Maßnahme, die die Ermittlungseinheit selbst in die Wege leitet, eine Vernehmung, eine Beschlagnahmung, ein fachliches Gutachten, eigentlich alles. Sogar das, was der erste Ermittlungsleiter in den Massenmedien als Spuren bezeichnet hat, gilt als Ermittlungsthema. Es kann kurz gesagt alles sein. Das meiste scheinen sie aus purem Überdruss sortiert zu haben. Alles ist ohnehin schon so konfus und unübersichtlich, und wenn dann etwas 150
Neues auftaucht, wissen sie nicht so recht, in welchen Ordner sie das stopfen sollen. Also kommt es in einen eigenen. Das stimmt wirklich. Soll ich ein Beispiel nennen, Chef?« »Gerne«, sagte Johansson. Ein Todesstoß mehr oder weniger spielt auch keine Rolle, dachte er. »Ich habe zum Beispiel aus purem Zufall festgestellt, dass derselbe Hinweis ein und derselben Quelle, es geht dabei um eine gewisse Person, die angeblich Palme ermordet hat, unter drei verschiedenen Ermittlungsthemen eingeordnet wurde. Und bei dieser Quelle, der ein überaus fleißiger Namenloser ist, will ich nicht ausschließen, dass es noch weitere Themen gibt. Derselbe Hinweis, dieselbe Quelle, derselbe angebliche Täter. Unter mindestens drei verschiedenen Themen abgelegt, laut Register.« »Aber um Himmels willen, warum denn das?«, fragte Johansson. »Die sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingegangen, wurden von unterschiedlichen Kollegen angenommen und aufgrund der damaligen Registrierung konnten sie nicht mit den früheren Hinweisen zusammengebracht werden«, sagte Mattei und zuckte mit den Schultern. »Was sagst du dazu, Lewin?«, sagte Johansson. Das klingt doch wie der pure Wahnsinn, dachte er. »Ich neige wohl dazu, Lisa zuzustimmen«, sagte Lewin und räusperte sich vorsichtig. »Wenn du nicht weißt, unter welchem Thema du suchen sollst, dann ist es schwer. Es hilft also nicht, zu wissen, wonach man sucht. Man muss auch wissen, wo man suchen soll. Abgesehen von gewissen einzelnen Ausnahmen.« »Und die wären?«, fragte Johansson. Das widerspricht doch der Natur des Suchens, dachte er. »Die so genannte Polizeispur ist wohl das beste Beispiel. Als die Ermittler ihre Arbeit aufnahmen, sollte die Säpo alle Hinweise untersuchen, bei denen es um Polizisten ging. Fast alle Kollegen, die angeblich mit dem Mord zu tun hatten, arbeiteten in Stockholm, und wenn wir bedenken, dass fast die gesamte Ermittlungstruppe aus Stockholm rekrutiert worden war, dann erschien es als unpassend, dass sie gegen sich selbst ermittelten, sozusagen. Deshalb musste die Säpo einspringen, und das hatte immerhin den Vorteil, dass das Material an einem Ort gesammelt wurde, das meiste jedenfalls. Wie es mit den Unterlagen aussieht, die in späteren Jahren dazugekommen sind, weiß ich ehrlich gesagt nicht.« 151
»Okay«, sagte Johansson. »Ich habe schon verstanden. Und jetzt machen wir das so. Wir geben jetzt einfach alle unser Bestes. Den Umständen entsprechend, ganz einfach.« Was zum Teufel bleibt uns auch für eine Wahl, dachte er. »Das weißt du doch, Lars«, sagte Holt mit einem freundlichen Lächeln. »Was denn?«, fragte Johansson. »Dass wir immer unser Bestes geben«, sagte Holt. »Hervorragend«, erwiderte Johansson kurz angebunden. »Selber Ort, selbe Zeit, in einer Woche.« »Und dann willst du den Namen des Täters?«, fragte Holt mit Unschuldsmiene. »Hieß der nicht Arsch?« »Nimm dich in Acht, Anna«, warnte Johansson. 23
Nach dieser Besprechung nahm Johansson Lewin zu einem Gespräch unter vier Augen beiseite. Was blieb ihm eigentlich für eine Wahl? Das, was vierzehn Tage zuvor wie eine ausgezeichnete oder jedenfalls brauchbare Idee gewirkt hatte, hatte bislang fünf unterschiedliche Resultate erbracht. An die vierhundert Arbeitsstunden für Holt, Lewin und Mattei, denen es wirklich an anderen Aufgaben nicht fehlte. Vergeudung von polizeilichen Mitteln. Das war das Erste. Die Medien schienen auch den großen Zulauf der notorischen vermeintlichen Informanten zu genießen, die dieser Ermittlung schon die ganze Zeit das Leben vergällt hatten. Flykt und seine Kollegen waren bedient. Das war das Zweite. Johansson war offenbar bei der Redaktion von Schwedens größter Morgenzeitung in Ungnade gefallen. Ein täglicher Pfeilhagel gegen seine entblößte Brust, Artikel über allerlei Missstände bei der Zentralen Kriminalpolizei, Leitartikel voller Spitzen gegen die Leistungsschwäche der Polizei und zuletzt eine Karikatur, die ihn selbst zeigte, mit der Unterschrift »Bei der Ermittlung gegen die verlorene Zeit«. Ein besonders fetter Johansson, der mit der einen Hand die Leine eines Schäferhundes hielt, während er die Taschenlampe auf etwas richtete, das eine verdächtige Ähnlichkeit mit einem Haufen Hundekacke hatte. Johansson hatte sich das Lachen verkneifen können. Das war das Dritte. 152
Blieb noch das, was mit der eigentlichen Sache zu tun hatte. Die Erkenntnis, dass bereits große Teile des Materials verloren gegangen waren. Der alte polizeiliche Grundsatz, dass der Täter, den man nicht findet, sich trotzdem in der Ermittlung versteckt, mochte ja durchaus zutreffen. Das Problem war nur, dass es diesmal viel zu viele Unterlagen gab, die viel zu unsortiert waren, als dass eine faire Chance bestanden hätte, den Täter dort zu entdecken. Das war das Vierte. Am Ende das Fünfte. Vierzehn Tage waren vergangen, und was hatten drei der absolut besten Kräfte der Kriminalpolizei Schwedens eigentlich zustande gebracht? Aus sehr gutem Grund die allseits akzeptierte Vorstellung über den Fluchtweg des Täters in Frage gestellt. Und zum Trost ein neues Fragezeichen angeboten. Und sie hatten die Zeugin Madeleine Nilsson, der auf der Treppe zur Kungsgata ein namenloser, gesichtsloser, allen unbekannter Mann begegnet war. Vor oder nach dem Mord? Leider war die Zeugin seit fast zwanzig fahren tot. Lewin war ein vorsichtiger General. Wenn alle Generäle wie Lewin wären, würde es niemals einen Krieg geben. Lewin war darüber hinaus ein hervorragender Polizist. Einer der besten. Okay, dachte Johansson. Stell eine klare Frage. Wenn Lewin, in seiner besonderen Art und Weise, auch nur andeutet, dass es keinen Sinn hat, dann lässt du es sausen. »Was sagst du, Jan?«, sagte Johansson. »Hat das hier überhaupt einen Sinn?« »Weiß nicht«, antwortete Lewin. »Leicht ist es nicht.« »Sollen wir aufhören und in den sauren Apfel beißen?« »Gib der Sache noch eine Woche, dann können wir einen letzten Versuch machen«, sagte Lewin. Es muss an Anna liegen, dachte er. Die will mir einfach nicht aus dem Kopf. »Okay«, sagte Johansson. Was zum Teufel ist denn in Lewin gefahren?, dachte er. Der Kerl wirkt ja wie ausgewechselt. »Ab und zu kann es passieren, dass man aus guten Gründen etwas macht, aber nicht so recht weiß, was das für Gründe sind«, sagte Lewin nachdenklich. »Das ist nett von dir, Jan, aber diesmal geht es vielleicht vor allem um Eitelkeit.« 153
»Geben wir der Sache noch eine Woche«, wiederholte Lewin, erhob sich, nickte freundlich und ging. Nicht nur Eitelkeit, dachte Johansson, als sein Kollege die Tür hinter sich geschlossen hatte. Natürlich hatte er persönliche Gründe gehabt, die gab es immer, aber gerade in diesem Fall ging es wohl eher um Rache als um Eitelkeit. In der Woche, bevor er in Urlaub gegangen war, hatte er an einer internationalen Konferenz von Polizeichefs im Generalsekretariat der Interpol in Lyon teilgenommen. Es handelte sich um einen festen Termin, zu dem sich Leute in seiner Position einfanden, egal, ob sie aus England oder Saudi-Arabien kamen, aus Österreich oder Sri Lanka. Nette Treffen, mit ausreichend Zeit für informelle Aktivitäten. Schon am ersten Abend nach dem offiziellen Essen hatten er und die Kollegen von nah und fern sich in einer Bar getroffen, die in Gehweite von ihrem Hotel lag und die sie schon seit Jahren als ihre Lyoner Stammkneipe betrachteten. Dort hatten sie sich die klassischen Heldengeschichten angehört. Alle hatten eigene Beiträge geliefert, hatten gegeben und genommen, und natürlich hatte Johansson sich die üblichen blöden Sprüche anhören müssen, die immer dieselbe Ursache hatten. Den seit über zwanzig Jahren nicht aufgeklärten Mord am Ministerpräsidenten seines eigenen Landes und in Anbetracht eines Opfers dieser Bedeutung der kapitalste Misserfolg in der globalen Polizeigeschichte. Ganz egal, was man nun von der Rolle glaubte, die Lee Harvey Oswald im November 1963 beim Mord an Kennedy gespielt hatte. Diesmal war es einer seiner besten Freunde, der Chef der Kriminalabteilung der Metropolitan Police in London, der den ersten Stein auf Johanssons Glashaus warf. Mit Unschuldsmiene, einem freundlichen Lächeln und der nasalen Stimme, der Wortwahl und der Körpersprache, die Leute wie er zu Hause auf dem Landsitz der Familie schon mit der Muttermilch eingesogen hatten. »How about the Olof Palme assassination? Any new leads? Können wir uns auf einen baldigen Durchbruch bei deiner zweifelsohne unermüdlichen Ermittlungsarbeit freuen? Wirst du unsere Neugier befriedigen, Lars? Kläre uns Unkundige in unserer beruflichen Finsternis auf. Lindere unser aller Unruhe.« Das bekannte vergnügte Wiehern, natürlich. Hoch die Tassen und kumpelhaftes Nicken, um dem soeben Gesagten den Stachel 154
abzubrechen - no harm intended, of course... comrades-in-arms... und so weiter und so weiter - und in Johanssons Fall nur ein geringer Trost, da der Misserfolg im Fall Palme wie ein Dorn in seinem Kopf steckte. Deshalb gab es auch dieselben Antworten wie immer. Um die Palmeermittlung der schwedischen Polizei stehe es leider so schlecht, dass sie schon seit langer Zeit zeige, wie eine große Mordermittlung gleich von Anfang an schiefgehen könne. Dass es ihnen misslungen sei, den Täter am Tatort festzunehmen oder ihn später einzukreisen und ihn in unmittelbarer Tatortnähe festzunehmen. Etwas, was sonst fast immer gelänge, wenn es sich um einen Mord an einer Persönlichkeit wie dem schwedischen Ministerpräsidenten handele. Stattdessen ein unbekannter Mörder, der in der finsteren Nacht verschwindet. Polizeiliche Routinen und berufliche Selbstverständlichkeiten, die plötzlich vom Tisch gewischt scheinen, während man sich gegenseitig auf den Füßen herumsteht. Immer wildere Hypothesen und Ratespiele als Ersatz für die ausdauernde, bohrende, langsichtige Ermittlungsarbeit, die der tragende Teil der Identität eines jedes echten Polizisten ist. Das, was sie alle aufrecht hält. Den einzelnen Polizisten wie die Einheit, in der er dient. Aber nun hätten er und seine schwedischen Kollegen ihre Lektion gelernt, und wenn sie ihm das nicht glauben wollten, dann sollten sie sich doch die erfolgreiche Jagd ansehen, die ebendiese schwedische Kriminalpolizei einige Jahre später auf den Mörder der schwedischen Außenministerin gemacht hatte. »A good piece of old time coppery, if you ask me«, erklärte Johansson in seinem inzwischen tadellosen Polizeichefenglisch. »We learned our lesson. We did it the hard way. But we did it well.« Sein englischer Freund und Kollege hatte zustimmend genickt und seine Zufriedenheit durch ein leichtes Heben des Glases voller bernsteinfarbenem Maltwhiskys unter Beweis gestellt. Aber er wollte sich doch noch nicht geschlagen geben, denn wenn er es richtig verstanden habe, dann sei die Ermittlung doch weiterhin aktiv. Trotz allem, was Johansson eben gesagt hatte, und trotz der über zwanzig Jahre des Misserfolgs. Warum nicht dafür sorgen, dass diese Kollegen etwas Sinnvolles in die Hände bekämen? 155
»Es kommt darauf an, die Situation zu mögen«, sagte Johansson mürrisch. »So lange der Fall nicht verjährt ist, werden wir weiter daran arbeiten.« Über die Tatsache, dass seine Ermittler seit vielen Jahren vor allem mit anderen Dingen beschäftigt waren, verlor er kein Wort. »Eine selbstverständliche Höflichkeit einem hochrangigen Politiker gegenüber, der ermordet worden ist«, stimmte sein englischer Freund zu, und natürlich auch die einzig vertretbare Haltung, wenn man ihn nach seiner Ansicht fragte. Zugleich eine notwendige Maßnahme, um die politische Stabilität in einem Rechtsstaat und einer Demokratie zu erhalten. Obwohl die Polizei über die Sache mit der Politik ja eigentlich erhaben sein sollte. Möglich, nickte Johansson. Er selbst hatte darüber nicht nachgedacht, da politische Kannengießerei ihn kaltließ. Er war ja auch erst viel später in die Ermittlungen hineingezogen worden, und das zunächst in der Rolle des Regierungsberaters in den unterschiedlichen, neu eingesetzten Kommissionen. Zugleich wollte er eine Beobachtung betonen, die er gemacht hatte, falls also der polizeiliche Misserfolg erklärt werden sollte, und der veränderten Körpersprache seiner Zuhörer entnahm er, dass das der Fall war. Sein versierter Quälgeist war natürlich sofort in die Falle getappt und hatte sich mit entblößter Brust in Johanssons Schussrichtung gestellt. Außerordentlich interessant, und darüber wollte er gern mehr hören. »Es ist absolut notwendig, dass komplizierte polizeiliche Ermittlungen von richtigen Polizisten durchgeführt werden«, sagte Johansson und lächelte freundlich, beugte sich vor und klopfte seinem Widersacher auf die Schulter. Johanssons entschiedener Überzeugung zufolge war es ausgesprochen lebensgefährlich und fast eine Garantie für ein totales Fiasko, solche Dinge den vielen Juristen und schnöden Bürokraten zu überlassen, die heutzutage die Chefetagen der meisten modernen westlichen Polizeibehörden bevölkerten. Wie man es leider damals getan hatte, als sein eigener Ministerpräsident ermordet worden war. »Touché, Lars«, antwortete der Kollege von New Scotland Yard und wirkte fast noch entzückter als die glücklichen Gesichter in seiner Nachbarschaft. Es war wohl auch kein Geheimnis, dass er sich 156
nicht durch Streifengänge in der Truppe, die er jetzt leitete, nach oben gedient hatte. Erst mit fünfzig hatte er sich von der Richterbank des Kriminalgerichts von Old Bailey erhoben, um die Chefsuite in der Victoria Street beziehen zu können. Aber auch die Richterbank, die er der Polizei zuliebe verlassen hatte, konnte in diesem Zusammenhang ihre Verdienste haben. Vor allem, da er sich vor allem mit finanziellen und mit Personalfragen beschäftigte und »niemals auch nur im Traum meine lange Nase in eine Mordermittlung stecken würde«. »Du hast damit angefangen«, brummte Johansson. Danach war es so weitergegangen wie immer, und diesmal damit, dass der stellvertretende Polizeichef von Paris von dem Problem »mit den Standbildern von bedeutenden Franzosen, dem riesigen Taubenbestand und nicht zuletzt von der Tatsache, dass die Pariser Tauben scheißen wie die Blöden« berichtet hatte. Johanssons französischer Kollege hielt die schwedische Palmeermittlung für ein außerordentliches Beispiel für das Einzige, was die Polizei im Grunde tun konnte. Misserfolg hin oder her. Im Grunde spielten Johansson und seine Palmeermittler für die Erhaltung des Respekts vor der Obrigkeit in Schweden dieselbe Rolle wie fünfzig Angestellte der Pariser Stadtreinigung, die versuchten, die vielen Denkmäler der Stadt vor Taubenkacke zu bewahren. »Der Respekt vor einer großen Nation steht und fällt mit dem Respekt vor ihren großen Führern.« Er selbst wollte nun die Gelegenheit nutzen, um auf seinen schwedischen Kollegen anzustoßen, der mit unermüdlichem Eifer und großer Selbstaufopferung, ohne den geringsten Gedanken an seine eigene Bequemlichkeit, diese Aufgabe auf sich geladen hatte. Höchste Zeit, Feierabend zu machen, dachte Lars Martin Johansson, als die Lachsalven verstummt waren, und zwei Stunden später, als er in seinem Hotelbett lag, hatte er einen Entschluss gefasst. Dann schlief er ein. Genau wie zu Hause. Er lag flach auf dem Rücken und hatte die Hände über der Brust verschränkt. Er musste an seine Frau denken und daran, dass er sie viel zu oft allein ließ, wegen Dingen, die an sich unwichtig waren und die ihnen beiden nur wertvolle, gemeinsame Lebenszeit raubten.
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24 »Ist etwas passiert?«, fragte Johansson seine Sekretärin, nachdem Lewin ihn verlassen hatte. »Hier passiert doch dauernd etwas«, antwortete sie. »Hat irgendjemand angerufen?« Genau wie sonst auch hatte das Telefon die ganze Zeit geklingelt. Zwar hatte nicht die ganze Welt mit ihrem Chef sprechen wollen, aber ein Großteil der Leute, die sich für die dunklen Seiten des Lebens interessierten, schienen das dringende Bedürfnis zu verspüren, gerade zu ihm Kontakt aufzunehmen. Wie sonst hatte sie an diesem Mittwochvormittag auch diese Gespräche selbst erledigt und den Anrufenden das gegeben, was sie brauchten, ohne Johansson damit belasten zu müssen. Mit zwei Ausnahmen. »Diese geheime Figur da unten in Rosenbad hat angerufen, der Mann, der nie seinen Namen nennt.« »Was wollte der denn?« Der Sonderberater des Ministerpräsidenten, Schwedens Antwort auf Kardinal Richelieu, dachte Johansson. »Willst du dich über mich lustig machen, Lars?«, antwortete sie. »Er wollte nicht einmal verraten, ob er noch einmal anruft oder ob du zurückrufen sollst.« »Ich werde mit ihm reden«, sagte Johansson. »Wer war der andere?« »Bestimmt nichts Wichtiges«, antwortete seine Sekretärin und schüttelte den Kopf. »Hat der auch keinen Namen?« »Doch, er hat mehrmals angerufen. Schon am Freitag übrigens, aber da ich dir das Wochenende nicht ruinieren wollte, dachte ich, es könnte warten.« »Der Name«, sagte Johansson und schnippte mit den Fingern. »Bäckström«, sagte seine Sekretärin und seufzte. »Er hat am Freitag zum ersten Mal angerufen, und seitdem hat er sich noch ein halbes Dutzend mal gemeldet. Zuletzt heute morgen.« »Bäckström«, wiederholte Johansson ungläubig. »Reden wir von diesem kleinen fetten Idioten, den ich aus der Zentralen Mordkommission gefeuert habe? Das darf doch wohl nicht wahr sein.« Es ist doch erst ein Jahr her, dachte er. 158
»Ich fürchte doch. Kriminalkommissar Evert Bäckström. Er will mit dir persönlich sprechen. Es sei ungeheuer wichtig und wahnsinnig brisant.« »Und worum geht es?«, fragte Johansson. »Das wollte er nun wieder nicht sagen.« »Sag Lewin, er soll ihn anrufen«, sagte Johansson. »Natürlich, Chef«, sagte Johanssons Sekretärin. Der arme, arme Jan Lewin, dachte sie. Johanssons Sekretärin meldete sich bei Lewin mit einer Mail, die sie über die polizeieigene Variante von GroupWise schickte, was sogar für einen begabten Hacker schwer zu knacken war. Da Johanssons Sekretärin, rein menschlich gesehen, nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrem Chef hatte, war es eine höfliche und zugleich klare Mitteilung. Natürlich als Wunsch formuliert. Könnte Lewin so freundlich sein und sich mit Kommissar Evert Bäckström in Verbindung setzen, der derzeit in der Abteilung für Diebesgut der Stockholmer Polizei Dienst tat, und sich nach den Wünschen desselben erkundigen? Das geschehe auf Bitten ihres gemeinsamen Chefs, Lars Martin Johansson, CRKP, dem Chef der Zentralen Kriminalpolizei, im Haus als Erkazeh bekannt. Wo bin ich hier eigentlich gelandet?, dachte Lewin. Vor nur einer Stunde, in einem Moment der Schwäche, der auf müden Flügeln an seinem Vorgesetzten vorübergeflattert war, hatte er selbst die Entscheidung in Händen gehalten und eine brauchbare Chance gesehen, diesem ganzen Narrenspiel ein Ende zu setzen. Jetzt war es zu spät. Alles war wieder wie immer und vermutlich noch schlimmer. Nachdem er dreimal tief durchgeatmet hatte, rief er Bäckström an, und genau wie er befürchtet hatte, war auch der genau wie immer. »Bäckström speaking«, meldete sich Bäckström. »Ja, hallo, Bäckström«, sagte Lewin. »Hier ist Jan Lewin. Alles in Ordnung bei dir, hoffe ich. Ich hätte da mal eine Frage.« »Janne«, sagte Bäckström laut und deutlich, da er wusste, dass Jan Lewin es hasste, Janne genannt zu werden. »Lange nicht mehr gesehen, Janne«, sagte er dann. »Womit kann ich dir behilflich sein?« Lewin hatte sich auf das Schlimmste vorbereitet. Und er gab sich wirklich Mühe, höflich und korrekt zu sein und sich kurzzufassen. 159
Er rufe auf Wunsch des Erkazeh an. Der Erkazeh wüsste gern, was Bäckström wolle, und habe Jan Lewin beauftragt, das in Erfahrung zu bringen. »Wenn er so verdammt geil darauf ist, dann schlage ich vor, der soll sich selber melden«, bellte Bäckström zurück. »Verzeihung?«, sagte Lewin. »Es ist so, Janne«, sagte Bäckström in einem unerträglich pädagogischen Tonfall. »Ich an deiner Stelle«, fügte er hinzu, »würde ihm ernstlich raten, mich anzurufen. Ich glaube, das läge in seinem eigenen Interesse, wenn ich das mal so sagen darf. Wenn wir bedenken, was er so treibt«, verdeutlichte er. »Ich deute das so, dass du nicht mit mir reden willst«, sagte Lewin. »Wie gesagt«, sagte Bäckström. »Ich an Johanssons Stelle würde Kommissar Bäckström lieber selbst anrufen. Statt dich vorzuschicken, Janne.« »Ich werde das weitergeben«, sagte Lewin. »Möchtest du sonst noch etwas sagen?« »Wenn er Palme wirklich in den Griff bekommen will, dann soll er anrufen«, sagte Bäckström. »Und jetzt musst du entschuldigen. Ich habe nämlich alle Hände voll zu tun.« Was für ein einzigartig primitiver Kollege, dachte Lewin. Egal, was man vom Sonderberater des Ministerpräsidenten nun halten mochte, ihn konnte man jedenfalls nicht als primitiv bezeichnen. Eher als weit über die Grenzen des normalen menschlichen Verstandes hinausgehend kultiviert. Johansson rief ihn unter seiner allergeheimsten Telefonnummer an, und er meldete sich sofort. Natürlich ohne seinen Namen zu nennen, was, im Hinblick auf seine Aufgaben und Befugnisse sozusagen, in der Natur der Dinge lag. »Jaa?«, sagte der Sonderberater mit einer fragenden Dehnung des letzten Vokals. »Johansson«, meldete sich Johansson. »Ich habe gehört, du hast angerufen, und da möchte ich natürlich wissen, ob ich dir irgendwie behilflich sein kann. Wie geht's dir übrigens?« »Schön, von dir zu hören, Johansson«, sagte der Sonderberater mit deutlicher Wärme in der Stimme. 160
Eigentlich wollte er gar nichts Besonderes. Nur einfach mal einen guten Freund, bei dem er sich viel zu selten meldete, fragen, »na, wie geht's dir so?«. Er selbst hatte gerade einen wohlverdienten Urlaub hinter sich, und kaum hatte er den Fuß wieder auf schwedischen Boden gesetzt, hatte er gedacht, nun müsse er aber seinen guten alten Freund Lars Martin Johansson anrufen. »Eine fast Freudsche Symbolik«, sagte der Sonderberater, der bereits im Regierungsflugzeug auf dem Weg von London nach Arlanda so ein vages Gefühl in Bezug auf Johansson gehabt habe, doch erst, als er den Fuß »auf den Vaterlandsboden, der uns beide geschaffen hat« gesetzt habe, habe sich ein klares Bild ergeben. »Nett von dir, an mich zu denken«, sagte Johansson. Laber laber laber, dachte er. Ansonsten gehe es dem Sonderberater »ganz vortrefflich, so wie ich es verdient habe, und danke für die Nachfrage«. Johanssons freundliches, wenn auch unspezifisches Hilfsangebot habe er natürlich registriert, aber nicht deshalb rufe er an, sondern einfach, um Johansson zum Essen einzuladen. Um sich mal wieder zu sehen, einen Bissen zu essen und einen Schluck dazu zu trinken. »Was hältst du davon?«, fragte der Sonderberater. »Klingt nett«, sagte Johansson. »Ich komme gern.« »Was sagst du dazu, wenn wir das gleich morgen machen?« »Das kommt wie gerufen«, sagte Johansson. Diese Bereitschaft, diese Bereitwilligkeit, diese Selbstverständlichkeit ... trotz aller Wechselhaftigkeit des Lebens... ganz zu schweigen von unvorhergesehenen und spontanen Einladungen. »...ich beneide dich, Lars«, seufzte der Sonderberater. »Stell dir vor, ich könnte auch immer so verfügbar sein. Sagen wir, um halb acht in meinem bescheidenen Unterschlupf in den uppländischen Vororten?« »Ich freue mich«, sagte Johansson. Was kann der bloß wollen?, dachte er, und er selbst hatte auch eine Frage, auf die er gern eine Antwort bekommen würde. »Was wollte Bäckström?«, fragte Johansson, als er das Gespräch beendet hatte und seiner Sekretärin habhaft geworden war. 161
»Er wollte jedenfalls nicht mit Lewin reden«, sagte sie. »Sondern mit dir. Lewin vermutet, dass er irgendeinen Hinweis zum Palmemord hat. Bäckström hat übrigens vor fünf Minuten noch einmal angerufen.« »Das muss er mit Flykt besprechen«, knurrte Johansson. »Das habe ich auch vorgeschlagen«, sagte seine Sekretärin. »Ich habe ihm gesagt, wenn es um den Palmemord gehe, dann solle er Flykt anrufen.« »Und was hat er dazu gesagt?« »Er wollte unbedingt mit dir sprechen«, seufzte seine Sekretärin. »Himmel, Arsch und Zwirn«, stöhnte Johansson und merkte, dass sein Blutdruck stieg. »Ruf Flykt an und sag ihm, er soll den Idioten zum Schweigen bringen. Und zwar sofort!« »Ich werde mit Flykt reden«, sagte Johanssons Sekretärin. Der arme, arme Yngve Flykt, dachte sie. Flykt schickte Bäckström keine Mail. Dieser ganze Kram mit IT und Computern und Netzwerken und dem ganzen anderen elektronischen Hokuspokus, mit dem die jüngeren Kollegen sich amüsierten, war nicht sein Ding. Total überschätzt, wenn man ihn fragte, und außerdem war er zu alt, um das noch zu lernen. Was war denn falsch an einem normalen ehrlichen Telefon? Dieses klassische polizeiliche Hilfsmittel, wenn man mit jemandem in Kontakt treten will, dachte Flykt, während er Bäckströms Nummer eingab. Der hob in der Sekunde nach dem ersten Klingelton ab. »Hallo, Henning«, fauchte Bäckström. »Wo waren wir doch noch gleich stehengeblieben?« »Ich hätte gern mit Kommissar Bäckström gesprochen, Evert Bäckström«, erklärte Flykt. »Bin ich da richtig bei...« »Bäckström speaking«, sagte Bäckström und hörte sich wieder genauso an wie immer. »Wie gut«, sagte Flykt. »Dann bin ich ja richtig. Hier spricht Yngve Flykt von der Palmegruppe. Ich hoffe, bei dir ist alles in Ordnung, Bäckström. Ich habe gehört, du weißt etwas über Palme? Ich bin ganz Ohr.« »Hast du Papier und Bleistift?«, fragte Bäckström. »Natürlich«, sagte Flykt herzlich, da er schon vor dem Anruf auf sein Aufnahmegerät gedrückt hatte. »Ich schreibe alles mit«, sagte er. Das läuft ja wie am Schnürchen, dachte Flykt. 162
»Dann kannst du deinem so genannten Chef eine Notiz schreiben, er soll mich anrufen«, zischte Bäckström. »Ich verstehe«, sagte Flykt. »Aber nun ist es so, dass er mich gebeten hat, mit dir zu sprechen. Das fällt doch in mein Ressort, in meins und das meiner Kollegen, wie du sicher weißt.« »Ja, es ist zum Kotzen«, sagte Bäckström. »Richte ihm aus, dass ich nicht mit dir reden will.« »Ich finde, jetzt bist du ungerecht, Evert«, sagte Flykt. »Wenn du etwas beisteuern kannst, dann ist das sogar deine Pflicht als Kollege...« »Du, Flykt«, fiel Bäckström ihm ins Wort. »Ich will nicht mit dir reden. Dann kann ich auch gleich die Zeitungen anrufen. Ich will mit Johansson sprechen.« »Aber warum denn?« »Frag Johansson«, sagte Bäckström. »Frag Johansson, ob er eine Ahnung hat, warum.« »Er scheint total aus dem Gleichgewicht geraten zu sein, wenn du mich fragst, Chef«, sagte Flykt fünf Minuten später. »Du hast das Gespräch auf Band?«, sagte Johansson. »Selbstverständlich«, sagte Flykt. »Zuerst hatte ich den Eindruck, dass er mit einem anderen Anruf gerechnet hatte, von einem gewissen Henning... du glaubst doch nicht, Chef, dass er Kontakt zu diesem alten Promianwalt aufgenommen hat? Zu diesem Henning Sjöström?« »Kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Johansson. »Sjöström ist ein hervorragender Mann. Der verteidigt nur normale Pädophile, Brandstifter und Massenmörder. So einen wie Bäckström würde der nicht mal mit der Zange anfassen. Das findet sich schon«, sagte er dann und zuckte mit den Schultern. »Mail mir das Gespräch doch einfach rüber.« »Natürlich, Chef«, sagte Flykt. Wie mache ich das jetzt am besten?, dachte er. Besser, ich bitte eins von den jüngeren Talenten. »Jetzt machen wir Folgendes«, sagte Lars Martin Johansson eine Viertelstunde später und sah seine Sekretärin düster an. »Ich bin ganz Ohr, Chef.« »Mach eine Gedächtnisnotiz über Bäckströms sämtliche Anrufe. Von jetzt an will ich eine vollständige Dokumentation darüber ha163
ben, wann er wieder von sich hören lässt. Wenn er fünfmal angerufen hat, dann sagst du mir sofort Bescheid.« »Verstanden, Chef«, sagte seine Sekretärin. Der arme, arme Evert Bäckström, dachte sie.
25 Nach ihrer Besprechung mit Johansson verspürte Holt das Bedürfnis, ihren Schreibtisch und das große Polizeigebäude auf Kungsholmen zu verlassen, wo ihr Schreibtisch nur einer unter zweitausend war. Einfach draußen sein und sich bewegen. So arbeiten, wie sie gearbeitet hatte, als sie noch eine richtige Polizistin gewesen war, Mit jemandem reden, der dabei gewesen war und etwas erzählen konnte. Lisa Mattei hatte Zweifel an Holts und Lewins Theorien über den Täter und seinen Fluchtweg geäußert, und allein das reichte schon aus, um die ein weiteres Mal zu überprüfen, zwei Fliegen mit einer Klappe, und wer wäre wohl ein besserer Gesprächspartner als der ältere Kollege von der Streife, der sie einige Tage zuvor nach Hause gefahren hatte. Der, der dabei gewesen war, als es passiert war. Der Kollege hieß Berg und arbeitete inzwischen bei der Streife in Västerort. Er war seit über vierzig Jahren bei der Polizei, würde bald in Rente gehen und war noch immer Polizeiinspektor. Das konnte nicht an den fehlenden Beziehungen innerhalb der Polizei liegen. Sein Vater war Polizist gewesen, sein Onkel war ein sagenumwobener Polizist gewesen, Abteilungsleiter Berg, Johanssons Vorgänger als Leiter der operativen Abteilung der Sicherheitspolizei. Es war seine eigene Schuld. Mehr als zehn Jahre lang, von Ende der siebziger bis Anfang der neunziger Jahre, war er einer der am häufigsten überprüften Polizisten des Landes gewesen. Die Stockholmer polizeiliche Abteilung für Interne Ermittlungen hatte gegen ihn an die dreißig Beschwerden wegen Körperverletzung und anderer Übergriffe im Dienst vorweisen können. Holts Chef, Lars Martin Johansson, hatte ihn und seine Kollegen vor etwa zwanzig Jahren sogar in den Knast gesteckt. Damals hatte es sich um schwere Körperverletzung an einem Rentner gehandelt, noch dazu sollte der Vorfall sich in einer Arrestzelle im Wachbezirk Norrmalm ereignet 164
haben. Aber das Ergebnis war mager gewesen. Jedes Mal waren Berg und seine Kollegen freigesprochen worden. Wer seiner Karriere ein Ende gesetzt hatte - und wer damit in letzter Konsequenz die Schuld dafür trug, dass der Kommissarsrang ausgeblieben war -, war sein eigener Onkel. Ein Jahr vor dem Mord am Ministerpräsidenten hatte der Onkel die Sicherheitspolizei mit einer Untersuchung über das Vorkommen rechtsextremer Kollegen bei der Stockholmer Polizei beauftragt und ziemlich bald erkannt, dass sein eigener Neffe in diesem Zusammenhang eine tragende Rolle spielte. Als ein halbes Jahr darauf der Ministerpräsident ermordet wurde und die Medien anfingen, in der so genannten Polizeispur herumzuwühlen, war Polizeiinspektor Berg der Polizist gewesen, der in den Ermittlungsunterlagen der Palmeermittlung am häufigsten erwähnt wurde. Er wurde niemals verurteilt. Er wurde einmal unter Anklage gestellt und freigesprochen, aber mehr war dabei nicht herausgekommen, und für die Tage, die Johansson ihn in den Arrest gesteckt hatte, hatte er später sogar eine durchaus brauchbare Entschädigung kassieren können. In der Nacht, in der Schwedens Ministerpräsident ermordet worden war, hatte er als dritter Polizist einen Fuß an den Tatort gesetzt. Die Welt ist klein, und wer wäre besser geeignet als er, dachte Anna Holt. Als Holt den Kollegen Berg anrief, schlug er vor, sich in einem Cafe in der Nähe der Wache zu treffen. Wie Holt auch wohnte er in Solna, und da er ab nachmittags Dienst hatte, wäre das so für ihn am besten. Außerdem sei es dort um diese Zeit ruhig, guten Kaffee und leckere Brote gebe es dort auch. »Iraner«, erklärte Berg. »Aber nette Leute. Und sie haben ja inzwischen diese Servicenische übernommen.« »Nett, dass du gekommen bist«, sagte Holt eine halbe Stunde später. »Keine Ursache«, sagte der Kollege und lächelte. »Hatte ohnehin nichts Besseres vor. Aber eins möchte ich sagen, ehe wir anfangen.« Danach hielt er einen fünfminütigen Vortrag über sich selbst über alles, wovon er eingangs gesagt hatte, es sei Holt vermutlich 165
längst bekannt -, dann kam er zur Schlusspointe. Er habe rein gar nichts mit dem Mord an Olof Palme zu tun gehabt. Er sei ebenso überrascht gewesen wie alle anderen. So bestürzt wie alle anderen, ob sie es nun glaube oder nicht, und wenn er von ganzem Herzen eins wünsche, dann, dass er und seine Kollegen, die damals vor Ort gewesen seien, den Täter am Tatort hätten festnehmen können. »Nur, um Zeit zu sparen«, sagte Berg und zuckte mit den Schultern. »Ich glaube dir«, sagte Holt. »Diesen Gestalten im Fernsehen und an diese Polizeispur habe ich nie geglaubt.« Dass ich allerdings an vieles von dem glaube, was ich gelesen habe, kann jetzt ja wohl kaum eine Rolle spielen, dachte sie. »Schön, das zu hören«, sagte Berg und schien das auch so zu meinen. »Aber ich würde gern über etwas ganz anderes mit dir sprechen«, sagte Holt. »Diese Tatrekonstruktion, die unsere Kollegen damals vorgenommen haben. Die Zeitabfolgen stimmen irgendwie nicht.« Danach schilderte sie fünf Minuten lang ihre und Lewins Überlegungen, dass Zeuge 1 mindestens anderthalb Minuten später als der Täter die Treppe zur Malmskillnadsgata hochgelaufen sein musste. Und dann Zeugin 2 aus ebendiesem Grunde nicht gesehen haben konnte, dass der Täter »gleich darauf« über die Straße gerannt sei. Die Zeugin Madeleine Nilsson erwähnte Holt dagegen mit keinem Wort. Mit der wollte sie noch warten. »Wenn wir nun annehmen, dass der Mord um 23:21:30 geschehen ist«, sagte Holt. »Und dass der Täter eine Minute braucht, um durch die Tunnelgata und dann die Treppe zur Malmskillnadsgata hochzulaufen, dann steht er also um 23:22:30 dort oben.« »Ich weiß«, sagte Berg voller Überzeugung. »Der Typ, der Palme erschossen hat, hatte einwandfrei mehr Glück als Verstand.« Danach hatte er seine Erinnerungsbilder von dem Tatverlauf beschrieben, mit dessen Lektüre Holt viele Stunden verbracht hatte. »Die Kollegen von der Einsatzzentrale und alle Besserwisser sagen, der Alarm vom Sveaväg sei um genau fünfundzwanzig Minuten nach elf eingegangen«, sagte Berg. »Das kaufe ich auch, plus minus die üblichen Sekunden hin oder her, die gibt es ja immer. Um 166
23:24:00 also«, erklärte er. »Wir waren beim Brunkebergstorg, kurz vor der Riksbank, wir waren von Norden her durch die Malmskillnadsgata gefahren und hatten nur eine knappe Minute zuvor die Treppen zur Tunnelgata passiert. Wir müssen den Mörder um keine dreißig Sekunden verpasst haben. Palme liegt erschossen unten im Sveaväg, hundert Meter rechts von uns. Er ist vor nur anderthalb Minuten erschossen worden, und wir fahren in aller Ruhe oben durch die Malmskillnadsgata und bringen noch weitere vierhundert Meter hinter uns, ehe Alarm gegeben wird. Soll man da nicht durchdrehen?« Berg seufzte und schüttelte den Kopf. »Wie schnell seid ihr denn gefahren?«, fragte Holt. »Im Gleittempo«, sagte Berg. »Wie man das macht, wenn man von einem Einsatzbus aus so viel wie möglich sehen will. Durch die Malmskilnadsgata bei maximal dreißig Stundenkilometern. Draußen alles ruhig und still. Kein Krach, keine Krawalle, nur die üblichen Normalschweden waren unterwegs. Kalt und unangenehm war es auch, das weiß ich noch. Die Leute liefen ziemlich schnell, Kragen hochgeklappt, Hände in den Taschen, Schultern hochgezogen. Wir dagegen saßen gemütlich in unserem warmen Dodge, bis per Funk die Hölle losbrach.« Berg lächelte und schüttelte den Kopf. »Was ist dann passiert?« »Volles Tempo, nachdem wir den Anruf beantwortet hatten«, sagte Berg. »Schüsse an der Ecke Sveaväg und Tunnelgata, da brauchten wir nicht zweimal gebeten zu werden. Blaulicht, Sirenen, die erste rechts vom Brunkebergstorg runter zum Sveaväg und dann fünfhundert Meter geradeaus nach Norden zum Tatort. Ich sprang als Erster aus dem Bus, und da muss es so ungefähr zwischen 23:24:20 und 23:24:30 gewesen sein. Hat ungefähr eine halbe Minute gedauert, nachdem wir den Funkspruch beantwortet hatten, also stimmt das wohl so«, meinte Berg. Der Einsatzbus war anderthalb Minuten nach dem Mord oben durch die Malmskillnadsgata gefahren, dreißig bis vierzig Sekunden, nachdem der Mörder das obere Ende der Treppe erreicht und sich umgesehen hatte, ehe er aus dem Blickfeld von Zeuge l verschwunden war. Die Kollegen von der Södermalmsstreife hatten den Täter nicht gesehen. Sie hatten auch Zeuge 1 nicht gesehen und Zeugin 2 nicht 167
observiert, und so lange war alles schön und gut, denn das hätten sie auch nicht tun dürfen, dachte Holt. Zeuge l und Zeugin 2, dachte Holt, aber ehe sie ihn danach fragen konnte, kam er ihr zuvor. »Ich weiß, was dich stört, Holt«, sagte Berg plötzlich. »Du hast dir in den Kopf gesetzt, dass diese Frau oben in der Malsmskillnadsgata, die Zeugin 2 genannt wird und von der alle Schlauköpfe bei der Krim gefaselt haben, dass diese Zeugin dem Zeugen i sagt, dass der Mörder in die David Bagares gata gerannt ist, du hast dir in den Kopf gesetzt, dass diese Frau jemand anderen gesehen hat als den Täter.« »Wie kommst du darauf?« »Das habe ich jedenfalls selbst geglaubt«, sagte Berg. »Wie könnte das denn sonst funktionieren? Zeitlich, meine ich.« »Aber du hast nie etwas gesagt!«, stellte Holt verblüfft fest. »Was glaubst du wohl, woran das liegt?«, erwiderte Berg und grinste. »Stell dir vor, einer wie ich wäre zu den feinen Kollegen in der Kriminalabteilung in der Kungsholmsgata gekommen und hätte gesagt, ich glaube, ihr habt da so einiges falsch verstanden? So ungefähr, meine ich.« »Ich glaube, sie hätten nicht gerade die Welle gemacht«, gab Holt zu. »Was hast du gemacht, als du unten beim Tatort aus dem Einsatzwagen ausgestiegen bist?«, fragte sie dann. »Nachdem ich die Lage erfasst hatte, und dabei kann es sich höchstens um zehn Sekunden gehandelt haben, bin ich mit drei weiteren Kollegen die Tunnelgata hinuntergestürzt. Als wir die Treppe zur Malmskillnadsgata erreicht hatten, stand da oben ein Frauenzimmer und winkte und schrie, und ich bin die Treppe hochgerannt. Das war Zeugin 2, das habe ich später begriffen. Ich kann höchstens eine Minute gebraucht haben, um vom Tatort zur Malmskillnadsgata hochzulaufen. Wie ich dir schon bei unserem letzten Gespräch gesagt habe.« »Und jetzt ist es so ungefähr 23:25:30, vier Minuten nach dem Mord«, sagte Holt. »So ungefähr, ja«, stimmte Berg zu. »Was ist dann passiert?«, fragte Holt. »Ich bin in die von Zeugin 2 gezeigte Fluchtrichtung gelaufen«, sagte Berg und lächelte. »Durch die David Bagares gata zur Rege168
ringsgata und dann noch an die fünfzig Meter weiter, bis ich auf Zeuge 1 gestoßen bin.« »Und was hat der gesagt?«, fragte Holt. »Nicht viel«, sagte Berg. »Es hat ungefähr eine Minute gedauert, bis ich begriffen hatte, dass er nicht selbst gesehen hatte, wohin unser Täter gelaufen war. Er hat nur wiedergegeben, was er von Zeugin 2 gehört hatte.« »Und wenn du mich fragst«, fuhr er fort, »dann stimmt an diesem Teil der Beschreibung so einiges nicht. Wie zum Beispiel, dass es angeblich hundert Prozent sicher sein soll, dass die beiden ein und dieselbe Person haben vorüberlaufen sehen.« »Wie meinst du das?«, sagte Holt. Kollege Berg hatte mit Zeuge 1 und Zeugin 2 gesprochen. Er war sogar der erste Polizist, der das getan hatte, und ausnahmsweise einmal war er gebeten worden, eine Zeile über die Angelegenheit zu schreiben. Die Kollegen von der Kriminalabteilung hatten den Fall ja an sich gerissen, nachdem sie vor Ort eingetroffen waren, und er hatte keine Ahnung, was mit seiner kurzgefassten handschriftlichen Gedächtnisnotiz geschehen war. Er erinnerte sich nur vage an irgendeinen Kollegen von der Einsatzzentrale, der sie in die Manteltasche gesteckt hatte. Berg hatte keine Vernehmungen durchgeführt. Er hatte sich nur kurz mit Zeuge 1 und Zeugin 2 unterhalten, aus dem einleuchtenden Grund, so schnell wie möglich so viel wie möglich zu erfahren, um die erste Suche nach dem Täter in die Wege leiten zu können. »Als Zeuge 1 die Malmskillnadsgata erreicht, stößt er dort auf Zeugin 2. Er fragt sie, ob jemand in einem dunklen Mantel vorübergelaufen ist. Ich kann mich an den genauen Wortlaut nicht erinnern, aber ich bilde mir ein, dass Zeuge 1 sie fragt, ob sie einen Typen in einem dunklen Mantel gesehen hat. Das bestätigt sie. Gerade eben hat sie einen Mann in dunklem Mantel durch die Malmskillnadsgata und dann in die David Bagares gata laufen sehen.« »Gerade eben?«, wiederholte Holt. »Ich habe bei der ersten Gelegenheit dieselbe Frage gestellt. Das muss so ungefähr eine Viertelstunde später gewesen sein. Nach ihrer Aussage handelt es sich um einen Mann in einem dunklen Mantel, der höchstens zwanzig Sekunden, ehe Zeuge 1 nach ihm fragte, 169
über die Malmskillnadsgata und dann in die David Bagares gata gelaufen ist. Ansonsten konnte sie nicht sehr viel beisteuern. Nicht viel mehr über seine Kleidung, als dass sie glaubte, er habe eine kleine Tasche in der rechten Hand gehabt und versucht, sie in seine Manteltasche zu stecken. Sein Gesicht hatte sie nicht gesehen. Sie hatte den Eindruck, dass er vielleicht versucht hat, es vor ihr zu verstecken, als er vorübergerannt ist. Groß oder klein? Dick oder dünn? Kräftig oder schmal? Dunkel oder hell? Alt oder jung? Auch dazu hatte sie keine klare Meinung. Hat ausgesehen wie alle anderen Mannsbilder, die an diesem Abend unterwegs waren, wenn wir ihre Beobachtungen zusammenfassen wollen. Abgesehen davon, dass er sich seltsam verhalten hat, natürlich. Bei diesem Punkt wurde sie immer sicherer, je länger wir miteinander sprachen. Dass er nervös gewirkt habe, gehetzt, er hat versucht, sein Gesicht zu verstecken und überhaupt. Ja, Herr Jesus«, sagte Berg und seufzte. »Was hätte sie auch sonst sagen sollen? Inzwischen drängten sich doch die Kollegen in Massen um sie zusammen.« »Und Zeuge 1. Was hat der gesagt?«, fragte Holt. »Der war die ganze Zeit dabei, oben in der Malmskillnads-gata, und wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich ihn und die Zeugin natürlich getrennt, aber es herrschte so ein verdammtes Chaos, dass das nicht möglich war. Bis die Kollegen von der Krim die Sache übernommen haben, konnten die beiden fast eine halbe Stunde miteinander plaudern. Zeuge 1 und Zeugin 2, meine ich.« »Sind dir irgendwelche Unterschiede in ihren Beschreibungen dieses Mannes aufgefallen?«, fragte Holt. »Zeuge l war um einiges ausführlicher, wenn ich das mal so sagen darf. Er hatte die Schüsse gehört und den Täter mit der Waffe gesehen und begriffen, was passiert war. Ein Mann in dunklem Mantel oder Jackett, möglicherweise barhäuptig, möglicherweise mit einer Art Strickmütze auf dem Kopf, so einer, wie dieser Jack Nicholson sie in diesem Film Kuckucksnest aufhatte, kräftig gebaut, rollender Gang, als er davongerannt ist, fast ein bisschen wie ein Bär, er behauptete, gesehen zu haben, wie der Mann die Waffe in die rechte Jacken- oder Manteltasche gesteckt hat, aber von einer Tasche wusste er nichts. Er sah unangenehm aus, das hat er gesagt. Zwischen vierzig und fünfundvierzig Jahren. Älter als der Zeuge jedenfalls. Weiter nichts.« 170
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Holt und nickte. Höchste Zeit für Madeleine Nilsson, und wie mache ich das, ohne ihm die Worte in den Mund zu legen?, dachte sie. »Als ihr die Döbelnsgata hochgefahren seid, vorbei an den Treppen hinunter zur Tunnelgata am Anfang der Malms-killnadsgata und dann vorbei an der Brücke über die Kungs-gata und weiter durch die Malmskillnadsgata zum Brunkebergstorg, wo der Alarm eingegangen ist...« »Ich höre«, sagte Berg und nickte. »Auf dem Weg habt ihr keine anderen seltsamen oder auffälligen Personen gesehen?« »Dann hätten wir darüber gesprochen«, sagte Berg und schüttelte den Kopf. »Einwandfrei keiner mit einem rauchenden Revolver in der Hand«, sagte er und lächelte. »Und auch sonst niemanden?« »Hauptsächlich frierende Normalos. Ab und zu eine Nutte, natürlich, das ist doch deren Arbeitsplatz, wenn ich das mal so sagen darf, und damals gab es eine Menge von ihnen. Bestimmt auch den einen oder anderen kleinen Gauner oder Junkie, aber keinen, der irgendwelchen Scheiß gebaut hätte.« »Und wenn ihr so jemanden gesehen hättet? »Dann hätten wir natürlich angehalten und ihn untersucht. Das haben wir immer gemacht, wenn wir nichts Besseres zu tun hatten. Ansonsten haben wir sie angeblinkt, und wir hatten verdammt gute Menschenkenntnis, das kann ich dir sagen.« »Angeblinkt?« »Mit dem Fernlicht«, sagte Berg und lachte. »Nur um ihnen kurz klarzumachen, dass wir ihre Anwesenheit registriert hatten. Damit ihnen klar war, dass wir sie im Auge behielten.« »Aber du kannst dich nicht an jemand Bestimmtes erinnern?« »Nein«, sagte Berg. »Dann hätten wir doch darüber gesprochen, wie gesagt. Doch, da war noch etwas. Wenn du dir das anhören willst, und eigentlich geht es dabei überhaupt nicht um unsere Angelegenheit. Außerdem muss es unter uns bleiben«, fügte er hinzu. »Wenn es nicht um unsere Angelegenheit geht, dann bleibt es unter uns«, sagte Holt und lächelte. »Das tut es nicht«, sagte Berg. »Es geht um deinen Chef.« »Johansson«, sagte Holt. »Raus damit.« Nicht eine Sekunde zu verlieren, dachte sie. 171
»Nur ein guter Rat«, sagte Berg. »Wie du sicher weißt, haben er und ich eine gemeinsame Geschichte, die nicht so lustig ist, also bild dir hier lieber selbst eine Meinung.« »Ich weiß, dass er dich vor zwanzig Jahren für eine Woche in den Knast gesteckt hat.« Und das nicht so ganz ohne Grund, fügte sie in Gedanken hinzu. »Mich und die Kollegen«, sagte Berg und nickte. »Dann weißt du auch, dass ich und die Kollegen von jeglichem Verdacht freigesprochen wurden und für die Zeit, in der wir gesessen hatten, Schadensersatz kassiert haben.« »Ich weiß alles«, sagte Holt und lächelte. »Ich weiß zum Beispiel, dass du und viele deiner Kollegen von der Streife ihn den Schlächter aus Ädalen genannt habt.« »Nicht, weil er uns in den Knast gesteckt hat, ich habe bestimmt auch den einen oder anderen Unschuldswurm in den Knast gesteckt. Den Namen, den wir ihm gegeben haben, den hatte er ehrlich verdient. Mir ist in meinem ganzen Leben kein dermaßen eiskalter Teufel über den Weg gelaufen. Ein Mensch, der dich ohne Zögern umbringen kann, wenn er nun findet, dass das in seinem Interesse liegt. Ohne mit der Wimper zu zucken und ohne Herzklopfen. Also, was immer du tust, Holt, nimm dich vor diesem Mann in Acht«, sagte Berg und zuckte mit seinen breiten Schultern. »Das musst du jetzt aber genauer erklären«, sagte Holt. Was redet der denn da bloß?, dachte sie. »Ja«, sagte Berg. »Das werde ich.« Danach hatte er die Geschichte von seinem Vater erzählt. Bergs Vater war ebenfalls Polizist gewesen. Ein ganz normaler Streifenpolizist von der Funkstreife in Stockholm und als Berg noch ein junger Mann in den Teenagerjahren gewesen war, war sein Papa im Dienst ums Leben gekommen. Auf der Jagd nach zwei Autodieben war er von der Straße abgekommen. Sechziger Jahre, noch keine Gurtpflicht in den Dienstwagen der Polizei, Bergs Vater flog mit dem Kopf durch die Windschutzscheibe, brach sich das Genick und war auf der Stelle tot. »Ich habe meinen Vater wirklich geliebt«, sagte Berg leise. »Trotz all seiner Fehler und Mängel, denn er hatte welche, das wurde meiner Mutter und mir schon sehr früh bewusst. Seinetwegen bin ich 172
dann auch zur Polizei gegangen. Jedes Mal, wenn sich uns eine Möglichkeit bot, erzählte ich allen von meinem Papa und was ihm passiert war und warum ich selbst auch Polizist werden wollte. Ich erzählte, was alle meine Verwandten mir erzählt hatten, und in meiner Familie fehlt es wirklich nicht an Polizisten, das kannst du mir glauben. Ich gab weiter, was mir seine ehemaligen Kollegen erzählt hatten. Dass mein Papa ein Held gewesen war. Dass er wirklich in seiner Arbeit als Polizist sein Leben geopfert hatte. Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich geglaubt, dass es damals so war.« Wer Berg seiner Illusionen über seinen Vater beraubt hatte, war Lars Martin Johansson. Berg und seine Kollegen saßen seit zwei Tagen im Arrest. Johansson und seine Mitarbeiter führten jeden Tag Vernehmungen mit ihnen durch. Johansson beschäftigte sich vor allem mit Berg. Johansson wusste, dass er der Anführer der anderen war. »Ich war wirklich nicht übermäßig empfindlich, aber das kannst du mir glauben, Holt, es nimmt dich ganz schön mit, wenn du Polizist bist und plötzlich in Kronoberg in U-Haft sitzt«, sagte Berg. »Am dritten Tag war ich ziemlich fertig. Johansson und noch ein Kollege hatten mich den ganzen Tag in die Mangel genommen, und wenn ich meine Schnürsenkel oder meinen Gürtel gehabt hätte, weiß ich genau, was ich getan hätte, sowie sie gegangen waren.« »Was ist dann passiert?«, fragte Holt. Aber ich ahne es schon, dachte sie. »Zwei Stunden später, am Nachmittag, lag ich da auf der Pritsche und starrte an die Decke und überlegte, wie ich mich mit der Bettdecke erwürgen könnte. Sie in Streifen reißen und so, man wird in einer solchen Situation ziemlich erfinderisch. Einen Haken in der Decke, wo man sich einfach aufhängen kann, gibt es in den Zellen nicht, das weißt du ja sicher. Plötzlich steht Johansson in der Tür. Er war allein, abgesehen von zwei Bullen, die draußen auf dem Gang herumlungerten. Er trug seinen Mantel. Ich weiß noch, dass er sagte, er wollte einen Bissen essen, bevor er nach Hause ging. Und er hatte für mich ein wenig Nachtlektüre mitgebracht. Ihm war nämlich aufgefallen, dass ich nicht schlafen konnte. Und dann warf er mir so einen alten Ermittlungsordner hin. So einen mit grünem Pappumschlag, wie wir sie vor ewigen Zeiten hatten. Dann ging er einfach, und es war ein wahnsinniges Schlüsselklirren und Türenknallen, bis er und die Bullen endlich weg waren. 173
Zuerst dachte ich natürlich, das seien die Vernehmungen der Kollegen, die nebenan saßen, und dass er uns gegeneinander ausspielen wollte, aber so war das eben nicht«, sagte Berg. Dir geht es nicht gut, das kann ich sehen, dachte Holt. Im Moment geht es dir richtig schlecht, und du hast überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem Berg, über den ich so viel gelesen habe. »Es war die Ermittlung im Todesfall meines eigenen Vaters«, sagte Berg. »Mit Bildern und allem. Vom Unfallort, Obduktionsfotos, einfach alles. Die Ermittlung, die Papas Kollegen im tiefsten Keller versteckt hatten und über die in all den Jahren keiner ein Wort verloren hatte, schon gar nicht mir oder meiner Mutter gegenüber.« Berg schüttelte den Kopf und legte eine kurze Pause ein, ehe er weitersprach. »Was uns erzählt worden war, stimmte nicht. Eines Tages hatte sich mein Vater seine Uniform angezogen und einen Streifenwagen genommen. Er war vom Dienst suspendiert worden, weil er an einem Abend eine Woche zuvor abends betrunken auf der Wache aufgetaucht war, aber davon hatten wir keine Ahnung gehabt. Wie dem auch sei«, fuhr Berg fort und schüttelte den Kopf. »Er setzte sich in den Streifenwagen und fuhr nach Vaxholm. Unterwegs goss er sich eine Flasche Schnaps und einen Viertelliter reinen Alkohol hinter die Binde, also einen guten Liter. Als er am Fähranleger in Vaxholm angekommen war, wartete er, bis die Fähre abgelegt hatte. Dann trat er das Gaspedal durch und fuhr geradewegs ins Hafenbecken. Der Wagen landete zwanzig Meter weiter im Wasser, und bevor er versank, war er wirklich mit dem Kopf durch die Windschutzscheibe geknallt und hatte sich das Genick gebrochen.« »Und was ist dann passiert?«, fragte Holt. »Ich bin durchgedreht«, erzählte Berg. »Sie mussten mich festschnallen und betäuben. Erst nach zwölf Stunden war ich so weit wiederhergestellt, dass sie mich in die normale Zelle zurückschleifen konnten. Der Ordner war natürlich verschwunden.« »Hast du das schon mal irgendjemandem erzählt?«, fragte Holt. »Ein paar Kollegen«, sagte Berg. »Aber ohne ins Detail zu gehen. Das ist jetzt alles Geschichte.« Berg sah sie an und nickte. »Sei vorsichtig, was diesen Mann angeht, Holt. Der ist nicht nur sympathisch und unterhaltsam auf diese norrländische Weise, wenn er in der richtigen Stimmung ist. Er hat auch andere Seiten, und die kann er hervorholen, wenn er das für angebracht hält.« 174
26 Nach seinem Gespräch mit Bäckström suchte Lewin im Palmeraum Frieden. Mattei war schon dort, und offenbar war sie nicht faul gewesen. Auf dem Tisch vor ihr lag ein hoher Stapel aus dicken Ordnern, und als Lewin hereinkam, blätterte sie mit der linken Hand in einem, während sie mit der rechten eifrig auf ihrem Laptop herumtippte. Fotografisches Gedächtnis in Verbindung mit hoher Simultankapazität, dachte Lewin. Außerdem eine bezaubernde junge Frau. »Hallo, Jan«, sagte Mattei und lächelte ihn an. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass es so viele qualifizierte Irre gibt. Ich habe an die dreihundert gefunden, und da mir bestimmt die Hälfte entgangen ist, ist das eine ganze Menge.« »Aber jetzt werden sie alle in einem Register landen«, sagte Lewin und lächelte. Wie viele unqualifizierte Irre es wohl gibt. »So, fertig!«, sagte Mattei und zuckte mit ihren schmächtigen Schultern. »Wenigstens so eine Art Liste.« Schön zu hören, dachte Lewin, und da ihm nichts Besseres einfiel, nahm er sich seinen alten Karton mit den Parkvergehen vor. Sorgfältig verpackt, an ein und demselben Ort aufbewahrt und vermutlich für den Fall total uninteressant. Wenn unser Täter so ordentlich ist, wie Anna Holt und Johansson offenbar glauben, dann hat er ja wohl kaum falsch geparkt, dachte er. An die zweitausend Falschparker hatten am Mordtag im Großraum Stockholm ein Knöllchen bekommen. Zweihundert davon waren in den feineren Stadtteilen erwischt worden, denen, die entlang der roten Linie der U-Bahn lagen. Gärdet, Östermalm, Lidingö. Warum hieß das eigentlich rote Linie? Wenn wir bedenken, wer dort wohnt, wäre blaue Linie doch sicher besser, philosophierte Lewin, während er im Stapel von Bußgeldbescheiden blätterte und sich zu erinnern versuchte, wonach er hier eigentlich suchte. Fahrzeuge in gutem Zustand, keine Verbrecherkarren, falsch geparkt in den Stunden unmittelbar vor und nach dem Mord in der Nähe einer U-Bahnstation, dachte Lewin. Was einundzwanzig Jahre später bedeutete, dass alle Auskünfte über Besitzer oder Benutzer aus sämtlichen vorstellbaren Registern verschwunden waren. Auch 175
wenn der Mörder einen nagelneuen Mercedes gefahren hat, als er Palme erschossen hat, dachte Lewin und seufzte. Weil er nichts Besseres hatte, musste er sich auf seine alten Notizen verlassen. Fast alle Falschparker hatten ihr Vergehen in unmittelbarer Nähe zu ihrer eigenen Wohnung begangen. Genau, wie es zu erwarten war, und kaum hilfreich im Hinblick auf Holts Hypothese, nach der der Täter im eigenen Wagen weitergefahren war. Bevor Lewin Feierabend machte, überprüfte er auch noch seinen eigenen Beitrag zur so genannten Polizeispur. Von den insgesamt neunzehn Bußgeldbescheiden, die sich auf polizeiliche Dienstfahrzeuge oder auf Wagen bezogen, die einzelnen Polizisten gehörten, waren drei an der roten U-Bahnlinie ausgestellt worden. Einer auf Östermalm, einer auf Gärdet und einer in Hjorthagen bei der Endstation in Ropsten. Außerdem einer draußen auf Lidingö, gleich auf der anderen Seite der Brücke, fünfhundert Meter von der Endstation entfernt. Auch das nicht weiter überraschend, dachte Lewin, als er die Stapel wieder in den Karton stopfte. Der Kollege draußen auf Lidingö, zum Beispiel, arbeitete bei der dortigen Polizei, und sein Wagen hatte das ganze Wochenende im Parkverbot gestanden. Laut Auskunft seiner Kollegen, weil er Grippe hatte und von Donnerstagabend bis Montagmorgen im Bett gelegen hatte. Auch das nicht weiter überraschend. Als Lewin vor zwanzig Jahren mit einem Kollegen dieses Falschparkers gesprochen hatte, hatte dieser sich daran erinnert, dass der Kranke schon am Freitagmorgen auf der Wache angerufen und darum gebeten hatte, dass einer der Kollegen sein Auto aus dem Parkverbot entfernte. Den Schlüssel könnten sie in seiner Wohnung oben im Torsviksväg holen. Aber so weit war es nie gekommen. Plötzlich hatten sie Wichtigeres zu tun gehabt, als sich mit falsch geparkten Autos zu beschäftigen. Es gab ein deutliches Muster in Matteis Material über die qualifizierteren Irren. Die Auskünfte stammten fast immer aus den Hinweisen diverser Informationsquellen. Nur sehr wenige der potentiellen Palmemörder waren dort aufgrund von Informationen gelandet, die aus der polizeilichen Ermittlungsarbeit stammten. Der immer wieder erwähnte Grund, aus dem sie in der Palmeermittlung gelandet waren, war, dass sie alle Olof Palme gehasst und das gege176
nüber ihnen nahestehenden Personen auch erwähnt hatten. Diese Personen hatten sich später bei der Polizei gemeldet, in der Regel kurz nach dem Mord am Ministerpräsidenten, und hatten von ihrem seltsamen Freund, Bekannten, Nachbarn, Kollegen, Exmann, Lebensgefährten und so weiter berichtet, der die Absicht geäußert habe, ihn zu ermorden. Auffällig oft hatten sie ihn erschießen wollen, und immer mit einer Waffe, zu der sie legalen Zugang hatten. Jäger, Schützen, Paramilitärs, Waffensammler. Auch ihre Qualifikationen waren nicht gerade überwältigend. Klare Psychofälle, registrierte Drogensüchtige und Berufskriminelle hatte Mattei von Anfang an aussortiert. Blieben einige hundert verwirrte alleinstehende Männer, oft Rechthaber, fast immer mit gescheiterten Beziehungen, in der Regel in ihrer Nachbarschaft verschrien. Fast nur Männer schwedischer Herkunft. Zuwanderer zum Beispiel der »Kanake«, von dem Zeugin 3 unten in der David Bagares gata angeblich angerempelt worden war - machten eine klare Minderheit aus. Hier war die Rede von Schweden. Solchen, mit denen man nur sprach, wenn sich das nicht vermeiden ließ, um sie nicht unnötig zu reizen. »Ich bin zu hundert Prozent davon überzeugt, dass Tore Andersson Olof Palme ermordet hat. Er hat mir mehrmals einen schwarzen Diplomatenkoffer mit einem Revolver gezeigt und gesagt, dass er Olof Palme erschießen will. Zuletzt ist das eine Woche vor dem Mord passiert, und ich weiß, dass er in Stockholm war und eine Tante auf Söder besucht hat an dem Wochenende, an dem Palme ermordet worden ist. Tore hat bei der Arbeit immer wieder über Palme geflucht. Er war außerdem ganz sicher, dass Palme für die Russen spionierte. Tore stimmt außerdem mit der Beschreibung des Täters überein. Er ist kräftig, an die eins achtzig, dunkel und vierundvierzig Jahre alt. Tore ist ein ziemlicher Einzelgänger...« »Stefan Nilsson hat Olof Palme ermordet. Er hat ein ausgeprägt rechtsextremes Profil und ist sehr exzentrisch und exhibitionistisch. Zugleich ist er ein so genannter einsamer Wolf, und soviel ich weiß, war er noch nie mit einer Frau zusammen. Er ist einundvierzig Jahre alt, und in seiner Diele gibt es einen Kleiderschrank, in dem er mehrere Schusswaffen aufbewahrt. Als Palme vor ungefähr einem 177
Jahr hier zu einer Konferenz war, hat Stefan Palmes Hotel aufgesucht, weil er wissen wollte, auf welchem Zimmer der wohnte...« »Nach langer Überlegung möchte ich Folgendes mitteilen. Mein Exfreund ist nach seiner Lehre als Wachmann nach Stockholm gezogen und hat dort eine Stelle bei einer Wachgesellschaft angenommen. Seit mehreren Jahren wohnt er offenbar in Gamla stan, ganz in der Nähe der Straße, in der Palme gewohnt hat...« Mattei hatte ein einfaches Raster, das sie gegen diese Auskünfte hielt - an die vierzig, eins achtzig groß, dunkle Haare mit blonden oder grauen Einsprengseln, relativ kräftig gebaut, gute Ortskenntnisse, hat Zugang zu legalen Waffen ... -, und in einem Takt von etwa einem Dutzend pro Stunde hatte sie die Akteneinträge zur Seite gelegt. In neun von zehn Fällen bestand das von ihren Kollegen angelegte Ermittlungsprotokoll nur aus solchen Meldungen. Einem Brief, oft anonym, einem Anruf oder sogar einem persönlichen Besuch bei der Polizei. Oft mit Hilfe eines Vermittlers. Die Quelle wollte nicht riskieren, selbst in Erscheinung zu treten, denn dann würde der Täter ja sofort wissen, wer ihn verpfiffen hatte. In neun von zehn Fällen war sonst nichts weiter geschehen. In einem von zehn Fällen war etwas geschehen. Die Polizei hatte den Angeschwärzten in mehreren Registern eingetragen, er und sein Bekanntenkreis waren vernommen worden. In einigen Fällen hatte man ihn sogar beschattet. Unklar weshalb, denn diese Personen ähnelten etlichen anderen bis zum Verwechseln, und bei denen war lediglich der Hinweis registriert worden, hatte eine Aktennummer erhalten, ein neuer Ermittlungsvorgang war gebucht worden, das Papier war in einen Ordner geheftet und der Ordner war ins Regal gestellt worden. Was soll das denn bloß?, dachte Lisa Mattei und seufzte. Der einzige Trost war, dass keiner besondere Ähnlichkeiten mit dem Täter aufwies, über den Lars Martin Johansson und Anna Holt gesprochen hatten. Keine scharfe, totale Konzentration, keine rücksichtslose Fähigkeit zur praktischen Handlung, keine Ortskenntnisse, 178
keine interessanten Kontakte. Blieb die zufällige Begegnung mit dem Opfer, bei dem die Wahrscheinlichkeiten so gering waren, dass sie sich kaum berechnen ließen. Der Zufall eben, dem Johansson und Holt schon früh die Tür gewiesen hatten. Warum um Himmels willen sollte ein Mensch, der sein ganzes Leben in einem kleinen Ort in Nord Värmland verbracht hatte, sich plötzlich ins Auto setzen und die fünfhundert Kilometer nach Stockholm fahren, dort umherwandern und dann ganz unerwartet auf den Menschen stoßen, den er von allen am allermeisten hasste? Er war an diesem Wochenende nicht zu Hause gewesen. Hatte vor seinem Aufbruch mit niemandem gesprochen. Bei seiner Rückkehr hatte er total verändert gewirkt. Er hatte Bekannten gegenüber Andeutungen fallen lassen... er hatte einem von ihnen seine Waffe gezeigt... Aber mich lässt du kalt, dachte Mattei und verstaute ihn wieder in dem Ordner, in dem er schon die ganze Zeit gelegen hatte.
27 Schon am Donnerstagnachmittag hatte Bäckström die ihm von Johansson zugeteilte Gnadenfrist ausgeschöpft. Das war eine schnell eskalierende Aktivität, bei der Bäckström sich bei jedem neuen Telefonat mehr nach Bäckström anhörte und beim letzten vollkommen die Contenance verlor. Der pure Telefonterror, und Johanssons Sekretärin hatte ihn nicht nur satt. Sie hasste ihn inzwischen von ganzem Herzen. Und jetzt pass auf, du kleiner Fettsack, dachte sie, als sie an Johanssons Tür klopfte. Jetzt kommt Väterchen und holt dich, du kleiner Fettsack, dachte Lars Martin Johansson fünf Minuten später. Dann rief er Holt an und bestellte sie umgehend zu sich. »Er hat Helena als Frustfotze bezeichnet?«, fragte Holt zehn Minuten später entgeistert. »So ist es«, sagte Johansson. »Das haben wir auf Band. Zusammen mit allen anderen Unverschämtheiten, die er abgesondert hat.« 179
»Wenn er das getan hat, dann muss er sofort vom Dienst suspendiert werden«, sagte Holt. »So ist es«, sagte Johansson und zuckte mit den Schultern. »Sprich mit unserem Juristen, wenn du das für nötig hältst. Mach, was du willst. Koch Leim aus dem Arsch, wenn du willst. Aber vorher will ich wissen, was er will, und wenn ich das weiß, will ich, dass er aufhört anzurufen.« »Dafür werde ich sorgen«, nickte Holt. »Aber bevor ich das mache, gibt es da noch etwas, worüber ich mit dir sprechen möchte.« »Ich bin ganz Ohr«, sagte Johansson. »Voller Spannung«, fügte er hinzu. »Ich habe mit einem alten Bekannten von dir gesprochen. Kollege Berg, der bei der Streife in Västerort arbeitet.« »Was heißt schon Bekannte?«, wiegelte Johansson ab und wirkte nicht mehr so belustigt. »Der einzige Berg, den ich kenne, ist tot. Erik Berg, sein Onkel. Mein Vorgänger bei der Säpo und ein hervorragender Polizist. Ganz anders als dieser Nazi, mit dem er unglücklicherweise verwandt war.« »Ich habe seine Personalakte gelesen, die ich im Palmematerial gefunden habe«, sagte Holt. »Aber darüber wollte ich gar nicht mit dir reden.« »Du möchtest seine Version von dem wiedergeben, was vor über zwanzig Jahren eines Abends in U-Haft passiert ist?«, sagte Johansson. »Genau«, sagte Holt. »Das brauchst du nicht«, sagte Johansson und zuckte mit den Schultern. »Ich habe die schon über Umwege gehört. Wenn es dich aber interessiert, kann ich dir erzählen, warum ich mich damals so verhalten habe.« »Das wäre gut«, sagte Holt. »Na gut«, sagte Johansson, und dann erzählte er, warum er Berg vor über zwanzig Jahren in seiner Zelle besucht hatte, nur ein halbes Jahr vor dem Mord am Ministerpräsidenten. Obwohl das nichts mit dem Fall zu tun hatte. Die Vernehmungen dauerten nun schon den dritten Tag. Berg wurde mit einer Vielzahl von schwerwiegenden Verdachtsmomenten konfrontiert. Sachliche Gegenargumente fehlten. Alles hing an einem seidenen Faden, meinte Johansson. 180
»Der Scheißkerl hing an einem seidenen Faden, kurz gesagt. Am frühen Morgen hatte er unentwegt beteuert, was er doch für ein tüchtiger Polizist sei, und er hatte über seinen Vater gefaselt und darüber, wie viel der ihm bedeutet hätte und wie er sein Leben im Dienst geopfert hätte und dieses ganze Gelaber. Seinen Vater habe ich niemals kennengelernt, aber mir ist schnell aufgegangen, dass der Apfel da nicht weit vom Stamm gefallen war. Und der Alte hatte gesoffen wie ein Loch. Faul, unfähig, Drückeberger, kleinkriminell, hat seine Frau misshandelt und gesoffen... und Polizist. So was können wir nicht zulassen, Anna.« »Aber warum hast du seinem Sohn die Untersuchungsakten gezeigt?«, fragte Holt. »Dazu komm ich gleich«, sagte Johansson. »Um ihm zu zeigen, dass wir uns dieses Gelaber sparen könnten. Um ihm den Boden unter den Füßen wegzuschlagen. Aber es war keine Neuigkeit für ihn. Er wusste hundertprozentig schon lange, was wirklich passiert war, als sein geliebter Vater den Löffel abgegeben hatte.« »Dann hatte es doch keinen Sinn, ihm das zu erzählen«, wandte Holt ein. »Natürlich hatte es das«, sagte Johansson. »Der Sinn bestand darin zu zeigen, dass er das nicht als Einziger wusste. Und es hat gewirkt, wenn du mich fragst. Wenn er die Wahl gehabt hätte, hätte er wahrscheinlich alles Mögliche gestanden, nur um sich nicht anhören zu müssen, dass ich die Wahrheit über seinen Papa kannte.« »Ich finde es trotzdem grausam und überflüssig«, bemerkte Holt. »Verstehe«, sagte Johansson. »Ich sehe das nicht so. Einer wie Berg hätte niemals Polizist werden dürfen. Und sein Vater auch nicht, und wenn ich ihm etwas Besseres vor den Latz hätte knallen können als seinen Helden, dann hätte ich das viel lieber genommen.« »Du hast nie Angst gehabt, er könnte sich das Leben nehmen?« »Nicht im Geringsten«, sagte Johansson. »Leider. Er ist so einer, der lieber anderen das Leben nimmt. Wenn es um ihn selbst geht, ist er dagegen sensibel und verständnisvoll.« »Ich glaube, er hat sich ganz schön geändert. Ich bin ziemlich sicher, dass er heute ein ganz anderer und besserer Mensch ist.« »Glaube ich nicht eine Sekunde lang«, widersprach Johansson. »Du dagegen bist ein guter Mensch. Eine hervorragende Polizistin, 181
eine sympathische Person. Zu schwach für solche wie Berg, weil du einfach zu lieb bist.« »Und was ist mit dir?«, warf Holt ein. »Berg zufolge...« »Ich weiß«, fiel Johansson ihr ins Wort. »Und wenn du das unbedingt wissen willst: Ja, ich bin ein konsequenter Mensch. Gut zu den Guten, hart zu den Harten, böse zu den Bösen. Und vor langer Zeit, als ich mich daran auch gehalten habe, war ich ein hervorragender Polizist. Einer von den allerbesten sogar. Aber wenn du dir solche Sorgen um meinen Charakter machst, dann verstehe ich nicht, warum du nicht Lewin fragst, was er von Berg hält.« »Lewin?« »Kollege Jan Lewin war damals dabei. Er war bei den Vernehmungen dabei an dem Tag, als ich Berg in der Zelle besucht habe.« »Aber in der Zelle war er nicht dabei«, sagte Holt. »Nein«, sagte Johansson. »Das hätte ich ihm nicht mal im Traum zugemutet, aber wenn du dir eigentlich nur Sorgen wegen deines Stelldicheins mit dem kleinen Scheißkerl Bäckström machst, dann kann ich das auch selbst erledigen.« »Nein«, sagte Holt. »Das schaff ich.« »Hervorragend«, sagte Johansson. »Find heraus, was er will, und danach kannst du Leim aus dem Arsch kochen. So einer wie Bäckström dürfte auch nicht bei der Polizei sein.« Was ist denn eigentlich los?, überlegte Bäckström. Da versucht man nun, den unfähigen Kollegen dabei zu helfen, endlich Ordnung in die Palmeermittlung zu bringen, und das Einzige, was passiert, ist, dass sie einem die Polizei auf den Hals hetzen. Noch dazu diese Null, die sein Vorgesetzter bei der Diebesgutfahndung war. »Wie gesagt, Bäckström. Du sollst dich unverzüglich bei Hauptkommissarin Holt von der Zentralen Kriminalpolizei einfinden«, sagte Bäckströms Chef. Der beste Tag seit langer Zeit, dachte er. Endlich die berechtigte Hoffnung, diesen kriminellen kleinen Drecksack loszuwerden, den sein unmittelbarer Vorgesetzter ihm aufs Auge gedrückt hatte. »Wenn die mit mir reden will, dann kann sie ja wohl herkommen«, fauchte Bäckström. Scheißlesbe, dachte er. »Wie gesagt, Bäckström. Das ist kein freundlicher Wunsch meinerseits. Das ist ein Befehl. Du hast dich unverzüglich bei Polizei182
hauptkommissarin Anna Holt von der Zentralen Kriminalpolizei einzufinden«, wiederholte Bäckströms Chef. Der beste Tag im ganzen Sommer und ich wüsste ja zu gern, was er diesmal wieder angestellt hat, dachte er. »Hallo?«, sagte Bäckström und hob abwehrend die Hand. »Die kann mir ja wohl keinen Befehl erteilen. Ich arbeite doch in Stockholm. Hat die Zentralkrim jetzt schon den Polizeidistrikt Stockholm übernommen, oder was? Hatten wir einen Scheißmilitärputsch?« »Wie gesagt, Bäckström. Der Befehl stammt von mir. Ich arbeite hier, falls dir das entgangen sein sollte. Ein dienstlicher Befehl. Du hast dich unverzüglich bei Polizeihauptkommissarin Holt von der Zentralen Kriminalpolizei einzufinden.« Das hier wird ja immer besser, dachte er. »Ich werd's mir überlegen«, versprach Bäckström. »Und jetzt musst du entschuldigen...« »Du gehst jetzt, Bäckström«, sagte sein Chef. »Sonst fürchte ich, du kannst heute in der Zelle übernachten.« »Jetzt komm aber mal runter. Wieso das denn?« Was redet der Trottel da nur?, dachte er. »Johansson«, sagte sein Chef. »Holt hat in seinem Auftrag angerufen.« Der Schlächter von Ädalen, dachte er, und es war absolut der beste Tag seit seiner allerersten Begegnung mit Bäckström. »Warum hast du das nicht sofort gesagt?«, sagte Bäckström und erhob sich. Endlich kapiert dieser Scheißlappe, was gut für ihn ist, dachte er. »Wo ist Johansson?«, fragte Bäckström zehn Minuten später Anna Holt, als er sich im Sessel breitgemacht hatte. Du mageres kleines Elend, dachte er. »Hier jedenfalls nicht«, sagte Holt. »Du redest jetzt mit mir.« »Ich will aber lieber mit Johansson reden«, sagte Bäckström. »Das habe ich schon verstanden«, sagte Holt. »Aber es ist nun einmal so«, fügte sie hinzu. »Entweder redest du mit mir und erzählst mir, was du willst. Wenn du das nicht willst, dann trennen sich unsere Wege hier, und du hörst sofort auf, Johanssons Sekretärin zu schikanieren. Ansonsten werden wir eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen dich einreichen, wegen mehrfacher Bedrohung, sexueller Belästigung und schwerwiegenden Dienstvergehen, und vermutlich wirst du dann gleich heute zur Vernehmung geholt.« 183
»Komm mal runter, Holt«, sagte Bäckström. Was redet diese Lesbe da, zum Teufel?, dachte er. »Wir haben alle deine Anrufe auf Band«, erläuterte Holt. »Unser juristischer Berater hat sie sich schon angehört. Seiner Ansicht nach ist das mehr als genug für einen Haftbefehl.« »What's in it for me«, sagte Bäckström. Also echt, Leute heimlich aufnehmen? Das ist doch kriminell, zum Teufel, dachte er. »Nicht sehr viel, fürchte ich«, sagte Holt. »Du wirst unter Verdacht gestellt, aus dem Dienst genommen, wegen sexueller Belästigung, Bedrohungen und anderer Dinge verurteilt werden. Glaub mir, Bäckström. Ich habe dich auf Band gehört. Danach wirst du gefeuert werden. Die Alternative ist, dass du aufhörst, Johansson anzurufen, und mir erzählst, was du auf dem Herzen hast. Möglicherweise kann ich Johansson dann überreden, von einer Anzeige gegen dich abzusehen.« »Schon gut, schon gut«, wehrte Bäckström ab. »Es ist Folgendes. Ich habe von einem meiner Leute einen Tipp bekommen, der sich auf die Waffe bezieht, mit der Palme erschossen wurde.« »Das klingt wie etwas, worüber du mit Flykt reden solltest«, sagte Holt. »Klar«, sagte Bäckström. »Damit alle Welt das morgen in der Zeitung lesen kann.« »Es sind hunderte von Hinweisen zur Tatwaffe eingegangen«, sagte Holt. »Aber das weißt du sicher genauso gut wie ich. Was ist also das Besondere an diesem hier?« »Alles«, sagte Bäckström mit Nachdruck. »In erster Linie der Informant selbst.« »Und wie heißt der?«, fragte Holt. »Vergiss es, Holt. Ich würde nicht mal im Traum einen meiner Informanten verraten. Dann geh ich lieber in den Knast. Lass meinen V-Mann in Ruhe. Es reicht ja wohl, dass der V-Mann den Namen des Waffenhalters kennt«, sagte Bäckström. »Des Täters?«, fragte Holt. »Des Mannes, der damals die Waffe hatte«, erklärte Bäckström. »Die Spinne im Netz, sozusagen.« Da hast du was zu lutschen, du essgestörte kleine Sau, dachte er. »Sag mir einen Namen.« »Vergiss es«, sagte Bäckström und schüttelte den Kopf. »Du würdest mir ja doch nicht glauben.« 184
»Mach einen Versuch, Bäckström«, sagte Holt und schaute auf die Uhr. »Na gut«, sagte Bäckström. »Deine Schuld, Holt, aber meinem Mann zufolge sieht es also so aus, und wer das ist, kannst du einfach vergessen. Ich weiß, wer er ist. Es ist ein weißer Mann. Also vergiss ihn.« »Ich bin ganz Ohr«, sagte Holt. »Erzähl mir, was dir dein anonymer Informant erzählt hat. Was er über die Waffe gesagt hat, von wem er redet und wieso er weiß, wovon er redet.« Ein weißer Mann, dachte Holt.
28 Der Sonderberater wohnte in einer palastähnlichen Villa im uppländischen Vorort Djursholm, dem Ort im Speckgürtel der Königlichen Hauptstadt mit dem höchsten Fettgehalt. An die zwanzig Zimmer, siebenhundert Quadratmeter, Stein, Schmiedeeisen, Ziegel und Kupfer. Asphaltierte Auffahrt von hundert Metern, ein Hektar Rasenfläche, schattige Eichen, die die Aussicht jedoch nicht verdarben. Natürlich keine vulgäre Strandlage, erhöht und so günstig gelegen, um die Morgensonne und den freien Blick über Värtan und das Lidingöland im Osten genießen zu können. Der Sonderberater würde nicht im Traum auf die Idee kommen, unten in Framnäsviken zu baden, wo die IT-Milliardäre und die Immobilienhaie Hofhielten. Offiziell wohnte er nicht einmal dort, wo er wohnte. Die Villa gehörte seiner ersten Frau - »klug wie ein Pudel und treu wie ein Hund« -, die sie vor fünfunddreißig Jahren gekauft hatte, nur wenige Monate, bevor sie sich von ihrem damaligen Mann, der immer dort gewohnt hatte, hatte scheiden lassen. Kein schlechtes Geschäft für eine junge Frau, die als Sekretärin bei der Armeeleitung in Gärdet arbeitete, damals im Monat 3000 Kronen verdiente und offenbar nicht eine Krone leihen musste, um das Geschäft abzuschließen. Der Sonderberater selbst war auf Söder gemeldet. In einer schlichten Mietwohnung mit zwei Zimmern, und er stand sogar im Telefonbuch. Alle, die es nicht besser wussten, konnten dort anrufen und sich mit seinem Anrufbeantworter unterhalten oder Briefe 185
schicken, die niemals beantwortet wurden. Der Sonderberater zog ein Leben im Verborgenen vor. Zusammengesetzt aus den vielen Einzelgeheimnissen, über die die wirklich Eingeweihten so gern sprachen, und er selbst goss dann auch noch gern Öl ins Feuer. Gerüchte wollten wissen... dass der Sonderberater unvorstellbar reich sei. Zugleich fehlte ihm ein besteuerbares Vermögen. Er führte nichts ab, und sein offizielles Vermögen stimmte auf die Krone überein mit dem Gehalt, das er jetzt seit fast dreißig Jahren in der Regierungskanzlei bezog. »Ich begreife nicht, was dieses Gerede soll. Ich bin ein ganz normaler Arbeitnehmer. Ich war immer schon sparsam, aber davon wird man auch nicht reich.« Gerüchte wollten wissen ... dass der Sonderberater eine Kunstsammlung besaß, bei der der Bankier Thiel und Prinz Eugen vor Neid grün anlaufen würden. »Ist doch nett, ein wenig Farbe an der Wand zu haben. Das meiste hab ich von meiner ersten Frau geliehen.« Derselben Frau, die dreißig Jahre zuvor in die Schweiz übergesiedelt war und schweigsam war wie ein stummer Fisch. Zugleich unvorstellbar reich, den offiziellen Auskünften zufolge, die die Schweizer Behörden nur sehr ungern erteilten. Gerüchte wollten wissen... dass der Sonderberater einen Weinkeller hatte, der, abgesehen vom Inhalt, nur noch mit Ali Babas Schatzhöhle zu vergleichen war. »Ich trinke am Wochenende gern ein gutes Glas Wein, vor allem, wenn Freunde dabei sind. Da ich äußerst mäßig trinke, ist es klar, dass sich im Laufe der Jahre ein paar Flaschen angesammelt haben.« Der Sonderberater war schon als Gymnasiast in die sozialdemokratische Partei eingetreten. In seiner Brieftasche bewahrte er noch immer sein erstes Parteibuch auf, kein Foto, nur sein Name, der Ortsverband, dem er angehörte, und alte handschriftliche Quittungen der pünktlich bezahlten Mitgliedsbeiträge. »Das zeichnet uns echte Sozialdemokraten aus. Dass bei uns Herz und Brieftasche links sitzen.« Er selbst zeigte gern den Beweis vor, den er in der linken Innentasche aufbewahrte, und vermutlich war alles wahr. Den knappen Auskünften des staatlichen Nachschlagewerkes Wer ist Wer, dem Schwedischen Nachschlagewerk und der Nationalenzyklopädie zufolge war er 1945 in Stockholm geboren, hatte 1970 an der Universität von Stockholm in Mathematik promoviert 186
und war 1974 zum Professor ernannt worden. Im folgenden Jahr war er als Berater in die Regierungskanzlei berufen worden, »Berater in der Regierungskanzlei, 1975-76«, war dann während der bürgerlichen Regierungszeit 1976-1982 auf seinen Lehrstuhl zurückgekehrt, war 1982-1991 als »Sonderberater zur Verfügung des Ministerpräsidenten« tätig, hatte während der dreijährigen bürgerlichen Regierungszeit als Gastprofessor am MIT unterrichtet, war dann zurückgekehrt als »Staatssekretär 1994-2002«. Danach hatte er offenbar zurückgerudert, als »Berater in der Regierungskanzlei seit 2002«. Darauf folgte eine kurze Aufzählung seiner wichtigeren akademischen Posten, »Vorstandsmitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften seit 1990«, »Visiting Professor an der MIT 199194«, »Honorary Fellow am Magdalen College, Universität von Oxford, seit 1980«. In dem Land, in dem er lebte, gab es keinen wie ihn, es dürfte jedenfalls keinen geben, und schon lange zehrte er von dem Mythos, der ihn umgab. Der Sonderberater, Schwedens Antwort auf Kardinal Richelieu, der höchste Sicherheitsverantwortliche des Ministerpräsidenten, der verlängerte Arm der Macht oder einfach Die Macht? In einem seiner wenigen Zeitungsinterviews hatte er sich beschrieben als »einfachen Jungen von Söder, auf den immer Verlass gewesen ist«. Was er heute Abend wohl auftischen wird, überlegte Johansson, als sein Taxi vor dem Haus hielt, in dem sein Gastgeber nicht wohnte. Der Sonderberater empfing ihn unter dem Kristallleuchter in der Eingangshalle und das auf überaus südländische Weise. »Schön, dich zu sehen, Johansson«, sagte er, stellte sich auf die Zehenspitzen, umarmte seinen Gast und deutete zwei Wangenküsse an. »Lass dich ansehen.« Dann trat er einen Schritt zurück, aber ohne Johanssons Hand loszulassen. »Du siehst aus wie das blühende Leben, Johansson«, sagte er dann. »Nett von dir«, sagte Johansson und lächelte, während er zugleich seine Hand aus dem feuchten Griff des Sonderberaters befreite. »Dir geht es auch gut, hoffe ich?« Aber du siehst furchtbar aus, und was in aller Welt hast du da eigentlich an, dachte er. 187
Der Sonderberater war etwas kleiner als der Durchschnitt. In der Schule war er ein molliger kleiner Wicht gewesen, der aus unerfindlichen Gründen niemals gemobbt worden war. Als Erwachsener war er zuerst äußerst korpulent gewesen, dann fett und jetzt kugelrund. Ein runder Rumpf mit spindeldürren Armen und Beinen, gekrönt von einem gepflegten Kopf mit üppigen grauen Haaren, die über seinen großen Ohren nach allen Seiten abstanden. Sein Gesicht war tiefrot, bestand vor allem aus einer Stirn und einer Nase, die einen Conquistador geziert hätten. Die Augen waren groß und von klarem Blau, gut verschanzt hinter schweren Lidern und schwellenden Hamsterbacken, dann gab es die imposante Nase, einen runden Schmollmund mit feuchten Lippen wie denen eines kleinen Kindes, dann einen natürlichen Übergang zu drei fliehenden Kinnen, die unter dem Hemdkragen Schutz suchten. Insgesamt war er einwandfrei ein Mensch, der einen großen Vorrat an inneren Werten besitzen musste. Zur Feier des Tages trug er ein absolut unwahrscheinliches Ensemble aus grünem Samt. Ausgebeulte Hose ohne Bügelfalte, grüne Jacke mit blankem Revers, zusammengehalten um seinen Leib von einer dicken geflochtenen Seidenschnur. Dazu ein Smokinghemd mit schwarzer Fliege und ein Paar mit Gold bestickte Samtpantoffeln. »Danke der Nachfrage«, entgegnete der Sonderberater. »Mir geht es ganz vortrefflich, so wie ich es verdiene. Wie einer in Gold gefassten Perle. Aber du selbst, Johansson, du entwickelst dich neuerdings ja zum reinen Athleten. Wirst bald aussehen wie dieser Gunde Svan, dieser Skiläufer oder Hürdenläufer, du weißt schon«, sagte er mit einer kleinen Bewegung der linken Hand. »Wollen wir uns einen Moment hinsetzen und uns erfrischen, während meine liebe Haushälterin letzte Hand anlegt?« Danach führte er Johansson mit einladender Geste über viele knarrende Parkettböden zu einem kleinen Büffet, auf dem allerlei Appetithäppchen, eine gigantische Wodkakaraffe aus geschliffenem Kristall, Champagner und Mineralwasser in Tischkühlern aufgestellt waren. Vor allem Belugakaviar, Entenleber und Wachteleier, und warum das kurze Leben mit Belanglosigkeiten vergeuden? Zum 188
Beluga hatte er weiterhin freien Zugang durch einen seiner Kontakte aus der »bösen alten Zeit«, der sich jetzt in Kiew überaus erfolgreich als Unternehmer betätigte. Die Wachteleier bekam er von einem Bekannten in Sörmland, »Graf und jagdinteressierter Grundbesitzer«, der ihn außerdem mit Fasanen, Stockenten, Schneehühnern und Blässhühnern versorgte. Dazu natürlich auch mit jeder Art von »Großwild«. Wie Elchfilets, Hirschbraten, Wildschweinkoteletts und Rehrücken. Die Entenleber kaufte seine Haushälterin bei einem Delikatessenverhöker auf Östermalm. Mit Gänseleber hatte er inzwischen aufgehört. Sie war zu fett, um unter risikofreien Umständen konsumiert zu werden. Außerdem die reinste Tierquälerei, wenn man sich die Herstellungsmethode ansah. Bier trank er auch nicht mehr, nicht gut für Magen und Leber, und im goldenen Mittelalter, in dem er und Johansson sich nunmehr aufhielten und betätigten, mussten sie darauf achten, was sie in sich hineinstopften. »Vorsicht und hohe Präzision sollten auch das Vergängliche kennzeichnen«, erklärte der Sonderberater. »Wasser, Wodka, Champagner und dazu eine kleine Kostprobe. Prost!«, sagte er und hob sein beschlagenes Glas. »Prost!«, erwiderte Johansson. Laber laber laber, dachte er. Nach zwei anständigen Schnäpsen, Mineralwasser, zwei Glas Champagner und etwa einem Dutzend Appetithäppchen war die Zeit gekommen, sich zu Tisch zu begeben und sich dem Ernst der Lage zu stellen. Diesmal keine Schlamperei, sagte der Sonderberater und verzog energisch sein feuerrotes Gesicht. An diesem Abend wollte er Johansson für frühere frugale Bewirtungen entschädigen und ihm eine »richtig altmodische gutbürgerliche Mahlzeit« auftischen. Nachdem Johansson seine Einladung angenommen hatte, hatte er etliche »besondere, flankierende Maßnahmen« in die Wege geleitet, um das erwünschte Resultat zu garantieren. Es sei zwar Donnerstag, aber Johansson brauche weder Erbsen noch Speck zu fürchten. Und schon gar keine Pfannkuchen mit Marmelade. Das hatte der Sonderberater vor mehreren Jahren zum letzten Mal bei einem Mittagessen im Verteidigungsministerium zu sich nehmen müssen. Unter stummem Protest, aber leider im Dienst und damit ohne jede Wahl. Schon gegen Ende dieser barbarischen Veranstaltung hatten ihn Winde gequält, und an den folgenden Ta189
gen hatte er zu Bett liegen müssen, mit Blähungen und Fieber und in elendem Zustand, und ohne das Diätprogramm, das seine umsichtige Haushälterin sofort aufgestellt hatte - jede Menge Fernet Branca, gekochter Fisch, leichte Weißweine, Mineralwasser ohne Kohlensäure -, hätte es ein wirklich böses Ende nehmen können. »Wie kann man es zulassen, dass das Verteidigungsministerium unsere bewaffneten Truppen auf eine solche Weise herausfordert?«, fragte der Sonderberater und warf seinem Gast einen erbosten Blick zu. Seiner Ansicht nach war das der pure Verrat, und egal, ob scharf geschossen wurde oder nicht, so hätten die Verantwortlichen vors Kriegsgericht gehört und unverzüglich füsiliert werden müssen. Wenn der Sonderberater was zu sagen hätte, natürlich nur. Oder, noch besser, sie hätten mit einem stumpfen, rostigen Beil enthauptet werden müssen, da sie auch noch die Frechheit besessen hatten, zu den Erbsen Glühwein zu servieren. Essen, wie nur Barbaren es hinunterwürgen können, und für den Sonderberater war es kein Zufall, dass Hermann Göring angeblich Erbsen mit Speck und Pfannkuchen mit Schlagsahne und Marmelade über alles geliebt haben soll. Ganz zu schweigen vom Glühwein. Laber, laber und laber, ich esse das tatsächlich auch sehr gern, dachte Johansson. Die »flankierenden Maßnahmen« seines Gastgebers wurden deutlich, als Johansson die Schwelle zum Speisesaal überschritt. Am Esstisch des Sonderberaters hatten vierundzwanzig Gäste Platz, auch das, dem Gastgeber zufolge, eine gute alte bürgerliche Sitte. Jetzt waren an einem Tischende zwei Gedecke aufgelegt. Der Sonderberater an der Stirnseite, der Gast zu seiner Rechten. Angenehmer Gesprächsabstand ohne Gefahr zu laufen, sich gegenseitig zu bekleckern. Auf ihren Tellern lagen kunstfertig gefaltete Damastservietten sowie gedruckte Menüs, eine Batterie von Gläsern aus geschliffenem Kristall und eine Unmenge von Silberbesteck umgaben die Gedecke. Nur der Gastgeber und sein Gast an einem Tisch, der für vierundzwanzig Personen Platz bot. Ansonsten aber war der Tisch vollständig gedeckt, mit blendend weißer Leinendecke, Kerzenständern, Tischaufsätzen und Blumenarrangements. Zur Feier des Abends hatte die Haushälterin des Sonderberaters einen Gehilfen in Gestalt eines Oberkellners erhalten, der in schwarzem Frack und voller Montur abwartend im Hintergrund stand. 190
»Hokus pokus fidibus«, sagte der Sonderberater zufrieden, rieb sich die fetten Hände und setzte sich, nachdem der Oberkellner ihm den Stuhl zurechtgerückt hatte. Johansson musste allein Platz nehmen, und vermutlich war das seine eigene Schuld. Als die Haushälterin seines Gastgebers angestürzt kam, um ihm behilflich zu sein, schüttelte er nur abwehrend den Kopf und setzte sich. Schnell schob er den Stuhl an den Tisch und griff, da er keinen Strohhalm hatte, nach seiner Serviette. Ein einfacher Junge aus Näsäker, hoffentlich nimmt sie das nicht übel, dachte Johansson. Seine Mutter Elna hätte sich niemals träumen lassen, ihrem Mann oder ihren sieben Kindern, als die groß genug geworden waren, den Stuhl zurechtzurücken. Dagegen hatte sie oft am Herd gestanden, während die anderen aßen. Hier ist es aber komplizierter, dachte Johansson, und an dem Tag, an dem er nicht mehr Manns genug wäre, sich zu setzen, würde vermutlich auch mit fast allem anderen Schluss sein, dachte er. Ein Essen mit neun Gängen, zu jedem Gang ein anderer Wein, und schon beim einleitenden Consommé aus Hummer, feingeschnittener Zwiebel und Erbsen hatte der Sonderberater mit dem Monolog begonnen, der seine eigene Variante der gebildeten Konversation war, die man bei einem gutbürgerlichen Essen eben zu führen hatte. Zuallererst hatte er sich jedoch bekleckert. Wie es glückliche Kinder immer schon getan haben und ohne es zu bemerken. »Ich sehe, du bewunderst meinen Smoking, Johansson«, sagte der Sonderberater und seufzte zufrieden, während er den Löffel sinken ließ und zu einem ersten Vortrag ansetzte. Trotz der Farbe hatte der natürlich nichts mit der französischen Akademie zu tun. Solche kleinen Gesellschaften zur gegenseitigen Bewunderung ließen den Sonderberater kalt. Eine schnöde staatlich finanzierte Garküche für literarische Schöngeister, die in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen ehrlichen Handgriff geleistet hatten. Als Mathematiker war er darüber erhaben, und in seinem Fall war alles sehr viel besser. Es war nämlich dieser besonders bequeme Smoking, den der Berater zum Essen trug, wenn er am High Table im Bankettsaal seiner englischen Alma Mater saß, dem Magdalen College an der Universität Oxford. Gegründet im Mittelalter, 191
als die meisten Nordländer sich noch kaum verständlich ausdrücken konnten, geschweige denn lesen, und natürlich benannt nach Maria von Magdala, der bedeutendsten unter Jesu Jüngerinnen. »Moddlin, auf Englisch Moddlin ausgesprochen, ohne e am Ende«, erklärte der Sonderberater und spitzte wollüstig den Mund. Wie Johansson vielleicht nicht wusste, war er seit vielen Jahren Ehrenmitglied dieses ahnenreichen Colleges. Honorary Fellow, vollwertiges Mitglied des Lehrerkollegiums, aufgrund seiner wissenschaftlichen Meriten innerhalb der Mathematik, aber auch in der eher philosophisch orientierten Wissenschaftstheorie. Im Laufe der Jahre hatten etliche hervorragende Ärzte, Physiker, Biologen und Chemiker, die am Magdalen College studierte hatten, zwei Nobelpreisträger übrigens, alle dankbar die Erkenntnisse genutzt, zu denen der Sonderberater so gut wie allein gelangt war und bei denen es darum ging, komplizierte theoretische Modelle aufzustellen und komplexe empirische Argumentationen zu testen. »Sag Bescheid, wenn ich dich langweile, Johansson«, sagte der Sonderberater. »Durchaus nicht«, sagte Johansson. Besser das, als dass du zu viel trinkst, dachte er und nahm sich vor, bis zu Kaffee und Cognac zu warten, da er aus Erfahrung wusste, dass sein Gastgeber sich dann zumeist in einem kontemplativeren Stadium befand. Schon beim zweiten Gang - Jakobsmuscheln mit Tomaten, Spargel und Avrugakaviar - hatte sein Gastgeber die Wissenschaft jedoch verlassen und sich auf eine Seitenspur begeben. Das Magdalen College besaß nämlich eine besondere Qualität, die es von allen anderen Colleges unterschied, nicht nur in Oxford, sondern auf der ganzen Welt, und die vor allem jemanden wie Johansson ansprechen musste. »Wir haben ein eigenes Wildgehege«, sagte der Sonderberater und lächelte seinen Gast glücklich an. »Das muss dir doch gefallen, Johansson. Als altem Jäger, meine ich.« Mitten auf der mittelalterlichen Hauptstraße dieser bedeutendsten Lehrstätte der Welt, gleich hinter den Hauptgebäuden, ummauert und am Fluss Cherwell gelegen, war von einem der vie192
len Wohltäter des Magdalen vor mittlerweile beinahe dreihundert Jahren ein Wildpark angelegt worden. »Klingt nach Damhirsch«, sagte Johansson. »Wenn du meinst, Johansson«, sagte der Sonderberater mit seiner üblichen Handbewegung. »Solche braunen Dinger mit weißen Flecken an den Seiten. Manche haben auch Hörner«, fügte er hinzu. »Damhirsch«, sagte Johansson. »Ganz bestimmt Damhirsch.« »Whatever«, sagte der Sonderberater, und eigentlich ging es hier im Grunde auch nicht um die Hirsche. Es ging um etwas viel Besseres, und der Sonderberater war mit den vielen Details seiner Geschichte voll und ganz beschäftigt gewesen, während sie den dritten Gang verzehrten, gegrillte Königskrabbe mit Kalbswurst und Kräuterschaum. »Wo war ich denn noch gleich?«, fragte der Sonderberater, während er sich ein wenig Kräuterschaum vom Mund wischte und mit Elsässer Grauburgunder nachspülte, der erfrischend und mineralreich war. »Bei der Anzahl der Hirsche im Wildpark«, half ihm Johansson auf die Sprünge, der wider Willen dieses Thema inzwischen interessant fand. »Genau«, sagte der Sonderberater und tupfte noch einmal mit der Serviette nach. »Wie schon angedeutet...« Im Wildpark sollte es nach dem Willen des Spenders immer genauso viele Hirsche geben, wie das Magdalen College vollwertige Mitglieder aufwies. Derzeit gab es an die sechzig Fellows und Honorary Fellows, und im Park hinter dem Hauptgebäude hielt sich also genau dieselbe Anzahl von Hirschen auf. »Dann hast du also deinen eigenen Hirsch, Bruder?«, sagte Johansson und hob sein Glas. Einen fetten kleinen Racker mit Herzfehler, riesigem Kopf, kurzen Hörnern und dünnen Beinchen. Ungefähr so einen, wie seine Kinder aus Zahnstochern, Pfeifenreinigern und Tannenzapfen gebastelt hatten, als sie noch klein waren, dachte er. »Natürlich«, sagte der Sonderberater ein wenig hochnäsig. »Aber damit nicht genug«, fügte er hinzu. Die Geschichte wurde sogar noch besser, und das alles nur wegen der altehrwürdigen Statuten. Wenn nämlich ein neues Mitglied auf193
genommen wurde, wurde auch der Hirschbestand um ein Tier erweitert. Und wenn ein Mitglied starb, ging der Praetor - der Vertrauensmann der Studenten - in den Park und schoss einen Hirsch, der dann zum Leichenschmaus servierte, den man für jeden Fellow gehalten wurde, der sich vom irdischen Dasein verabschiedete. Der Sonderberater behauptete sogar, gesehen zu haben, wie der Praetor sich an einem frühen Morgen dieser wichtigen Pflicht unterzogen hatte. Ansonsten wurden die Hirsche in Ruhe gelassen. Sie wurden dem pastoralen Frieden anvertraut, der im Park des Magdalen College und in den vielen Sälen der Gelehrten uneingeschränkt herrschte. »Während der Frühwache, wenn der Nebel vom Fluss den Park in weiße Schleier hüllt, kommt der Proctor in seinem langen Mantel und seinem hohen schwarzen Hut, das alte Gewehr in der sicheren Hand. Stell dir den Schuss vor, Johansson, der über dem River Cherwell und der High Street widerhallt«, sagte der Sonderberater und seufzte ebenso wollüstig wie die männliche Hauptperson in irgendeinem Roman der Bronte-Schwestern. Aber das Essen an sich sei dann nicht weiter bemerkenswert, sagte er dann. So ein gewöhnliches, englisches Herrenessen eben, mit Hirschbraten, Bratensoße und zerkochtem Gemüse. Die Weine dagegen waren immer ganz in Ordnung. Dafür hatten nämlich etliche andere Wohltäter gesorgt. Der Weinkeller des Magdalen College gehörte zu den besten in Oxford. Natürlich sei er nicht so wie der des Christ Church College, mit diesen vielen amerikanischen CocaCola-Kindern, arabischen Prinzen und kleinen russischen Oligarchen, aber absolut in Ordnung, das könne ein Kenner wie er nur bestätigen. »Die englische Küche hat wirklich nur wenig gemeinsam mit diesem auserlesenen Glattbuttfilet«, stimmte Johansson zu, nachdem er heimlich auf die Menükarte geschaut hatte, als sie die vierte Etappe des gutbürgerlichen Essens erreicht hatten. Glattbuttfilet mit Topinambur und einem Etouffe aus Krebsschwänzen. »Ganz zu schweigen von diesem phänomenalen Meursault«, pflichtete der Sonderberater ihm bei und hob seinen großen Pokal mit dem fast bernsteinfarbenen Wein. Aus seinem eigenen Keller natürlich und abgesehen von der Menge der Flaschen absolut auf der Höhe dessen, was im Christ Church College in Oxford serviert wurde. 194
»Da ist nur eins, was ich nicht richtig verstehe«, sagte Johansson. »Du bist zu bescheiden«, sagte der Sonderberater. »Wie könnt ihr die Anzahl der Hirsche und die der Kollegmitglieder beibehalten? Wenn ihr die nur dezimiert, wenn einer stirbt«, sagte Johansson. »Wie meinst du das? Erklärung, bitte«, sagte der Sonderberater. Johanssons Einwände gegen den Bericht des Sonderberaters, seine Erklärungen, die Fragen und Gegenargumente seines Gastgebers, diese ganze Diskussion nahm den Rest des Essens in Anspruch, während immer neue Gänge aufgetischt wurden. Die Gläser wurden gefüllt, gehoben und gesenkt. ... Sorbet aus Brombeeren, um den Gaumen zu reinigen, Rehnüsschen, in Butter gebratene Pfifferlinge, gerösteter Blumenkohl, Cumberlandsoße, Käsesouffle, Trüffelbrie mit Apfelgelee, Käsecreme mit eingelegten Pflaumen, Schokoladenterrine, die abschließenden kleinen Gebäcksorten. Die ganze Zeit neue Weine... rote aus Burgund... weiße aus Bordeaux ... von der Rhone und der Loire... während ein unermüdlicher Johansson - wie ein Kavallerieoffizier aus den Tagen des Krimkriegs - seine Attacke gegen den Bericht des Sonderberaters über die Hirsche im Park des Magdalen College in Oxford ritt. Johansson zufolge war das Ganze sehr einfach. Ein Gehege mit etwa sechzig Damhirschen musste mindestens zwanzig fruchtbare Hirschkühe aufweisen, was seinerseits dazu führte, dass man jedes Jahr zum Monatswechsel Juni-Juli mit etwa zwanzig Kälbern rechnen musste. Wenn es das Gehege nun seit dreihundert Jahren gab und wenn nur beim Tod eines Collegemitglieds ein Hirsch geschossen wurde, dann musste die Anzahl der Mitglieder dieser Versammlung inzwischen in die Millionen gehen, was allerdings die genaueren Berechnungen anging, die überließ er dann doch nur zu gern seinem Gastgeber. »Ihr müsst jeden Sommer ein gigantisches Rekrutierungsproblem haben. Die vielen neuen Fellows, die plötzlich ernannt werden müssen«, sagte Johansson mit Unschuldsmiene. Davon könne wirklich nicht die Rede sein, meinte der Sonderberater. Wie man die genaueren Details löste, hatte er sich ei195
gentlich nie überlegt. Dass die Hirsche und ihre Triebe dagegen die Auswahl der Fellows bestimmen sollten, war eine unerhörte Vorstellung. »Und wenn so ein Hirsch stirbt, was dann? Das kommt doch immer wieder vor«, sagte Johansson. Wie löste man dann dieses Problem? Indem ein Fellow vor die Tür gesetzt wurde, oder wurde der Auftrag des Proctors mit dem Gewehr in solchen Fällen erweitert? Auch das sei natürlich ausgeschlossen, meinte der Sonderberater, versprach jedoch, sich genauer darüber zu informieren. »Du bist eben ein richtiger Polizist, Johansson«, sagte er. »Aber sicher doch«, sagte Johansson. »Also, denk mal darüber nach.« Danach bedankte Johansson sich mit einigen wohlgesetzten Worten für die Mahlzeit, und sein Gastgeber hob die Tafel auf, damit sie in aller Ruhe ihr Gespräch in der Bibliothek fortsetzen konnten, bei einer Tasse Kaffee und vielleicht einem Glas oder zwei vom offen gesagt bemerkenswerten Cognac des Sonderberaters. »Frapin 1900«, sagte der Gastgeber mit glücklichem Seufzen. »Ach, was haben wir Reichen es doch gut, Johansson.«
29 Beim Kaffee kamen sie dann endlich zur Sache, und zwar brachte der Gastgeber das Thema zur Sprache. Warum fängst du damit an?, fragte sich Johansson. In seinem Urlaub, von dem er übrigens eine Woche im Magdalen verbracht hatte, um in Ruhe und Frieden über die etwas größeren Fragen nachzudenken, hatte der Sonderberater den schwedischen Zeitungen, die er dort gelesen hatte, entnommen, dass sein Gast der alten Ermittlung im Mord an seinem ersten Vorgesetzten, dem Ministerpräsidenten Olof Palme, neues Leben eingehaucht hatte. Warum, hatte er dagegen nicht begriffen. Er war der festen Überzeugung, dass Christer Pettersson Palme ermordet hatte. Pettersson war nun aber tot. Egal wie, es war also viel zu spät, Zeit für den Schlusspunkt, den Schlussstrich, Zeit zum Weitergehen. »Let bygones be bygones«, fasste er zusammen.
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Johansson aber fand, man solle sich davor hüten, alles zu glauben, was in den Zeitungen stand. Und er habe nur einige Mitarbeiter gebeten, sich die Registrierung des Materials anzusehen. Das sei alles und übrigens allerhöchste Zeit, dass das erledigt würde. »Du glaubst nicht, dass es Christer Pettersson war?«, fiel sein Gastgeber ihm ins Wort. »Wenn du schon so fragst«, sagte Johansson. »Nein. Das habe ich nie geglaubt.« »Aber warum denn nicht, um Himmels willen?«, fragte sein Gastgeber. »Lisbeth hat ihn doch erkannt.« »Auch die Beste kann sich irren«, sagte Johansson. »Du musst schon entschuldigen, aber die Logik deiner Rede...« »Er kommt mir nicht richtig vor«, unterbrach ihn Johansson und rieb dabei den rechten Zeigefinger am rechten Daumen. »Wenn du Einzelheiten haben willst, kann ich einen von meinen Mitarbeitern bitten, dir einen Vortrag zu halten.« »Mir kommt er ganz richtig vor«, erwiderte der Sonderberater. »Leider«, fügte er hinzu. Johanssons Gastgeber hielt Christer Pettersson für ein Glied in einer logischen Entwicklung. Einer traurigen Entwicklung zwar, aber dennoch einer logischen. Zuerst ein exzentrischer Adliger mit seinerzeit radikalen Vorstellungen, der Gustav III. in der Oper bei einem Maskenball für hochstehende Persönlichkeiten ermordet hatte. Dann ein Bürgerkind, das sich im Leben verirrt und zu einem von Drogen aufgezehrten Gewaltverbrecher wird und seinen Ministerpräsidenten auf offener Straße erschießt. Mitten zwischen allen normalen Bürgern. Und zuletzt ein durchgeknallter Serbe, der auf bestialische Weise die Außenministerin absticht, als sie im größten Warenhaus der Stadt Kleider kaufen will. Zwischen allen anderen shoppenden Damen der wohlhabenden Mittelklasse. »Was wird wohl das Nächste sein, Johansson?«, fragte sein Gastgeber mit besorgter Miene. »Der alte Orang-Utan aus der Rue Morgue? Oder vielleicht die Seeschlange aus Conan Doyles Geschichte über das gesprenkelte Band?« »Mehr Maskenbälle in der Oper, wenn du mich fragst«, sagte Johansson. »Jetzt ist keine Zeit für Affen oder Schlangen. Die sind viel zu unberechenbar.« 197
»Noch ein irrer Einzeltäter, wenn du mich fragst«, sagte der Sonderberater. »Auch irre Einzeltäter können leider die Welt verändern. Und sie machen das sogar die ganze Zeit.« Da sie nun schon beim Thema waren, hatte auch Johansson eine Frage. Genauer gesagt, eine seiner vielen Mitarbeiterinnen hatte diese Frage an seinen Gastgeber, und Johansson hatte versprochen, sie weiterzuleiten. »Sie weiß, dass wir uns kennen«, erklärte Johansson. »Sie hat bei der Säpo für mich gearbeitet.« »Natürlich«, sagte der Sonderberater. Johansson könne ihn nach allem fragen. Anders als seine Kollegen, denn er sei nunmehr zu alt und zu müde, um mit denen zu reden. Die Kinopläne des Ministerpräsidenten damals vor über zwanzig Jahren. Wie bekannt waren die an seinem Arbeitsplatz in Rosenbad gewesen? »Diese Frage ist mir bereits gestellt worden«, sagte der Sonderberater mit glücklichem Lächeln. »Das weiß ich«, sagte Johansson und lächelte ebenfalls. »Ich habe das Vernehmungsprotokoll gelesen. Ich weiß auch, dass du noch am Nachmittag des Mordtages mit Berg darüber gesprochen hast. Es wurde nicht sehr viel gesagt, wenn ich das mal so sagen darf.« »Wie sollte das denn aussehen, Johansson? Wenn einer wie ich mit einem wie dem vertraulich wäre? Es ist schlimm genug, dass die vertraulich miteinander sind, und ich bin wirklich leicht erstaunt darüber, dass Berg, der doch für einen Polizisten ein einigermaßen strukturierter Mensch war, so schlecht beraten war, dass er eine Aktennotiz über unser diskretes Gespräch ins Ermittlungsmaterial eingefügt hat. Und was lässt mich plötzlich den süßen Duft einer so genannten Verschwörung in der Nähe des Opfers wahrnehmen?« »Wir sind eben so, wir Polizisten«, sagte Johansson. »Staunen über seltsame Zufälle, schreiben kleine Zettel füreinander.« »Ja, das habe ich schon verstanden. Ich behalte so etwas im Kopf. Meinem eigenen Kopf.« »Erzähl«, sagte Johansson. »Du hast das Opfer gekannt. Ich bin ihm ja nie begegnet. Wie war er? Als Mensch?«
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Ein begabter Mensch. Zugleich ein Gefühlsmensch. Ein impulsiver Mensch. Bei guter Laune ein überaus charmanter, unterhaltsamer und fürsorglicher Mensch. Bei schlechter Laune ein ganz anderer Mensch und schlimmstenfalls sein eigener Feind. »Er soll ja hochbegabt gewesen sein«, sagte Johansson. »Na ja«, sagte der Sonderberater. »Er verfügte über diese rasche, äußerliche intuitive Begabung. Beredt, gebildet, der richtige Hintergrund. Das alles hatte er über die Maßen. Aber den richtig schwierigen Fragen wich er lieber aus. Diesen Fragen, auf die es keine klare Antwort gibt. Oder, bestenfalls, mehrere Antworten, von denen keine deutlich besser ist als die anderen. Solchen Fragen, von denen ich und auch du, Johansson, uns angesprochen fühlen. Wie Nachtschwärmer von der Petroleumlampe. Aber eigentlich willst du ja etwas anderes wissen«, fügte er hinzu. »Wie meinst du das?«, fragte Johansson. »Du möchtest wissen, ob er seine Mitarbeiter in der Regierungskanzlei oft gefragt hat, welche Filme er sich ansehen sollte.« »Und hat er das?« »Wenn er in der richtigen Stimmung war. Wie schon angedeutet. Wenn Olof guter Laune war und plötzlich in der Tür zu deinem Zimmer stand und einfach mit dir reden wollte, dann wurdest du auch fröhlich. Es war echte Freude, und das war vielleicht kein Wunder, wenn wir bedenken, wer er war und wer man selbst war. Einmal hat er mich sogar gefragt, ob ich ihm einen Film empfehlen könnte.« »Und was hast du gesagt?«, fragte Johansson. »Dass ich nie ins Kino gehe«, antwortete der Sonderberater. »Dass ich das für ein überschätztes Vergnügen halte. Den Tempel der Feigen. Waren das nicht Harry Martinsons Worte? Außerdem fand ich es aus Sicherheitsgründen nicht richtig, wenn er das machte. Und wenn er unbedingt musste, dann ging ich davon aus, dass er die, die die Verantwortung für seine Sicherheit trugen, rechtzeitig darüber informierte. Die Sicherheitspolizei, mich selbst, alle anderen Betroffenen.« »Und was hat er dazu gesagt?«, fragte Johansson. »Dass ich ein richtiger kleiner Scherzkeks sei«, sagte der Sonderberater. »Er war an dem Tag gut gelaunt.« »Und was war an dem Tag, an dem er ermordet wurde?«, sagte Johansson. 199
»Er hat mich ein einziges Mal um einen Filmtipp gebeten, wie gesagt. Das war lange vor seinem Tod. Ich glaube, er ist später nie wieder auf dieses Thema zu sprechen gekommen. Ich weiß, dass ich ihm ab und zu ein gutes ausländisches Restaurant empfohlen habe. Selbstverständlich. Ob er jemand anderen gefragt hat? Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich wusste nicht einmal, dass er an dem Tag, an dem er ermordet wurde, solche Pläne gehabt hatte. Ich weiß noch, dass Berg darüber gesprochen hat, als wir an dem Nachmittag telefoniert haben.« »Aber mit dem Ministerpräsidenten hast du nicht darüber gesprochen?« »Nein«, sagte der Sonderberater. »Das hat sich einfach nicht ergeben, aber wenn wir bedenken, was dann passiert ist, hätte ich das vielleicht tun sollen.« Plötzlich ist er klar wie Kristall, dachte Johansson. Keine Spur von dem ganzen Wein, den er sich hinter die Binde gegossen hat. Plötzlich ist er ein ganz anderer Mensch. Für den restlichen Abend hatte der Sonderberater schnell wieder zu seinem üblichen liebenswürdigen Wesen zurückgefunden - wenn er in der richtigen Stimmung war -, und wie erwartet war das Dinner auf diese nette Weise ausgeartet, wie bürgerliche Mahlzeiten das immer schon zur Gewohnheit hatten. Zuerst hatten sie Billard gespielt. Der Gastgeber hatte darauf bestanden. Er wollte Johansson unbedingt beibringen, wie man Billard spielt. Wenn Johansson sich noch immer weigerte, dieses Thema kam nämlich nicht zum ersten Mal zur Sprache, dann müsste Johansson ihm Pistolenschießen beibringen, und zwar auf der polizeieigenen Schießbahn. »Ob du das glaubst oder nicht, Johansson, aber als ich meinen Wehrdienst abgeleistet habe, war ich wirklich ein hervorragender Gewehrschütze.« Angesichts dieser Alternative blieb Johansson keine Wahl. Er spielte mit dem Sonderberater Billard, und obwohl es erst das zweite Mal in seinem Leben war, gewann er haushoch. Der Sonderberater entschuldigte sich mit den vielen guten Weinen, die es zum Essen gegeben hatte, und mit schwer zu deutenden Aussagen über die Verpflichtungen des guten Gastgebers. 200
Danach hatten sie in der laborartigen Küche des Sonderberaters noch einen Imbiss zu sich genommen. Hering, Krebse, einen Auflauf aus Fisch und Kartoffeln, dazu Würstchen, kleine Frikadellen, die mit einem Spiegelei gekrönt wurden, allerlei Schnäpse und eine wirklich ungewöhnliche Auswahl an Biersorten. Obwohl Bier ungesund war, und das alles nur dem Gast zuliebe. »Ich dachte, du hättest bestimmt gern ein kleines Pils als Betthupferl«, sagte der Sonderberater und hob sein schäumendes Glas. Als Johansson auf der Treppe stand und zum Abschied die Hand ausstreckte, war sein Gastgeber ihm auf überaus südländische Manier zuvorgekommen. Er hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, Johansson die Arme um die Schultern gelegt und ihm auf jede Wange einen feuchten Kuss gedrückt. Als das Taxi losfuhr, stand er noch immer dort. Mit erhobenen Armen, der ausgebeulte grüne Smoking spannte um die Taille. Mit seinem brüchigen Knabentenor lieferte er eine abschließende Gesangshuldigung an seinen Gast. Die Wahl der Musik war sicher von dem erhebenden Gespräch beeinflusst worden, das sie während des Essens geführt hatten. »We'll meet again, don't know where, don't know when, but I know we will meet again... some day...«
30 Was Anna Holt vorhatte, war unklar. Lewin und Mattei dagegen hatten sich die ganze Woche damit beschäftigt, die Ermittlungsunterlagen der qualifizierteren Täter durchzugehen. Bisher hatte sie jedoch keiner der Untersuchten sonderlich beeindruckt, schon gar nicht, wenn sie Johanssons Maßstab anlegten. Mattei war zudem aufgefallen, dass die Anzahl der Verdächtigen ausländischer Herkunft unerwartet klein war. In solchen Fällen war sie sonst ansehnlich, und in ihrem Hinterkopf spukte die Aussage von Zeugin drei herum, der Frau, die »Scheißkanake« hinter dem Mann hergerufen hatte, der sie nur zweihundert Meter vom Tatort entfernt angerempelt hatte. Mattei war sich fast sofort über die Ursache im Klaren gewesen. Wie schon so oft lag es daran, wie das Ermittlungsmaterial archiviert worden war. Der Anteil war tatsächlich so hoch wie sonst 201
auch, aber diesmal waren die potentiellen Täter ausländischer Herkunft unter gemeinsamen Rubriken gesammelt worden, wie »Deutscher Terrorismus«, »PKK-Spur«, »Mittlerer Osten inkl. Israel«, »Südafrika«, »Iran-Irak«, »Türkei« und »Indien-Pakistan«. Der absolut wahrscheinlichste Grund dafür, dass man in dem einen Haufen landete und nicht in dem anderen, war der ethnische Ursprung des mutmaßlichen Täters oder genauer gesagt die Auffassung der schwedischen Polizei über seinen ethnischen Ursprung, doch die Ausnahmen waren zahlreich und die Logik alles andere als glasklar. Unter der Rubrik »Deutscher Terrorismus« gab es etliche Schweden, die die Säpo während der siebziger und achtziger Jahre im Zusammenhang mit dem Drama in der BRD-Botschaft und den Plänen, die schwedische Ministerin Anna-Greta Leijon zu entführen, registriert hatte. Hier stieß Mattei zudem auf den ersten namentlich erwähnten Täter, der mit dem Johanssonschen Maßstab übereinstimmte. Einen ehemaligen schwedischen Fallschirmjäger aus Karlsborg, der in den siebziger Jahren verdächtigt worden war, zusammen mit Mitgliedern der Rote Armee Fraktion mehrere Banken in der Bundesrepublik überfallen zu haben. Was er später getrieben hatte, war unklar. Wo er sich aufhielt, ob er noch lebte oder bereits tot war, war ebenfalls unbekannt. Dass er das Interesse der Palmeermittlung auf sich gelenkt hatte, war dagegen klar. Zusammen mit etwa dreißig anderen namentlich genannten schwedischen Militärangehörigen tauchte er ebenfalls in den Unterlagen der so genannten »Militärspur« auf. Es gab sogar zwei Querverweise in den Akten, um sein Auffinden zu erleichtern. Etwas, womit Mattei ansonsten bei ihrer fleißigen Lektüre nicht gerade verwöhnt worden war. Aus welchem Grund er Palme jedoch hätte ermorden sollen, war absolut unbegreiflich. Also, Alterchen, was mach ich nun mit dir?, seufzte Mattei, obwohl sie fast so alt war, wie er damals. Serben und Kroaten, Bosnier und Slowenen, Christen und Muslime wild durcheinander, und obwohl sie seit Urzeiten immer wieder aufeinander losgegangen waren, hatte die schwedische Polizei sie endlich unter einer gemeinsamen Ermittlungsrubrik vereint: »Mutmaßliche Täter mit jugoslawisehen Verbindungen«. Die politi202
sche Logik fehlte damit sowohl auf dem Balkan wie auch anderswo in der weiten Welt außerhalb Schwedens. So ungefähr jeder jugoslawische Gangster, der in Schweden aktiv gewesen war und genug Haare auf der Brust hatte, tauchte in der Liste der eventuellen oder sogar wahrscheinlichen Palmemörder auf. Die meisten von ihnen waren ganz normale Schwerverbrecher mit Vorstrafen für Mord und Überfall, Erpressung, Nötigung und Schutzgeldaffären und allem anderen, was einen netten Unterhalt versprach, ohne einen Finger zu krümmen. In Bezug auf Gewaltverbrechen wiesen sie beeindruckende Qualifikationen auf. Schwere Körperverletzung zu Zwecken der Selbstbereicherung. Ihre Motive für einen Mord an Schwedens Ministerpräsidenten waren darum aus gegebenem Anlass schwach oder nicht existent. Verschiedene anonyme Informanten, das klassische Mittel unter Ganoven und Banditen, um sich eines Konkurrenten zu entledigen, alter polizeilicher Sauerteig, der aus den Archiven gehoben worden war, wo er viele Jahre ungeknetet herumgelegen hatte. Die ältesten Beiträge zur »Jugoslawenspur« stammten von der schwedischen Sicherheitspolizei und waren zur Mordzeit bereits fünfzehn Jahre alt gewesen. Drei Terroraktionen vom Anfang der siebziger Jahre, die Besetzung des jugoslawischen Konsulats in Göteborg im Februar 1971, die Besetzung der Botschaft in Stockholm und die Ermordung des Botschafters zwei Monate später, die Flugzeugentführung in Bulltofta bei Malmö im September des folgenden Jahres. Die Täter waren allesamt kroatische Aktivisten, die sich dem bewaffneten Widerstand gegen die serbische Herrschaft in der Republik Jugoslawien angeschlossen hatten. In der umfassenden Ermittlung waren diverse Gründe aufgeführt, warum gerade sie Palme ermordet haben könnten. Die Täter wurden beschrieben als »Faschisten«, »politische Extremisten«, »aggressive Spinner« und als Personen mit »extremer Gewaltbereitschaft«. Zudem voller »Hass« auf den Ministerpräsidenten und die schwedische Regierung, die sie fünfzehn Jahre im Gefängnis festgehalten hatten. Juristisch gesehen jedoch waren die Beweise nicht vorhanden, die Indizien schwach und widersprüchlich, die Ermittlungsresultate gleich null. Wenn sie nun Palme ermordet hätten - »dass sie sehr starke Gründe dafür hatten, Olof Palme aus dem Weg geräumt sehen zu 203
wollen, und dass dieses Motiv eines der tragkräftigsten in der ganzen Ermittlung ist« -, dann widersprach ihr kategorisches Leugnen einer solchen Tat jedoch ihrer gesamten terroristischen Tradition, ihrem Weltbild und ihrer Persönlichkeit. »So etwa Albernes habe ich noch nie gehört«, wie einer von ihnen die gemeinsame Einstellung zusammenfasste, als ihm vor einer Vernehmung mitgeteilt wurde, er stehe unter dem Verdacht der Mithilfe zur Ermordung des schwedischen Ministerpräsidenten. Ich stimme dir ja eigentlich zu, und da du die ganze Zeit im Kumlabunker gesessen hast, bist du auf keinen Fall in der David Bagares gata mit Zeugin drei zusammengestoßen, dachte Lisa Mattei und griff zum Ordner mit der »Iran-Irak-Spur«. Die Gewalttraditionen vom Balkan in allen Ehren, dachte sie, aber was haben wir wohl hier? Am 5. März, eine knappe Woche nach dem Mord, hatte ein anonymer Anrufer sich bei der schwedischen Sicherheitspolizei gemeldet. Am Morgen des Vortags habe er in der »Riks-gata zwischen den beiden Parlamentsgebäuden« einen »fast kahlen Mann, an die fünfunddreißig Jahre alt, in einem braunen Mantel, schwarzer Hose und schwarzen Halbschuhen« beobachtet. Der Mann hatte »wie unter Drogen« gewirkt, war »aggressiv aufgetreten und hatte mindestens dreimal den Namen Olof Palme gerufen«. Dem Anrufer zufolge war er »Iraner oder vielleicht Iraker«, hieß »Yussef oder vielleicht Yussuf, Ibrahim« und arbeitete als »Tellerwäscher im Operakällaren«, einige Blocks vom Parlament entfernt. Die Ermittlungen der Sicherheitspolizei hatten kein Ergebnis erbracht. Im Operakällaren gab es »so viele Tellerwäscher und Reinigungskräfte ausländischen Ursprungs, dass der Hinweis nur begrenzt überprüfbar ist«. Ein »Yussef, alternativ Yussuf, Ibrahim, hat sich in besagtem Lokal nicht ausfindig machen lassen«. Der, der am ehesten zu dieser Beschreibung passte, war Tunesier, hieß Ali mit Vornamen, hatte für die relevanten Zeitpunkte ein Alibi und dennoch Zugang zum Ordner »Iran/Irak« gefunden, trotz seiner Herkunft und obwohl die Sicherheitspolizei ihn bereits über dreißig Jahre zuvor abgeschrieben hatte. Woher dieser Anrufer wohl gewusst hat, dass er Yussuf hieß?, überlegte Mattei und seufzte. Und erst nach weiteren drei Stunden 204
des Blätterns und Lesens war für sie der Moment gekommen, einen neuen Ordner aus dem Stapel zu ziehen. Suleyman Özök, geboren am 28. Februar 1949 und damit zur Tatzeit siebenunddreißig Jahre alt, war 1970 nach Schweden gekommen, hatte eine Ausbildung als Automechaniker gemacht und arbeitete zum Tatzeitpunkt beim Gebrauchtwagenhandel »Haga Plät och Lack« in der Hagagata in Stockholm. Dem Gewährsmann zufolge nur »einen Steinwurf vom Tatort entfernt«. Der Gewährsmann wollte nur dem Täter gegenüber anonym bleiben. Vierzehn Tage nach dem Mord hatte er die Kriminalpolizei in der Kungsholmsgata in Stockholm aufgesucht und mitgeteilt, er sei »120 Prozent sicher, dass Suleyman Özök Schwedens Ministerpräsidenten ermordet« habe. Der Zeuge bezeichnete Özök als Geheimagenten der türkischen Militärdiktatur und die Arbeit als Automechaniker als Deckmantel. Özöks wirkliche Aufgabe bestehe darin, die kurdischen Flüchtlinge in Schweden im Auge zu behalten und bei Bedarf für seine Auftraggeber »feuchte Angelegenheiten« durchzuführen. Özök war ein fast notorischer Palmehasser, und zwar wegen der Unterstützung, die Palme und die schwedische Regierung den aus der Türkei geflohenen Kurden gewährten, die in Schweden Zuflucht suchten. Özök hatte Zugang zu »mindestens einer Pistole und einem Revolver«, die er dem Informanten mehrmals gezeigt hatte. Zuletzt hatte er am Dienstag der Woche, in der der Ministerpräsident ermordet worden war, den Revolver aus dem Handschuhfach seines Autos genommen, ihn vorgeführt und zugleich gesagt, er habe vor, am Wochenende seinen Geburtstag »auf gebührende Weise zu feiern, indem ich dieses Schwein Olof Palme erschieße«. Am selben Abend, an dem der Ministerpräsident ermordet worden war, war der Zeuge »aus purem Zufall« am Park Tegnerlunden in Stockholm vorübergekommen, »nur einen Steinwurf vom GrandKino entfernt«, und hatte Özöks Auto gesehen, das auf der Nordseite des Parks stand. Da er nicht wusste, dass der Ministerpräsident »in diesem Moment nur einen Steinwurf entfernt im Kino saß«, hatte er sich darüber keine weiteren Gedanken gemacht, sondern war mit der U-Bahn nach Hause in seine Wohnung im Stigfinnargränd in Hagsätra gefahren, wo er auch die Nacht verbracht hatte. 205
Als er am nächsten Morgen den Fernseher eingeschaltet hatte, hatte er einen so schweren Schock erlitten, dass er sich erst zwei Wochen später ausreichend hatte fassen können, um sich bei der Polizei zu melden. Offenbar hatte diese Aussage einen tiefen Eindruck hinterlassen. Özök war sofort unter die Rubrik einsortiert worden, die damals noch »Türkei/PKK« hieß. Der Ermittler hatte den Fall dem Staatsanwalt vorgelegt, und der hatte entschieden, Özök unverzüglich und ohne vorherige Vorladung zur Vernehmung zu holen und seine Wohnung in Skogäs, seinen Wagen und seinen Arbeitsplatz durchsuchen zu lassen. Es war ein umfassender Einsatz gewesen. Mit magerem Ergebnis. Waffen waren nicht gefunden worden. Wenn weiterhin eine Angelausrüstung nicht als Waffe galt. Özök war ein enthusiastischer Hobbyangler, in Stockholms Schären und an verschiedenen Seen in der Umgebung der Hauptstadt. Außerdem war er Fußballfan und seit vielen Jahren ein treuer Ham-marbyanhänger. Vor allem aber war er wütend auf die Polizei und den anonymen Gewährsmann. Er hätte niemals eine Schusswaffe besessen. Und also auch niemandem eine zeigen können. Er bewunderte Olof Palme, einen großen Menschen und Politiker. Er hätte sich niemals kritisch über ihn geäußert. Und ihn erst recht nicht bedroht. Dagegen hatte er mehrmals bei politischen Diskussionen an seinem Arbeitsplatz Standpunkt bezogen. Er war seit vielen Jahren schwedischer Staatsbürger. Die Türkei wollte er nicht einmal im Urlaub besuchen. Die Türkei war eine Militärdiktatur. Suleyman Özök war Demokrat, genauer gesagt Sozialdemokrat, und zwar ein stolzer. Trotz der Trauer um Palme zog er es vor, in der Sozialdemokratie Schweden zu leben. Die Hoffnungen auf seine alte Heimat hatte er schon längst aufgegeben. Am Ende hatte er noch eine Botschaft an den anonymen Verleumder. Wenn der nicht sofort aufhörte, ihn und seine neue Frau zu schikanieren, würde Suleyman die Sache selbst in die Hand nehmen. Er hatte jedoch nicht vor, Anzeige zu erstatten. In der Welt eines Automechanikers gab es konkretere und männlichere Maßnahmen, wenn das nötig wurde. »Du kannst ihm von mir ausrichten, wenn er auch nur versucht, meine Freundin anzufassen, dann ramm ich ihm den Lötkolben in 206
den Arsch«, hatte Suleyman Özök dem vernehmenden Beamten mitgeteilt, aber mehr war dann nicht passiert. Aus der Abschlussbemerkung in den Unterlagen zu Özök ging hervor, dass »Suleyman Özök seit einem Jahr mit einer ehemaligen Bekannten des Zeugen« verlobt sei. »Özöks Freundin arbeitet als Sekretärin an der Universität von Stockholm und lebt in einer Dienstwohnung in der Teknologgata 2, in der Nähe des Tegnérlunds. Sie ist nicht vorbestraft und auch sonst nicht aktenkundig.« Am späten Freitagnachmittag legten Lewin und Mattei in einem italienischen Café in der Nähe des Polizeigebäudes eine längere Kaffeepause ein und diskutierten über ihre Aktivitäten der vergangenen Woche. Als sie beide einen großen Caffè Latte getrunken hatten, ließ Mattei alle Rücksichten fahren und bestellte ein Tiramisu, während der immer vorsichtige Lewin sich damit begnügte, an dem zum Kaffee servierten Biscotto mit Nüssen und Mandeln zu knabbern. Trotz der Wochenendruhe, des schönen Wetters, der angenehmen Stimmung am Tisch und des Mottos, immer das Beste aus der Situation zu machen, hatte das Gespräch unter dem Stern der Resignation gestanden. Zusammen hatten sie - sie hatten zumindest so getan - an die tausend Menschen untersucht, die jedenfalls formal gesehen ihre Kriterien für einen qualifizierteren Täter erfüllten. Wenige von ihnen hatten bei genauerem Hinsehen den Kriterien wirklich entsprochen, und alle wiesen die Gemeinsamkeit auf, dass es keinen einfachen und greifbaren Grund gab, aus dem sie vor zwanzig Jahren den schwedischen Ministerpräsidenten hätten ermorden sollen. Es mangelte an Motiven, und obwohl die Polizei Mittel und Möglichkeiten gehabt hatte, so war es ihnen nicht gelungen, ein Motiv zu finden, auch wenn sie in manchen Fällen hunderte von Arbeitsstunden darauf verwandt hatten. Gleichzeitig war es aber auch so, dass sie nur wenige der Verdächtigen mit Sicherheit abschreiben konnten. Anlass dafür war, dass der Betreffende zur Tatzeit eingesessen hatte, nicht auf der Flucht oder in Hafturlaub gewesen war und keine Möglichkeit gehabt hatte, unbemerkt zu verschwinden. Oder er war nachweislich weit weg gewesen, an einem anderen Ort oder zusammen mit dermaßen vertrauenswürdigen Menschen, dass die Polizei mit diesem 207
Alibi leben konnte. Insgesamt waren fast alle ermittlungstechnischen Fragezeichen, die damals schwer genug zu beantworten gewesen waren, heute absolut nicht mehr zu beseitigen. Dazu trug auch bei, dass eine auffällige Anzahl der Verdächtigen von damals inzwischen verstorben war. Als der Ministerpräsident erschossen worden war, hatte das Durchschnittsalter in der von Lewin und Mattei untersuchten Gruppe um die vierzig gelegen. Heute lag es bei sechzig plus unter den vierzig Prozent derer, die noch am Leben waren. Ungewöhnliche Todesursachen. Knapp zwei Dutzend waren in den vergangenen Jahren ermordet worden. Im Vergleich zu normalen, anständigen Menschen war das hundertmal mehr, als sonst zu erwarten gewesen wäre. An die hundert hatten sich das Leben genommen. Fünfundzwanzigmal mehr als der statistische Durchschnitt. Weitere zweihundert waren Unfällen, suchtbedingten Krankheiten oder »unbekannten« Gründen zum Opfer gefallen. Zehnmal mehr als normal. Und an die fünfzig waren einfach »verschwunden«, unklar, wohin und warum. »Ich habe diese Liste heute Morgen von unserer Auskunftsstelle bekommen«, sagte Lewin und warf einen verstohlenen Blick auf einen kleinen Zettel. »Aber da warst du so in deine Lektüre vertieft, dass ich dich nicht stören wollte.« »Fast ein Drittel ist tot!«, fasste Mattei zusammen. »Statt circa sieben Prozent wie in der Normalbevölkerung, meine ich.« »Ich wüsste nur zu gern, wie es mit der Sterblichkeit in der Gruppe unserer Informanten und Zeugen aussieht«, seufzte Lewin, und es klang so, als habe er laut gedacht. So wie bei denen, die sie denunziert haben, dachte Mattei. »Was machen wir jetzt?«, fragte sie. Mit Anna Holt darüber sprechen und einen Blick auf die Militärund die Polizeispur werfen, da sie sich alle anderen bereits angesehen hatten. Mit Johansson reden. Ihm erklären, dass seine ganze Vorstellung von dieser Variante von interner Ermittlung keinerlei Erfolgsmöglichkeiten aufwies. Dass es ganz einfach zu spät war. Dass es höchste Zeit war, unter diesen Teil der Ermittlung einen Schlusspunkt zu setzen. Dass ihnen nur noch die Hoffnung auf den alles entscheidenden Hinweis blieb. 208
»Den Hinweis, den wir niemals bekommen werden«, sagte Lewin und nippte an seinem Kaffee. »Auf jeden Fall nicht früher als eine Minute vor zwölf«, fügte er hinzu, lächelte und schüttelte den Kopf. »Na ja«, wandte Mattei ein. »Uns bleiben ja immerhin noch drei Jahre, sechs Monate, sechs Tage und gute sechs Stunden«, sagte sie und schaute sicherheitshalber auf die Uhr. »Drei Jahre, sechs Monate, sechs Tage, sechs Stunden... und zweiunddreißig Minuten... wenn meine richtig geht«, sagte Lewin und schaute auf seine. »Ja, und wir faulenzen hier herum«, kicherte Mattei. Du bist überarbeitet, dachte sie. »Und damit wollte ich am Wochenende weitermachen, dem Faulenzen, meine ich«, sagte Lewin. Dann trennten sich ihre Wege. Lewin spazierte zur U-Bahn, um in seine Wohnung auf Gärdet zu fahren. Einkaufen wollte er unterwegs. Mattei hatte nichts Besonderes vorgehabt, als sie plötzlich entdeckte, dass sie vor der Eingangstür zu ihrem Arbeitsplatz in dem großen Polizeigebäude auf Kungsholmen stand. Du hast wohl nichts Besseres zu tun, dachte sie, als sie am Schalter in der Rezeption vorbeiging, ihren Dienstausweis hochhielt und die Passierkarte durch das Lesegerät in der Eingangsschleuse zog. Noch genau drei Jahre, sechs Monate und sechs Tage, dachte sie, nach einem kurzen Blick auf ihre Armbanduhr etwa sechs Stunden später. Danach schlug sie die letzte der einunddreißig Personenakten auf, die sich in den drei Ordnern der »Militärspur« der Palmeermittlung befanden. Die, bei der es um einen Freiherrn und Fregattenkapitän ersten Grades ging, der ganz unten in der alphabetischen Ordnung gelandet war, weil er unter »v« wie »von« abgelegt worden war, nicht unter seinem eigentlichen Nachnamen. Er war fünfundfünfzig Jahre alt gewesen, als der Ministerpräsident ermordet worden war, und er hatte ein Jahr vor dem Mord in einem Leserbrief im Svenska Dagbladet das Mordopfer kritisiert, weil es die schwedische Landesverteidigung vernachlässige und sich dem großen Nachbarn im Osten gegenüber viel zu nachgiebig zeige. Ein Offizier und ein Gentleman, dazu Adliger, politisch unkorrekt und, in 209
den Augen der Palmeermittler, möglicherweise die Hoffnung auf einen Anckarström unserer Zeit. Aua, aua, aua, jetzt wird es wirklich heiß, dachte Lisa Mattei. Dann erlitt sie einen heftigen Kicheranfall und musste ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche ziehen, um sich die Tränen abwischen und die Nase putzen zu können.
31 Am späten Freitagnachmittag, ungefähr zu der Zeit, als Lewin und Mattei in einem in der Nähe gelegenen italienischen Cafe ihren Kaffee zu sich nahmen, schaute Polizeikommissarin Anna Holt bei ihrem Chef vorbei, um ihm mitzuteilen, womit sie sich beschäftigte. Das Zimmer der Sekretärin war leer, und die Tür zu ihrem Chef stand sperrangelweit auf. Johansson lag auf seinem Nickerchensofa und las ein dickes Buch mit einem englischen Titel über ein Thema, von dem Holt keine Ahnung hatte, verfasst von einem Autor, dessen Name ihr nichts sagte. Außerdem schien Johansson hervorragender Stimmung zu sein. »Setz dich, Anna«, sagte Johansson und winkte mit dem dicken Buch zum nächsten Sessel hinüber. »Danke«, sagte Holt und setzte sich. »Ach ja, jaja«, sagte Johansson und setzte sich halbwegs auf. »Da Bäckström Helena das Leben nicht mehr zur Hölle macht, nehme ich an, du hast den kleinen Fettsack erledigt. Womit kann ich dir dafür Gutes tun?« »Wäre nett, wenn ich an meine normalen Arbeitsaufgaben zurückkehren könnte«, sagte Holt. »Ein jeglich Ding hat seine Zeit, Anna«, sagte Johansson mit abwehrender Handbewegung. »Erzähl. Was wollte er uns diesmal für ein Scheißgefasel andrehen?« »Er hat vor zwei Wochen einen Hinweis erhalten. Am Freitag, dem 17. August. Am Tag nach den vielen Artikeln über die Wiederaufnahme der Palmeermittlung.« »Kann man sich ja denken«, sagte Johansson und grinste. »Ja«, sagte Holt. »Ich weiß schon, was du denkst. Der Hinweis stammt von einem von Bäckströms eigenen V-Leuten. Der scheint schon häufiger Informationen geliefert zu haben und ist Bäckström zufolge ein gut unterrichteter und zuverlässiger Mensch.« 210
»Das wäre ja auch noch schöner«, sagte Johansson. »Und will aber natürlich anonym bleiben.« »Selbstverständlich. Bäckström weiß natürlich, wer er ist. Sie kennen sich offenbar schon lange, behauptet Bäckström, und er hat keineswegs vor, den Namen zu verraten. Ansonsten klingt er so wie immer.« »Ja, vielleicht hat er seinen Platz im Leben gefunden. Das Fundbüro der Polizei. Wenn er kein so verdammter Dieb wäre, hätte ich ihn zum Garagenwächter ernannt«, schimpfte Johansson. »Und konnte er irgendwas liefern?« »Unklar«, sagte Holt. »Ich muss das noch überprüfen. Aber vermutlich nicht.« »Surprise, surprise«, entgegnete Johansson. »Aber er hat uns wenigstens einen Namen genannt«, verkündete Holt. »Einen Namen? Was denn für einen Namen?« »Den Namen des Arschs, von dem du die ganze Zeit redest«, sagte Holt und lächelte geheimnisvoll. »Und wie lautet der?«, sagte Johansson und setzte sich auf dem Sofa auf, jetzt lächelte er nicht mehr. »Es ist kein schlechter Name«, neckte Holt. »Wir wollen bloß hoffen, dass er nicht stimmt.« Die Esperanza bot nicht nur einen schönen Anblick mit ihren harmonischen Linien und den gut aufeinander abgestimmten Proportionen. Sie war außerdem gut gebaut, mit Kiel, Spanten und Täfelung aus Eichenholz vom Festland, wo die Eichen langsamer wuchsen als hier draußen, was die Holzqualität verbesserte. Ganz aus Holz gebaut, aus blauen Brettern im Kraweelbau, weiß angestrichener Reling und einem Deck aus Teak. Sie war achtundzwanzig Fuß lang und zehn Fuß breit. Achtern weich gerundet, leicht eingezogener Bug mit spitzem Steven und vorne Platz für eine kleine Kajüte. Das Deck bot ausreichend Raum für Angelgerätschaften und Taucherausrüstung. Außerdem besaß sie einen soliden Motor, einen vierzylindrigen Diesel von Volvo Penta mit zweihundert Pferdestärken und einen gut gefüllten Treibstofftank. Ein Boot gebaut für alle Wetterlagen und alle Wechselfälle des Lebens. Bei Sonnenschein auf dem blanken Meer zu vertäuen, um zu essen und zu trinken und Kontakte zu pflegen. Um zu ruhen oder sich einfach an die Reling zu lehnen, während man sich Hände und Arme im spiegel211
glatten Wasser kühlt. Aber auch stark und ausdauernd genug, um das Festland auf der spanischen, französischen oder afrikanischen Seite zu erreichen. Oder vielleicht auch Korsika, wo der Besitzer des Bootes zumindest einen Freund hatte, dem er bedingungslos vertraute, und wo es mehrere von seinesgleichen gab. Nach Korsika, dreihundert Seemeilen und dreißig Stunden im Nordosten von Puerto Pollensa gelegen, wo er für den Rest seines Lebens eine Zuflucht finden könnte, wenn er denn eine benötigte.
32 Bäckström war klein, fett und primitiv, konnte aber bei Bedarf auch listig und nachtragend sein. Unter den siebzehntausend Polizisten des Landes war er zudem derjenige, der den größten berufstypischen Wortschatz mit hunderten von Schimpfwörtern für alle besaß, die er nicht leiden konnte: Ausländer, Homosexuelle, Kriminelle und ganz normale Schweden, egal, welchen Geschlechts. Kurz gesagt, alle, die nicht so waren wie er, und so waren nur äußerst wenige. Insgesamt hatten diese menschlichen Qualitäten ihn innerhalb der Truppe, der er seit dreißig Jahren diente, berühmt gemacht. Kriminalkommissar Evert Bäckström war ein »legendärer Mordermittler«, der anders als die meisten anderen Legenden sich mit allem Möglichen befasste. Seit einem guten Jahr war er aus seinem natürlichen Lebensraum bei der Zentralen Mordkommission in die Abteilung für die Zuordnung von Diebesgut bei der Stockholmer Polizei versetzt worden. Oder zum polizeilichen Fundbüro, wie alle echten Polizisten, auch Bäckström selbst, diese Endlagerstätte für gestohlene Fahrräder, verlorene Brieftaschen und verirrte Polizistenseelen nannten. Bäckström war ein Opfer. Ein Opfer unseliger Umstände ganz allgemein und gemeiner Angriffe im Besonderen. Aber vor allem war er ein Opfer der »Königlich-Schwedischen Missgunst«. Sein ehemaliger Chef, Lars Martin Johansson, hatte mit Bäckströms erfolgreichem Kampf gegen die ständig wachsende und zusehends brutalere Kriminalität nicht leben können. Als Bäckström einen ungewöhnlich komplizierten Mord an einer Polizeianwärterin aus Växjö aufgeklärt hatte, hatte Johansson aus den vielen Fäden der 212
Verleumdung ein Seil gedreht, hatte Bäckström die Schlinge um den Hals gelegt und ihm den abschließenden Tritt versetzt. Einer verständnislosen, unfreundlichen und ganz offen gesagt destruktiven Umgebung zum Trotz hatte Bäckström aus seiner Situation das Beste gemacht. Die neue Arbeit im Fundbüro bot interessante Möglichkeiten für den, der wach genug war, um die Gelegenheit beim Schöpfe zu packen. Nicht wie seine neuen Kollegen, eine traurige Versammlung phantasieloser Betbrüder, die nicht einmal begriffen hatten, dass sie den gesamten Schlüsselbund zu der Schatztruhe in der Hand hielten, die »gestohlenes«, »verlegtes« oder einfach »herrenloses« Gut enthielt. Bäckström dagegen hatte das natürlich bereits in dem Augenblick erfasst, als er die Schwelle zu seinem neuen Arbeitsplatz überschritten hatte. Das Traurigste an seinem neuen Posten war ein alter Bekannter aus der Zeit, als Bäckström in Stockholm bei der Mordkommission gearbeitet hatte, Kriminalinspektor Göran Wiijnbladh. Wiijnbladh war bis 1990 bei der Kriminaltechnik der Stockholmer Polizei tätig gewesen und war dann in Altersteilzeit gegangen und in das damalige Fundbüro versetzt worden. Er war ein Techniker vom alten Schlag, denn abgesehen von sechs Jahren Volksschule, einem knappen Jahr an der alten Polizeischule und einigen Wochenkursen für Kriminaltechniker hatte er um alle theoretischen Ausschweifungen einen großen Bogen gemacht. In der festen Überzeugung, dass die einzigen Kenntnisse, die diesen Namen verdienten, durch praktische Arbeit erworben werden konnten. Diese Einstellung wurde ihm dann auch zum Verhängnis. Wiijnbladhs großes Problem damals war seine Frau, die ihn betrog. Das war insofern ein relativ einfaches Problem gewesen, als dass sie beinahe neunzig Prozent seiner Probleme ausgemacht hatte. Schlimm daran war, dass sie es ganz offen getrieben hatte, was im Hinblick auf das Wesen dieser Aktivitäten doch gegen deren grundlegendes Prinzip verstieß. Das Schlimmste aber war, dass sie es am liebsten mit anderen Polizisten machte, und da sie bereits am Tag nach ihrer Hochzeit damit angefangen hatte, gab es innerhalb der Stockholmer Polizei keine einzige Abteilung ohne einen oder mehrere Mitarbeiter, die dem Kollegen Wiijnbladh Hörner aufgesetzt hatten. 213
Im Herbst 1989 hatte Wiijnbladh beschlossen, seinerseits aktiv zu werden und sie mit Thallium zu vergiften, auf das er an seinem Arbeitsplatz gestoßen war. Bei den Vorbereitungen hatte er es geschafft, sich selbst zu vergiften. Er hatte das Thallium so behandelt, wie er mit normalem Fingerabdruckpulver umgegangen war. Er hatte mikroskopische Mengen an Fingern und Händen abbekommen, sich dadurch eine akute Vergiftung zugezogen und dabei beinah das Leben gelassen. Als er zwei Monate später aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Und dabei war er schon vorher keine unbedingt beeindruckende Erscheinung gewesen. Die ganze Angelegenheit war von der Polizeiführung vertuscht worden. Mit Hilfe der Polizeigewerkschaft war sie in einen tragischen Unfall am Arbeitsplatz verwandelt worden, für den die Beteiligten danach eine überaus gütliche Lösung gefunden hatten. Wiijnbladh war in Altersteilzeit versetzt worden und hatte wegen der Berufsverletzung eine nette Entschädigungssumme kassiert, während seine halbe Stelle bei der Einheit angesiedelt wurde, die später im selben Jahr nicht mehr Fundbüro der Polizei Stockholm hieß, sondern Abteilung für die Zuordnung von Diebesgut. Dort saß er nun seit gut fünfzehn Jahren und pusselte mit gestohlener Kunst und gestohlenen Antiquitäten herum. Warum gerade damit, wusste niemand. Besondere Kenntnisse in dieser Hinsicht schien er nicht zu besitzen, aber da er offenbar keinen Schaden anrichten konnte, ließ man ihn gewähren. Im allerkleinsten Zimmer ganz hinten im Gang saß Wiijnbladh und blätterte in seinen vielen Ordnern über gestohlene und verschollene Kunstwerke. Seinen Kaffee trank er allein in seinem Arbeitszimmer, und wann er kam und ging, wussten seine Kollegen eigentlich überhaupt nicht. Es interessierte auch niemanden, und bald würde er sowieso in Pension gehen. Wie schön, den kleinen Halbschwulen loszuwerden, dachte Bäckström auf seine mitfühlende Weise, wenn er Wiijnbladh ein seltenes Mal durch den Gang schleichen sah. Obwohl er ihm zu Beginn seiner Tätigkeit dort durchaus von Nutzen gewesen war.
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Ungefähr zu dem Zeitpunkt, zu dem Bäckström seinen neuen Arbeitsplatz bezogen hatte, hatte der Abschnitt seinen größten Fall seit Jahren zugewiesen bekommen. Ein exzentrischer schwedischer Milliardär, der seit undenklichen Zeiten in Genf wohnte, meldete einen Einbruch in seinem »Unterschlupf« in Stockholm. Einer schlichten Zehnzimmerwohnung im Strandväg, wo er sich, so die schwedischen Steuerbehörden, höchstens zwei Wochen pro Jahr aufhielt. »Meistens eine Woche zu Weihnachten und Neujahr und dann vielleicht noch eine, wenn ich zu Hause bin, um Mittsommer zu feiern und die Kinder zu treffen.« Vermutlich war das auch die Erklärung dafür, dass es fast einen Monat gedauert hatte, bis die Stockholmer Polizei über den Umfang des Einbruchs informiert worden war. Am 3. Juni, dem Pfingstsamstag, war die Einsatzzentrale der Polizei von der Wachgesellschaft Securitas über einen Einbruch im Strandväg informiert worden. Die Securitas bat die staatlich finanzierte Konkurrenz um Hilfe, weil ihr eigenes Einsatzfahrzeug oben auf Östermalm einen Radfahrer aus dem Sattel gehoben hatte, ungefähr einen Kilometer vom Tatort entfernt. Außerdem eilte es, denn die ungeheuer avancierte Alarmanlage, die einige Jahre zuvor installiert worden war, war der Überzeugung, dass der Dieb, der derselben Anlage zufolge allein zu Werk ging, sich noch immer am Tatort aufhielt. Eine solche Gelegenheit, der privaten Konkurrenz die Show zu stehlen, bot sich der Polizei nur selten, und im allgemeinen Wirrwarr hatte der zuerst eintreffende Streifenwagen vergessen, Blaulicht und Sirene auszuschalten, als er vor dem Hauseingang bremste. Das hatte den Einbrecher verscheucht, und als sie die Wohnung aufgebrochen hatten, war diese leer. Der Dieb war durch den Kücheneingang, durch den Hinterhof und dann auf der anderen Seite des Blocks auf die Straße geflohen. Niemand wurde festgenommen, aber das war nicht so schlimm, denn er schien nichts mitgenommen zu haben aus dem »Unterschlupf«, der sich, so die Kollegen von der Spurensuche und die Experten vom Fundbüro, die herbeigerufen worden waren, wohl am besten als »Kunstmuseum« beschreiben ließ. Diese Auskunft wurde von der Wachgesellschaft dann auch dem Kunden übermittelt, als sie ihn in seinem Haus in der Schweiz anriefen. 215
Einbruch in der Wohnung. Selbige inzwischen durch weitere Schutzmaßnahmen gesichert. Einbruch abgebrochen. Der Dieb war geflohen, ohne offenbar etwas mitgenommen zu haben. Es wurden keine Spuren gesichert. Täter unbekannt. Erst drei Wochen später, als das Einbruchsopfer auftauchte, um Mittsommer zu feiern, »einen Hering zu essen, ein oder zwei Schnäpse zu heben, Evert Taube zu hören und zu sehen, wie die Sonne hinter dem lieben alten Plumpsklo untergeht«, war das ganze Ausmaß der Tat deutlich geworden. Der Anwalt des Einbruchsopfers hatte sich bei der Wachgesellschaft und bei der Stockholmer Polizei gemeldet, um mitzuteilen, dass der Dieb doch nicht, wie zunächst angenommen, mit leeren Händen entkommen war. Trotz der Sirenen unten auf der Straße hatte er es geschafft, ein kleineres Ölgemälde von Pieter Brueghel d. J. mitzunehmen, das der Wohnungsbesitzer auf seiner Gästetoilette aufgehängt hatte, um die Gäste zu necken, die nicht so reich waren wie er. Das Einbruchsopfer war ein schweigsamer Mann, und weder die Wachgesellschaft noch die Polizei hängten diese Geschichte an die große Glocke. In den Zeitungen stand kein Wort darüber, obwohl das entwendete Bild einen Versicherungswert von dreißig Millionen Kronen gehabt hatte. Unter größtmöglichem Stillschweigen war eine umfassende Ermittlung eingeleitet worden. Obwohl man keine Spuren hatte und das Bild im Prinzip unverkäuflich war. Bäckström hatte die ganze Geschichte im Kaffeezimmer gehört. Er selbst hatte nämlich nichts mit Kunstdiebstählen zu tun. Keine Bilder, keine Antiquitäten, nicht einmal ein elender kleiner Silberleuchter durfte aus unerfindlichen Gründen über seinen Schreibtisch wandern. Ihm wurden handfestere Objekte zugeteilt, und schon am ersten Tag hatte er alle Hände voll zu tun gehabt mit einem estnischen Lastzug, der oben bei Norrtälje auf einem Parkplatz aufgefunden worden war und bei näherem Hinsehen fast zweihundert gestohlene Fahrräder geladen hatte. »Hier hast du was zu beißen, Bäckström«, sagte sein Vorgesetzter, als er die Untersuchungsakten auf Bäckströms Schreibtisch legte.
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»Was zum Teufel soll ich denn mit dem Scheiß anfangen?«, sagte Bäckström und starrte wütend auf die mehrseitige Auflistung gestohlener Gegenstände. »Was hältst du davon, die Besitzer ausfindig zu machen?«, schlug sein Chef mit hämischem Grinsen vor. »Willkommen hier bei uns, by the way«, fügte er dann hinzu. Ab jetzt herrscht Krieg, dachte Bäckström, und wie zum Teufel kriegt man zweihundert Fahrräder in den Griff? Er kannte keinen Menschen, der eins brauchte. Rad fuhren doch nur Schwule, Lesben, Umwelttrottel und Magersüchtige. Jedes dumme Huhn fährt heutzutage Auto, dachte er. Jetzt heißt es, die Situation zu mögen, wenn man nicht verhungern will, dachte Bäckström, und nach einigem Nachdenken erinnerte er sich an eine Bekannte, die er übers Netz kennengelernt hatte. Sie arbeitete als Zahnärztin in Södertälje, und sie brauchte ganz bestimmt ein Fahrrad. Sie war so eine richtige Ökotussi, die immer in selbstgenähten Kleidern durch die Gegend gurkte, und sie hatte ihm ein gebatiktes T-Shirt geschenkt. Wenn sie sich mit solchem Dreck amüsiert, dann fährt sie bestimmt auch Rad, dachte Bäckström. Reibt auf irgendeinem alten Sattel rum, und was hat so eine Schlampe wie sie schon für eine Wahl, dachte er. So einige, wie es sich herausstellte, nachdem er sie telefonisch erreicht hatte. Erstens habe ihr neuer Freund, der übrigens bei der Schutzpolizei in Salem Revierleiter sei, ihr ein Auto geschenkt. Zweitens habe sie bereits ein Rad. Drittens halte sie es für einen gelinde gesagt seltsamen Zufall, dass Bäckström ein Rad zu verkaufen haben sollte. Fast neu und außerdem billig. Und viertens spiele sie ernsthaft mit dem Gedanken, Bäckströms Chef anzurufen und ihn über diesen seltsamen Zufall zu unterrichten. »Was zum Teufel soll das denn heißen?«, fragte Bäckström. »Mein Freund hat mir erzählt, dass du jetzt im Fundbüro arbeitest«, sagte sie süffisant. »Aber hallo, Herzchen«, sagte Bäckström. »Du hältst mich doch nicht für so bescheuert, dir einen gestohlenen Drahtesel anzudrehen?« Jetzt gilt es, das Schlimmste zu verhindern, dachte er. »Doch«, antwortete sie. »Für genauso bescheuert halte ich dich.« Und dann legte sie einfach auf. 217
Verdammte Fotze, was zum Henker mach ich jetzt?, dachte Bäckström, aber da er nicht auf den Kopf gefallen war, fand er auch diesmal eine Lösung. Schon am folgenden Abend lief ihm ein alter Bekannter über den Weg, den er in seiner Stammkneipe kennengelernt hatte: Gustaf G:son Henning, ein überaus erfolgreicher und angesehener Kunsthändler, der im Laufe der Jahre Bäckström im Austausch gegen kleinere polizeiliche Gefälligkeiten zu diesem und jenem eingeladen hatte. Inzwischen war er siebzig, schlank, tadellos angezogen und mit silberfarbenen Haaren, großer Wohnung auf Norr Mälarstrand, Büro am Norrmalmstorg, gefragter Gast in allen Kunst- und Antiquitätensendungen im Fernsehen. Seine Bekannten nannten ihn GeGurra, und sein einziges Geheimnis war wohl, dass er regelmäßig in den miesen Schuppen auf der falschen Seite von Kungsholmen auftauchte, die Bäckström so gut wie jeden Tag aufsuchte. Bei GeGurras Geburt hatten ihn seine lieben Eltern auf den Namen Juha Valentin taufen lassen. Juha nach dem Großvater mütterlicherseits, der finnische Zigeuner zu seinen Vorfahren zählte und großen Erfolg als Lumpensammler und Schrotthändler gehabt hatte. Valentin nach dem Großvater väterlicherseits, der sich in der Vergnügungsbranche betätigt hatte und der neben vielem anderem einen Jahrmarkt und zwei Pornoclubs in Bohuslän sein eigen genannt hatte, damals, als diese Sparte noch neu war und für den, der zuzugreifen wusste, die reine Goldgrube. Juha Valentin Andersson Snygg, ein Name mit Ahnen und Verpflichtungen und absolut undenkbar für einen hoffnungsvollen jungen Mann, der sich eine Zukunft in dem etwas vornehmeren Handel mit Kunst und Antiquitäten versprach. Kaum war Juha Valentin mündig geworden, hatte er sich deshalb einen neuen Namen zugelegt. Sicherheitshalber Vor- und Nachnamen, ausgewählt nach den beliebtesten Vorurteilen, die man in der von ihm angesteuerten Branche überhaupt nur ausfindig machen konnte. Außerdem spannend als Hommage an den Kackvornehmsten von allen. Juha Valentin Andersson Snygg verwandelte sich ganz offiziell in Gustaf G:son Henning und wurde für seine lieben, engen und entfernten Bekannten zu GeGurra. Juha Valentin gehörte damit einer längst vergangenen Zeit an. Ab und zu wurde Gustaf gefragt, wofür das G eigentlich stehe. Dann lächelte er melancholisch, ehe er antwortete. 218
»Nach meinem alten Onkel Gregor. Aber er ist seit vielen Jahren tot, wie du sicher weißt.« Was durchaus auch stimmte. Mama Rosita hatte einen Bruder namens Gregor gehabt, der bereits in den fünfziger Jahren unter tragischen Umständen ums Leben gekommen war. Die Schnapsbrennerei in seinem Wohnwagen war explodiert, aber gerade diese weiterführende Frage wurde nie gestellt. Schon am Tag nach dem missglückten Fahrradhandel tauchte GeGurra ein weiteres Mal und an bekannter Stelle in Bäckströms Leben auf. »Wie schön, dich zu sehen, Herr Kommissar«, sagte GeGurra und klopfte Bäckström auf die Schulter. »Hier stehst du und philosophierst an dem alten abgenutzten Tresen.« »Wirklich nett, dich zu sehen, Henning«, erwiderte Bäckström, der auch die Form zu wahren wusste, wenn das nötig war. Saugut, dass ich noch nichts bestellt habe, dachte er. »Danke, danke. Du bist zu gütig«, gab GeGurra zurück. »Hast du schon gegessen?« »Danke der Nachfrage«, sagte Bäckström. »Spielte gerade mit dem Gedanken an einen kleinen Happen.« Eine Handvoll Körner und ein Glas Wasser, wenn das eigene Portemonnaie hier bestimmen muss, dachte er. »Weißt du was«, entgegnete GeGurra. »Dann schlage ich vor, wir nehmen uns ein Taxi und fahren zum Teatergrillen, dann können wir uns in aller Ruhe unterhalten. Die Rechnung übernehme ich.« »Wenn ich das richtig verstanden habe, dann hast du dich endlich an den gedeckten Tisch gesetzt«, sagte GeGurra eine Viertelstunde später und hob sein Glas. »Prost übrigens.« »Gedeckt ist vielleicht ein wenig übertrieben«, sagte Bäckström und schüttelte den Kopf. Noch vor zwanzig Minuten hatte er am Tresen in seinem trüben Stammlokal gestanden. Jetzt saß er hier im Separee in einem Luxusrestaurant. Das Personal hatte sich überschlagen, als GeGurra das Lokal betreten hatte. Ein großer Dry Martini für GeGurra, Single Malt Whisky und Bier für Bäckström, und jedem wurde die Speisekarte in die Hand gedrückt. Kaum, dass ihre Hintern den Stuhl berührt hatten, und ohne dass Bäckströms Gastgeber auch nur ein Wort über die Angelegenheit hätte verlieren müssen. 219
»Du kennst nicht zufällig Leute, die ein Fahrrad brauchen?«, fügte Bäckström hinzu und seufzte. »Beim bösen Spiel muss man gute Miene machen«, erklärte GeGurra. »Frag mich, einen schlichten Guppy, der das Aquarium mit Haien, Piranhas und Feuerquallen teilt. Wenn ich dich sehe, lieber Bäckström, dann habe ich die klare Ahnung, dass uns bessere Zeiten bevorstehen.« »Du hast gut reden«, sagte Bäckström. »Ich habe nämlich ein kleines Problem, und ich glaube, du kannst mir bei der Lösung helfen«, sagte GeGurra und nippte vorsichtig an seinem Dry Martini. »Ich bin ganz Ohr«, sagte Bäckström. GeGurra hatte einen alten Kunden. Mit dem er seit vielen Jahren zudem noch gut befreundet war. Das war bei Kunstfreunden oft der Fall. Großer Kunstsammler, bedeutender Mäzen, wohnte seit vielen Jahren im Ausland. Vor zwei Monaten war in seiner Wohnung in Stockholm eingebrochen worden. Ein alter Niederländer, der nicht ganz gratis gewesen war, war gestohlen worden. Er war zwar zu seinem vollen Wert versichert gewesen, aber was half das schon einem wahren Kunstliebhaber, für den Geld keine Rolle spielte und der außerdem mehr davon hatte, als seine verwöhnten Erben in den kommenden Generationen ausgeben könnten. Er wollte sein Bild zurückhaben. So einfach war das, und jetzt hatte er GeGurra um Rat gebeten. »Was glaubst du, Bäckström?«, fragte GeGurra. »Was glaubst du, werdet ihr den Fall aufklären und dafür sorgen, dass er sein Bild zurückbekommt?« »Frag mich lieber nicht«, sagte Bäckström. »Das ist nicht mein Ressort.« »Traurig, sehr traurig«, sagte GeGurra und seufzte. »Du glaubst nicht, dass deine Kollegen die Sache in den Griff bekommen werden?« »Vergiss es«, sagte Bäckström. Wenn du mir nicht glaubst, kann ich dir ja den kleinen Wiijnbladh zeigen, dachte er. »Du könntest nicht überprüfen, wie weit sie mit der Sache sind?«, fragte GeGurra. »Das ist nicht so leicht, wie du denkst«, antwortete Bäckström. »Im Moment herrscht hier überall Geheimniskrämerei. Man könn220
te fast glauben, dass man bei einer geheimen Sekte arbeitet. Wenn es nicht in dein Ressort fällt, dann kriegst du nur Ärger, wenn du ein wenig herumfragst. Früher kauften die Versicherungsgesellschaften gestohlene Bilder zurück, aber inzwischen haben wir oben bei uns eine Menge Prinzipienreiter und Puristennazis sitzen, die diese Lösung torpediert haben. Kaum taucht irgendein hilfsbereiter Arsch mit dem Bild auf, schon landet der im Knast. Den Finderlohn kann er gleich vergessen, und die Versicherungsgesellschaften wollen kaum noch über diese Möglichkeiten reden.« »Mein guter Freund ist bei einer Schweizer Versicherung«, sagte GeGurra. »Ich kann dir sagen, die haben eine ganz andere und viel praktischere Einstellung.« »Klar«, sagte Bäckström. »Sag das dem Typen, der den Kram zurückbringen soll. Von der Kohle kann der doch bloß träumen, während er wegen schwerer Hehlerei an die vier Jahre im Knast abbrummt.« »Denk mal drüber nach«, lenkte GeGurra ein. »Während wir einen Bissen essen und ein Schnäpschen trinken, damit wir besser denken können.« »What's in it for me?«, fragte Bäckström. Besser, wir bringen das gleich hinter uns, dachte er. »In meiner Welt geht niemand leer aus«, sagte GeGurra mit elegant geschneidertem Schulterzucken. »Was sagst du übrigens zu Graved Lachs?« Am nächsten Tag wartete Bäckström, bis Wiijnbladh gegen drei Uhr nachmittags aus der Tür gestolpert war. Alles war still auf dem Korridor. Genauer gesagt, kein Arsch da, denn es war Monatsende und Freitag zugleich und höchste Zeit für alle hart arbeitenden Wachtmeister, den staatlichen Alkoholladen aufzusuchen, ehe sie zum Frauchen nach Hause fuhren und dem Kampf gegen das Verbrechen ein Wochenende gönnten. Bäckström drehte als Erstes Wiijnbladhs Schreibunterlage um, und das einzige Problem für ihn war, dass er den Notizzettel falsch herum geklebt hatte. Acht Ziffern und acht Buchstaben, mit zitternder Hand geschrieben. Als persönlichen Code hatte er sich für Cerberus entschieden, und da war er im Haus sicher nicht der Einzige. Ob er wohl vorhat, sich ein neues Gebiss zu kaufen, überlegte 221
Bäckström, während er den Code in sein elektronisches Notizbuch eingab. Dann loggte er sich ein und druckte eine Kopie der Ermittlungen über den Kunstraub im Strandväg aus. Stopfte ihn in die Tasche, machte einen erquickenden Spaziergang von seinem Arbeitsplatz zu GeGurras Wohnung auf Norr Mälarstrand und legte ihm die Kopie in den Briefkasten. In der folgenden Woche trafen GeGurra und er sich diskret mit einem schwedischen Anwalt und einem Englisch sprechenden Vertreter der Schweizer Versicherungsgesellschaft. Natürlich würde Bäckström das Bild wiederbeschaffen, wenn er nur das tun dürfte, was richtige Polizisten immer schon getan haben. Kein Problem, befanden der Versicherungsmann und der Anwalt. Blieb noch ein Wunsch von Seiten Bäckströms. »Dieses Gespräch hat niemals stattgefunden, und die Herren und ich sind uns nie begegnet«, sagte Bäckström. Auch das sei kein Problem, und was mach ich jetzt, verdammt noch mal?, dachte Bäckström, als er eine Stunde später in sein Büro zurückgekehrt war. Eine Woche später klärte sich die Sache von ganz allein. Obwohl es nicht sein Fall war, war bei Kommissar Evert Bäckström per Telefon ein anonymer Hinweis eingegangen. Ein höflicher junger Mann, der seinen Namen nicht nennen wollte, berichtete, in der Polhemsgata vor dem Eingang zum großen Polizeigebäude stehe ein soeben gestohlener Wagen. Nur hundert Meter von Bäckströms eigenem Schreibtisch entfernt, aber das hatte er nicht gesagt. Im Kofferraum liege ein gestohlenes Gemälde, und damit die Polizei ihre kostbare Zeit nicht vergeuden müsse, sei das Fahrzeug nicht abgeschlossen. Bäckström begab sich zu seinem Vorgesetzten. In kurzen Worten erklärte er den Sachverhalt, und wenn das gewünscht werde, könne er natürlich einmal nachsehen gehen. »Was ich noch immer nicht begreife, ist, warum der Mann bei dir angerufen hat, Bäckström«, fauchte der Chef zehn Minuten später, als sie den Kofferraum geöffnet hatten und das dort gefundene Gemälde von Brueghel d. J. betrachteten. »Das hier ist doch überhaupt nicht dein Ressort.« 222
»Er wollte wahrscheinlich mit einem richtigen Polizisten sprechen«, sagte Bäckström und zuckte mit seinen fetten Schultern. Da hast du was zum Lutschen, du kleiner Paragraphenreiter, dachte er. Eine Woche später gab Bäckströms Chef ihm einen neuen Fall, an dem er sich die Zähne ausbeißen sollte. Die Kollegen von der Abteilung für Umweltverbrechen benötigten Hilfe bei der Suche nach dem Besitzer von etwa fünfzig Fässern mit überaus giftigem Abfall, die die Polizei in Nacka in einem verlassenen Fabrikgebäude gefunden hatte. Wie zum Teufel soll man das denn klären?, überlegte Bäckström. Scheiß drauf, dachte er dann. Zwei Tage zuvor hatte er sich mit GeGurra getroffen, und der hatte für die Hilfe gedankt, hatte zum Essen geladen und den üblichen braunen, absenderlosen Briefumschlag überreicht sowie das Versprechen gegeben, dass noch mehr kommen würde. Ein wenig peu á peu, wie der Brauch es wollte, unter diskreten Freunden. Du bist ein richtiger Schlaukopf, GeGurra, dachte Bäckström, als er nach einem ausgiebigen Mahl in seine gemütliche Junggesellenwohnung in der Inedalsgata zurückkehrte, nur einen Steinwurf von dem großen Polizeigebäude entfernt. Sogar ein Halbschwuler wie Wifjnbladh hatte zur Klärung der Sache beigetragen, ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben. Vielleicht sollte ich dem kleinen Giftmörder ein neues Gebiss kaufen, dachte Bäckström, dann mischte er sich einen gediegenen Abendtrunk. So eins aus Holz, dachte er dann. Kommissar Evert Bäckström, legendärer Mordermittler im Zwangsexil beim Fundbüro der Stockholmer Polizei. Gustaf G:son Henning, erfolgreicher Kunsthändler, bekannt aus Funk und Fernsehen. Kriminalinspektor Göran Wifjnbladh, der polizeieigene »Ritter von der Traurigen Gestalt«. Drei Menschenschicksale, die zwar ganz eigene Wege eingeschlagen hatten, die aber in weniger als einem Jahr auf eine Weise miteinander vereint werden sollten, die keiner von ihnen hätte voraussehen können.
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33 Ein knappes Jahr später, am Donnerstag, dem 16. August, saß Bäckström zu Hause in seiner Wohnung in der Inedalsgata und genehmigte sich einen Abendtrunk. Limonade und estnischer Wodka, den er einem Kollegen bei der Wasserschutzpolizei abgekauft hatte, der an den benachbarten Ufern gute Kontakte unterhielt. Trotz des monatlichen Beitrags des guten Henning gab es viele Löcher, die gestopft werden mussten. Da er sich einen neuen Fernseher mit riesigem Plasmabildschirm zugelegt hatte, musste der Single Malt, zumindest nur vorübergehend, durch schlichtere Ware ersetzt werden. Hoffentlich ein vorübergehendes Problem, dachte Bäckström, seufzte zufrieden, schaltete die Neuerwerbung ein und hätte sich an seinem Abendtrunk fast verschluckt. Dieser Scheißlappe, dachte er und starrte Johansson auf dem Bildschirm an. Da saß er doch und log auf seine lässige norrländische Weise. Genau wie alle anderen Scheißlappen, die zu viel fette Klöße abgekriegt hatten, typischer Fall von Klößekoma. Danach war Schluss mit dem Abendfrieden. Obwohl er fast sofort den Sender gewechselt hatte und obwohl er versucht hatte, das in ihm schwelende Feuer mit weiteren gut gefüllten Gläsern zu löschen. Er hatte es nicht einmal über sich gebracht, seine Mails durchzusehen, um festzustellen, ob es etwas Neues von diesem Frauenzimmer gab, das »echte Männer in Uniform« vorzog, mit »festen Routinen und energischer Haltung«, denen »grenzüberschreitende Aktivitäten« zugleich jedoch nicht fremd waren. Wie bringt die kleine Sau das bloß alles unter einen Hut?, überlegte Bäckström, und ihm fiel dazu nur ein sturzbesoffener italienischer Zollschnüffler ein, den er vor zwei fahren auf einem Kongress kennengelernt hatte. Ich bring den Scheißlappen um, dachte Bäckström, und mit Hilfe dieses tröstlichen Gedankens schlief er dann fast sofort in seinem nagelneuen Luxusbett ein. Der nächste Tag war wie alle anderen Tage an seinem neuen Arbeitsplatz. Alte Fahrräder, Mobilklos und seit einer Woche ein halbes Büro, das irgendein praktisch veranlagter Bauunternehmer in einem Waldstück auf einem alten Adelssitz zwanzig Kilometer im Norden von Stockholm deponiert hatte. Eine Menge ausgedienter Computer, wackliger Schreibtische und zersessener Schreibtisch224
sessel. Praktisch und billig, wenn man keine Lust hatte, zum Sperrmüll zu fahren, was zum Teufel geht das die Polizei eigentlich an, überlegte Bäckström. Leider hatte er sich das falsche Waldstück ausgesucht, wie Bäckström bald bemerkte. Die feinen Leute, die auf dem Gut hausten, hatten sich fürchterlich echauffiert, hatten die Polizeichefin beiseitegenommen, als sie bei Seiner Königlichen Majestät, einem guten Freund des Hauses, zum Essen geladen gewesen war, und schon am nächsten Tag hatte der Fall auf Bäckströms Schreibtisch gelegen. Schweres Umweltvergehen mit höchster Priorität von der höchsten Polizeiführung und die Mitwirkung der erfahrenen Ermittler der Abteilung, also Bäckströms, sei unerlässlich. »Dann musst du dir wohl einen Dienstwagen geben lassen, Bäckström, und vor Ort ein wenig ermitteln. Es scheint da draußen so allerlei verwertbare kriminaltechnische Spuren zu geben, wenn ich das richtig verstanden habe«, sagte sein Vorgesetzter, als er ihm den Auftrag erteilte und ihm die Anzeige auf den Schreibtisch legte. »Vergiss nicht, Gummistiefel mitzunehmen«, fügte er fürsorglich zu. »Ist wohl da draußen um diese Jahreszeit nicht gerade Kuschelwetter.« Aber danach trat die Angelegenheit so mehr oder weniger auf der Stelle, obwohl Bäckström sein Bestes getan hatte, um die Sache in Schwung zu bringen, und obwohl er sogar vom Tatopfer zu einem stärkenden Mittagessen eingeladen worden war, als er dieses zu dem wahrscheinlichen Tatzeitpunkt befragt hatte. Eigentlich konnte es jederzeit gewesen sein, da der Geschädigte sich derzeit vor allem in seinem Haus an der französischen Riviera aufhielt, wo er glücklicherweise keine Waldstücke besaß, um die er sich Sorgen machen musste. »Ich vermute so ein Konkursunternehmen«, meinte der Gutsherr und hob für seinen Gast das Schnapsglas. Falls der Herr Kommissar keine anderen Vorschläge habe. »Ich spiele mit dem Gedanken, den ganzen Dreck zur Kriminaltechnik zu fahren«, sagte Bäckström. »Das erscheint mir eine hervorragende Idee zu sein«, meinte sein Gastgeber. »Vorausgesetzt, die Polizei übernimmt die Kosten.« »Selbstverständlich!«, sagte Bäckström.
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Sein Chef hatte das nicht so komisch gefunden. Vor allem nicht nach einem Gespräch mit dem Chef der Kriminaltechnik, aber Bäckström hatte auf seinem Standpunkt beharrt und wenn die anderen Krieg wollten, dann bitte. »Soll ich jetzt also plötzlich auf schwerwiegende Umweltverbrechen scheißen?«, fragte Bäckström empört. »Obwohl dieser verdammte Treibhauseffekt inzwischen Frauen und Kinder abmurkst. Du hast doch selbst Kinder, oder etwa nicht?« Mit einer selten hässlichen Alten, dachte er. »Natürlich nicht, Bäckström, natürlich nicht«, beteuerte sein Chef. »Ja, ich habe drei Kinder, ich bin also ganz deiner Meinung. Ich meine nur, dass wir nicht erwarten können, dass die Technik das so schnell übernehmen kann. Du hast nicht selbst versucht, Spuren zu sichern?« »Bücherregal Billy, Schreibtischsessel Nisse und jede Menge alter ausrangierter Computer, die vor zehn Jahren in jedem Laden zu haben waren. Aber ich habe in dem ganzen Schrott zwei Festplatten gefunden, und wenn die Jungs von der Technik sich die vornehmen können, dann hab ich die Sache wohl im Sack«, sagte Bäckström. Da hast du was zum Lutschen, du blöder kleiner Aktenhengst, dachte Bäckström. Danach rief ihn sein alter Wohltäter GeGurra auf dem Handy an, und plötzlich gab es wieder Hoffnung im Leben. »Hast du nächste Woche mal Zeit für ein Essen?«, fragte Gustaf G:son Henning, nachdem sie die einleitenden Höflichkeiten erledigt hatten. »Ich habe eine hochinteressante Geschichte, die möglicherweise gegenseitigen Gewinn abwerfen kann, wenn ich das mal so sagen darf. Leider habe ich im Moment ein wenig viel zu tun, aber was hältst du vom Operakällaren am Montag, um neunzehn Uhr?« »Natürlich«, sagte Bäckström. »Kannst du nicht schon mal einen kleinen Hinweis geben?« Jetzt nimmt die Sache endlich Form an, dachte er. Diese Scheißbüromöbel können sich die trauernden Hinterbliebenen von mir aus ins Heck stopfen, wenn die mich fragen. »Große Dinge, Bäckström«, erwiderte GeGurra geheimnisvoll, »viel zu groß, um am Telefon diskutiert zu werden, fürchte ich.« Ob die wohl diesen alten Rembrandt aus dem Nationalmuseum geklaut haben, dachte Bäckström. Den mit den vielen Idioten drauf, 226
die sich einen hinter die Binde kippen und dabei irgendeinen Scheißschwur ablegen. »Schlimmer noch, fürchte ich«, sagte Gustaf G:son Henning und schaute seinen Gast mit ernster Miene an, als sie sich in ihr Stammseparee gesetzt hatten und jeder ein lebensspendendes Schlückchen trank und dazu die Speisekarte studierte. »Was weißt du über die Waffe, mit der Olof Palme erschossen worden ist?«, sagte er dann, während er an der großen Olive knabberte, die der Kellner neben den Dry Martini auf eine Untertasse gelegt hatte. Hoppla, dachte Bäckström. And now we are talking. »So allerlei«, sagte Bäckström und nickte mit der ganzen Autorität des Mannes, der dabei war zu der Zeit, da es sich begab. Jetzt soll der Scheißlappe sich in Acht nehmen, dachte er. Der Ehrenmann Henning war nachweislich ein Mann, der mit harter Ware handelte. Nicht einfach so ein Glühwürmchen, das seinem Mundwerk die Zügel überließ. »Erzähl«, sagte Bäckström. »Ich hab zuerst einige Fragen, wenn du entschuldigst«, sagte sein Gastgeber. »Ich bin ganz Ohr«, sagte Bäckström. »Es gibt angeblich eine Belohnung?« »Die Sozenregierung hat dem Idioten ein Preisschild aufgeklebt. Fünfzig Millionen steuerfrei, vorausgesetzt, er wird in reisefertigem Zustand geliefert.« »Wie meinst du das denn?« »Für den weiteren Transport zum Gericht und in unsere geliebten Gefängnisanstalten«, sagte Bäckström grinsend und trank einen Schluck von seinem lebensspendenden Single Malt. »Und wenn er tot ist?« »Ebenfalls fünfzig Millionen, wenn sich beweisen lässt, dass er es war«, sagte Bäckström. »Wenn du aber nur die Waffe liefern kannst, die er benutzt hat, dann musst du dich mit zehn Millionen begnügen«, fügte er hinzu. »Da wir die Kugeln vom Tatort zum Vergleichen haben, wäre das sehr einfach. Falls du also die richtige Waffe findest, meine ich. Und beweisen kannst, dass sie wirklich benutzt worden ist«, erklärte Bäckström. 227
»Was würde passieren, wenn du mit der Waffe auftauchtest? Oder erzählen könntest, wo deine Kollegen sie finden würden?« »Ich würde jedenfalls kein Geld bekommen«, seufzte Bäckström. »Ich bin doch Polizist, und da wird von mir erwartet, dass ich das gratis mache.« Und der Scheißlappe würde mir außerdem die Hölle heißmachen und mich vermutlich in den Knast stecken zum Dank dafür, dass ich seinen Scheißfall geklärt habe, dachte er. »Und wenn der Tipp von mir käme?«, fragte GeGurra. »Dann würden sie dir die Hölle heißmachen«, sagte Bäckström und nickte nachdrücklich. »Und anonym? Angenommen, ich lieferte einen anonymen Hinweis?« »Vergiss es«, sagte Bäckström. »Wir reden hier vom Mord an Olof Palme, also kannst du die Sache mit der Anonymität auch gleich vergessen. Im Knast! Da würdest du landen! Und sei es aus reinem Reflex.« »Auch wenn ich beweisen kann, dass ich mit der Sache nicht das Geringste zu tun habe?«, beharrte sein Gastgeber. »Trotzdem kannst du die Sache mit der Anonymität vergessen. Wir reden hier nicht von einem Scheißlottogewinn«, sagte Bäckström. »Einige Kollegen halten so dicht wie ein Teesieb. Geben mehr von sich, als du in sie hineinschüttest, wenn du verstehst, was ich meine.« »Traurig«, sagte GeGurra und seufzte. »Ich habe schon um einiges größere Geschäfte getätigt, ohne auch nur ein Wort über den Verkäufer oder den Käufer zu verlieren.« »Klar«, sagte Bäckström. »Aber das hier ist etwas ganz anderes, weil ich hier der Polizist vom Dienst bin.« »Ja?« »Was hältst du davon, wenn ich die Fragen stelle und du erzählst?«, fragte Bäckström. »Natürlich«, sagte GeGurra und nickte. »Dann werde ich erzählen, was mir vor fast fünfzehn Jahren ein aiter Bekannter erzählt hat.« »Moment mal«, sagte Bäckström und hob abwehrend die Hand. »Vor fünfzehn Jahren? Warum kommst du erst jetzt damit?« »Vorher hat sich das irgendwie nie ergeben«, sagte GeGurra und schüttelte den Kopf. »Aber ich habe neulich in der Zeitung gelesen, dass der Chef der Zentralen Kriminalpolizei offenbar eine neue ge228
heime Ermittlung in die Wege geleitet hat. Und da das Verbrechen bald verjährt sein wird, dachte ich, es wäre vielleicht der richtige Moment, um das Blatt vom Mund zu nehmen.« »Na gut, ich bin ganz Ohr«, sagte Bäckström. Ganz schön viel Geheimniskrämerei, dachte er. Vor fast fünfzehn Jahren hatte ein alter Bekannter, der noch dazu in »derselben Branche arbeitete wie Bäckström«, Gustaf G:son Henning von der Mordwaffe erzählt. Da er selbst seit vielen Jahren Tagebuch führte, könnte er Bäckström natürlich das genaue Datum dieses Gesprächs mitteilen, wenn der das wünschte. »Warum hat er dir das erzählt?«, fragte Bäckström. Ein Kollege. So ein Scheiß, dachte er. »Er wollte wissen, was sie auf dem internationalen Kunst- und Antiquitätenmarkt einbringen würde«, erklärte GeGurra. »Die Leute sammeln die seltsamsten Dinge, musst du wissen«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Vor einigen fahren habe ich zum Beispiel einen alten Flanellschlafanzug verkauft, der Heinrich Himmler gehört hat, dem alten Chef der SS, du weißt schon, und zwar für dreihundertfünfzigtausend Kronen.« »Und welche Antwort hat er bekommen? Dein Bekannter, meine ich.« »Dass es sehr schwer sein würde, einen Käufer zu finden. Wenn wir bedenken, dass es um einen noch unaufgeklärten Mord an einem Ministerpräsidenten geht. Eine Million, höchstens, zum damaligen Zeitpunkt. Aber dass das Preisbild sich natürlich radikal ändern würde, sobald der Mord verjährt und die Tatwaffe damit nicht mehr ermittlungsaktuell wäre. Die Verjährungsfristen bei Hehlerei sind ein wenig komplizierter, aber das weißt du ja. Aber egal, nach der Verjährungsfrist ist wahrscheinlich von etlichen Millionen die Rede.« »Mehr als zehn?« »Bestimmt.« GeGurra nickte. »Wenn du den richtigen Käufer findest, und ich kenne mehrere, die sehr weit gehen würden, um ihren Sammlungen ein solches Prachtstück einzuverleiben.« »Dieser Freundeskreis der Palmehasser«, sagte Bäckström und grinste. »Hat er noch mehr über die Waffe gesagt?« 229
»Ja. Unter anderem hat er erzählt, dass es keine Smith & Wesson ist, wie die ganze Zeit in allen Medien behauptet worden sei. Stattdessen soll es ein anderer Revolver amerikanischen Fabrikats sein, eine Ruger. Das Modell heißt Speedex und hat ein Magazin mit Platz für sechs Patronen. Gechromt, silberfarben, mit langem Lauf, fünfzehn Zentimeter, soweit ich mich erinnere, Kaliber .357 Magnum. Ziselierter Holzschaft aus Walnussholz. Absolut gut in Schuss. Ich weiß übrigens noch, dass ich danach gefragt habe. Solche Informationen sind wichtig für jemanden wie mich.« »Hat er noch mehr gesagt?«, fragte Bäckström. »Hatte er die Registriernummer der Waffe?« Das Modell könnte tatsächlich stimmen, dachte er. »Davon hat er mir jedenfalls nichts gesagt. Nur, dass die Waffe lieferbereit sei, falls es zu einem Geschäft kommt. Dass sie seit Jahren an einem besonderen sicheren Ort aufbewahrt wird.« »Wo denn?«, fragte Bäckström. »Mitten in der Löwengrube«, sagte GeGurra und lachte kurz auf. »Das waren seine eigenen Worte. Dass die Waffe in der Löwengrube aufbewahrt wird.« »Und wie hat er das gemeint?« »Keine Ahnung. Aber er sah wirklich glücklich aus, als er das gesagt hat.« »Hat er noch mehr gesagt?«, fragte Bäckström. »Ja, schon. Noch eins. Ziemlich komische Geschichte sogar. Er behauptet, dass dieselbe Waffe noch zu zwei weiteren Morden und einem Selbstmord benutzt worden sei. Jahre, bevor damit der Ministerpräsident erschossen wurde. Ich weiß noch genau, dass er das gesagt hat. Dass es sich um eine Waffe mit Vergangenheit handele. Nicht nur ein Ministerpräsident, der für die Russen spioniert hatte, wurde damit beseitigt, sondern auch schlichteres Gesindel. So ungefähr hat er sich ausgedrückt.« »Hat er einen Namen?« »Wer denn?«, fragte GeGurra zurück und lachte freundlich. »Dein Informant. Der in derselben Branche arbeitet wie ich. Hat er einen Namen?« »Ja, natürlich«, sagte GeGurra. »Aber kaum einen Namen, den man in einem Lokal wie diesem herumposaunt. Hab also ein paar Stunden Geduld. Ich habe einen meiner Mitarbeiter gebeten, einen diskreten Umschlag in deinen Briefkasten zu legen. Das monatliche 230
Einkommen für unsere alte Angelegenheit und dazu noch ein wenig für deine laufenden Kosten in Verbindung mit der Sache, über die wir gerade gesprochen haben und die hoffentlich unser nächstes Projekt werden kann. Und einen Zettel mit dem Namen meines alten Bekannten.« »Klingt gut«, sagte Bäckström. »Wie hast du den eigentlich kennengelernt?« »Wie die meisten anderen auch«, sagte GeGurra. »Er hat ein Bild von mir gekauft. Einen ‘Anders Zorn’ übrigens.« »Hoppla«, sagte Bäckström. »Das ist kein Katzenschiss.« Wo dieser Kollege wohl untergekommen ist?, dachte er. Auf jeden Fall bei etwas Besserem als dem Fundbüro. »Einen ziemlich ungewöhnlichen Zorn«, fügte GeGurra hinzu. »Wenn der große Frauenmaler in seiner ausgelassensten Stimmung war, konnten seine Frauenstudien ziemlich eindringlich werden, wenn ich das mal so sagen darf. Nicht nur Haut, Haare und Wasser. Eine unbekannte Seite an Zorn, oder vielleicht eine Seite, über die unter Kunsthistorikern nur ungern gesprochen wird, während sie zugleich dem persönlichen Geschmack meines Bekannten entsprach. Wie Hand in Handschuh, wenn man so will.« »Er hat eine Möse gemalt«, stellte Bäckström fest. »Die bestdargestellte Möse der schwedischen Kunstgeschichte«, stimmte GeGurra mit überraschendem Nachdruck zu. »Was hältst du übrigens von einem ordentlichen Stück Fleisch und einer netten Flasche Rotem?« Bäckström war länger als geplant im Lokal geblieben. Es gab da ja schließlich noch ein Projekt, das angegangen werden musste. Außerdem einen Umschlag, der auf der eigenen Fußmatte wartete. GeGurra ist schon ein richtiger alter Ehrenmann, dachte Bäckström, als er auf dem Sofa saß und das Monatliche sowie den gelinde gesagt großzügigen Projektzuschuss abzählte. Aber für den Namen des Gewährsmanns, der auf dem beiliegenden Zettel stand, hätte er nicht viele Kopeken gegeben. Wieso denn Kollege? Nie im Leben kann dieser Dussel Palme erschossen haben, und wieso hatte so einer sich einen echten Anders Zorn leisten können, dachte Bäckström und schüttelte sein rundes Haupt, ehe er mit einem guten Schluck estnischen Wodkas mit Limonade nachspülte. 231
Außerdem gab es da doch noch jemanden, den er kannte und der immer behauptete, mit diesem Mann gut befreundet gewesen zu sein. Wer verdammt noch mal war das denn nur?, dachte Bäckström, und scheißegal jetzt, das fällt dir schon wieder ein. Muss dieser Baltenwodka sein, dachte er, ehe er einschlief. Der totale Radiergummi für ein ansonsten perfekt funktionierendes Gehirn wie seins.
34 Am Donnerstag, dem 23. August, war Bäckström anders als sonst den ganzen Tag fleißig am Werk gewesen, da sich große Dinge abspielten. Keine Fahrräder, Abfalltonnen oder ausrangierte Büromöbel. Vermutlich wurde hier schwedische Kriminalgeschichte geschrieben, und ausnahmsweise einmal war die Sache in die richtigen Hände geraten und nicht bei einem seiner vielen mehr oder weniger zurückgebliebenen Kollegen gelandet. Ausnahmsweise einmal hatte er praktischerweise über seinen eigenen Rechner Zugang zu allen notwendigen Informationen. Sogar die Abteilung für die Zuordnung von Diebesgut war damals nämlich für die Jagd auf den Revolver mobilisiert worden, mit dem der Ministerpräsident erschossen worden war. Eine Jagd, die schon so lange andauerte wie die auf den Mörder selbst. Die im Laufe der Jahre zehntausende von Arbeitsstunden verschlungen und noch immer keinerlei Resultat erbracht hatte. Bereits am Sonntag, zwei Tage nach dem Mord, hatte der damalige Ermittlungsleiter, Hans Holmer, seine erste Pressekonferenz einberufen, und die Mordwaffe war für die Medien das Hauptthema gewesen. Der große Konferenzsaal im Polizeigebäude, hunderte von Journalisten, alles brechend voll, Fernsehkameras aus aller Welt und ein Polizeichef, dessen unbändige Lust, vor sein Publikum zu treten, ihn förmlich vibrieren ließ. Er stützte sich auf die Ellenbogen und bewegte seinen Oberkörper hin und her wie ein Boxer, als er auf dem hohen Podium an einem Tisch saß, er brachte das Publikum mit einer Handbewegung zum Verstummen und nickte ernsthaft aber doch lächelnd in den andächtig lauschenden Saal. Nach einer wohl überlegten Kunstpause hob er zwei Revolver in ein wahres Blitzlichtgewitter; Woge um Woge von Licht umstrahlte 232
ihn, und er hatte sich niemals so stark gefühlt wie in diesem Moment. Schon von diesem Tag an hatte die Ermittlungsleitung beschlossen, dass es sich mit »größter Wahrscheinlichkeit um einen in den USA hergestellten Revolver der Marke Smith & Wesson« mit langem Lauf handelte. Teilweise, weil es möglicherweise zutraf, aber vor allem, weil Vorbehalte und Einschränkungen in dieser Situation eben nicht angebracht waren. Wie er sich seiner Sache nun immer so sicher sein konnte, dachte Bäckström, der es besser wusste, da er von Anfang an dabei gewesen und ein richtiger Polizist war, anders als Holmer und alle anderen Juristentrottel, die doch kaum wussten, wo der Abzugshahn saß. Dass es ein Revolver war und keine Pistole, wirkte immerhin sehr wahrscheinlich. Das halbe Dutzend Zeugen, das die Waffe in der rechten Hand des Täters gesehen hatte, hatte diese sehr genau beschrieben. Wie einen »typischen Revolver«, »so eine Westernknarre mit langem Lauf«, oder sogar wie »die reinste Buffalo-Bill-Sache«. Diese Beobachtungen waren dann gestützt worden durch die wenigen kriminaltechnischen Spuren, die am Tatort gesichert - oder eben nicht gesichert - worden waren. Man hatte keine Patronenhülsen gefunden, und da Pistolen anders als Revolver Hülsen auswerfen, wenn man geschossen hat, sprach das für einen Revolver. Die beiden Kugeln, die am Tatort gefunden worden waren, waren Kaliber .357 Magnum, und fast alle Waffen dieses Kalibers waren Revolver. Es gab Ausnahmen, zum Beispiel die Dienstpistole der israelischen Armee Desert Eagle vom selben Kaliber, aber diese Marke war selten und stimmte auch nicht mit den gefundenen Kugeln überein. Diese waren nämlich etwas eigenartig und wurden ausschließlich für Revolver hergestellt. Die erste war am Morgen nach dem Mord gefunden worden. Sie lag auf dem Bürgersteig des Sveavägs, etwa fünfzig Meter vom Tatort entfernt. Die andere wurde einen Tag später um die Mittagszeit gefunden und lag in Schussrichtung nur fünf Meter von der Stelle entfernt, an der der Ministerpräsident erschossen worden war. Die Kugeln hatten sich auf den Hersteller zurückführen lassen. Sie waren vom Fabrikat Winchester Western .357 Magnum, Metal Piercing. Bleikugeln, versehen mit einem besonders harten Mantel 233
aus einer Kupfer-Zink-Legierung, die aus diesem Grund auch Metall durchschlagen konnte. Der Anlass, warum die Produktion dieser Kugeln aufgenommen worden war, war, dass die Verkehrspolizei in den USA - die Highway Patrol - den Wunsch nach einer Kugel zum Ausdruck gebracht hatte, die hart und widerstandskräftig genug war, um zum Beispiele den Motorblock eines Autos durchschlagen zu können. Wie viele Kugeln dieser Art jedoch hergestellt worden waren, stand nicht fest. Was aber keine so große Rolle mehr spielte, da sie sehr schnell unter herkömmlichen Magnumschützen Beliebtheit erlangt hatte, vor allem denen, die sich mit dem so genannten combat shooting befassten, diesem Wettschießen, bei dem erwachsene Männer herumlaufen und auf so ungefähr alles von Pappkameraden bis zu leeren Benzinfässern schießen. Ansonsten halfen diese Tatsachen kaum weiter. Revolver des aktuellen Kalibers waren schon fast dreißig Jahre vor dem Mord an dem schwedischen Ministerpräsidenten auf dem Markt gewesen. Millionen von Exemplaren waren in dieser Zeit hergestellt und verkauft worden, und ihre Besitzer hatten hunderttausende von Schüssen mit diesem Kaliber abgegeben. Wie viele davon durch Metall gegangen waren, stand nicht fest, aber der größte Hersteller, Winchester Western, hatte mehrere Millionen verkauft. Zu allem Überfluss waren die beiden gefundenen Kugeln von Anfang an heftig umstritten, da sie nicht von der Polizei gefunden worden waren, sondern von zwei Angehörigen der großen detektivisch geschulten Öffentlichkeit, die sie freundlicherweise der Polizei überlassen hatten. Viele Journalisten und schwedische Bürger hatten deshalb den Verdacht, dass diese Kugeln eine falsche Spur waren, die vorsätzlich am Tatort ausgelegt worden war, um die Ermittler in die Irre zu führen. Da beide Kugeln sichtbare Spuren des Materials aufwiesen, das sie passiert hatten, also von Olof Palmes Kleidung und Körper und Lisbeth Palmes Kleidern, hätte sich diese Frage fast sofort beantworten lassen, falls man sich an die üblichen kriminaltechnischen Vorgehensweisen gehalten und diese Faser- und Gewebsspuren gesichert hätte, ehe man die Kugeln säuberte, um ihr Kaliber zu bestimmen. Aber das hatte man nicht. Wiijnbladh und seine Kollegen von der Kriminaltechnik der Stockholmer Polizei hatten jede Kugel in eine 234
kleine Plastiktüte gesteckt und sie zur »Kaliberbestimmung« an das staatliche Kriminaltechnische Labor in Linköping geschickt. Dieser Wunsch war auf dem Vordruck angekreuzt worden, der den Plastiktüten beigelegen hatte. Im Labor war dem Wunsch der Kundschaft alsbald entsprochen worden. Die beiden Kugeln hatte man in eine Schüssel voll Alkohol gelegt, sie waren von Fasern, Körpergeweben und Blut befreit und dann unter normalem Leitungswasser abgespült worden, dann hatte man den Alkohol aus der Schüssel in den Abfluss gegossen und das Kaliber mit einer Mikrometerschraube gemessen. Erst zwei Jahre später hatten hilfsbereite Physiker von der Universität Stockholm das Fragezeichen beseitigen können, das die Polizei selbst verursacht hatte. Ein freundlicher Professor der Teilchenphysik hatte sich bei der Polizei gemeldet und berichtet, bei dem, was normale Menschen als Blei bezeichneten, könne es sich für den Sachkundigen um höchst unterschiedliche Dinge handeln. Blei könnte nämlich eine unterschiedliche Isotopenzusammensetzung besitzen, und wenn man zum Beispiel Kugeln herstellte, so mischte man fast immer Blei von unterschiedlichem Isotopenaufbau und erhalte auf diese Weise Kugeln mit unterschiedlichen Kombinationen von Bleiisotopen. Der Professor hatte sich deshalb erkühnt, eine einfache wissenschaftliche Untersuchung vorzuschlagen. Nämlich einen Vergleich der Isotopenzusammensetzung der beiden Kugeln mit den Bleispuren, die man an der Kleidung des Opfers sichern können müsste, vorzunehmen und nachzuprüfen, ob beides übereinstimmte. Das geschah, und die technische Untersuchung war damit zumindest einen kleinen Schritt weitergekommen. Die beiden gefundenen Kugeln waren mit »sehr hoher Wahrscheinlichkeit« identisch mit den Kugeln, die Olof Palme getötet und seine Frau gestreift hatten, und das ewige Gerede über die vorsätzlich falsche Fährte konnte damit an den Nagel gehängt werden. Und damit nicht genug. Mit Hilfe der Isotopenzusammensetzung der Kugeln war auch der Bleisatz - »Guss«, »Schmelze« oder »Batch« - zu ermitteln gewesen, von dem sie ursprünglich herrührten. Der Satz hatte zwar mehrere hunderttausend Patronen umfasst, die der Hersteller Winchester Western in etliche Länder geliefert hatte, aber nur 6000 davon waren bei schwedischen Waffenhändlern gelandet. Diese Lieferungen fielen in die Jahre 1979 und 1980, 235
also Jahre vor dem Mord am Ministerpräsidenten. Als Ermittlungsrubrik durchaus hoffnungsvoll, aber weiter war man dann doch nicht gekommen. Blieb die Waffe, die die Polizei niemals gefunden hatte, zu deren Ermittlung aber etliche andere Fachleute ihr Scherflein zur Untersuchung beigetragen hatten. Die zu diesem Zeitpunkt gebräuchlichste Waffe vom aktuellen Kaliber waren Revolver in unterschiedlicher Ausfertigung und Lauflänge von der Marke Smith & Wesson. Deshalb hatte die Leitung der ersten Ermittlungskommission daraus geschlossen, dass es sich »mit größter Wahrscheinlichkeit« um einen Revolver von Smith & Wesson handelte. Zugleich war das eine Schlussfolgerung, die aus statistischen und forensischen Gründen in Frage gestellt werden konnte. Die an den Kugeln sichergestellten Spuren, die vom Lauf der Waffe herrührten, passten zwar gut zu einer Smith & Wesson, sie entsprachen aber zugleich einem halben Dutzend Revolver anderen Fabrikats, und zusammengenommen machten die ungefähr ein Viertel der gesamten Bestände an Revolvern des aktuellen Kalibers in aller Welt aus. Der große Trost in diesem Zusammenhang war, dass die ballistischen Spuren nicht zum zweithäufigsten Magnumrevolver passten, der von der Firma Colt hergestellt wurde. Jener legendären Waffenschmiede, die Smith & Wessons größter Konkurrent auf dem Markt für Magnumrevolver war. Worüber Bäckström sich freute, war, dass die Spuren auf den Kugeln auch hervorragend zu den Revolvern passten, die von dem drittgrößten aller Produzenten in den USA stammten, von Sturm, Ruger & Co in Hartford, Connecticut. Sogar die Lauflänge von mindestens einem Dezimeter stimmte mit den Schlussfolgerungen der Waffentechniker überein. Wenn der Lauf kürzer gewesen wäre, hätten die Kugeln hinten »aufgequollen sein« müssen und das waren sie nicht. Das hier wäre doch ein verdammter Selbstläufer gewesen, dachte Bäckström. Hätte er nur von Anfang an mitmachen dürfen, so wäre der Fall mit größter Wahrscheinlichkeit auch gleich zu Beginn aufgeklärt worden.
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Blieb noch ein kleines Fragezeichen. Die Möglichkeit, die beiden Kugeln vom Tatort mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Revolver in Verbindung zu bringen, mit dem der Ministerpräsident erschossen worden war. Der technische Bericht, den Bäckström in seinem Computer fand, stammte aus dem Jahre 1997, und der anonyme Experte, der ihn verfasst hatte, hatte in diesem Punkt seine Zweifel. Die beiden Kugeln waren in »ziemlich schlechtem Zustand«. Sie ließen sich zu Vergleichen von unterschiedlichen Waffentypen verwenden und waren gut genug gewesen, um die hunderte von Waffentypen auszuschließen, mit denen im Laufe der Jahre probegeschossen worden war. Was nicht heißen musste, dass sie sich mit Sicherheit mit der Mordwaffe in Verbindung bringen lassen würden, falls diese jemals gefunden werden würde. Was für ein verdammter Flachwichser, dachte Bäckström. Die Technik marschierte doch im Sturmschritt voran! Er hatte es selbst mit eigenen Augen sehen können, in seinem eigenen Fernseher, zu Hause auf seinem eigenen Sofa. Die vielen Wunder, die seine Kollegen vom CSI immer wieder bewerkstelligten, indem sie einfach an ihren Rechnern herumspielten. Wenn es also sein müsste, würde er eben selbst die Waffe nehmen und zu den richtigen Polizisten fahren, auf die andere Seite des großen Teichs. Las Vegas oder Miami, dachte Bäckström. Das ist jetzt wohl die große Frage, dachte er. 35
Nachdem er seine Kenntnisse über die Waffenspuren der Palmeermittlung aufgefrischt hatte - das meiste hatte er schon gewusst, und es war wohl keine große Kunst, sich den Rest auszurechnen -, war Bäckström auf aktivere interne Ermittlung in seinem Rechner übergegangen. Das Ergebnis war leider mager. Er fand nur zwei Magnumrevolver der Marke Ruger in seinen Registern über gestohlene oder vermisste Gegenstände. Der erste war einige Jahre zuvor bei einem Einbruch bei einem Finnentrottel gestohlen worden, der in der Nähe von Luleä wohnte und offenbar Schütze und Jäger war. Während der Ferien hatten »ein oder mehrere unbekannte Täter sich Zugang zur Wohnung des Geschädigten verschafft, seinen Waffenschrank aufgebrochen und drei Jagdgewehre, eine Kombiwaffe, zwei Schrotgewehre und einen 237
Revolver entwendet«. Keine der gestohlenen Waffen war wieder aufgetaucht. Der Revolver war eine Ruger vom Kaliber .357 Magnum, aber das war auch alles. Gebläut, mit kurzem Lauf und gummiüberzogenem Kolben, und ausnahmsweise einmal war es so einfach, dass der Rechner sogar ein Bild der Waffe liefern konnte. Scheißlappen und Finnentrottel, dachte Bäckström. Wie zum Teufel kann man solchem Pack Schusswaffen in die Hände geben? Schlimm genug, dass sie legal den ganzen Schnaps kaufen durften, den sie sich die ganze Zeit hinter die Binde gössen. Der zweite Fall wirkte schon vielversprechender. Zwei Jahre zuvor hatte die Stockholmer Polizei eine Wohnung in Flemingsberg durchsucht. Darin wohnte die Freundin eines registrierten Gauners, der unter dem Verdacht stand, zwei Monate zuvor in Hagersten einen Geldtransport überfallen zu haben, und hinter dem Kühlschrank war ein Revolver der Marke Ruger gefunden worden. Das reinste Mysterium, gaben die Freundin und der Verdächtigte zu Protokoll. Sie hatten beide diese Waffe noch nie in ihrem Leben gesehen, und die einzige Erklärung musste sein, dass der Vormieter sie beim Auszug vergessen hatte. Das Einfachste wäre sicher, ihn direkt zu fragen, aber dabei könnten sie leider nicht behilflich sein, weil sie weder seinen Namen noch seine neue Adresse kannten. Die ballistische Untersuchung hatte auch nichts ergeben. Die Waffe ließ sich weder mit einem Verbrechen noch mit den Wohnungsinsassen in Verbindung bringen. Sie war nicht als gestohlen gemeldet worden und tauchte in keinem Register über legale Waffen auf. Der Staatsanwalt hatte den Fall abgeschrieben, der Revolver war beschlagnahmt worden und befand sich jetzt in der Obhut der Kriminaltechnik der Stockholmer Polizei, genauere Angaben waren in Bäckströms Computer nicht vorhanden. Einen Versuch ist es wert, dachte Bäckström und rief bei der Technik an, brachte dem Kollegen am anderen Ende der Leitung sein Anliegen vor und bat ihn, ein Bild der aktuellen Waffe zu mailen. »Hast du die Branche gewechselt, Bäckström?«, fragte der Kollege, der sich ansonsten nicht sonderlich enthusiastisch anhörte. »Wieso denn die Branche gewechselt?«, entgegnete Bäckström. Was faselt der Arsch da eigentlich?, dachte er. 238
»Ich dachte, du beschäftigst dich mit gebrauchten Büromöbeln.« »Das geht dich einen Scheißdreck an«, sagte Bäckström. »Mach es einfach!« »Ich werd's mir überlegen«, erwiderte der Kollege, und dann legte er einfach auf. Während er darauf wartete, dass der Kollege von der Technik zu Ende überlegte, den Arsch hochkriegte und ihm das Foto des Revolvers schickte, widmete Bäckström sich seinen eigenen Überlegungen. Drei Morde und ein Selbstmord, dachte er. Offenbar eine Art Sanierung in den Kreisen größerer und kleinerer Mistkerle. Vielleicht gab es ja noch mehr, dachte er hoffnungsvoll. Die Waffe war doch seit über zwanzig Jahren im Umlauf und in dieser Zeit vermutlich zu allem Möglichen benutzt worden. Vielleicht von einer geheimen Organisation von Berufskillern? Ungefähr so wie bei den brasilianischen Kollegen, die ab und zu unter dem Nachwuchsabschaum in ihren eigenen Slumvierteln herzhaft aufräumten. Auch die Sache mit der Löwengrube klang interessant. Hatten nicht all die Kamelreiter und Datteltrampier und Selbstmordbomber just den Löwen als Symbol für ihre Geheimgesellschaften und terroristischen Aktivitäten? Hatte das Opfer sich nicht mit einer Masse Krummnasen aus Arabien eingelassen, und wussten nicht alle nur zu gut, was passierte, wenn man sich mit denen rumtrieb? Wo das wohl noch hinführen würde?, dachte Bäckström. Weiterüberlegen konnte er viel besser zu Hause in seinem behaglichen Unterschlupf, der praktischerweise nur einen Steinwurf von seinem schäbigen Büro entfernt lag. Noch immer keine Mail von diesem verdammten Faulenzer von der Technik, und da es fast schon drei Uhr nachmittags war, war es höchste Zeit für etwas Besseres. Und wenn einer seiner so genannten Chefs sich fragte, wo er wohl stecken mochte, so hatte er auch noch einen eigenen Tatort, den er sich ansehen musste. Noch dazu in der Nähe eines echten Adelssitzes, wo feine Leute wohnten, die leider trotzdem die Superhohlbirne, die seine so genannte Chefin war, zum Essen einluden. Die Pflicht ruft, dachte Bäckström. Gab die 2 für »dienstlich unterwegs« in sein Telefon ein und verließ schnell und diskret das Haus, um eine so genannte externe Verrichtung vorzunehmen. Auf 239
dem Heimweg ging er am staatlichen Alkoholladen vorbei und füllte seinen Vorrat an Single Malt auf, außerdem kaufte er sich ein paar Leckerbissen in dem nahegelegenen Feinkostladen. Eine Viertelstunde später lag er auf dem Sofa vor dem Fernseher, mit einem netten Gläschen in bequemer Reichweite, und schon nach dem ersten Schluck hatte der gesegnete Malt den baltischen Nebel neutralisiert. Plötzlich fiel ihm ein, welcher von seinen vielen vertrottelten Kollegen immer damit prahlte, den Halbidioten zu kennen, der Bäckströms altem Bekannten GeGurra offenbar die bekannteste Mordwaffe der Kriminalgeschichte angeboten hatte. Das war doch dieser verdammte Wiijnbladh, dachte Bäckström und schüttelte staunend sein pausbäckiges Haupt.
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Am nächsten Tag beschloss Bäckström, es sei höchste Zeit, um loszulegen, und deshalb machte er sich schon weit vor dem Mittagessen ans Werk. Zuerst hatte er den Rechner eingeschaltet, um seine Mails durchzusehen. Nichts von diesem Faulenzer von der Technik, obwohl es doch durchaus möglich war, dass die heißeste Spur der schwedischen Polizeigeschichte in der Kriminaltechnik herumgammelte und immer kälter wurde. Wie zum Teufel kann so einer eigentlich Polizist werden?, dachte Bäckström und schickte noch eine Mail. Dann rief er Johanssons Sekretärin an und bat, zu ihrem Chef durchgestellt zu werden. »Kommissar Evert Bäckström«, sagte Bäckström. »Ich will mit dem Erkazeh sprechen.« »Der ist nicht im Haus«, antwortete die Sekretärin kurz angebunden. »Worum geht es?« »Darüber kann ich am Telefon nicht sprechen«, sagte Bäckström ebenfalls kurz angebunden. Und schon gar nicht mit dir, du kleine Fotze, dachte er. »Dann schlage ich vor, Sie mailen mir ein paar Zeilen und sagen, worum es geht.« 240
»Das geht auch nicht«, sagte Bäckström. »Ich muss mit ihm sprechen.« Sogar ihre Fresse sitzt senkrecht, dachte er. »Ich werde das weiterreichen und feststellen, ob er Zeit hat.« »Tun Sie das«, sagte Bäckström und legte auf, ehe sie das tun konnte. Was zum Teufel mach ich jetzt?, dachte er, es war noch nicht einmal halb zwölf. Zu früh fürs Mittagessen, wenn man ein richtiges Pils dazu trinken will. Sogar zu früh, um sich aus der Gefangenschaft hinauszustempeln, da sein so genannter Chef durch den Gang schlich und wie ein Adler auf Bäckströms knapp bemessene Zeit achtete. Wiijnbladh, fiel ihm plötzlich ein. Höchste Zeit, den kleinen Trottel auszupressen und zu sehen, was der zu bieten hat. Nicht sehr viel, wie sich dann herausstellte. Wiijnbladh lag auf allen vieren unter seinem Schreibtisch und schien etwas zu suchen. »Tach, Wiijnbladh«, sagte Bäckström. »Siehst du nach, ob ordentlich geputzt wurde, oder was?« Wiijnbladh krümmte sich auf dem Boden, schüttelte den Kopf und sah Bäckström flehend an. »Meine Tablette, mir ist meine Tablette runtergefallen.« »Tablette?«, wiederholte Bäckström. Was zum Teufel redet der da?, dachte er. »Meine Medizin«, erklärte Wiijnbladh. »Ich wollte die gerade nehmen, da ist sie auf den Boden gefallen, und jetzt finde ich sie nicht.« »Du solltest vielleicht lieber auf Zäpfchen umsteigen«, schlug Bäckström vor. Bleib du ja am Leben, bis ich mit dir gesprochen habe, dachte er. Dieser kleine Halbschwule ist doch total daneben, dachte Bäckström, als er Wiijnbladhs Tür hinter sich zuzog. Weil er nichts Besseres zu tun hatte, ging er in sein Zimmer. Zuerst spielte er mit dem Gedanken, einen Verwandten bei der Polizeigewerkschaft anzurufen, der fast alles über die so genannten Kollegen wusste. Nach weiterer Überlegung jedoch beschloss er, das lieber zu lassen. Trotz der Blutsbande, die sie vereinten, war sein Cousin doch ein wenig zu neugierig und viel zu unzuverlässig, als dass Bäckström ihn in einer so brisanten Angelegenheit wie dieser hätte ansprechen können. 241
Da es inzwischen zwölf Uhr geworden war, was Grund genug für einen kurzen Spaziergang vom Polizeigebäude zu seinem einige Blocks weiter gelegenen Stammlokal bot, wurde es zudem höchste Zeit, etwas zwischen die Zähne zu bekommen. Zumal sein eigener Falke offenbar das Revier gewechselt hatte. Besser, den Hunger vor der eigenen Tür zu vertreiben, dachte Bäckström. Gab die »O« - für »ist zu Tisch« - in sein Telefon ein und verließ das Haus mit schnellen Schritten. Es wurde eine kurze Mahlzeit. Schon zwei Stunden später kehrte er ins Büro zurück und hatte es sogar unterwegs noch geschafft, erfrischende Mentholpastillen zu kaufen. Aber noch immer keine Mail von der Technikschnecke und auch nichts von dem Scheißlappen. Der ist vermutlich voll und ganz mit der Rentierzählung beschäftigt, dachte Bäckström. Danach rief der gute Henning an und wollte wissen, wie es aussah. Da es in Bäckströms Leben derzeit vor allem darum ging, Henning bei Laune zu halten, hatte er ein wenig dick aufgetragen. Es sehe ziemlich vielversprechend aus, sagte Bäckström. Total beschäftigt mit interner Recherche über Person und Objekt. »Gibt allerlei interessante Treffer«, teilte er mit. »Kannst du darüber am Telefon sprechen?«, fragte Ge-Gurra. Leider nicht. Viel zu brisant. Außerdem habe Bäckström selbst eine Frage. »Du hast gesagt, er hat einen Zorn von dir gekauft. Wieso konnte er sich das leisten? So was hängen Polizisten sich sonst ja nicht an die Wand. Die haben eher weinende Kinder, wenn du mich fragst«, sagte Bäckström. Er hatte auch eins, das zu Hause in der Wohnung auf dem Klo hing. Direkt über der Schüssel, damit die kleine Heulsuse sich wenigstens über die bäckströmsche Supersalami freuen konnte, wenn er sie besuchte. »Reiche Eltern«, antwortete Gustaf G:son Henning. »Mama und Papa und viele Generationen davor auch. Das große Mysterium ist wohl, warum er zur Polizei gegangen ist. Er war zwar zum Glück kein gewöhnlicher Polizist, aber eben doch Polizist.« »Wie meinst du das?« Was weißt du über richtige Polizisten?, dachte Bäckström. 242
»Er scheint seine Seiten gehabt zu haben, wenn ich das mal so sagen darf. Hoffentlich ganz besondere Seiten, wenn du verstehst, was ich meine.« »Nein, erklär mal«, verlangte Bäckström. Das sei nichts, worüber man am Telefon sprach, und da er Kundschaft hatte, schlug er vor, nach dem Wochenende weiterzureden. Du mieser Geizkragen, dachte Bäckström. Was ist denn dagegen zu sagen, sich kurz zu treffen und einen Happen zu essen? Danach rief er abermals bei Johansson an. Es war schon nach zwei, und da es Freitag war, war es vermutlich schon zu spät. So einer wie Johansson hatte sich doch sicher längst aus dem Büro geschlichen. »Bäckström«, sagte Bäckström mit Erz in der Stimme. »Benötige den Erkazeh.« »Der ist leider nicht zu sprechen«, sagte Johanssons Sekretärin. »Aber ich verspreche, ihn bei der ersten Gelegenheit von Ihrem Anruf zu unterrichten.« »Das möchte ich Ihnen auch geraten haben«, sagte Bäckström. »Verzeihung?« Fick dich, du kleine Sau, dachte Bäckström und legte auf. Da er nichts Besseres zu tun hatte, gab er eine »4« in sein Telefon ein. Eine kurze Dienstreise, um sich den Tatort zwanzig Kilometer im Norden der Stadt anzusehen. Kaum hatte er eine sichere Entfernung vom Polizeigebäude erreicht, ging er nach Hause. Ansonsten verlief das Wochenende so wie immer. Ein paar gute Boxkämpfe auf den einschlägigen Sportsendern und zumindest ein erinnerungswürdiges Match, wo ein riesiger Broilerbruder ein halb so großes Blässhuhn zu Hühnerfutter zerhackte und das Publikum am Ring aussah, als ob es schon nach der ersten Runde an Masern erkrankt sei. Ich wüsste ja gern, ob das Leben sehr viel besser sein kann als jetzt, dachte Bäckström mit tiefem Seufzer. Hier sitzt du auf deinem neuen Ledersofa, mit einem soliden Whisky und einem kalten Pils, während zwei Schwarze sich auf deinem neuen Großbildschirm die Seele aus dem Leib prügeln. Die Pornoausbeute des Wochenendes dagegen war leider auch so gewesen wie sonst. Dieses ewige Wackeln, Hüpfen und Stöhnen, und 243
am Ende hatte er das alles so sattgehabt, dass er trotz des Whiskys einen ernsthaften Versuch gemacht hatte, im Netz etwas Interessantes zu finden. Eine rothaarige Donna aus Norrköping hatte auf ihrer Homepage ein Filmchen mit ihrem Können. Für billiges Geld noch dazu. Echt rothaarig, nach der Möse zu urteilen, und absolut ein Naturtalent. Ganz zu schweigen von ihrem Dialekt. Unschlagbar, bei den Sprüchen, dachte Bäckström, der ein echter Kenner war. Am Samstag aß er in seiner Stammpinte zu Abend, obwohl er sich inzwischen durchaus etwas Besseres hätte leisten können. Genau wie immer hatte es von allem zu viel gegeben, und er hatte so ungefähr den ganzen Sonntag in seinem karierten Luxusbett verbracht. In den ersten Stunden hatte er Gesellschaft von einer ziemlich frechen kleinen Tusse gehabt, die er aus der Kneipe abgeschleppt hatte. Dann war sie so nervig geworden wie alle anderen Weiber in ihrem Alter, aber da er ein netter Kerl war, hatte er ihr Geld für das Taxi gegeben, ehe er sie vor die Tür gesetzt hatte. Dann hatte er sich endlich von der harten Woche ausschlafen können. Mit frischen Kräften hatte er das Wochenende mit einem langen Spaziergang zu einem besseren Lokal in der City abgeschlossen. War zu menschlicher Zeit nach Hause gekommen und früh zu Bett gegangen. Und jetzt, ihr Idioten, dachte Bäckström, als er am Montag schon um zehn Uhr morgens wieder an seinem Arbeitsplatz saß. Kein Lebenszeichen von dem Kollegen von der Technik, und als erste Amtshandlung rief er die Sekretärin des Scheißlappen an, um sie an ihr Versprechen zu erinnern. Diesmal saß der Arsch in einer Besprechung und durfte nicht gestört werden. Sie selbst klang womöglich noch verkniffener als sonst. Ob sie wohl mit der Ratte redet?, dachte Bäckström. Beharrlichkeit führt auch zum Ziel, dachte er eine Stunde später und rief abermals an. Obwohl sie sich genauso anhörte wie sonst, schien sie endlich begriffen zu haben. Erst rief dieses Weichei Lewin an. Offenbar hatte er seinem Chef zuliebe seine Archivstudien unten im Palmeraum unterbrechen müssen. Bäckström hatte mit ihm kurzen Prozess gemacht. Dann hatte Lewin sich offenbar bei Flykt ausgeweint und um Hilfe gebeten. Ausgerechnet bei dem Arschkriecher Flykt! Einem zurückgebliebenen Golfspieler, der sich seit mindestens zwanzig Jahren vor ehrlicher Arbeit drückte, indem er sich hinter seinem feinen Mord244
opfer verkroch. Bäckström hatte den Prozess bei ihm noch kürzer gemacht. Danach rief er wieder bei Johanssons Sekretärin an, um sie abermals zu erinnern. Rief sie am Montag an, am Dienstag und am Mittwoch, und da riss ihm der Geduldsfaden, und er warf ihr so einiges an den Kopf. Das einzige Ergebnis war, dass sein eigener kleiner Büronarr und so genannter Chef bei ihm auf der Matte stand und mit diesem und jenem drohte und dass ihm dann plötzlich die Freude einer Begegnung mit Anna Holt zuteilwurde. Vom Weichei über den Arschlecker zu dieser magersüchtigen Kampflesbe, bei der man durch die Jacke die Rippen zählen kann. Hier geht's ja im Sturmschritt voran, dachte Bäckström, als er mit großen Schritten durch die Gänge eilte, die zu Polizeiintendentin Anna Holt führten. Natürlich war er das Opfer einer Verschwörung. Sie hatten seine Anrufe heimlich aufgenommen, und Holt drohte mit diesem und jenem. Zuerst wollte er ihr nur ganz allgemein gute Ratschläge erteilen und ihr sagen, sie sollte sich ihre Ansichten in den Allerwertesten stecken, aber da es hier um den Mord an einem Ministerpräsidenten ging, hatte er versucht, sie zu besänftigen und ihr alles zu geben, was GeGurra ihm gegeben hatte. Nett wie er war, ergebnisorientiert und voller Sorge um die großen Werte, die hier auf dem Spiel standen. Was zum Teufel ist eigentlich bei der Polizei los?, dachte Bäckström, als er sie verließ. Wohin zum Teufel sind wir eigentlich unterwegs?
37 Holt war nicht beeindruckt von den wenigen Details, die Bäckström zu erzählen gehabt hatte. Es klang zu sehr wie alle anderen Waffenhinweise, die im Laufe der Jahre in der PalmeErmittlung aufgetaucht waren. Der Ordnung halber hatte sie die Angaben aber doch so weit wie möglich anhand des Ermittlungsmaterials überprüft. Dazu hatte sie fast zwei Tage gebraucht. Mit größter Wahrscheinlichkeit zwei vergeudete Tage, dachte sie, als sie das letzte Blatt beiseitelegte.
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In über zwanzig Jahren hatten die Ermittler an die tausend Hinweise bekommen, bei denen es ganz oder teilweise um die Waffe ging, mit der der Ministerpräsident angeblich erschossen worden war. Außerdem hatten sie mit über sechshundert Revolvern vom Kaliber .357 Magnum Probeschüsse abgegeben. So gut wie alle vom Fabrikat Smith & Wesson und in legalem Besitz. Nichts von allem hatte irgendein verwertbares Ergebnis erbracht. Einige Hinweise hatten verheißungsvoll geklungen, aber so war es immer. Keiner hatte die Polizei näher an die Waffe oder an den Täter herangeführt, der sie gehalten hatte. Diese vielen Auskünfte waren in über sechshundert Ordnern gesammelt. Ausnahmsweise war aber der Großteil davon bereits digital gespeichert worden. Was Holt störte, war, dass die Polizei sich bei der Verfolgung der Waffenspur fast ausschließlich auf Revolver der Marke Smith & Wesson konzentriert hatte, obwohl von Anfang an klar gewesen war, dass die Kugeln auch von einem halben Dutzend anderer Revolvermarken stammen konnten. Eine dieser Marken war Ruger. Die Erklärung dafür war in der Vergangenheit zu finden. Schon vierzehn Tage nach der ersten Pressekonferenz hatte die Ermittlungsleitung beschlossen, sich auf Revolver von Smith & Wesson zu konzentrieren, und was anfangs eine statistische Einschätzung gewesen war, hatte sich in absolute Wahrheit und einen klaren Befehl verwandelt. Holt war eine hervorragende Schützin. Sie schoss besser als die meisten ihrer Kollegen. Sie konnte ihre Dienstpistole mit verbundenen Augen auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, während sie sich zugleich absolut nicht für Waffen interessierte und sie eher als notwendiges Übel betrachtete, das eben zu ihrer Arbeit gehörte. Glücklicherweise hatte sie immer seltener mit Waffen zu tun. Sicherheitshalber hatte sie deshalb einen Kollegen angerufen, den sie im Frühjahr bei einem Kongress kennengelernt hatte. Er war Kriminaltechniker und sogar ein noch besserer Schütze als Holt. Waffen waren sein Lebenselixier und sein Lebensunterhalt, aber er hatte doch auch noch Platz für anderes. Bei ihrer ersten und bisher einzigen Begegnung waren sie gleich in der ersten Kongressnacht im Bett gelandet, und es war absolut hervorragend gewesen. Das Schweigen, das darauf folgte, hatte sie sich zuerst damit erklärt, dass er im SKL, dem Staatlichen Kriminaltechnischen Labor in 246
Linköping, arbeitete und sie in Stockholm. Dass er wahrscheinlich Tag und Nacht an seinen geliebten Waffen herumfummelte. Dass er vielleicht nicht wagte, eine so ranghohe Kollegin wie sie anzurufen. Gedanken, die sie ziemlich bald hatte fallen lassen. Aber dafür darf ich jetzt wohl um eine bevorzugte Sonderbehandlung bitten, dachte Holt und rief ihn an. Er freute sich sehr über ihren Anruf. Und warum hast du dich dann nicht gemeldet?, dachte Holt. Doch, die Waffe, die Palme erschossen hatte, könne durchaus eine Ruger von dem von ihr beschriebenen Modell sein, aber auch eine vom entsprechenden Modell von Smith & Wesson. Nur so nebenbei, dachte Holt, es war ja wohl nicht die Waffe, die Palme erschossen hat, sondern vielmehr ein Täter, der sie in der Hand hielt. Dann stellte sie die entscheidende Frage. »Angenommen, man findet die richtige Waffe. Könnte man dann die Kugeln, die im Sveaväg gefunden worden sind, damit in Verbindung bringen? Mit der Sicherheit, die vor Gericht vonnöten ist«, erklärte sie. »Na ja. Vorausgesetzt, sie ist heute im selben Zustand, könnte das vielleicht klappen.« »Wenn wir das also voraussetzen«, sagte Holt. Aufbewahrt in der Löwengrube und in hervorragendem Zustand. Zumindest sagt das der kleine Fettsack Bäckström. Oder genauer gesagt, die natürlich total zuverlässige Quelle des kleinen Fettsacks. »Ich glaube, die Wahrscheinlichkeit, mit der man sich äußern kann, liegt heute bei etwas über neunzig Prozent«, antwortete er. »Wenn du mich vor fünf Jahren gefragt hättest, hätte ich gesagt, höchstens achtzig Prozent.« »Wie ist das möglich?«, fragte Holt. »Beide Kugeln sind beschädigt. Das größte Problem ist, dass beide ein wenig verkrümmt und um ihre eigene Längsachse verdreht sind, wenn du verstehst, was ich meine. Aber heute haben wir Zugang zu Software, die es uns ermöglicht, sie in meinem kleinen Rechner fast bis zu ihrem ursprünglichen Zustand zu rekonstruieren. Mit etwas Glück also...«
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»Kannst du sie miteinander in Verbindung bringen«, beendete Holt den Satz. Ich erinnere mich gut, wie geschickt du bist, dachte sie. »Entschuldige die Frage, aber es ist nicht zufällig so, dass...« »Auf keinen Fall«, fiel Holt ihm ins Wort. »Das kannst du vergessen. Mein Vorgesetzter hat mich gebeten, das Material der Palmeermittlung noch einmal durchzugehen, und als ich den Waffenteil durchgelesen habe, fiel mir auf, dass so mehr oder weniger alle Revolver ausgeschlossen worden sind, die nicht von Smith & Wesson stammen.« »Ja, das war schlampig von ihnen«, seufzte er. »Bei meinem Job muss man sehr genau sein.« »Danke für deine Hilfe«, sagte Holt. »Wenn du mal hier vorbeikommst, können wir vielleicht...« »Ich werd's mir überlegen«, sagte Holt. Außerdem bilde ich mir ein, dass ich dir meine Telefonnummer gegeben habe, dachte sie. Typen, dachte sie, als sie aufgelegt hatte. Was haben die eigentlich für Probleme? Bäckström hatte menschlich gesehen so viele Defizite, dass sie ihn nicht einmal hassen konnte. Sie brachte es kaum über sich, ihn nicht leiden zu mögen. Am liebsten dachte sie überhaupt nicht an ihn. Ein kleiner fetter Kerl, der wahrscheinlich vom ersten Schultag an gemobbt worden war. Der stur und ein guter Schläger gewesen war, um mit derselben Münze heimzahlen zu können. Der nie als der Mensch geliebt worden war, der er bestenfalls war. Der darum sicherheitshalber auf seine Umwelt reagierte, indem er alles und alle verabscheute. Oder zum Beispiel Lars Martin Johansson. Der vermutlich hemmungslos sein konnte, wie Kollege Berg behauptet hatte. Den sie selbst durch und durch verabscheuen konnte, bis er etwas sagte oder tat, das sie voll im Herzen traf. Obwohl sie ihn niemals geliebt, gehasst oder auch nur gefürchtet hatte. Johansson, den sie im Moment nicht besonders leiden mochte. Weil er sie emotional berührte und weil sie viel zu oft an ihn dachte. Weil seine grauen Augen alles bewerteten, was in seine Nähe kam. Was war mit ihrem höchst zufälligen Liebhaber, mit dem sie eben geredet hatte? Dieser gutaussehende, durchtrainierte und ge248
schickte Mann, der es nicht einmal über sich brachte, zum Telefon zu greifen und sie anzurufen. Der zugleich kein Geheimnis daraus gemacht hatte, dass er nichts gegen eine neue Begegnung hätte. Zufällig und ohne Bedingungen. Genau wie alle Schusswaffen, die er auseinandernahm und wieder zusammensetzte. Und abfeuerte. Oder Lewin, mit seiner tiefen Konzentration und seinem scheuen Blick. Der fast alles in seinem und im Leben der anderen zu verstehen schien, der aber nicht einmal im Traum darüber reden würde. Nicht seit seinem siebten Lebensjahr, als er seinen Papa und damit den Boden unter den Füßen verloren hatte. Wenn er nicht diese Augen hätte. Wenn er etwas mehr von Johanssons spontanem Selbstvertrauen hätte. Wenn... Aber zum Teufel, Anna, dachte Anna Holt. Reiß dich zusammen. Am Freitag hatte Bäckström endlich eine Mail von seinem faulen und unfähigen Kollegen von der Technik bekommen. Nicht, weil der begriffen hätte, worum es Bäckström ging, sondern weil Bäckström so verdammt herumnervte und er selbst ein freundlicher und hilfsbereiter Kollege war, der leider viel zu viel zu tun hatte. Bäckströms alte Büromöbel, zum Beispiel, um die er und seine Kollegen sich noch nicht hatten kümmern können. Dem Bild des Revolvers zufolge, das der Kollege mit dieser Mail geschickt hatte, war der verchromt, hatte einen langen Lauf und einen Kolben mit handgeschnittener Fischhaut, bei dem es sich durchaus um Walnuss handeln konnte. Genau wie die Waffe, nach der Bäckström gefragt hatte. Dem beigefügten Text zufolge war der Revolver eine Woche nach seiner Beschlagnahmung probegeschossen worden. Die Suche in den polizeilichen Registern hatte nichts erbracht. Er war mit keinem früheren Verbrechen in Verbindung gebracht worden. Er war auf keiner Waffenliste zu finden, die Interpol, Europol oder die Polizei in anderen Ländern für ihre Arbeit benutzte. Um die Frage zu beantworten, wie dieser Revolver hinter einem Kühlschrank in Flemingsberg gelandet sein mochte, war über Interpol eine Routineanfrage an den Hersteller in den USA geschickt worden. Sechs Monate darauf war die Antwort eingegangen. Die aktuelle Waffe war über zwanzig Jahre alt. Das ging unter anderem aus der Seriennummer des Revolvers hervor. Im Herbst 249
1985 war sie zusammen mit an die fünfzig anderen Pistolen und Revolvern an den deutschen Generalagenten in Bremen verkauft worden. Das ging aus den Lieferlisten des Herstellers hervor, die nach den landesweiten und bundesstaatlichen Gesetzen mindestens fünfundzwanzig Jahre lang aufbewahrt werden mussten. Wenn die schwedische Polizei mehr über das weitere Schicksal der Waffe wissen wollte, sollte sie sich an den Generalagenten in Deutschland wenden. Verdammt, dachte Bäckström aufgeregt. Vermutlich war es so einfach, dass sie es sich gespart hatten, die Waffe mit den Kugeln aus dem Sveaväg zu vergleichen, einfach, weil es eine Ruger war und keine Smith & Wesson. Was konnte man schon von Wiijnbladh und seinen alten Kollegen erwarten, die nicht einmal Fresse oder Hintern trafen, wenn sie sich die tägliche Dosis Medizin einpfeifen wollten, die sie so dringend brauchten. Dieselben Kollegen, die ihm ohne zu zögern Ehre und Geld stehlen würden, wenn er ihnen eine Gelegenheit gab. Die Beschreibung der Waffe stimmte haarklein damit überein, was GeGurras Informant gesagt hatte, und es war kein Zufall, dass sie nur wenige Monate, ehe sie benutzt wurde, geliefert worden war. Was zum Teufel mache ich jetzt? Jetzt ist Scharfsinn angesagt, dachte Bäckström. Schon eine Minute später saß er an seinem Rechner und schrieb eine Aktennotiz, die er sicherheitshalber auf den Tag vor seiner Begegnung mit GeGurra datierte. Eine gute Woche, ehe er mit Holt gesprochen hatte, und mindestens einen Tag vor seinem Anruf bei der Technik. Zuerst eine Beschreibung der Waffe und dann einen kleinen, aber im Hinblick auf Geld und Ehre nicht unwesentlichen Zusatz: die Waffennummer, die ihm der unfähige Faulenzer von der Technik geschickt hatte. Blieb noch die glaubwürdige Erklärung für die Kollegin, die ihn auf ihren Armen durch die polizeiliche Perlenpforte tragen sollte. Ein kleiner Anhang mit einigen persönlichen und erklärenden Zeilen von Kollege zu Kollegin. »Liebe Holt. Bei meiner ersten Begegnung mit meinem ‘J’ ergab es sich, dass sich der ‘J’ an Teile der Seriennummer der fraglichen Waffe erinnern konnte. Nach umfassender Suche in diversen Regis250
tern bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um den in der beigefügten Aktennotiz beschriebenen Revolver handeln muss. Die vollständige Seriennummer liegt bei. Nach meinen Ermittlungen wurde besagte Waffe am 15. April 2005 bei einer Hausdurchsuchung in Flemingsberg beschlagnahmt. Eine Kopie des Einlieferungsbescheides liegt bei. Die besagte Waffe wurde seither in der Kriminaltechnik in Stockholm aufbewahrt, wo man leider offenbar keinen ballistischen Vergleich mit den am 1. und 2. März 1986 am Tatort Sveaväg-Tunnelgata gefundenen Kugeln vorgenommen hat. Im Hinblick auf die Brisanz der Angelegenheit gehe ich davon aus, dass die hier übermittelten Informationen streng geheim gehalten werden und dass ich selbst fortlaufend über die von der Zentralen Kriminalpolizei ergriffenen Maßnahmen informiert werde. Mit freundlichen Grüßen. Kriminalkommissar Evert Bäckström.« Da hast du mal was zum Lutschen, du mageres kleines Elend. Und jetzt spute dich, und dann kauft der liebe Onkel Evert dir zwei echte Zwiebeln, dachte Bäckström zufrieden. Blieb noch festzustellen, wie der Revolver bei einem schnöden Ganoven, dessen Nachname offenbar nur aus Konsonanten bestand und der außerdem nur sechs Jahre alt gewesen war, als Palme erschossen wurde, hinter einem Kühlschrank in Flemingsberg hatte landen können. Darüber kann ich mir am Wochenende Gedanken machen, und der alte Giftmischer Wiijnbladh kann sicher auch so einiges dazu beisteuern, dachte Bäckström. Höchste Zeit übrigens, um nach Hause zu gehen. Zwei Stunden später, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Bäckström tief in Gedanken versunken mit einem Whisky und einem kalten Bier auf seinem Sofa lag, ging Anna Holt als letzte Amtshandlung ihre Mails durch, ehe sie das Wochenende einläuten wollte. Hoppla. Jetzt ist Bäckström endgültig verrückt geworden, dachte sie, als sie seine Aktennotiz gelesen hatte. Da sie ohnehin noch mit ihrem Chef sprechen wollte, ehe sie nach Hause ging, druckte sie für ihn eine Kopie aus. Dann hat auch Johansson etwas zum Lutschen, folgte Anna Holt dem wohlbekannten Vorbild und schaltete ihren Computer aus. 251
38 Am Samstagmorgen war Mattei in der viel zu großen Wohnung im Narvaväg aufgewacht, die ihr lieber Papa ihr geschenkt hatte. Sie selbst hätte ja lieber auf Söder gewohnt, aber da hatte ihr Vater nur den Kopf geschüttelt. Entweder Östermalm oder gar nichts. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn sie nach Bayern ausgewandert wäre. Nach Bayern, der wahrhaften Heimat der Familie Mattei. Nicht wie Schweden, das nur einen zufälligen Aufenthaltsort auf dem Weg durch das Leben darstellte. Was ist denn an Söder auszusetzen, und was passiert eigentlich mit unseren alten Radikalen?, dachte Lisa Mattei, als sie ihre Joggingschuhe zuband. Danach lief sie ihre übliche Wochenendrunde durch Djurgärden. Das ging besser als erwartet, obwohl sie in letzter Zeit bedenklich mit dem Training geschlampt hatte. Gibt irgendwie niemanden, für den ich trainieren könnte, dachte Lisa Mattei, als sie vor dem Badezimmerspiegel stand und ihren flachen Bauch betastete. Eine blasse und magere Blondine, dachte Mattei und schüttelte angesichts ihres Spiegelbildes den Kopf. Drei Monate war es her, seit jemand sie geküsst hatte, und das war ausgerechnet während ihres alljährlichen Besuches bei ihrem Papa passiert. Da ihr der Kuss von einem der vielen Assistenten ihres Vaters gegeben worden war, konnte sie nicht ganz ausschließen, dass ihn ihr Väterchen zu diesem Einsatz abkommandiert hatte. Danach zog sie sich an. Nahm ein spätes Frühstück zu sich. Packte eine Flasche Mineralwasser, einen Apfel und eine Banane ein und fuhr zur Arbeit. An der Rezeption saß ein neuer Wachmann, den sie nicht kannte. So ein Typ mit geschorenem Schädel, bulligen Schultern und Oberarmen, die so dick waren wie ihre Taille. Sie nickte kurz, hob ihren Dienstausweis hoch und steuerte die Sicherheitsschleuse an. Er rief hinter ihr her. »Hallo! Darf ich mir den bitte mal genauer ansehen?«, sagte er und zeigte auf ihren Ausweis. »Mattei, Zentrale Krim«, sagte Lisa Mattei und hielt den Ausweis einen halben Meter vor seine Augen. »Okay«, sagte er und lächelte plötzlich. »Ich bin neu hier. War gerade zwei Tage bei einem Kurs, und da haben sie die ganze Zeit erzählt, was mir alles passieren kann, wenn ich aus Versehen die falschen Leute reinlasse.« 252
»Schon gut«, sagte Mattei. Lächelte und nickte. Wirkt ja fast normal, trotz seines Aussehens, dachte sie. Verdammt scharfe Frau, dachte der Wachmann und sah ihr hinterher. Dieser kühle blonde Typ, der immer in seinen Tagträumen von einem besseren Leben die Hauptrolle spielte. Was immer eine wie sie mit einem wie ihm wohl anfangen sollte. Jobbender Student. Geschorener Schädel, um die Geheimratsecken zu verbergen, die sich bereits eingestellt hatten, als er noch aufs Gymnasium ging. Zweihundert Kilo beim Bankdrücken und ein Trainingskumpel, der vorgeschlagen hatte, er könne sich doch als Wachmann etwas dazuverdienen. Sei doch besser als ein Studiendarlehen. Jede Menge Zeit zum Lesen. Und dafür auch noch ganz gut bezahlt. Und hier saß er nun also. An der Rezeption des großen Polizeigebäudes, ausgerechnet. Wegen seines Aussehens und obwohl er nur Filmwissenschaft studierte. Diese Qualifikation hatten sie offenbar übersehen. Aber viel zum Lesen war er nicht gekommen. Nicht nach den Verhaltensmaßregeln, die ihm während des Einführungskurses eingebläut worden waren. Aber was sollte eine wie sie schon mit einem wie mir anfangen, dachte er. Die Polizeispur war die Spur, an die kein vernünftiger Mensch glaubte. Dass auch die Kollegen das nicht taten, war sicher menschlich und erklärlich. Zugleich befanden sie sich in guter Gesellschaft. Der Sonderberater hatte schon zwei Jahre nach dem Mord am Ministerpräsidenten sein vernichtendes Urteil über diese Spur gesprochen, als diese Frage in der allermächtigsten aller Geheimgesellschaften, in der Menschen wie er miteinander Gedanken und Meinungen austauschten, diskutiert worden war. »Das dünne Gewebe der klassischen Verschwörungstheorie aus schlampig gedachten Gedanken, eigenen Versäumnissen und schlichten schnöden Vorurteilen als Ersatz... für wirkliche Fakten«, stellte er in seinem einleitenden Vortrag fest. »Oder einfacher Blödsinn, wenn Sie diese Beschreibung vorziehen«, fügte er hinzu und lächelte zufrieden. Die von den Massenmedien so genannte Polizeispur war im Palmematerial die Sammelbezeichnung für eine Anzahl von Hinweisen, Rubriken und Theorien darüber, dass einzelne Polizisten, Gruppen 253
von Polizisten oder die Polizei als Organisation auf irgendeine Weise in den Mord am Ministerpräsidenten verwickelt gewesen seien. Sachlich gesehen - tatsächlich oder auch nur angenommen - ging es zu Anfang um drei Fäden im »dünnen Gewebe der Verschwörung«. Das waren Polizisten, die während der Mordnacht Dienst gehabt hatten und sich auf irgendeine Weise seltsam verhalten hatten, Polizisten, die extreme politische Ansichten hegten, die das Mordopfer hassten und deshalb angeblich auch ein Motiv dafür hatten, ihn zu ermorden, und schließlich die operative Leitung der Polizei in Stockholm, die nach dem Mord ihre Aufgabe so schlecht ausgeführt hatte, dass sie es einfach nicht anders gewollt haben konnten. Danach kam es zu einer Flut an Hinweisen. Über geheimnisvolle Treffen von Polizisten, über Polizisten, die seltsame Dinge gesagt hatten, über Polizisten, die den Hitlergruß ausgeführt hatten und die darauf angestoßen hatten, dass Olof Palme endlich tot war, über Polizisten, die angeblich angekündigt hatten, ihn zu ermorden, schon Jahre, bevor er tatsächlich umgebracht worden war. Polizisten, die in der Nähe des Tatorts gesichtet worden waren, Polizisten mit gewalttätiger Vergangenheit, Polizisten mit einem Waffenschein für eine eigene Magnum, Polizisten, die... Schon am zweiten Tag der Ermittlung war der Sicherheitspolizei die Aufgabe übertragen worden, festzustellen, ob diese Gerüchte irgendeinen Kern haben könnten. Fast alle Hinweise bezogen sich auf Polizisten, die in Stockholm arbeiteten, und zwar in jenem Polizeibezirk, der auch für die Mordermittlung zuständig war. Daran, die Sache der Abteilung der Stockholmer Polizei für interne Ermittlungen zu übertragen, war nicht zu denken. Der Auftrag war viel zu umfassend, und die Betroffenen standen einander viel zu nahe. Die Ansicht der Leitung der ersten Ermittlungen war jedoch von Anfang an unmissverständlich, und Bezirkspolizeichef Hans Holmer hatte sicherheitshalber eine weitere Aktennotiz verfassen lassen. Es gebe ganz einfach keine ermittelbare »Polizeispur«. Die bloße Vorstellung einer solchen scheitere bereits an ihrer eigenen Unsinnigkeit. Übrig blieb nur, dass man nicht ausschließen könnte, dass der Mörder, oder einer seiner Helfer, bei der Polizei gewesen war oder noch tätig sei. Ebenso, wie er Arzt, Lehrer oder Journalist sein könnte. Eine Polizeispur gebe es also nicht, was 254
sich einfach und logisch aus dem eben Gesagten erschließe. Ebenso wenig, wie es eine Arzt-, Lehrer- oder Journalistenspur gebe. Obwohl es diese Spur also nicht gab, war sie bei der Säpo gelandet, weit genug entfernt und doch ausreichend nahe. Aber um keine Unordnung in die Dachorganisation aller Ermittlungen zu bringen, hatte die Sicherheitspolizei sich ausnahmsweise den Kollegen von der laufenden Ermittlung unterordnen müssen. Die Ermittlungsleitung im Fall Palme leitete auch die Untersuchungen über die Polizeispur. Ihr erstattete die Sicherheitspolizei Bericht. Und dort wurden die endgültigen und entscheidenden Beschlüsse gefasst. Konkret und menschlich gesehen umfasste die Polizeispur an die hundert namentlich genannte Polizisten. Und zwar vom ersten Ermittlungsleiter, dem Bezirkspolizeichef von Stockholm, dessen Alibi für die Mordnacht in Frage gestellt worden war, bis hinunter zu den Kollegen, die wegen Dienstvergehen angezeigt worden waren, weil sie jemanden beleidigt oder verletzt hatten oder weil sie sich ganz einfach unpassend aufgeführt hatten. Vom Bezirkspolizeichef bis hinunter zu denen, die bereits gefeuert worden waren, die aus freien Stücken aufgehört oder kurz davor gestanden hatten, als sie in der Ermittlung gelandet waren. Weil sie Probleme mit den Nerven hatten, mit der Gattin, mit den Finanzen. Probleme, die nur selten allein kamen. Weil sie im Suff gefahren waren, weil sie Häftlinge verprügelt hatten, weil sie in die Portokasse gegriffen, der Gattin eine Blumenvase an den Kopf geworfen, nach einer durchzechten Nacht scharf in Nachbars Fenster geschossen hatten. Oder dessen Hund getreten. An die siebzig von ihnen waren identifiziert, überprüft und in sämtlichen Fällen aus der Ermittlung herausgenommen worden. Blieben an die dreißig Fälle, in denen man die genannten Polizisten nicht mit Sicherheit identifizieren konnte. Oder auch solche, wo es höchst unklar war, ob der angegebene namenlose »Polizist« wirklich der war, als der er ausgegeben wurde. Es gab Tipps und Hinweise, die man bisweilen geklärt, bisweilen aber auch einfach beiseitegelegt hatte, ohne Weiteres zu unternehmen. Tipps, Hinweise, Angelegenheiten, die in keinem Fall auch nur den kleinsten konkreten Verdacht hatten erwecken können, dass die erwähnten Polizisten etwas mit dem Mord an Olof Palme zu tun gehabt haben könnten. Sie hatten mit allem Möglichen anderen zu tun, was weder ihnen 255
selbst noch der Organisation, der sie dienten, zur Ehre gereichte, aber als Mordverdacht war das alles ohne irgendeinen Wert. Genau das, was man von einer Spur erwarten konnte, die »an ihrer eigenen Unsinnigkeit« scheiterte. Mattei hatte damit angefangen, eine Liste dieser Polizisten aufzustellen, sie alphabetisch nach ihren Nachnamen zu sortieren, und mit der ihr eigenen Genauigkeit hatte sie die über diese Leute vorhandenen Auskünfte hinzugefügt. Nach zwei Stunden und einem Dutzend Namen hatte sie die Flasche Mineralwasser geöffnet, die sie bei sich gehabt hatte, hatte die Hälfte getrunken und dazu ihre Banane gegessen. Weitere zwei Stunden und zehn Namen später hatte sie den Rest des Wassers getrunken, ihren Apfel gegessen, war auf die Toilette gegangen und hatte sich danach auf einem Spaziergang durch das Stockwerk, in dem ihr Dienstraum lag, die Beine vertreten. Man kann sagen, was man will, aber das Leben als Polizistin kann unerträglich spannend sein, dachte Lisa Mattei, als sie zu ihren Ordnern zurückkehrte und sich eine Ansichtskarte eines ehemaligen Kollegen ansah. Nach zwanzig Jahren bei der Polizei hatte er gekündigt. Zwei Jahre später war er als einer der gewichtigen Namen in der Polizeispur in die Zeitgeschichte eingegangen. Das Bild auf der Postkarte zeigte ihn selbst. Nach eigener Auskunft hatte er das Bild auch selbst aufgenommen. So, wie er auch die Postkarte hergestellt und finanziert hatte, so stand es in den Unterlagen. Zivile Kleidung, Terylenhose, Freizeithemd, Sandalen und braune Socken. Sommer oder später Frühling zu Beginn der achtziger Jahre. Ein Mann mittleren Alters mit Bierbauch und Geheimratsecken steht vor dem Brandenburger Tor in Berlin und hat die Hand zum Hitlergruß gehoben. Er macht Urlaub. In einer Woche wird er nach Stockholm und zu seiner Arbeit als Polizeiinspektor im ersten Wachbezirk von Stockholms City zurückkehren. Krasser Typ. Fast so reizend wie Bäckström, dachte Mattei und kicherte. Zwei Stunden später und auf halber Strecke im Material der Polizeispur war es für sie an der Zeit, nach Hause zu fahren. Warum auch immer, dachte Mattei. Das Beste wäre doch wohl, im Palmeraum ein Feldbett aufzustellen und den Raum erst wieder zu verlas256
sen, wenn sie den Namen des »Arschs, der das getan hat« ermittelt hätte, um sich dann von ihrem Chef freundlich auf die Schulter klopfen lassen zu können. Von dem Mann, der angeblich um Ecken schauen konnte, der aus unerfindlichen Gründen diesen Blick in diesem Fall jedoch vermied. Der Wachmann vom Vormittag saß noch immer hinter dem Schalter in der Rezeption, und als sie vorbeiging, rief er abermals hinter ihr her. Zumindest hatte er ein gutes Gedächtnis. »Hallo! Kommissarin Mattei! Darf ich Ihnen eine Frage stellen?« Du willst wissen, wie du dich an der Polizeischule bewerben kannst, dachte Mattei, die diese Frage schon häufiger von Leuten wie ihm gehört hatte. »Natürlich«, sagte sie und lächelte freundlich. »Sie müssen mir versprechen, nicht sauer zu sein«, sagte er und lächelte, wirkte plötzlich aber nicht mehr so selbstsicher. »Kommt auf die Frage an«, sagte Mattei abwartend. »Ich wollte fragen, ob ich Sie ins Kino einladen darf.« »Ins Kino?«, wiederholte Mattei, und es fiel ihr schwer, ihre Überraschung zu verbergen. In deinen Lieblingsfilm, Conan der Barbar, dachte sie. »In den neuen Film von Almodövar, der hatte vorige Woche Premiere«, sagte er. Almodövar, dachte Mattei erstaunt. Ob der Typ für die Versteckte Kamera arbeitet?
39 Mattei hatte die Kinoeinladung abgelehnt. Hatte das sofort wieder bereut und versucht, sich mit den üblichen Fragen und Erklärungen zu retten. Neue Fehler fügten sich zu den früheren, alles war am Ende falsch. Almodovar? Willst du mich verarschen?, dachte Mattei. »Sie mögen Almodovar?« Ja, Almodovar habe ihn berührt. Almodovar hätte ihm einiges über »Mädchen« beigebracht, worauf er von allein niemals gekommen wäre. Jedenfalls über Latinofrauen. Almodovar sei vielleicht nicht sein absoluter Liebling, aber doch so gut, dass er diesen Film sehen wollte. Außerdem mochten Frauen in der Regel Almodovar. 257
»Ich studiere Filmwissenschaft«, erklärte er. »Das hier ist nur ein Job«, erklärte er und zuckte mit seinen breiten Schultern. Noch war es nicht zu spät, um sich die Sache anders zu überlegen. Wieder falsch. »Das wäre wirklich wunderbar«, sagte Mattei. »Das Problem ist nur, dass ich das ganze Wochenende arbeiten muss. Vielleicht sehen wir uns morgen«, fügte sie hinzu. »Mein freier Tag«, seufzte er. Schüttelte den Kopf und wirkte ziemlich niedergeschlagen. »Dann eben ein andermal«, sagte Mattei und lächelte. »Ist schon gut«, erwiderte er und lächelte zurück. Was soll so eine wie sie schon mit so einem wie mir?, dachte er, nachdem sie das Gebäude verlassen hatte. Als Mattei in ihre viel zu große Wohnung kam, die sie von ihrem lieben Papa bekommen hatte, war sie in elender Laune. Hasste sich, hasste die Wohnung, hasste Papalein. Zuerst hatte sie ihre Trainingskleidung angezogen und war eine Extrarunde gelaufen. War erschöpft, aber in ebenso mieser Stimmung zurückgekehrt. Statt unter die Dusche zu gehen und einfach das Wasser laufen zu lassen, hatte sie angefangen, sauberzumachen. Fast blind vor Wut hatte sie aufgeräumt, die Spülmaschine gefüllt, staubgesaugt und geputzt. Kurz vorm Umfallen, aber immer noch wütend, hatte sie sich eine Pizza kommen lassen und eine Hälfte in sich reingestopft, obwohl sie Pizza ebenfalls hasste. Hatte zur Pizza fast eine halbe Flasche Wein getrunken. Obwohl sie fast nie was trank. Dann legte sie sich auf das Sofa und zappte zwischen den Sendern herum. Als sie dann endlich schlafen ging, hatte sie bereits Magenschmerzen. Sie war nicht einmal beschwipst. Nur sauer. Was soll so einer wie er mit so einer wie mir?, dachte sie. Dann schlief sie endlich ein. Wachte mit Kopfschmerzen auf. Duschte, zog sich an, ersetzte das Frühstück durch Kopfschmerzmittel und Mineralwasser und fuhr zur Arbeit. Und da saß er. »Ich dachte, das sei Ihr freier Tag«, sagte Mattei und lächelte freundlich, um zu verbergen, wie sehr sie sich freute. 258
»Ich hab mit einem Kumpel getauscht«, antwortete er und sah plötzlich ziemlich verlegen aus. »Na gut«, sagte Mattei. »Aber es muss die Spätvorstellung sein, ich hab nämlich sehr viel zu tun.« »Aber klar«, sagte er und nickte. »Ich muss bis sechs arbeiten, das passt prima.« Yess, dachte Mattei, als sie durch die Sicherheitsschleuse ging. Yess, dachte er, als er sah, wie sie im Haus verschwand.
40 Konzentration, dachte Mattei, als sie den Ordner aufschlug, den sie am Vortag nur zur Hälfte durchgearbeitet hatte. Alles braucht seine Zeit. Es blieben noch knapp fünfzig Polizisten, von denen an die dreißig nicht einmal einen Namen hatten und deshalb auch nicht unbedingt Polizisten sein mussten. Noch acht Stunden, dachte sie. Danach nach Hause fahren, duschen, umziehen und, ausnahmsweise, das Naschen pudern. Danach Almodövar mit einem Mann, mit dem sie nur dreimal gesprochen hatte und dessen Namen sie nicht einmal kannte. Dessen Aussehen gegen ihn sprach, der aber absolut normal und sogar sympathisch wirkte. »Anrufen und seinen Namen ermitteln«, schrieb sie auf ihren Block. Dann wandte sie sich wieder ihrer Liste der Polizisten zu, die in der Nähe des Tatorts gesehen worden waren, die eine gewalttätige Vergangenheit besaßen, eigene Magnumrevolver hatten, extreme politische Ansichten hegten oder sich ganz einfach unpassend verhalten hatten. Polizisten, Polizisten, Polizisten, dachte Mattei und seufzte. Zwei Stunden später rief Anna Holt an und bat sie, den Namen eines ehemaligen Kollegen zu überprüfen. »Denn ich nehme doch an, du sitzt bei der Arbeit«, erklärte Holt. »Hab ja nichts Besseres vor«, sagte Mattei. Aber heute Abend gehe ich ins Kino, dachte sie. »Kannst du mal nachsehen, ob er im Material vorkommt?«, fragte Holt. »Nein«, antwortete Mattei. »Ich bin ziemlich sicher, dass er da nicht vorkommt. Nicht namentlich jedenfalls. Ich habe die Liste vor 259
mir liegen, und da ist er nicht bei. Es gibt an die dreißig Personen, die sich selbst als Polizisten ausgegeben haben oder deren Denunzianten sie als Polizisten angegeben haben, deren Identität aber fehlt. Wenn du mich fragst, dann ist er auch nicht bei denen«, sagte Mattei. Ist doch auch egal, dachte sie, da er Holt zufolge seit fünfzehn Jahren tot war und bei ihr nichts klingelte. »Verstehe«, sagte Holt. »Ja. Er stimmt mit keiner der Beschreibungen überein. Warum willst du das eigentlich wissen?« »Ein Tipp«, sagte Holt und seufzte. »Von Kollege Bäckström«, sagte sie und seufzte ein weiteres Mal. »Das erklärt alles«, sagte Mattei. »Lewin hat erzählt, dass der sich gemeldet hat«, fügte sie hinzu. »Etwas ganz anderes, wo wir schon dabei sind«, sagte Holt. »Kannst du nachsehen, ob es irgendwas über Löwen gibt?« »Löwen wie in Afrika?« »Genau. Die Löwengrube, in der Löwengrube, wo sie wohnen oder sich aufhalten eben. Die Löwen, meine ich. Nicht solche Gruben, wie man sie anderen gräbt.« »Ich kann es mit einer Volltextsuche probieren«, sagte Mattei. »Geht das?« »Müsste gehen. Das meiste ist doch digitalisiert.« »Kommt auch von Bäckström. Falls du das wissen willst.« »Ich rufe an, wenn ich etwas finde«, sagte Mattei und machte sich noch eine Notiz auf ihrem Block. »Suche Löwe, Löwe + Grube, Löwengrube, in der Löwengrube.« Die Suche nach »Löwe« ergab zwanzig Treffer. Sämtliche ließen sich auf ein halbes Dutzend Kollegen zurückführen, die in den achtziger Jahren zur Zeit der Apartheid Urlaub in Südafrika gemacht hatten. Kollegen, die Kollegen getroffen, Naturreservate besucht, Fotosafaris gemacht, Löwen in freier Wildbahn gesehen und außerdem des Wort »Löwe« gesagt hatten, als die Säpo sie vernommen und die Vernehmungen auf Band aufgenommen hatte. Dieselbe Suche nach »Löwe+Grube« ergab einen Treffer unter den zwanzig der ersten Suchanfrage. Ein schwedischer Polizist berichtete, seine südafrikanischen Kollegen hätten ihn bei seinem Besuch auf eine richtige Safari eingeladen, »nicht so einen Scheiß, wo man nur knipsen kann«, damit er einem »Löwen die Kugel geben« 260
konnte. Ein Vergnügen, das den Übrigen offenbar nicht vergönnt gewesen war, und der Jagderfolg war »leider« ebenfalls ausgeblieben. Die Suche nach »Löwengrube«, »Löwengruben«, »Grube des Löwen« und »in der Löwengrube« hatte ebenfalls je einen Treffer gebracht. Eine kleine Wohnung in der Luxgata in Lilla Essingen in Stockholm, die nicht den geringsten Zusammenhang mit den politisch umstrittenen Urlaubszielen gewisser Kollegen aufwies. Was ist das denn nun?, dachte Mattei erstaunt, als sie eine halbe Stunde später alles gelesen hatte. Danach rief sie Holt an und präsentierte ihren Fund. »Ein Treffer für Löwengrube«, sagte Mattei. »Okay. Ich bin ganz Ohr«, erwiderte Holt. In den achtziger Jahren hatte es einen lockeren Zusammenschluss von Polizisten gegeben, eine Art Kameradschaftsbund, der sich »Mutter Sveas Löwen« genannt hatte. Etwa ein Dutzend Polizisten, die allesamt in der City bei der Ordnungspolizei arbeiteten, die meisten bei der Streife, und von denen viele auch beim Militär und als Polizisten bei der UNO gedient hatten. Bei ihren Auslandseinsätzen hatten sie angefangen, sich selbst als »Mutter Sveas Löwen« zu bezeichnen. Sie hatten sogar eigene T-Shirts drucken lassen, blau und gelb und mit einer großbusigen löwengleichen Frau und der Textzeile: Mutter Sveas Löwen. »Einer hatte offenbar eine Wohnung draußen auf Lilla Essingen, wo er jedoch nicht wohnte, und die nannten sie Löwengrube. Zwei Zimmer und Küche. Zweiundfünfzig Quadratmeter. Offenbar haben sie die Miete geteilt, alle hatten Schlüssel, und dort trafen sie sich zu ihren so genannten Kameradschaftsabenden. Deine und meine ehemaligen Kollegen von der Säpo haben zwei Jahre nach dem Mord sogar eine Durchsuchung vorgenommen. Am 10. Oktober 1988. Ich hab hier das Protokoll vor mir liegen, falls dich das interessiert.« »Und haben sie was gefunden?« »Nein«, sagte Mattei. »Ziemlich schäbig möbliert, wenn du mich fragst. Betten in beiden Zimmern, aber nicht viel mehr, den Bildern nach.« »Klingt wie ein ganz normales Ficknest«, sagte Holt. 261
»Da darfst du mich nicht fragen«, sagte Mattei. »Ich hatte nie das Vergnügen«, erklärte sie. »Ich aber«, sagte Holt. »Du hast nichts verpasst. Aber aus dem Grund haben die garantiert keine Razzia durchgezogen.« Du kleine süße Maus, dachte sie. »Nein«, sagte Mattei. »Das lag an denen, die im Besitz eines Schlüssels waren.« Die Information, die zu dem Treffer im Computer geführt hatte, befand sich in einer Vernehmung des damaligen Polizeiinspektors Berg. Offenbar der inoffizielle Anführer von Mutter Sveas Löwen. Außerdem der Polizist, der aufgrund seiner Geschichte in den meisten Ermittlungsrubriken der so genannten Polizeispur auftauchte. »Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, aber das war einer der Kollegen, die Johansson im Herbst 1985 eingebuchtet hatten«, erklärte Mattei. »Der ist im Material die reine Fortsetzungsgeschichte.« »Ich weiß, wer er ist«, sagte Holt. »Aber es gibt nichts Konkretes über ihn oder über seine Kumpels. Nur den üblichen Kram, jede Menge alter Anzeigen wegen verschiedener Übergriffe im Dienst, komische politische Aussagen und privater Waffenbesitz. Außerdem hat er ein brauchbares Alibi. Er...« »Ich weiß«, fiel Holt ihr ins Wort. »Seine Streife war die zweite, die nach dem Mord am Tatort ankam.« »Die Welt ist voller Zufälle«, sagt Mattei. »Ganz recht«, sagte Holt und seufzte. Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte es wieder. An ihrem Festanschluss, den sie auf ihr Mobiltelefon umgeleitet hatte. »Hallo«, sagte die Stimme in der Leitung. »Hier ist Johan, Johan Eriksson unten von der Rezeption. Wenn Sie wollen, kann ich Sie abholen. Sonst schlage ich vor, wir treffen uns um zehn vor dem Kino. Ich hab schon die Karten.« »Vor dem Kino ist in Ordnung«, erwiderte Mattei. Obwohl sie mit Namen und Adresse im Telefonbuch stand, anders als die meisten ihrer Kollegen. Es wäre doch zu privat gewesen, ihn vor ihre Haustür zu bestellen. Wenn er nicht so aussähe, könnte man ihn fast für einen Gentleman der alten Schule halten, dachte Mattei, als sie ihn von ihrem 262
Notizblock strich. Aber er wirkte ein wenig schüchtern, und das war bei den Gentlemen der alten Schule eher nicht der Fall, dachte sie.
41 Am Sonntag war Holt mit ihrem Sohn Nicke und der neuen Freundin verabredet. Eine Stunde vorher rief er an und sagte ab. Sie hatten sich gestritten, und er war nicht in der richtigen Stimmung, um seine Mama zu treffen. »Du musst wohl mit ihr reden«, sagte Holt, und als sie auflegte, fühlte sie sich plötzlich um einiges älter als ihre 47 Jahre. Der nächste Anruf kam eine Stunde später und begann mit einem vorsichtigen Räuspern. Lewin, dachte Holt. Jetzt klingt er wieder wie sonst. »Ja, hallo, Anna, hier ist Jan. Jan Lewin. Ich hoffe, ich störe nicht.« »Nein«, sagte Holt. »Du störst nicht.« Wie üblich habe ich nämlich nichts anderes zu tun, dachte sie. Lewin wollte sich für das Essen neulich bedanken und sich revanchieren. Allerdings nicht bei ihm zu Hause, Kochen sei nicht seine Stärke, sondern in einem netten Lokal oben auf Gärdet, wo er wohnte. »Sehr gutes Lokal sogar«, beteuerte Lewin. »Klingt nett«, sagte Anna Holt und bereute das sofort. Wenn er sich nur nicht in mich verliebt, dachte sie und legte auf. Als Mattei gegen sechs das Polizeigebäude verließ, war ihr Kinokavalier bereits nach Hause gegangen. Um zu duschen, sich feinzumachen und sich nass zu kämmen, dachte sie und kicherte in Gedanken, als sie seinen Kollegen mit der gleichen Haarlänge hinter dem Rezeptionsschalter sah. Ein etwas gröberer Typ, der ihr kurz zunickte. »Schönen Abend, Frau Kommissarin«, sagte er und schaffte es trotzdem, mürrisch zu klingen. »Ebenfalls«, erwiderte Mattei und lächelte freundlich. Das ist der Typ, der Polizistinnen nicht leiden kann, dachte sie. 263
Als sie nach Hause kam, wurde das Leben komplizierter. Zuerst wollte sie sich eine Stunde ausruhen, aber daraus wurde irgendwie nichts. Stattdessen schaltete sie träge den Fernseher an und rief sogar ihren Vater an. Zum Zeitvertreib sozusagen. Sie bereute das sofort, aber zum Glück meldete er sich nicht. Schlechtes Gewissen bekommen, darum klang auch die Mitteilung, die sie auf seinem Anrufbeantworter hinterließ, viel liebevoller als sonst. Lisa, zum Teufel, dachte Lisa Mattei, die niemals fluchte. Jetzt benimm dich nicht, als ob du erst fünfzehn wärst. Eine erwachsene Frau, die unter die Dusche ging. Die sich danach sorgfältig anzog. Weder zu viel noch zu wenig. Diskretes Kostüm, Bluse, halbhohe Pumps, in denen sie laufen konnte. Die sich die Nase und noch allerlei anderes puderte. Die das sofort bereute, als sie das Resultat im Spiegel sah. Die sich Kostüm, Bluse und Pumps vom Leib riss. Die sie im Badezimmer auf einen Haufen warf. Die sie durch Jeans, Leinenhemd, weite Jacke und Turnschuhe ersetzte. Noch immer dieselbe magere und blasse Blondine, dachte sie missgelaunt. Noch immer fünfzehn Jahre alt und im Moment unter großem Zeitdruck. Zu Fuß zum Kino zu gehen konnte sie vergessen. Musste ein Taxi nehmen, das natürlich zu spät kam, und als sie endlich angekommen war, hatte sie bereits zehn Minuten Verspätung. Da stand er einsam vor dem Kino auf dem Bürgersteig, und als er sie entdeckte, sah er so erleichtert aus, dass alles, was vorher geschehen war, total uninteressant wurde. »Ich hab mir schon fast Sorgen gemacht, es könnte etwas passiert sein«, sagte er. »Ich hab doch Ihre Nummer nicht, und da...« »Sie wissen schon, Frauen«, entschuldigte sich Mattei, lächelte und zuckte mit den Schultern. »Es tut mir leid. Sonst bin ich eigentlich immer pünktlich.« »Ist schon gut«, sagte er und berührte ganz leicht ihren rechten Arm. Nickte und ließ sie einen halben Meter vor sich ins Kino gehen. Wie ein Gentleman der alten Schule, dachte Mattei. Aber die haben wohl noch nie so schüchtern ausgesehen. »Kein Wort über die Arbeit«, sagte Holt, nachdem sie sich hingesetzt hatte. 264
»Mach dir keine Sorgen, Anna«, sagte Lewin mit seinem wohlbekannten vagen Lächeln. »Ich habe vor ein paar Tagen mit Kollege Bäckström gesprochen, und das reicht mir jetzt für den Rest des Jahres.« »Rot oder weiß, Fleisch oder Fisch?«, fragte er dann und reichte ihr die Speisekarte. Hoppla, dachte Anna Holt. Was ist denn hier los? Und dann ausgerechnet Lewin. »Vegetarische Pasta«, antwortete Holt. »Mit viel Tomate und Basilikum und einem winzigen Hauch Parmesan. Mineralwasser und ein Glas trockenen italienischen Weißwein.« »Klingt gut«, fand Lewin. »Ich glaube, ich nehme das auch.« Jetzt erkenne ich dich wieder, Jan, dachte sie. Dann sprachen sie über alles, nur nicht über die Arbeit. Holt sprach darüber, dass sie mit dem Gedanken spielte, sich bei der nächsten Gelegenheit Urlaub zu nehmen und an einen wärmeren Ort zu reisen. Obwohl sie gar keine Reisepläne hatte, sondern das nur vorgeschoben hatte, um sich vor etwas zu beschützen, von dem sie nicht einmal eine Ahnung hatte, was es war. Dann sprachen sie über Reisen ganz im Allgemeinen. Lewin vor allem über solche, zu denen es nie gekommen war, aber die Art, in der er erzählte, machte das Zuhören absolut erträglich. »Vor vielen Jahren habe ich mal einen Roman gelesen. Habe leider Titel und Autor vergessen, aber er hat mich tief beeindruckt.« Lewin schüttelte den Kopf, dasselbe lewinsche Lächeln. »Viel zu tief vielleicht«, sagte er und seufzte. »Erzähl«, sagte Holt. Reden tut dir gut, dachte sie. Der Roman, dessen Titel Lewin vergessen hatte, handelte von einem jungen französischen Adligen, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschließt, auf Entdeckungsreise nach Afrika zu fahren. Zuerst trifft er überaus ausführliche Vorbereitungen. Die über zweihundert Romanseiten genau beschrieben werden. Dann kommt der große Tag, an dem er und sein Diener und Begleiter von ihrem Landsitz aufbrechen, um sich in die große Hafenstadt Marseille zu begeben, das Boot nach Afrika zu nehmen und alle noch ausstehenden Entdeckungen seines Lebens zu machen. 265
»Doch dann überlegte er es sich anders und fuhr wieder nach Hause«, sagte Lewin. »Was sollte er auch in Afrika? Im Kopf hatte er die ganze Reise doch schon gemacht.« »Jan«, rief Anna Holt bestürzt. »Sieh mich an. Das ist doch eine schreckliche Geschichte.« »Ich weiß«, sagte Lewin, der plötzlich fast fröhlich wirkte. »Aber so bin ich eben.« Dann sprachen sie über andere Dinge, und als sie sich getrennt hatten und sie unten in der U-Bahn stand und auf die Bahn nach Hause wartete, ging sie den Abend noch einmal durch. Er ist in mich verliebt, dachte sie. Das ist deine Schuld, und was machst du jetzt?, dachte sie. Kaum hatten sie sich in ihre Sessel gesetzt und das Licht im Saal war gelöscht worden, da reckte ihr Gentleman aus alten Zeiten sich mit seinen schätzungsweise fünfundzwanzig Jahren und hundert Kilo Muskeln, machte es sich bequem, ließ sich im Sessel nach unten sinken und faltete die großen Hände über seinem flachen Bauch. Mitten im Film legte er - wie durch Zufall - seine rechte Hand auf die Armlehne zwischen ihnen. Mattei hatte sie kurz gestreift, als sie versuchte, ohne allzu lautes Rascheln in die Süßigkeitentüte zu greifen, obwohl sie sonst so was niemals anrührte. Da drehte er die Handfläche nach oben, und sie legte die Süßigkeitentüte weg und ganz zufällig - ihre Hand in seine. Die lag noch immer dort, als sie auf die Straße hinausgingen. Es regnete, und Johan sah sie mit fast kindlichem Entzücken an. »Es regnet«, stellte er fest. »Das ist das sicherste Zeichen von allen. Der Film, wie hat der dir gefallen?«, fragte er dann und drückte ihre Hand, ganz leicht, fast unmerklich, wie ein eigenständiges Signal von seiner eigenen Hand. Kräftig, braungebrannt, lange Finger mit sichtbaren Adern auf dem Handrücken. »Ich weiß nicht so recht«, sagte Lisa Mattei und schüttelte den Kopf. Was für ein Film?, dachte sie verwirrt. »Wenn man sehr stark ist, muss man sehr großmütig sein«, sagte Johan und musterte sie mit ernster Miene. »Wann musst du morgen arbeiten?«, fragte Mattei plötzlich. »Morgen habe ich frei«, sagte Johan und schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, ich habe mit einem Kumpel getauscht.« 266
»Dann schlage ich vor, wir fahren zu mir«, sagte Lisa Mattei. »Ich muss morgen nämlich früh raus.«
Mittwoch, der 10. Oktober. Canal de Menorca vor Puerto Pollensa im Norden von Mallorca. Um den starken Strömungen in unmittelbarer Küstennähe auszuweichen, hatte der einsame Mann an Bord der Esperanza die Landspitze bei Formentor mit großem Abstand passiert. Erfuhr gut und gern eine Kabellänge in die Tiefrinne hinaus, und jetzt war es höchste Zeit, dass er eine Entscheidung traf. Er könnte noch den Kurs um neunzig Grad backbord in Richtung Cala Sant Vicenc korrigieren. Bis dahin waren es zwölf Seemeilen, eine gute Stunde Fahrt, und bis vor ein paar Stunden war es das Ziel der Reise gewesen. Mit viel Zeit im Rücken und einer Brise, die hier, auf dem offenen Meer, viel erfrischender war. Aber nun war es zu spät, dachte er. Dann hatte er den neuen Kurs in sein GPS eingetippt. Zwei Seemeilen nördlich von Menorcas Zitadelle und das Reiseziel voraus. Sechzig Seemeilen bis Menorca, sechs Stunden Fahrt, wenn das Wetter sich hielt. Und was dann?, dachte er. Einen weiteren Tag und eine weitere Nacht auf dem Meer.
Fünf Wochen vorher, Mittwoch, der 5. September. Hauptquartier der Zentralen Kriminalpolizei auf Kungsholmen in Stockholm. In Johanssons Besprechungszimmer saßen zwei Personen am Tisch: Jan Lewin und Lisa Mattei. Johansson selbst hatte soeben mitteilen lassen, dass er sich wegen Umständen, auf die er keinen Einfluss gehabt habe, um eine halbe Stunde verspäten werde. Zum Trost hatte seine Sekretärin ihnen Kaffee und selbstgebackenen Apfelkuchen serviert. Wo Holt abbliebe, wisse sie allerdings nicht. Sie habe sich zumindest nicht bei ihr gemeldet. Vielleicht hatte sie ja Johansson angerufen oder er sie, und nun sollten sie es sich schmecken lassen. Anna Holt hatte jedenfalls nicht verschlafen. Als Johansson sie eine halbe Stunde vor der Besprechung anrief und darüber in267
formierte, dass er sich um eine halbe Stunde verspäten würde, hatte sie schon an ihrem Schreibtisch gesessen. Hatte noch anderthalb Stunden Zeit, was genügte, um der Kriminaltechnik in Stockholm einen Besuch abzustatten, um Bäckströms Hinweis auf den Revolver nachzugehen. Ein Fragezeichen, das mit ein bisschen Glück bis zur Besprechung mit Johansson und den anderen schon ausradiert sein könnte, so dass man Bäckström endlich streichen und weitermachen konnte. Der Leiter der Kriminaltechnik war ein paar Jahre älter als sie. Vor fast zwanzig Jahren waren sie Kollegen bei der Stockholmer Streife gewesen. Hatten ein gutes kollegiales Verhältnis gehabt, aber das war auch schon alles. »Nur eine kurze Frage«, sagte Holt und nahm auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz. »Ich darf dir noch nicht mal einen Kaffee anbieten?« »Noch nicht mal Kaffee«, sagte Holt und schüttelte den Kopf. »Es geht um einen Hinweis bezüglich einer Waffe, den wir von Kollege Bäckström erhalten haben«, fuhr sie fort und reichte der Einfachheit halber die Mail rüber, die Bäckström ihr geschickt hatte. »Bäckström«, wiederholte ihr Kollege und stöhnte. »Den haben wir für unsere Sünden bekommen.« »Da bin ich ganz deiner Meinung, aber was ich mich frage, ist, ob ihr die betreffende Waffe probegeschossen und mit den Kugeln vom Palmemord verglichen habt.« »Nein«, sagte der Techniker und schüttelte den Kopf. »Einen Probeschuss haben wir natürlich abgegeben. Mit den Palmekugeln haben wir sie allerdings nicht verglichen, aus ersichtlichen Gründen.« »Und die wären?«, fragte Holt. »Die betreffende Waffe wurde erst im Herbst 1995 hergestellt. Neun Jahre nach dem Mord an Palme. Geht übrigens aus der Seriennummer der Waffe hervor.« »Bäckströms Mail zufolge soll sie zehn Jahre älter sein. Vom Herbst 1985«, machte Holt klar. »Steht so auch in der Mail, die dein Kollege ihm geschickt hat.« »Ein Schreibfehler«, sagte ihr ehemaliger Kollege und lächelte säuerlich. »Ich schwöre und versichere. Die fragliche Waffe wurde im Herbst 1995 von der Ruger Fabrik in den USA produziert. An die neun Jahre nach dem Mord am Minister-Präsidenten. Wäre sie 268
1985 hergestellt worden, hätten wir einen Vergleich gemacht. Reine Routine heutzutage. Sie einfach nur mit Revolvern von Smith & Wesson zu vergleichen ist inzwischen Geschichte. Bedauerliche Sache.« »Ein Schreibfehler«, wiederholte Holt und lächelte schwach. »Und diese Sache mit dem Generalagenten aus Bremen im alten Westdeutschland ist auch ein Schreibfehler? So steht es ja immerhin in der Mail deines Kollegen.« »Kindisch von ihm«, sagte der Leiter der Technischen und seufzte. »Er wollte Bäckström wohl verarschen, zum Dank für diesen Container mit alten, ausgedienten Büromöbeln, den er uns auf den Hals geschickt hat.« »Ich bin ganz Ohr«, sagte Holt und grinste. Darauf hatte der Leiter der Kriminaltechnik die Geschichte mit den alten Büromöbeln und all die anderen seltsamen Anfragen von Kollege Bäckström zum Besten gegeben, die sie von ihm erhalten hatten, seit er bei der Abteilung für Diebesgut angefangen hatte. Und auch schon vorher, was das betraf. »Du weißt bestimmt auch, wie Bäckström ist. Wenn er sich plötzlich für einen Revolver vom Kaliber .357 Magnum interessiert, kann es sich nur um die Palmewaffe handeln. Oder, genauer gesagt, um die Belohnung für die Palmewaffe, die der gute Bäckström mit seinem so genannten anonymen Gewährsmann zu teilen hofft. Als Polizist steht ihm dieses Geld ja nicht zu.« »Bin ganz deiner Meinung«, sagte Holt. »Tut mir leid, dass du da mit reingezogen wurdest«, sagte der Leiter der Kriminaltechnik. »Ich werde mit dem Kollegen mal ein Wörtchen reden.« »Meinetwegen brauchst du das nicht«, wehrte Holt ab und lächelte. »Aber wenn du es ohnehin tust, kannst du ihn von mir grüßen und Danke sagen.« Und du warte, du kleiner Fettwanst, dachte sie. Als Lars Martin Johansson nach einer Dreiviertelstunde - nicht nach dreißig Minuten, wie er es seiner Sekretärin gesagt hatte wiederkam, waren seine drei Mitarbeiter an Ort und Stelle, und obwohl sie dort schon eine ganze Weile gesessen hatten, war nicht viel gesagt worden. Alle schienen in ihre eigenen Angelegenheiten vertieft zu sein. 269
Holt notierte etwas in einem Ordner. Mattei versendete SMS von ihrem Mobiltelefon. Lewin hatte sich zurückgelehnt und tat gar nichts, schien aber zugleich mit den Gedanken weit weg. Vielleicht in Afrika, dachte Holt und sah zu ihm hinüber. Johansson begann schon zu reden, bevor er über die Türschwelle trat. »Da sitzt ihr ja«, stellte er fest und nahm Platz. »Was hältst du davon, anzufangen, Anna?«, fuhr er fort. »Erzähl uns das Neueste über dieses Elend Bäckström, damit Lisa und Jan im Bilde sind.« Anna Holt berichtete kurz von Bäckströms Hinweis. Verteilte Kopien seiner Mail an ihre Kollegen und erzählte von ihrem Besuch in der Kriminaltechnik. Ein typischer Bäckström, aber nicht allein seine Schuld, weil die Kollegen in Stockholm sich offenbar nicht die Gelegenheit hatten entgehen lassen, ihn auf die Schippe zu nehmen. »Darüber hinaus hat Bäckström uns den Namen eines ehemaligen Kollegen genannt, der zu einem bestimmten Zeitpunkt Zugang zur betreffenden Waffe gehabt haben soll. Ich habe Lisa darum gebeten, das zu überprüfen, aber dieser Kollege taucht in den Ermittlungsunterlagen nicht auf.« »Wie heißt er denn?«, fragte Jan Lewin und seufzte genauso müde, wie sein Kollege von der Kriminaltechnik es eine gute Stunde zuvor getan hatte. »Er heißt Claes Waltin. Oder, besser gesagt, hieß. Ehemals Polizeioberintendent bei der Säpo. Hat im Sommer 1988 bei der Sicherheitspolizei gekündigt, um in die Privatwirtschaft zu wechseln. Ist vier Jahre später im Norden von Mallorca ertrunken. Laut Bäckströms anonymem Gewährsmann soll Waltin demnach einen Monat vor seinem Tod Zugang zur Palmewaffe gehabt haben«, fasste Holt zusammen. »Und er kommt im Ermittlungsmaterial wirklich nicht vor!«, betonte Mattei. »Ich hab's wieder und wieder überprüft.« »Komisch«, sagte Lewin und schüttelte den Kopf. »Ich bin mir sicher, dass er im Material zu finden sein muss. Vorausgesetzt natürlich, wir sprechen von demselben Waltin«, fügte er auf seine sorgfältige Art hinzu. »Nicht in meinen Listen«, beharrte Mattei. »Da taucht er nicht auf. Weshalb bist du dir so sicher?« 270
»Ich habe ihn selbst ins Ermittlungsmaterial eingepflegt«, sagte Lewin. »Also muss er sich darin befinden.« »Behauptest du«, sagte Johansson. »Das hast du«, sagte Holt gleichzeitig. Was redet er da?, dachte Mattei, die als Einzige nicht den Mund aufgemacht hatte. »Ich weiß nicht, ob ihr euch daran erinnert«, sagte Lewin, »aber bei unserer ersten Besprechung vor drei Wochen habe ich euch doch von all diesen Strafzetteln erzählt, die ich vergnüglicherweise sichten durfte.« »Erzähl's noch mal«, sagte Johansson, faltete die Hände über seinem alles andere als flachen Bauch und lehnte sich im Stuhl zurück. »Auf die Einzelheiten muss ich noch zurückkommen, aber in groben Zügen war es folgendermaßen«, begann Lewin und räusperte sich vorsichtig. Am Samstagmorgen, dem 1. März, ziemlich genau zehn Stunden nach dem Mord, hatte der Polizeioberintendent Claes Waltin in der Smedsbecksgata oben auf Gärdet einen Strafzettel erhalten. Das betreffende Auto gehörte ihm. Ein neuer 5er BMW und kein Wagen, der normalerweise von Polizisten gefahren wurde. Lewin hatte eine Routineanfrage an die Kollegen der Säpo gestellt, die für die Polizeispur der Palmeermittlung verantwortlich waren, und nach etwa einem Monat eine schriftliche Antwort erhalten. »Daran erinnere ich mich mit Bestimmtheit. Es war im Hinblick darauf, auf wen sie sich bezog, ein wenig seltsam, ihnen diese Frage zu stellen«, sagte Lewin. »Waltin war schließlich ein hoher Chef bei der Sicherheitspolizei. Er war unmittelbar dem damaligen Bürochef Berg unterstellt, der in der Ermittlungsleitung saß und für die Mitarbeit der Säpo an der Palmeermittlung verantwortlich war.« »Kann mir vorstellen, dass das seltsam war«, sagte Johansson vergnügt. »Was haben die denn gesagt?« »An den genauen Wortlaut erinnere ich mich nicht mehr, aber ich erhielt eine schriftliche Antwort, die darauf hinauslief, dass von dem Fahrzeug dienstlich Gebrauch gemacht worden war. Ging um die Überwachung einer Person, die in dem Viertel in einer von den so genannten ‘sicheren Wohnungen’ der Säpo wohnte.« »Das war aber großzügig von denen«, sagte Johansson. »Ich selbst hätte mich damit begnügt, verlauten zu lassen, dass es sich 271
um eine Dienstangelegenheit handele. Das mit der Überwachung von Personen, die sich an sicheren Adressen aufhalten, ist nichts, das man auf Papier festhält.« »Es muss im Material sein«, wiederholte Lewin und sah Mattei fast entschuldigend an. »Eine schriftliche Anfrage meinerseits und eine schriftliche Antwort ihrerseits. Es muss da sein.« »Vielleicht hast du ja mit der Archivierung der Akten geschlampt, Jan«, entgegnete Johansson belustigt. »So was kann selbst den Besten passieren.« »Mir nicht«, sagte Lewin und schüttelte den Kopf. »Ich werde es noch einmal überprüfen und schauen, ob ich es übersehen habe«, versprach Mattei. »Tu das«, sagte Johansson. »Geh du deine Kartons durch, Lewin, und du, Lisa, nimm dir den Rest vor. Und Anna kümmert sich dann um die Hinterlassenschaften von Bäckströms Nachricht, damit ich ihn endlich los bin. Dass die betreffende Waffe bei insgesamt drei Morden und einem Selbstmord verwendet worden sein soll, klingt zweifelsohne aufregend. Lassen wir den Ministerpräsidenten außen vor, bleiben also zwei Mordopfer und eine Person, die Selbstmord begangen hat, übrig.« »Klingt wie ein typischer Bäckström, wenn du mich fragst«, sagte Holt. »Oder wie ein angehängter Selbstmord, wenn du mich fragst«, sagte Johansson. »So ein klassischer Fall, bei dem der Vater Jäger und Schütze ist, seine Angetraute und sein einziges Kind erschießt und am Ende auch sich selbst. Eifersucht, Alkohol und Elend. Leider viel zu häufig, aber nicht so häufig, dass es sich nicht überprüfen ließe.« »Hab's notiert«, sagte Holt. Klingt wie ein typischer Johansson, dachte sie. Was auch immer das mit einer normalen Registerüberprüfung zu tun hat. Nach der Besprechung zog Johansson Mattei zur Seite. »Ich hab einen kleinen Spezialauftrag für dich, Lisa«, sagte Johansson. »Ich bilde mir ein, dass das in dein Ressort fällt, wenn ich das so sagen darf.« »Ich bin ganz Ohr, Chef«, sagte Mattei. Muss Johan anrufen, dachte sie. 272
»Es soll an der Universität in Oxford ein College geben, das ‘Moddlinn College’ heißt. Buchstabiert sich Magdalen ohne e am Ende. Wird Moddlinn ausgesprochen.« »Das stimmt«, sagte Mattei. »Soll eines der ältesten und feinsten sein. Im Mittelalter gegründet. Nach Maria Magdalena benannt, Maria aus Magdala. In der Bibel steht, dass sie bei irgendeinem Anlass Jesus die Füße gewaschen haben soll.« Eine weitere Mitschwester, die ausgenutzt worden ist, dachte sie. »Genau«, sagte Johansson mit unerwartetem Nachdruck. »Es ging doch auch das Gerücht um, dass sie etwas miteinander gehabt haben sollten? Sie und Jesus, meine ich.« »Nicht dass ich wüsste«, sagte Mattei. Was hat das mit der Sache zu tun?, dachte sie. »Scheißegal«, sagte Johansson. »Ob sie nun etwas miteinander hatten, meine ich. Ich hab da an etwas anderes gedacht.« »Ich bin ganz Ohr, Chef«, sagte Mattei. Und wenn es geht, noch heute, dachte sie. Danach hatte er, ohne seine Quelle preiszugeben, von dem Hirschgehege im Park hinter dem Magdalen College erzählt, davon, dass die Anzahl der Hirsche im Gehege mit den Mitgliedern des Kollegiums übereinstimmen sollte. Dass man, wenn einer von ihnen starb, einen Hirsch erlegte und diesen anlässlich der Gedenkfeier für den Verstorbenen serviere. »Du weißt, so ein typisches englisches Herrendinner«, erläuterte Johansson. »Hirschsteak mit zerkochtem Gemüse und brauner Soße. Kannst du herausfinden, ob das stimmt?« »Der Hirschpark, die Anzahl der Hirsche im Park, ob man einen Hirsch erschießt, wenn einer der Dozenten stirbt, was zum Gedenkdinner serviert wird«, fasste Mattei zusammen. Bäh, was für ein grässliches Essen, und was in aller Welt hat das mit dem Mord an Olof Palme zu tun?, dachte sie. »Hervorragend«, sagte Johansson und tätschelte freundlich ihre Schulter. Das Mädel kann es ungeheuer weit bringen, und endlich nimmt die Sache Gestalt an, dachte er.
43 Nachdem Anna Holt in ihr Arbeitszimmer zurückgekehrt war, ging sie wieder dazu über, die Informationen zu prüfen, die sie von 273
Bäckström erhalten hatte. Zuerst kümmerte sie sich um die Drehungen und Wendungen der »Bäckström'schen Waffenspur«, und nach einer guten Stunde allgemeiner Überlegungen und zwei kürzeren Telefongesprächen war ihr bis ins Detail klar, wie das Ganze abgelaufen war. Zuerst sprach sie mit Bäckströms unmittelbarem Vorgesetzten. Erklärte ihm die Situation und bat ihn um Stillschweigen. Danach loggte sie sich Kraft ihrer Befugnisse als Intendentin in Bäckströms Dienstrechner ein und untersuchte, was während der letzten Wochen dort so hinein- und herausspaziert war. Ziemlich wenig Dienstliches, wie es schien. Dafür jede Menge Kontaktaufnahmen mit der Kriminaltechnik, in denen es um einen Revolver ging. Zwei Mails an Holt. Schließlich eine Mail, die er an selbigem Morgen an einen nicht ganz unbekannten Kunsthändler geschickt hatte. Nur unvollständig gelöscht, wie schon so oft zuvor. Kurz und kryptisch, was ihren Sinn anbelangte, aber mit Sicherheit keine Dienstangelegenheit, die auf Bäckströms Schreibtisch gehörte. Danach hatte er dann Holt angerufen und über seine Erkenntnisse Rechenschaft abgelegt. So, so, dachte Anna Holt, als sie den Hörer auflegte. Der kleine Fettsack hat mich reingelegt. Von alldem hatte Bäckström natürlich keine Ahnung. Als er in derselben Woche am Montag nach seiner wohlverdienten Wochenendruhe an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte, begann er den Tag damit, seinen alten Freund und Wohltäter Henning auf dessen Handy anzurufen. Dort tutete jedoch die ganze Zeit das Besetztzeichen, und weil Bäckström viel zu tun hatte, schickte er ihm stattdessen eine aufmunternde Mail, die er danach löschte und geradewegs in den Papierkorb verschob. Nur ein paar aufmunternde und diskrete Zeilen darüber, dass die Sache ganz nach Plan lief. Wenig aufschlussreich für seine ganzen so genannten Kollegen, deren einzige Aufgabe offenbar darin bestand, ausgerechnet ihn zu bespitzeln. Danach widmete er sich eine halbe Stunde lang ganz allgemeinen, aufgeräumten Gedanken. Die Waffe hatte er eigentlich schon gefunden, was jetzt noch blieb, war, sich eingehendere Gewissheit darüber zu verschaffen, was den vermutlichen Täter betraf, den ehemaligen Polizeioberintendenten Claes Waltin. Wer hätte übrigens gedacht, dass dieser kleine Halbschwule so viele Eier besaß. Abgesehen von Bäckström natürlich, dachte Bäckström. 274
Als Erstes rief er seinen Verwandten bei der Polizeigewerkschaft an, der im Großen und Ganzen alles über ehemalige und gegenwärtige Mitglieder wusste. So auch über den Oberintendenten Claes Waltin, obwohl dieser noch nicht einmal Mitglied gewesen war. »Das war so ein kleiner eingebildeter Juristenaffe, der rumlief und sich für einen Polizisten hielt. Er war in der Juristengewerkschaft JUSEK«, erläuterte Bäckströms Cousin. »Wir alten Kameraden im Korps waren anscheinend nicht fein genug für so einen Dreckskerl.« »Wie war er denn als Mensch?«, fragte Bäckström. Phänomenale Formulierung, dachte er. Wie war er als Mensch? Diese Worte muss man lutschen, dachte er. »Als Mensch«, wiederholte Bäckströms Cousin. »Was für eine Scheißfrage. Der Arsch ist schließlich tot. Und von den Toten soll man nicht schlecht sprechen. Das musst du doch wissen! Darauf legen wir hier in der Gewerkschaft großen Wert.« »Aber wie war er? Als Mensch? Als er noch gelebt hat, meine ich.« Das hat gesessen, dachte Bäckström. Bald kannst du Kurse für diese Geier in der Glotze geben. Muss an dem ganzen guten tschechischen Pils liegen. Ein bisschen bitter und trotzdem weich und rund. »Er soll verflucht wild auf Frauenzimmer gewesen sein. Richtig wild, wenn du weißt, was ich meine.« »Leder und Ketten?«, schlug Bäckström vor, für den das Terrain kein ganz unbekanntes war. »Leder und Ketten«, schnaubte Bäckströms Cousin. »Wenn du mich fragst, war das höchstens aller Laster Anfang. Dieser alte Vögelheini, über den sie neulich im Fernsehen berichtet haben, soll fünftausend Weibern die Ratte rasiert haben, bevor er sie gefickt hat...« »Tatsächlich?« »Verglichen mit Waltin konnte der im Knabenchor der Kirche trällern.« »Erzähl«, forderte ihn Bäckström auf. Das tat sein Cousin nur zu gerne. Im Laufe der Jahre hatten verschiedene Mitglieder der Gewerkschaft, selbstverständlich nur im Dienst und hauptsächlich im Außendienst, die merkwürdigsten Be275
obachtungen über den ehemaligen Polizeioberintendenten Waltin gemacht. Seltsame Orte, Zusammenhänge und Menschen. »Einen Haufen solcher Clubs für Sex und Leder und Schwule und Lesben und Gott weiß was. Dazu die ganzen bekannten alten Aufreißschuppen, wo er mehr oder weniger gewohnt zu haben schien. Und dann die ganzen Geschichten natürlich. Hast du nicht gehört, was er sich mit der Alten von diesem verrückten Kollegen Wiijnbladh hat einfallen lassen? Diesem Giftmörder, du weißt schon. Arbeitet ihr jetzt nicht sogar in derselben Abteilung?« »Was hat er denn mit ihr angestellt?«, unterbrach Bäckström ihn. Die Fragen hier stelle immer noch ich, dachte er. Jede Menge zum Lutschen, dachte Bäckström eine Stunde später zufrieden, nachdem sein Verwandter widerwillig den Hörer aufgelegt hatte. Dann stempelte er sich zum Mittagessen aus und hatte schon beim zweiten Pils einen guten Einfall, den auszuprobieren es wirklich einen Versuch wert war. So eine kleine Vorahnung, die nur richtigen Polizisten wie ihm vergönnt war. Aber zuerst war es hohe Zeit für eine Unterhaltung mit dem alten Giftmörder Wiijnbladh. Ob sie's wohl zu dritt getrieben haben?, dachte Bäckström. Der Lederheini, der Giftmörder und diese rothaarige Sau, die er um die Ecke bringen wollte und es nie geschafft hatte. Der hätte sich mal mit Waltin unterhalten und sich ein paar Tipps von ihm holen sollen. Muss mit Bäckström reden, dachte Holt. Aber vorher galt es, etwas anderes in Angriff zu nehmen. Dafür ging sie zu ihrer hausinternen Nachrichtenabteilung hinüber und bat die Leute darum, ihr eine Liste mit sämtlichen so genannten angehängten Selbstmorden in der Zeit von einschließlich 1980 bis zum Jahreswechsel 1985 zusammenzustellen. Hoffentlich nicht noch früher, wohl kaum später, dachte sie. »Wir haben keinen speziellen Code für das, was die Kriminologen angehängten Selbstmord nennen«, sagte der Analytiker und schüttelte den Kopf. »Außerdem wird es ein Weilchen dauern, weil es sich dabei um so alte Informationen handelt.« »Zwei Morde und ein darauf erfolgter Selbstmord, bei dem sich der Täter dann das Leben genommen hat. Fang mit der Polizeibehörde in Stockholm an. Die Waffe soll ein Revolver gewesen sein.« 276
»Wird trotzdem dauern.« »Die Angaben sind für den Erkazeh«, unterstrich Holt. »Verstehe. Ich ruf dich auf dem Mobiltelefon an, wenn es erledigt ist, und das, was ich finde, schicke ich über Group-Wise.« »Wann kann ich damit rechnen?« »Gib mir wenigstens eine Stunde«, seufzte der Analytiker. Wiijnbladh hatte sich mittlerweile erhoben. Jetzt saß er an seinem Schreibtisch und blätterte in einem riesigen Kunstlexikon. Ansonsten sah er aus wie immer. Zittrig, holprig und verbraucht. Klein und eingefallen wie ein Totenschädel, mit einem offensichtlichen Mangel an Haaren und Zähnen. »Wie lebt's sich so, Wiijnbladh«, fragte Bäckström, während er sich setzte. Frage mich, wie viel Strom man hier im Gebäude wohl sparen würde, wenn man eine Batterie an den Arsch anschließen würde, dachte er. »Ich lebe noch, aber viel mehr ist es nicht«, antwortete Wiijnbladh mit dünner Stimme. »Ich finde, du siehst verdammt fit aus«, erwiderte Bäckström. Könntest mit Sicherheit das WM-Finale in Espenlaub erreichen, dachte er. »Nett von dir, Bäckström.« »Gern geschehen«, sagte Bäckström. »Ich habe dieser Tage übrigens einen alten Bekannten getroffen. Bekannter Kunsthändler. Er hat erzählt, dass er vor vielen Jahren ein richtig feines Bild an einen ehemaligen Kollegen verkauft hat. Einen Zorn. Da fiel mir plötzlich ein, dass du den sicher gekannt hast? Den Polizeioberintendenten Claes Waltin. Ihr wart doch alte Freunde?« »Ein enger Freund«, nickte Wiijnbladh, dessen Augenwinkel schon feucht geworden waren. »So traurig durch einen tragischen Unfall verschieden. Großer Kunstsammler. Besaß eine sehr vornehme Sammlung schwedischer Gegenwartsmalerei.« »Aber wie konnte er sich das denn leisten?«, fragte Bäckström. »Ich meine, von einem normalen Polizeilohn kannst du dir doch nicht gerade Gemälde von Zorn leisten?« Höchstens das eine oder andere Pornofoto, das du mit dem Diensthandy machst, dachte er. »Sehr vermögend, sehr vermögend«, sagte Wiijnbladh und drehte und wandte seinen mageren Hals. »Sehr reiche Eltern. Waltin 277
muss in seinen besseren Jahren viele Millionen schwer gewesen sein.« »Tatsächlich?«, sagte Bäckström. »Es war also das gemeinsame Kunstinteresse, das euch zusammengebracht hat?« Oder war es diese rothaarige Sau, mit der du verheiratet warst und die ihn dir als ihren Cousin vom Lande präsentiert hat?, dachte er. »Das und vieles andere«, sagte Wiijnbladh und nickte bekümmert. »Was war denn das andere?«, fragte Bäckström. Deine Alte, dachte er. »Der ehemalige Polizeioberintendent war ja ein hoher Chef bei der Geschlossenen Tätigkeit, wie du sicher weißt.« »Ja«, sagte Bäckström mit fragendem Gesichtsausdruck. Hä? Die Säpo ermittelt doch nicht bei Giftmorden, dachte er. »Bei einigen Anlässen hatte ich Gelegenheit, ihm und der Säpo bei ihrer wichtigen Arbeit zu helfen«, sagte Wiijnbladh, der plötzlich so stolz aussah, wie es mit einer Handvoll Zähne im Mund eben so ging. Ach, leck mich doch, dachte Bäckström. Hast du in der Russischen Botschaft Thallium unter die Rote-Bete-Suppe gemischt, oder was? »Klingt ungeheuer spannend«, sagte Bäckström. »Erzähl.« »Darf nichts sagen«, sagte Wiijnbladh. »Schweigepflicht. Die Sicherheit des Landes, das verstehst du bestimmt.« »Ein bisschen kannst du vielleicht trotzdem verraten?«, beharrte Bäckström. »Es bleibt selbstverständlich unter uns.« »Ich weiß von nichts«, sagte Wiijnbladh mit klagender Stimme. »Bedaure, bedaure, Bäckström, aber meine Lippen sind durch das schwedische Gesetz versiegelt. Aber so viel kann ich vielleicht verraten, dass man mir für meine Verdienste von höchster Stelle der Säpo formell gedankt hat. Solltest du das, was ich sage, anzweifeln, meine ich.« Wobei der Giftmörder Wiijnbladh dem Lederheini Waltin wohl geholfen hat?, fragte sich Bäckström, als er auf sein Zimmer zurückkehrte. Muss mehr als Rote-Bete-Suppe gewesen sein. Höchste Zeit übrigens, nach Hause zu gehen, dachte er. Die Uhr näherte sich dem magischen Dreiuhrschlag, und des Tages Müh und Last war 278
für einen schlichten Lohnsklaven im Dienst des Polizeiwesens längst vorbei. Nach etwa einer Stunde bekam Anna Holt eine Antwort von der hausinternen Informtionsabteilung der Zentralen Kriminalpolizei. Ein Fall stimmte mit ihren Angaben überein. Ein so genannter angehängter Selbstmord, der am 27. März 1983 in Spänga stattgefunden hatte. Knapp drei Jahre vor dem Mord am Ministerpräsidenten. Der Täter war Malermeister gewesen. Witwer, 45 Jahre alt, Jäger und Sportschütze mit mehreren Waffenlizenzen. Er hatte seine sechzehnjährige Tochter und ihren dreiundzwanzigjährigen Freund in seinem eigenen Haus in Spänga erschossen. Danach hatte er sich selbst hingerichtet. Die Waffe war beschlagnahmt worden. Das Verbrechen hatte man aufgeklärt, aber eine Anklage war aus ersichtlichen Gründen nie erhoben worden. Mehr ging aus den Angaben, die im Datenverbundsystem der Zentralen Kriminalpolizei gespeichert waren, nicht hervor. Das gesamte Ermittlungsmaterial müsste im Archiv der Stockholmer Polizei liegen. Die Waffe sollte in der Kriminaltechnischen Abteilung in Stockholm zu finden sein. Dort landeten, dem Analytiker zufolge, der die Meldung herausgesucht hatte, solche Waffen nämlich üblicherweise. Das kann nicht stimmen. Nicht, wenn wir die Waffe 1983 beschlagnahmt haben. An dem Einfallsreichtum des kleinen Fettsacks ist jedenfalls nichts auszusetzen, dachte Holt und schaute auf die Uhr. Aber morgen ist auch noch ein Tag, dachte sie.
44 Zum dritten Mal innerhalb eines Monats holte Lewin seine alten Kartons vom Winter und Frühjahr 1986 raus. Dieselben Kartons, die alles zwischen Himmel und Erde von bestenfalls unklarem polizeilichen Wert enthielten. Am Samstag, dem 1. März, 9.15 Uhr, hatte der Wagen des Polizeioberintendenten Claes Waltin in der Smedsbacksgata oben in Gärdet einen Strafzettel erhalten. Das Auto war sein eigener BMW 535, Baujahr 1986. 279
Als der Strafzettel ausgestellt wurde, hatte das Auto noch nicht sonderlich lange dort gestanden. Der Politesse zufolge, mit der Lewin gesprochen hatte, hatten sie und ihr Kollege sich nämlich einer typischen Samstagsroutine beim Austeilen der Strafzettel in der Gegend bedient. Man drehte zwei Runden. Schrieb sich die Falschparker auf, und wenn man dann nach einer viertel oder einer halben Stunde für den zweiten Durchgang wiederkam, wurde der Strafzettel sofort ausgestellt. Einfach und praktisch, zog man die Gnadenfrist von mindestens zehn Minuten, die man den Besitzern zu geben pflegte, in Betracht. Bedachte man, dass Waltin sich auf einen Behindertenparkplatz gestellt hatte, konnte sein Wagen jedoch während der ersten Runde nicht dort gestanden haben. Solchen Autos erteilte man nämlich umgehend einen Strafzettel. Nahm man die Adresse und die Uhrzeit auf dem Bescheid zum Anlass, konnte der Wagen schwerlich vor 8.45 Uhr falsch geparkt worden sein. Jedenfalls der überzeugten Ansicht der Politesse zufolge. Lewin hatte ihrer Argumentation Glauben geschenkt. Sie war logisch und trug den Stempel der Wahrheit, und es gab wenig, was dafür sprach, dass jenes Falschparken auch nur das Geringste mit einem Mord, der zehn Stunden zuvor und unzählige Kilometer weit entfernt begangen worden war, zu tun haben sollte. Nichtsdestotrotz hatte er am Montag, dem 24. März 1986 eine schriftliche Anfrage an die Kollegen der Säpo geschickt, die für die Polizeispur verantwortlich waren. Bis die schriftliche Antwort kam, verging über ein Monat. Sie datierte auf Dienstag, den 29. April 1986, war von einem Kommissar der Sicherheitspolizei unterschrieben, von knappem Wortlaut und schloss eine qualifizierte Schweigepflicht ein. »Von betreffendem Fahrzeug wurde in Ausübung des Dienstes bei der Überwachung eines zu schützenden Objekts, das sich in der Nähe einer unserer sicheren Adressen aufhielt, Gebrauch gemacht.« Die beiden Schreiben müssten logischerweise eigentlich in einem von Matteis Ordnern liegen, dachte Lewin. »Hast du sie gefunden?«, fragte Lewin eine Stunde später, nachdem Mattei mit einem dicken Stoß Computerlisten unterm Arm in ihr gemeinsames Büro zurückgekehrt war. 280
»Nein«, sagte Mattei. »Weder deine Anfrage noch ihre Antwort. Es liegen noch nicht einmal Notizen in der laufenden Archivierung vor.« »Wie soll man das denn verstehen?«, fragte Lewin. »Ich meine, du bist ja schließlich die Computerspezialistin unter uns Normalsterblichen.« »Nett von dir«, entgegnete Mattei und lächelte. »Weil es mir schwer fällt zu glauben, dass du geschlampt hast, bin ich auch der Meinung, dass sie deine Anfrage bekommen haben. Dann haben sie sie aus irgendeinem Grund nicht archiviert. Haben einen Monat später eine Antwort mit einer von ihren Aktennummern verschickt, die es mit Sicherheit in ihrem Aktenverzeichnis gibt, die sich aber auf eine ganz andere Angelegenheit und eine völlig andere Akte bezieht.« »Und wovon handelt die?« »Diese Akte konnte ich aufspüren. Sie liegt im Ermittlungsmaterial und bezieht sich auf eine Anfrage an Ryhovs Psychiatrisches Krankenhaus, in der es um einen ihrer Patienten ging, der der Säpo einen Hinweis über einen Kollegen in Göteborg gegeben hat, der Olof Palme ermordet haben soll. Dieses Ermittlungsverfahren wurde darüber hinaus bereits im Mai 1986 abgeschrieben.« »Aber...« »Hat nicht im Mindesten etwas mit deiner Angelegenheit zu tun«, fiel ihm Mattei ins Wort. »Wenn ich Johansson wäre, würde ich sagen, dass das einer der phänomenalsten Idiotentipps ist, die ich je gesehen habe.« »Äußerst seltsam«, sagte Lewin und sah aufrichtig verwirrt aus. »Was ist denn deiner Meinung nach geschehen?« »Ich glaube, dass jemand deine Frage an sie aussortiert hat, ohne sie zu archivieren. Dann hat vermutlich selbiger Jemand einen Monat gewartet und danach eine Antwort mit einer Aktennummer geschickt, die von etwas ganz anderem handelte. Wenn du eine Antwort ohne Aktennummer bekommen hättest, wärst du vermutlich stutzig geworden.« »Und der Kollege bei der Säpo, der meine Antwort unterzeichnet hat? Kommissar Jan Andersson. Könnte Waltin ihn dazu verleitet haben, so etwas zu tun?« »Klingt höchst unwahrscheinlich, dass er jemanden dazu gebracht haben soll, auf ein Schreiben zu antworten, das nicht zu exis281
tieren scheint, und noch dazu die Antwort mit einer Aktennummer zu versehen, die sich auf eine ganz andere Angelegenheit bezieht.« »Andersson, Kollege Jan Andersson. Das ist zwar jetzt fast zwanzig Jahre her, aber...« »Tot«, fiel Mattei ihm ins Wort. »Starb 1991 an einer Gehirnblutung, und an dem Todesfall scheint es nichts Seltsames gegeben zu haben. Hat bei der Säpo und bei der Palmeermittlung gearbeitet. Er war darüber hinaus derjenige, der mit Fällen des Typs, von dem deine Frage handelte, betraut war.« »Diese Sache wird kurioser und kurioser«, sagte Lewin. »Was hältst du davon?« »Bestenfalls ist es so, dass jemand - in diesem Fall vermutlich Waltin - mindestens zwei Verbrechen begangen hat, um einem Bußgeld zu entgehen.« »Und schlimmstenfalls?« »Schlimmstenfalls ist es noch viel schlimmer«, sagte Mattei. Lewin verbrachte den Rest des Tages mit unruhigen Grübeleien. Es gefiel ihm nicht, dass ein und dieselbe Person an mehreren Stellen in derselben Ermittlung auftauchte, ohne dass es einen Grund dafür gab. Eine verständliche, menschliche Erklärung. Nicht so eine, die ihn bereits zu quälen begann. Mattei machte weiter, als ob nichts geschehen sei. In den letzten vierundzwanzig Stunden ging ihr etwas anderes im Kopf herum, und die Arbeit musste rein routinemäßig erledigt werden. Zuerst ein Blatt mit Notizen über die rätselhaften Strafzettel, die ihren Chef sicher interessieren würden. Danach machte sie sich an den merkwürdigen Spezialauftrag, den er ihr erteilt hatte. Sie schickte von ihrer privaten Mailadresse aus eine freundliche Mail, zur Sicherheit unterschrieben von Lisa Mattei, Doktorin der Philosophie an der Universität Stockholm, an den Verwaltungsleiter des Magdalen College in Oxford. Schließlich bin ich das auch, dachte sie. Eine Stunde darauf erhielt sie Antwort. Hoppla, das ging aber schnell, dachte Lisa Mattei. 282
»Dear Dr Mattei, Thank you for your kind e-mail. Its a nice old tale, but I am afraid it's not true and there's never been any actual evidence for it. I rather suspect that it's a legend that's been passed around by other colleges - and perhaps even collègues. It's true that our deer herd is occasionally culled. However this has nothing to do...« Gut oder schlecht, und auf was ist er eigentlich aus?, dachte Lisa Mattei, und weil es sich um Lars Johansson handelte und wie üblich eilig war, rief sie ihn auf seinem Mobiltelefon an. »Lisa Mattei hier«, meldete sie sich. »Ich habe Antworten auf deine Fragen, Chef. Ich fürchte, das Ganze ist eine reine Lügengeschichte. « »Hervorragend«, sagte Johansson. »Komm sofort rüber, dann sage ich Helena, dass sie den Kaffeekessel aufsetzen soll.« »Zwei Minuten«, erwiderte Mattei. Dann sage ich Helena, dass sie den Kaffeekessel aufsetzen soll, wiederholte sie die Worte und schüttelte den Kopf. Lars Martin Johansson lag auf seinem Denksofa und zeigte mit einer lässigen Handbewegung auf einen Besuchersessel. »Ich bin ganz Ohr«, sagte er. Zum Glück nicht die geringste Spur eines Kaffeekessels, dachte Mattei nach einem schnellen Blick durch den Raum. »Dem Verwaltungsleiter von Magdalen zufolge, einem Mister Edgar Smith-Hamilton, dessen offizieller Titel übrigens ‘Bursar’ ist, was wohl heißt, dass er das Portemonnaie festhält, also ihm zufolge gibt es zurzeit zweiunddreißig Hirsche im Park hinter dem College, und diese Anzahl haben sie schon seit ewigen Jahren. Die Menge der Fellows ist hingegen bedeutend größer. Mehr als hundert, wenn man die Honorary Fellows mit einbezieht. Der Hirschpark ist an die dreihundert Jahre alt, aber es hat niemals eine Vorschrift darüber gegeben, dass die Anzahl der Hirsche mit der Anzahl der Fellows übereinstimmen soll. Früher einmal soll es sich so verhalten haben, 283
dass die Menge der Hirsche weitaus größer als die der Fellows war, aber seit den vergangenen fünfzig Jahren ist das umgekehrt.« »Phänomenal«, sagte Johansson und strahlte vor Entzücken. »Weiter, Mattei, weiter.« Es stimme auch nicht, dass man einen Hirsch erlege, wenn ein Fellow starb. Hingegen werde aus Wildschutzgründen ein gewisser Abschuss betrieben, und zwar in der Regel nach der Brunft, die jedes Jahr im Oktober stattfände. »Obwohl du darüber sicher besser Bescheid weißt als ich, Chef«, sagte Mattei. »Was du nicht sagst«, schmunzelte Johansson. »Weiter.« Das mit dem Dinner stimme auch nicht. Dinner zum Gedenken an verstorbene Fellows würden zweimal im Jahr abgehalten. Eines im Frühsommer und eines im Herbst. Ausnahmen seien zwar vorgekommen, aber in dem Fall habe es sich um äußerst geschätzte Mitglieder des Kollegiums gehandelt. Kürzlich erst habe ein solches stattgefunden, um einen verstorbenen Nobelpreisträger mit einem Dinner, einem Thementag mit Vorlesungen und Seminaren sowie einer Gedenkschrift von der Oxford University Press zu ehren. »Was wird da serviert?«, fragte Johansson mit gieriger Miene. »Was die Menüs betrifft, so kommt es natürlich vor, dass man bei Dinnern im College auch Hirsch aus dem eigenen Park speist, aber es ist nicht so, dass das ein obligatorischer Programmpunkt ist. Eine wechselnde Speisekarte demnach. Normales Festessen, so wie ich verstanden habe.« »Da hätte ich Gift drauf nehmen können«, sagte Johansson und seufzte genüsslich, liegend. »Du bist also zufrieden mit den Antworten, die ich eingeholt habe, Chef?« »Zufrieden«, wiederholte Johansson. »Feiern wir am vierundzwanzigsten Dezember Weihnachten?« »Ja, das war dann wohl alles«, sagte Mattei und machte Anstalten, sich zu erheben. »Eins nur noch«, sagte Johansson und hielt sie mit einer Handbewegung zurück. »Wie sind diese Gerüchte entstanden?« 284
»Von dem, was ich zwischen den Zeilen gelesen habe, war das eine Story, die von den unmittelbar Betroffenen sehr gehegt und gepflegt wurde. Also nicht von den Hirschen natürlich.« »Da hätte ich auch Gift drauf nehmen können«, grunzte Johansson. Ob er wohl dabei ist, die Angaben aus irgendeinem alten Verhör zu überprüfen oder so?, dachte Mattei, als sie wegging. Johansson war nun mal Johansson, trotz seiner höchst zweifelhaften Ansichten über Frauen, dachte sie. Am Dienstag widmete sich Kommissar Bäckström den Archivstudien. Das alte Zentralarchiv der Stockholmer Polizei lag im Keller des großen Polizeigebäudes, und dorthin führte ihn seine sensible Nase. Eine Witterung, die nicht stärker als eine dunkle Vorahnung war. Natürlich unmöglich wahrzunehmen für seine ganzen nasenverstopften Kollegen. Unmöglich für alle, alle außer einem so routinierten alten Spürhund wie ihn. Außerdem hatte er gute Erinnerungen an dieses Archiv. Als er sich in den achtziger Jahren beim Bereitschaftsdienst der Kripo abgeschuftet hatte, war das der Ort gewesen, an den er sich für einen Moment des Nachdenkens und der Ruhe zurückgezogen hatte. Notwendig, um nicht in der Flutwelle von gewöhnlichen Gangstern, Verrückten, Suffköppen und Glühwürmchen Schiffbruch zu erleiden, welche die Halbaffen von der Schutzpolizei durch die Bereitschaftszentrale schleusten. Eine Erinnerung aus längst vergessenen Tagen. Bevor die Computer das schöne, alte Handwerk abgelöst hatten. Eine Zeit, in der alle richtigen Wachtmeister ihre Verbrecher noch in schmucke Hängemappen mit Pappumschlag einsortiert hatten. Wo jeder Verbrecher mindestens eine Mappe gehabt hatte und die allerfleißigsten schnell mit mehreren belohnt worden waren. Die in schier endlosen Reihen nach Personennummer geordnet waren und die je nach Jahrgang verschiedene Farben gehabt hatten. Braun, blau, grün, rosa, rot... und schon aufgrund des Farbwechsels hatte Bäckström frühzeitig begriffen, was geschehen würde. 285
Das gute alte Zentralarchiv. Der Quell polizeilichen Wissens, wo er selbst zu verschiedenen denkwürdigen Anlässen seinen Durst gestillt und seine Seele erquickt hatte. Dieses letzte Wehr und die letzte Festung der Erkenntnis, wo man tatsächlich noch jedes kleine bisschen gesammelt hatte, das man in die Finger bekam, und es nie mehr losgelassen hatte. Egal ob unbestätigte Verdächtigungen, Einstellungsbeschlüsse, niedergelegte Anklagen, Freisprüche und der ganze andere Blödsinn, mit dem die Juristen sich beschäftigten. Im Zentralarchiv blieb der Verbrecher. Für immer und ewig. War man erst mal drin, kam man nie mehr raus. Natürlich hatte er recht gehabt, er hatte immer recht. Da hing sie und baumelte in ihrer blauen Sechzigerjahremappe. Jetzt hab ich dich, du kleiner Lederheini, dachte Bäckström und nahm Waltin vom Haken. Eine dünne Mappe mit Kopien alter maschinengeschriebener Formulare. Eingangsanzeige, Verhör mit der Klägerin, Personenblatt des Verdächtigen, Einberufung zur erneuten Vernehmung mit der Klägerin, Einstellungsbeschluss, kein Verbrechen, und wäre das Zentralarchiv nicht gewesen, wäre Claes Waltin der weltlichen Gerechtigkeit für immer verloren gegangen. In der Nacht zwischen der Walpurgisnacht und dem 1. Mai 1968 hatte der dreiundzwanzigjährige Jurastudent Claes Waltin laut Anzeige einer zwei Jahre älteren Frau, die Magistra der nordischen Philologie war und sich in einem Gymnasium in den südlichen Vororten auf einer Vertretungsstelle als Lehrerin ihren Lebensunterhalt verdiente, einen Kerzenständer aus Holz in ihre Scheide gestopft. Sie hatten sich am selben Abend im Rahmen der traditionellen Walpurgisnachtsfeiern der Studenten im Restaurant Hasselbacken in Djurgärden kennengelernt. Vorausgesetzt man glaubte ihr, sollte Folgendes geschehen sein. Waltin durfte sie zu ihrer Wohnung in Södermalm begleiten. Dort hatte er sich zuerst sexuell an ihr vergriffen, indem er sie zum Analverkehr zwang. Danach hatte er sie gefesselt, ihr einen Knebel verpasst und ihr den Kerzenständer in den Unterleib gerammt. Als er damit fertig gewesen war, war er gegangen. 286
Eine Stunde später hatte die Frau starke Blutungen erlitten, hatte selbst einen Krankenwagen gerufen und war als Notfall ins Söderkrankenhaus eingeliefert worden. Sie musste über eine Woche dort bleiben. Eine Sozialarbeiterin hatte mit ihr gesprochen, sie dazu gebracht, ihr alles zu erzählen, und dafür gesorgt, dass sie bei der Polizei Anzeige erstattete. Man hatte eine rechtsmedizinische Untersuchung eingeleitet und Verletzungen am Scheideneingang, den Scheidenwänden und im Scheidengewölbe festgestellt. Anschließend hatte der Gerichtsmediziner in seinem Gutachten konstatiert: »...dass die beobachteten Verletzungen durch physische Gewaltanwendung mit einem harten, langen Gegenstand entstanden zu sein scheinen, der in die Scheide eingeführt wurde«, »dass das Einführen dieses Gegenstandes vermutlich ein beträchtliches Maß an Kraft erfordert hat«, »dass die Verletzungen der Schilderung der Patientin nicht widersprechen«, »dass sie gleichzeitig auf eine andere Weise durch ähnliche physische Gewaltanwendung entstanden sein können«, »dass man auch Eigenverschulden nicht ausschließen kann«. Der junge Waltin war erst ein paar Wochen später von der Polizei zur Vernehmung geladen worden. Er hatte jede Form von Übergriff auf die Klägerin bestritten. Sie hätten sich im Restaurant Hasselbacken getroffen, er sei mit ihr nach Hause gegangen, das sei ihr eigener Vorschlag gewesen, sie hätten einen normalen Geschlechtsverkehr gehabt, zu dem sie außerdem die Initiative ergriffen hätte. Eine Stunde später sei er gegangen und nach Hause zu seiner Studentenbude in Östermalm spaziert, weil er am nächsten Morgen früh aufstehen musste. Er hatte seiner kränklichen Mutter, um die er sich als einziger Sohn regelmäßig kümmern musste, versprochen, ihr einen Besuch abzustatten. Anschließend hatte er noch gesagt, dass er von den schrecklichen Anschuldigungen, die er über sich ergehen lassen musste, schockiert und stark mitgenommen sei. Er könne sich noch nicht einmal vorstellen, so etwas zu tun, und verstehe nicht, weshalb die Klägerin das behauptet habe. Eine Woche darauf war die Klägerin zu einem neuen Verhör geladen worden. Sie war nie erschienen. Stattdessen hatte sie die Polizei angerufen und mitgeteilt, dass sie ihre Anzeige zurückziehen wollte. Eine nähere Erklärung dazu hatte sie nicht abgegeben. Einen Monat später hatte der Staatsanwalt das Verfahren eingestellt. 287
»Der angezeigte Vorfall kann nicht als Verbrechen gewertet werden.« Typische Polizeichefangelegenheit, dachte Bäckström, rollte die Mappe zusammen und stopfte sie in die Innentasche seines Sakkos. Bedeutend einfacher, als seine kostbare Zeit an dieses nie funktionierende Kopiergerät zu verschwenden. Gold, Bäckström, dachte er und klopfte sich auf die Anzugtasche, als er wieder auf die Straße kam, und weil es am einfachsten und auch am sichersten war, ging er direkt nach Hause. Zum Mittagessen nahm er sich etwas aus seinem Kühlschrank, in dem gerade jede Menge Kleines und Gutes lag, trank ein kaltes Pils und gönnte sich sogar einen kleinen Schluck Schnaps. Danach legte er sich aufs Sofa, um in Ruhe und Frieden über das Motiv nachzudenken, das ein normaler Lederheini haben könnte, um nicht mal vor dem Mord an einem Ministerpräsidenten zurückzuschrecken. Es muss etwas Sexuelles gewesen sein, dachte Bäckström. Sozusagen dasselbe Motiv, wenngleich auch verschiedene Modi Operandi. Was noch ausstand war, eine Verbindung zwischen Waltin und seinem letzten, prominenten Opfer zu finden. Vielleicht gehörten sie ja derselben Geheimgesellschaft von Lederheinis an? Möglicherweise irgend so eine gewöhnliche interne Abrechnung, weil sie wegen irgendeines kleinen Fickobjekts aneinander geraten waren? Höchste Zeit, dass Kommissar Bäckström damit beginnt, an einem Täterprofil zu feilen, dachte er. Inmitten dieser angenehmen Überlegungen musste er eingeschlafen sein, denn als er erwachte, war es höchste Zeit fürs Abendessen. Eines stirbt nie, und das ist der Nachruf eines toten Mannes, dachte Bäckström, als er eine Weile später in aller Gemächlichkeit zu seiner Stammkneipe watschelte. Das war die ungeschminkte Wahrheit. Nicht dieser liberale Quatsch, nicht schlecht über die Toten zu sprechen. Außerdem ist es schlimm genug, wenn es wahr ist, dachte er.
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Den zweiten Tag in Folge rief Anna Holt ihren alten Kollegen von der Streife an, der mittlerweile Leiter der Kriminaltechnischen Abteilung war. »Ich bin's schon wieder, Holt«, grüßte Anna Holt. »Auch auf die Gefahr hin, dich zu nerven. Hast du zwei Minuten Zeit?« Aber sie nerve keinesfalls. Sie dürfe gerne jeden Tag anrufen, wenn sie wolle. Womit könne er ihr helfen? »Es geht um einen anderen Revolver. Die Mordwaffe eines angehängten Selbstmordes, der am 27. März 1983 stattgefunden hat. Ein Mann, der seine Tochter und ihren Verlobten erschossen hat, bevor er sich selbst hinrichtete. Hat sich draußen in Spänga ereignet. Der Revolver wurde beschlagnahmt und soll oben bei euch gelandet sein. Du könntest nicht zufällig eine nähere Beschreibung des Revolvers raussuchen? Die geht nämlich nicht aus dem Auszug, den ich von unserer Informationsabteilung bekommen habe, hervor.« »Natürlich«, sagte der Chef der Kriminaltechnik. »Du hast nicht zufällig eine Vorgangsnummer?« »Selbstverständlich«, sagte Holt. »Ich maile sie dir.« »Gib mir eine Stunde«, sagte ihr ehemaliger Kollege. Was mache ich hier eigentlich?, dachte Holt, als sie den Hörer auflegte. Dieses Mal dauerte es nur eine Dreiviertelstunde. Die Waffe, nach der sie sich erkundigt hatte, war bereits am Tag nach dem Mord in der Kriminaltechnik gelandet. Man hatte sie probegeschossen und mit den Kugeln verglichen, die der Gerichtsmediziner aus den drei Opfern gezogen hatte. Was bekräftigt hatte, was man sich bereits gedacht hatte. Es war die Mordwaffe. Auch eine Ruger vom Kaliber .357 Magnum. Dasselbe Format wie dieser Revolver, über den Bäckström irres Zeug faselte. Wenn auch etwas älteren Modells. »Man kann wohl keinen Blick darauf werfen?«, fragte Holt. »Leider nicht«, antwortete er. »Sie ist nicht mehr da.« »Wo ist sie denn?« »Weg, fürchte ich. Unseren Papieren zufolge befand sie sich bis Oktober 1988 hier. Dann wurde sie, gemeinsam mit ungefähr zwanzig anderen Waffen, zur Verschrottung in die Rüstungsfabrik der schwedischen Armee gebracht. Darüber gibt es sogar Papiere.« »Verschrottung«, wiederholte Holt. »Ich dachte, ihr behaltet alle Waffen, die ihr reinbekommt?« 289
Bei weitem nicht, belehrte sie ihr Kollege. Man behalte die Waffen, die aus Ermittlungsgesichtspunkten interessant seien. Außerdem behalte man solche, die für ballistische Vergleiche im Allgemeinen interessant seien. »Wie du vielleicht weißt, haben wir hier oben in der Abteilung eine kleine Waffenbibliothek. Fast zwölfhundert Waffen. Verschiedene Waffentypen. Diverse Marken in unterschiedlichen Kalibern und Ausführungen.« »Und welche schickt ihr dann zur Verschrottung?« Solche, die ganz allgemein betrachtet in schlechtem Zustand seien. Vorausgesetzt, man benötige sie nicht mehr für irgendeine Verbrechensermittlung. »Eigentlich meistens alter Schrott. Abgesägte Schrotgewehre, aufgebohrte Startpistolen, alles mögliche Selbstgebastelte. Wenn wir mehrere Kopien derselben Waffe in gutem Zustand haben, verschrotten wir sie allerdings in der Regel nicht. Wir verteilen sie an Kollegen im Land. Die meisten Kriminaltechnischen Abteilungen haben eigene Waffenbibliotheken, und wir in Stockholm beschlagnahmen mehr Waffen als jede andere Polizeibehörde im ganzen Land.« »Dann war diese also in schlechtem Zustand?«, fragte Holt. »So muss es gewesen sein, Antwort ja. Obwohl es im Hinblick darauf, dass derjenige, der sie benutzt hat, offenbar Schütze war und eine Lizenz dafür besaß, ein wenig seltsam klingt. Die gehen für gewöhnlich sehr sorgsam mit ihren Waffen um. Und das ist untertrieben ausgedrückt, wenn du weißt, was ich meine.« »Ihr habt sie doch probegeschossen«, sagte Holt. »Existieren die Kugeln vom Probeschießen noch?« »Nö. Ich hab das sogar überprüft. Hängt vermutlich damit zusammen, dass das von Anfang an ein klarer Fall war. Heute wären sie fast vierundzwanzig Jahre alt, also sind sie vermutlich bei irgendeinem Frühjahrsputz mit rausgeflogen. Die Kopie des Protokolls vom Probeschießen müsste es allerdings noch geben.« Klingt immer mehr nach einem typischen Bäckström, dachte Holt. »Zu etwas anderem«, sagte ihr Kollege. »Nur eine neugierige Frage. Ich frage mich...« »Ich weiß genau, was du dich fragst«, fiel Holt ihm ins Wort. »Bevor du fragst. Ich wünschte, ich wüsste, worum es hier geht. Ich 290
habe nicht die geringste Ahnung. Sagen wir mal so, ich bin damit beauftragt worden, einem Hinweis nachzugehen.« »Ich hätte nicht gedacht, dass sich Polizeiintendentinnen mit so etwas beschäftigen.« »Ich auch nicht«, entgegnete Holt. Ob ich deine Worte wohl zitieren darf?, dachte sie. Was mache ich hier eigentlich?, fragte sich Holt, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Wenn da etwas ist, worüber du nachgrübelst, etwas, das dich stört, etwas, das dich beunruhigt, dann musst du dich trauen, darüber zu sprechen. Es mit jemandem teilen, dem du vertraust. Immer wieder hatte seine Psychiaterin das wiederholt. Wie ein Mantra. Wenn da etwas ist, das... Da ist Anna die Richtige, dachte Jan Lewin. »Da ist eine Sache, die mich stört«, sagte Jan Lewin mit einem vorsichtigen Räuspern und einem entschuldigenden Lächeln. »Dann musst du darüber reden. Das weißt du doch«, sagte Holt und lächelte ihn an. »Das hatte ich auch vor«, sagte Jan Lewin. Dann erzählte er die gelinde gesagt sonderbare Geschichte von Waltins Strafzettel. »Ich weiß genau, was du meinst«, antwortete Holt. »Ich hab da auch eine Sache, die mich stört.« »Ich bin ganz Ohr«, sagte Jan Lewin, nickte und lächelte auffordernd. »Was hältst du davon?«, sagte Anna Holt. Danach erzählte sie die hoffentlich nicht genauso seltsame Geschichte über den verschrotteten Magnumrevolver. »Ich weiß nur zu gut, wie solche Schützen sind«, fügte Holt mit unerwartetem Nachdruck hinzu. »Ich bin selbst mit einem verheiratet gewesen. Die verbringen mehr Zeit damit, ihre Waffe zu putzen, als mit ihren Kindern zu spielen.« »Soweit ich informiert bin, ist dein Exmann, unser geschätzter Kollege von der Schutzpolizei, einer der herausragenden Schützen dieser Behörde«, sagte Lewin. »Exactly«, Holt nickte. »Obwohl es auch noch andere Gründe gab, worauf wir ein anderes Mal zurückkommen können. Aber du musst doch zugeben, dass das Ganze ein wenig mysteriös ist.« 291
»Es muss eine Ermittlungsakte existieren«, sagte Lewin, der mit seinen Gedanken woanders zu sein schien. »Bestimmt«, sagte Holt. »Sofern uns ein Haufen Papiere überhaupt helfen können.« »Das war 1983«, sagte Lewin und schüttelte den Kopf. »Das war noch eine andere Zeit. Wenn du mit einer größeren Ermittlung fertig warst, hast du sie in einen Karton gepackt und diesen ins Archiv hinuntergetragen. Nicht nur Papiere sind in diesen Kartons gelandet. Es konnte alles Mögliche sein, wie die alten Tagebücher des Opfers, Fotografien, Drohbriefe des Täters, sogar Dinge, die die Kriminaltechniker los sein wollten.« »Das sagst du«, sagte Holt. »Ich war zu der Zeit Polizeianwärterin bei der Schutzpolizei, und Papiere waren das, vor dem mich alle älteren Kollegen gewarnt haben. Womit ich mich auch immer beschäftigt habe, sollte ich darauf achten, dass ich nicht einen Haufen Papiere an Land zog, die ich hätte ausfüllen müssen.« »Ich finde die Ermittlungsakte«, Lewin klang bestimmt, nickte und erhob sich aus dem Stuhl. »Wenn es sie noch gibt, dann finde ich sie.« Und ob er sie gefunden hatte. Sie lag zwischen all den Papieren. Dabei die Kugel jenes Revolvers, der offenbar schon vor zwanzig Jahren verschrottet worden war. Glitzernd wie ein Goldklumpen in einer kleinen Plastiktüte von der Kriminaltechnischen Abteilung. Der Karton mit den Ermittlungsunterlagen lag in einem Kellerraum des Gebäudes in Stockholm, in dem in den achtziger Jahren die alte Mordkommission ihre Räume gehabt hatte. Lewin hatte selbst unzählige Jahre in dem Haus gesessen, und es war nicht das erste Mal, dass er die Kellerräume aufsuchte. Um Papiere wegzusortieren oder nach ihnen zu suchen. An den Doppelmord von 1983 konnte er sich nicht mehr erinnern. Das war für ihn und seine Kollegen vom KKi eine viel zu simple Angelegenheit gewesen. Kein ungeklärter Mordfall, der eine Ermittlung erforderte. Vom ersten Moment an aufgeklärt. Wenn es ein Ermittlungsmord gewesen wäre, hätte er sich daran erinnert, obwohl er in seinen bald dreißig Jahren als Ermittler von Gewaltverbrechen mehr als hundert untersucht hatte. Zuoberst im Karton lag eine Plastikhülle mit ein paar Zeitungsausschnitten vom Tag nach dem Mord. »Tragischer Dop292
pelmord«, »Familientragödie«, »Drei Tote bei Familiendrama in Spänga«. Eine bagatellisierende Schilderung darüber, wie ein Mann im mittleren Alter seine Tochter im Teenageralter und ihren Freund erschossen und danach Selbstmord begangen hatte. Kein Wort über sein Motiv. Schlicht und einfach eine Familientragödie. Im Ordner, der das Untersuchungsmaterial enthielt, befand sich die Antwort. Der Täter war Malermeister gewesen. Gemeinsam mit einem Geschäftspartner hatte er einen kleineren Malereibetrieb mit fünf Angestellten, Büro und Räumlichkeiten in Vällingby besessen. Drei Jahre zuvor war er Witwer geworden. Seine Frau war nach einer längeren Krebserkrankung gestorben. Zurück waren der Mann und eine zu der Zeit dreizehnjährige Tochter geblieben, die nach dem Tod der Mutter schnell Probleme bekommen hatte. Sie hatte die Schule geschwänzt, war in schlechte Gesellschaft geraten, hatte angefangen, Drogen zu konsumieren, und war wiederholt in Entzugsanstalten eingewiesen worden. Auf diese Weise hatte sie auch ihren sieben Jahre älteren Freund kennengelernt, der ein einschlägig bekannter Kleinkrimineller und Drogenabhängiger war und dessen Vorstrafenregister schon mehrere kürzere Haftstrafen aufwies. Aus den Ergebnissen der Spurensicherung im Haus des Vaters in Spänga ging hervor, dass die Tochter und ihr Freund offenbar dort gewesen waren, um etwas zu stehlen, als er plötzlich nach Hause gekommen war und sie überrascht hatte. Im Flur hatten demnach ein paar Tragetaschen aus Papier gestanden. In den Taschen hatten unter anderem die Schmuckschatulle der Mutter, einige Silberleuchter, ein paar von den Schützenpokalen des Vaters, ein neuer Toaster und einige kleinere Gemälde gelegen. Auf die Treppe, die ins Obergeschoss führte, hatte jemand einen Fernseher und ein Videogerät geschmissen. Ein Stück weiter den Flur hinunter, am Fuß der Treppe, hatte der Freund der Tochter mit dem Gesicht nach unten auf dem Bauch gelegen, mit einem Schuss durch den Kopf getötet. Die Kugel hatte auf halber Treppenhöhe in der Wand gesteckt. Der verantwortliche Techniker war ein älterer Kollege gewesen, den Lewin in guter Erinnerung hatte. Ein sehr sorgfältiger Mann, 293
als richtiger Pedant verschrien. Mit Hilfe verschiedener Spuren hatte er eine höchstwahrscheinliche Rekonstruktion des Tathergangs gezeichnet. Der Vater kommt nach Hause. Hört, dass irgendjemand im ersten Stock herumwirtschaftet. Schleicht in den Keller. Holt seinen Revolver aus dem Waffenschrank. Schleicht zurück nach oben in den Flur. Der Freund der Tochter läuft aus dem ersten Stock die Treppe hinunter. Den Fernseher und das Videogerät aus dem Schlafzimmer des Vaters auf dem Arm tragend. Tumult. Vermutlich hat der Freund der Tochter den Vater mit dem Fernseher und dem Videogerät beworfen. Als er versucht hat, sich an dem Vater vorbei in den Flur zu drängeln, hat ihn der Vater mit einem Abstand von circa einem Meter in den Kopf geschossen. Der Freund der Tochter ist vermutlich sofort tot gewesen. Die Tochter kommt aus der Küche im Erdgeschoss gerannt. Schmeißt sich auf ihren Vater, schlägt um sich wie eine Furie. Der Vater schleift sie ins Wohnzimmer. Hinterlässt blutige Spuren mit seinen Schuhen, das Blut ihres Freundes. Wirft sie aufs Sofa. Versucht, sie festzuhalten. Ein weiterer Schuss löst sich. Ein aufgesetzter Schuss, der die Tochter auf der Höhe ihrer linken Brust trifft, durchs Herz ein- und austritt, in der Rückenlehne des Sofas stecken bleibt. Die Tochter verstirbt innerhalb weniger Minuten in den Armen ihres Vaters. Er hat sie anscheinend so fest umklammert, dass sie mehrere angebrochene und gebrochene Rippen davontrug. Danach geht der Vater in die Küche. Blut rinnt von seinem Pulli herunter. Das Blut der Tochter. Er setzt sich, den Rücken gegen den Kühlschrank gelehnt, auf den Boden und schießt sich selbst in den Kopf. Eintrittsloch durch die Gaumendecke in den Oberkiefer. Austrittsloch am Hinterkopf. Die Kugel bleibt in der Kühlschranktür stecken. Der Vater ist vermutlich sofort tot. Eine ältere Nachbarin vom Haus nebenan hatte der Polizei bei der Rekonstruktion des zeitlichen Ablaufs geholfen. Der erste Schuss. Eine Frau schreit. Der nächste Schuss, eine Minute nach dem ersten. Der Nachbar wählt die Notrufnummer der Polizei. Das 294
Gespräch wird um 14.25 Uhr entgegengenommen. Dann der dritte Schuss. Fünf Minuten nach dem zweiten. Nur Sekunden, bevor der erste Streifenwagen in die Straße einbiegt und fünfzig Meter vor dem Haus mit Vater, Tochter und ihrem Freund zum Stehen kommt. Drei Tote, die bald von rund zwanzig Polizisten der Schutzpolizei, der Kripo und der Spurensicherung Gesellschaft bekommen sollten. »Drei Tote bei Familiendrama in Spänga«. Sein alter Kollege von der Kriminaltechnischen Abteilung hieß Bergholm. Er war bereits Ende der achtziger Jahre in Pension gegangen. War immer noch am Leben und erfreute sich bester Gesundheit. Er wohnte in der Hantverkargata, ein paar Viertel vom Polizeigebäude entfernt, und Lewin war ihm erst vor einem Monat über den Weg gelaufen. Er hatte ihn auf eine Tasse Kaffee eingeladen und mit ihm über alte Zeiten geplaudert. Ein sorgfältiger Mann, als richtiger Pedant verschrien, und als er seine Ermittlungen abgeschlossen hatte, hatte er die Ergebnisse der Spurensicherung, zwecks Weiterleitung an den Staatsanwalt, an die Mordkommission geschickt. Er hatte auch das Protokoll des Probeschießens und eine Fotografie von einer der Vergleichskugeln übermittelt, auf der die Laufspuren mit Pfeilen markiert worden waren. Außerdem eine kleine Plastiktüte mit einer der zwei Kugeln, die er für den Vergleich benutzt hatte. Von den drei Kugeln des Tatorts hatte er drei Fotos beigelegt, auf denen er die Spuren des Laufs auf dieselbe Art und Weise mit Pfeilen markiert hatte wie auf dem Foto der Vergleichskugel. Die drei Kugeln, die die Todesfälle verursacht hatten, waren dagegen im Archiv der Kriminaltechnik verblieben. Diejenige, die er geschickt hatte, hatte er selbst abgefeuert. Eine von zweien und zugleich ein Beweis für den Staatsanwalt, dass er seine Arbeit gemacht hatte. Bergholm hatte sogar eine handgeschriebene Mitteilung beigefügt. Wenn der Staatsanwalt es wünsche, dürfe er die Kugel gerne behalten. Er selbst habe mithin eine in Reserve. Wenn nicht, könne der Staatsanwalt sie zurück an die Abteilung schicken. Wenn er noch Fragen hätte, dürfe er gerne anrufen. 295
Ein sorgfältiger Mann, als richtiger Pedant verschrien, dachte Jan Lewin. Der Staatsanwalt wiederum schien wie die meisten anderen kein Gespür dafür gehabt zu haben, und die Kugel war in der Kiste mit all dem anderen Kram gelandet, an dem man keinen Bedarf mehr hatte. Was vielleicht auf dasselbe herauskam, dachte Jan Lewin, seufzte und steckte die Plastiktüte mit der Kugel in die Tasche seines Sakkos. Danach verschloss er den Karton mit Tesafilm und klebte einen handgeschriebenen Zettel darauf. Zuoberst das Datum und die Uhrzeit. Darunter einen kurzen, erläuternden Text. »Zu angegebener Zeit ist Unterzeichneter hier verwahrtes Untersuchungsmaterial durchgegangen. Teile des Materials wurden für weitere Untersuchungen zur Zentralen Kriminalpolizei mitgenommen.« Dann unterschrieb er mit seinem Namen und seinem Dienstgrad. Kriminalkommissar Jan Lewin, Zentrale Mordkommission, Zentrale Kriminalpolizei. Zuletzt klammerte er seine Visitenkarte auf dem Deckel des Kartons fest. Denn auch Jan Lewin war ein sorgfältiger Mann und als »ein richtiger Buchhaltertyp« verschrien. »Die besitzt ja nicht im Geringsten eine Ähnlichkeit mit der Kugel, mit der Palme erschossen wurde«, stellte Anna Holt enttäuscht fest, als sie eine Stunde später mit der Plastiktüte in der Hand dasaß und Lewins Fund einer Musterung unterzog. »Ein anderer Typ Munition«, sagte Lewin, der seit ein paar Stunden dank Bergholms altem Protokoll gut informiert war. »Das hier scheint der Typ Kugel zu sein, den Kampfschützen bevorzugen«, legte er dar. »Sie verursacht deutlichere Zielscheibenmarkierungen. Deshalb ist sie vorne auch ganz platt. Stanzt sozusagen ein rundes Loch in die Scheibe. Wenn dicht nebeneinander mehrere Treffer liegen, ist es bedeutend einfacher, zu sehen, wie viele Treffer es waren, als wenn man mit so einer gebräuchlichen, vorne spitzen Kugel schießt.« »Nicht dieselbe Munition?«, wiederholte Holt. »Also nicht so eine metalldurchschlagende, die Palme getötet hat?« 296
»Nein«, sagte Lewin. »Bei der Tatortuntersuchung des Einfamilienhauses in Spänga fand man eine ungeöffnete sowie eine geöffnete Schachtel mit derselben Munition wie der, die du in der Hand hältst. Lag im Waffenschrank des Täters unten im Keller. In dem Revolver, von dem er Gebrauch gemacht hat, befanden sich drei leere Hülsen und drei nicht abgefeuerte Patronen. Sechs Schüsse, volles Magazin, derselbe Typ Munition wie in den Schachteln. Zwei der nicht abgefeuerten Patronen im Magazin hat Kollege Bergholm verwendet, als er sie für seine Vergleichsgrundlage probegeschossen hat. Lieber eine Kugel zu viel als eine zu wenig«, fügte Lewin hinzu. »Eine Kugel eines ganz anderen Typs als die Mordkugel, die von einem Revolver abgefeuert wurde, der vor fast zwanzig Jahren zur Verschrottung geschickt worden ist«, stellte Holt fest. »Wie komme ich darauf, dass das alles mehr mit Bäckström als mit dem Mord an Olof Palme zu tun hat?« »Das sollte doch hoffentlich herauszufinden sein«, sagte Lewin und zuckte mit den Schultern. »Du oder ich?«, fragte Holt, lächelte ihn an und kippelte mit dem Stuhl, auf dem sie saß. »Du«, entgegnete Lewin und erwiderte das Lächeln. »Ich definitiv nicht. Du hast damit angefangen, Anna.« »Okay, okay«, sagte Holt. Was mach ich jetzt bloß?, dachte sie. »Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass ich dir so langsam ganz schön auf die Nerven gehe«, sagte Holt, als sie zum dritten Mal innerhalb von drei Tagen den Leiter der Kriminaltechnischen Abteilung bei der Stockholmer Polizei anrief. »Überhaupt nicht, Holt«, antwortete er. »Tatsache ist, dass ich gerade so dasaß und an dich gedacht habe. Warum lässt sie nie etwas von sich hören, dachte ich.« »Ich fürchte, diesmal bin ich gezwungen rüberzukommen.« »Dann musst du mir aber versprechen, auch einen Kaffee mit mir zu trinken.« »Versprochen.« 297
Drei Gespräche in drei Tagen. Das war schlimm genug, und deshalb hatte Holt vorgeschlagen, dass sie in seinem Zimmer Kaffee trinken sollten. Außerdem hatte sie ihn um seine Verschwiegenheit gebeten. »Da bist du hier genau an der richtigen Stelle, Holt«, sagte ihr ehemaliger Kollege. »Wie du dich sicher erinnerst, bin ich so ein verschwiegener, starker Typ.« »Ich weiß«, sagte Holt. »Weshalb, meinst du, rede ich ausgerechnet mit dir?« Der will mich doch wohl nicht anbaggern, dachte sie. »Da sind ein paar Sachen, bei deren Lösung ich mir deine Hilfe verspreche«, fuhr sie fort. »Ich höre.« »Erstens, falls es Papiere über die Verschrottung des Revolvers gibt, mit dem ich dir dauernd in den Ohren liege, dann möchte ich eine Kopie davon haben.« »Es hat ein extra Formular gegeben. Du kannst eine Kopie von unserer Kopie bekommen. Noch was?« »Kopien, falls es noch andere Spuren von der Waffe hier oben in der Abteilung gibt. Sie wurde hier im April 1983 probegeschossen. Das Protokoll liegt mir bereits vor. Hätte aber trotzdem gerne eine Kopie von der Kopie, die sich bei euch befinden müsste.« »Sicher. Kein Problem. Wie ich schon sagte, so hat zwar jemand anscheinend die alten Kugeln weggeräumt, aber das Protokoll muss es noch geben. Kann ein Weilchen dauern, den richtigen Ordner zu finden, aber das sollte kein Problem sein.« »Ich versteh, verdammt noch mal, gar nichts mehr«, sagte der Leiter der Kriminaltechnischen Abteilung eine halbe Stunde später, als sie den richtigen Ordner gefunden hatten. »Scheint so, als hätte jemand auch das Schussprotokoll weggeräumt«. »Und du bist sicher, dass das der richtige Ordner ist?«, fragte Holt. »Natürlich«, sagte er und schlug die erste Seite auf. »Hier ist die Liste sämtlicher Protokolle, die in diesem Ordner liegen sollten. Hier ist die Registriernummer des Revolvers, nach dem du suchst, das Datum des Probeschießens vom April 1983 und dann, ganz am Rand, Kollege Bergholms Unterschrift. Das Protokoll sollte auch hier liegen, aber das tut es nicht. Was ich dir geben kann, ist eine 298
Kopie von unserem Antrag auf Verschrottung. Der existiert. Den hab ich nämlich selbst gesehen. Als du mich das erste Mal besucht hast.« Der Kopie des Antrags auf Verschrottung zufolge hatte die Kriminaltechnische Abteilung der Stockholmer Polizei im Oktober 1988 insgesamt einundzwanzig Waffen zur Verschrottung an die Rüstungsfabrik der schwedischen Armee in Eskilstuna geschickt. An den Antrag der Abteilung war eine Bestätigung von der Fabrik geheftet, dass der Auftrag ausgeführt worden sei. Nach der Waffenliste zu schließen, handelte es sich tatsächlich um Schrott. Abgesägte Schrotgewehre, alte Jagdwaffen, eine aufgebohrte Startpistole, ein selbstgebastelter Revolver, eine Bolzenschusspistole und eine Nagelpistole. Mit einer Ausnahme vielleicht. Ein Revolver der Marke Ruger, der Seriennummer nach zu urteilen 1980 produziert. Die Sache wird immer kurioser und kurioser, dachte Holt, als sie den Namen des Kollegen sah, der den Antrag damals wohl weggeschickt hatte. Bevor Lewin Feierabend machte, war er noch einmal in den alten Kellerraum der Mordkommission zurückgekehrt. Diesmal nahm er den ganzen Karton mit. Ging in sein Arbeitszimmer zurück und schloss ihn in seinen Geldschrank ein. Und er hinterließ nicht die geringste Spur, obwohl er als äußerst sorgfältig und sehr formell verschrien war. Am Donnerstagmorgen bestellte Holt Bäckström zu sich, um Klartext mit ihm zu reden. Zuerst konfrontierte sie ihn damit, was sie über den Revolver herausbekommen hatte, der hinter einem Kühlschrank draußen in Flemingsberg gefunden worden war. Dass Bäckström die Registriernummer von der Kriminaltechnik erhalten hätte, dass die Kollegen ihn verarscht und ihm das falsche Herstellungsjahr genannt hätten und dass er seinerseits versucht hätte, Holt hinters Licht zu führen. 299
»Du hast mich reingelegt, Bäckström«, fasste Holt zusammen. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Das muss ein Missverständnis sein«, wehrte Bäckström ab. Reingelegt, was soll das heißen?, dachte er. Redete mit ihm, als sei er ein ungezogenes Gör. Was hatte sie da eigentlich vor? Ihn bespitzeln offenbar, gar nicht erst zu reden von diesen halbkriminellen Figuren der Kriminaltechnik, die versucht hatten, ihm ans Bein zu pinkeln. »Wir müssen das jetzt in Ordnung bringen«, sagte Holt. »Ich habe vor, ein Verhör mit deinem Informanten zu führen.« »Vergiss es«, schnaubte Bäckström. »Meine Gewährsleute sind mir heilig und dieser Typ hat absolute Anonymität gefordert. Außerdem ist es nicht so leicht, ihn zu erreichen.« »Warum denn nicht?«, fragte Holt. »Wohnt im Ausland«, sagte Bäckström kurz angebunden. »Und ich dachte, Kunsthändler Henning wohnt in Norr Mälarstrand«, sagte Holt mit unschuldiger Miene. Scheiße, was geht hier vor?, dachte Bäckström. Kann man Mobiltelefone abhören? Hat sie mir die Säpo auf den Hals geschickt? »Weiß nicht, wovon du redest«, entgegnete Bäckström betont lässig und schüttelte den Kopf. »Dann macht es ja nichts, wenn ich mit ihm spreche«, sagte Holt. »Du, Holt. Wenn du an irgendeiner Zusammenarbeit interessiert bist, und das wäre ich, wenn ich du wäre, schlage ich vor, dass du dich um deinen Kram kümmerst und ich mich um meinen. Was hältst du zum Beispiel davon, einen Blick hier reinzuwerfen?«, sagte Bäckström und gab ihr die Akte, die er aus dem Zentralarchiv mitgenommen hatte. »Wo hast du die her?«, sagte Holt. »Lies«, sagte Bäckström. Dann hast du ein bisschen was Leckeres zum Lutschen, du kleine Sau, dachte er. »Aha«, sagte Holt, als sie fertig gelesen hatte. »Ich verstehe immer noch nicht.« Holt muss ganz schön behämmert sein, dachte Bäckström. Sogar für ein Weibsstück muss sie unglaublich behämmert sein. 300
»Ich bin gerade dabei, an einem kleinen Profil über unseren Täter, Waltin also, zu feilen. Ich glaube, dass das unter anderem im Hinblick auf die Motivaspekte interessant sein könnte.« »Motivaspekte?« »Ja, und ob«, sagte Bäckström und nickte nachdrücklich. »Ich glaube, es könnte sich um etwas Sexuelles gehandelt haben.« »Verzeihung«, Holt schüttelte den Kopf. »Wir sprechen doch über den Mord an Olof Palme?« »Tun wir das nicht alle?«, sagte Bäckström mit listiger Miene. »Erklär's«, sagte Holt. »Wer soll mit wem etwas gehabt haben?« »Ich bin auf die Idee gekommen, dass Waltin und dieser Sozi gemeinsame Interessen gehabt haben könnten. Wenn ich das mal so sagen darf.« Sie muss noch bekloppter sein als ein unglaublich beklopptes Weibsbild, dachte er. »Wie kommst du denn darauf?« Er muss verrückt geworden sein, dachte sie. »Mir ist aufgegangen, dass sie eine verdammte Ähnlichkeit miteinander hatten. Beide waren so kleine, magere Oberklassefuzzis. Feuchte Augen. Feuchte Lippen. Du weißt schon, wie die so aussehen. So als ob sie sich die ganze Zeit die Lippen leckten. Es gibt doch so Geheimbünde für Lederheinis. Ich glaube, dass man anfangen sollte, dort rumzuwühlen. Beide waren außerdem noch Juristen.« »Ich melde mich, falls an der Sache etwas dran ist«, sagte Holt. Muss mich darum kümmern, dass er irgendeine Form von Hilfe bekommt, dachte sie. Wer auch immer so jemandem wie Bäckström überhaupt helfen konnte. »Mir ist da noch was eingefallen«, fügte Bäckström hinzu. »Ich höre«, sagte Holt. »Du kennst doch auch Wiijnbladh«, sagte Bäckström. »Dieser verrückte Kollege, der vor einem Haufen von Jahren versucht hat, seine Alte zu vergiften. Er und Waltin haben anscheinend auch etwas miteinander gehabt.« »Du meinst, sie sollen auch ein Verhältnis miteinander gehabt haben?« Hol' mich der Teufel, Holt ist auch für ein Weibsstück echt unschlagbar, dachte Bäckström. Verglichen mit Holt ist eine normale Kohlrübe der reinste Nobelpreisträger. 301
»Vergiss es«, sagte Bäckström und schüttelte den Kopf. So einer wie Wiijnbladh hat bestimmt nie gevögelt, dachte er. »Noch was«, ergänzte er. »Er soll Waltin bei dem einen oder anderen Anlass geholfen haben. Was es war, hat er nicht gesagt, aber es war anscheinend verdammt geheim. Behauptete, er hätte von der Säpo irgendeine Auszeichnung oder Medaille als Dank für seine Hilfe bekommen.« »Wie gesagt«, sagte Holt. »Ich melde mich, falls an der Sache was dran ist.« Wiijnbladh soll also Waltin geholfen haben, dachte sie. Nachdem Bäckström gegangen war, rief Holt ihren Bekannten vom Staatlichen Kriminaltechnischen Labor in Linköping an. Sie brauchte die Hilfe eines Waffentechnikers. Heikle Angelegenheit. Informelle Handhabung. Damit du ja nicht auf irgendwelche Ideen kommst, Kerlchen, dachte sie. »Du kannst nichts Konkreteres sagen?«, fragte er. »Ich möchte, dass du dir eine Kugel für mich anschaust«, sagte Holt. »Und einen Vergleich mit einer anderen Kugel machst.« »Kein Problem.« »Bis in zwei Stunden«, sagte Holt. Dann steckte sie die Plastiktüte mit der Kugel in die Tasche ihrer Kostümjacke. Ließ sich einen Dienstwagen geben, schaute auf dem Weg bei Lewin vorbei, schnappte sich ein altes Schussprotokoll aus dem Frühjahr 1983 und fuhr nach Linköping. »Was soll ich damit machen?«, fragte ihr Bekannter gut zwei Stunden später. »Sie mit der Palmekugel vergleichen«, erklärte Holt. »Hoppla«, sagte er und sah sie aufrichtig überrascht an. »Du bist dir bewusst, dass das hier ein ganz anderer Typ von Kugel ist?«, fragte er. »Ja«, sagte Holt. »Wo ist das Problem?« »Da gäbe es mehrere«, sagte er. »Wie viel weißt du über Waffen? Über moderne Revolver zum Beispiel?« »Gesunde Halbbildung«, sagte Holt. »Erzähl mir das Wesentliche.« Keine längeren Ausführungen, bitte, dachte sie. »Okay«, sagte er. 302
Dann begann er, ihr das Wesentliche zu erzählen. Ohne Umschweife. Die Kugel, mit der der Ministerpräsident erschossen worden war, hatte das Kaliber .357 Magnum. Das hieß, dass sie einen Durchmesser von .357-tausendstel Zoll hatte, also an die neun Millimeter. Das Wort »Magnum« bedeutete, dass die Patrone eine besonders starke Pulverladung besaß. »Das wusste ich schon«, sagte Holt. Der Zug im Lauf eines modernen Revolvers hatte Erhebungen und Ausbuchtungen - Felder und Züge genannt - die spiralförmig durch den Lauf verliefen. Entweder nach rechts oder nach links. Bildlich gesprochen konnte man sagen, dass die Kugel durch den Zug geschraubt wurde und dass die Felder und Züge charakteristische Spuren darauf hinterließen. Sinn des Rotierens der Kugel war es, eine gradlinigere Geschosslaufbahn zu bewirken. »Das wusste ich auch«, sagte Holt. Revolver unterschiedlichen Fabrikats hatten in der Regel unterschiedliche Charakteristika dieser Art. Eine unterschiedliche Anzahl von Feldern und Zügen mit variierender Feldbreite, Drallrichtung und variierendem Drallwinkel, wobei Letzterer ausschlaggebend dafür war, wie viele Male die Kugel auf einer vorherbestimmten Strecke um die eigene Achse rotierte. »Das sagt mir nur ansatzweise etwas«, gab Holt zu. »Siehst du«, sagte er. »Jetzt nähern wir uns langsam der eigentlichen Sache.« Der Revolver, mit dem der Ministerpräsident erschossen worden war, hatte fünf rechtsdrehende Felder von circa 2,8 Millimeter Breite und einem Drallwinkel von circa fünf Grad gehabt. »Das war mir allerdings neu«, sagte Holt. »Und wo ist das Problem dabei?« Problematisch mit der Kugel, die sie mitgebracht hatte, war, dass sie von einem anderen Typ war als die Kugel, mit der Palme erschossen worden war. Kugeln wurden in der Regel aus Blei gefertigt. Sowohl Holts Kugel als auch die Palmekugel waren Bleikugeln, und so weit gab's auch keine Probleme. 303
»Blei ist weich, wie du weißt«, erläuterte er. »Um die Kugeln vor Deformation zu schützen und ihre Durchschlagskraft zu erhöhen, wenn sie auf das Ziel treffen, versieht man sie mit einer schützenden Hülse aus einem härteren Material. Einem so genannten Mantel.« »Aus Kupfer«, warf Holt ein. »In der Regel aus Kupfer oder einer Kupferlegierung. Deine Kugel hat zum Beispiel einen reinen Kupfermantel. Härter als Blei, gewiss, aber weit entfernt davon, so hart wie der Mantel der Kugeln aus dem Sveaväg zu sein. Der wurde nämlich aus einer Legierung aus Kupfer und Zink hergestellt. Der ist sehr hart. Wird übrigens Tombak genannt.« »Und das Problem?«, erinnerte ihn Holt. »Die Spuren desselben Laufs können je nach Kugel variieren. Deine Kugel hat eine weichere Hülse. Die Spuren des Laufs können ausgeprägter als auf einer Kugel mit einer härteren Hülse sein. Spuren, die auf einer härteren Kugel nicht abgesetzt werden, prägen sich vielleicht auf deiner Kugel ein, weil sie weicher ist.« »Wie lösen wir das?«, fragte Holt. »Gib mir den Revolver, dann mache ich ein neues Probeschießen mit so einer Kugel, wie sie der Mörder im Sveaväg benutzt hat.« »Dann haben wir ein anderes Problem«, sagte Holt. Ohne näher auf die Details einzugehen, erzählte sie ihm, dass die einzige Kugel, die sie besaß, die Kugel war, die sie ihm soeben gegeben hatte. Dazu ein Protokoll von dem im Frühjahr 1983 durchgeführten Probeschießen. »Hier hast du das Protokoll«, sagte Holt und reichte es ihm. »Der Waffentyp stimmt. So weit gibt's keine Probleme.« »Was machen wir denn jetzt?«, fragte Holt. »Wir nehmen, was wir haben«, sagte ihr Bekannter und nickte aufmunternd. »Ich hole nur eben die Kugeln vom Sveaväg, damit wir etwas zum Vergleichen haben.« Die Kugeln aus dem Sveaväg holen. Jetzt nimmt die Sache endlich Gestalt an, dachte Anna Holt. Abgesehen davon war die Ähnlichkeit mit all diesen Fernsehkrimis über den Alltag der Kriminaltechniker bei der amerikanischen Polizei nicht sonderlich groß. Er hatte an seinem Ver304
gleichsmikroskop gesessen, geguckt, an Rädchen gedreht, gesummt und sich Notizen gemacht. Eine gute halbe Stunde hatte es gedauert. Fast so lang wie eine ganze Folge von CSI - den Tätern auf der Spur. »Okay«, sagte er, richtete sich auf und nickte ihr zu. »Shoot«, sagte Holt, zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf ihn, krümmte ihn und feuerte ab, formte die Lippen zu einem O und blies den Pulverrauch fort. »Alle Spuren, die auf der Palmekugel vorkommen, sind auch auf deiner Kugel«, eröffnete er. »Das spricht dafür, dass sie von derselben Waffe stammen. Aber«, fuhr er fort, »darüber hinaus gibt es Spuren auf deiner Kugel, die sich nicht auf der Palmekugel finden.« Typisch, dachte Holt. »Wie lassen die sich denn erklären?«, fragte sie. »Da deine Kugel drei Jahre vor den Kugeln aus dem Sveaväg abgefeuert wurde, können wir ausschließen, dass sie von einem weiteren Waffengebrauch stammen. Zu erklären ist das wahrscheinlich dadurch, dass der Mantel deiner Kugel weicher ist.« »Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie von ein und derselben Waffe stammen?«, fragte Holt. »Das, was ich am Telefon über mehr als neunzig Prozent gesagt habe, kannst du getrost vergessen, solange wir sie nicht mit dem gleichen Typ Kugel vergleichen können. Fünfundsiebzig, vielleicht sogar achtzig Prozent Wahrscheinlichkeit.« »Was glaubst du denn?«, fragte sie. »Ich glaube, dass sie von derselben Waffe kommen«, sagte er und schaute sie ernst an. »Aber vor Gericht würde ich es nicht beschwören. Dort würde ich sagen, dass sie mit fünfundsiebzigprozentiger Wahrscheinlichkeit von derselben Waffe stammt, und das reicht nicht für einen Urteilsspruch. Worüber wir uns doch, trotz allem, freuen sollten.« »Obwohl alle Spuren, die auf der Palmekugel vorkommen, auch auf meiner Kugel sind?«, wiederholte Holt. Feigling, dachte sie. »Das Problem mit diesen Spuren ist, dass es meistens so genannte ‘Allgemeine Charakteristika’ sind«, sagte er. »Die sich aus den Waffentypen ergeben. Was die Charakteristika einer speziellen Waffe durch Gebrauch, Schäden oder Ähnliches auf ebendieser Waffe betrifft, so steht es ein wenig schlechter. Es gibt sie zwar, aber keine 305
einfachen und eindeutigen. Aber zu etwas ganz anderem«, fuhr er fort. »Was hältst du davon, noch ein wenig zu bleiben und mit mir essen zu gehen?« »Das müssen wir leider auf ein anderes Mal verschieben«, sagte Holt. »Was hältst du davon, zu...« »Ich weiß schon«, fiel er ihr ins Wort. Lächelte und legte den rechten Zeigefinger über seinen Mund. »Aber vergiss das Abendessen nicht«. Sobald sie im Auto saß, rief sie Lewin auf dem Mobiltelefon an. »Ich bin in zwei Stunden zurück«, sagte Holt. »Du, ich und Lisa, wir müssen uns treffen.« »Also ist es noch viel schlimmer«, sagte Lewin und seufzte. »Mit fünfundsiebzigprozentiger Wahrscheinlichkeit«, antwortete Holt. Dann rief sie ihren Chef Lars Martin Johansson an, aber obwohl von ihm behauptet wurde, um Ecken schauen zu können, hatte er bloß wie das Genie aus Näsäker geklungen. »Ich höre, was du sagst, Holt«, brummelte Johansson. »Aber du glaubst doch wohl nicht allen Ernstes, dass dieser kleine Hanswurst von Waltin Olof Palme erschossen hat?« »Hast du mir überhaupt zugehört?« »Wie hätte ich das vermeiden können?«, entgegnete Johansson. »Du hast seit einer halben Stunde ununterbrochen gequasselt. Bei mir im Zimmer«, fuhr er fort. »Sobald du zurück bist. Und bring auch die anderen beiden mit.« »Wird eine gute Stunde dauern«, sagte Holt. »Hab noch fünfundzwanzig Kilometer zu fahren.« »Eines noch«, sagte Johansson, der überhaupt nicht zuzuhören schien. »Ja?« »Fahr vorsichtig«, sagte Johansson. »Das ist nett von dir, Lars«, sagte Holt. »Im Hinblick auf die Tatsache, dass du wahrscheinlich die Kugel in deiner Tasche hast«, sagte Johansson. Dann hatte er einfach aufgelegt.
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GeGurra ist eigentlich ein richtiger Macher, dachte Bäckström, der am Donnerstag auf dem Weg zu einem späten Mittagessen in der Operabar war, zu dem ihn sein Gönner eingeladen hatte. GeGurra lud ihn immer ein, und das stets großzügig. Einwandfrei ein richtiger Macher, der sein Manna über alle positiven Kräfte streuselte, die sich in seiner Nähe befanden. Wie Bäckström zum Beispiel. Außerdem hatte er etwas von einem Trickser, dachte Bäckström. Mit seinem silberfarbenen Haar, seinen glänzenden italienischen Anzügen. Zog nie eine Nummer ab. Hielt sich einfach im Hintergrund wie ein Mafioso der alten Schule. Keiner, dessen Klappe schneller war als der Verstand und ihm und anderen Probleme bereitete. Ein Macher und ein Trickser, dachte er. Eigentlich ein bisschen so wie er selbst. Erst letzte Woche hatte er einem außerordentlich hoffnungslosen Weibsstück einen ganzen Fünfer zugesteckt, damit sie sich ein Taxi zur U-Bahn zwecks Weiterbeförderung in ihr elendes Zigeunerloch in den südlichen Vororten nehmen konnte. Und nicht in Bäckströms Luxusbett lag und sein Dasein verdreckte. Oder auch Rat und Tat, die er an andere verteilte. Völlig umsonst und sogar an so Grünschnepfen wie Anna Holt. Ein bisschen wie du, Bäckström, dachte Bäckström. Ein Macher und ein Trickser. »Wie ist denn die Erbsensuppe in dieser Pinte?«, fragte Bäckström, kaum, dass er sich hingesetzt und ein kleines Donnerstagsschnäpschen intus hatte, um den Weg für das Mittagessen zu ebnen. »Die beste der Stadt«, sagte GeGurra. »Hausgemacht mit besonders viel Schweinefleisch und Wurst. Richtige Wurst mit hohem Fleischanteil und so richtig fetter Schweinebauch, so wie früher, du weißt schon. Es wird dir selbstverständlich in Scheiben serviert, dicken Scheiben. Auf einem kleinen Extrateller.« »Dann nehm ich die Erbsen«, entschied Bäckström. »Möchtest du warmen Punsch dazu?« »Ein normaler Schnaps und ein Pils reichen«, sagte Bäckström. Warmer Punsch? Glaubt der etwa, ich bin schwul, oder was? »Ich werde die gebratene Rotzunge nehmen. Und ein Mineralwasser«, sagte GeGurra und nickte dem Ober bestätigend zu. Fisch, dachte Bäckström. Sind wir hier unter die Schwulen geraten? 307
Nettes Plätzchen, dachte Bäckström. Mehr oder weniger menschenleer, sobald der Ansturm zur Mittagszeit vorbei war, und ideal für vertrauliche Gespräche. »Wie läuft es?«, fragte GeGurra und lehnte sich vor. »Es läuft und läuft. Und zwar in hohem Tempo«, verkündete Bäckström, damit GeGurra unter seinem weißen Schopf nicht auf irgendwelche Ideen kam. »Werde langsam Experte in Sachen Waltin«, fuhr Bäckström fort, und dann erstattete er in groben Zügen Bericht über seinen Fund aus dem Zentralarchiv. »Das hatte ich fast schon geahnt. Manchmal hat er sich, gelinde gesagt, seltsam ausgedrückt, wenn ich das mal so sagen darf.« GeGurra seufzte und schüttelte sich vor Unbehagen. »Ich bin auf die Idee gekommen, dass es etwas Sexuelles gewesen sein könnte«, sagte Bäckström. Brauchst nur die mit dem Kerzenständer zu fragen, dachte er. »Etwas Sexuelles? Das versteh ich jetzt nicht.« »Das Tatmotiv«, stellte Bäckström klar, und dann führte er auch diesen Gedankengang aus. »In diese Angelegenheit mische ich mich nicht ein«, sagte GeGurra und schüttelte fast abwehrend die ganze weiße Pracht. »Was macht die Waffe?« Da mische ich mich nicht ein, dachte Bäckström. Scheiße, für wen hält er sich denn? Ikeas Ingvar Kamprad oder was? »Fünfzig Millionen«, sagte Bäckström und rieb Zeigefinger und Daumen gegeneinander. »Die Waffe macht zehn Mille. An sich nicht zu verachten, aber jetzt reden wir also von fuffzig. Hab ich die Waffe, hab ich auch den Mörder. In dieses Ding sind mehr als bloß Waltin verwickelt«, sagte Bäckström und gab GeGurra eine Kostprobe seines bedeutungsschwangeren Polizistenblicks. »Du glaubst, dass du die Waffe finden und sogar den Mord aufklären kannst?« »Und ob«, sagte Bäckström. »Ich bin der Waffe auf der Spur und hab bereits zwei Beteiligte aufgetrieben. Und da sind noch mehr, wenn du mich fragst.«
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»Ich setze voraus, dass ich anonym bleiben kann«, sagte GeGurra. »Du musst mich da raushalten, wie du weißt. So etwas ist nicht gut fürs Geschäft.« »Selbstverständlich«, sagte Bäckström. Und die Sache mit fiftyfifty kannst du vergessen, dachte er. Ein Macher und ein Trickser, dachte Bäckström, als er im Taxi saß, das ihn zurück zur Arbeit brachte. Aber doch nicht so ein harter wie ich. Ein bisschen zu schwul und ein bisschen zu nervös, wenn es ans Eingemachte ging. Donnerstagserbsensuppe mit besonders viel Schweinefleisch und Wurst, reichlich Senf dazu, ein paar Hochprozentige und ein großes Pils, um das System am Laufen zu halten. Ein paar Pfannkuchen mit Schlagsahne und Marmelade obendrauf - das reinste Freudenfest für Klein Nimmersatt, dessen untere Region schon wie ein Hochofen polterte, als er hinter seinen Schreibtisch sank. Sollte vielleicht die Tür öffnen, damit all die kleinen Sachensucher draußen auf dem Korridor in den Genuss eines richtig guten Mittagessens kommen, dachte Bäckström, der merkte, dass ein größerer Knaller auf dem Weg ins Freie war. Dann drückte er vorsichtig ein wenig zur Probe, aber es wollte noch nicht so richtig. Bis sein kleiner Halbchef plötzlich anklopfte und in sein Zimmer trat. Jetzt aber, du kleiner Aktenhengst, dachte Bäckström. Sandte ihm Den Bösen Blick, sank auf seinen Stuhl hinab, hob seine linke Arschbacke und spannte sein durchtrainiertes Zwerchfell an. Eine ordentliche Tonne, und nicht so ein beschissenes Waschbrett, mit dem alle Fitnessschwulen umherliefen. Eine ganz formidable Rauchbombe. Eine von Bäckströms besten überhaupt. Das reinste Orchesterfinale. Zuerst ein paar ordentliche Stöße mit der Arschposaune, ein mehrere Sekunden langes Solo auf der Darmtrompete, dann ein paar abschließende Säuselungen mit der Analflöte. »Kann ich etwas für dich tun?«, fragte Bäckström und verlagerte sein Gewicht leicht von einer Arschhälfte auf die andere. Guten Appetit, du Lutscher, dachte er. Der kleine Arsch sah definitiv so aus, als würde er gleich aus den Latschen kippen, und wollte dabei offenbar nur irgendeinen Brief abgeben. 309
»Leg ihn einfach auf den Schimmelhaufen da«, sagte Bäckström und zeigte auf seinen überquellenden Schreibtisch, »dann nehme ich mich der Sache an, wenn ich Zeit habe.« Verflucht, hat der es auf einmal eilig, dachte er. Der Brief war von der Chefin der gesamten Stockholmer Polizeibezirke. Genauso mager wie diese Kampflesbe Holt. Genauso blöd wie Holt und sicherlich auch eine Mitschwester im Verein der Schwulen- und Lesbenwachtmeister. Bäckström wurde zu einem Genderkurs beordert, der schon am Montagmorgen um neun Uhr beginnen und die ganze Woche dauern sollte. Der höchsten Polizeiführung war nämlich aufgefallen, dass Bäckströms Akte offenbar diesen in der Polizistenausbildung obligatorischen Programmpunkt vermissen ließ, und beabsichtigte daher, umgehend etwas dagegen zu unternehmen. Internatsunterbringung in irgendeinem Lager oben in Roslagen. Keine Bitte, sondern ein Befehl. Verfluchte Scheiße, jetzt ist Krieg, dachte Bäckström und spannte alle seine Muskeln vom Nabel abwärts an. Eineinhalb Stunden später rief Johansson Holt auf ihrem Handy an. »Stecke im Stau oben im Essingeleden«, erklärte Holt. »Wir sehen uns in einer Viertelstunde.« »Ich dachte, das Auto war' mit Blaulicht ausgestattet«, sagte Johansson nörgelnd. Meistens vergnügt, viel zu oft vergrätzt. Manchmal brummig, nie nörgelig. Johansson muss irgendetwas beunruhigen, dachte Holt erstaunt. Wenn dem so gewesen sein sollte, war davon zwanzig Minuten später, als sie in seinen Besprechungsraum trat, jedenfalls keine Spur mehr zu sehen. Er saß da und unterhielt sich mit Lewin und Mattei, und um den Tisch herum sah man nur frohe Mienen. »Kaffee«, sagte Johansson und nickte zum Tablett auf dem Tisch. »Ich erinnere mich noch an die Zeit, in der ich im Außendienst 310
gearbeitet habe und wie ein Autodieb gefahren bin. Danach hatte ich meistens einen tüchtigen Kaffeedurst.« »Ich dachte, Jarnebring ist normalerweise gefahren«, entgegnete Holt und lächelte ebenfalls. »Alles Prahlerei«, sagte Johansson zufrieden. »Kannst du uns eine schnelle Zusammenfassung geben, Anna?« Eigenartige Drehungen und Wendungen ausgelöst durch einen Strafzettel. Ein verschrotteter Revolver und ein verschwundenes Schussprotokoll. Eine fünfundsiebzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass sie auf etwas gestoßen seien, das ein Erdbeben auslösen würde, und das nicht nur in ihrem Viertel. Höchste Zeit, die Angelegenheit der Oberstaatsanwältin von Stockholm und der Mordermittlungsgruppe zu übergeben, welche die Regierung schließlich dafür eingesetzt hatte. »Man kann zweifellos den Eindruck gewinnen, dass Waltin umhergelaufen ist und hinter sich aufgeräumt hat, und damit ist es nicht länger unsere Sache«, schloss Holt, stützte sich auf den Tisch und unterstrich mit vorgeschobenem Kinn ihre Aussage. »Eins nach dem anderen«, sagte Johansson. »Jetzt wollen wir erst einmal ein Weilchen Frage-Gegenfrage spielen. Fang du an, Lisa.« Dass Waltin darin verwickelt sei, war Mattei zufolge längst nicht bewiesen. Ganz sicher sei hingegen, dass er seit fünfzehn Jahren tot war. Dass er auf Mallorca ertrunken sei. Seit langem tot, was zugleich die schlimmste denkbare Alternative für die darstellte, die nach einem Ermittlungsmord suchten. Dass er den Ministerpräsidenten erschossen haben sollte, erschien völlig unwahrscheinlich. Die Täterbeschreibungen der Zeugen stimmten jedenfalls nicht mit Waltin überein. »Einsfünfundsiebzig groß. Nur unwesentlich größer als das Opfer. Schlank und schmächtig gebaut. Stimmt nicht überein«, sagte Mattei. »Nicht mit den Zeugenaussagen und noch weniger mit dem Schusswinkel, von dem die Techniker reden. Das deutet mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf einen Täter hin, der mindestens einsachtzig ist. Vermutlich sogar größer.« Gewiss gab es eigenartige Umstände. Was nicht hieß, dass Waltin dahintersteckte. Die Erfahrung hätte ja schließlich nur allzu oft gezeigt, dass sogar Kollegen, die nicht das Geringste zu verbergen hat311
ten, Unterlagen und technische Beweise beiseiteräumen konnten. Und wenn's nur durch gewöhnliche Schlamperei war. »Ich finde trotzdem, dass die Auswirkungen dieses Strafzettels in eine bestimmte Richtung weisen«, wandte Holt ein. »Sicher«, sagte Mattei. »Vielleicht gibt's aber auch irgend so eine lächerliche menschliche Erklärung. Wie dieser Ehegatte, der lieber in Haft sitzt und des Mordes an seiner Frau verdächtigt wird, als zuzugeben, dass er mit ihrer Freundin zusammen war, während seine Frau von jemand anderem ermordet wurde.« »Genau so einen hatte ich mal«, fügte Johansson zufrieden hinzu. Eine Reihe merkwürdiger Umstände. Einzelheiten, die noch nicht mal als Indizien taugten. Noch viel weniger als Indizienkette, die Waltin mit der verschwundenen Waffe in Verbindung brachte - jener verschwundenen Waffe eines Täters, der mit Waltin in Verbindung gebracht werden konnte, um sie schließlich beide mit einem Mord an einem schwedischen Ministerpräsidenten in Bezug zu setzen. »Eine fünfundsiebzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass unsere Kugel aus der Mordwaffe stammt. Darauf läuft das Ganze hinaus«, fasste Mattei zusammen. »Das reicht nicht vor Gericht. Bei weitem nicht«, fügte sie hinzu. »Zum Beispiel diese Sache mit der Waffe«, fuhr sie fort. »Ein roter Faden in der ganzen Diskussion scheint ja zu sein, dass jemand und hier vermutlich Waltin - an einen Revolver aus dem Archiv der Kriminaltechnischen Abteilung in Stockholm gekommen sein soll. Wie hätte ihm das gelingen sollen? Ein Jurist, der sich zum Polizeiintendenten ausbilden lässt und eine hohe Stellung bei der Sicherheitspolizei bekleidet. Mit wem sollte so jemand wie er in der Kriminaltechnik Kontakt gehabt haben?« Mattei schaute Holt fragend an. »Wiijnbladh«, antwortete Holt. »Es wird behauptet, dass Waltin Kollege Wiijnbladh gekannt haben soll, der zu jener Zeit dort arbeitete, und dass er möglicherweise durch ihn an die Waffe gekommen ist.« »Verzeihung«, sagte Johansson. »Sprechen wir von diesem Psycho, der versucht hat, seine Frau zu vergiften?« 312
»Ja«, sagte Holt. »Woher wissen wir das denn?«, fragte Johansson. »Von Bäckström«, gab Holt zu und seufzte. »Vielleicht sollten wir Bäckström zu unserer kleinen Gruppe dazuholen«, sagte Johansson. »Ich bin ganz Ohr«, sagte er und nickte auffordernd. »Klingt nach Bäckström«, stellte Johansson fünf Minuten später fest. »Freue mich wirklich darauf, einen Blick auf diese Medaille zu werfen, die Wiijnbladh von Waltin bekommen haben soll.« »Auf jeden Fall irgendeine Form von Auszeichnung«, sagte Holt. »Wie auch immer. Was machen wir jetzt?« »Wir machen jetzt Folgendes«, sagte Johansson, hob die rechte Pranke und unterstrich das Gesagte, indem er seine Finger zu Hilfe nahm. »Zum Ersten stellen wir zusammen, was wir über den ehemaligen Kollegen Waltin wissen. Ohne irgendwelche schlafenden Hunde bei seinen einstigen Arbeitskollegen zu wecken. Zum Zweiten«, fuhr er fort, »werden wir Bäckströms Gewährsmann sowie Wiijnbladh und Bäckström selbst verhören, und wir tun es in dieser Reihenfolge.« »Und dann übergeben wir die Angelegenheit an die PalmeEinheit«, sagte Holt, die nicht vorhatte, klein beizugeben. Diesmal nicht. »Wenn wir etwas zum Übergeben haben, dann tun wir das auch«, sagte Johansson. Darüber kann ich mir immer noch Sorgen machen, wenn es so weit ist, dachte er. Bevor sie auseinandergingen, beschlagnahmte Johansson die Kugel, die Holt ganz richtig in der Tasche ihrer Kostümjacke hatte. Was immer er auch damit vorhaben mag, dachte sie. Mattei hatte eine romantische Wochenendkreuzfahrt nach Riga absagen müssen, um sich der Polizeispur der Palmeermittlung zu widmen. Obwohl Johan sieben Jahre jünger als sie war, war er mit seiner Enttäuschung wie ein ganzer Kerl umgegangen. Er könne sich noch ganz andere Kreuzfahrtziele vorstellen, wenn sie mal ein paar Stunden Zeit für ihn hätte.
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Jetzt heißt es, die Lupe rauszuholen, beschloss Mattei. Es galt, sich wirklich zu vergewissern, dass Waltin im Untersuchungsmaterial nicht vorkam. Gleichzeitig eine etwaige Verbindung, die zu ihm führte, aufzuspüren. Auch wenn er tatsächlich darin verstrickt war, konnte er auf alle Fälle nicht selbst den Ministerpräsidenten erschossen haben. Wenn er einen Mittäter gehabt hatte, standen die Aussichten zugleich nicht schlecht, dass dieser denselben Hintergrund wie Waltin hatte. Blieb nur noch, ihn zu finden, dachte Mattei. Anna Holt, Lisa Mattei und Jan Lewin hatten bereits am Freitagmorgen mit ihrer Dokumentation über Claes Waltin begonnen. Zwar war er schon seit fünfzehn Jahren verstorben, aber das war für Leute ihres Schlages und den Nachrichtendienst der Zentralen Kriminalpolizei kein unüberwindliches Hindernis. Bereits am Freitagnachmittag hatten sie einen weiteren Ordner mit Material gefüllt, der sich zu den ungefähr tausend, die in dieser Ermittlung bereits vorlagen, dazugesellte. Claes Adolf Waltin war am 20. April 1945 geboren und im Alter von 47 Jahren am 17. Oktober 1992 im Norden von Mallorca ertrunken. Er war in Stockholm im Stadtteil Östermalm als einziges Kind von Werkleiter Claes Robert Waltin, geboren 1919, und seiner vier Jahre jüngeren Ehefrau Aino Elisabeth, geborene Carlberg, zur Welt gekommen und aufgewachsen. Seine Eltern hatten sich 1952 scheiden lassen. Seine Mutter war 1969 bei einem Unfall gestorben. Sein Vater war nach wie vor am Leben. Verheiratet mit einer zehn Jahre jüngeren Frau und wohnhaft auf einem Hof in Schonen in der Nähe von Kristianstad. Kurios, dachte Jan Lewin. Was sind das für Eltern, die ihren Sohn 1945, unmittelbar vor Kriegsende, Adolf taufen? »Wusstest du, dass Waltin mit zweitem Vornamen Adolf getauft war?«, fragte Lewin Mattei, die auf der anderen Seite des Tisches saß und in einem ansehnlichen Berg Papiere blätterte. »Was sind das für Eltern, die ihren Sohn Adolf taufen, wenn er am 20. April 1945 geboren wird? Das ist ja nur wenige Wochen vor Kriegsende!« »Hitlers Geburtstag«, sagte Mattei. »Sein Vater und seine Mutter wollten ihm wohl ein Vorbild fürs Leben mitgeben. Sie waren vermutlich Nazis.« 314
»Hitlers Geburtstag?« »Adolf Hitler wurde auch am 20. April geboren, den 20. April 1889. Im Dorf Braunau in Österreich«, sagte Mattei. Nicht in der Entbindungsanstalt Allmänna BB in Stockholm, und komm mir jetzt um Gottes willen nicht mit irgendeiner Nazispur als Dank für die Hilfe angeschleift, dachte sie. »Kurios«, sagte Lewin und schüttelte den Kopf, »kurioser und kurioser«. Seufz, dachte Lisa Mattei. Mattei hatte weder Waltin noch Wiijnbladh in dem Teil des Palmeermittlungsmaterials gefunden, in dem es um die Polizeispur ging. Auch keine Anzeichen, die darauf hindeuteten, dass sie darin vorgekommen, jedoch beseitigt worden waren. Wie auch immer man so etwas finden soll, dachte sie. In Ermangelung eines Besseren hatte sie auch nach Kriminalkommissar Evert Bäckström gesucht. Im Hinblick auf das Leben, das er führte, schien er für diese Spur aus bestem Holz geschnitzt. Aber keine Hinterlassenschaften von Bäckström. Anders im zweiten Ermittlungsbericht, und dort tauchte er sogar in der Rolle des Vernehmungsleiters auf. One of the Good Guys. Wie auch immer das möglich sein kann, dachte Mattei. Waltin schien kein lieber, netter Bursche gewesen zu sein, dachte Anna Holt, nachdem sie erneut das alte Ermittlungsmaterial gelesen hatte, das sie von Bäckström bekommen hatte. Die Anzeige war, dem Beschluss des Anklägers zufolge, wegen Nicht-Vorliegen eines Verbrechens eingestellt worden. Es war ihr auch nicht gelungen, noch mehr von der Sorte zu finden oder überhaupt irgendetwas, das ihn belastete. Waltin kam im polizeilichen Register nicht vor. Noch nicht einmal wegen einer simplen Geschwindigkeitsüberschreitung. Mysteriös, dachte Holt. Typen mit dieser Veranlagung hinterließen für gewöhnlich Spuren. Claes Waltin hatte 1964 Abitur gemacht und seine Wehrpflicht bei den Norrländischen Dragonern in Umeä abgeleistet. Im Herbst 1965 hatte er sein Jurastudium an der Universität von Stockholm aufgenommen und sich fürs Studium reichlich Zeit gelassen. Erst acht Jahre später hatte er sein Juristisches Examen mit mittelmäßi315
gen Noten abgelegt. Danach hatte er sich für die Polizeicheflaufbahn beworben. Hatte sie in der vorgeschriebenen Zeit bewältigt und war 1975 bei der Juristischen Abteilung der Stockholmer Polizei als Polizeisekretär eingestellt worden. Zwei Jahre später hatte er den Job gewechselt und hatte bei der Sicherheitspolizei angefangen. Zuerst als Polizeiintendent, bis er 1985 zum Polizeioberintendent und zum zweiten Mann hinter Säpos Operativem Chef, dem legendären Bürochef Berg, befördert worden war. Drei Jahre danach hatte er plötzlich gekündigt. Und vier Jahre später war er tot. Im Alter von erst siebenundvierzig Jahren und, wie es schien, bei voller Gesundheit war er plötzlich während eines Urlaubs auf Mallorca ertrunken. Ausgerechnet Mallorca, dachte Holt. Johansson schien sich mit etwas anderem als Claes Waltin beschäftigt zu haben. Am Freitagnachmittag war er in Rosenbad zu einer Besprechung gewesen, und nach der Zusammenkunft war er dem Sonderberater über den Weg gelaufen, der ihn schnell zur Seite gezogen und in sein Zimmer verfrachtet hatte. »Schön, dich zu sehen, Lars Martin«, sagte der Sonderberater und sah aufrichtig aus. »Ich hab übrigens deine Mail gelesen.« »Über die Hirsche des Magdalen College. Danke übrigens für die Einladung letztens«, sagte Johansson. »Das Leben hat mich zumindest eines gelehrt«, stellte der Sonderberater fest. »Nicht nur etwas über die Hirsche von Magdalen«, fügte er hinzu. »Und das wäre?« »Dass selbst gescheite Menschen wie du oft die Wahrheit mit dem verwechseln, was ihr zu wissen glaubt«, sagte der Sonderberater und zwinkerte seinem Besucher zu. »Hast du daran gedacht, Lars Martin?«, fuhr er fort, »wie oft die Wahrheit mit einer Maske vor dem Gesicht und in Kleidern auftritt, die sie noch nicht einmal geborgt, sondern einfach von jemand ganz anderem gestohlen hat?« »Ich dachte, es sei die Lüge, die eine Maske trägt«, sagte Johansson. »Und die Wahrheit«, sagte der Sonderberater und nickte ernst. »Sie teilen nicht nur das Zimmer miteinander. Sie teilen das Bett in 316
einer lebenslangen Beziehung, in der die Existenz des einen die Voraussetzung für das Überleben des anderen ist.« »Wie ich höre, bist du in deiner philosophischen Stimmung.« Versucht er, mir etwas zu sagen, oder ist er einfach nur ein schlechter Verlierer?, fragte sich Johansson. »Apropos Wahrheit«, sagte der Sonderberater. »Hast du nicht Lust, zur Turinggesellschaft zu kommen, wenn wir unser nächstes Seminar abhalten? Als Vorsitzender der Gesellschaft wäre es mir eine außerordentliche Freude, einen so klugen und gut unterrichteten Gast wie dich begrüßen zu dürfen.« »Worüber werdet ihr sprechen?« »Über den Mord am Ministerpräsidenten Olof Palme«, sagte der Sonderberater. Claes Waltin war im Oktober 1992 während eines Urlaubs auf Mallorca ertrunken. Er hatte im besten Hotel gewohnt, das es im Norden der Insel gab. Hatte dort schon seit Jahren, immer zur selben Zeit, residiert. Eine Oktoberwoche im Hotel Formentor war sein sich jährlich wiederholender Herbsturlaub gewesen. Jeden Morgen pflegte er zum Badestrand hinunterzugehen, um einmal kurz ins Wasser zu springen. Zum Privatstrand des Hotels. Verborgen vor den Augen von Hinz und Kunz. Das Wasser wies immer noch eine Temperatur von ungefähr zwanzig Grad auf, daran war also nichts Ungewöhnliches. Für Waltin und wenn man kein Spanier war jedenfalls. Denen war das viel zu kalt. Außerdem viel zu früh am Tag. Im Hotel Formentor schliefen zu dieser Tageszeit noch alle anderen Gäste. Daher auch die Tatsache, dass Waltin immer allein am Strand sein konnte. Um acht Uhr morgens - eine unchristliche Zeit für jeden zivilisierten Spanier - war er an der Rezeption vorbeigegangen. Mit Morgenmantel und Badelaken ausgestattet und ganz eindeutig auf dem Weg zu seinem täglichen Morgenbad, jedenfalls den zwei Rezeptionsangestellten zufolge, mit denen die spanische Polizei gesprochen hatte. Señor Waltin hatte sich genauso wie immer verhalten. Hatte freundlich den Portier gegrüßt und dessen Kollegin ein Lächeln und ein Kompliment geschenkt, das sie stets bekam, ganz gleich, wer sie war. Alles war beim letzten Mal, als er lebend gesehen wurde, genauso wie immer gewesen. 317
Vierzehn Tage später war er gefunden worden. Das, was vom ehemaligen Polizeioberintendenten noch übrig war, war einige Kilometer vom Hotel entfernt an den Strand gespült worden. Ein natürlicher Tod durch Ertrinken. Sie hatten jedenfalls keine eindeutigen Anzeichen für Mord oder Selbstmord gefunden. Blieb also ein natürlicher Tod durch Ertrinken. Die schwedische Sicherheitspolizei hatte eine eigene Ermittlung eingeleitet. Ehemalige hohe Chefs, die in einem Luxushotel in Südeuropa starben, waren nichts, was man auf die leichte Schulter nahm. Erst recht nicht, wenn die ärztliche Untersuchung, der sich Waltin nur einen Monat vor seinem Tod unterzogen hatte, zeigte, dass er bei ausgezeichneter Gesundheit gewesen war. Von den leicht erhöhten Leberwerten einmal abgesehen, schien er in bester Verfassung gewesen zu sein, aber auch sonst war man ohnehin zur gleichen Schlussfolgerung wie die spanischen Kollegen gelangt. Ein reiner Unfall, an dem wirklich nichts Merkwürdiges war, und erst, als man sein Testament öffnete, wurde es seltsam. Richtig, richtig seltsam. Gegen vier Uhr am Nachmittag begann Lewin auf die Uhr zu schauen und unruhig zu werden. Zuerst hatte Mattei sich nicht darum gekümmert, aber zuletzt erbarmte sie sich seiner. Sie selbst beabsichtigte, den ganzen Abend zu arbeiten, aber weil sie den rücksichtsvollen und loyalen Lewin kannte, bereitete sie seinem Leiden ein Ende. »Bevor du nach Hause gehst, Jan«, sagte Mattei. »Ich hab das mit Adolf für dich rausgefunden.« »Adolf?« »Claes Adolf Waltin«, stellte Mattei klar. »Sein Vater Robert war während des Krieges offenbar ein organisierter Nazi. Nahm auf deutscher Seite als Freiwilliger teil. Von 1942 bis Kriegsende gehörte er dem Bataillon Viking an. Das war ein SS-Bataillon, das aus skandinavischen Freiwilligen bestand: Schweden, Dänen, Norwegern.« »Woher weißt du das?«, fragte Lewin und sah sie skeptisch an. »Habs im Netz gefunden«, sagte Mattei. »Er kommt in Hermanssons Abhandlung über die schwedischen Freiwilligen im Bataillon Viking vor. Wurde zu drei Anlässen mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Rückte vom einfachen Soldaten zum Leutnant auf. Bekennender Rechtsradikaler und Nationalist bis in die siebziger Jah318
re hinein. Verschwindet aus der schwedischen Nationalbewegung ungefähr zur selben Zeit, zu der sein Sohn Polizist wird.« »Kurioser und kurioser«, sagte Lewin und schüttelte den Kopf. Irgendwelche finanziellen Sorgen schien er nie gekannt zu haben. Er war im Alter von vierundzwanzig Jahren Millionär geworden, nachdem er seine Mutter beerbt hatte. War mehrfacher Millionär, als er starb und das seltsamste Testament hinterließ, das Holt je gelesen hatte. Als Ermittlerin bei der Polizei hatte im Laufe der Jahre schon mehrere gelesen, aber noch nie eines, das auch nur annähernd dem letzten Willen des ehemaligen Polizeioberintendenten Claes Waltin glich. Entweder war er total verrückt, oder es war noch schlimmer als das, dachte Holt. Das Testament hatte in Waltins Bankfach bei der SEB gelegen. Es war von Hand verfasst, und dem graphologischen Experten der Polizei zufolge hatte er es selbst geschrieben. Das gesamte Geld, das Waltin hinterließ - und dabei handelte es sich um mehrere Millionen -, sollte zur Gründung einer Stiftung verwendet werden, die wiederum die Erforschung hypochondrischer Krankheitsbilder bei Frauen fördern sollte. Dies zum Andenken an seine Mutter, und die Stiftung sollte auch ihren Namen tragen. Einen langen Namen: »Stiftung zur Erforschung der Hypochondrie zum Andenken an Aino Waltin und alle anderen eingebildeten kranken Weiber, die ihren Kindern das Leben verdüstert haben«. Was für ein kleines Muttersöhnchen, dachte Holt. Danach wurde es zügig schlimmer und überschritt alle Grenzen, die beim Aufsetzen eines Testaments Gültigkeit hatten. Der Verstorbene hatte nämlich eine ausführliche Begründung beigefügt, die dem »entschiedenen Willen des Stifters« zufolge in die Statuten der Stiftung aufgenommen werden sollte. »Meine Mutter Aino Waltin lag während meiner gesamten Jugend im Sterben, denn sie litt an den meisten der medizinischen Wissenschaft bis dato bekannten Krankheiten. Trotzdem hat sie nie ihre Versprechen ob ihres baldigen Ablebens erfüllt. Weil es mir auch nicht möglich war, sie wegen verweigerter Auftragserfüllung zu verklagen, sah ich mich zuletzt genötigt, sie selbst ums Leben zu 319
bringen, indem ich sie vom Bahnsteig der U-Bahnstation in Östermalm stieß, als sie auf dem Weg zu einem ihrer täglichen Arztbesuche war.« Doch kein gewöhnliches Muttersöhnchen, dachte Holt. Das Testament war selbstverständlich vom nächsten Erben, Waltins Vater, angefochten worden. Das Amtsgericht hatte seiner Klage stattgegeben und befunden, dass das Testament für ungültig erklärt werden solle, da der Testamentsinhaber offenbar nicht bei vollem geistigem Verstand gewesen sei, als das Testament geschrieben wurde. Was blieb, war die seltsame Tatsache, dass Waltins Mutter tatsächlich an der U-Bahnstation von Östermalm vor eine U-Bahn gestürzt war, überfahren wurde und auf der Stelle tot war. Laut Polizei ein Unfall und wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass sie von einem ihrer wiederkehrenden Schwindelanfälle heimgesucht worden war, von denen einer ihrer zahlreichen Ärzte berichtet hatte. Unfalltod im Juni 1969. Ihr einziger Sohn und Erbe war vierundzwanzig Jahre alt, Jurastudent an der Universität von Stockholm, und für ihn ging das Leben weiter. Ganz schön viele Unfälle in dieser Familie, dachte Holt.
Puerto Alcudia im Norden von Mallorca. Winter 1992-93. Die Esperanza war auf einer kleinen Werft in Puerto Alcudia gebaut worden, die immer noch im Besitz von Ignacio Ballester und seinen zwei Söhnen war und von ihnen geleitet wurde. Die Werft war seit Generationen im Familienbesitz und immer schon auf den Bau von den für diese Gegend typischen Fischerbooten, Illaut, spezialisiert. Dieser Kunde aber hatte Wünsche gehabt, die so speziell waren, dass sie teilweise gegen die Tradition verstießen. Unter anderem wollte er keinen senkrecht stehenden Bugspriet haben, der zwar vor allem der Zier diente, genau wie der Drache am Bug eines Wikin320
gerschiffs, aber ebenso nützlich war, um sich daran festzuhalten, wenn man ein schaukelndes Deck erklimmen wollte. Ignacio hatte mit seinem Kunden darüber gesprochen, aber der hatte bloß mit dem Kopf geschüttelt. Darüber hinaus hatte er behauptet, dass die Wikinger am Bug ihrer Schiffe nie Drachen gehabt hätten. Sie seien ein spätromantischer Einfall, und wenn Ignacio ihm nicht glauben wolle, könne er jederzeit mit Felipe und Guillermo nach Oslo fahren, das Wikingerschiffmuseum besuchen und sich mit eigenen Augen davon überzeugen, wie die Schiffe der Wikinger tatsächlich ausgesehen hatten. Ignacio hatte klein beigegeben. Darüber wusste der Kunde vermutlich mehr als er, und der Kunde hatte immer recht, sofern es nicht die Seetüchtigkeit der Boote beeinträchtigte, die er und seine Söhne bauten. Einen Mast wollte er auch nicht haben. Er hatte nicht vor, mit der Esperanza zu segeln, sondern wollte sich auf ihren Motor verlassen. Ein Mast bewirkte, dass das Schiff unnötig stark schaukelte, und der Kunde zog es vor, ein festes Deck unter den Füßen zu haben. Dagegen wollte er jede Menge andere Dinge haben, die es auf einem normalen Illaut nicht gab. Ein Echolot selbstverständlich, weil es nötig war, wenn man in unbekannten Gewässern tauchte, und auch praktisch, falls man lieber fischen wollte. Man hatte sich über ein Radar unterhalten, aber schließlich gemeinsam entschieden, davon Abstand zu nehmen, weil es viel zu sehr hervorstach und die harmonischen Linien der Esperanza stören würde. Die Navigationsausrüstung, die es an Bord gab, Kompass, Seekarten, Kartentisch und Besteck, war Ignacios Kunde zufolge völlig ausreichend, und nach ein paar Jahren hatte der Kunde sie außerdem mit einem modernen GPS-System aufrüsten lassen. Ein paar Jahre später hatte Ignacio noch einen Propangasgrill an Bord der Esperanza installiert. Einen besseren Herd gab es nicht, egal ob es sich um Fleisch, Gemüse, frischen Fisch oder Schalentiere handelte. Für den Eigner der Esperanza, seine Gäste und müßige, sonnenverwöhnte Tage auf dem Meer. Der Grill ließ sich platzsparend zum Kajütenschott hochklappen, wenn er nicht gebraucht 321
wurde, und war mit einem Mantel aus rostfreiem Stahl versehen, der wind- und wetterbeständig war. Der Tank war unter dem Deck verborgen, und die Schläuche der 20 Liter fassenden Propangasflasche hatte Ignacio in die Kajütenwand eingezogen, um nach außen hin alles sauber und hübsch zu haben. Danach war an der Esperanza nicht mehr so viel zu tun gewesen. Im Frühjahr hatte Ignacio sie regelmäßig in das Dock gezogen, die jährliche Kontrolle gemacht und ihren Rumpf abgekratzt, was für alle Holzboote obligatorisch war, insbesondere aber in diesen schneckenreichen Gewässern. Die Esperanza war ein sehr schönes kleines Boot, und ihr Besitzer hatte sich stets gut um sie gekümmert. Mittwoch, der 12. September. Noch vier Wochen bis zum 10. Oktober. Hauptquartier der Zentralen Kriminalpolizei auf Kungsholmen in Stockholm. Das Besprechungszimmer des höchsten Chefs. Am Tisch die üblichen vier. Lars Martin Johansson, Anna Holt, Jan Lewin und Lisa Mattei. Vor den Fenstern des Zimmers, in dem sie sitzen, hat nach einem langen, heißen Sommer, der überhaupt kein Ende zu nehmen schien, der Herbst Einzug gehalten. Plötzlich, überraschend, ohne Vorwarnung, ist er da. Hat die Temperatur halbiert und mit stürmischen Winden zugeschlagen. Wie ein Straßenräuber reißt und zerrt er an den Bäumen im gegenüberliegenden Park und wirft sich gegen die Fassade des Gebäudes, in dem sie sitzen. »Eine Frage«, sagte Holt. »Warum hört er so plötzlich und auf so merkwürdige Art und Weise bei der Säpo auf? Waltin, meine ich. Meinen Unterlagen zufolge soll er im Mai 1988 um seine Entlassung ersucht und diese bewilligt bekommen haben und ist formell zum Halbjahresende, dem letzten Juni desselben Jahres, aus dem Dienst geschieden. Anfang Juni hat er aber anscheinend schon abgemustert, denn da gibt er seinen Dienstausweis, seine Schlüssel und seine Dienstwaffe ab und unterzeichnet alle Papiere. Das Einzige, was ich 322
jedoch herausgefunden habe, ist, dass er seine Entlassung auf eigenen Wunsch beantragt und bewilligt bekommen hat.« »Er hatte keine andere Wahl«, sagte Johansson. »Die Alternative wäre sein Rausschmiss gewesen.« »Wieso das denn?«, sagte Holt und sah ihren Chef neugierig an. »Okay, okay«, seufzte Johansson und sah aus wie der ehemalige Säpoleiter, der er ja auch war. »Aber nur wenn's unter uns bleibt. Um es kurz zu machen, es gab jede Menge finanzielle Ungereimtheiten und einen Haufen Unterschlagungen. Waltin war auch Leiter der so genannten externen Tätigkeit, denn die Sicherheitspolizei hatte unter anderem Privatunternehmen gegründet, die als Deckmantel und Kontrollinstrument dienten. Waltin schien jedoch hauptsächlich daran interessiert gewesen zu sein, Geld zu verdienen. Die Rechnungsprüfer des Parlaments gerieten außer sich, als sie das herausfanden. Die Justiz leitete eine Untersuchung ein, die ans Tageslicht brachte, dass die ganze Tätigkeit von Anfang an ungesetzlich gewesen war, von Waltins eigenmächtigem unternehmerischem Handeln ganz zu schweigen.« »Wie wird das denn heute bei der Säpo gelöst?«, fragte Mattei mit unschuldiger Miene. »Wie bitte?«, sagte Johansson. Was redet sie da?, dachte er. »Ich mach nur Spaß, Chef. Entschuldige«, beschwichtigte Mattei, die ganz und gar nicht reumütig wirkte. »Mach das bloß nicht noch mal«, sagte Johansson grimmig. Was ist denn plötzlich in Mattei gefahren?, dachte er. »Ich habe übrigens auch eine Frage«, fuhr er nach einem Moment fort. Hätten sie sich eigentlich mal Gedanken über Waltins Motiv gemacht, falls er tatsächlich in den Mord am Ministerpräsidenten verwickelt war? Er selbst sei freilich kein Freund von Motiven. Er betrachte sie vielmehr als ein Genussmittel für die juristische Oberklasse, und sie nutzten richtigen Polizisten meistens herzlich wenig, wenn ihnen daran gelegen war, die Ermittlungsarbeit voranzutreiben. Ob nun wirklich oder nur gefühlt, so waren die Motive, auf die er während seines Lebens als Polizist gestoßen war, fast immer Selbstverständlichkeiten oder purer Unsinn gewesen. Was Waltin betraf, so könne er sich jedoch vorstellen, eine Ausnahme zu machen. 323
»Vielleicht war er erblich vorbelastet«, antwortete Lewin und warf Mattei einen vorsichtigen Blick zu. »Lisa und ich schauen uns die Sache gerade an.« Dann erzählte er von Claes Waltins zweitem Vornamen, seinem Geburtsdatum und berichtete über den Hintergrund seines Vaters. Holt ergänzte das mit der Geschichte über sein gelinde gesagt seltsames Testament und seiner Behauptung, seine Mutter umgebracht zu haben. »Kein richtiger Vater, eine dominante Mutter, Verherrlichung des Vaters, Hass auf die Mutter, klassische Psychologie«, sagte Holt. »Falls du noch mehr wissen möchtest...« »Danke, danke«, fiel Johansson ihr ins Wort. »Das ist völlig ausreichend. Ich will etwas haben, in das ich die Zähne bohren kann. Nagelt das Schwein fest. Spürt seine Kontakte auf. Findet heraus, mit wem er Umgang pflegte. Wie er dachte, fühlte und lebte. Wo er politisch stand, was oder wen er liebte oder hasste. Was er las, was er aß, was er trank. Ich will alles über den Arsch wissen. Ach ja, und sein Vater. Wie alt ist der eigentlich inzwischen?« »Er wird bald einundachtzig«, warf Mattei eifrig ein, bevor Lewin auch nur seine Papiere durchgeblättert hatte. »Findet heraus, ob es irgendeinen Sinn macht, ihn zu verhören« sagte Johansson. »Wenn er so närrisch war, seinen Knaben damals Adolf zu taufen, wäre das die Mühe sicherlich wert. Solche Typen lieben es, sich selbst reden zu hören. Wer weiß? Vielleicht hat er ja sogar den Revolver in der Hand gehabt. Rüstiger und vergnügter Rentner. Sah bedeutend jünger aus, als er war.« »Das kannst du, glaub ich, vergessen«, sagte Holt. »Er ist nämlich zu klein. Einen Meter siebzig, seinem Pass von damals nach zu urteilen.« »Prima, Holt«, sagte Johansson. »Die Situation mögen. Findet den Namen von dem Arsch, der geschossen hat.« »Manchmal hab ich den Eindruck, als wüsstest du ihn schon«, wandte Holt ein. »Den meine ich nicht«, sagte Johansson und schüttelte den Kopf. »Nicht Waltin. Nennt mir den Namen von dem Schützen.«
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Abends, nach dem Abendessen, schauten sich Johansson und seine Frau Pia einen Film von Costa-Gavras an. Er handelte von einem führenden Linkspolitiker, der von der Polizei der griechischen Junta ermordet wurde. Johansson hatte ihn von Mattei ausgeliehen, die ihn ihrerseits von irgendeinem Bekannten geliehen hatte, der Filmwissenschaft studierte. »Z -Er lebt«, dachte Johansson, und Mattei zufolge war der Film sehr empfehlenswert. Es fiel ihm jedoch nicht leicht, sich zu konzentrieren. Vermutlich, weil er bald größere Probleme als einer der anderen haben würde. Seine so plötzlich und unerklärlich vergnügte Mitarbeiterin, die es sogar gewagt hatte, seinen demokratischen Führungsstil herauszufordern. Was ist hier eigentlich los?, dachte Johansson. Pia, dachte er. Bald müsste er wahrscheinlich das Gespräch mit ihr suchen. Aber nicht jetzt. Nicht jetzt, da sie eingekuschelt und mit ineinander verflochtenen Beinen in ihrer jeweiligen Sofaecke saßen und sich einen Film über einen ermordeten Politiker ansahen, während der Wind zunahm und vor dem Fenster des Hauses, in dem er wohnte, gegen seine Geborgenheit anheulte. Gegen ihn, seine Angetraute und alles, was sein Leben im Kern ausmachte. »Was ist los, Lars? Du wirkst bedrückt.« »Nichts«, log Johansson und lächelte sie an. »Ist nur gerade alles ein bisschen viel bei der Arbeit.« Dann beugte er sich vor. Schlang den Arm um sie und zog sie an sich. Das findet sich, dachte er. Darüber kann ich mir immer noch Sorgen machen, wenn es so weit ist. Am Mittwoch, dem 12. September verhörten Polizeiintendentin Anna Holt und Kriminalkommissarin Lisa Mattei den Kunsthändler Gustaf G:son Henning in dessen Büro in Norrmalmstorg. Anfangs hatte er sich abwartend verhalten und war erstaunt gewesen, sehr erstaunt, beinahe schon begriffsstutzig. Höflich, gewiss, aber vor allem, weil sie Frauen waren, obwohl sie von der Polizei kamen. Ziemlich bald hatte er ihnen aus der Hand gefressen. Holt in ihrer ganzen Schönheit, mit den klaren Gesichtszügen und weißen Zähnen, ihrem schwarzen Haar und ihren langen Beinen. Mattei mit ihrer blonden, unschuldigen Bewunderung angesichts eines 325
reifen Mannes von Welt. Gustaf G:son Henning war rettungslos verloren. Trotz seines silberfarbenen Haares, seiner maßgeschneiderten italienischen Anzüge und seiner siebzigjährigen Erfahrung, was alle Formen menschlicher Intrigen anbelangte. Wie gut, dachte Anna Holt und lächelte ihn an. Dann muss ich nicht erst das mit Juha Valentin Andersson Snygg zur Sprache bringen, von dem mir Johansson berichtet hat. Dann hatte er ihnen alles erzählt, was er auch schon Bäckström erzählt hatte, desto freier und epischer, je länger das Gespräch dauerte. Zugleich ausführlich und detailliert, weil er dieselben Fragen schon früher gestellt bekommen hatte. Hier und da hatte er sogar mit Hilfe seiner alten Tagebücher Daten und Geschehnisse untermauert. Am meisten hatte er jedoch über Claes Waltin erzählt. Sie waren sich in einer Gastwirtschaft begegnet. Gamla Cecil in der Biblioteksgata, wo sich zu jener Zeit wohlhabende Jünglinge betranken und Umgang mit Frauen pflegten. Ein zwanzigjähriger Waltin und ein nur zehn Jahre älterer Henning. Er hatte von ihrem ersten gemeinsamen Geschäft erzählt, als Waltin gerade geerbt hatte und mit jeder Menge Geld umherlief, das ihm in den Taschen brannte. Von Waltins frühem Interesse für Pornografica - »Edle Pornografica« und von dem Gemälde, das er ihm verkauft hatte, als dieser kaum »trocken hinter den Ohren« gewesen war. »Es war ein kleines Ölgemälde von Gustav Klimt, und im Hinblick auf den Preis, den es heute erzielt hätte, war das wohl das schlechteste Geschäft meines ganzen Lebens.« Dann hatte er von den darauffolgenden Jahren berichtet. Wie sie sich getroffen oder alle paar Monate miteinander telefoniert hatten. Das eine oder andere Geschäft gemacht hatten. Oft edel essen gegangen waren. Über Kunst, das schöne Leben, ja sogar über Frauen geredet hatten, obwohl er nur ungern mit anderen Männern über Frauen sprach. »Wir waren keine engen Freunde. Vielmehr Bekannte, im viel zitierten positiven Sinne. Außerdem waren wir viele Jahre lang Nachbarn in Norr Mälarstrand, so dass es häufig geschah, dass wir uns täglich über den Weg liefen, wenn wir in der Stadt unterwegs waren.« 326
»Wissen Sie, ob er irgendwelche engen Freunde hatte?«, fragte Holt. Nicht soweit er wusste. Keine Familie, bis auf seinen Vater, von dem er ein paar Mal beiläufig erzählt hatte. Aber eine unglaubliche Menge an Frauen. Schöne Frauen. Junge Frauen. Ein paar äußerst junge. Vielleicht viel zu junge. Davon hatte er sich mit eigenen Augen überzeugen können, vor allem, wenn sie in dem Viertel, in dem sie wohnten, aufeinandergetroffen waren. Claes Waltin, dem eine neue Frau am Arm hing. »Ich erinnere mich, dass er bei irgendeiner Gelegenheit sagte, dass er sie genau so haben wollte. Jung, sehr jung. Er wollte sie mitten im Sprung nehmen. Sein Frauenbild ließ wohl eine Menge zu wünschen übrig, könnte man sagen«, stellte Kunsthändler Henning fest und lächelte Lisa Mattei väterlich zu, so wie sie dort in ihren blauen Pumps und mit sittsam gekreuzten Beinen saß. »Eine Menge zu wünschen übrig ließ, haben Sie gesagt«, wiederholte Holt. »Ja«, sagte Henning und schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich, wie er mich irgendwann einmal gefragt hat, ob ich an einer Sammlung von Fotos und Filmen interessiert sei. Privataufnahmen, etwas härtere Sachen. Ich habe natürlich abgelehnt.« Und der Revolver, mit dem der Ministerpräsident erschossen worden sein soll? Bis auf die Informationen, die er Bäckström und jetzt auch ihnen gegeben hätte, wäre da noch eine Sache, die er gerne hinzufügen wolle. Er habe vergessen, es Bäckström zu erzählen, aber es sei ihm beim Durchforsten seiner Erinnerung eingefallen. »Er hat mir ein Bild des Revolvers gezeigt«, erzählte Henning. »Ein Bild?«, fragte Holt. »Es war eine gewöhnliche Fotografie. Ein vergrößertes Farbfoto, vielleicht zwanzig mal fünfzehn Zentimeter; der Revolver lag auf einer Ausgabe von Dagens Nyheter vom 1. März. Der Tag nach dem Mord. Wenn ich mich nicht täusche, so lautete die Schlagzeile ‘0lof Palme ermordet’.« 327
»Bei Revolvern dieses Modells ist in der Regel eine Seriennummer in den Lauf der Waffe gestanzt. Erinnern Sie sich noch, ob Sie sie gesehen haben?« »Nein«, sagte Henning und schüttelte den Kopf. »Ich kann mich erinnern, dass er glänzend, also Chromfarben war. Hatte einen langen Lauf und einen Schaft aus Holz. Mit so einem ziselierten Griff. Handgeschnittene Fischhaut.« »Handgeschnittene Fischhaut?« »Ja, so heißt das. War aus Walnuss, Waltin zufolge. Wie ich schon sagte, hatte ich ihn nach dem Zustand gefragt.« »Erinnern Sie sich noch daran, in welche Richtung der Lauf auf dem Foto zeigte?«, warf Mattei ein. »Nach rechts vermute ich«, sagte Henning. »Der Revolver lag unter der Schlagzeile. Also auf dem Foto. Parallel zur Schlagzeile. Mit dem Schaft nach links und dem Lauf nach rechts.« »Sind Sie sich da sicher?«, fragte Holt. Mit der Seriennummer auf der anderen Seite, dachte sie. »Ganz sicher?«, wiederholte Mattei. Kann ja auch ein Zufall gewesen sein, dachte sie. »Ich habe zumindest ein festes Bild vor Augen«, sagte Henning. »Weshalb fragen Sie das eigentlich?« »Die Seriennummer eines Revolvers dieses Modells steht auf der linken Seite des Laufs. Das erklärt, warum Sie sie nicht gesehen haben«, sagte Holt. »Aber er hat nichts darüber verlauten lassen, wie er an ihn geraten ist?«, bohrte Holt fünf Minuten später zum dritten Mal nach. »Er hat gesagt, dass er Zugang zu ihm hätte«, unterstrich Henning. »Dass er in einem guten Zustand wäre. Dass er an einem sicheren Ort aufbewahrt wird. In der Löwengrube. Das hat er gesagt. Er war ganz entzückt, als er das erzählte, deshalb bin ich mir so sicher.« »Waltin war sich ganz sicher, dass es sich dabei um den Revolver handelte, der beim Mord am Ministerpräsidenten benutzt wurde?« »Ganz sicher«, sagte Henning. »Wie auch immer er das sein konnte. Ich habe sogar noch gescherzt und ihn gefragt, ob er irgendwie darin verwickelt sei, aber das bestritt er. Dann sagte er irgendetwas in die Richtung, wenn ich nur wüsste, was ihm bei seiner Arbeit alles zu Ohren gekommen sei, dann würde ich den Rest meines Lebens gut von meinem Schweigen leben können.« 328
»Wie haben Sie das denn damals interpretiert?« »Ich wusste ja, welchen Job er hatte«, sagte Henning und zuckte die Schultern. »Es gab keinen Anlass zu glauben, dass er mich auf den Arm nehmen wollte. So etwas machte er nicht. Ich gewann die feste Überzeugung, dass er diesen Revolver tatsächlich herbeischaffen konnte, vorausgesetzt, ich könnte einen Käufer finden und ein Geschäft ohne Risiko abwickeln.« »Haben Sie es denn getan? Versucht, einen Käufer zu finden?«, fragte Holt. »Nein«, sagte Henning. »Natürlich nicht. Es gibt gewisse Geschäfte, die ich nie machen würde. Das hab ich ihm auch zu sagen versucht. Auf eine so elegante Art, wie sich so etwas halt sagen lässt.« »Wenn ich richtig verstanden habe, wurde diese Diskussion nur einen Monat vor seinem Tod geführt«, sagte Holt. »Ja«, sagte Henning. »Ich war ziemlich schockiert, als ich erfuhr, was geschehen war, wie Sie sich bestimmt vorstellen können. Nicht weil ich dachte, dass er ermordet worden sei. Für derartige Verschwörungstheorien hatte ich noch nie etwas übrig. Es war vielmehr so, dass ich dachte, er hätte sich vielleicht das Leben genommen.« »Weshalb haben Sie das gedacht?« »Er war kaputt«, sagte Henning. »Trank mehr, als er vertrug. Ließ sein Äußeres verkommen, obwohl er sonst, was das betraf, immer so genau war. Waltin pflegte stets perfekt gekleidet zu sein. Trug maßgeschneiderte Kleidung. Hatte einen guten Geschmack. Dass er auch einen selbstdestruktiven Zug besaß, das war mir schon früh klargeworden. Aber am Ende, und damit meine ich das letzte Jahr, bevor er starb, hatte er auch etwas Hemmungsloses. Er sagte Sachen, die man nicht sagt. Jedenfalls kein normaler Mensch. Ich weiß, dass er krank war. Er sprach davon, dass er Probleme mit der Leber hätte, aber ich glaube vielmehr, dass Alkohol der Grund dafür war. Er trank ganz einfach zu viel. Viel zu viel.« »Könnten Sie uns ein paar Beispiele nennen? Für die seltsamen Sachen, die er gesagt hat?« »Ja«, sagte Henning und seufzte. »Einmal, als wir essen gegangen waren, das muss so ungefähr ein halbes Jahr vor seinem Tod gewesen sein, da hielt er einen längeren Vortrag darüber, dass er am liebsten auf seinem Balkon stehen und Rom brennen sehen wolle, aber weil das nicht möglich sei, müsse er sich wohl damit begnügen, 329
alle Frauen, die seinen Weg kreuzten, auszupeitschen und zu ficken.« »Was hat er denn damit gemeint?« »Ich fürchte, er hat genau das gemeint, was er gesagt hat«, stellte Henning fest und seufzte. »Gibt es noch mehr, woran Sie sich erinnern?«, fragte Mattei mit unschuldigem Gesicht. »Er hat einiges über sich erzählt. Wirklich sehr vulgäre Sachen, die wohl keiner sonderlich zu hören erfreut war. Ich jedenfalls fand es ziemlich unangenehm und war nicht im Geringsten belustigt.« »Geben Sie mir doch bitte ein Beispiel«, sagte Holt mit einem warnenden Blick in Matteis Richtung. »Als er an der Universität Jura studierte, hat er wohl irgend so eine komische Verbindung mit ein paar von seinen Kommilitonen gegründet. War ein ziemlich seltsamer Name. Von dieser Verbindung, meine ich.« »Wie hieß sie denn?«, fragte Holt. »Fotzenfritzen«, sagte Henning mit einem entschuldigenden Blick zu Mattei. »Fotzenfritzen«, wiederholte Holt. »Ja«, seufzte Henning, »und das könnte man vielleicht noch als Auswuchs studentischen Übermuts und eines allgemeinen, schlechten Urteilsvermögens entschuldigen, aber das war nicht der Punkt, als er die Geschichte erzählte.« »Was war dann der Punkt?« »Dass er ausgeschlossen worden war«, sagte Henning. »Seine drei Kameraden aus der Verbindung hatten ihn ausgeschlossen. Sie waren wohl nur zu viert. Eine kleine Verbindung, könnte man sagen. Waltin war von den anderen ausgeschlossen worden. Aus Gründen, die ich bereits angedeutet habe.« »Weil er die Frauen auspeitschte, bevor er mit ihnen schlief?«, sagte Holt. »So ungefähr«, sagte Henning mit einer leichten, Bedauern ausdrückenden Schulterbewegung. »Und auch noch einen Haufen anderer Dinge.« »Was zum Beispiel?« »Unter anderem, dass er sie meistens fesselte. Ihnen den Schoß rasierte und solche Sachen. Sie fotografierte, nachdem er sie gefesselt hatte.« 330
»Und daraufhin wurde er von den anderen Mitgliedern der Verbindung ausgeschlossen?« »Ja. Da hatte wohl so ein Fest mit ein paar jungen Frauen stattgefunden, die sie aufgegabelt hatten. Zu Hause bei Waltin, wenn ich die Sache richtig verstanden habe. Dort war es den anderen Mitgliedern zufolge dann offenbar ausgeartet. Waltin hatte das anders gesehen. Er war sehr belustigt, als er es mir erzählte.« »Diese anderen Mitglieder. Waltin hat nicht zufällig erwähnt, wie sie hießen?« »Doch«, sagte Henning. »So ist er überhaupt erst auf diese Geschichte zu sprechen gekommen. Wir hatten nämlich über einen von ihnen in einem ganz anderen Zusammenhang geredet, und da erst erzählte er, dass sie einst ein und derselben Verbindung angehört hatten.« »Wer ist es denn?« »Ich fürchte, es ist eine äußerst bekannte Person.« »Ich bin ganz Ohr«, sagte Holt. »Er ist mittlerweile Parlamentsabgeordneter für die Christdemokraten«, sagte Henning mit einem tiefen Seufzer. »Und heißt?« »Lassen Sie mich kurz darüber nachdenken«, sagte Henning und schüttelte den Kopf. »Es ist schließlich vierzig Jahre her«, fügte er hinzu. »Wir können darauf zurückkommen, bevor wir gehen«, sagte Holt. »Frage mich wirklich, wer die beiden anderen wohl waren«, sagte Holt, als sie auf dem Weg zurück zum Polizeigebäude im Auto saßen. »Vielleicht erinnert sich unser Parlamentsabgeordneter daran«, sagte Mattei. »Ich meine - eine so kleine Verbindung. Daran muss er sich doch wohl erinnern können?« »Willst du oder soll ich mit ihm sprechen?«, fragte Holt. »Ich verlange dabei zu sein«, sagte Mattei. »Sonst quittiere ich sofort den Dienst.« »Wir sollten uns die Sache durch den Kopf gehen lassen«, sagte Holt und seufzte. »Es ist ja nicht selbstverständlich, dass das überhaupt irgendetwas damit zu tun hat«, fügte sie hinzu. 331
»Ich glaube doch«, wandte Mattei ein. »Wenn du aus so einer Verbindung ausgeschlossen wirst, hat das einwandfrei etwas damit zu tun.« »Wir lassen uns das durch den Kopf gehen«, entschied Holt. Manchmal kann Lisa ganz schön erbarmungslos sein, dachte sie. Bevor Holt Feierabend machte, rief sie einen alten Kollegen an, den sie aus ihren Säpo-Zeiten kannte. Inzwischen hatte er einen führenden Posten bei der Lokalpolizei in einem Bezirk außerhalb von Kristianstad in Schonen, wo auch Claes Waltins betagter Vater einen größeren Hof besaß, der sich seit mehreren Generationen im Besitz der Familie befand. »Robert Waltin. Und ob wir den kennen. So was wie eine lokale Berühmtheit hier unten. Eine neugierige Frage: Warum willst du mit ihm reden?« »Zu Aufklärungszwecken in Zusammenhang mit einer anderen Person, die uns interessiert«, sagte Holt. »Er ist nicht verdächtig, aber als ich herausfand, wie alt er ist, dachte ich, es wäre am besten, sich bei dir danach zu erkundigen, ob es überhaupt Sinn macht, mit ihm zu sprechen«, stellte Holt klar. »Das hängt ganz davon ab«, sagte der Kollege. »Will heißen, worüber du mit ihm sprechen willst. Übrigens, du weißt doch, wessen Vater er war?« »Von unserem ehemaligen Kollegen Claes Waltin.« »Höchstpersönlich. Der Apfel ist also nicht weit vom Birnbaum gefallen, wie man so schön sagt. Der alte Kerl ist im Grunde noch ganz ordentlich beisammen. Fährt nach wie vor in seinem alten Mercedes umher und verbreitet Angst und Schrecken auf den Straßen hier in der Gegend. Darüber hab ich sogar selbst schon versucht, mich mit ihm zu unterhalten. Aber das war völlig sinnlos. Wir haben versucht, seinen Führerschein einzuziehen, aber da mussten wir schnell wieder zurückrudern.« »Hast du ein paar Tipps für mich? Falls ich einen Versuch wagen sollte?« »Sag ihm, dass ihr euch dazu entschlossen habt, den Mord an seinem Sohn aufzuklären«, sagte der Kollege. »Dann wird er gar nicht mehr aufhören zu reden. Damit hat er uns jedes Mal in den Ohren gelegen, wenn ich oder einer der Kollegen Kontakt zu ihm 332
aufgenommen hatten, weil er wie ein Wahnsinniger auf den Straßen umhergekurvt ist, den Schafzaun des Nachbarn niedergemäht oder jemanden verklagt hat, weil er den Misthaufen in einer ungünstigen Windrichtung angelegt hat. Das, was alle rechthaberischen Menschen so tun, um den nachbarschaftlichen Frieden hier draußen auf dem Lande zu fördern. Zu diesen Gelegenheiten pflegte er sich darüber auszulassen, mit was für einem Scheiß wir uns beschäftigen, damit wir uns nicht um die wesentlichen Dinge kümmern müssen, zum Beispiel um die Ermordung seines Sohnes durch die Soziregierung. So nennt er sie. Soziregierung oder Sozimafia.« »Soweit ich weiß, ist Claes Waltin ertrunken«, sagte Holt. »Du solltest dich hüten, das zu erwähnen. Hier handelt es sich um einen außergewöhnlich leicht reizbaren alten Teufel«, warnte Holts Kollege, der sogar in dem Bezirk geboren wurde, in dem er jetzt als Bezirkschef arbeitete. Es war der dritte Tag von Bäckströms insgesamt einwöchiger Gefangenschaft. Das Lager, in das man ihn verbannt hatte, war ein ehemaliges Kinderferienlager oben in Roslagen. Ein paar barackenähnliche Gebäude, die auf eine bewaldete Anhöhe geworfen waren, die oberhalb einer windgepeitschten, spitz zulaufenden Bucht lag. Vervollständigt wurde das Bild durch einen morschen Steg und ein kaputtes, an der Uferbefestigung gestrandetes Ruderboot. Die Hütten, die sie bewohnten, hatten Wände so dünn wie Papier. Eisenbetten aus den Tagen des Zweiten Weltkriegs, die für arme Kinder aufgestellt worden waren, mit bananenförmig durchgelegenen Sprungfedermatratzen und alten Auflagen aus Rosshaar. Betten, die man selbst beziehen musste. Betten, die in einer Bruchbude von Zimmer aufgestellt waren, das man noch dazu mit einem weiteren Unglücksbruder zu teilen hatte. Obwohl - Bäckström hatte Glück gehabt. Er hatte Gesellschaft von einem Kollegen der Verkehrspolizei aus Uppsala bekommen, der verhältnismäßig normal wirkte und genau wie er all die Jahre davongekommen war, bis eine neue Polizeichefin ihre Klauen in ihn geschlagen hatte. Darüber hinaus war er vorausschauend genug gewesen, eine Tasche voller Bier und Schnaps im Schutz eines nahe333
gelegenen Schuppens zu verstecken, bevor er sich an der Rezeption angemeldet hatte. War man erst einmal da, war man nämlich verloren. Das hatte Bäckström sofort begriffen, als er an den Tresen getreten war und mit der Kampflesbe gesprochen hatte, die sich ums Einchecken kümmerte. »Das Handy, bitte!«, sagte sie und sah Bäckström auffordernd an. »Alle Kursteilnehmer müssen ihre Mobiltelefone abgeben.« »Ich wusste gar nicht, dass man das Mobiltelefon überhaupt mitnehmen durfte«, log Bäckström mit unschuldiger Miene. »Ich meine, die stören ja enorm, wenn man im Kurs sitzt und sich konzentrieren muss.« Hoffe, das Scheißteil klingelt nicht, solang ich hier stehe, dachte er. Insbesondere weil er es bereits im Bus, mit dem sie hierhergefahren waren, in die Unterhose gesteckt hatte. »Sie haben Ihr Handy zu Hause gelassen?«, sagte die Rezeptionistin und schaute ihn misstrauisch an. »Natürlich«, sagte Bäckström. »Ich finde, dass sie enorm störend sind, wenn man an einem Kurs teilnimmt und sich konzentrieren muss. Übrigens wirklich eine gute Initiative von euch, finde ich.« Da hast du was zum Lutschen, du kleine Sau, dachte er. »Haben Sie irgendwelche alkoholischen Getränke mitgebracht?«, fragte die Rezeptionslesbe, während sie zu Bäckströms prallgefüllter Tasche hinüberschielte. »Ich trinke keinen Alkohol«, sagte Bäckström und schüttelte sein rundes Haupt. »Das hab ich noch nie getan. Mein Vater und meine Mutter waren beide entschiedene Antialkoholiker, so dass das nie ein Thema für mich war. Das hab ich sozusagen schon mit der Muttermilch aufgesogen«, fügte Bäckström hinzu und versuchte einen unschuldigen Blick. »Was ich sagen will, ist, dass du, wenn du schon in deiner Kindheit eine so klare Haltung verinnerlichst, dann...« »Zimmer zweiundzwanzig, zweites Haus von links, erster Stock«, fiel ihm die Knalllesbe ins Wort und donnerte den Schlüssel auf den Tisch. »Das mit dem Telefon hab ich allerdings verpennt«, sagte der Kollege, nachdem sie die ersten Begrüßungszeremonien nach alter Wachtmeister-Art hinter sich hatten.
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»Wirklich scheißdüster«, fügte er hinzu. »Kenne da eine Tussi, die anderthalb Kilometer von hier entfernt wohnt. Jetzt, da man seine Alte schon einmal los ist.« »Das findet sich schon«, sagte Bäckström, zog den Bauch ein und fischte sein Mobiltelefon aus der Unterhose. »Wer ist schon ohne Fehler, zum Teufel? Ich hätte beispielsweise gedacht, dass es hier eine Bar geben würde. Ich meine, wer, verdammt noch mal, betreibt ein Konferenzhotel, ohne eine scheißgroße Bar zu haben?« Und meinen guten Maltwhiskey, den ich hier in meiner kleinen Tasche habe, werde ich ganz sicher nicht mit irgend so einem Bauernsheriff vom Verkehr teilen, dachte er. »Die hier anscheinend schon. Die Leute, die diese Einrichtung schmeißen, scheinen so Anthropologen zu sein. Hast du die Speisekarte gesehen?«, seufzte sein Kollege und schüttelte den Kopf. »Nur so vegetarischer Scheiß.« »Das findet sich«, sagte Bäckström. »Das findet sich. Wie wär's übrigens mit einem kleinen Begrüßungsschluck? Dann könntest du die Gelegenheit wahrnehmen, diese Donna anzurufen, von der du gesprochen hast, und sie fragen, ob sie noch eine jüngere Freundin hat.« Die darf mal die Bäckströmsche Supersalami kosten, dachte er. Klar. Drei Tage lang hatte es ganz gut funktioniert. Trotz aller Tanten, die ununterbrochen über Genderfragen und Gleichberechtigung geplappert hatten, und wie man ein befreiter Mann und kein erbärmlicher Gefangener seines eigenen Geschlechts wurde, und warum Katzenbesitzer bessere Menschen als die Schweinehunde waren, die sich einen gewöhnlichen Hund hielten. Trotz Gruppentherapie und Entspannungsübungen und einem komplett durchgeknallten alten Weibsstück, das sich lang und breit über Rosentherapie und menschliche Kraftfelder ausgelassen hatte und darüber, seiner inneren Stimme zu folgen und so den Weg zu einem höheren Bewusstsein zu finden, frei vom Einfluss hemmender männlicher Hormone und angeborener Vorurteile. Trotz des Essens, das das reinste Weihnachtsbuffet für Meerschweinchen und Buchfinken war. Der Tisch bog sich vor dem Überfluss an Salaten und Vogelfutter und Nüssen und reinigenden Wurzeln und ungewürzten Sojafrikadellen und Silbertee und kof335
feinfreiem Kaffee - für die ganz Ausgebufften, die vor dem Schlafengehen noch einmal durchstarten wollten. Bäckström hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht und mitgequasselt, und schon während des ersten Gruppengesprächs hatte er den Dialog damit begonnen, der Schwuchtel, die das Gespräch führen sollte, geradewegs eine Rauchbombe in sein Schokoladenkreuz zu drücken. Fridolf Fridolin, der Psychologe der Stockholmer Polizei und zugleich Gleichstellungsbeauftragter bei der Behörde. Klein, rund und rosig, samt Cordsakko und Flaum auf der Oberlippe. »Man spricht dieser Tage ja sehr viel über Gleichberechtigung und Genderfragen, aber was davon meint man wirklich so, wenn es darauf ank...« »Man, man, man«, fiel Bäckström Fridolf Fridolin mit erhobenen Händen ins Wort. »Warum sagst du ‘man’? Soll ‘man’ irgendein anderes Wort für Mensch sein? Willst du etwa das damit sagen?« »Ich weiß, was du meinst, Bäckström«, entgegnete der Gesprächsleiter und lächelte nervös. »Bäckström«, sagte Bäckström. »Ich dachte, wir waren uns einig darüber, uns beim Vornamen zu nennen, und ich zumindest weiß mit Sicherheit, dass ich schon während unserer Vorstellungsrunde gesagt habe, dass meine Freunde mich Eve nennen. Nicht Bäckström, noch nicht einmal Evert. Meine Freunde nennen mich Eve«, sagte Bäckström und nickte seinem errötenden Opfer ermahnend zu. »Verzeih' mir, Bäck... Eve. Verzeih' mir. Eve.« »Ich verzeihe dir, Frido«, sagte Bäckström. »Du wolltest doch Frido genannt werden, oder?« »Fridolf. Es war mein Vater, der...« »Dein Vater«, sagte Bäckström anklagend. »Aber du hattest doch sicher auch eine Mutter? Wie hat sie dich denn normalerweise genannt?« »Fridolein, obwohl das ja...« »Dir sei verziehen, Fridolein«, sagte Bäckström mit würdevoller Miene.
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Am Abend des dritten Tages aber war der Karren so richtig in die Scheiße gefahren. Zuerst ging der Schnaps aus. Fast jedenfalls, denn er war immerhin so vorausschauend gewesen, von seinem eigenen noch ein bisschen aufzuheben. Dann waren er und der Kollege aus Uppsala drauf und dran gewesen, auf frischer Tat ertappt zu werden, als sie sich nach ihrer üblichen abendlichen Orgie bei der Wurstbude an der Hauptstraße zu ihrem Hotel hatten zurückschleichen wollen. Endlich in ihrem Zimmer in Sicherheit, hatte er seine Mobilbox abgehört. Ge-Gurra hatte angerufen und wie ein Kettenhund gekläfft, obwohl er eine Katze hatte. Klang nicht einmal ansatzweise mehr wie ein silberhaariger älterer Kunsthändler. Eigentlich eher wie so ein gewöhnlicher Scheißzigeuner, und an allem war anscheinend diese Holtlesbe schuld. Kaum war er in die Gleichberechtigungsanstalt eingeliefert worden, da hatte sie sich über den alten Schwulen geworfen und ihn offenbar zu Tode erschreckt. »Du hast mir dein Ehrenwort gegeben, Bäckström«, wiederholte GeGurra auf der Mobilbox. »Ich bin gespannt, was du zu deiner Verteidigung vorzubringen hast.« Sie versucht, mir die Stühle unterm Hintern wegzuziehen, und jetzt heißt es, einen Zahn zuzulegen, dachte Bäckström. Packte seine kleine Tasche, legte einen Schlips an, schlenderte zur Rezeption hinunter, zog den Schlips so zu, dass sein Kopf sich anfühlte, als ob er platzen wolle, lockerte den Schlips, um nicht tatsächlich noch abzukratzen, und taumelte in die Rezeption. »Ich glaub, ich hab einen Anfall erlitten«, röchelte Bäckström, setzte sich auf den Fußboden, starrte die Rezeptions-Lesbe mit runden Augen an und wedelte mit den Händen vor seinem hochroten Gesicht herum. Danach war alles wie ein Tanz gelaufen. Die Rezeptionslesbe hatte den Notarzt angerufen und gleichzeitig Bäckströms Stirn befeuchtet, der sicherheitshalber auf dem Boden die Rückenlage eingenommen hatte. Dann war er mit dem Krankenwagen in die Notaufnahme nach Norrtälje gebracht worden. War für die Nacht von 337
einem richtigen schwedischen Arzt und nicht von irgend so einem gewöhnlichen Quacksalber mit lilafarbenem Turban zur Beobachtung eingewiesen worden. Ein Einzelzimmer, ein frisch bezogenes Bett und eine finnische Blondine, die offenbar Nachtschwester war und eine Schwäche für einen richtigen Polizisten aus der großen Stadt hatte. Sie war mehrmals bei ihm im Zimmer gewesen und hatte sich an ihm zu schaffen gemacht, bis er endlich etwas Ruhe hatte, so dass er sich den letzten Rest aus seiner Flasche zu Gemüte führen konnte und den Schönheitsschlaf schlafen durfte, den er doch so dringend brauchte. Am nächsten Tag hatte er mit einem Taxi nach Hause fahren dürfen. War krankgeschrieben worden und hatte eine Überweisung ins Karolinska Krankenhaus erhalten, um mögliche Allergien, zu hohen Blutdruck, zu hohe Cholesterinwerte und allerlei anderes weiterzubehandeln, was den Onkel Doktor in Norrtälje beunruhigt hatte. Und nun zu dir, Holt, dachte Bäckström, als er seine Haustür hinter sich zugezogen und sich ein kaltes Pils aus dem Kühlschrank geholt hatte. Ab jetzt herrscht Krieg. »Wann wolltest du eigentlich Wiijnbladh vernehmen?«, fragte Johansson im selben Moment, als er in der Tür ihres Zimmers auftauchte. »Guten Morgen, Lars«, sagte Holt. »Doch, mir geht es ganz ausgezeichnet. Danke der Nachfrage. Ich wollte ihn gerade anrufen und ein Treffen vereinbaren. Jan und ich werden das Verhör mit ihm führen. Zu Aufklärungszwecken. Wie geht's dir denn so?« »Zu Aufklärungszwecken?« »Ja, wie sollten wir das sonst praktisch angehen? Die Sache mit dem Revolver ist seit mehreren Jahren verjährt. Und irgendeinen Verdacht haben wir schließlich nicht. Selbst wenn's stimmen sollte.« »Den holen wir uns«, sagte Johansson und starrte sie wütend an. »Wie bitte?« »Ich habe mit dem Staatsanwalt gesprochen. Festnahme ohne vorhergehende gerichtliche Anhörung und eine Hausdurchsuchung seiner Wohnung und seines Arbeitsplatzes.« 338
»Und mit welcher Begründung?«, fragte Holt. Was ist hier eigentlich los?, dachte sie. Johansson hat mit dem Staatsanwalt gesprochen, und was bitte soll ich hier denn eigentlich machen? »Vorbereitung zum Mord«, sagte Johansson. »Das verjährt nicht«, fügte er hinzu und nickte grimmig. »Vorbereitung zum Mord? Moment mal. Sprechen wir etwa vom Ministerpräsidenten, denn wenn das der Fall ist, ist das wohl vielmehr Beihilfe zum Mord, die wir...« »Wir sprechen von seiner Exfrau, die er vergiften wollte«, fiel Johansson ihr ins Wort. »Das wollten Jan und ich gar nicht thematisieren«, antwortete Holt und schüttelte den Kopf. »In dieser Angelegenheit liegt doch noch nicht mal eine Anzeige vor.« »Jetzt liegt eine Anzeige vor«, sagte Johansson. »Über die sollst du allerdings auch gar nicht weiter sprechen, aber weil es das Sinnvollste ist, was mir und dem Staatsanwalt eingefallen ist, liegt jetzt eine Anzeige vor. Und, bevor du fragst, es handelt sich dabei um unseren sonst zuständigen Staatsanwalt und nicht um dieses magere Frauenzimmer, das sich um Palme kümmert.« »Tu ausnahmsweise einmal, was ich sage«, fuhr er fort. »Sieh zu, dass wir ihn in einer Stunde hier haben. Und versuche, dieses eine Mal nicht allzu freundlich und verständnisvoll zu sein. Das gilt sowohl für dich als auch für Lewin.« So war es auch gekommen. Eine Stunde später saß Wiijnbladh gemeinsam mit Holt und Lewin in einem Verhörzimmer der Zentralen Kriminalpolizei. Zutiefst erschüttert und völlig vor den Kopf geschlagen. Arme Sau, dachte Holt, und dann hatte sie angefangen, über seine frühere Bekanntschaft mit Claes Waltin zu sprechen. »Warum wollt ihr mit mir reden?«, quäkte Wiijnbladh und leckte sich nervös die Lippen. »Wir wollen über deine ehemalige Bekanntschaft mit Polizeioberintendent Claes Waltin sprechen«, sagte Holt und bemühte sich, gleichermaßen freundlich und interessiert auszusehen. »Aber er ist doch schon tot«, erwiderte Wiijnbladh und sah sie verwirrt an. 339
»Ja, ich weiß. Aber als er noch lebte, sollt ihr doch gute Freunde gewesen sein.« Weiter war sie nicht gekommen, als plötzlich Johansson die Tür öffnete und einfach eintrat, im Schlepptau zwei Kollegen von der Mordkommission der Zentralen Kriminalpolizei. Rogersson mit seinen kleinen Schlitzaugen und dann dieser widerliche Bodybuilder, dessen Namen ich glücklicherweise verdrängt habe, dachte Holt. Wohl kaum ein Zufall. »Ich heiße Johansson«, sagte Johansson und starrte Wiijnbladh wütend an. »Ich bin der Chef des Ganzen hier.« »Ja, ich weiß, wer der Erkazeh ist«, stammelte Wiijnbladh. »Ich glaube, ich hatte noch nicht das Vergnü...« »Ich will die Schlüssel zu deiner Wohnung, deine Zugangskarte für dieses Gebäude, deine Schlüsselkarte für den PC-Raum und die Passwörter für deinen Rechner haben«, fiel ihm Johansson ins Wort. »Aber ich verstehe nicht«, stammelte Wiijnbladh, schüttelte den Kopf und sah Holt beinahe flehentlich an. »Hausdurchsuchung«, sagte Johansson und streckte seine große Pranke aus. »Mach deine Taschen leer, dann brauch ich die Kollegen nicht darum zu bitten.« Eine Minute später waren sie wieder verschwunden. Zurück blieben Holt, Lewin und ein vor Schreck wie gelähmter Wiijnbladh, der Holt anschaute. »Ich muss mal auf die Toilette«, sagte er. »Ich muss...« »Jan begleitet dich«, sagte Holt und stellte das Tonbandgerät aus. Ich hätte auf Berg hören sollen, dachte sie. Der Besuch auf der Toilette hatte eine geraume Zeit gedauert. Wiijnbladh hatte sich das Gesicht offenbar mit kaltem Wasser bespritzt, was wenig geholfen zu haben schien. Verwirrt und abwesend ist der. Kapiert nicht, worum's geht, dachte Holt. »Dann nehmen wir das Verhör mit Kriminalinspektor Göran Wiijnbladh erneut auf«, sagte Holt, nachdem sie das Tonbandgerät angestellt hatte. »Bevor wir unterbrochen wurden, sprachen wir 340
über deine Bekanntschaft mit dem ehemaligen Polizeioberintendenten Claes Waltin von der Sicherheitspolizei. Kannst du bitte berichten, woher du ihn kanntest?« »Wir waren gute Freunde«, sagte Wiijnbladh. »Aber ich verstehe noch immer nicht.« »Wie lange kanntest du ihn?«, fragte Holt. Wiijnbladh zufolge hatte er Waltin seit Anfang der achtziger Jahre gekannt. Es hatte als beruflicher Kontakt begonnen, hatte sich aber so nach und nach mehr zu einer normalen freundschaftlichen Beziehung entwickelt. »Ich hatte das Vergnügen, ihm in allgemeinen kriminaltechnischen Fragen ein wenig zur Seite zu stehen«, sagte Wiijnbladh, der mit einem Mal ruhiger wirkte. »Aber ansonsten haben wir eigentlich meistens über Kunst geredet. Wir hatten dieses gemeinsame Interesse, und Claes hatte eine hervorragende Kunstsammlung. Ganz hervorragend, einen Haufen bedeutender Werke von sowohl schwedischen als auch ausländischen Künstlern. Bei irgendeiner Gelegenheit bat er mich, mir eine Radierung von Zorn anzuschauen, um zu sehen, ob es sich dabei um eine Fälschung handelte.« »Allgemeine kriminaltechnische Fragen, sagst du«, sagte Holt. »Habt ihr euch bei dem Anlass auch über etwas anderes unterhalten als über Kunstfälschungen?« »Was sollte das gewesen sein?«, fragte Wiijnbladh und sah sie an. »Waffen«, sagte Holt. »Hat er dich zu Waffen befragt?« Wieder genauso verwirrt wie vorhin, dachte Holt. »Er hat mich alles Mögliche gefragt. Über Fingerabdrücke und verschiedene kriminaltechnische Methoden zur Spurensicherung und Spurenanalyse. Claes, Claes Waltin also, war sehr wissbegierig. Er wollte ganz einfach mehr lernen. Schaute öfters hoch und stattete mir einen Besuch in der technischen Abteilung ab.« »Lass uns noch einmal auf das mit der Waffe zurückkommen«, sagte Holt. »Soweit ich weiß, hast du ihm im September 1988 einen Revolver überlassen, der in der so genannten Waffenbibliothek in der Kriminaltechnischen Abteilung verwahrt worden war. Er war in einem Fall, der auf den 27. März 1983 datiert, beschlagnahmt worden. Ein angehängter Selbstmord.« 341
»Davon weiß ich nichts«, stammelte Wiijnbladh und ließ seinen Blick zwischen den beiden hin- und herirren. »Davon weiß ich nichts.« Leider doch, dachte Holt. Wenn ich deinen Augen Glauben schenken soll, dann leider doch. »Aber daran musst du dich doch noch erinnern können«, bohrte Holt nach. »Im Herbst 1988 bat Claes Waltin dich, ihm einen Revolver zu überlassen. Diesen Revolver, um genau zu sein«, sagte sie mit Nachdruck und reichte ihm eine Fotografie der Waffe, die im März 1983 bei dem angehängten Selbstmord in Spänga zum Einsatz gekommen war. »Das Foto stammt von einem deiner ehemaligen Kollegen«, erklärte Holt. »Bergholm, falls du dich an ihn erinnerst. Er war damals, als das Foto gemacht wurde, für die Spurensicherung zuständig.« Wiijnbladh wollte die Fotografie nicht anfassen. Wollte sie noch nicht einmal anschauen. Schüttelte den Kopf. Wandte den Blick ab. Holt nahm einen neuen Anlauf und hasste sich selbst dafür. »Deine Antwort erstaunt mich etwas«, sagte Holt. »Entweder hast du Waltin einen Revolver gegeben oder nicht. Ja oder nein, viel schwerer ist das nicht. Mein Kollege Jan Lewin und ich haben Grund zu der Annahme, dass du es getan hast. Wir wollen jetzt wissen, was du dazu zu sagen hast.« »Das darf ich nicht sagen«, sagte Wiijnbladh. »Wieso das?«, sagte Holt. »Das musst du uns erklären.« »Aus Gründen der Staatssicherheit.« »Aus Gründen der Sicherheit des Landes«, wiederholte Holt. »Das klingt so, als ob Claes Waltin dir das vorgesagt hätte.« »Ich musste Papiere unterzeichnen.« »Du musstest Papiere unterzeichnen, die Claes Waltin dir gegeben hat. Wo sind die?« »Zu Hause«, sagte Wiijnbladh. »In meiner Wohnung. In der Schublade meines Schreibtisches, aber sie sind geheim, ihr dürft sie euch nicht ansehen.« »Ich komme gleich darauf zurück«, sagte Holt. »Im September 1988 übergibst du also den Revolver, der hier auf dem Foto zu sehen ist, an Claes Waltin. Wir kommen noch darauf zurück, weshalb du das getan hast, aber zuerst möchte ich dich zu ein paar anderen 342
Dingen befragen, über die wir ebenfalls viel nachgedacht haben. Das kriminaltechnische Protokoll vom Probeschießen des Revolvers fehlt. Unserer Meinung nach hast du es verschwinden lassen. Die zweite Sache betrifft einen Antrag auf Verschrottung derselben Waffe, den du an die Rüstungsfabrik der Armee geschickt hast. Wir glauben nicht, dass die Waffe verschrottet wurde. Wie hätte sie das auch werden können? Du hattest sie ja bereits deinem guten Freund Claes Waltin gegeben.« »Davon weiß ich nichts«, winselte Wiijnbladh und starrte Löcher in den Fußboden. »Ich will, dass du mich ansiehst, Göran«, sagte Holt freundlich. »Sieh mich bitte an«. »Was?«, sagte Wiijnbladh und starrte sie an. »Warum?« »Ich will dir in die Augen sehen können, wenn du antwortest«, sagte Holt. »Das musst du doch verstehen. Du bist doch selber Polizist.« »Aber ich kann doch nicht antworten. Wenn ich antworte, dann verstoße ich gegen die Schweigepflicht. So steht es schließlich in den von mir unterschriebenen Papieren.« »Die Papiere, die Claes Waltin dir gegeben und zu unterschreiben befohlen hat?« »Ja«, sagte Wiijnbladh und nickte. »Obwohl ich das eigentlich auch nicht sagen darf.« Endlich, dachte Holt. »Hast du noch Fragen, Jan?«, sagte Holt und wandte sich an Lewin. »Es gibt da noch das eine oder andere, was mich wundert«, sagte Lewin mit einem vorsichtigen Räuspern. »Als du diese Papiere bei der Übergabe des Revolvers an Waltin unterzeichnet hast, befinden wir uns im September 1988?« »Das darf ich doch nicht sagen«, plärrte Wiijnbladh und schüttelte den Kopf. »Ich vermute, dass du keine Kenntnis davon hattest, dass Claes Waltin zu dem Zeitpunkt seinen Dienst als Polizist bereits quittiert hatte.« »Nein, das kann nicht wahr sein«, sagte Wiijnbladh und starrte aus irgendeinem Grund Holt an. 343
»Doch«, sagte Lewin. »Waltin hat im Juni desselben Jahres bei der Polizei seinen Dienst quittiert. Mehrere Monate, bevor er dich dazu brachte, ihm den Revolver zu geben, das Schussprotokoll zu beseitigen und eine Verschrottungsbescheinigung aufzusetzen, die zumindest in einem Punkt nicht stimmte. Claes Waltin war kein Polizist mehr, als du ihm diese Dienste erwiesen hast.« »Das kann nicht wahr sein«, wiederholte Wiijnbladh und schüttelte den Kopf. »Warum kann das denn nicht wahr sein?«, fragte Lewin. »Weil ich eine Auszeichnung erhalten habe. Ich hab sogar eine Medaille bekommen. Von der Sicherheitspolizei. Als Dank für meine Verdienste für die Sicherheit des Landes.« »Die du ebenfalls in deinem Schreibtisch aufbewahrst«, stellte Lewin fest. »Ja. Jaaa. Da hat sie die ganze Zeit gelegen.« Arme Sau, dachte Jan Lewin. »Der Chef will also mit uns in die Wohnung des Giftmörders kommen«, sagte Rogersson und hielt Johansson die Autotür auf. »Nun ja. Muss mal raus und mich bewegen«, sagte Johansson. »Obwohl ich eigentlich dachte, ich könnte vorne sitzen«, sagte er. »Dann kann Falk hinten sitzen, damit er mehr Platz hat.« »Danke, Chef«, sagte Falk, grinste und hielt ihm die richtige Tür auf. »Und Schutzanzüge benötigen wir also keine?«, sagte Rogersson, als sie aus dem Tunnel fuhren, der aus der Tiefgarage des Polizeigebäudes führte. »Zum Teufel, bloß nicht«, sagte Johansson und schüttelte den Kopf. »Wir doch nicht. Wir suchen doch nur nach Papieren und irgendeiner Scheiß-Medaille, die der Arsch bekommen haben soll.« »Von der Apothekengesellschaft?«, fragte Rogersson und grinste. »Wenn es nur das wäre«, sagte Johansson und seufzte. Kriminalinspektor Göran Wiijnbladh wohnte seit fünfzehn Jahren in einer betreuten Wohneinrichtung für Altersteilzeitler in Bromma. Ein Zimmer mit Küche und einem kleinen Badezimmer. Mit vier Alarmknöpfen, um Hilfe rufen zu können, wenn man sie benötigte. Einer an der Wohnungstür, den man sogar erreichen 344
konnte, wenn man auf dem Fußboden lag, einen im Badezimmer zwischen Toilette und Badewanne, einen in der Küche beim Herd und einen am Bett im Zimmer. Dieser war auch mit einem Verlängerungskabel versehen, falls Wiijnbladh ihn mitnehmen wollte, wenn er an seinem Schreibtisch oder im Sessel vor dem Fernseher saß. Heruntergekommen, muffig und mit einem schwachen, jedoch unverkennbaren Geruch von Urin. Auf dem Fußboden des Badezimmers lag eine geöffnete Packung mit Inkontinenzwindeln. Im Badezimmerschrank befanden sich an die zwanzig Döschen und Verpackungen mit verschiedenen Medikamenten, ein leeres Plastiketui für ein Gebiss, Rasiermesser, Rasierschaum und Rasierwasser. Auf dem Waschbecken standen ein Plastikbecher mit einer Zahnbürste und eine Tube Prothesenkleber für das Gebiss. Armer Teufel, dachte Lars Martin Johansson und ging weiter in das Wohnschlafzimmer. Rogersson wühlte im Schreibtisch am Fenster herum, während Kollege Falk sich durch den Inhalt der kleinen Kommode grub, die an der Stirnseite des Raumes stand. Auf dem Nachttischschrank neben dem Bett stand eine Fotografie von Wiijnbladhs Ex-Frau. Die ihn vor über zwanzig Jahren verlassen hatte, als er sich aus Versehen selbst vergiftet hatte, obwohl er eigentlich sie umbringen wollte. »Sucht der Chef das hier?«, sagte Rogersson und hielt eine Plastiktüte mit einer Medaille hoch, die so groß wie ein Fünfkronenstück war. »Für Kriminalinspektor Göran Wiijnbladh als Dank für seine großen Verdienste für die Sicherheit des Landes«, las Rogersson vor. »Ich fürchte ja«, sagte Johansson. »War Wiijnbladh etwa irgendein verdammter Kriegsheld, oder was?«, warf Rogersson in den Raum und schüttelte fassungslos den Kopf. »Wohl eher Superman«, grinste Falk und hielt ein Paar weiße Unterhosen hoch. »Ganz schön viel Rost in diesen Höschen.« »Und die Papiere?«, fragte Johansson. »Müssten diese hier sein«, sagte Rogersson. »So eine Art Quittung über eine Waffe und irgend so ein schräges Empfehlungsschreiben. Von den Filzpantoffeln aus dem B-Gebäude. Zumindest auf ihrem Briefpapier.« 345
»Darf ich mal sehen?«, sagte Johansson. Wie saudumm kann man eigentlich sein?, dachte er. Johansson kehrte knapp zwei Stunden später ins Verhörzimmer zurück. Dieses Mal hatte er offenbar vor zu bleiben, da er einen Stuhl mitbrachte. »Der Erkazeh betritt das Zimmer«, sprach Holt. »Wir unterbrechen das Verhör, um...« »Stell diesen Scheiß ab«, sagte Johansson und deutete auf das Tonbandgerät. »Wir beide, Göran, müssen jetzt ein ernstes Wörtchen miteinander reden«, sagte er und nickte Wiijnbladh zu. »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben«, fügte er hinzu und lächelte. »Du kannst also ganz beruhigt sein. Aber vorher genehmigen wir uns erst mal einen Kaffee«, sagte Johansson und sah aus unerfindlichen Gründen Holt an. Der Mann spottet jeder Beschreibung, dachte Anna Holt. Wiijnbladh schien allerdings nicht im Geringsten beruhigt. Trotz Johanssons Versicherung, dachte sie. Dann ging sie Kaffee holen. Was hatte sie auch für eine Wahl? Sie sorgte dafür, dass Wiijnbladh Sahne in seinen bekam, und hörte Johansson zu, während er mit Wiijnbladh sprach, als ob er mit einem Kind redete. »Wie du vielleicht weißt, Göran, war ich einige Jahre lang Operativer Chef der Sicherheitspolizei«, wandte Johansson sich an Kriminalinspektor Wiijnbladh und schenkte ihm ein freundliches Lächeln. »Ja, das war doch, bevor der Erkazeh... bevor du Leiter der Zentralen Kriminalpolizei wurdest«, pflichtete Wiijnbladh ihm bei. »Also, das, was ich dir jetzt erzählen werde, erzähle ich dir unter dem Deckmantel größter Verschwiegenheit«, sagte Johansson. »Ich will auch, dass du, bevor wir nachher auseinandergehen, eine Verschwiegenheitserklärung unterschreibst. Diese übliche, du weißt schon, über die Schweigepflicht.« »Selbstverständlich«, sagte Wiijnbladh. Während das Mädchen Kaffee geholt hat, sind die Herren anscheinend zum informellen Teil übergegangen, dachte Holt. 346
»So wie ich die Sache verstanden habe, hat sich Folgendes zugetragen«, sagte Johansson gemächlich und gab vor, seine Papiere zu studieren. Waltin hatte Wiijnbladh hereingelegt. Hatte sein Vertrauen missbraucht. Ihn aufs Schändlichste ausgenutzt. »Lass uns ein wenig Ordnung in die Details bringen«, sagte Johansson. »Wie ist die Übergabe des Revolvers vonstatten gegangen?« Zunächst hätte Waltin ihn angerufen. Bei der Arbeit. Daran erinnerte er sich mit Bestimmtheit. Er müsse Wiijnbladh umgehend treffen. Es handele sich um eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit. Wiijnbladh dürfe zu niemandem ein Wort darüber verlieren. Keinen Kontakt zu Waltin aufnehmen. Die Angelegenheit sei sogar so heikel, dass Waltin eine zeitlang aus dem Polizeigebäude ausziehen müsse. Man könne ihn also nicht erreichen. »Ich wusste ja schon vorher, dass er der Leiter der so genannten externen Tätigkeit war, also nahm ich an, dass er damit beschäftigt war, diese umzustrukturieren«, erläuterte Wiijnbladh. »Waltin kam also zu dir hoch in die Abteilung?« »Er kam an einem Wochenende hoch. Das war irgendwann Mitte September. Ich hatte Bereitschaft und er hatte mich gebeten, ihn sofort anzurufen, wenn ich allein in der Abteilung war, damit wir unter vier Augen miteinander sprechen konnten. Als meine Kollegen also, die mit mir Bereitschaftsdienst hatten, aus dem Haus mussten, rief ich ihn an, und zwar die Geheimnummer, die er mir gegeben hatte. Ich meine mich zu erinnern, dass es ein Sonntag war. Irgendwann Mitte September. Wir hatten einen verdächtigen Todesfall in Midsommarkransen reinbekommen. Wie sich später herausstellte, war es ein Selbstmord.« »Und da kam er zu dir rüber?«, fragte Johansson. »Er kam sofort angeschossen«, bekräftigte Wiijnbladh. Wie er das wieder anstellt, dachte Holt mit widerwilliger Bewunderung.
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Wohlbehalten in der Kriminaltechnik eingetroffen, hatte Waltin sein Anliegen dargelegt. Die Sicherheitspolizei müsse eine bestimmte Waffe von der Kriminaltechnischen Abteilung übernehmen. Er könne nur so viel sagen, dass es sich um eine Geschichte von äußerster Wichtigkeit für die Sicherheit des Landes handele. »Er hatte ja sogar eine genaue Beschreibung der Waffe dabei. Mit Seriennummer und allem Drum und Dran. Und dann hatte er auch noch ein Foto.« »Erinnerst du dich noch daran, wie es ausgesehen hat?«, fragte Johansson. »Befand sich noch etwas anderes als die Waffe auf dem Foto?« »Nur die Waffe«, sagte Wiijnbladh und seufzte. »Direkt von oben fotografiert, vor einem weißen Hintergrund, auf dem das übliche Zentimetermaß lag, um die absolute Größe anzuzeigen, sowie ein Zettel mit der Seriennummer am unteren Rand. Mein Eindruck war, dass die Aufnahme von den Kriminaltechnikern der Säpo stammte. Aber ich hab ihn natürlich nicht danach gefragt.« »Was hast du dann gemacht?«, fragte Johansson. Zuerst hatte Wiijnbladh nachgeprüft, ob sie die betreffende Waffe überhaupt hatten. Dem war so. Sie lag zusammen mit der Kugel, die man für das Probeschießen benutzt hatte, und samt einer nicht abgefeuerten Patrone in der Waffenbibliothek in einer Schublade. Wiijnbladh hatte ihm den Revolver, die Kugel und die Patrone gegeben. Außerdem das Protokoll des Probeschießens. »Es war sehr wichtig, dass alle Spuren von der Waffe verschwanden«, erklärte Wiijnbladh. »Deshalb wollte er auch, dass ich eine Verschrottungsbestätigung besorgte.« »Und in der Rüstungsfabrik der schwedischen Armee hat sich keiner darüber gewundert?« »Zu der Zeit waren sie noch nicht so gründlich. Nicht so wie heute«, erläuterte Wiijnbladh. »Ich suchte ein paar einzelne Waffenteile von Revolvern zusammen. Unter anderem ein Trommelmagazin, einen abgesägten Lauf, auf dem die Seriennummer abgeschliffen war, und einen einzelnen Kolben. Wir hatten viele solcher Teile bei uns oben, die einfach herumlagen und Staub ansammelten. Dann legte ich sie in eine Tüte und klebte einen Zettel mit der Seriennummer der Waffe darauf, die Waltin gegen Quittung mitnahm.« »Gegen Quittung, sagst du?«, fragte Johansson. 348
»Ich brauchte ja schließlich irgendeine Form von Quittung«, sagte Wiijnbladh. »Um mich selbst abzusichern.« »Und da hat er dir dann diese Bestätigung gegeben?« Johansson schob ihm eines der beiden Papiere hin, die sie in Wiijnbladhs Schreibtischschublade gefunden hatten. »Mir wird erst jetzt klar, dass es sich dabei um eine Fälschung gehandelt hat«, seufzte Wiijnbladh und schüttelte den Kopf. »Das ist furchtbar. Aber was hätte ich glauben sollen? Eine Bestätigung auf säpoeigenem Papier. Mit Unterschrift und allem Drum und Dran. Ich meine, was hätte ich glauben sollen? Ich musste ja sogar eine besondere Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen.« Was hätte er glauben sollen? Eine Woche später hatte er darüber hinaus eine Medaille und sogar einen Dankesbrief von der Säpo erhalten, der vom Bürochef Erik Berg unterschrieben worden war. Claes Waltin hatte ihn persönlich überreicht anlässlich eines »feinen« Abendessens in seiner Wohnung in Norr Mälarstrand, zu dem er ihn eingeladen hatte. »Die Überreichung selbst wurde vor dem Abendessen vorgenommen«, erklärte Wiijnbladh. »Zum Essen kamen dann noch andere Gäste. Obwohl wir über meine Auszeichnung selbstverständlich kein Wort verloren.« »Die anderen Gäste«, hakte Johansson nach und warf einen Blick in Holts Richtung. »Wer waren die denn?« »Ein alter Freund von Claes, er ist inzwischen leider auch tot, aber ich meine mich erinnern zu können, dass er, während er noch lebte, ein sehr bekannter Wirtschaftsjurist gewesen ist. Starb nur ein paar Jahre nach Claes. Und dann war da noch sein alter Herr. Ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann damals. Ich meine, er wohnte in Schonen.« Bevor Wiijnbladh ging, hatte er seinen Namen unter eine weitere Verschwiegenheitserklärung setzen müssen. Die Medaille, die Quittung und den Dankesbrief hatte Johansson behalten. Er würde sie unter anderem dafür benötigen, um Wiijnbladh von allen Verdachtsmomenten freizustellen, und dagegen hatte dieser keine Einwände vorgebracht. 349
Lewin wollte ihn zurück in seine Abteilung begleiten, aber bevor Wiijnbladh ging, hatte er Johansson eine letzte Frage gestellt. »Der Revolver ist doch hoffentlich nicht im Zusammenhang mit irgendeinem neuen Verbrechen aufgetaucht?« »Dafür gibt es keine Anzeichen«, sagte Johansson mit festem Blick und ehrlichen, grauen Augen. »Er ist im Zuge von Waltins Nachlassverzeichnis aufgetaucht, und das hat uns natürlich gewundert, weil er keine Lizenz dafür besessen hat. Aus purem Zufall fanden wir vor einiger Zeit heraus, dass die Waffe ursprünglich von Kollegen in Stockholm hätte beschlagnahmt werden sollen. Die Mühlen der Gerechtigkeit mahlen langsam. Leider«, fügte Johansson hinzu und seufzte. Während du immer mehr jeder Beschreibung spottest, dachte Anna Holt. »Was halten wir von alldem hier?«, fragte Johansson am nächsten Tag, als er und seine engsten Mitarbeiter sich zur Besprechung und zum obligatorischen Kaffee versammelt hatten. »Was hältst du denn selbst davon?«, warf Holt die Frage zurück. »Wenn wir der Reihe nach vorgehen und mit dieser sogenannten Quittung beginnen, dann ist das eine schlechte Fälschung und ein noch schlechterer Scherz«, sagte Johansson und hielt die Quittung in die Luft, die Waltin Wiijnbladh für den Erhalt des Revolvers ausgestellt hatte. »Dem Briefkopf des Briefpapiers zufolge stammt die Quittung aus der Kriminaltechnischen Abteilung der Säpo«, fuhr er fort. »Unterzeichnet von Mitarbeiter 4711, dessen Unterschrift bedauerlicherweise unleserlich ist. Ein gutes Kopiergerät und ein bisschen Phantasie. Waltin scheint zu beidem Zugang gehabt zu haben.« »Und was ist mit dem Dankesbrief von Erik Berg?«, gab Holt zu bedenken. »Abgesehen davon, dass solche Dankesbriefe in der Wirklichkeit nicht vorkommen, ist die Unterschrift ganz gut gelungen. ‘An Kriminalinspektor Göran Wiijnbladh... Ich möchte Ihnen auf diesem Wege unseren Dank für Ihre großen Verdienste zur Aufrechterhaltung der Sicherheit unseres Landes ausdrücken... Stockholm, den 15. September 1988. Erik Berg. Bürochef. Sicherheitspolizei.’ Der 15. September 1988 war übrigens ein Sonntag, aber Berg hat ja an350
dauernd gearbeitet, das muss also nichts heißen«, sagte Johansson mit einem leichten Seufzer. »Und die Medaille?«, fragte Mattei. »Wurde von Sporrongs Medaillenfabrik hergestellt. Das steht sogar drauf. Aus vergoldetem Kupfer. ‘Für Kriminalinspektor Göran Wiijnbladh als Dank für seine großen Verdienste für die Sicherheit des Landes’.« »Hast du unsere Techniker einen Blick auf die Gravur werfen lassen?«, fragte Lewin. »Bestimmt nicht. Das habe ich selbst getan. Aus Rücksicht auf die Sicherheit des Landes«, sagte Johansson und grinste. »Was sollen wir also davon halten? Außer dass Kollege Wiijnbladh vielleicht nicht gerade ein Gottesgeschenk an die Kriminaltechnik ist? Was glaubst du, Lisa?«, fragte Johansson und sah Mattei an. Mattei zufolge konnte es eine Menge verschiedenster Erklärungen dafür geben. Diese führten wiederum zu einer Vielzahl verschiedener Schlussfolgerungen, die eine sehr große Spannbreite möglicher Alternativen abdeckten. »Welche zum Beispiel?«, sagte Johansson. Dass diese ganze Geschichte gar nichts mit der Ermordung des Ministerpräsidenten zu tun haben musste. »Fünfundsiebzig Prozent sind nun einmal nur fünfundsiebzig Prozent, wenn wir beispielsweise von der Kugel ausgehen«, sagte Mattei. »Waltin wollte sich nur auf die billigste Weise einen Revolver beschaffen«, sagte Johansson. »Um damit auf seinem Hof in Sörmland Maulwürfe und anderes Zeugs zu töten.« »Na ja«, sagte Holt. »Die zweite Möglichkeit ist wohl trotz allem die, dass der Revolver, den Waltin sich ergaunerte, dazu benutzt wurde, Palme zu erschießen. Fünfundsiebzig Prozent sind immerhin dreimal so viel wie fünfundzwanzig, soweit ich weiß.« »Zweieinhalb Jahre, nachdem Palme erschossen worden war?«, fragte Lisa Mattei mit unschuldigem Gesicht. »Zwischen März 1983 und September 1988 soll er sich ja bei den Kriminaltechnikern in Stockholm befunden haben.«
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»In einem sicheren Versteck. In der Löwengrube«, sagte Lewin unvermittelt. »Wenn denn tatsächlich Gebrauch von der Waffe gemacht worden ist, muss sie im Zusammenhang mit dem Mord an Palme im Umlauf gewesen und danach wieder zurückgelegt worden sein.« »Ich bin ein alter Mann«, seufzte Johansson. »Zu alt für wissenschaftliche Seminare. Gebt mir die wahrscheinlichste Erklärung. Was sagst du, Anna?« »Bei dem Revolver handelt es sich um die Mordwaffe«, sagte Holt. »Waltin holt sie vor dem Mord aus dem Archiv. Wiijnbladh zufolge hat er ja öfters bei ihm vorbeigeschaut. Dabei wird er wohl die Gelegenheit wahrgenommen haben, den Revolver mitgehen zu lassen. Er gibt ihn dem Täter. Der Täter gibt ihn nach dem Mord an Waltin zurück. Waltin bringt ihn wieder im Archiv unter. Ein sichereres Versteck dürfte es wohl kaum geben. Nachdem sich die größte Unruhe gelegt hat und er selbst rausgeschmissen worden war, luchst er Wiijnbladh den Revolver ab. Er ist eine Trophäe, die er um jeden Preis haben will.« »Eine andere Möglichkeit ist, sei's richtig oder falsch, dass er auf die Idee gekommen ist, dass es sich dabei um die Mordwaffe handelt und dass er sie sich unter den Nagel reißt, um sie an irgendeinen Sammler zu verkaufen. Nicht mehr so viele Drehungen und Wendungen, nicht mehr so heikel wie zuvor«, wandte Mattei ein. »Würde gut mit der Geschichte vom Kunsthändler Henning übereinstimmen.« »Jetzt sind wir wieder an diesem Punkt angelangt«, seufzte Johansson. »Was meinst du, Jan?« »Ich bin derselben Meinung wie Anna«, sagte Lewin. »Dein alter Strafzettel«, sagte Johansson. »Ja«, sagte Lewin. »Waltin hat die Waffe in seinem Besitz. Frag mich nicht, wie. Er gibt sie dem Täter vor der Tat. Nimmt sie am Tag nach der Tat zurück. Der Täter hat die Nacht in einer der sicheren Wohnungen der Säpo oben in Gärdet verbracht.« »Keine schlechte Verschwörungstheorie, Lewin«, nickte Johansson. »Ja«, sagte Lewin. »Wir sollten wirklich hoffen, dass sie nicht der Wahrheit entspricht.«
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Als Holt in ihr Zimmer zurückkehrte, hatte sie unerwarteten Besuch von Bäckström. Er saß auf ihrem Schreibtisch und hatte vermutlich versucht, heimlich die Papiere zu lesen, die darauf lagen. »Ich bin fuchsteufelswild«, sagte Bäckström und glotzte sie drohend an. »Nimm doch bitte Platz«, sagte Holt. Bäckström war nicht nur fuchsteufelswild, er war auch enttäuscht. Von Holt, ihren Kollegen, ja von der ganzen Menschheit. So enttäuscht, dass es sich auf seine Gesundheit ausgewirkt habe. Er habe am Abend zuvor einen Herzanfall oder womöglich eine kleinere Gehirnblutung erlitten, habe die Nacht in der Notaufnahme verbracht, und sei nun krankgeschrieben. Sobald er wieder hergestellt sei, beabsichtigte er Kontakt zur Gewerkschaft aufzunehmen, um Hilfe bei seiner Anzeige gegen die höchste Polizeiführung in Stockholm, die Zentrale Kriminalpolizei und nicht zuletzt Anna Holt zu bekommen. »Ich finde, du siehst fit aus, Bäckström«, erwiderte Holt, die gar nicht zugehört zu haben schien. »Für einen richtigen Polizisten wie mich ist die Anonymität der Gewährsleute heilig«, sagte Bäckström entrüstet. »Mattei und du, ihr habt mich hintergangen. Gustaf Henning hat mich angerufen und mich so ausgeschimpft, dass mir die Ohren geklingelt haben, und weißt du was, ich kann ihn verstehen. Aber ich bin es nicht gewesen, der ihn reingelegt hat. Dafür hast du mich reingelegt.« »Du hast Angst, dass dir deine Belohnung durch die Lappen geht«, sagte Holt. Ganz bestimmt nicht. Niederträchtige Kollegen. Der allgemeine Verfall der Polizei. Eine Gesellschaft auf der Schnellstraße zum Untergang. Eine Gesellschaft, in der ein rechtschaffener und hart arbeitender Mensch wie er niemandem mehr trauen konnte. Das sei es, was Bäckström Angst mache. Mit einer Belohnung für seinen Sklavendienst habe er nie gerechnet. Das habe er während seinen gut dreißig Jahren bei der Polizei wirklich begriffen. »Wer hat euch den Hinweis mit der Waffe geliefert? Wer hat dir Waltins Namen genannt? Ohne mich hättet ihr nicht einen Scheiß. 353
Ich war es sogar, der euch auf die Spur mit dieser geheimen Sekte von Sexbesessenen gebracht hat. Den Fotzenfritzen. Das kannst du dir ja wohl an den Füßen ausrechnen, was die die ganzen Jahre über getrieben haben. Ein Haufen perverser Irrer! Das müsste dir doch schon der Name sagen!« »Es gehört sich nicht, ohne Erlaubnis die Unterlagen anderer Leute zu lesen«, maßregelte ihn Holt und steckte zur Sicherheit die Vernehmungsunterlagen von Henning in ihre Schreibtischschublade. »Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?«, fragte Bäckström und stierte Holt an. »Dass ich meine Arbeit mache«, sagte Holt. »Im Gegensatz zu dir, der nur umherspringt und seine Nase in Angelegenheiten steckt, die ihn einen feuchten Kehricht angehen. Außerdem bist du doch krankgeschrieben. Geh nach Hause, leg dich hin und ruhe dich aus, Bäckström. Und lass bloß meine Unterlagen in Frieden«, schloss sie und starrte ihn an. »Krieg«, sagte Bäckström, erhob sich aus dem Stuhl und zeigte mit seinem dicken Zeigefinger auf Holt. »Krieg?« »Krieg«, wiederholte Bäckström. »Ab jetzt herrscht Krieg, Holt.« Nach dem Mittagessen flogen Holt und Mattei nach Kristianstad, um Claes Waltins Vater zu vernehmen. »Ich hatte Besuch von Bäckström«, erzählte Holt. »Er saß in meinem Zimmer, als ich von unserer Besprechung mit Johansson zurückkam.« »Dieser grässliche kleine Fettwanst«, sagte Mattei mit Nachdruck. »Was wollte er denn?« »Er hatte unklare Forderungen. Dafür hat er uns den Krieg erklärt.« »Wenn das der Fall ist, bitte ich Johan darum, ihn durchzuprügeln«, sagte Mattei. »Johan?« »Johan«, nickte Mattei. Den Rest des Fluges erzählte sie von Johan, und die Reise nach Kristianstad hätte gerne länger als eine Stunde dauern können. Die kleine Lisa ist verliebt, dachte Holt erstaunt, als sie aus dem Flugzeug stiegen. 354
Ein großer Gutshof in Schonen. Ein kalksteingeschlämmtes Fachwerkhaus samt Jägerzaun, Löschteich und Weidenallee. So kann man also auch wohnen, dachte Anna Holt, als das Taxi, das sie vom Flughafen hergebracht hatte, auf dem gekiesten Hof vor den Wirtschaftsgebäuden von Robertslust anhielt. »Hier auf Robertslust wohnt die Familie Waltin schon seit Generationen«, erklärte ihr Gastgeber, nachdem er sie in sein »Herrenzimmer« geführt und sich darum gekümmert hatte, dass die »Damen« Kaffee bekamen. Ein großer Schreibtisch, darüber gekreuzte Säbel an der Wand, eine Sofagruppe aus verschlissenem Samt mit gehäkelten Schonbezügen an der Rückenlehne, alte Porträts in Goldrahmen, und hundert Jahre später ging das Leben immer noch weiter. Ein richtig gemütlicher, alter Ort, dachte Holt. »Ist das Anwesen nach Ihnen persönlich benannt, Herr Direktor Waltin?«, fragte Mattei mit einem freundlichen, fragenden Lächeln. »Ganz bestimmt nicht«, schnaubte Robert Waltin. »Es wurde nach dem Urahnen des Familiengeschlechts benannt, meinem Ururgroßvater, Werkleiter Robert Waltin. Von Anfang an diente der Hof der Familie als Sommerwohnsitz.« Und du siehst selbst so aus, als wärst du von Anfang an dabei gewesen, dachte Lisa Mattei. Ein böser alter Mann, aber bei weitem nicht ungefährlich, dachte sie. Trotz des dünnen Halses, der aus einem viel zu großen und ausgefransten Hemdkragen herausschaute. Mit Sicherheit ein teures Hemd aus den Tagen, als Robert Waltin in seinen besten Jahren gewesen war. Nicht so wie heute, wo er am meisten daran interessiert schien, sich über alles und alle zu beschweren. »Der Grund für unsere Anwesenheit ist, dass wir gerne ein paar Fragen bezüglich Ihres Sohnes stellen möchten«, sagte Holt mit einem formellen Lächeln. »Höchste Zeit. An diesen so genannten Unfalltod durch Ertrinken habe ich nie geglaubt. Claes war völlig gesund, und er konnte auch schwimmen wie ein Fisch. Ich selbst habe es ihm beigebracht. Bevor er fünf wurde und du ihn verlassen hast, um nach Schonen zu gehen und deine Sekretärin zu heiraten, dachte Holt. 355
»Habe es ihm beigebracht, als er noch ein kleiner, quicklebendiger Knabe war und ich noch mit dieser Verrückten, die seine Mutter war, zusammenwohnte«, sagte Vater Robert. »Im Sommer kam er dann meistens hierher, und da sind wir beide viel gesegelt und geschwommen. Er wurde ermordet. Claes wurde ermordet. Das habe ich schon vom ersten Moment an geglaubt.« »Warum glauben Sie das?«, fragte Holt. »Die Sozis«, sagte der Alte und schaute sie verschlagen an. »Er wusste irgendetwas über sie, das sie dazu zwang, ihn zu ermorden. Er hat ja schließlich für die Sicherheitspolizei gearbeitet. Er wusste bestimmt so gut wie alles über ihre ungesetzlichen Geschäfte mit den Russen und Arabern. Weshalb hätte man denn sonst diesen Landesverräter Palme erschießen müssen?« »Erzählen Sie, was glauben Sie denn, Herr Direktor Waltin?« »Palme war ein Landesverräter. Spionierte für die Russen. So einfach war das. Die russischen U-Boote besaßen geheime Basen bis weit in unsere inneren Schären hinein. Eine korrupte politische Führung, in der derjenige, der die höchste Position bekleidete, dem Feind als schnöder Spion diente und seine eigene Klasse verriet.« »Was macht Sie glauben, dass Olof Palme für die Russen spioniert hat?«, fragte Holt. Hier geht's rund, dachte sie. »Das hat ja wohl jeder vernünftige Mensch gewusst«, sagte Robert Waltin. »Außerdem wurde mir das schon früh aus einer sicheren Quelle bestätigt. Von meinem eigenen Sohn. Es hat bei der Sicherheitspolizei sogar Unterlagen darüber gegeben. Unterlagen, die man auf direkte Anweisung von Seiten der höchsten politischen Führung zu vernichten gezwungen war. Das ist eine entsetzliche Geschichte von Machtmissbrauch und Verrat.« Was du nicht sagst, dachte Holt, und wie bringe ich den Kerl jetzt bloß dazu, das Thema zu wechseln? »Wirklich«, sagte Holt beipflichtend. »Es wäre uns eine große Hilfe, wenn Sie uns von Ihrem Sohn erzählen würden.« Das wollte sein Vater nur zu gerne. Sein Sohn sei sehr begabt gewesen. Stets der Klassenbeste. Darüber hinaus habe er sehr gut ausgesehen. Kaum war er groß genug gewesen, habe er keine ruhige Minute mehr vor all den Frauen gehabt, die ihm hinterhergerannt seien. »Sie waren verrückt nach ihm. Aber er hat es mit Humor genommen. Ist ihnen immer höflich und freundlich begegnet.« 356
»Aber er hat nie geheiratet«, stellte Holt fest. »Hat nie eine Familie gegründet und Kinder bekommen.« »Wie hätte er auch dafür Zeit haben sollen?«, schnaubte sein Vater. »Außerdem hatte ich ihn gewarnt. Ich wusste ja, wovon ich sprach. Ich war ja immerhin mit seiner Mutter verheiratet gewesen.« »Die von einer U-Bahn überfahren worden ist?« »Überfahren? Sie war besoffen. Sie war andauernd besoffen. Hat mehrere Flaschen Portwein pro Tag getrunken und einen Haufen Medizin in sich hineingestopft. Sie war besoffen, und deshalb ist sie auf die Gleise getorkelt, und das war's dann auch schon.« Pflegten er und sein Sohn regelmäßigen Kontakt? Im Sommer, selbstverständlich. Anlässlich größerer Familienfeiern auf Seiten seiner Verwandtschaft, zu denen er seine erste Frau nicht habe einladen müssen. Sozusagen wenn ihre Wege sich gekreuzt hatten. »Wir haben mit einer anderen Person, einem Kollegen von uns, gesprochen«, sagte Holt, »der Ihnen zu Hause bei Ihrem Sohn Ende der achtziger Jahre anlässlich eines Abendessens begegnet ist. In seiner Wohnung in Norr-Mälarstrand.« »War das dieser kleine Polizist, der Claes bei irgendeiner Fälschung geholfen hat, die dieser Kunstjude Henning ihm aufgeschwatzt hatte?«, fragte der Alte. »Eine elende Figur, die die ganze Zeit über um Entschuldigung für seine Existenz gebeten hat und kaum mit der Besteckreihenfolge klarkam.« »Das könnte stimmen«, sagte Holt. Und du bist nicht viel besser als Johansson, wenn's ernst wird, dachte sie. »An den erinnere ich mich«, sagte Vater Waltin. »Als wir diesen Hanswurst endlich losgeworden waren, fragte ich Claes, warum er sich um Himmels willen mit so einem abgab.« »Und warum hatte er sich mit ihm eingelassen?« »Er soll ein nützlicher Idiot gewesen sein. Einträglich noch dazu, Claes zufolge. Trotz seines jämmerlichen Äußeren.« »Hat er denn erläutert, weshalb er dieser Ansicht war?«, fragte Holt beharrlich. »Da ist er nicht näher drauf eingegangen«, sagte Robert Waltin und schüttelte den Kopf. »Soweit ich mich erinnere, hat mein Sohn nur gesagt, dass die allernützlichsten Idioten diejenigen seien, die keine Ahnung hatten, wobei sie geholfen hätten. Dass eben dieses 357
Exemplar ihm und der Nation einen sehr großen Dienst erwiesen hätte.« Wiijnbladh und ein weiterer Gast. Könne er sich noch daran erinnern, wer das gewesen sei? »Ja, an ihn erinnere ich mich gut«, sagte Robert Waltin. »Das war einer von Claes' alten Kommilitonen aus der Studienzeit. Auch aus ihm wurde ein äußerst erfolgreicher Jurist. War für einige Jahre als Wirtschaftsjurist für unsere erfolgreichsten Konzerne tätig. Saß sogar mehrere Jahre im Aufsichtsrat von Bofors. Er starb nur ein Jahr nach Claes. Sein Name ist mir entfallen, aber ich meine mich daran zu erinnern, dass ich der Witwe nach seiner Beerdigung eine Karte geschickt habe. Er war eine ganz vortreffliche Person. Sie hatten gemeinsam Jura studiert, wie ich schon sagte, und dann waren sie auch Mitglieder in derselben Verbindung gewesen.« Hoppla, dachte Holt. »Verbindung?«, wiederholte sie mit einem fragenden Lächeln. »Zuerst waren sie Mitglied bei den konservativen Juristen, aber dann kam es wohl zu irgendwelchen Scherereien mit dem Vorstand. Zu der Zeit versuchten ja die Bolschewisten, unsere Universität zu übernehmen, weshalb Claes und sein guter Freund eine eigene Verbindung gründeten. ‘Juristen für ein freies Schweden’ nannten sie sich, glaube ich.« »Juristen für ein freies Schweden?« »Irgend so etwas in die Richtung«, sagte Vater Waltin und zuckte die Schultern. »Kann mich nicht mehr so genau daran erinnern. Es gab eine ganze Menge Verbindungen, bei denen mein Sohn damals Mitglied war. Falls Sie das interessiert.« »Können Sie sich noch an eine andere erinnern?«, fragte Holt unschuldig. »Keine, über die ich mit den Damen sprechen würde«, sagte Robert Waltin. Über seinen Sohn sprach er allerdings nur zu gerne. Zwei Stunden dauerten die Ausführungen über die guten Eigenschaften und Verdienste seines Sohnes, denen sie zuletzt selbst ein Ende bereiten mussten, weil ihr Taxi dastand und auf sie wartete. 358
»Ich darf mich sehr bei Ihnen bedanken, Herr Direktor Waltin«, sagte Holt und streckte zum Abschied die Hand aus. »Wenn irgendjemandem Dank gebührt, dann meinem Sohn«, sagte Robert Waltin. »So viel habe ich verstanden«, pflichtete Holt ihm bei. »Denn er hat dafür gesorgt, dass dieser Landesverräter erschossen wurde«, zischte Robert Waltin, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in dem Gebäude, in dem die Familie schon seit fünf Generationen wohnte. »Der alte Teufelsbraten behauptet also, dass sein Sohn an der Ermordung Palmes beteiligt war?«, sagte Johansson. »Woher will er das denn wissen?« »Unklar«, sagte Holt. »Mehr so ein Gefühl, wenn ich die Sache richtig verstanden habe. Das waren jedenfalls seine Abschiedsworte.« »Gefühl«, schnaubte Johansson, und just in diesem Augenblick entschied er sich dafür, dass es höchste Zeit für ein Gespräch mit dem altem Cerberus von Erik Berg war, Kommissar Persson. Einem richtigen Wachtmeister, der zu der Zeit, da es sich begab, dabei gewesen war. Persson wohnte in Rdsunda, in einem der alten Häuser aus der Jahrhundertwende, die oberhalb des Fußballstadions lagen. Dort lebte er in derselben kleinen Zweizimmerwohnung, in der er schon immer gelebt hatte, seit er sich zu Beginn der siebziger Jahre hatte scheiden lassen, um sich ausschließlich dem Polizistendasein widmen zu können. Das menschliche Wesen, mit dem er die meiste Zeit seines siebzigjährigen Lebens verbracht hatte, war der legendäre Bürochef der Säpo, Erik Berg, gewesen. Fünfundzwanzig Jahre lang Operativer Chef der Sicherheitspolizei, Johanssons Vorgänger im Amt und zwei Drittel seines gesamten Polizeilebens Perssons Chef. Berg und Persson kannten sich schon seit der Polizeischule und hatten sich in den sechziger Jahren ein paar Jahre lang den Vordersitz desselben Streifenwagens geteilt. Einen durchgängigen Vordersitz, wohlgemerkt, als die schwedische Streife noch in schwarzen Plymouths mit klopfenden V8-Motoren umhergefahren war. Noch 359
bevor Volvos und Saabs Einzug gehalten hatten. Zu einer anderen Zeit. Dann war Berg weitergezogen, hatte Jura studiert und war bei der Säpo gelandet, wo er schnell Karriere gemacht hatte. 1975 war er zum Operativen Chef der Sicherheitspolizei ernannt worden und damit derjenige, der in der eigentlichen Praxis über die Geheimdiensttätigkeit schaltete und waltete. Noch am Tag seiner Ernennung hatte er Persson angerufen und ihm angeboten, für ihn zu arbeiten und sein ergebener Gefolgsmann und Vertrauter zu werden..Sein einziger Vertrauter, was sich aus der Natur seines Auftrags einfach ergab. Eine Stunde später am selben Tag war Persson schon aus seinem Dienst als Ermittler bei der Abteilung für Diebstahlsverbrechen bei der Stockholmer Polizei ausgeschieden und hatte als Kommissar bei Berg angefangen, wo er den Rest seiner aktiven Zeit geblieben war. Vierundzwanzig Jahre später war er in Rente gegangen. Das Jahr, nachdem Berg aufgehört hatte und gleich darauf an Krebs gestorben war. Persson allerdings lebte immer noch und dachte gar nicht daran zu sterben. Leute seines Schlages starben nicht. »Schön, von dir zu hören, Lars«, sagte er, als Johansson ihn anrief. »Lange nicht mehr gesehen.« »Wollen wir uns nicht mal wieder treffen und was essen gehen?«, schlug Johansson vor. »In dem Fall aber bei mir«, sagte Persson. »Mit Männern gehe ich nie ins Restaurant. Außerdem halte ich diese verfluchte Musik dort nicht aus.« »Was hältst du von heute Abend?«, schlug Johansson vor. »Klingt ausgezeichnet. Habe auch gerade nichts Besseres vor«, sagte Persson. »Wie wär's mit schwach gesalzener Rinderbrust und hausgemachtem Rübenmus?« »Doch«, sagte Johansson, »das wär was.« Gibt's was Besseres?, dachte er. »Dann sagen wir sieben Uhr«, entschied Persson. »Wenn du Schnaps trinken willst, musst du ihn selbst mitbringen.« Man kann sich doch immer wieder wundern, dachte Johansson ein paar Stunden später, als er in der Küche von Perssons kleiner 360
Wohnung saß und sein Gastgeber gerade ihre Schnapsgläser zur Hälfte füllte. Beim ewigen Junggesellen Persson, der bekannt dafür gewesen war, bei der Arbeit ständig in demselben grauen Anzug, demselben vergilbten Hemd und demselben braun melierten Schlips umherzulaufen, egal zu welcher Jahreszeit, roch es zu Hause nach Putzmitteln und gebohnertem Fußboden, und alles war so adrett wie in einer altmodischen Puppenstube. Und auch nur unwesentlich größer, wenn man es genau nahm. Und weil Persson zweihundert Kilo wog und eine Größe von gut einem Meter neunzig hatte, sah es so aus, als ob ein Elefant im Porzellanladen herumliefe. Ein Elefant mit dem Koordinationsvermögen eines Balletttänzers und - was die Kochkunst betraf - mit derselben Souveränität, wie sie Johanssons geliebte Tante Jenny besessen hatte. Die in der guten alten Zeit im Stora Hotellet in Kramfors für den Ausschank verantwortlich gewesen war und sich um das leibliche Wohl von Holzbaronen und gewöhnlichen Forstaufsehern gesorgt hatte. »Wie geht's, Johansson? Denkst du darüber nach, ob du mir die Einrichtung abkaufen sollst?«, fragte Persson, der anscheinend seine Blicke bemerkt hatte. »Nun ja«, sagte Johansson. »Eher darüber, dass du es hier so ordentlich hast. Solche wie du und ich sind ja nicht gerade bekannt dafür.« »Ich hasse Unordnung«, sagte Persson. »Schon seit meinem Wehrdienst. Du sprichst also nur von dir selbst, Johansson.« »Erzähl mal«, nickte Johansson und goss ihnen ein drittes Schnäpschen ein. Persson hatte seinen Wehrdienst bei der Kriegsmarine abgeleistet. Nach den zu jener Zeit obligatorischen zehn Monaten war er noch ein paar Jahre als Offizier geblieben, bevor er abgemustert und sich bei der Polizei beworben hatte. Und so war es immer noch, obwohl er mittlerweile in Rente war. »Polizist wird man nicht«, sagte Persson. »Polizist ist man.« »Wenn man ein richtiger Wachtmeister ist, ja«, stimmte Johansson ihm zu. »Sonst weiß der Teufel. Warst du zu deiner Marinezeit auf einem U-Boot stationiert?« »Nein«, antwortete Persson. »Wie kommst du darauf?« 361
»Deine Ordentlichkeit«, sagte Johansson. »Wenn du an Bord eines U-Bootes deine Uniformjacke draußen liegen lässt, dann muss dein Kojennachbar doch auf dem Fußboden schlafen. So hab ich es jedenfalls gehört.« »Ja«, sagte Persson. »Verflucht eng, und das reichte für einen wie mich auch als Grund, es bleiben zu lassen. Obwohl ich ein paar Mal an Bord eines U-Bootes gewesen bin. War schon damals das reinste Elend, mich durch den Turm hinunterzuzwängen. Unter Klaustrophobie habe ich nie gelitten, aber wer entscheidet sich schon dafür, in zu engen Schuhen zu laufen? Ich hab mich meistens an Land aufgehalten. Habe als Sprengtechniker auf dem Flottenstützpunkt Berga gearbeitet. Wir haben uns mit alten Minen beschäftigt, die nach dem Krieg an die Oberfläche kamen. Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre konnte es vorkommen, dass wir mehrmals im Monat rausfahren mussten, um irgendeine arme Sau zu erlösen, der ein falscher Fang ins Netz gegangen war.« »Und da galt es Ordnung zu halten«, konstatierte Johansson. »Das will ich doch wohl meinen«, pflichtete Persson ihm mit einem schwachen Lächeln bei. »Wenn du nur eine halbe Umdrehung zu viel mit dem Schraubenzieher gemacht hattest, konnte es sich um deine letzte Tat gehandelt haben. Und wenn du die falschen Werkzeuge dabeihattest, konntest du nicht nach Gefühl und Wellenschlag vorgehen.« »Das kann ich mir vorstellen«, entgegnete Johansson. »Man lernt es«, sagte Persson und zuckte mit den Schultern. »Im Grunde ist es nicht schwieriger, als einen verstopften Abfluss zu reinigen. Du hast es im Gespür, wenn du es erst einmal gelernt hast. Nur die Konsequenzen fallen ein wenig anders aus, könnte man sagen. In den letzten fünfzig Jahren hat es sich jedoch meistens nur noch um Abflüsse und Stromleitungen gehandelt, um nicht die Haushaltskasse zu belasten, und ich werde mich nicht darüber beschweren. Handwerker machen außerdem einen entsetzlichen Dreck. Und lügen tun sie auch. Kommen nie zur verabredeten Zeit, selbst wenn sie 's versprochen haben. Wie, zum Teufel, würde das bitte aussehen, wenn du eine alte deutsche Mine hättest, die gegen die Beplankung deines Bootes schlägt? Prost übrigens!« »Prost«, sagte Johansson.
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Nach dem Essen hatten sie ihre Gürtel gelockert und sich ins Wohnzimmer gesetzt, um Kaffee zu trinken und über das zu reden, worüber richtige Polizisten immer redeten. Über andere richtige Polizisten, über solche, die niemals hätten Polizisten werden sollen, und über Verbrecher im Allgemeinen. »Ich bin vor einem Monat Jarnebring im Zentrum von Solna über den Weg gelaufen. Hatte ihn übrigens gebeten, dich zu grüßen. Er war wie immer, auch wenn er auf seine alten Tage Vater geworden ist.« »Jarnebring ist und bleibt Jarnebring«, sagte Johansson mit warmer Stimme. »Obwohl sich's bei ihm im Moment vielleicht ein bisschen zu viel um den kleinen Knaben dreht.« »Das geht doch so schnell«, seufzte Persson. »Unter anderem habe ich mich deshalb auch dafür entschieden, mir nie eigene Kinder anzuschaffen.« »Wie meinst du das?«, fragte Johansson. »Man gewinnt sie lieb«, sagte Persson. »Bei dir kam es auch nie zu einem neuen Wurf, oder?« »Nein, dazu ist es nie gekommen«, sagte Johansson. »Die ersten beiden sind mittlerweile ja schon groß. Haben mich beide zum Opa gemacht. Entschieden einfacher und ruhiger, wenn du mich fragst.« »Ja, da hast dus«, nickte Persson. »Ich hab ja schon immer gedacht, dass Kinder ein überschätzter Lebensinhalt sind. Die heutige Jugend ist ja auch völlig unbegreiflich. Apropos überschätzt. Was macht denn die Zentrale Kriminalpolizei? Stell ich mir nicht erfreulich vor, an der Stelle zu landen, wenn man vorher das Vergnügen gehabt hat, bei der Säpo zu arbeiten.« »Fünf Jahre Säpo haben gereicht«, sagte Johansson, lächelte und zuckte mit den Schultern. »Erik ist fünfundzwanzig Jahre da gewesen«, stellte Persson fest. »Bevor ihn der Krebs geholt hat. Was mich betrifft, so hätte er dort gerne für immer und ewig bleiben können.« »Obwohl du ja vor ihm aufgehört hast«, sagte Johansson. »Ja«, sagte Persson. »Das Jahr davor. Aber da war er bereits krank, und ich habe es wohl nicht ertragen, mit anzusehen, was mit ihm geschah. Jedenfalls nicht Tag für Tag. Aber wir hatten bis zum Schluss regelmäßigen Kontakt. Wir haben uns sogar mehrmals die Woche gesehen. Und ich habe ihn jeden Tag angerufen.« 363
»Übrigens, bekommst du denn die Palme-Sache in den Griff? Wird doch langsam Zeit«, fügte der Gastgeber hinzu und sah Johansson neugierig an. »Weshalb fragst du?«, fragte Johansson. »Hab da vor ungefähr einem Monat so etwas in den Zeitungen gelesen«, erklärte Persson. »Die Zeitungen«, schnaubte Johansson. »Das mit Palme sieht nicht so doll aus, wenn du mich fragst.« »Das hat es wohl noch nie getan«, sagte Persson. »Die Angelegenheit war wohl schon am ersten Tag zum Scheitern verurteilt.« »Obwohl da eine Sache ist, die mir Kopfzerbrechen bereitet«, sagte Johansson. »Weißt du was, Johansson«, sagte Persson und hob seinen Cognacschwenker. »Das hab ich mir fast gedacht.« »Waltin«, sagte Johansson. »Was glaubst du über die Sache mit Waltin?« »Waltin«, wiederholte Persson, sah Johansson an und schüttelte den Kopf. »Jetzt mache ich mir aber fast Sorgen um dich.« »Warum das?«, fragte Johansson. Waltin sei ein Geck, ein Laffe, ein Nichtsnutz gewesen. Feige noch dazu. So einer wie er könnte nie Palme erschossen haben. Außerdem stimmte er nicht mit der Täterbeschreibung überein. Jeder andere, aber nicht Waltin, und das nicht aus Sorge um seine Person. Waltin sei sicher raffiniert genug gewesen, wenn es sich um finanzielle Unregelmäßigkeiten und alles andere zwischen Himmel und Erde gehandelt hätte, sofern er ohne ein Risiko einzugehen ordentlich daran hätte verdienen können. Bei der Sicherheitspolizei sei darüber hinaus in den Fluren eine ganze Menge über Waltins Interesse an Frauen geflüstert worden und die seltsamen Formen, die dies annehmen konnte. »Gewiss«, sagte Persson. »Das eine oder andere Frauenzimmer hat er bestimmt ausgepeitscht. Mehrere, um es genau zu nehmen. Er war der Typ für so was. Ob er Palme erschossen hat? Nie im Le364
ben! Warum nicht? Er war nicht der Typ dafür. Er war ganz und gar der falsche Typ dafür«, sagte Persson. »Er muss ihn ja nicht unbedingt erschossen haben«, wandte Johansson ein. »Das habe ich auch nicht gesagt, und was das anbelangt, sind wir einer Meinung. Das ändert aber nichts daran, dass er auf irgendeine andere Weise mitgemischt haben könnte.« »Jetzt mache ich mir aber wirklich Sorgen um dich, Lars«, sagte Persson und schüttelte den Kopf. »Soll er etwa an irgend so einer Verschwörung beteiligt gewesen sein?« »Zum Beispiel«, sagte Johansson. »Dafür war er zu feige«, sagte Persson. »Außerdem war er zu faul, als dass er das hätte planen können. Waltin war der Typ, für den das Leben ein einziger Spaß war. Gerne mit anderen, die das ebenso sahen. Feine Leute, die schon mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurden. Wen sollte der kleine Laffe denn gekannt haben, der so etwas für ihn getan hätte?« »Weiß nicht«, sagte Johansson. »Hast du ein paar Vorschläge?« »Wenn du damit Kollegen meinst, dann kannst du das gleich vergessen«, wehrte Persson ab. »Es gab bei uns niemanden, der dazu in der Lage gewesen wäre, geschweige denn so jemanden wie Waltin auch nur mit der Zange angefasst hätte. Nicht bei uns oben. Außerdem solltest du eines wissen. Die Kollegen, die damals für den Personenschutz gearbeitet haben, haben Olof Palme wirklich gemocht. Sie hätten zwar keinen Gedanken darauf verschwendet, ihn zu wählen. Aber sie mochten ihn als Person. Auch wenn er als Bewachungsobjekt furchtbar anstrengend sein konnte.« »Wer hat denn deiner Meinung nach Olof Palme erschossen?«, fragte Johansson. »Irgend so einer wie Christer Pettersson«, sagte Persson. »Irgendein durchgeknallter, gewaltbereiter Arsch, der sich einen Dreck um die Konsequenzen geschert hat. Der die Gelegenheit ergriffen hat, als sie sich ihm bot. Vielleicht etwas strukturierter als Pettersson. Solche gibt es sicher zu Tausenden. All die Idioten, deren Garderoben voller Schusswaffen stehen, für die wir Polizisten ihnen auch noch eine Lizenz erteilt haben.« »Ich höre, was du sagst«, sagte Johansson. »Schön zu hören«, sagte Persson. »Darf ich dir noch einen guten Rat geben?« 365
»Der Rat eines weisen Mannes ist immer willkommen«, sagte Johansson. »Es reicht, wenn du auf einen alten Mann hörst, der sogar noch länger als du dabei gewesen ist«, sagte Persson, während er ihnen den letzten Rest aus der Cognacflasche einschenkte, die Johansson mitgebracht hatte. »Ich bin ganz Ohr«, sagte Johansson und nickte. »Lass die Finger von Palme«, sagte Persson eindringlich. »Der Fall ist uns schon vor mehr als zwanzig Jahren verloren gegangen.« »Hast ja Recht. Aber wenn ich mir das aussuchen dürfte, so würde ich am liebsten Leim aus dem Arsch kochen, der das getan hat«, sagte Johansson. »Wer würde das nicht gerne«, sagte Persson. »Das Problem mit uns Polizisten ist bloß, dass wir so etwas nicht machen dürfen, und in diesem Fall wissen wir noch nicht mal, wen wir in den Leimkessel stecken sollten.« Lass die Finger davon, dachte Johansson eine Stunde später, als er im Taxi auf dem Weg zu seinem Zuhause in Söder saß. Wenn du nur aufhörst, daran zu denken, dann hast du schon den ersten Schritt getan, dachte er. Claes Waltins polizeiliche Biografie nahm langsam Formen an. Vom Taufschein bis zum Totenschein. Von der Anzeige im Svenska Dagbladet und dem Foto von Klein-Claes und seinen Eltern bis zu den zwei Ermittlungsakten in einem Todesfall von der spanischen und schwedischen Polizei, die einen Schlussstrich unter sein irdisches Leben zogen. Keine Leuchte in der Schule, wie sein Vater Robert behauptet hatte. Vielmehr ein Schlitzohr. Gute Schulen, aber die ganze Schulzeit hindurch mäßige Noten. Bis auf die Noten in Benehmen und Ordnung, denn darin hatte er schon in der zweiten Klasse der Grundschule besonders schlechte Zensuren bekommen. Und das mit erst acht Jahren und obwohl er auf eine Privatschule ging. Was er sich wohl damals alles hat einfallen lassen?, überlegte Lisa Mattei.
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Während seiner Zeit beim Militär hatte sich das auf frappierende Weise geändert. Waltin hatte seinen Wehrdienst bei einer Eliteeinheit, den berittenen Jägern der Armee, bei Norrlands Dragonern in Umeä, abgeleistet, und als er nach fünfzehn Monaten als Sergeant aus dem Grundwehrdienst entlassen worden war, hatte er die besten Noten in sämtlichen Fächern vorzuweisen. Danach war alles wieder auf Durchschnitt zurückgegangen. Um sein juristisches Examen abzulegen, hatte er acht statt der üblichen vier Jahre benötigt. Hatte Palme sein Examen nicht sogar in zwei Jahren geschafft?, versuchte sich Lisa Mattei zu erinnern. Waltin schien, außer seinen Studien, jede Menge vorgehabt zu haben, was seine Zeit beanspruchte. Unter anderem das Vereinsleben. Kaum hatte er sich in der Juristischen Fakultät in Stockholm eingeschrieben, war er auch schon Mitglied bei den »Konservativen Juristen« geworden. Diesen hatte er nach nur einem Jahr den Rücken gekehrt und darum gebeten, seine Gründe ins Protokoll aufzunehmen. Der Verein war viel zu radikal für seinen Geschmack. Zusammen mit ein paar Gleichgesinnten hatte er stattdessen einen neuen Verein, eine Fraktion von Abtrünnigen, gegründet, die sich »Junge Juristen für ein Freies Schweden« nannten. Samt Versalien und allem, aber ein Verein, der bereits nach nur drei Zusammenkünften aufgelöst worden war. Der kleine Kommilitonenkreis aus vier jungen Jurastudenten, welche die Verbindung Fotzenfritzen gegründet hatten, war hingegen bedeutend langlebiger gewesen. Die Verbindung war im September 1966 zu Beginn des Herbstsemesters gegründet worden und war das restliche Jahrzehnt aktiv gewesen. Waltin schien ein äußerst aktives Mitglied gewesen zu sein. Er war »Schatzmeister« und »Weinkellerverantwortlicher« des Vereins gewesen und hatte sowohl 1966 als auch 1968 den Titel »Fotzenmeister des Jahres« gewonnen. 1969 war er aus Gründen, die keine Spuren in den Protokollen hinterlassen hatten, ausgeschlossen worden. Gründe, denen fast vierzig Jahre später die höchst kompetente Kriminalkommissarin Lisa Mattei in nur wenigen Tagen auf 367
die Spur kam. Und das ganz ohne die Hilfe des früheren Mitglieds der Verbindung, der inzwischen als Repräsentant für die Christdemokraten und als geschätztes Mitglied des Justizausschusses im Schwedischen Parlament saß. Mattei hatte zuerst Johansson um Erlaubnis für ein Gespräch gebeten, aber der hatte zu seinem Bedauern ablehnen müssen. »Du machst mir Sorgen, Lisa, wenn du so etwas sagst«, antwortete Johansson und starrte sie an. »Warum willst du mit ihm sprechen? Ich gehe davon aus, dass dir bewusst ist, dass er als Oberstaatsanwalt gearbeitet hat, bevor er im Parlament gelandet ist.« »Waltins Person, sein Hintergrund. Ich finde das hochgradig interessant«, wandte Mattei ein. »Ich könnte mir vorstellen...« »Das ist doch der reinste Blödsinn«, fiel Johansson ihr ins Wort. »Ein paar Rotzbengel und Studenten aus der Oberklasse in den sechziger Jahren, denen jegliches Urteilsvermögen fehlte. Welche Relevanz hat das für unseren Fall? Was, glaubst du, war der Grund für Palmes Ermordung? Glaubst du etwa, dass das irgendein Vergewaltigungsversuch war, der ausgeartet ist, oder was?« »Nein«, sagte Lisa Mattei. »Das glaub ich nicht. Aber ich denke, dass uns das eine Menge Aufschluss über Waltins Person geben könnte. Außerdem wurde Palme ja auch nur knapp zwanzig Jahre später ermordet. Diese Verbindung soll im Herbst 1966 gegründet worden sein, und Palme wurde am letzten Februartag 1986 erschossen.« »Vergiss es«, sagte Johansson, schüttelte den Kopf und zeigte mit der ganzen Hand auf die Tür seines Zimmers. »Und widersprich mir nicht«, sagte er warnend, als sie aufstand und ging Mattei hatte es nicht vergessen. Die Art, wie Johansson sie behandelt hatte, bewirkte das genaue Gegenteil. Ganz abgesehen davon, ob die Frage Relevanz besaß oder nicht. Außerdem hatte Waltins Vater ihr geholfen. Ohne auch nur das Geringste davon zu ahnen, als er dagesessen und über die feinen Freunde aus dem Gymnasium und der Studentenzeit geprahlt hatte und über den, der der
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Feinste von ihnen gewesen war. Der Bankier, Finanzier und Milliardär Theodor »Theo« Tischler. Könnte einen Versuch wert sein, dachte Lisa Mattei, und schon eine Stunde nach dem Gespräch mit Johansson hatte sie Tischler telefonisch erreicht und mit ihm ein Treffen in seinem Büro am Nybroplan für den nächsten Tag vereinbart, ohne Johansson um Erlaubnis zu bitten. Als Informant war er unschlagbar und unglaublich gewesen. Ein kleiner, quadratischer, kahlköpfiger Mann mit breiten roten Hosenträgern und äußerst wachen Augen, die sie von der anderen Seite seines genauso kleinen Schreibtisches völlig ungeniert gemustert hatten. Der Mann, der dem Tourette-Syndrom ein Gesicht gab, dachte Lisa Mattei, während das Tonbandgerät in der Brusttasche ihrer Kostümjacke sich so schnell drehte, wie es nur ging. »Claes Waltin«, sagte Tischler. »Was hat sich dieser Mythoman denn diesmal einfallen lassen?« »Ich vermute, Sie wissen, dass er schon vor vielen Jahren gestorben ist?«, sagte Mattei. »Das ist für jemanden wie ihn doch kein Hinderungsgrund«, stellte Tischler fest, und bereits fünf Sekunden später war er auf den Verein der Fotzenfritzen zu sprechen gekommen. Tischler hatte keinen wie auch immer gearteten Kontakt mehr mit Waltin gehabt, seit dieser im Frühjahr 1969 unter den Frauen, die die hauptsächliche Rekrutierungsbasis des Vereins ausgemacht hatten, ein bösartiges Gerücht über Tischler gestreut hatte. Den Schwesternschülerinnen des Sophiaheimes, des Roten Kreuzes und des Karolinska Krankenhauses. »Da haben wir schließlich am meisten Frischfleisch bekommen«, sagte Tischler. »Wäre das heute gewesen, hätte ich ihn wegen Vorspiegelung falscher Tatsachen verklagt. Ich hatte eine schreckliche Zeit, bis ich den Markt wieder betreten konnte.« »Was hatte er denn gesagt?«, fragte Lisa Mattei mit treuherziger Miene. »Dass ich einen Schwanz hätte, der so groß wie der von Jiminy Grille sei, dem Grashüpfer von Pinocchio«, sagte Tischler und grinste entzückt. 369
Ob da wohl was dran war?, dachte Mattei zur gleichen Zeit, als sie bedauernd ihren blonden Kopf schüttelte. »Jetzt fragen Sie sich bestimmt, ob da wohl was dran war«, fuhr Tischler fort. Nicht die Spur, selbstverständlich. Nur eine böse Zunge, die alles versucht hatte, den werdenden Bankier daran zu hindern, der rechtmäßige Gewinner des Fotzenmeisterpokals zu werden. Deshalb habe er sich auch mit den anderen beiden Mitgliedern des Vereins verbündet und seine schon zu jener Zeit ansehnlichen finanziellen Muskeln spielen lassen und so den fiesen Verleumder Waltin zu Fall gebracht. »Es war von Anfang bis Ende erstunken und erlogen«, sagte Tischler. »Falls Sie mir nicht glauben, kann ich Ihnen die Namen von einigen meiner alten Kameraden bei den Pfadfindern geben, dann können die Ihnen erzählen, wie man mich genannt hat, als ich dort Mitglied war. Alle Pfadfinderleiter waren damals Schwule und Pädophile, wir kleinen Knaben mussten also immer nackt baden, wenn wir draußen im Pfadfinderlager waren. Und dort haben meine Freunde mich auch Esel getauft«, verdeutlichte Tischler. »Esel?«, wiederholte Mattei. »Man hat mir viele Spitznamen gegeben, aber mich nie der Dummheit beschuldigt«, stellte Tischler fest. »Also es handelte sich nicht um den oberen Teil des Esels«, sagte er und nickte erklärend zu seinem Schritt, der von seinem Schreibtisch verdeckt wurde. Ob Waltin ein sexueller Sadist gewesen sei? Selbstverständlich, laut Tischler. Ein weiterer Grund dafür, dass er ausgeschlossen worden war. Waltin hatte Fotzen gehasst, daher auch sein unersättlicher sexueller Appetit und die Formen, die dieser annahm. »Hat dem Namen der Verbindung und dessen gutem Ruf geschadet«, sagte Tischler. »Klar, dass so einer nicht mehr dabei sein konnte.« Ob es noch anderes Berichtenswertes über Waltin gebe? Abgesehen davon, dass er ein sexueller Sadist gewesen sei? 370
Unendlich viel, so Tischler, der in der folgenden Stunde der Reihe nach aufzählte, wie Claes Waltin einen Hund vergiftet hatte, sich der Brandstiftung mit Todesfolge schuldig gemacht hatte, Gegenstände aus seinem Elternhaus gestohlen hatte und auf frischer Tat ertappt worden sei, als er sich beim Betrachten eines Fotos von Tischlers eigener Mutter heimlich einen runtergeholt hatte, und schließlich einen Revolver im Werkraum der Schule hergestellt und schon tags darauf mit derselben Waffe einem Klassenkameraden in den Hintern geschossen hatte. Und das sei alles nur ein Axthieb aus seiner Realschul- und Gymnasialzeit. Es gäbe noch unendlich viel mehr, wenn sie noch genug Kraft hätte zuzuhören. Als Waltin zuerst einen Hund vergiftet und danach den Hof des Hundebesitzers niedergebrannt hatte, sei er gerade mal fünfzehn fahre alt gewesen. »Waltins verrückte Mutter besaß einen größeren Hof außerhalb von Strangnäs. Wir Schulfreunde waren manchmal da, wenn wir entspannen wollten. Bier trinken, ein paar gute Songs spielen und den lokalen Talenten die Brüste kneten. Mutter Waltin war immer völlig weggetreten, besser konnte es also gar nicht sein. Ein Stück entfernt wohnten auf einem abgetrennten Grundstück zwei Rentner, über die Claes sich geärgert hatte. Unter anderem, weil sie einen Hund besaßen, den sie immer frei umherlaufen ließen, aber vor allem, weil ihr Häuschen so unansehnlich und armselig war. Also fällte er den Entschluss, etwas daran zu ändern.« »Was hat er dann gemacht?«, fragte Mattei. »Zuerst spendierte er dem armen Hund Rattengift, das er in ein ganz dünnes Steak gewickelt hatte, das die einfältige Haushälterin für Klein-Claes in der Östermalmshalle gekauft hatte. Der Hund fraß es, ging nach Hause, legte sich in den Hauseingang und starb. Das Problem war, dass Herrchen und Frauchen nicht das Geringste begriffen hatten. Sie schafften sich also einfach einen neuen Hund an. Claes musste die Sache also erneut in Angriff nehmen. Deshalb schlich er eines Nachts rüber und zündete ihr Haus an, während sie schliefen. Glücklicherweise schafften sie es, rechtzeitig rauszukom371
men, aber ihr Haus und all ihr Hab und Gut verbrannten. Danach zogen sie weg.« »Woher wissen Sie das?«, fragte Mattei. Denn du warst doch wohl nicht dabei, dachte sie. »Er hat in der Penne damit geprahlt«, sagte Tischler. »Zuerst hatte ich ihm nicht geglaubt, aber als ich das nächste Mal da unten war, konnte ich mich ja selbst davon überzeugen, was passiert war. Von der Bude war nur noch der Schornstein übrig. Dass die Töle tot war, wusste ich ja schon.« Zwei Jahre davor waren Tischler und seine Familie selbst Opfer von Tischlers Klassenkameraden Claes Waltin und dessen ungehemmten, verbrecherischen Neigungen geworden. »Vermutlich hatte er, als er bei mir zu Hause war und meine Zinnsoldaten geköpft hat, einen Schlüssel zu unserer Wohnung geklaut. An einem Wochenende, als wir uns auf dem Lande befanden, war er eingebrochen und hat allerlei gestohlen. Unter anderem mopste er eine Nacktaufnahme meiner Mutter aus einem Fotoalbum. Mein Vater hatte sie fotografiert, als sie nackt gebadet hatte, und das Foto war selbstverständlich nur für private Zwecke bestimmt.« »Aber Sie haben trotzdem weiterhin mit ihm Umgang gepflegt?«, fragte Mattei. »Ich bin ihm erst ein Jahr später auf die Schliche gekommen, als er im Umkleideraum der Turnhalle stand und beim Betrachten des Fotos meiner kleinen Mama gewichst hat. Bis dahin war uns nichts aufgefallen. Er hatte bestimmt auch Wein und ein bisschen Schmuck gestohlen. Aber nichts, was meine Eltern vermisst hatten.« »Was haben Sie gemacht? Als Sie ihn erwischt haben?« »Ich hab ihm eine runtergezogen. Habe das Foto wieder an mich genommen und es zurück ins Fotoalbum geschmuggelt. Mein Vater hatte es noch nicht einmal vermisst. Es war ein Jahr, bevor sie geschieden wurden. Claes entschuldigte sich. Erzählte lang und breit eine Geschichte, wie schrecklich seine eigene Mutter war und dass er meine Mutter liebte und so weiter.« »Sie haben ihm also vergeben?«
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»Ich bin schon immer ein sehr netter Mensch gewesen«, stellte Tischler mit einem zufriedenen Seufzer fest. »Viel zu nett vielleicht. Alle liebten meine Mutter, also verzieh ich ihm.« Das mit dem Revolver und dem Schulkameraden, dem ins Gesäß geschossen worden war, hatte ihrer Freundschaft auch keinen Abbruch getan. Außerdem war Tischler selbst darin verwickelt gewesen. Waltin hatte in einem Sportgeschäft eine handelsübliche Startpistole gekauft. Hatte den Lauf im Werkraum aufgebohrt und sie auf diese Weise in einen Revolver vom Kaliber .22 verwandelt. Salongewehrmunition hatten sie von Tischlers Vater gestohlen, der sonntags auf die Jagd ging, wenn er nicht gerade seine Weiberbekanntschaften traf. »Ich selbst habe unten im Werkraum Schmiere gestanden, während Claes da stand und bohrte«, berichtete Tischler. »Ich hätte allerdings nie vermutet, dass er sie dazu benutzen würde, einem unserer Schulkameraden damit in den Hintern zu schießen.« »Warum hat er das denn gemacht?« »Das Opfer des Verbrechens war ein richtiges Original. Das ist er übrigens immer noch. In der Klasse nannten wir ihn Arschhermann, Nils Hermansson, von dem Sie vielleicht schon gehört haben. Das ist dieser Finanzkuckuck, der Leute um ihr Geld betrügt, indem er ihnen so genannte ethische Fonds aufschwatzt. Glauben Sie mir, Herzchen, Alkohol, Tabak, Waffen, Spielhöllen und Puffs haben schon immer die höchsten Renditen abgeworfen. Auf lange wie auch auf kurze Sicht, also hüten Sie sich vor solchen Figuren. Wir wollten ihm nach der Penne Angst einjagen. Der Feigling rannte davon. Claesi feuerte einen Schuss ab. Glaube sogar, dass er absichtlich auf seinen Hintern gezielt hat. Nisse Hermansson hat immer schon einen großen Arsch und einen kleinen Kopf gehabt.« »Was geschah dann mit ihm?« »Wir halfen ihm, die Kugel rauszupulen. Neugierig waren wir wohl auch. Nahmen die Gelegenheit wahr, einen genaueren Blick darauf zu werfen, wo wir schon mal die Chance dazu hatten. Wie ich schon sagte, wurde er Arschhermann genannt, als wir in die Penne gingen. Wir zogen ihn also auf die Schultoilette und leisteten erste Hilfe. War eigentlich nicht weiter schlimm gewesen. Er hatte 373
eine lange Jacke und dicke Hosen getragen, es war draußen Winter. Die Kugel war nur ein paar Zentimeter tief eingedrungen. Er hat ziemlich geblutet, aber das war's dann auch schon. Claes' Revolver war zum Glück nicht so hervorragend gewesen, wie er gehofft hatte. Nisse hielt dieses eine Mal ausnahmsweise den Mund. Jammerte am meisten wegen seiner Jacke und seiner Hose, aber dafür hatten wir eine Lösung. Ich durchsuchte extra noch mal die Taschen meines Vaters. Einmal hatte ich sieben Tausendkronenscheine gefunden, die er bei einer Zechtour in der Brusttasche seines Smokings vergessen hatte. Viel Geld zu jener Zeit.« Also nur ein harmloser Dumme-Jungen-Streich, dachte Mattei. »So, da haben Sie einen kleinen Axthieb. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie mehr hören möchten. Gibt noch unendlich viel mehr«, beendete Tischler seine Ausführungen. »Ich glaube, für dieses Mal reicht's mir«, sagte Mattei und sah sicherheitshalber auf die Uhr. »Der Pokal«, rief Tischler plötzlich aus. »Wie konnte ich den bloß vergessen? Bevor Sie gehen, müssen Sie unbedingt noch einen Blick auf unseren alten Pokal werfen.« Tischler hatte den Pokal mitgenommen, als sich der Verein der Fotzenfritzen so nach und nach aufgelöst hatte. Völlig legitim, weil er es gewesen sei, der das finanzielle Rückgrat der Verbindung gebildet habe. Die meisten von ihnen hatten ihr Examen bestanden und wollten neue Lebenswege einschlagen. Der Verleumder Claes Waltin war da bereits ausgeschlossen gewesen. Ein circa dreißig Zentimeter großer Pokal aus Neusilber. Die Spitze krönte ein Deckel mit einer nackten Frauengestalt, die nicht im Geringsten unanständig aussah, sondern vielmehr keusch wirkte. »So ein typischer Sportpokal. Wenn ich raten soll, ein Pokal fürs Mädchenschwimmen. Claes hatte ihn bei Sporrongs gekauft, aber sie hatten sich geweigert, die Gravur auszuführen, also musste ich das mit Hilfe eines alten Goldschmiedes, den ich kannte, erledigen. Er fertigte heimlich einen Haufen Krimskrams für die verschiedenen Sekretärinnen meines umtriebigen Alten an.« Wie klug von Sporrongs, dachte Lisa Mattei, als sie den Text las. Zuoberst der Name der Verbindung in zierlichen Versalien: »Ver374
ein der Fotzenfritzen«. Darunter der Name des Mitglieds, das den Titel »Fotzenmeister des Jahres« gewonnen hatte: zuerst Claes Waltin, 1966. Danach Alf Thulin, mittlerweile Bürgerlicher Parlamentsabgeordneter und Ex-Oberstaatsanwalt, mit dem sie nicht hatte sprechen dürfen. Er hatte denselben Titel auch 1967 erobert. 1968 dann erneut Claes Waltin. 1969 der Mann, mit dem sie gerade sprach, ohne dass sie Johansson vorher um Erlaubnis gebeten hatte. 1970 dann ein seit langem verstorbener Wirtschaftsjurist, Sven Erik Sjöberg. »Tolles Ding, was?«, sagte Tischler und lächelte übers ganze Gesicht. »Wissen Sie übrigens, wer das ist?«, fragte er und zeigte auf den Preisträger des Jahres 1967. »Ja«, erwiderte Mattei. »Wenn es der ist, den ich meine.« »Ist schon immer ein verdammter Heuchler gewesen«, sagte Tischler und grinste zufrieden. »Sah schon damals verflucht hässlich aus, besaß aber ein phänomenales Talent dafür, die Mädels flachzulegen. Frage mich, wie viel ihm der Pokal heute wohl wert wäre?« Frage mich, wie viel ihm der Pokal heute wohl wert wäre, wiederholte Lisa Mattei in Gedanken, als sie auf dem Weg zurück zum Polizeigebäude in der U-Bahn saß. Und ich frage mich, was Lars Martin Johansson wohl sagen würde, wenn ich ihn darum bitten würde, einen Blick auf den Hintern des Börsenmaklers Nils Hermansson zu werfen, dachte sie. Statt um Erlaubnis zu bitten, fasste sie ihre Unterredung mit Tischler schriftlich zusammen und schaute, bevor sie nach Hause ging, bei Johansson vorbei und bat ihn, ihre Zusammenfassung zu lesen. »Ich dachte, wir hätten die Sache schon abgehakt«, brummelte Johansson. »Lies einfach nur, was Tischler zu sagen hatte, Chef. Bevor du mich runter in die Tiefgarage schickst.« »Zur Hölle«, sagte Johansson fünf Minuten später. »Das ist nicht der übliche Quatsch. Das hier ist etwas anderes. Das mit dem Köter, 375
der Brandstiftung und diesem Arschhermann gefällt mir nicht. Wir müssen wohl die alten Zeugenaussagen von den Schüssen im Sveaväg noch mal rausholen. Ich will alles wissen, was die Zeugen über das Aussehen des Täters gesagt haben. Und dann will ich diese Expertise der Techniker über den Schusswinkel und die vermutliche Größe des Täters haben.« »Ich hab mir das schon angeschaut«, warf Mattei ein. »Du kannst sie natürlich auch bekommen, aber ich glaube nicht, dass das nötig ist.« »Weshalb nicht?«, fragte Johansson. »Es kann nicht Claes Waltin gewesen sein«, sagte Mattei und schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Er war viel zu klein. Mindestens zehn Zentimeter zu klein.« »Danke, Lisa. Ich verzeihe dir«, sagte Johansson. Sie ist wie ich, dachte er. Wenn sie etwas weiß und so aussieht, dann ist das einfach so. »Eine Sache noch, wenn du Zeit hast«, sagte Lisa Mattei. »Selbstverständlich«, Johansson nickte. »Setz dich doch bitte.« »Danke«, sagte Lisa Mattei und nahm Platz. Bei der erneuten Durchsicht der Aussagen der Augenzeugen zum Mord im Sveaväg war Lisa Mattei ein Umstand aufgefallen, der im Hinblick auf das Vorherige möglicherweise interessant sein könnte. »Ich bin ganz Ohr«, sagte Johansson. »Du erinnerst dich doch sicher noch an den Zeugen, den Lewin in der so genannten Zeugenkette Zeuge 1 genannt hat. Derjenige, der sich in der Tunnelgata zwischen den Baubaracken versteckt, den Täter vorbeiflitzen sieht, die Treppen hoch...« »Ich erinnere mich«, fiel Johansson ihr ins Wort. »Das erste Verhör mit Zeuge 1 wird bereits in der Mordnacht abgehalten. Da gibt er seine Täterbeschreibung ab. Danach, in den darauffolgenden zehn Jahren, wird eine weitere große Anzahl an Vernehmungen mit ihm geführt. Sogar nachdem der Staatsanwalt Unterstützung für seinen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens bekommen hatte. Über das erste Verhör hinaus macht das insgesamt acht Vernehmungen.« »Klingt angemessen«, sagte Johansson. »Was ist das Problem?« »Dass er Christer Pettersson kannte«, sagte Mattei. »Sie wohnten in derselben Gegend, und Zeuge 1 wusste nur zu gut, wer Christer 376
Pettersson war. Kannte ihn schon vor dem Mord an Palme, wusste, wie er aussah und was Pettersson für ein Mensch war.« »Aber es war nicht Christer Pettersson, den er in der Gasse vorbeilaufen sah«, sagte Johansson und lächelte. »Antwort, nein«, sagte Mattei. »Das erste Mal, dass er Pettersson erwähnt, ist gut zwei Jahre später, als er speziell zu Pettersson vernommen wird. Da erst gibt er zu Protokoll, dass er Christer Pettersson kannte.« »Und dass es nicht er gewesen war, den er in der Mordnacht gesehen hatte.« »Er geht vorsichtiger vor«, sagte Mattei. »Zuerst erzählt er das von Pettersson, und dann erläutert er, dass er ihn nicht mit dem Mann, der vorbeigelaufen war, in Zusammenhang gebracht hatte. Weder spontan mit der Beobachtung, noch später, als er Pettersson in der Gegend, in der er wohnte, über den Weg gelaufen sei. Er meinte, er müsste ihn wiedererkannt haben, wenn er es denn gewesen sein sollte.« »Gut, Mattei«, sagte Johansson. »Im Unterschied zu diesem Lahmarsch, der das erste Verhör mit ihm führte, hast du gerade richtige Polizeiarbeit geleistet. Du hast dir hiermit einen kleinen Goldstern verdient.« »Ich hatte auf einen großen gehofft«, entgegnete Mattei. »Nichts da«, sagte Johansson. »Ich habe nie an Pettersson als Täter geglaubt. Falscher Typ. Das hab ich vom ersten Augenblick an begriffen, und das mit Zeuge 1 hab ich schon vor fast zwanzig Jahren entdeckt.« »Trotzdem danke, Chef«, sagte Lisa. »Gern geschehen«, sagte Johansson. »Dieser Verein da«, sagte er und nickte Mattei zu. »Ich bin ganz Ohr«, sagte Mattei. »Stell fest, wer die Mitglieder waren, und sieh nach, ob du sie im Ermittlungsmaterial findest.« »Gibt's einen bestimmten Grund dafür?« »Nein«, sagte Johansson und zuckte mit den Schultern. »Ich tue mich bloß schwer mit solchen Figuren.« Abends, als sie und Johan in ihrem Bett in ihrer viel zu großen Wohnung lagen, die ihr lieber Papa ihr geschenkt hatte, erzählte sie von Claes Waltin, ohne zu sagen, wie er hieß oder weshalb sie ge377
zwungen war, sich für ihn zu interessieren. Erzählte einfach nur alles, was sie über ihn gehört hatte. »Sexuelle Grenzüberschreitung«, stellte Johan fest. »Es gibt eine Menge Rollenspiele auf diesem Gebiet. Aber hier liegt die Sache anders. Hier ist es was Ernstes. Echter Frauenhass.« »Keine Grenzüberschreitung«, Mattei schüttelte mit dem Kopf. »Auf mich wirkt er, als ob er keine Grenzen kannte oder vielleicht eher grenzenlos. Nicht unmoralisch, vielmehr amoralisch. Als ob er keine Moral kannte. Die einzigen Hemmungen, die er gehabt zu haben schien, waren solche, die ihn daran hinderten, verhaftet zu werden.« »Das reicht nicht«, sagte Johan und schüttelte den Kopf. »Wir sprechen von einem bösen Menschen. Einem bösen und intelligenten Menschen. Kennst du Patricia Highsmiths Bücher über den talentierten Mr. Ripley?« »Geht so«, sagte Mattei. »Ich hab keines gelesen.« »Ich habe einen guten Film, den wir uns, wenn du magst, anschauen können. Mit Alain Delon in der Hauptrolle des Mr. Ripley. Es gibt mehrere Verfilmungen, aber diese ist die beste, wenn man sich für einen bösen Psychopathen interessiert. Nicht alle Psychopathen sind nämlich böse, wie du bestimmt weißt.« »Das machen wir dann später«, sagte Lisa Mattei und streckte sich auf dem Bett aus. »Jetzt lassen wir uns etwas anderes einfallen, finde ich.« Etwas ganz Normales, Tolles, das gerade so auf der Grenze ist, dachte sie.
Mallorca, in den neunziger Jahren. Die Esperanza war nicht nur ein Boot. Die Esperanza war auch eine Versicherung, die ihn schützen sollte, falls etwas Unerwünschtes eintreffen würde. Die Esperanza, die stark genug, ausdauernd genug war, ihn sowohl auf die spanische, französische oder afrikanische Seite des Festlands zu tragen. Oder nach Korsika, wo es mehrere wie ihn gab und zumindest einen, dem er bedingungslos vertraute. Die Esperanza war auch ei378
ne Erinnerung. Eine ständige Erinnerung an den einzigen Fehler, der ihm in seinem Leben unterlaufen war. Nur Toren verließen sich aufs Schicksal. Nur Toren legten ihr Leben in die Hände eines anderen. Er war immer sein eigener Herr gewesen. Jederzeit in der Lage, jede unerwartete Situation zu meistern und sehr schnell die Kontrolle über sein Leben zurückzuerobern. Eine starke Strömung bahnte sich ihren eigenen Weg durch das Meer und schlug Wellen, das hatte schon sein Vater gesagt. Wie er selbst. Bis zu dem Tag, als er einem anderen Menschen vertraut und sich von ihm abhängig gemacht hatte. Gar sein Leben in dessen Hände gelegt hatte. Der einzige Fehler, den er in seinem ganzen Leben begangen hatte und der mit Fug und Recht als Fehler bezeichnet werden konnte. Natürlich hatte er ihn ausgebügelt. Hatte sich dafür entschieden, als er es kommen sah, dass derjenige, von dem er abhängig war, langsam in seinem eigenen, selbstverschuldeten Elend versank und ihm nicht länger zu trauen war. Diese unablässige Wachsamkeit, die sich anzueignen selbst die Motorradgangster der Hell's Angels Verstand genug besessen hatten und sogar zu ihrer Lebensregel gemacht hatten. Die Regel, dass drei Menschen ohne weiteres ein Geheimnis bewahren können, wenn zwei von ihnen tot sind. Für ihn war das einfacher gewesen, weil sie von Anfang an nur zu zweit gewesen waren. Also hatte er sein Problem gelöst. Hatte dafür gesorgt, seine Einsamkeit zurückzuerlangen und die Macht über sein Leben zurückzuerobern, und die Unruhe, die von Beginn an seine Begleiterin gewesen war, hatte er bewältigt, indem er die Esperanza gebaut hatte. Als eine Versicherung gegen das Unerwünschte und als eine ständige Erinnerung daran, seinen Fehler nicht zu wiederholen. Er hatte seine Genugtuung noch nicht einmal planen müssen. Er vermied es, Pläne zu schmieden, je durchdachter sie waren, desto größer war die Chance, dass einem ein Zufall, etwas Unkontrollierbares widerfuhr, das alle Pläne mit einem Mal über den Haufen warf. Er hatte es einfach so gemacht, wie er es immer tat. Hatte das Ziel vor Augen gehabt, einen schlichten Handlungsrahmen als 379
Rückhalt, hatte auf die Gelegenheit gewartet und sie beim Schopfe gepackt. Das war seine große Stärke. Die Gelegenheit beim Schopfe zu packen. Eben das hatte er an jenem Morgen getan, als er ihn am Strand unterhalb des Hotels gesehen hatte. Hatte die Gelegenheit beim Schopfe gepackt, weil er ganz allein gewesen war, kein Mensch in seiner Nähe zu sehen war und er dann nicht länger warten musste. Da war er in dem Boot, das er gemietet hatte, aufgestanden. Hatte ihm zugewinkt, gesehen, wie er auf ihn zuschwamm, hatte seine Hand ergriffen und ihm an Deck geholfen. Dann hatte er seine Einsamkeit, seine Freiheit zurückerlangt. Danach hatte er sich dazu entschlossen, die Esperanza zu bauen und sie nie mit so etwas zu beschmutzen, was er gerade hatte tun müssen. Heute dachte er nicht einmal mehr daran. Nicht fünfzehn Jahre später, nicht jetzt, wo alles vorbei war und ihm nichts mehr etwas anhaben konnte. Einmal war keinmal für den, der sein eigener Herr war, und die anderen Male, bei denen er von Anfang an allein gewesen war, hatten ihm nie Sorgen bereitet. Er und die Esperanza. Ein schönes kleines Boot, eine Versicherung, eine ständige Erinnerung. Mittwoch, der 19. September, noch drei Wochen bis zum 10. Oktober. Hauptquartier der Zentralen Kriminalpolizei auf Kungsholmen in Stockholm. Ihre übliche Besprechung war kurzfristig abgesagt worden. Johansson war verhindert und hatte per Telefon mitteilen lassen, dass er von sich hören ließe, sobald er Zeit hätte, spätestens aber am Nachmittag. Was die weitere Arbeit beträfe, so wolle er immer noch den Namen des Arsch haben. Am liebsten sofort, aber spätestens bis zum Wochenende. Holt und Lewin sollten die Dokumentation über Waltin beenden. Sie hatten sich gemeinsam darauf geeinigt, dass Lewin die Schreibtischarbeit erledigen sollte, während Holt sich um die Feldarbeit kümmerte. Sie hatte das Gefühl, dass sie einmal rauskommen und sich bewegen musste. 380
Bevor Mattei ins Archiv der Palmeermittlung zurückkehrte und sich wieder der Polizeispur widmete, war sie Johanssons Wunsch nachgekommen und hatte einen Registerdurchlauf mit den vier Mitgliedern des Vereins »Fotzenfritzen« gemacht, der 1966 gegründet, aufgelöst, beendet und fünf Jahre später im Sande verlaufen war. Zuerst hatte sie die Namen und Personennummern aller vier Mitglieder in alphabetischer Reihenfolge, ihres Nachnamens nach, eingegeben: den Juristen Sven Erik Sjöberg, nach langer schwerer Krankheit im Dezember 1993 verstorben. Den ehemaligen Oberstaatsanwalt Alf Thulin, inzwischen Parlamentsmitglied für die Christdemokraten, Mitglied des Justizausschusses im Parlament und von den Medien ab und an als möglicher Justizminister aus den bürgerlichen Reihen ins Gespräch gebracht. Den Bankier Theo Tischler, der schon seit vielen Jahren in Luxemburg gemeldet war. Und schließlich Claes Waltin, ehemaliger Polizeioberintendent der Säpo, im Herbst 1992 im Norden von Mallorca ertrunken. Danach brauchte sie nur noch auf die richtigen Tasten des Rechners zu drücken, und eine Viertelstunde später schon saß sie mit drei Namen und etwa zehn Hinweisen zu Ermittlungsakten da, auf welche sich die Treffer gründeten. Der Wirtschaftsjurist Sven Erik Sjöberg war bei zwei Gelegenheiten wegen seiner möglichen Verbindungen zu der »Indischen Waffenspur« oder »Boforsaffäre« vernommen worden. Er war viele Jahre lang als Jurist bei Bofors tätig gewesen, hatte sogar einige Jahre im Aufsichtsrat gesessen. Zur Ermittlung des Mordes an Olof Palme hatte er in der Sache nichts beisteuern können. Seine persönliche Meinung war darüber hinaus, dass jede Behauptung - in dem Hinblick, dass die Ermordung des Ministerpräsidenten auch nur irgendetwas mit dem Kanonenverkauf des Unternehmens an den indischen Staat zu tun haben könnte - »völlig unsinnig« sei. Das getätigte Geschäft stünde auf eigenen, festen Beinen. Bofors' 155-Millimeter-Feldhaubitze mit langer Reichweite seien die unschlagbar besten Artilleriegeschütze auf dem Markt. So einfach sei das, und man könne die Inder nur zu ihrer guten Wahl beglückwünschen. 381
Wenn es sich jedoch darum handelte, in Geschäftsgeheimnisse, Verteidigungsgeheimnisse oder Geheimnisse zwischen zwei einander freundschaftlich gesinnten Nationen herumzuforschen, sollten sie sich einen anderen suchen. Die Kriegsmaterialinspektion, das Verteidigungsministerium, das Außenministerium oder die schwedische und die indische Regierung. Dieser Teil der Angelegenheit war danach vom damaligen Generalstaatsanwalt abgeschrieben worden, der zu dem Zeitpunkt der formelle Leiter des Ermittlungsverfahrens zum Mord am Ministerpräsidenten gewesen war. Oberstaatsanwalt Alf Thulin hatte in den Sommerferien bei der Staatsanwaltschaft als einer der »Good Guys« die Vertretung übernommen. Unter anderem für den Kollegen, der im Sommer 1990 Leiter des Ermittlungsverfahrens der Palme-Einheit gewesen war. Später war er erneut als Experte und Sachverständiger für eine der vielen Ermittlungskommissionen, die die Regierung eingesetzt hatte, tätig geworden. In einem Besprechungsprotokoll dieser Kommission, die aus unklaren Gründen in einem Ordner der Palme-Einheit gelandet war, hatte er auch seiner überzeugten Auffassung, die Sachlage betreffend, Ausdruck gegeben. Es sei Christer Pettersson gewesen, der Olof Palme ermordet hätte, und worum es nun »im Wesentlichen ging« wäre, einen Wiederaufnahmeantrag zu stricken, mit dem sich der Oberste Gerichtshof beschäftigen könne. Der Bankier Theo Tischler war aufgrund verschiedener Hinweise, die von einer Gruppe von Privatermittlern im Palmemord eingegangen waren, in der Ermittlung gelandet. Den Hinweisen zufolge sollte er engen Kontakt zu Polizeichef Hans Holmer gehabt haben, sogar nachdem dieser als Ermittlungsleiter entlassen worden war. Selben Gewährsleuten zufolge sollte Tischler Holmer unzählige Millionen angeboten haben, damit dieser an der so genannten Kurdenspur weiterarbeitete. Also eine vollkommen falsche Fährte, die Holmer und seine Freunde ausgelegt hatten, um den tatsächlichen Täter zu schützen, was jeder halbwegs intelligente Privatdetektiv schon von Anfang an kapiert hätte. 382
Tischler war im Sommer 2000 zu Aufklärungszwecken dazu vernommen worden, gut vierzehn Jahre nach dem Mord. Auch er hatte kein Blatt vor den Mund genommen. Holmer sei er noch nie begegnet, und er habe ihm erst recht kein Geld gegeben. Er hätte diese Frage allerdings nur ein Jahr nach dem Mord von einem gemeinsamen Bekannten gestellt bekommen. Nachdem er mit seinen eigenen Kontakten »in der sozialdemokratischen Bewegung und im Umkreis der Regierung« gesprochen hatte, habe er sich jedoch dafür entschieden, Holmer und seinen Verbündeten nicht eine müde Krone zu geben. Abschließend hatte er dann noch den beiden Vernehmungsleitern zu der Schnelligkeit, mit der sie diesen Fall zu bearbeiten schienen, gratuliert. »Wenn ich meine Geschäfte so machte, wie die Herren ihre Polizeiarbeit betreiben, würde ich schon seit dreißig Jahren im Armenhaus sitzen.« Der eine Vernehmungsleiter hatte Tischlers Einstellung beklagt. Er und seine Kollegen hätten alles getan, was in ihrer Macht stünde, und die Mühlen der Gerechtigkeit mahlten bekanntlich langsam. »Traurig zu hören, dass der Herr Bankdirektor diese Einstellung besitzt«, äußerte der Vernehmungsleiter. »Ich bin Bankier«, sagte Tischler. »Nicht irgend so ein verdammter Bankdirektor, denn dann hätte ich mich genauso gut bei der Polizei bewerben können.« Der einzige von den vieren, der nicht per Tastendruck in Matteis Computer auftauchte, war Claes Waltin, was aber nicht so schlimm war, weil Lewin ihn ja sowieso schon gefunden hatte. Danach widmete sie sich wieder der Polizeispur. Auftrag: Jemanden zu finden, der Waltin kannte. Jemanden zu finden, der groß genug war, um mit den Zeugenaussagen übereinzustimmen. Jemanden zu finden, der in der Lage war, einen Ministerpräsidenten auf offener Straße und mit annähernd zehn Zeugen in unmittelbarer Nähe zu erschießen. Jemanden zu finden, der raffiniert genug war, mit heiler Haut vom Tatort davonzukommen. Wie immer man auch so jemanden findet, dachte Lisa Mattei und betrachtete die Ordner mit all den Polizisten, die vor ihr auf dem Schreibtisch lagen. Insgesamt etwa hundert Polizisten. Ungefähr siebzig davon waren identifiziert, vernommen, überprüft und abge383
schrieben worden. Von dreißig weiteren, von denen vermutlich einige nie Polizisten gewesen waren, hatte man keine Gewissheit über ihre Identität besessen. Sie hatten nur behauptet, dass sie Polizisten seien. Zuerst hatte sie versucht, sie der Größe nach zu sortieren. Das hatte nichts weiter gebracht. Die Angaben zur Körpergröße fehlten in den meisten Fällen, und Polizisten dieser Generation waren außerdem fast alle groß genug gewesen, um den Ministerpräsidenten erschossen haben zu können. Mit Hilfe ihres Alters, ihrer Größe, anderen aussagekräftigen, beschreibenden Angaben und den Ermittlungen, die keinen Raum für weitere Verdächtigungen ließen, hatte sie trotzdem gut fünfzig der siebzig benannten Kollegen, die herausgefiltert worden waren, abschreiben können. Das kostete sie zwar fast den ganzen Tag, aber sie hatte es in Ermangelung eines Besseren getan, und irgendwo musste sie ja schließlich anfangen. Normale Polizisten waren ja so gestrickt, dass sie meistens mit anderen Polizisten verkehrten, dachte Lisa Mattei. Waltin war andererseits aber kein normaler Polizist gewesen. Deshalb rief Lisa ihre Mutter an und fragte sie, ob sie mit ihr zu Mittag essen wollte. Das wolle sie gern. Tatsächlich habe sie ebenfalls gerade daran gedacht, ihre Tochter anzurufen und sie dasselbe zu fragen. Den Grund dafür könne sie zur Sprache bringen, wenn sie sich sahen. Um Zeit zu sparen, hatten sie sich in der Kantine des Polizeigebäudes getroffen. Hatten einen ausreichend abgeschiedenen Tisch gefunden, und kaum hatten sie sich hingesetzt, gab Linda Mattei ihre Absichten zu erkennen. »Bist du schwanger?«, fragte Linda Mattei ihre einzige Tochter Lisa. »Aber Mama, natürlich nicht.« »Aber du triffst dich mit jemandem?«, fuhr sie fort. »Antwort ja«, gab Lisa Mattei zurück. »Was hältst du davon, wenn wir abwechselnd Fragen stellen?« »Ist er lieb zu dir?« »Antwort ja.« 384
»Hat er einen Namen?« »Antwort ja. Johan.« »Johan?« »Antwort ja. Johan Eriksson.« »Und was macht er?« »Studiert an der Universität, Filmwissenschaft, hat eine Einzimmerwohnung zur Untermiete auf Söder. Hat einen Nebenjob als Wächter.« »Lisa, Lisa«, sagte ihre Mutter und schüttelte den Kopf. Dann lehnte sie sich vor und streichelte ihr die Wange. »Jetzt bin ich an der Reihe«, sagte Lisa Mattei. »Ich habe das Recht, sechs Fragen zu stellen, und du bekommst zwei Antworten umsonst dazu, weil ich so nett bin und damit du beruhigt bist. Ja, du wirst ihn kennenlernen. Ja, er ist ein bisschen wie Papa. Allerdings doppelt so groß. Mindestens.« »Ich werde ihn kennenlernen können?«, wiederholte Linda Mattei. »Antwort ja. Sieben Fragen. Ich bin dran.« »O.k. Frag nur zu«, sagte Linda Mattei, schüttelte den Kopf und lächelte. »Claes Waltin«, sagte Lisa Mattei. »Erzähl, was für eine Person er war.« »Weshalb fragst du das?« »Reiß dich zusammen, Mamachen«, sagte Lisa Mattei. »Es geht um die Arbeit, und jetzt stelle ich hier die Fragen.« »O.k., o.k.«, sagte Linda Mattei und hob abwehrend die Hände in die Luft. Dann erzählte sie von Claes Waltin. Schon in seiner ersten Woche bei der Säpo hätte er versucht, sie anzumachen. »Er hat dich angemacht? Wie hast du da reagiert?« »Ich hab ihm gesagt, dass er sich zum Teufel scheren sollte«, erzählte Linda Mattei. »Danach habe ich im Großen und Ganzen während seiner restlichen Zeit bei uns praktisch nichts mehr von ihm gesehen. Hat mich gefreut. Hast du noch mehr Fragen?« »Was für ein Typ war er?« 385
»Auf jeden Fall nicht mein Typ«, sagte Linda Mattei und verzog die Oberlippe. »Wenn man glaubt, was auf den Fluren geflüstert wurde, war er reichlich daneben. Aber das hast du bestimmt schon gehört?« »Bis zum Umfallen«, stöhnte Lisa. »Was ich mich frage, ist, ob er privat mit anderen Polizisten zu tun hatte. Mit normalen Kollegen.« »Das kann ich mir nur sehr schwer vorstellen«, sagte Linda Mattei und schüttelte den Kopf. »Erzähl, warum?«, fragte Lisa Mattei. Waltin hätte normale Polizisten verachtet. Waltin sei ein richtiger Angeber gewesen. Normale Polizisten seien viel zu schlichte Menschen für ihn gewesen. Er habe das zwar nie geäußert, aber er hätte es deutlich genug gezeigt, ohne es aussprechen zu müssen. »Er hatte also noch nicht einmal so etwas wie einen einfachen Vertrauten?« »Einen einfachen Vertrauten?«, wiederholte Linda Mattei und sah ihre Tochter erstaunt an. »Jemanden wie mich, meinst du?« »Einen männlichen Kollegen. So einen starken, verschwiegenen Typ.« »Das kann ich mir nur sehr schwer vorstellen«, sagte Linda Mattei erneut. »Willst du damit sagen, dass er auch homosexuell gewesen ist?« »O.k.«, Lisa Mattei seufzte. »Was hältst du davon, wenn wir den Mund jetzt zum Essen benutzen?« Bevor sie nach Hause ging, druckte sie in Ermangelung von etwas Besserem eine Liste über Berg und seine Kollegen aus: Die etwa drei Dutzend Schutzpolizisten, die in der Polizeispur der Palmeermittlung am häufigsten vorkamen. Obwohl keiner von ihnen als möglicher treuer Gefolgsmann für jemanden wie Waltin in Frage zu kommen schien. Die Hälfte von ihnen hatte darüber hinaus ein Alibi für den Zeitpunkt, als der Mord an dem Ministerpräsidenten geschah. Richtige Alibis, keine, die sie sich gegenseitig gegeben hatten oder die von anderen Kollegen stammten. 386
Am nächsten Tag schlug Mattei die Ordner auf, in denen die ungefähr dreißig Polizisten gesammelt waren, die man nicht mit Gewissheit hatte identifizieren können. Im ersten Ordner lag obenauf ein Ermittlungsbericht, der immerhin von ernsthaften Bemühungen zeugte. Ganz zuoberst auf dem Bericht befand sich der anonyme Brief, der Anlass zur Ermittlung gegeben hatte. Ein handgeschriebener Brief, billiges liniertes Papier, Kugelschreiber. Eine erstaunlich flüssige Handschrift mit geläufigem Schreibstil. Keine Rechtschreibfehler. Eine mehr oder weniger korrekte Zeichensetzung. Allerdings war kein Umschlag dabei, obwohl das Kuvert solchen wie ihr oftmals mehr sagte als die Mitteilung, die darin enthalten war. Besonders, wenn der Absender die Briefmarken mit dem König verkehrt herum aufgeklebt hatte. Kaum zehn Zeilen Text. »Lieber Freund und Helfer! Hab neulich abends im Fernsehen gesehen, dass da ganz schön viele Bullen in der Luft waren, als Olle sein Schild abmontiert hat. Ich selbst habe einen alten Bekannten im Chinarestaurant in der Drottninggata an der Ecke zur Adolf Fredriks Kyrkogata gesehen. Ein richtiger Dreckskerl, der in den siebziger Jahren bei der Kripo in Solna gearbeitet hat. Später wurde er ein feiner Pinkel und kam zur Säpo. Tja, so kann's gehen, wenn die Fenster einen Spalt offen stehen. Als ich kam, hat er da gesessen und an einem Glas Wasser genuckelt, aber ich hab mir nichts anmerken lassen und die Schnauze gehalten, und das war ein Glück, denn sonst hätte man bestimmt wieder Haue gekriegt. Die meiste Zeit hat er auf die Uhr geguckt, und als es fast elf war, hat er geblecht und ist abgehauen. Vielleicht Olle bewachen? Oder sich vielleicht etwas anderes mit Olle einfallen lassen? Anonym aus persönlicher Erfahrung.« Wenn die Leute doch wenigstens ihren Namen angeben würden, dachte Mattei im selben Moment, als Holt ihr Zimmer betrat. »Alles in Ordnung, Lisa?«, sagte Holt und lächelte. »Du hattest auf den Anrufbeantworter gesprochen.«
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»Yess«, sagte Mattei. »Berg und seine Kollegen«, sagte Mattei und gab ihr die Plastikhülle mit den Angaben, die sie herausgesucht hatte. »Was soll ich damit tun?« »Frag Berg, ob er oder jemand von seinen Kollegen Waltin kannte«, sagte Mattei. »Der Berg von der Schutzpolizei also. Der Neffe des alten Säpochefs«, fügte sie hinzu. »Meinst du, dass das so schlau ist?«, sagte Holt und wiegte die Papiere in der Hand hin und her. »Im Hinblick auf Johansson.« »Du kennst Berg doch? Du hast zumindest schon mal ein Wort mit ihm gewechselt. Ich glaube, er vertraut dir. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er dich mag. Es kostet nichts zu fragen. Mach ihm einen Johansson.« »Einen Johansson?« »Ja, wenn du Johansson wärst und er du wäre. Und sich die ganze Zeit aufregt. Was hätte er dann deiner Meinung nach wohl getan?« »Ich weiß genau, was du meinst«, sagte Holt und nickte. »Ich mach ihm einen Johansson.« Wie schön, Kollegen zu haben, die kapieren, was man meint, dachte Mattei, worauf sie sich wieder ihrem Ordner zuwandte. Der erste Brief war etwa einen Monat nach dem Mord bei der Palme-Einheit eingetroffen. Daraufhin schien aber nichts Besonderes passiert zu sein. Man hatte eine Mappe aufgeschlagen und den Brief unter der Rubrik, die man schon damals, auch intern, die Polizeispur nannte, abgelegt. Sonst nichts. Nicht, bis einen Monat später der zweite Brief eintrudelte. Nur ein paar Tage, nachdem die Sendung Rapport groß über das, was inzwischen auch das Fernsehen als Polizeispur bezeichnete, berichtet hatte. Der Brief war am 7. Mai 1986 in Stockholm abgestempelt worden. Dieses Mal hatte man auch den Umschlag aufbewahrt. Und sogar nach Fingerabdrücken abgesucht, sowohl den Brief als auch das Kuvert. »Lieber Freund und Helfer! Ich glaub, der gute Onkel kapiert nicht so schnell, aber das wusste ich ja eh schon. Sollte vielleicht di388
rekt an Rapport schreiben und von eurem lieben Kollegen erzählen, der im Restaurant saß und auf bessere Zeiten hoffte, bis er sich davonschlich und selbst das Heft in die Hand nahm. Falls er es denn getan hat? Was glaubt ihr selbst? Er sieht dem, der es getan hat, jedenfalls verflucht ähnlich, aber die Zeugen haben sicher falsch geguckt, wenn es denn ein Bulle gewesen ist, den sie gesehen haben. Aber bei dem Dreckskerl, der bei der Kripo in Solna gearbeitet hat, bevor er ein feiner Pinkel wurde und oben bei der Säpo landete, besteht natürlich keine Eile. Muss wohl die Klagemauer im Fernsehen anrufen. Anonym aus persönlicher Erfahrung.« Schon nach einer Woche hatte man eine Antwort von der Kriminaltechnik bekommen. Mehrere Fingerabdrücke waren auf dem Umschlag gesichert worden, dagegen keine auf dem Brief. Vermutlich hatte ihn jemand abgewischt, bevor er im Umschlag gelandet war. Von den gesicherten Abdrücken hatte einer einen Treffer ergeben. Eine Drogensüchtige mit zahlreichen Vorstrafen für Drogenvergehen, grobe Diebstähle und Betrügereien. Marja Ruotsalainen, geboren 1959. Maja Svensson, aber eben auf Finnisch, dachte Mattei. Drolliger Name, dachte sie. Holt rief Berg an, vereinbarte ein Treffen mit ihm und traf ihn im selben Cafe wie beim letzten Mal. Kaum hatten sie sich mit ihren Kaffeetassen hingesetzt, hatte sie ihm einen Johansson gemacht. »Claes Waltin«, sagte Holt. »Ehemaliger Polizeioberintendent bei der Säpo. Ist vor fünfzehn Jahren auf Mallorca ertrunken. Hast du ihn gekannt?« »Claes Waltin«, wiederholte Berg, der nur schwer sein Erstaunen verbergen konnte. »Weshalb fragst du?« »Das willst du gar nicht wissen, und ich kann es nicht sagen«, sagte Holt. Du kanntest ihn also, dachte sie. »Ist schon o.k.«, Berg zuckte mit den Schultern. »Ihn kennen ist vielleicht ein bisschen zu viel gesagt. Ich hab ihn zweimal getroffen. Das war zu der Zeit, als dein verehrter Chef mir und meinen Kollegen die Hölle heißgemacht hat. Kurz nach Silvester, im selben Jahr, 389
als Palme erschossen wurde. Irgendwann im Januar oder Februar. Wir waren zumindest wieder zurück im Dienst.« Diesmal war etwas unternommen worden, dachte Mattei. Die Angelegenheit war bei einem jener Kollegen gelandet, den alle anderen völlig normalen Kollegen als den »diensteifrigen Kollegen« zu bezeichnen pflegten. Sowie er davon erfahren hatte, dass Maja Ruotsalainens Finger auf dem Umschlag waren, war die Sache ins Rollen gekommen. Dass sie nicht als Briefträgerin arbeitete, hatte er nämlich sofort verstanden, als er im Polizeiregister auf sie gestoßen war. Im Sommer 1985 war Ruotsalainen zu zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe für schwere Drogenvergehen verurteilt worden. Eine Strafe, die sie bereits eine Woche, nachdem der Urteilsspruch gefällt wurde, im Frauengefängnis von Hinseberg angetreten hatte. Ruotsalainen hatte es sattgehabt, in U-Haft in der Polhemsgata zu sitzen, und hatte sich nach der relativen Freiheit, die die einzige geschlossene Frauenanstalt des Landes verhieß, gesehnt. Nach sechs Monaten hatte sie Freigang erhalten. War untergetaucht und hatte sich von Januar bis Mitte Mai 1986 versteckt gehalten, bis sie dann bei einer Razzia in einem illegalen Club in Hammarbyhamnen von der Polizei gefasst worden war. Sie wurde unter Arrest gestellt und schon tags darauf zurück nach Hinseberg überführt. Als die beiden anonymen Briefe in den Postkasten geworfen worden waren, war sie auf der Flucht gewesen. Zwei Tage nach dem letzten Brief saß sie schon auf Kungsholmen in U-Haft. Weil der diensteifrige Kollege von der Säpo geglaubt hatte, dass ein Mann die zwei anonymen Briefe geschrieben hatte, hatte er im Fahndungsregister nach ihren männlichen Kontakten gesucht. Ohne Erfolg. Nicht, weil sie solche Kontakte nicht hatte, sondern weil keiner von denen, die es im Register gab, den Brief geschickt haben konnten. In Ermangelung eines Besseren hatte er die Unterlagen von der Razzia, bei der sie gefasst worden war, herausgesucht.
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Abgesehen von Ruotsalainen, nach der gefahndet worden war und die von den Kollegen der Streife bei der Stockholmer Polizei, die den Einsatz geleitetet hatten, sofort wiedererkannt worden war, waren ein weiteres halbes Dutzend anderer Personen im Bau gelandet. Einer von ihnen war ein bekannter Krimineller mit knapp zwanzig Vorstrafen, Jorma Kalevi Orjala, geboren 1947. Zu jenem Zeitpunkt war er seltsamerweise weder auf der Flucht noch stand er wegen irgendetwas Anderem unter Verdacht. Ungefähr zur gleichen Zeit, als Ruotsalainen in dem blauen Chevrolet des Untersuchungsgefängnisses zur Überführung nach Hinseberg Platz genommen hatte, war Jorma Kalevi Orjala als ein freier Mann auf die Kungsholmsgata getreten. Der diensteifrige Kollege bei der Säpo hatte den Kommissar der Zentralen Streife, der die Razzia gegen den Club in Hammarbyhamnen geleitet hatte, angerufen. Um Zeit zu sparen und aus persönlicher Neugierde, weil es das erste Mal war, dass sein Weg sich mit einer der großen Legenden der Stockholmer Polizei, Bo Jarnebring, kreuzte. Er hätte zwei Fragen. Warum sei Orjala im Bau gelandet? Ob Orjala irgendetwas mit Marja Ruotsalainen zu tun gehabt habe? Die dritte Frage hatte er dagegen nie gestellt. Die Frage, die mit annehmbarer Wahrscheinlichkeit dazu hätte führen können, den zu der Zeit knapp vier Monate alten Mord am Ministerpräsidenten des Landes aufzuklären. Seine Schweigepflicht hatte nämlich einen so hohen Stellenwert, dass diese zwischen Kollegen üblichen Fragen nie gestellt wurden. Berg sei Waltin zweimal begegnet. Beim ersten Mal wären sie unter sich gewesen. Beim zweiten Mal wären vier seiner Kollegen vom Einsatzkommando dabei gewesen. Eine Frau, die er kannte, habe ihn angerufen. Sie hätte bei irgendeiner Gelegenheit mal etwas mit Waltin gehabt. Danach hätte Waltin angefangen, sie zu jagen. Sie bei der Arbeit angerufen. Die typischen wortlosen Hechelanrufe. Hätte draußen auf der Straße im Auto gesessen. Sie verfolgt. Sie selbst hätte Berg angerufen und um Hilfe gebeten. »Ich hab ihn auf frischer Tat ertappt«, sagte Berg. »Er saß vor ihrer Arbeitsstelle in einem Dienstwagen der Säpo. Ich sagte ihm, 391
dass er damit aufhören sollte«, fuhr er fort. »Wenn er nicht eine auf die Schnauze bekommen wollte.« »Was hat er darauf geantwortet?«, fragte Holt. »Er tat, was ich ihm aufgetragen hatte«, sagte Berg und zuckte mit seinen breiten Schultern. »Sein Glück, kann ich dir sagen.« Kann ich mir nur zu gut vorstellen, dachte Holt und nickte. »Und das zweite Mal?«, fragte sie. »Als du und deine Kollegen ihn getroffen haben?« Das Gespräch des diensteifrigen Kollegen mit Jarnebring war schon von Anfang an schiefgelaufen. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, wäre es sehr gut möglich gewesen, dass die dritte Frage trotzdem noch hätte beantwortet werden können. »So, so«, sagte Jarnebring, als er die erste gestellt bekam. »Welchen meiner Kollegen willst du denn diesmal in die Mangel nehmen?« »Darauf kann ich nicht eingehen, wie du weißt«, antwortete der diensteifrige Kollege. »Kann ich mir vorstellen«, sagte Jarnebring. Dann hatte er auf die beiden Fragen geantwortet, die ihm gestellt worden waren. Orjala sei im Bau gelandet, weil Jarnebring solche wie Orjala immer in den Bau steckte, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, und die hätte er ja nun dadurch gehabt, dass Orjala sich in einem Lokal befunden hatte, in dem illegaler Alkoholausschank und illegales Glücksspiel betrieben worden waren. Darüber hinaus habe er Orjala die Schlüssel abgenommen, seine Adresse aus ihm herausgequetscht und sei zu selbiger Adresse gefahren, während Orjala sich in der Zelle in Kronoberg ausgeruht hätte. »Ich hab nichts Besonderes gefunden«, gab Jarnebring zu. »Bis auf Marjas sieben Sachen. Sie wohnte bei ihm, während sie auf der Flucht war. Im Grunde hätte ich ihn wegen Beihilfe zur Flucht einbuchten können, aber es war mir wohl zu viel, so einen Kack zu unterschreiben.« »Danke für die Hilfe«, sagte der Diensteifrige. »Ich werde wohl einen kleinen Plausch mit Orjala halten müssen.« »Ich fürchte, da bist du ein wenig zu spät dran«, entgegnete Jarnebring. »Die Feuerwehr hat ihn gestern Morgen aus dem Karl392
bergskanal gefischt. Wir wollten das bei der nächsten Kaffeepause mit einer Torte feiern.« Das zweite Mal sei ein paar Wochen später gewesen. Mitten am helllichten Tage vormittags vor dem Polizeigebäude auf Kungsholmen. Waltin sei die Kungsholmsgata entlanggekommen. Er hatte sie angehalten, war in den Polizeibus gestiegen und hatte ihnen gesagt, sie sollten ihn zum Stureplan fahren. Natürlich nur, wenn sie gerade nichts Besseres zu tun hätten. »Er war frech, der kleine Angeber. Aber klar. Wir mussten sowieso in die Richtung, also durfte er mitfahren.« »Ist dann irgendwas Besonderes passiert?«, fragte Holt. »Eine Backpfeife oder so?«, schlug Berg vor und grinste. »Nein, nichts dergleichen«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Aber er hat zwei Dinge gesagt, die ziemlich seltsam waren.« »Was hat er denn gesagt?«, fragte Holt. »Als wir oben an der Kungsgata an einer roten Ampel hielten, war da eine sehr alte Dame mit so einem Rollator, die die Straße überqueren wollte. Die Ampel war inzwischen wieder umgeschlagen, aber wir warteten, damit sie rüberkommen konnte. Da lehnte Waltin sich vor und sagte zu dem Kollegen, der fuhr, dass er Gas geben und ihre Fotze in eine Garage verwandeln solle. Dass die Alte nur simuliert.« »Wortwörtlich, bitte«, sagte Holt. »Ja, irgend so was wie... das Weibsstück simuliert doch bloß. Drück das Gaspedal durch und mach ihre Fotze zur Garage. Irgend so etwas hat er gesagt.« »Wie hast du reagiert?« »Ich hab ihn wohl nur angeschaut, aber nichts gesagt. Wir waren wirklich ziemlich baff. Ich meine, was antwortet man auf so was? Ich hatte so was noch nie von einem Kollegen gehört. Obwohl ich wirklich schon einiges gehört habe. Aber hier handelte es sich ja um eine nette alte Dame.« »Und das Zweite?«, sagte Holt. »Was war das Zweite, das er gesagt hat?« »Das war noch eigenartiger«, berichtete Berg. »Allerdings hat es ein halbes Jahr gedauert, bis wir das überhaupt begriffen haben.« 393
Dem Gerichtsmediziner zufolge war Orjala von einem Auto angefahren worden, ins Wasser gefallen und ertrunken. Er hatte gut drei Promille Alkohol im Blut gehabt. Ein Unfall mit Fahrerflucht, ansonsten nichts, worüber es Nennenswertes zu berichten gab. Weil ihm nichts Besseres einfiel, hatte der diensteifrige Kollege sich in sein Dienstfahrzeug gesetzt und nach Hinseberg gefahren, um mit Marja Ruotsalainen zu sprechen. Das Treffen zwischen dem diensteifrigen Kollegen und Marja in Hinseberg war wenig konstruktiv. Sie hatte nur einen einzigen Satz gesagt. Und diesen wiederholt, bis das Verhör abgebrochen worden und er wieder nach Hause gefahren war. »Fahr zur Hölle, du mieses Bullenschwein. Fahr zur Hölle, du mieses Bullenschwein. Fahr zur Hölle, du mieses Bullenschwein...« Diensteifrig wie er war, hatte er auch darüber ein Protokoll angefertigt und es in die Akte gelegt. Diensteifrig wie er war, hatte er sogar dem Chinarestaurant einen Besuch abgestattet und dem Personal Bilder von Orjala und Ruotsalainen gezeigt. Keiner von ihnen hatte sich an sie erinnern können. Während des Abends, als der Ministerpräsident nur ein paar hundert Meter vom Restaurant ermordet worden war, sei abgesehen davon nichts Außergewöhnliches geschehen. Nur wenige Gäste seien den Abend über da gewesen. Weniger, als man an einem Freitagabend nach Lohnauszahlung normalerweise hätte. »Wir ließen ihn am Stureplan raus«, erzählte Berg. »Ich meine mich zu erinnern, dass er sagte, dass er zur Bank wollte.« »Und was hat er noch gesagt?«, fragte Holt. »Das war ja gerade das Seltsame«, sagte Berg. »Zuerst bedankte er sich fürs Mitnehmen. Dann steckte er auf meiner Seite den Kopf durch das Fenster und sagte, dass ich auf mich aufpassen sollte. ‘Pass auf dich auf, Berg’, sagte er. ‘Gib Acht auf alle Augen und Ohren, die so aussehen wie meine’, fügte er hinzu.« »Wie hast du das damals aufgefasst?« »Wir sprachen darüber. Zuerst dachten wir, dass das seine Art war, die Muskeln spielen zu lassen. Es dauerte ja noch ein halbes Jahr, bis wir erfuhren, dass die Säpo uns mehrere Jahre lang bespitzelt hatte. Das war, als wir anfingen, bei diesen Polizeispurermittlern des Palmemordes ein- und auszugehen. Und dann stand das ja auch in den Zeitungen.« 394
»Hat er versucht, euch zu warnen?« »Ja. Das glaube ich tatsächlich. Ganz schön seltsam, gerade im Hinblick darauf, wer er war und auch auf unsere frühere Meinungsverschiedenheit.« Der diensteifrige Kollege hatte nicht aufgegeben. Ausgehend von den anonymen Briefen und unter Zuhilfenahme von Orjalas Personenakte und seinen bei der Kriminalpolizei in Solna registrierten Kontakten, hatte er eine Beschreibung des nicht genannten Kollegen angefertigt, auf den der anonyme Briefschreiber - vermutlich Orjala - hingewiesen hatte. Hatte die Beschreibung an die Personalabteilung der Sicherheitspolizei geschickt und einen Monat später eine Antwort erhalten. Derjenige, auf den die Beschreibung am ehesten zuträfe, sei ein früherer Mitarbeiter der Sicherheitspolizei gewesen, der den Dienstcode 4711 gehabt hätte. Er sei 1982 aus dem Dienst ausgeschieden. Seither lebte er im Ausland. Die üblichen internen Kontrollen seien durchgeführt worden. Es gäbe nichts, was dafür spräche, dass er in die Ermordung des Ministerpräsidenten verwickelt gewesen sein sollte oder sich gar zu dem betreffenden Zeitpunkt in Stockholm aufgehalten habe. Der diensteifrige Kollege hatte also aufgegeben, und sein höchster Chef, Bürochef Erik Berg, hatte den Fall zu den Akten gelegt. Siebenundvierzigelf, dachte Mattei. Wo hab ich das denn schon mal gehört? War das nicht dieses widerliche Parfüm, das Papa Mama regelmäßig geschenkt hat, als ich noch klein war? Kölnisch Wasser, 4711, dachte sie. Genau, so hieß es. »Da wäre noch etwas ganz anderes, das ich dich fragen wollte, Holt«, sagte Berg, als sie ihr Gespräch beendet hatten und an ihrem Auto standen, um sich zu verabschieden. »Ich bin ganz Ohr«, sagte Holt. Wie seltsam er auf einmal aussieht, dachte sie. »Du bist eine ausnehmend attraktive Frau, Holt«, hob Berg an. »Deshalb wollte ich dich fragen, ob ich dich einmal zum Abendessen ausführen darf?« Hoppla, dachte Holt. 395
»Das war' sicher schön gewesen«, sagte Holt. »Aber jetzt verhält es sich leider so...« »Ich verstehe«, fiel Berg ihr ins Wort. »Grüß ihn von mir und gratuliere ihm.« »Danke«, sagte Anna Holt und lächelte. Eine ausnehmend attraktive Frau, dachte sie. Anna Holt hatte sich ihre informellen Kontakte bei der Säpo zunutze gemacht. Dadurch fand sie eine Frau, die behauptete, mit Claes Waltin zur Zeit des Palmemordes zusammen gewesen zu sein. Jeanette Eriksson, geboren 1958, Kriminalassistentin bei der Säpo. Eine dreizehn Jahre jüngere Arbeitskollegin von Waltin, die im Jahr nach dem Mord bei der Polizei ihren Dienst quittiert hatte, um stattdessen als Ermittlerin für einen Versicherungskonzern zu arbeiten. Dort war sie heute noch beschäftigt, mittlerweile als Leiterin der Abteilung, und sie klang nicht besonders erfreut, als Holt sie anrief. Am Tag nach dem Treffen mit Berg hatten sie sich in Erikssons Büro verabredet. »Ich würde nicht so gerne über Claes Waltin sprechen«, sagte Jeanette Eriksson. »Noch nicht mal von Frau zu Frau?«, fragte Holt. »Kein Tonbandgerät, keine Papiere, kein Protokoll. Nur wir beide, im Vertrauen?«. »Ja, wenn es sein muss«, entgegnete Jeanette Eriksson und lächelte zögernd. Claes Waltin sei bei der Sicherheitspolizei ihr Chef gewesen. Im Herbst 1985 seien sie ein Verhältnis eingegangen. Im März 1986 hätte sie das Verhältnis beendet. Obwohl er mich da schon satt hatte, denn sonst hätte er mich bestimmt nicht gehen lassen. Er hatte sich schon eine andere Frau angeschafft.« »Ich verstehe«, sagte Holt. »Er soll denen zufolge, mit denen ich bisher gesprochen habe, ein ausgesprochener Sadist gewesen sein.« »Das war ja gerade das Seltsame«, sagte Jeanette Eriksson. »Denn ich besitze diese Veranlagung überhaupt nicht. Ich bin nie auch nur ein bisschen masochistisch veranlagt gewesen. Und trotzdem bin ich da einfach hineingeraten. Am Anfang glaubte ich, dass 396
es irgendeine Art von Rollenspiel war, das er betrieb, und als ich begriff, was da los war, war es zu spät, sich dem zu entziehen. Er war grauenhaft. Claes Waltin war ein grauenhafter Mensch. Wenn er Alkohol intus hatte, konnte er geradezu lebensgefährlich werden. Ich dachte mehrmals, er würde mich töten. Aber ich hatte nie auch nur einen einzigen blauen Fleck, den ich hätte vorzeigen können, damit man mir geglaubt hätte.« »Sie waren ein halbes Jahr mit ihm zusammen?« »Zusammen? Ich war fünf Monate und elf Tage seine Gefangene«, sagte Jeanette Eriksson. »Bevor ich mich befreien konnte. Ich habe ihn gehasst. Als ich ihn endlich los war, wartete ich öfters vor seiner Wohnung und beobachtete ihn und dachte darüber nach, wie ich mich an ihm rächen könnte.« »Aber Sie haben nie etwas unternommen?«, fragte Holt. »Eine Sache hab ich gemacht«, sagte Jeanette Eriksson. »Als mir aufging, dass er eine neue Frau hatte. Als ich sie das zweite Mal innerhalb einer Woche mit ihm gesehen hatte. Da hab ich nachgeforscht, wer sie war, um sie zu warnen.« »Sie haben mit ihr geredet?« »Ja, sogar unter vier Augen. Sie arbeitete bei der Post. Als sie eines Abends von der Arbeit nach Hause ging, bin ich auf sie zugegangen. Hab mich ihr vorgestellt und sie gefragt, ob ich mit ihr sprechen dürfte. Sie hatte nichts dagegen. Wir setzten uns in ein Cafe in der Nähe und redeten.« »Wie hat sie es denn aufgenommen?« »Sie wusste nicht, worauf ich hinauswollte«, sagte Jeanette Eriksson. »Schien beinahe schockiert, als ich erzählte, was er mit mir angestellt hatte. Fragte mich sogar, ob ich noch in Claes verliebt sei. Ob es sich im Grunde um Eifersucht handelte. Danach wurde nicht mehr viel gesagt. Es war nicht so, dass wir uns gestritten hätten. Wir gingen einfach auseinander. Seither habe ich nie wieder mit ihr gesprochen.« »Kennen Sie ihren Namen?«, fragte Holt. »Ja«, sagte Jeanette Eriksson. »Und wie lautet der?« »Da wird es jetzt ein bisschen kompliziert«, sagte Jeanette Eriksson. »Ich vermute, dass Sie nicht ihretwegen hergekommen sind, oder?« 397
»Nein«, sagte Holt. »Ich hatte keine Ahnung von der Existenz dieser Frau, bevor Sie sie erwähnt haben.« »Darf ich selbst eine Frage stellen?«, sagte Jeanette Eriksson. »Sicher«, sagte Holt. »Sie haben gesagt, Sie arbeiten bei der Zentralen Kriminalpolizei. Ist da nicht Lars Johansson der Chef? Dieser hochgewachsene Norrländer, der regelmäßig im Fernsehen zu sehen ist?« »Ja«, bestätigte Holt. »Und das macht die Sache so schwierig«, seufzte Jeanette Eriksson. »Er ist nämlich mit der Frau verheiratet, mit der ich gesprochen habe. Damals hieß sie Pia Hedin. Heute heißt sie offenbar Pia Hedin Johansson.« »Sind Sie sich da sicher?«, fragte Holt. »Ganz sicher«, Jeanette Johansson nickte. »Ich habe sie einige Jahre später zusammen auf einem Fest der SEB gesehen, nachdem ich hier bei der Versicherung angefangen hatte. Da waren sie gerade frisch verheiratet. Muss irgendwann zu Beginn der Neunziger gewesen sein.« »Sie sind sich also ganz sicher«, wiederholte Holt. »Bombensicher«, sagte Jeanette Eriksson. »Sie ist eine sehr schöne Frau. Keine, die man schnell vergisst oder die man mit einer anderen verwechselt.« »Ich weiß«, sagte Holt. »Ich bin ihr schon mal begegnet.« Was mach ich jetzt bloß?, dachte sie. Trotz seiner Krankheit, er hatte ja immerhin einen ernsten Schlaganfall erlitten, gab Bäckström nicht klein bei und weigerte sich, den Fall, der schon von Anfang an seiner gewesen war, fallen zu lassen. Claes Waltins Beteiligung an der Ermordung Olof Palmes. Bei dem Mord ging es um zwei Dinge. Geld und Sex. Das schöpfte Bäckström aus seinem reichen persönlichen Erfahrungsschatz. Blieb herauszufinden, welches dieser Motive dazu geführt hatte, dass das Opfer um die Ecke gebracht worden war. Im Moment gab es vieles, das dafür sprach, dass es sich um Sex gehandelt hatte. Täter und Opfer schienen förmlich in Geld zu schwimmen, was es weniger wahrscheinlich machte, dass sie sich aus diesem Grund in die Haare geraten waren. Waltin war so reich wie ein Bergtroll gewesen. Das wusste jeder. Das Opfer selbst hatte 398
an die zehn Mille auf verschiedenen geheimen Auslandskonten in der Schweiz und in anderen Steueroasen gebunkert. Das wussten Bäckström und alle anderen, die eingeweiht waren, aus sicherer Quelle. Außerdem konnte man das mittlerweile sogar im Internet lesen. Dass die schwedische Waffenindustrie Schmiergelder in einer Größenordnung von etwa hundert Millionen an das Mordopfer und dessen verdächtige Kumpane aus der dritten Welt gezahlt hatte. Es gab auch einen Tatzeugen, der einen tiefen Eindruck auf einen so analytisch veranlagten Polizisten wie Bäckström gemacht hatte. Ein Zeuge, über den seine ganzen einfältigen Kollegen selbstverständlich nur den Kopf schütteln würden. Ein Zeuge, der erst bei der dritten Vernehmung zugegeben hatte, dass er gesehen hatte, wie der Täter mit dem Opfer und seiner Angetrauten gesprochen hatte, bevor er auf sie schoss. Vermutlich, als sie versucht hatten zu verduften, wenn man bedenkt, dass der Schuss sie von hinten getroffen hatte. Mordopfer und Mörder kannten sich fast immer. Das wusste Bäckström ebenfalls aus seiner langen und gediegenen polizeilichen Praxis. Derselbe Handel und Wandel, dieselben Laster und Lüste, wenn es darauf ankam. Wenn ein Mann von Bäckströms Format die Gelegenheit bekam, die Leichen aus ihren Kellern zu schleppen. Wenn sich endlich die Wahrheit abzeichnete. Waltin war erwiesenermaßen ein außerordentlich perverser Typ gewesen. Bäckströms sorgfältige Dokumentationsarbeit ließ, was das anbelangte, keinen Raum für wie auch immer geartete Zweifel. Blieb, eine Verbindung zu seinem Opfer herzustellen, und was das betraf, gab es schon mehrere Umstände, die ja wohl kaum auf einem Zufall beruhten. Beide waren vielfache Millionäre und Juristen gewesen, hatten einen feinen Hintergrund gehabt, waren in derselben Stadt aufgewachsen. Sie hatten mit Sicherheit in denselben Kreisen verkehrt. Müssten das im Hinblick auf alles andere logischerweise getan haben. Dazu noch ihre rein äußerliche Ähnlichkeit, die ja beinahe schon auffällig war. Kleine, schmächtige, hagere Figuren mit dunklen liederlichen Augen und feuchten Lippen. Ich würde meinen Arsch darauf verwetten, dass sie miteinander verwandt waren, dachte Bäckström und verspürte eine leichte Erregung. 399
Was blieb, war, das zu beweisen. Über allen angemessenen, menschlichen Zweifel hinaus den Beweis anzutreten. Nicht ganz leicht, in Anbetracht der Tatsache, dass ihn sein Gewährsmann im Stich gelassen zu haben schien. Zuerst hatte er GeGurra telefonisch verfolgt und unzählige Nachrichten hinterlassen. Nichts als Schweigen war ihm entgegengeschlagen, und in dieser Lage blieb nur noch, zur Tat zu schreiten. Bäckström hatte sich vor seiner Wohnung auf die Lauer gelegt. Hatte gesehen, wie er nach Hause gekommen war. Hatte an seiner Tür geklingelt und währenddessen selbstverständlich das Guckloch zugehalten. Zuletzt hatte der kleine Feigling geöffnet, vorsichtig die Tür einen Spalt weit aufgemacht und ihn gefragt, was er wolle. Bäckström hatte ihn scharf angesehen und daraufhin hatte GeGurra ihn widerstrebend in den Flur treten lassen. Kaum war er in der Wohnung gewesen, hatte er damit angefangen, GeGurra an einen gemeinsamen alten Bekannten, Juha Valentin Andersson Snygg, zu erinnern, der trotz seiner Jugend eine ziemlich umfangreiche Personenakte im Zentralarchiv der Kriminalpolizei besaß. Zurzeit war sie irgendwie spurlos verschwunden, wie auch immer das passiert sei, und auf wen könne sich eine so bekannte und respektierte Persönlichkeit wie der Kunsthändler Gustaf G:son Henning eigentlich verlassen? Wenn er nur mal ein winzig kleines bisschen nachdächte? Denn das wären ja wohl kaum Anna Holt und ihre Busenfreunde, die noch nicht einmal davor zurückschreckten, heimlich die Telefone von anderen Kollegen abzuhören. Wenn GeGurra solche Leute Bäckström vorzog, wäre er verloren. Natürlich war er eingeknickt. Das taten sie alle, wenn Bäckström erst einmal anfing, mit ihnen Walzer zu tanzen. Hauptsächlich, um nett zu sein und GeGurra Gelegenheit zu geben, sich an die Situation zu gewöhnen, war er es ein wenig locker angegangen, bevor er die Daumenschrauben angezogen hatte. »Woher kannte Waltin Ministerpräsident Olof Palme?«, fragte Bäckström und sah GeGurra listig an. »Ich wusste gar nicht, dass er Olof Palme kannte«, antwortete GeGurra und sah Bäckström erstaunt an. »Wo hast du das denn her?« 400
»Du«, sagte Bäckström. »Nur um Zeit zu sparen. Ich stelle hier die Fragen, und du antwortest.« »Klar«, sagte GeGurra, »aber mich erstaunt wirklich ein biss...« »Ich weiß nun einmal zufällig, dass Waltin eine ganze Menge über Palme geredet hat«, fiel Bäckström ihm ins Wort und musterte sein Opfer. »Das haben doch alle getan«, sagte GeGurra. »Über Palme geredet, meine ich.« »Was haben sie denn so gesagt?« »Dass Palme ein hinterhältiger Typ war«, sagte GeGurra. »Nun ja, dass er versuchte, klammheimlich das ganze Land zu sozialisieren und die Unternehmen mit Einführung der Arbeitnehmerfonds zu verstaatlichen. Während er sich gleichzeitig von der Rüstungsindustrie bestechen ließ, damit diese Kanonen nach Indien verkaufen konnte. Das war so das Übliche.« »Dass er ein russischer Spion war?« »Ja, doch. Ich erinnere mich sogar daran, dass ich das Waltin gefragt habe. Weil er bei der Säpo arbeitete, dachte ich, dass er der richtige Mann für diese Frage war.« »Und was hat er entgegnet?« »Dass er darauf nicht antworten könne, wie ich bestimmt wüsste. Aber gleichzeitig bekam ich einen klaren Eindruck davon, was er damit sagen wollte.« »Was bekamst du denn für einen Eindruck?« »Dass Palme für die Russen spionierte«, sagte GeGurra und sah Bäckström erstaunt an. »Das wussten doch alle! Das haben ja sogar die Zeitungen mehr oder weniger offen angedeutet.« »Und von persönlicherer Natur? Was hat Waltin über Palme zu sagen gehabt, das von persönlicherer Natur war?« »Das war doch persönlich genug«, erwiderte GeGurra. »Verlauten zu lassen, dass er Bestechungsgelder von Bofors angenommen und für die Russen spioniert hat. Ich meine, was will man me...« »Ich rede von Sex«, fiel Bäckström ihm ins Wort. »Sex?«, wiederholte GeGurra und sah Bäckström verwirrt an. »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst. Waltin hat jede Menge über Sex gequatscht. Über seine eigenen Leistungen auf diesem Gebiet. Aber nie im Zusammenhang mit Palme.«
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»Aber er muss ihn doch gekannt haben«, beharrte Bäckström. »Das ist doch wohl klar wie Kloßbrühe, dass so einer wie Waltin so einen wie Palme gekannt haben muss.« »Weshalb denn?«, sagte GeGurra. »Wenn du mich fragst, glaube ich, dass sie sich noch nie zuvor begegnet sind. Warum sollte einer wie Waltin mit einem wie Palme Umgang pflegen?« »Woher kanntest du denn Palme?«, warf Bäckström ein. »Nun lass aber mal gut sein, Bäckström«, sagte GeGurra und hob sicherheitshalber beide Hände. »Ich bin Olof Palme nie begegnet.« »Darüber solltest du, wie ich finde, einmal nachdenken«, sagte Bäckström mit einem mehrdeutigen Lächeln. »Jetzt aber zu etwas anderem.« »Ja«, GeGurra seufzte resigniert. »Ich höre.« »Die Fotzenfritzen. Dieser perverse Verein, dessen Vorsitzender Waltin war. Wer waren die anderen Mitglieder?« »Tja, auf jeden Fall nicht Palme«, sagte GeGurra. »Was den Altersunterschied betrifft, hätte er ja ihr Vater sein können, aber ich bezweifele stark, dass er solche Kinder bekommen hätte. Selbst wenn er tatsächlich für die Russen spioniert haben sollte.« »Namen? Ich will Namen hören«, zischte Bäckström auffordernd. »O.k., Bäckström«, sagte GeGurra. »Unter einer Bedingung. Dass du mich in Zukunft in Frieden lässt.« »Die Namen?« »Sie waren offenbar zu viert in dieser illustren kleinen Studentenverbindung. Alle studierten Jura an der Universität von Stockholm. Das war irgendwann Mitte der sechziger Jahre. Zum einen setzte sie sich also aus Claes Waltin zusammen, dann aus jemandem, der ein berühmter Wirtschaftsjurist wurde, aber er starb ziemlich früh. Ich meine, dass er mit Nachnamen Sjöberg hieß, Sven Sjöberg. Starb irgendwann Mitte der neunziger Jahre.« »Waltin, Sjöberg...« »Ja«, seufzte GeGurra. »Dann war da Theo Tischler. Er ist Bankier und sehr...« »Ich weiß, wer er ist«, unterbrach ihn Bäckström. »Wir kennen uns.« »Ach«, bemerkte GeGurra, der nur schwer seine Verwunderung verbergen konnte. »Der vierte Mann«, sagte Bäckström. »Wer war der vierte Mann?« 402
»Alf Thulin«, sagte GeGurra und seufzte erneut. »Heute Parlamentsmitglied für die Christdemokraten, obwohl er ursprünglich wohl Staatsanwalt war.« Jetzt nähern wir uns endlich des Pudels Kern, dachte Bäckström. Ein verrückter Säpochef, ein bedeutender Staatsanwalt, ein Milliardär und ein so genannter Wirtschaftsjurist. Vier Sexbesessene. Zwei von ihnen waren zwar schon tot, aber zwei waren noch am Leben und konnten vernommen werden. Jetzt nähern wir uns endlich des Pudels Kern, dachte er. Am Donnerstag, dem 20. September fiel bei Lisa Mattei endlich der Groschen. Er hatte da oben gut einen Tag lang gelegen und auf dem Rand einer grauen Zelle gewippt, und als sie aufgehört hatte, an ihn zu denken, war er plötzlich gefallen. Viele Jahre lang hatte die Säpo vierstellige Zahlencodes benutzt, um die Identität ihrer Mitarbeiter zu schützen. Ihre Namen sollten geheim bleiben, und selbst wenn sie vor Gericht als Zeuge gehört wurden, hatten sie das Recht, das im Namen ihres Zahlencodes zu tun. Einer der insgesamt annähernd tausend Polizisten, die in den letzten dreißig Jahren bei der Sicherheitspolizei gearbeitet hatten, hatte offenbar bis zum Beginn der achtziger Jahre den Code 4711 gehabt. Ebenjener, den die Personalabteilung der Säpo überprüft und von weiteren Ermittlungen abgeschrieben hatte, als ihr diensteifriger Kollege anlässlich eines anonymen Hinweises eine Frage an sie gerichtet hatte. Mitarbeiter 4711. Der bereits 1982 den Dienst quittiert hatte, ins Ausland gezogen war und aus verschiedenen Gründen, über die aber keine Rechenschaft abgelegt worden war, für die Polizeispur der Ermittlung nicht weiter von Interesse gewesen war. Da fiel also der Groschen bei Mattei, und sie kam plötzlich darauf, wo sie diesen vierstelligen Code zuletzt gesehen hatte. Nicht auf den Flaschen mit deutschem Kölnisch Wasser, die ihr Vater als Geschenk für ihre Mutter gekauft hatte, als Mattei noch ein kleines Mädchen gewesen war und lange, bevor ein schwedischer Ministerpräsident auf offener Straße erschossen worden war. Nicht auf einer Flasche mit Kölnisch Wasser. Nicht als kleines Mädchen. Viel 403
später. Erst vor einer Woche. Auf einem Papier aus der kriminaltechnischen Abteilung der Sicherheitspolizei, wo ein Mitarbeiter mit unleserlichem Namenszug und seinem vierstelligen Dienstcode, 4711, den Empfang des Revolvers quittiert hatte, den Kriminalinspektor Göran Wiijnbladh Claes Waltin gegeben hatte. Dasselbe Papier, bei dem alles daraufhindeutete, dass Claes Waltin es gefälscht hatte. Ein Zufall, ohne jegliche Relevanz für ihre Ermittlung? Oder ein hemmungsloser Claes Waltin, der der Versuchung nicht widerstehen konnte, eine versteckte Nachricht zu versenden, die eigentlich nie entdeckt werden sollte? Johanssons dritte Regel bei der Aufklärung eines Ermittlungsmordes, dachte Lisa Mattei. Lerne, den Zufall zu hassen. Außerdem war es höchste Zeit für ein weiteres Gespräch mit ihrer kleinen Mama, die mehr als zwanzig Jahre bei der Säpo gearbeitet hatte. »Weshalb willst du das wissen?«, fragte Linda Mattei und musterte ihre Tochter forschend. Das zweite Mittagessen in einer Woche, und diesmal in einem Restaurant, das ein gutes Stück vom Polizeigebäude entfernt lag. Womit beschäftigt sie sich da bloß?, dachte sie und verspürte leichte Besorgnis. »Das kann ich nicht sagen.« Lisa schüttelte bedauernd den Kopf. »Du hast auch schon mal bei uns gearbeitet«, sagte Linda Mattei. »Sogar mehrere Jahre lang. Du weißt, welche Regeln gelten. Welche Fragen gestellt werden dürfen.« »Gewiss«, erwiderte Lisa Mattei und zuckte mit den Schultern. »Eine einfache Regel. Ich darf, weil ich dort aufgehört habe, keine Fragen mehr stellen, und du darfst solche Fragen nicht beantworten, weil du dort arbeitest.« »Na also. Warum fragst du dann?« »Weil du meine Mutter bist«, säuselte Lisa Mattei und lächelte. »Was hast du denn gedacht?« »Wenn derjenige, der diesen Identitätscode hatte, vor fünfundzwanzig Jahren den Dienst quittiert hat, dann ist es, glaub ich, nicht so leicht, seine Identität zu klären«, sagte Linda Mattei. »Du hast einen Code, solange du dort arbeitest. Wenn du aufhörst, wird der Code für ein paar Jahre inaktiv. Danach kann ihn jemand anderes, der neu anfängt, bekommen. Wenn ausreichend Zeit vergan404
gen ist, damit kein Missverständnis aufkommt. Genauso wie beim Wechsel der privaten Telefonnummer. Und der einzige Anlass für meine Ausführung ist, dass du das schon weißt.« »Stimmt«, sagte Lisa Mattei. »Aber ich möchte gerne wissen, wie der Kollege hieß, der den Code bis 1982 besaß. Aus Gründen, auf die ich nicht eingehen kann, kann ich meine Frage nicht direkt an die Säpo stellen.« »Dein Chef aber«, warf Linda Mattei ein. »Vielleicht will er das nicht«, gab Lisa Mattei zu bedenken. »Hast du ihn gefragt?« »Nein«, sagte Lisa Mattei. »Dann tu's«, schlug Linda Mattei vor. »Ich kann darauf nicht antworten. Wenn es dir ein Trost ist - das kann vermutlich keiner. Das sind keine Angaben, die wir fünfundzwanzig Jahre aufbewahren.« Wenn wir jemals Ordnung in diese Sache bringen wollen, benötigen wir vermutlich ein Wunder, dachte Lisa Mattei, als sie sich nach dem Mittagessen wieder ihren Ordnern zuwandte. Nur eine Viertelstunde später durfte sie es erleben. Zumindest die Hoffnung auf ein Wunder. Weil ihr nichts anderes zur Verfügung stand, hatte sie den Ordner von Marja Ruotsalainen aufgeschlagen. Geboren 1959 und bald fünfzig Jahre alt, wenn sie noch lebte. Schwer drogenabhängig schon seit ihrer Teenagerzeit. Kriminell. Prostituierte. Zu einer Vielzahl von Freiheitsstrafen verurteilt. Ihr halbes Leben hatte sie bei Pflegeeltern, in Jugendanstalten und Therapieeinrichtungen verbracht und schon im Alter von siebenundzwanzig im Gefängnis gesessen, bis sie in den Papieren der Palmeermittlung aufgetaucht war. Wie groß ist die Chance, dass sie heute noch lebt? Null oder ein Prozent, rätselte Lisa Mattei, während sie Marjas Personennummer in den Rechner eintippte. Marja Ruotsalainen. Achtundvierzig Jahre alt. Alleinstehend. Keine Kinder. Frührentnerin. Seit fünfzehn Jahren keine Einträge mehr im Polizeiregister. Wohnhaft in Tyresö, etwa zwanzig Kilometer östlich von Stockholm. Sie lebt. Ein Wunder, dachte Lisa Mattei und schüttelte den Kopf. Ob man sich wohl mit ihr unterhalten kann?, dachte sie. Das
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letzte Mal, als der diensteifrige Kollege sie in der Haftanstalt von Hinseberg besucht hatte, war es ja nicht so gut gelaufen. Lewin las die beiden Untersuchungsakten über den Tod des ehemaligen Polizeioberintendenten Claes Waltin. Eine, die von der spanischen Polizei im Oktober 1992 vor Ort auf Mallorca erstellt worden war, und eine ergänzende Untersuchung, die die schwedische Polizei hatte durchführen lassen, nachdem Waltins sterbliche Überreste Mitte November desselben Jahres nach Schweden überführt worden waren. Vögel und Fische hatten gründliche Arbeit geleistet, bevor er an Land gespült worden war. Die spanische Polizei hatte ihn mittels der Vermisstenanzeige identifiziert, die das Hotel bereits einen Tag, nachdem das Rezeptionspersonal ihn zum Badestrand hatte hinuntergehen sehen, eingereicht hatte. Und zwar anhand seiner Badehose und dem Zimmerschlüssel, der sich in der Tasche dieser Hose befand. In der Gerichtsmedizin in Solna war man gründlicher gewesen. Zuerst hatte man die Zähne der Leiche mit Waltins Zahnarztkartei verglichen. Auch wenn die Leiche keinen Unterkiefer mehr besaß, sprach der Oberkiefer eine deutliche Sprache. Es handelte sich um Claes Waltin. Weil er nun einmal derjenige war, der er war, hatte man sich damit aber nicht begnügt, sondern auch noch die neueste Technik zu Hilfe genommen. Hatte Knochen- und Zahnmark gesichert, hatte Blutproben von seinem Vater genommen und diese mit den beiden DNA-Proben verglichen, die man gewonnen hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass die sterblichen Überreste jemand anderem als Claes Waltin gehörten, war geringer als eins zu einer Million. Vorausgesetzt, dass Robert Waltin nicht einen unbekannten Sohn gehabt hatte, der zufällig zur selben Zeit auf Mallorca ertrunken war - als Claes Waltin dort Urlaub machte und einfach verschwand. Damit hatte man sich dann auch zufriedengegeben. Claes Waltin war für tot erklärt worden. Sein Vater begrub ihn ungefähr zur selben Zeit, zu der er das Testament anfocht. Ein Jahr später hatte sein Vater und einziger noch lebender Verwandte ihn beerbt, nachdem das Amtsgericht das Testament für ungültig erklärt hatte. 406
Sowohl dem spanischen Gerichtsmediziner als auch seinem schwedischen Kollegen zufolge handelte es sich vermutlich um Tod durch Ertrinken. Keiner hatte nämlich Verletzungen an den Knochen oder anderen Körperteilen festgestellt, die darauf hindeuteten, dass er erschossen, erstochen oder klassisch mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen worden war. Auf der anderen Seite gab es auch nichts, das ausschloss, dass er ertränkt, erwürgt, vergiftet oder zum Beispiel vergast worden war. Er hätte sogar erschossen, erstochen oder klassisch mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen worden sein können, wenn man davon ausging, dass die Kugel, das Messer oder der Gegenstand keine Spuren auf den Körperteilen hinterlassen hatten, die man gefunden hatte. Ich fürchte, weiter werden wir wohl nicht kommen, dachte Jan Lewin und seufzte. Um zumindest etwas Ordnung in diese ganzen unbeantworteten Fragen zu bringen, holte er Papier und Stift hervor und verfasste eine einfache Aktennotiz über den Fall, der sein Leben überschattete und verhinderte, dass seine beiden Kolleginnen sich sinnvolleren Aufgaben widmen konnten. Leider stand es so schlimm, dass der wahrscheinlichste Hergang auch der am wenigsten wünschenswerte war. Die Konsequenzen wären ganz einfach zu entsetzlich, und das müsste eigentlich auch jemand wie Lars Martin Johansson einsehen. Vieles sprach nämlich dafür, dass Claes Waltin irgendwann vor dem Mord an Olof Palme an einen Revolver aus der Kriminaltechnischen Abteilung gelangt war. Irgendwann zwischen Mitte April 1983, als man mit der technischen Untersuchung des angehängten Selbstmordes in Spänga fertig gewesen war, und dem letzten Februartag 1986, als der Ministerpräsident erschossen worden war. Vermutlich gegen Ende dieses Zeitraums, dachte Lewin. Vielleicht im Laufe des Herbstes 1985.
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Danach hatte Waltin diese Waffe einem unbekannten Täter gegeben. Wahrscheinlich in zeitnahem oder unmittelbarem Anschluss an den Mord, dachte Lewin. Vermutlich hatte Waltin ihm auch die Patronen für die Waffe gegeben. Spezialmunition, die durch Metall oder zum Beispiel eine schusssichere Weste dringen konnte. Nicht die Zielscheibenmunition, von welcher der Malermeister Gebrauch gemacht hatte, als er seiner Tochter, ihrem Freund und sich selbst das Leben genommen hatte. Unklar war, wann und wie er an diese speziellen Kugeln gelangt war. Irgendwann zwischen Mitte April 1983 und dem letzten Februartag 1986. Wahrscheinlich unmittelbar, nachdem er an die Waffe gelangt war, dachte Lewin, und vermutlich hatte er sie in einem normalen Waffengeschäft gekauft. Hatte seinen Dienstausweis gezeigt, falls sie ihn denn überhaupt danach gefragt hatten. Hatte bar bezahlt. Hatte die Schachtel mit den Kugeln in die Tasche gesteckt und war gegangen. Eine Schachtel mit zwanzig, fünfzig oder hundert Patronen von rund sechstausend identischen, die in Schweden im Jahr vor der Ermordung des Ministerpräsidenten verkauft worden waren. Der Täter war dem Ministerpräsidenten offenbar von seinem Wohnsitz in Gamla stan gefolgt und hatte etwa zwei Stunden später die Gelegenheit an der Ecke Sveaväg-Tunnelgata beim Schöpfe gepackt. Nach dem Mord war er die Tunnelgata hinuntergeflüchtet, die Treppen zur Malmskillnadsgata hochgelaufen, nach rechts abgebogen, hatte die Treppen runter zur Kungsgata genommen, war die Kungsgata zum Stureplan hinunterspaziert, in die U-Bahn gestiegen und die zwei Stationen bis Gärdet gefahren. Die Mordnacht hatte er in einer der so genannten sicheren Wohnungen der Säpo verbracht, die Waltin ihm besorgt hatte. Derselbe Waltin, der am nächsten Morgen zufällig falsch parkte, als er kam, um hinter ihm aufzuräumen, dachte Lewin. Am Tag nach dem Mord war der Täter verschwunden. Wann, wie und wohin war unklar. 408
An irgendeinem Tag nach dem Mord hatte Waltin die Waffe zurück in die Kriminaltechnische Abteilung geschmuggelt. In das sicherste Versteck, das es gab, vorausgesetzt, man war abgebrüht genug, um überhaupt auf den Gedanken zu kommen. Aber das war er ja, dachte Lewin. Zweieinhalb Jahre später, im Herbst 1988, hatte er sich die Waffe von Wiijnbladh ergaunert und ihn dazu gebracht, die Spuren der Waffe zu beseitigen. In letzter Minute, weil er aus dem Dienst entlassen worden war, dachte Lewin. Ein Mann, der absolut keine Grenzen kannte. Ein Mann, der meinte, dass ihm wirklich alles gelänge. Der es wirklich getan hatte und niemals auf die Idee gekommen wäre, den entscheidenden Beweis für seine Tat preiszugeben. Was mach ich denn jetzt bloß?, fragte sich Lewin, als er fertig war. Zuerst spreche ich mit Anna, und dann darf sie versuchen, ein ernstes Wort mit Johansson zu reden. Er selbst hatte nicht vor, es auch nur zu versuchen. »Bitte, setz dich doch, Anna«, forderte Johansson sie auf und deutete auf den Besuchersessel vor seinem Schreibtisch. »Ich habe gerade Lewins Aktennotiz gelesen, die du mir rübergemailt hast. Vorbildlich kurz. Man wird doch immer wieder überrascht. Der gute Jan scheint ja ganz wesensverändert. Klar und deutlich, ohne Umschweife. Plötzlich, einfach so.« »Was hältst du denn von dem, was da steht?«, fragte Holt. »Interessant. Bedauerlicherweise unbewiesen. Spannende Spekulationen zur momentanen Sachlage. Ein tadelloser Ermittlungsbericht«, sagte Johansson und nickte. Also so will er das aufziehen, dachte Anna Holt. »Wenn das denn nun ein tadelloser Ermittlungsbericht ist, sollte er doch wohl auf dem Tisch der Palme-Einheit liegen«, schlug sie vor. »In der gegenwärtigen Situation ist das, glaube ich, viel zu spekulativ, als dass wir sie damit behelligen sollten«, sagte Johansson. »Außerdem haben sie alle Hände voll mit anderem zu tun, wie ich von Flykt weiß.« 409
»Was fehlt dir denn?«, fragte Holt. »Wenn du mir den Namen dieses Arschs lieferst, der geschossen hat, dann versprech ich, dass du was erleben kannst«, sagte Johansson. »Dann versprech ich, dass ich die besten Kürläufer der Polizei herbeirufen werde, und es sind vielleicht nicht in erster Linie Flykt und seine Kollegen, die mir da vorschweben.« »Wenn du einen Namen bekommen hast«, sagte Holt. »Was ist, wenn du ihn nicht bekommst?« »Dann müssen wir noch einmal besonders gut über alles nachdenken«, gab Johansson zurück und nickte zufrieden. »Hier mögen wir alle Situationen.« Was auch immer das jetzt mit der Sache zu tun haben soll, dachte Holt. »Da war' noch eine andere Sache, über die wir reden müssen«, sagte Holt. »Ich fürchte, es ist keine ganz einfache Geschichte.« »Mit mir kannst du über alles sprechen«, sagte Johansson und lächelte freundlich. »Es geht um Pia, deine Frau«, sagte Holt. »Um mein Leben, meinst du?«, Johansson klang mit einem Mal ernst. »Was hat sie sich denn diesmal einfallen lassen?« Holt erzählte von dem Gespräch mit Jeanette Eriksson und von der Nachricht, dass Johanssons Gattin im Frühjahr 1986 offenbar ein Verhältnis, eine Affäre oder auf jeden Fall eine persönliche Beziehung zu Claes Waltin unterhalten hatte. »Das wusste ich schon«, entgegnete Johansson. »Auch die war vorbildlich kurz«, sagte er und lächelte. »Außerdem war das viele Jahre, bevor sie den Mann ihres Lebens traf.« »Wie hast du es denn herausgefunden?«, fragte Holt. »Sie hat es mir erzählt«, sagte Johansson. »Dass sie Waltin irgendwann im Frühjahr 1986 ein paar Mal getroffen hat. Zum ersten Mal, als Pia mit einer Freundin in eine Kneipe gegangen war, um Männer kennenzulernen. Allerdings hatte ich keine Ahnung davon, dass unsere ehemalige Kollegin Eriksson sie gewarnt haben soll. Im Nachhinein Eifersucht zu entwickeln liegt mir nicht«, sagte Johansson und zuckte die Schultern. »Du hast dir also nie Sorgen gemacht?«, fragte Holt. »Im Bezug auf Waltin und was er deiner Frau alles hätte antun können?«
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»Um Pia?«, gab Johansson zurück und schüttelte den Kopf. »Was hätte ein Affe wie Waltin ihr denn antun können? Das müsstest du doch wissen, Anna. Du hast Pia doch kennengelernt?« »Hast du etwas dagegen, dass ich mit Pia spreche? In Anbetracht des Sachverhalts, mit dem wir uns hier beschäftigen, müssen wir das tun, fürchte ich.« »Natürlich«, sagte Johansson. »Aber ich möchte zuerst mit ihr sprechen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie etwas dagegen hätte, mit dir zu reden. Zu Aufklärungszwecken«, fügte er hinzu und nickte Holt freundlich zu. »Selbstverständlich«, sagte Holt, und am besten spiele ich das Spielchen mit. »Sie wird nicht verdächtigt.« »Schön zu hören«, sagte Johansson. »Manchmal ist sie ein bisschen zu abenteuerlich für meinen Geschmack. Vielleicht nicht so erstaunlich. Sie ist ja schließlich auch bedeutend jünger als ich«, sagte er und seufzte vergnügt. Am Abend desselben Tages sprach Johansson mit seiner Frau Pia. Es bereitete ihm kein besonderes Vergnügen, das zu tun. Eifersucht auf die Vergangenheit war gewiss nichts, das ihn normalerweise plagte, das hatte er schon im Teenageralter hinter sich gelassen, aber wenn er hätte wählen können, hätte er es zweifelsohne vorgezogen, dass die Frau, die seine Gattin war, nie so jemanden wie Waltin getroffen hätte. Ganz gleich, ob er sich ihr gegenüber als ein ganz anderer ausgegeben hatte als der, der er Johanssons Überzeugung nach war. Wenn Waltin nicht gewesen wäre, hätte es ein perfekter Abend werden können. Pia war vor ihm nach Hause gekommen und hatte ein einfaches, schmackhaftes Abendessen zubereitet, zu dem man durchaus auch Mineralwasser trinken konnte, um danach den restlichen Abend damit zu verbringen, sich zu unterhalten und die Gesellschaft des anderen zu genießen. Vielleicht jeder mit einem guten Buch in der Hand, während sie mit ineinander verflochtenen Beinen in ihrer jeweiligen Ecke des Sofas lagen. Stattdessen musste er mit ihr über die Zeit vor über zwanzig Jahren sprechen, als sie etwas mit Claes Waltin gehabt hatte. »Wie hat dir das Curry geschmeckt?«, fragte Pia und sah ihn neugierig an. 411
»Phänomenal«, antwortete Johansson. »Aber, du, es gibt da eine Sache, über die ich mit dir reden muss.« »Klingt ernst«, sagte Pia. »Was hab ich denn verbrochen?« »Claes Waltin«, sagte Johansson. »Ich wusste es«, sagte Pia triumphierend. »Ich wusste es.« »Du wusstest was?« »Dass er es war, der Palme ermordet hat«, sagte Pia. »Hast du das etwa vergessen? Ich hab dir das bestimmt schon vor zehn Jahren gesagt, aber du hast dich geweigert, mir zuzuhören.« »Ich erinnere mich, dass du mir vor sieben Jahren damit in den Ohren gelegen hast«, sagte Johansson. »Ich erinnere mich auch, dass wir uns damals darauf geeinigt hatten, nicht mehr über die Sache zu reden.« »Und warum kommst du dann jetzt selbst damit an und fragst?«, sagte Pia mit unerbittlicher Logik. Seufz, dachte Johansson. Dann erzählte sie, wie sie Claes Waltin begegnet war. Das erste Mal hatte sie ihn getroffen, als sie kurz nach dem Palmemord mit einer Freundin in eine Kneipe gegangen war. Daran erinnerte sie sich noch, weil das damals eigentlich das Gesprächsthema Nummer eins gewesen war. Wie bei ihr und ihrer Freundin auch, und wie sie sogar überlegt hatten, ob sie ihren seit langem geplanten Kneipenbesuch nicht lieber abblasen sollten. Aber das taten sie nicht, und da hatte sie Claes Waltin getroffen. Claes war gutaussehend, humorvoll, charmant und nett gewesen und hatte ansonsten völlig normal gewirkt. Alles, was sie sich bei dieser Gelegenheit ersehnt hatte, weil sie und ihre Freundin eigentlich ausgegangen waren, um jeweils einen netten Kerl kennenzulernen. »Er lud mich zum Abendessen ein«, erzählte Pia. »Das war am Samstag in derselben Woche. Wir gingen in ein Restaurant. Dann fuhren wir zu ihm nach Hause.« »Aha«, sagte Johansson. Warum um Himmels willen hab ich das nicht Anna überlassen?, dachte er. »Du fragst dich, ob ich gleich mit ihm geschlafen habe«, sagte Pia und sah Johansson neugierig an. »Hast du das denn getan?«, sagte Johansson. Wo hat sie das alles her?, dachte er. 412
»Nein«, sagte Pia. »Ich war sogar erstaunt darüber, dass er die Gelegenheit nicht ergriff. Er zeigte mir seine ganzen Gemälde. Und er hatte eine ganz phantastische Wohnung. Sie lag in Norr Mälarstrand, mit Blick auf das Wasser. Ich fragte ihn, wie ein Polizist so viel Geld verdienen könne, und da erzählte er, dass er seine Mutter beerbt hätte. Sie wäre bei einem Unfall ums Leben gekommen.« Klar doch, das war sie, dachte Johansson. »Und dann?«, sagte er. »Beim nächsten Mal hab ich mit ihm geschlafen«, berichtete Pia. »Bei mir zu Hause aber. Davor waren wir auch essen gewesen. Das war übrigens nur ein paar Tage, bevor du an meinem Arbeitsplatz aufgekreuzt bist und mich gefragt hast, ob ich mit dir essen gehen wollte. Daran erinnerst du dich bestimmt. Als ich dir auseinandersetzte, dass ich schon vergeben war, hast du ausgesehen wie ein kleiner Junge bei drei Tagen Regenwetter. In dem Augenblick hätte ich es mir beinahe anders überlegt.« Beinahe bringt keine Mücke um, dachte Johansson. »Und dann?«, fragte er erneut. »Wenn du damit den Sex meinst, so war da nichts Besonderes dran. Typischer, normaler Erstes-Mal-Sex. Wir hatten zweimal Sex, falls du dich das fragst. Dass er nicht zum ersten Mal mit einer Frau schlief, war mir schon klar. Es war auch für mich nicht das erste Mal, und das weißt du auch.« »Das wollte ich gar nicht wissen«, sagte Johansson. »Dann ist allerdings eine sehr seltsame Sache passiert«, fiel Pia ihm ins Wort. »Ich glaub, das hab ich dir noch gar nicht erzählt.« Jeanette Eriksson, dachte Johansson. »Erzähl«, sagte er. Ein paar Tage später sei eine junge Frau auf sie zugekommen, als sie von der Arbeit nach Hause gegangen war, und hatte sie um ein Gespräch gebeten. »Eine junge, hübsche Frau«, erzählte Pia. »Jeanette, Jeanette Eriksson hieß sie, glaube ich. Sie sagte, dass sie Polizistin wäre, und zuerst habe ich ihr nicht geglaubt, weil sie aussah, als ob sie immer noch zur Schule ging, aber dann holte sie ihren Ausweis hervor und zeigte ihn mir. Sie wolle über Claes sprechen. Sagte, dass es wichtig wäre. Also gingen wir in ein in der Nähe gelegenes Cafe.« »Und was wollte sie?« 413
»Was sie erzählte, war furchtbar. Es ging darum, was Claes mit ihr gemacht hatte. Dass er ein Sadist sei. Dass er sie fast umgebracht hätte. Ich glaubte ihr nicht. Das war nicht der Claes Waltin, den ich kannte. Das sagte ich ihr auch. Fragte sie geradeheraus, ob sie eifersüchtig auf mich sei. Danach herrschte eine ganz seltsame Atmosphäre. Wir haben dann auch nicht mehr viele Worte verloren.« »Was hast du dann gemacht?« »Ich habe lange darüber nachgedacht«, sagte Pia. »Zuerst hatte ich vor, Claes ohne Umschweife danach zu fragen. Aber daraus wurde nichts. Wäre irgendwie komisch gewesen, im Hinblick darauf, dass wir uns ja noch gar nicht besonders gut kannten. Aber es verfolgte mich, und als wir uns dann das nächste Mal sahen, ich glaube, das war nur ein paar Tage, nachdem ich mit dieser Jeanette gesprochen hatte, gingen wir erneut zu mir nach Hause. Weiß nicht, warum. Vielleicht damit ich mich sicherer fühlen konnte.« »Und wie war das?«, sagte Johansson. »Typischer Zweitsex?« »Besser«, Pia sah ihn ernst an. »Viel freier, nicht so nervös. Aber bevor er ging, sagte er etwas, das ich ein wenig eigenartig fand.« »Ich bin ganz Ohr«, sagte Johansson. »Als er im Begriff war zu gehen und wir draußen in der Diele standen, umfasste er mit der Hand meinen Nacken, sogar ganz schön grob, und sagte dann, dass wir, wenn wir uns das nächste Mal sähen, zu ihm nach Hause gehen sollten. Um dann mal so richtig zu vögeln. Irgend so etwas in der Art hat er gesagt, und es war etwas in seinem Blick, das mich an das denken ließ, was diese Jeanette mir erzählt hatte.« »Aber du bist trotzdem das nächste Mal mit zu ihm nach Hause gegangen?«, fragte Johansson. »Yess«, antwortete Pia und lächelte dabei. »Das bin ich. Und als ich in seinem Bett lag und er ins Badezimmer ging, konnte ich mich nicht beherrschen. Ich sah in seinem Nachtschrank nach.« »Ja? Und...« »Und da fand ich die Bilder, die er von Jeanette gemacht hatte«, sagte Pia ernst. »Es waren keine schönen Bilder. Sie waren grässlich.« »Was hast du dann gemacht?«
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»Mir wurde eiskalt. Insbesondere, weil er plötzlich in der Tür stand und mich einfach nur ansah. Kein Wort kam über seine Lippen. Er stand nur da und starrte mich an. Sah ganz seltsam aus.« »Was hast du dann gemacht?«, wiederholte Johansson. »Es hat mich nicht erregt, falls du das glaubst.« Pia sah ihn ä rg erlich an. »Ich bekam wa hnsinnig en Schiss, spra ng a us dem Bett und fing an, mich anzu ziehen. Da begann er, mit mir zu kämpfen, um mich zu Boden zu zwingen.« »Und wie ist es ausgegangen?« »Ganz phantastisch«, sagte Pia. »Da hab ich zum ersten Mal begriffen, wozu es gut war, mit zwei gleichaltrigen Brüdern aufzuwachsen, die sich anda uernd mit mir geprügelt ha ben.« Sie lächelte ihm zu. »Erzähl.« »Ich hab ihm das Knie in den Unterleib gerammt«, sagte Pia. »Ein perfekter Treffer, direkt in die Eier. Genau so, wie meine Brüder es mir beigebra cht ha tten. Er fiel auf dem Boden zu einem Häufchen zusammen und lag einfach nur da und wimmerte. Ich raffte meine Kleidung an mich, packte meine Handtasche, holte im Flur meinen Mantel und lief die Treppen hinunter und auf die Straße. In dem Moment fiel mir a uf, da ss ich meine Schuhe vergessen hatte. Meine neuen schwarzen Schuhe mit hohen Absätzen. Teuer, wunderhübsch, italienisch. Was meinst du, von wem ich sie wohl beko mmen ha tte?« »Von Claes Wa ltin«, riet Johansson. »Yes«, sagte Pia. »An unserem dritten Da te. Und da bei hatte ich noch nicht ei nmal eine Ahnung davon, dass er meine Schuhgröße ka nnte. Sa ßen wie angegossen. Sauteuer.« »Und dann? Was ist da nn passiert? « »Nichts«, sagte Pia. »Ich habe ihn nie wieder gesehen. Keine Gespräche. Nichts. Obwohl es mir um die Schuhe leidtut«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Und dann bedauere ich, da ss ich die Bilder von dieser Jeanette nicht mitgenommen habe, um sie zu vernichten. So einer sollte nicht solche Fotos haben dürfen.« 415
»Er ha tte bestimmt noch mehr«, sagte Joha nsso n. Wo auch immer sie gelandet sind, dachte er. Als sie zu Bett gegangen wa ren, fiel es ihm ausnahmsweise einmal schwer, einzuschla fen. Er zog sie a n sich. Ein kleiner Löffel an einen großen Lö ffel geschmiegt, der nicht einmal mehr de n Bauch einziehen musste, wenn er mit seiner Fra u im Bett liegen wollte. Obwohl er den Arm um sie gelegt ha tte, fiel es ihm schwer, einzuschlafen. Welcher Arm würde sie schützen, wenn das, was er über Waltin glaubte, sich als wa hr herausstellte? Wenn es allen anderen offenbart wurde? Wenn die Medien es herausfa nden? Die Story über den Polizeichef, dessen Frau etwas mit dem Ma nn gehabt ha tte, der hinter der Ermordung des Ministerpräsidenten steckte. Noch besser. Die zu dem Zeitpunkt etwas mit ihm gehabt ha tte, als er gera de den Ministerpräsidenten umgebracht hatte. Dieses Verhör kannst du verg essen, Holt, dachte Lars Martin Johansson, und da nn schlief er endlich ein. »Ich müsste mit dir reden, Chef«, sagte Ma ttei, als sie in der Tür zu Johanssons Zimmer stand. »Kann das nicht bis Montag warten?«, sagte Jo ha nsson. »Ich hab gerade so v iel um die Ohren. Muss meine Liebste abholen. Wir wollen übers Wochenende verreisen.« »Ich fürchte, es ist wichtig«, sagte Ma ttei. »Was ist denn wichtiger als meine Frau?«, sagte Joha nsson. »Bestimmt nichts«, entg eg nete Lisa Mattei und lächelte. »Ich bilde mir nur ein, dass ich den Arsch gefunden habe, der es geta n hat.« Den, mit dem du uns die ganze Zeit in den Ohren liegst, dachte sie. »Schließ die Tür«, befa hl Joha nsson. »Setz dich.«
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»4711«, sagte Joha nsson fünf Minuten später, als Mattei fertig war. »War das nicht irgend so ein geheimnisvolles deutsches Parfüm?« »Dadurch bin ich auch da rauf geko mmen«, sagte Ma ttei. » Und im gleichen Moment ha be ich mich a n den Dienstcode auf dieser so gena nnten Quittung, die Waltin Wiijnbladh gegeben hatte, erinnert.« » Aber du weißt nicht, wie er heißt?«, frag te J ohansson. »Irgendjemand muss es gewusst haben. Vor allem, wenn ich an die Antwort a us der zustä ndigen Perso nalabteilung denke, die in der Akte liegt. Ich habe Linda, meine Mutter also, gefragt, aber sie wo llte nicht darüber reden. Meinte außerdem, dass es schwer werden könnte, das herauszu finde n. Wenn man bedenkt, wie lang da s her ist.« »Hast du irgendeine Beschreibung dieses geheimnisvollen Parfümma nnes?« , frag te Jo ha nsso n. »Der anonyme Info rmant ha t eine Beschreibung gegeben. Wobei ich glaube, dass es dieser Orjala war, Jorma Kalevi Orjala. Wa r ein beka nnter Verbrecher da mals, der nur ein paar Mo nate nach dem Palmemord von einem unbeka nnten Täter angefa hren und ertrunken aus dem Karlbergskanal gefischt wurde. Es scheint nicht gerade so, als ob Orjala den Kollegen gemocht hätte, aber daran sollten wir uns vielleicht nicht aufhängen.« » Wora n sollen wir uns denn dann aufhängen?«, fiel Johansson ihr ins Wort. »Er sagte, dass der Mann, den er an dem Abend, als Palme ermordet wurde, in diesem Chinarestaurant in der Drottninggata gesehen ha tte, bei der Kripo in So lna gearbeitet hätte. Er hä tte aber vor ein pa ar Jahren dort aufg ehört und stattdessen bei der Säpo angefangen. Er soll dort 1982 a us dem Dienst geschieden sein. Da s hat die Säpo selbst dem Kollegen mitgeteilt, der den Vorga ng mit dem a nonymen Hi nweis bearbeitet hat.« »Zur Hölle«, stieß Johansson plötzlich hervor und setzte sich kerzengerade auf. »Verfluchte Hölle. Warum 417
hab ich daran nicht geda cht? Wie habe ich diesen Arsch vergessen kö nnen?« »Verzeihung?«, sagte Ma ttei. »Zur Hö lle«, wiederholte Johansson. »Das ist doch Kjell Göran Hedberg, von dem du da sprichst.«
Im Norden von Mallorca, Herbst 1992. Zuerst wollte er hinter sich aufräumen. Nachdem er den Körper beseitigt hatte, wollte er hinter sich aufräumen. Wollte mit seinem Hotelzimmer anfangen. Seine Schlüssel an sich nehmen. Das Flugzeug nach Stockholm nehmen. In seiner Wohnung in Norr Mälarstrand und auf seinem Landsitz hinter sich aufräumen. Sich bestenfalls das zurückholen, was ihm rechtmäßig gehörte. Aber dazu war es nicht gekommen. Wie schon so oft zuvor, wenn er Pläne geschmiedet hatte, hatte ihm der Zufall einen Strich durch die Rechnung gemacht. Als er am nächsten Morgen beim Hotel aufgetaucht war, war die Polizei schon vor Ort gewesen. Der Streifenwagen stand am Hoteleingang. Zwei uniformierte spanische Polizisten standen an der Rezeption und unterhielten sich mit dem Personal. Den Generalschlüssel in seiner Tasche, für den er so teuer hatte bezahlen müssen, konnte er nicht länger benutzen. Den hatte er entsorgt. Hatte ihn ins Wasser geschmissen, als er das geliehene Boot zurückgebracht hatte. Nach Schweden zufahren konnte er auch vergessen. Blieb zu hoffen, dass es nichts gab, was hätte aufgeräumt werden müssen. Er hatte sich ruhig verhalten. Seinen Wohnsitz gewechselt, gewartet, sich monatelang wie ein Kaninchen in seinem neuen Bau verkrochen. In der Zeit hatte er sich auch dafür entschieden, die Esperanza bauen zu lassen. Als eine zusätzliche Versicherung, auf die er zurückgreifen könnte, um sich gegen den Zufall abzusichern. Aber nichts war geschehen. Es hatte nichts gegeben, das er hätte aufräumen müssen. Hätte es etwas gegeben, hätte er das bemerkt. 418
Dann wären Dinge geschehen. Aber es war nichts weiter geschehen, als dass die Jahre vergangen waren, und dass es bald für immer vorbei sein würde. Dass die weltliche Gerechtigkeit ihn nicht mehr erreichen konnte. Um die göttliche Gerechtigkeit hatte er sich nie sorgen müssen. Sie schien vielmehr stets auf seiner Seite gestanden zu haben, wenn man denn an so etwas glauben wollte. Die Esperanza war nicht länger nur ein Boot, eine Versicherung und eine Erinnerung. Sie trug mittlerweile auch zu seinem Lebensunterhalt bei, und es war Ignacio Ballester gewesen, der die Idee dazu gehabt hatte. Weshalb nicht aus den ganzen Pauschaltouristen Kapital schlagen? Aus allen, die schwimmen, fischen und tauchen wollten. Er kannte die Gegend, kannte die Gewässer. Ein erfahrener Seemann sei er auch, ein guter Taucher und ein tüchtiger Fischer. Was wäre einfacher, als seine Visitenkarte neben den vielen anderen anzubringen, die an der Anschlagtafel an der Charterbrücke in Puerto Pollensa hingen? Tagesausflüge, Schwimmen, Fischen, Tauchen. Leicht verdientes Geld, und die Finanzbehörden behelligten einen auch nicht, wenn man clever genug war, auf der gedruckten Visitenkarte nur die Mobilnummer anzugeben. Und erst die vielen hübschen Frauen, die er kennenlernen könne, sagte Ignacio und zwinkerte ihm zu. Ein Mann wie er. In seinen besten Jahren und mit einem so schönen Boot wie der Esperanza. All die schönen Frauen, fast nackt, nur fürs Schwimmen und Tauchen gekleidet. Und dann die Sonne, das warme Meer. Geborgenheit, Freiheit, vielleicht sogar Liebe. Liebe. Ein bisschen Liebe könne doch nie schaden? Mittwoch, der 26. September und noch genau zwei Wochen bis zum 10. Oktober. Hauptquartier der Zentralen Kriminalpolizei auf Kungsholmen in Stockholm. Eine halbe Stunde bevor die übliche Mittwochsbesprechung beginnen sollte, betrat Lisa Matteis Mutter Johanssons Zimmer. Schloss die Tür hinter sich, setzte 419
sich in den Besuchersessel und sah Lars Martin Johansson scharf an. »Keine Zeit für Fisimatenten«, sagte Joha nsso n und lä chelte ihr zu. »Du bist schö ner als je zuvor, Linda. Obwo hl sich da s sicher keiner deiner tra ntütig en Kollegen je zu sag en g etraut ha t.« »Auch keine Zeit für dummes Gerede, Lars«, entg egnete Linda Mattei. »Kurze Frage. Wa s hast du mit meiner Tochter angestellt?« »Nichts«, sagte Johansson und schüttelte den Kopf. »Sie ist gewiss ebenso entzückend wie ihre Mutter, aber wie du bestimmt weißt, bin ich scho n seit Ja hren ein glücklich verheirateter Ma nn.« »Sie stellt eine Menge seltsamer Fragen«, sagte Linda Mattei. »Ich mache mir So rgen um sie.« »Das brauchst du nicht« , beruhigte sie Joha nsso n. »Wenn du mich fragst, so bin ich überzeugt davon, dass für sie alles bestens laufen wird. Es läuft jetzt schon alles bestens, und sie kann es ungeheuer weit bringen. Wird das sicher auch tun.« »Letzte Woche wollte sie, da ss ich ihr die Identität eines meiner ehemaligen Ko llegen verrate. Hast du sie darum gebeten?« »Bestimmt nicht«, sagte Jo hansson. »Da ist sie ga nz von allein drauf gekommen, und dafür bin ich ihr sehr da nkba r.« » Du steckst a lso nicht da hinter?«, ha kte Linda Mattei nach. »Ich ha be ihr na türlich geho lfen, als sie mich gefra gt ha t.« » Du ha st ihr g eholfen?« »Kjell Göra n Hedberg«, sagte Jo ha nsso n, »mir ist es unbegreiflich, wie ich so einen wie ihn vergessen konnte.« »Das heißt, du wusstest es also«, sagte Linda Ma ttei. »Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, als deine entzückende Tochter so freundlich war, ihn mir zu beschreiben. In den siebziger Jahren war er bei der Kripo in Solna. Dann Personenschützer bei der Säpo. 1982 a us 420
dem Dienst geschieden. Kjell Göran Hedberg. Derselbe Hedberg, der nie hä tte Po lizist werden dürfen.« »Wusstest du, dass man ihn den Parfümmann gena nnt hat? Nach diesem grässlichen deutschen Eau de Cologne. Kölnisch Wasser, 4711. Da s mein Ma nn mir regelmäßig geschenkt ha t«, fügte Linda Mattei hinzu. »Wusste ich nicht« , erwiderte Joha nsson. »Das muss vor meiner Zeit gewesen sein. Du hast es jedenfalls, bei den wenigen Malen, bei denen ich das Vergnügen hatte, nicht getragen«, sagte Jo ha nsso n. »So, so«, sagte Linda Mattei. »Du hast also no ch nie die Geschichte über den Parfümmann gehört?« » Nein«, sag te Jo ha nsso n. »Erzähl.« Hedberg habe im Sommer 1976 bei der Säpo angefangen. Er sei von der Kripo in Solna angeworben worden und einer der drei gewesen, die von dort geho lt wo rden und zur Personenschutza bteilung der Säpo versetzt worden seien. Zuerst Ausbildung, da nn Dienst als Leibwä chter. Darüber hinaus habe er einen Dienstcode erhalten, um seine Identität vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. »Er bekam den Code 4711«, erzä hlte Linda Mattei. »Ganz ohne Hintergedanken. Jedenfalls nicht, soweit mir bekannt ist. Das war wo hl ga nz einfach der Co de, der zufällig frei war. Nach einiger Zeit bemerkte ich, dass die Kollegen ihn Pa rfümma nn na nnten. Nach diesem deutschen Eau de Cologne also . Da ist er bei mir aufg etaucht und hat sich beschwert. Ich war zu der Ze it die Büroverantwortliche der Abteilung.« » Ich ka nn mich ka um beherrschen« , sag te Jo ha nsso n mit lüsterner Miene. » Ich sag te zu ihm, da ss er nicht so verda mmt kindisch sein solle«, fuhr Linda Mattei ungerührt fort. »Wenn es denn so sei, dass ei n paar von seinen kleinen Kameraden gemein zu ihm seien, könne er sie ja verpetzen und der Lehrerin Namen nennen, dann würde ich ihnen die Ohren lang ziehen. Da er ja anscheinend nicht Manns genug sei, sich über so lchen Kinderkra m hinwegzusetzen.« 421
»Und wa s hat er darauf geantwortet?« »Er hat sich verdrückt«, sagte Linda Mattei. »Ist, so lange ich hinter dem Tresen saß, nicht wiederg ekommen, und das waren immerhin ein paar Jahre.« »Er war sicher anderweitig ausreichend beschäftigt«, sagte Johansson. »Zuerst damit, die Post in der Dalagata zu überfallen, und dann damit, die beiden Zeugen a us dem Weg zu rä umen, die ihn zufällig wiedererkannt hatten.« »Die Geschichte ha b ich scho n ö fters gehört«, Linda Mattei nickte. »Zeig mir die Anklageschrift oder auch nur eine Vo runtersuchung , da nn v erspreche ich, dir mein Ohr zu leihen.« »Schwamm drüber«, sagte Jo hansso n. »Erzä hl weiter.« » Mein Nachfolger hatte offenbar ein offeneres Ohr für ihn. Das war Björn Söderström, den du bestimmt kennst. Der dann Chef der ganzen Abteilung wurde. Auf jeden Fall erlöste er den Parfümma nn Kjell Göra n Hedberg von seinem Leiden. Aus denselben Gründen, weshalb du nicht BIG ONE auf deinem Nummernschild stehen ha st.« »Wofür braucht ein richtiger Ma nn auch so ein Auto kennzeichen?«, sagte Joha nsson und zuckte mit den Schultern. »Nein, du vielleicht nicht. Aber bestimmt der eine oder andere vo n deinen Brüdern«, sagte Linda Mattei. »Ebendieser Code, ich rede also von 4711, ist seitdem nie mehr benutzt worden. Nicht mehr seit dem Herbst 1977, soweit ich weiß. Aber die Geschichte war wohl bekannt, weshalb unsere Personalabteilung bestimmt auch ebendiese Antwort geschickt hat.« »Aber Hedberg blieb doch im Dienst. Auch nachdem er die Post ausgeraubt und zw ei Zeugen beseitigt ha tte« , wa rf Jo ha nsso n ein. »Ja, da s durfte er. Allerdings hörte er schon 1978 beim Personenschutz auf. Zum einen wurde eine Menge über da s getuschelt, was du gerade erwä hnt hast. Zum anderen hat unser da malig er Chef - Berg , wie du dich 422
bestimmt erinnerst - ihn stra fversetzt. Er hat fast vier Jahre im Innendienst verbracht, bis er kündigte.« » Ich ha b ga nz schö n viel darüber nachgedacht«, sagte Johansson. »Warum ließ Berg ihn bleiben?« »Tja, zumindest nicht aus Fürsorge« , sa gte Linda Mattei. »Ich weiß, auf was du hinauswillst«, sagte Johansso n. »Fa lls Kjell Göra n Hedberg war a m 15. August 1944 in der Gemeinde Vaxholm nördlich von Stockholm geboren worden. Sein Vater war Lotse gewesen. War auf Sandhamn stationiert und in Vaxholm wo hnhaft gewesen, wenn er nicht gerade Schiffe durch die Schä ren von Stockholm gelo tst hatte. Er ha tte mit seiner Familie ein Einfamilienhaus in Vaxholm be wohnt. Hedbergs Mutter war Hausfrau gewesen. Abgesehen von Kjell hatten die Eheleute Hedberg no ch eine drei Ja hre jüngere Tochter gehabt, die sie Birgitta getauft hatten. Falls er denn immer noch am Leben wa r - und es gab nichts, was aufs Gegenteil schließen ließ -, war er vor gut einem Mona t dreiundsechzig Jahre alt geworden. Und falls er wirklich den Ministerpräsidenten des Landes erschossen ha tte, war er zum Zeitpunkt der Tat einundvierzig Jahre alt gewesen. Außerdem groß genug. Als er sich vor über dreißig Jahren an der Polizeischule beworben hatte, war er 1,86 Meter gro ß gewesen. Den sieben Jahre alten Angaben in seinem letzten Pass zufolge, war er heute 1,84 Meter gro ß. »Das Alter zieht wohl auch an so einem nicht spurlos vo rüber« , stellte J o ha nsso n mit grimmiger Miene fest. Nach Abschluss der neunjährigen Volksschule ha tte Hedberg ein paar Jahre la ng als Tischlerlehrling auf einer kleinen Werft in Vaxholm gearbeitet und gleichzeitig das Abendgymnasium besucht und in einigen Fächern das Abitur abgelegt. Mit achtzehn Jahren ha tte er seinen Wehrdienst bei den Küstenjägern in Vaxholm absolviert. War zum Kampftaucher ausgebildet worden und mit besten No ten in allen Fächern aus dem Grund423
wehrdienst entlassen worden. Als er volljä hrig geworden wa r, hatte er sich an der Po lizeischule beworben und war im Jahr darauf angeno mmen worden. Man schrieb das Jahr 1965, und zu dem Zeitpunkt war er einundzwan zig Jahre alt. Nachdem er die Ausbildung zum Po lizisten, die damals knapp ein Jahr dauerte, beendet ha tte, wa r er als Polizeianwärter bei der Stockholmer Polizei gela ndet. War ein Jahr später zum Polizeiassistenten befördert worden und hatte sich nach insgesamt zehn Jahren um die Stelle des Kriminalinspektors bei der Polizei in Solna beworben. Hedberg ha tte die Stelle beko mmen. Ihm wa ren nicht nur gute Zeug nisse ausgestellt worden, er war auch ein Kollege, über den alle nur Gutes zu berichten wussten. So einer, an den man sich anlehnen ko nnte, wenn es plötzlich hart auf hart ka m. So einer, der immer für andere da war. Hedberg wa r trotz seiner jungen Jahre ein richtiger Bulle. Man schrieb das Jahr 1975, und er war gerade einunddreißig Jahre alt. Nach gut einem Jahr bei der Kripo in Solna hatte sich die Sicherheitspo lizei gemeldet. Hatte mit Hedbergs Chef gesprochen. Ha tte mit ihm selbst gespro chen. Hatte ihr Rekrutierungspersonal geschickt und ein Vo rstellung sgespräch mit Hedberg geführt. Hatte ihn für die obligatorische Probewoche auf ihr Internat irgendwo in Schweden geschickt. Hatte ihn gefragt, ob er bei ihnen anfangen wollte. Hatte eine bejahende Antwort erhalten. Hatte alle Papiere fertig gemacht und grünes Licht von seinem Polizeichef und von ihm selbst erha lten. Hedberg war in Sä pos Personenschutza bteilung eingesetzt worden. Er war der beste Schütze der Solnapolizei und in aus gezeichneter körperlicher Verfassung gewesen. Alleinstehend, keine Kinder. Nichts, was ihn daran gehindert ha tte, sein Leben der Polizei zu widmen. Er war gutaussehend und hatte sorgfältig auf sein Äußeres geachtet. Ha tte sich geschma ckvoll gekleidet und war höflich und zuvorkommend gewesen. Er hatte alles geha bt, was ma n sich v on einem wünschte, der die 424
Potentaten des Landes bewa chen und im schlimmsten Fall die Kugel abfangen so llte, die seinem Bewachungsobjekt zu gedacht war. So weit war alles bekannt und belegt. Was dann gescha h, war im großen Polizeig ebäude von Stockholm auf Kungsholmen bestenfa lls Verleumdung. Schlimmstenfalls traf es zu, obwo hl Hedberg während seiner ganzen aktiven Zeit als Polizist niemals auch nur ansatzweise eines Verbrechens bezichtigt worden war. Jo ha nsso n ha tte eine Aktennotiz über Hedbergs Leben bis hin zu dem Zeitpunkt verfasst, als die bö sen Gerüchte in Umlauf gekommen waren. Er hob hervor, da ss er sie eigenhä ndig g eschrieben ha be, dass sie vorbildlich kurz und bün dig sei und dass er es trotz seines fortgeschrittenen Alters immer noch schaffte, die richtigen Tasten auf seinem Computer zu finden. »Lest also und schwelgt, denn den Rest wollte ich mündlich machen«, sagte Johansson. »Ihr werdet gleich verstehen, weshalb, und ich werde euch noch nicht einmal begreiflich machen müssen, dass das unter uns bleiben muss. Bis auf weiteres jedenfalls. Wenn es sich so verhält, wie ich annehme, dann werden wir jetzt wohl so langsam andere Saiten a ufziehen. Aber darüber kann ich mir immer noch So rgen machen, wenn es so weit ist«, sagte Johansso n. »Am Freitag, dem 13. Mai 1977 überfiel Hedberg die Post in der Dalagata 12«, begann Johanssons Bericht. »Er hatte den Auftrag, tagsüber den da maligen Justizminister zu bewachen. Der J ustizminister wo llte jedoch die Gelegenheit nutzen, um einige Viertel entfernt seiner Lieblingshure einen Besuch a bzusta tten. Hedberg wurde für ein paar Stunden von seinen Aufgaben entbunden und nut zte die Zeit, um den Postüberfall zu b egehen, und entkam mit fast 300 000 in bar. Viel Geld zu einer Zeit, in der ein Kriminalinspektor wie ich nur fünftausend im Mona t verdient hat. Vor Steuern und 425
einschließlich aller Überstunden, die man angesammelt hatte.« »Diese Geschichte hab ich bestimmt scho n hundertmal gehört«, sagte Holt. »Ist sie wirklich wahr?« »Ja «, sag te Jo ha nsso n. »Wo her ich das weiß? Und o b, ich weiß es. Ich ha b ihn nämlich gefunden.« Dann war es no ch schlimmer geko mmen. In den folgenden Monaten hatte Hedberg sich der zwei Zeu gen des Raubüberfalls entledig t, indem er sie ermordete. Der erste war ein junger Ma nn gewesen, den er mit seinem Auto überfahren hatte, als dieser die Straße vor der U-Bahnstation beim Skogskyrkogärden, unmittelbar südlich von Stockholms Innenstadt, überquert ha tte. Der Vorgang wurde als ein tragischer Verkehrsunfall abgeschrieben, bei dem da s Opfer unter Rauschmitteln gestanden haben und sich me hr oder weniger vor Hedbergs Auto geworfen haben sollte. Bei der Beseitig ung des zweiten Zeugen handelte es sich um einen ganz gewöhnlichen Mord. Ein älterer, aus der Gesellschaft ausgestoßener Mann, dem er den Nacken gebrochen und ihn am 24. Dezember 1977 ausgerechnet auf dem Skogskyrkogärden liegen gela ssen ha tte. »Am Heiligabend!«, rief Lisa Mattei empört, und ihre Aug en sprühten Funken. Die Verdächtig ungen konnten nie bewiesen werden. Entschieden wurde da s Ganze dadurch, dass der Justizminister ihm ein Alibi für den Zeitpunkt des Überfalls gegeben hatte und damit die gesamte Beweisführung wie ein Ka rtenha us einstürzen ließ. »Das Ganze endete da mit, da ss er aus dem Außendienst entfernt wurde« , fuhr Johansso n fort. »Er musste bei der Säpo bleiben und Papiere wälzen. Vier Jahre lang blieb er dort, bis er kündigte und aus dem Dienst schied. Wo er da nn abgeblieben ist, ist unklar. Den wenigen Quellen zufolge soll er scho n ein Jahr später nach Spanien ausgewandert sein. Das wa r im Herbst 1983. Zug leich ha be ich a ber Grund zu der Anna hme, da ss er 426
in den fo lgenden Jahren weiter für die Säpo gearbeitet hat. Als so genannter Externer Operateur.« Joha nsso n zufolge gab es noch mehr Details. Der Einzige, der sich ebendiesen Externen Operateur zunutze gemacht hatte, war der damalige Erste Polizeioberintendent Claes Waltin gewesen. Wahrscheinlich auch bei einem Auftrag, der schiefgela ufen war. Eine streng geheime Hausdurchsuchung in einer Studentenwo hnung im Körsbärsväg in Stockholm, am Freitag, dem 22. November 1985. »Waltin war für das Praktische zuständig. Es ging um einen amerikanischen Journalisten, der dort zur Untermiete wo hnte. Ich habe Grund zu der Annahme, dass der Externe Operateur, von dem er Gebrauch ma chte, Kjell Göran Hedberg wa r.« » Freitag, der 22. November«, wiederho lte Mattei, deren Wangen sich scho n gerö tet ha tten, a ls sie vo n der Leiche auf dem Skogskyrkogärden gehört hatte. »Das war doch der Tag, an dem Kennedy erschossen wurde.« »Zweiundzwanzig Jahre früher«, sagte Johansson und lächelte zufrieden. »Ich bilde mir trotzdem ein, dass das aber einer von diesen ach so seltenen Zufällen war.« »Was ist denn schiefgela ufen?« , fragte Ho lt. »Der Journalist tauchte plötzlich auf. Überraschte Hedberg. Hedberg tötete ihn und täuschte einen Selbstmord vor, indem er einen Abschiedsbrief verfasste und den Mann im zwan zigsten Stockwerk aus dem Fenster warf.« »Das ka nn nicht wahr sein«, stöhnte Lisa Mattei auf. »Mein erster richtiger Serienmörder. Mindestens drei Morde in drei verschiedenen Fä llen. Wenn er auch noch Palme erschossen hat, hat er mit Auszeichnung bestanden.« »Schön, dass ich dich zum Strahlen bringen kann, Lisa«, sagte Johansson. » Denn es ist nicht gera de ein Spaß, mit diesem Arsch zu tun zu haben.« 427
»Du hast ihn doch getroffen« , sagte Lewin. »Wie würdest du ihn beschreiben?« »Ich habe ihn sogar unzählige Male im Dienst da mals getro ffen. Wa s er für ein Typ ist? Ein Psycho pa th, eiskalt, durchtrieben, rational, lebensgefä hrlich. Alles, was du willst. Als ich Operativer Chef der Geschlossenen Arbeitseinheit war, hab ich mich damit vergnügt, seine Personalakte zu lesen. Da s war keine amüsante Lektüre. So jemand wie er hätte niemals Polizist werden dürfen. Man würde es sich auch zu einfach machen, ihn als einen gewöhnlichen Lustmö rder oder Sadisten zu be zeichnen. Hedberg ist ein ausgeprägter Pragmatiker. Wenn eine Glühbirne kaputt ist, wird eine neue eingedreht, das scha ffen die meisten. Wenn jedoch ein Mensch Hedbergs Existenz bedroht, da nn entledigt er sich seiner. Auf dieselbe einfache und selbstverstä ndliche Weise wie wir anderen eine Glühbirne wechseln. Dass er also einen Kick dabei verspürt ha ben so ll, jemanden zu töten, könnt ihr meiner Meinung nach getrost vergessen. Es ist in Wirklichkeit noch viel schlimmer.« » Gibt es ein psy chologisches Gutachten über ihn?«, fragte Ho lt. »Das Standardgutachten, wie sie damals über alle angefertig t wurden, die bei der Säpo anfingen. Darin hatte man selbstverständlich nur Gutes zu berichten. Anfang s zumindest. Sehr gute Selbstbeherrschung, sehr hohe Stressschwelle, konstr uktiv, rational, äußerst handlungsfähig. Nach den Ereignissen im Jahr 1977 wurde das jedoch anders. Da ließ der damalige höchste Chef, Berg also, ein sehr umfa ssendes psycho logisches Gutachten über Hedberg anfertig en. Alle hier Anwesenden wissen bestimmt, was ich von so etwa s halte, aber ausnahmsweise einmal bin ich geneigt, dem Onkel Doktor beizupflichten.« » Wie la utete sein Urteil?«, sagte Mattei. » Ein niederträchtig er Psy cho pa th mit beina he grenzenlosem Selbstvertra uen, der sich selbst für einen Übermenschen hielt und völlig unfähig zu tieferen, ge428
fühlsmäßigen Bindungen zu anderen Menschen war. Zudem mit einer sehr großen, rein physischen Kapa zität.« »Jeder ha t ein paar schwache Seiten. Auch so einer«, sagte Holt. »Gla ub ich auch«, sagte Johansson. »Hedberg hat zumindest eine, wenn du mich fragst.« »Welche denn?«, sagte Holt. »Er hatte einen großen Frauenverschleiß«, sagte Johansso n. »So etwa s kostet. Früher oder später.« »Das ist also der Arsch, nach dem wir suchen?«, sagte Anna Holt, als Jo ha nsso n eine halbe Stunde spä ter fertig war. »Glaub ich«, sagte Johansson, lächelte und nickte Mattei zu. »Was sollen wir denn jetzt unternehmen?«, sagte Holt. »Findet ihn«, forderte Joha nsson. »Damit ich Leim aus dem Arsch kochen kann.« Endlich, es ist allerhöchste Zeit, und wir haben nicht eine Stunde zu verlieren, dachte er. »Eins noch«, sagte Holt. »Ja ?« »Aufnahmen von Hedberg. Haben wir Photos von ihm?« »Wofür hältst du mich, Anna«, Joha nsson klang vorwurfsvoll. »Unsere hausinterne Informationsabteilung hat dir hoffentlich scho n vor einer Stunde ein ganzes Fotoalbum gemailt. An di e dreißig Aufna hmen vo n Hedberg, ein halbes Dutzend von seinen Eltern und ungefä hr gena uso viele von seiner Schwester.« »Danke«, sagte Holt. »Du weißt doch, Anna«, sagte Joha nsson und lächelte. »Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.«
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Insgesamt einunddreißig Bilder von Kjell Göran Hedberg, wovon fünfundzwan zig offenbar irgendwann gegen Ende der siebziger Jahre oder zu Beginn der achtziger Jahre ohne sein Wissen gemacht worden waren. Typische Aufnahmen der verdeckten Ermittler, die draußen mit Hilfe von Motorkameras und Teleobjektiven aufg enommen worden waren. Hedberg , wie er in Gesellschaft einer unbeka nnten Frau in eine Gaststätte geht. Hedberg, wie er aus seiner Wohnung kommt. Hedberg, wie er in sein Auto steig t. Hedberg, wie er in der Tiefgarage des Polizeigebä udes aus demselben Auto steigt. Aus einem Mercedes-Modell von 1977, in einem Sakko mit breitem Revers, Hosen ohne Aufschlag, aber mit Schlag, einem weißen Hemd mit langen Kragenspitzen und einem breiten Schlips. Ein Hedberg auf der Höhe seiner Zeit. Wer der Fotograf gewesen war, ging na türlich nicht dara us herv or. Jo hansso n und Jarnebring bei ihrer vergeblichen Jag d nach einem Kollegen, den sie eines Verbrechens verdächtigten, da s diesem eine lebenslängliche Haft einbringen würde? Oder ein besorg ter Erik Berg, der einfach ein mögliches Sicherheitsrisiko in seiner unmittelbaren Nähe im Auge behalten wollte? Holts Blick blieb an einem Bild häng en. Ein normales Passfoto, das im Frühjahr 1982 aufgenommen wo rden war, als Hedberg seinen Dienstausweis erneuern la ssen sollte, stattdessen aber den Entschluss fällte, nur einen Monat später zu kündigen. Kjell Göran Hedberg: ein hageres Gesicht, regelmäßige Züge, eine gerade Na se, ein markantes Kinn mit markantem Kiefer, dunkles, kurzg eschnittenes Haar, dunkle, tiefliegende Augen. Augen, die keine wie auch immer geartete Botschaft, weder für den Fo togra fen noch für einen möglichen Zuscha uer, trugen; die sich der Ta tsache, da ss sie gerade fo tografiert wurden, unbewusst waren oder vielmehr uninteressiert daran schienen; abgeklärt, sich selbst genug und ganz unberührt von allem und allen anderen. 430
Er sieht gut aus, dachte Holt. Das sah man deutlich, und sie hätte das selbst dann gesehen, wenn er versucht hätte, sein Gesicht vor ihr zu verstecken, indem er so getan hä tte, als würde er sich schnäuzen. Wie an jenem Abend, dem 28. Februar 1986, als er Ma deleine Nilsso n a uf den Treppen vo n der Malmskillna dsga ta hina b zur Kungsgata begegnet war. Nach der Besprechung blieb Lisa no ch, wä hrend Holt und Lewin zu ihren jeweiligen Angelegenheiten zurückkehrten. »Du wolltest mit mir sprechen«, sa gte Johansson. »Der Registerdurchlauf«, sagte Mattei und scho b ihrem Chef eine Plastikhülle mit etwa zehn Seiten hin. »Der Registerdurchlauf?« »Dieser Registerdurchlauf, um den du mich gebeten hattest, Chef. Über diese kleine Studentenverbindung von Jurastudenten«, erlä uterte sie. »Ach so, der«, sagte Johansson. »Und?« »Alle befinden sich im Palmeregister. Sjöberg, Thulin und Tischler. Allerdings nicht Waltin, aber ihn haben wir ja auch auf eigene Faust gefunden.« »Keiner kann aus seiner Haut«, stellte Joha nsson unvermittelt fest, wä hrend er die Plastikhülle, die er in die Hand gedrückt beko mmen hatte, hin- und herwiegte. »Möchtest du eine schnelle Zusammenfassung ha ben, Chef?« »Gerne« , sagte Johansson. Alles, wa s Zeit spart, so fern es nicht mit der Angelegenheit zu tu n hat, dachte er. Sjöberg war zu Aufklärungszwecken anlässlich der so genannten indischen Waffenaffäre verhört worden. Er hatte nichts beizutragen gehabt. War frühzeitig aus den Ermittlungen ausgeschlo ssen worden. Außerdem wa r er seit fast fünfzehn Jahren to t. »Also ließen wir ihn fallen«, sag te Jo ha nsso n und nickte. 431
»Thulin tauchte als einer der Good Guys auf. Vertrat bei ein paar Gelegenheiten den Staatsanwalt der Ermittlung. War Experte in einer der Ermittlung skomissionen und kraft seines Status als Pa rla mentsmitglied in einer anderen.« »Ich weiß«, sagte Johansson. »Ich bin ihm scho n mal begegnet. Erinnere mich, dass er einem die ganze Zeit mit Christer Pettersson in de n Ohren gelegen ha t. Eine richtig kleine aufgeblasene Kröte. Total bescheuert. Ein großes, verfluchtes My sterium.« »Wie meinst du das, Chef?« »Wie sich eine Frau bloß dafür entscheiden kann, mit so einem etwas anzufa ng en«, verdeutlichte Joha nsson. »Er soll doch diesen verdammten Po kal gewonnen ha ben, den sie sich gegenseitig verliehen haben.« »Das geht leider nicht aus meinen Pa pieren hervor«, sagte Mattei. Sogar du, mein J oha nsso n, dachte sie. » Pra hlerei, wenn du mich fragst«, entschied Johansso n. »Thulin kö nnen wir vergessen. Der Nächste.« »Tischler«, sagte Mattei. »Über ihn sind zumindest drei verschiedene Hinweise aus den Kreisen der so genannten Privatermittler eingegangen, in denen behauptet wird, da ss er irgendwie in eine größere Verschwörung v erwickelt gewesen sein soll, die die Ermordung Olof Palmes zum Gegenstand hatte.« »Wie? Wie denn v erwickelt?« Der Sa bbelheini, dachte er. Schön wär's. »Die Behauptung, dass er dem ersten Ermittlung sleiter Hans Holmer einen Haufen Geld angeboten haben soll, um seine Kurdenspur weiterzuverfolgen«, erklärte Mattei. »Nicht, weil er daran glaubte, so ndern um - mit der Absicht, die ta tsächlichen Täter zu schützen - ein wenig Rauch zu produzieren und um ein paar Ra uchpatronen hochgehen zu lassen.« » Vergiss es«, sag te Johansso n. »Wenn Tischler Teil einer Verschwörung gewesen wäre, hä tten er und sämtliche Beteiligten innerhalb eines Tages im Bau gesessen. Eine bessere Garantie da für als die Fresse des Herrn 432
Bankier höchstpersönlich lässt sich nicht finden. Außerdem hat er Holmer doch nie Geld zugesteckt, oder?« »Nein. Tischlers eigener Aussage zufo lge lag da s an Informationen, die er von Beka nnten eingeholt ha tte. Aus der sozialdemokratischen Bewegung. Darüber will er mit reg ierungsnahen Personen gespro chen ha ben. Alle sollen ihm davon a bg era ten haben. Die Kurden hä tten nichts mit dem Mord zu tun gehabt.« » Nennt er Na men?«, frag te Joha nsso n. »Na men v on Leuten, mit denen er gesprochen ha t, meine ich.« »Nein«, sagte Mattei und schüttelte den Kopf. »Personen aus der so zialdemokratischen Partei. Personen aus dem Umfeld der so zialdemo kra tischen Reg ierung . Im Hinblick auf den Zeitpunkt muss das zu der Zeit gewesen sein, als Ingva r Ca rlsso n Ministerprä sident war.« »Aber keine Namen« , wiederholte Joha nsson und nickte nachdenklich. »Keine Na men.« Obwo hl ich mir zumindest einen vorstellen kö nnte, da chte er. » Keine Namen«, bestätigte Mattei. Obwohl ich mir einen vo rstellen kö nnte, mit dem er g eredet ha t, dachte sie. »Waltin«, sagte Johansson. »Um ihn geht es hier. Sjöberg, Thulin und Tischler können wir, glaub ich, vergessen.« »Ich bin ganz deiner Meinung, Chef«, sagte Lisa Mattei und nickte. »Irgendwie lustig, wo doch alle vier trotzdem in der Ermittlung vorkommen.« »Wir sind ein kleines La nd«, sagte Johansson. »Viel zu klein«, wiederholte er. Nicht zuletzt für so einen wie unser Mordo pfer, dachte er. »Eins no ch«, rief Johansson Mattei hinterher, als die gera de a us der Tür verschwi nden wollte. »Ja«, sagte sie und blieb stehen. »Das mit Hedberg«, sagte Jo hansson. »Dafür ha st du einen großen Goldstern verdient. Was mich beunruhigt, ist, dass ich nicht selbst auf ihn gekommen bin. Das hätte ich nämlich müssen, und da s beunruhigt mich.« 433
»Vielleicht wirst du langsam alt, Chef«, sagte Mattei und lächelte freundlich. »Ja «, sag te Jo ha nsson. »Auch ich bin älter geworden.« Wie unglaublich einem das auch vo rkommt, dachte er. Am selben Abend traf Johansson den Sonderberater bei einem Seminar der Turinggesellscha ft. Obwo hl es wichtigere Sachen gab, um die er sich hätte kümmern müssen, weil jetzt, nach über zwanzig Jahren, endlich Bewegung in die Sa che kam. Oder vielleicht auch nach über dreißig Jahren, je nachdem, wie man rechnete. Höchste Zeit, dachte Joha nsson. Höchste Zeit, da ss ein richtiger Polizist endlich Licht am Ende des Tunnels erblicken durfte. Übri gens ein ganz anderer Tunnel als der, von dem dieses Elend, da s anfangs damit zu tun gehabt hatte, ständig dummes Zeug faselte. Auch ein ganz anderes Licht, dachte er. Ein greller weißer Strahl, der ihn und seinesgleichen traf. Direkt ins Gesicht und ohne, dass sie auch nur den Blick abwenden oder blinzeln konnten. Die Turinggesellschaft war nach Alan Turing benannt, einem Mathematiker und Codeknacker aus den Tagen des Zweiten Weltkriegs. Ein gro ßer Ma thema tiker und der größte aller Codeknacker. Anfa ng s war sie vor allem eine illustre Gesellschaft gewesen, bei der seinen schwedischen Kolleg en, anderen Mathematikern, Statistikern und Sprachwissenschaftlern, die in der Vergangenheit bei den militä rischen Nachrichtenorganen tätig gewesen wa ren, Gelegenheit zu gelehrten Gesprächen und einer anständigen Mahlzeit gebo ten wurde. Man pflegte sich einmal im Vierteljahr zu treffen, um Vorträgen zu lauschen, ein Seminar abzuhalten oder einfach um Umgang zu pf legen. So wie beim obligatorischen Weihnachtsessen am ersten Sonntag im Dezember. Eine bedeutende Zusammenkunft in Stockholm samt Weihnachtsbuffet, Frack, akademi434
schem Ornat. Unzählige Schnäpse und Ro tweinflaschen und nichts, aber auch gar nichts, an dem es fehlte. Es war der Sonderbera ter gewesen, der Jo ha nsso n eingeladen hatte. Erstma lig, als sie sich in Rosenbad über den Weg gelaufen wa ren. Als sie da nn ein paar Tage später auf einem Empfang der US-Botscha ft aufeina ndergetroffen waren, hatte er seine Einladung wiederholt. Der Sonderberater war seit vielen Jahren Präsident der Turinggesellschaft, und unter seiner Federführung hatte die Verbindung einen Zuwachs von einer neuen Art von Mitg liedern bekommen. Nicht länger nur Akademiker in Reinkultur, sondern vor allem solche, die sich mit der militärischen Na chrichtentätig keit beschä ftig t ha tten. Sog ar der eine oder andere geschätzte Politiker, dem es Verg nügen bereitete, sich über Pro bleme auszutauschen, über die normale Menschen nicht reden sollten. » Da s Thema des Abends kö nnte jema nden wie dich wirklich reizen«, hatte ihn der So nderberater in Versuchung geführt. »Wir werden von einem speziellen Aspekt ausgehend über de n Pa lmemord sprechen.« »Die Kurdenspur oder Christer Pettersson«, hatte Joha nsson gesagt und gelächelt. »Weder noch«, hatte der So nderberater geantwortet. »Eine rein akademische Diskussion, in der als Auftakt der Hauptredner des Abends eine Konsequenzanalyse der verschiedenen so gena nnten Spuren durchzuführen gedenkt. Wenn es sich denn so und nicht anders verhielte? Was hätte da s da nn für politische und wirtscha ftliche Konsequenzen, über die rein rechtlichen hinaus.« »Werden viele von denen kommen, die in die Ermittlungen involviert waren? «, ha tte Jo ha nsso n gefrag t, der nicht die geringste Lust verspürt hatte, eine gewisse Oberstaatsanwältin von Stockholm zu treffen. »Machst du Witze, Johansson« , hatte der Sonderberater empört reagiert. »Dies ist eine ha ndverlesene Ge435
sellscha ft. Deshalb liegt mir auch so viel a n deinem Kommen.« »Ich hab jede Menge zu erledigen« , ha tte Johansson gesa g t. »Um meinetwillen, Johansson. Um meinetwillen.« » Ich komme« , hatte Joha nsson versprochen. »Hervorragend«, hatte der Sonderberater gesagt und über alle vier Backen g estra hlt. » Da nn wirst du a uch das Vergnügen haben, meinen Nachfolger kennenzulernen. Er ist es nä mlich, der die Eröffnungsrede halten wird.« Eine besonders g roße Ähnlichkeit mit dem Mann, dessen Nachfolge er o ffenbar antreten so llte, besa ß er nicht. Er war ein großer, knochiger Akademiker, halb so alt wie der So nderbera ter, mit dichtem blondem Haar, das zu allen Seiten abstand, und einer Brille, die er die ganze Zeit zwischen Na senspitze und Haaransa tz spazieren führte. Er sprach langsam und deutlich, wählte seine Worte sorgfältig und bemühte sich um Pausen und Interpunktion, als wäre es ein geschriebener Text, während er zugleich einen merkwürdig abwesenden Eindruck machte. Noch so einer, der einen Ha ufen Buchstaben in seinem a rmen Ko pf hat, dachte Jo ha nsso n, vo reing enommen wie er war. Seine Botschaft wa r zugleich schlicht und unmissverständlich. Der Vo rteil eines einsamen Irren, der einen Ministerprä sidenten ermo rdet hatte, läge darin, dass dieser in gesellscha ftlicher Hinsicht eig entlich folg enlo s blieb. Wie beispielsweise Christer Pettersson. Was blieb, sei der Verlust eines bedeutenden Politikers umstritten, gewiss -, im Übrigen aber könne man mit nichts und allem leben. Auch Trauer gehe beka nntlich vorüber. »Die Zeit heilt alle Wunden« , konsta tierte der Aufta ktredner des Abends, scho b seine Brille hoch a uf die Stirn und blätterte um. 436
Trotz der rein akademischen Ausrichtung des Abends hatte der Eröffnungsredner sich dennoch einen kleinen Schlenker erlaubt. Christer Pettersso n bö te, nicht zu vergessen, auch einen weiteren wesentlichen Vorteil, weil jeder halbwegs kritisch denkende Mensch, der mit diesem Fall v ertra ut sei, zu keiner anderen Schlussfolgerung kommen könne, als dass er und kein anderer es gewesen sei, der den Ministerprä sidenten ermordet hatte. » In rein intellektueller Hinsicht ist der Palmemo rd aufgeklärt«, erklärte er seinem Publikum. »Was bleibt, ist also nicht das ko llektive Trauma, da s folgen würde, wenn der Mord immer noch unaufgeklärt wäre, sondern das individuelle Trauma, das dara us folg t, da ss unterschiedliche Empfänger der rein sa chlichen Bo tschaft unterschiedliche Voraussetzungen haben, um zu verstehen, wie es sich wirklich verhält.« Was bleibt, ist, solche Doofköppe wie Holt, Lewin, Mattei und mich zu überzeugen, dachte Johansson. Selbst die Kurdenspur und ähnliche Tatschilderungen hätten nur begrenzt Folgen für die schwedische Politik und die schwedische Gesellscha ft. Die geografische, kulturelle und politische Distanz zu solchen Leuten, wie beispielsweise kurdischen Terroristen, ermögliche es, das Problem in Termini des »wir« und »sie« zu behandeln. Eine deutliche »Dikotomie« zu formulieren, wo »wir« im Großen und Ganzen alle normalen, netten Menschen darstellten, während »sie« im Wesentlichen nur eine Art Kollektiv seltsamer Figuren von einem sehr entlegenen Teil der Welt seien. Sie habe gewisse, klar umgrenzte Auswirkungen auf die Betrachtungsweise von Einwanderern, die Flüchtlingspolitik oder angrenzende Fragestellungen. Selbstverstä ndlich erfo rdere es die Erhö hung finanzieller Mittel für verschiedene gesellscha ftliche Ko ntro llo rga ne. In Haushaltstermini 437
umgerechnet, sei da s Problem jeweils in einer Größenordnung von etwa hundert Millionen anzutreffen. »Insgesamt höchstens eine Milliarde pro Jahr im la ufenden Haushalt. Maßnahmen, die man darüber hina us gut innerhalb der bereits festgelegten bürokratischen Strukturen handhaben könnte.« Schö n zu hören, da ss wir nichts Neues erfinden müssen, dachte Johansson. Aber dann würde es rasch schlimmer kommen. Von einem normalen Nieser bis hin zu einem Anfall von Influenza bliebe eigentlich nur die Wahl zw ischen Pest und Cholera. Es führe zu weitreichenden politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen, zu K o sten für da s Gemeinwesen in Milliardenhöhe, einem kollektiven Misstrauen gegenüber Politikern und gesellschaftlichen Institutionen, zum Verlust von Schwedens Glaubwürdigkeit in der Welt. Plötzlich gebe es ein Schweden, das zu einer ordinären Bananenrepublik im Stil afrika nischer und mittelamerikanischer Staaten reduziert würde, in denen Ministerpräsidenten, Regierungen und Minister, ohne auch nur einen Gedanken an politische Wahlen zu verschwenden, ausgetauscht würden. Und ohne, da ss es im UN-Sicherheitsrat mehr als ein Gähnen herv orriefe. Ob es sich der Sache nach um eine po litische Verschwörung dergesta lt handele, der Gustav III. zum Opfer gefallen sei, oder um da s, was in der schwedischen Debatte unter der Bezeichnung Polizeispur zusammengefasst werde, sei der klaren Überzeugung des Redners zufolge »im Großen und Ganze n egal«. Weil dieser Vergleich sicher viele Anwesende in Erstaunen versetze, wo lle er die Gelegenheit wahrnehmen, sich weiter zu erklä ren. »In der Gesellscha ft, in der wir heute leben, stellt die Polizei ein g esellschaftliches Fundament von gleicher Dignität wie beispielsweise unbestechliche und demokratisch geführte politische Organe wie Parlament und Regierung dar. Die Polizei besitzt in der heutigen 438
schwedischen Gesellschaft eine weit größere Bedeutung als das Militär. Wir haben auch eine globale Entwicklung, in der Sicherheit heutzutage in polizeilichen Termini diskutiert wird. Auch wenn die Mittel, derer wir uns bedienen, immer noch traditio nell militärisch sind. Aber die Sichtweise, die Argumente, um dies zu t un, sind heute polizeilicher Na tur, und der Fokus hat sich vo m Krieg auf den Terrorismus verlag ert. Da s tra ditio nelle militärische atomare Gleichgewicht zwischen den Nationen und den Blöcken vo n Nationen ist heutzutage Geschichte. In Scha denstermini umgerechnet, und beispielsweise mit der so gena nnten Kurdenspur verglichen, sprechen wir von Schäden des Gemeinwesens, die in ihrer Größenordnung ein paar Zehnerpotenzen höher liegen, wobei sich der Hauptteil des Verlustes in der Herabsetzung Schwedens demokratischer Glaubwürdigkeit darstellen wird«, schloss der Eröffnungsredner, scho b seine Brille auf die Nasenspitze zurück und musterte sein nachdenkliches Publikum. Hundertmal schlimmer. Mindestens, dachte Lars Martin Johansson, obwohl Mathematik in der Schule weit entfernt davon gewesen war, sein Lieblingsfach zu sein. Und obwohl wir nur von zwei durchgeknallten Kollegen sprechen, die nie Polizisten hä tten werden dürfen, dachte er. Nach der abschließenden Debatte wa r zum Dinner in Ro senba d gela den worden, für das ihnen die Regierung höchstpersö nlich ihren Speisesaal überla ssen ha tte. »Was hältst du denn von meinem jungen Nachfolger?« , fra gte der So nderbera ter neugierig . »Interessante Person«, sagte Joha nsso n, der immer versuchte, Streitigkeiten zu v ermeiden, wenn er eingeladen wo rden war. »Womit beschä ftigt sich der junge Ma nn denn so nst so?« Wenn er nicht gerade im Großen und Ganzen Scheiße quasselt, dachte er.
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»Mit der Funkanstalt der Armee, FRA« , sagte der Sonderberater. »Aber nur, weil du es bist, der fragt, Johansson«, fügte er hinzu und hielt den Zeigefinger an seine feuchten Lippen. »Das ist der junge Mann, der für die Verbindung zwischen unserem La nd und den amerikanischen Nachrichtendiensten vera ntwortlich ist. Du weißt schon, all diese Augen und Ohren, weit oben im Blauen, die alles hören und sehen, wa s wir Menschen uns einfallen lassen.« »Ja, das ist ganz phantasti sch« , sag te Jo ha nsso n. » Ga nz pha nta stisch«, wiederholte er. So was in die Hände von so einem Wahnsinnigen wie diesem Vortra genden zu legen, dachte er. »Ja und ob es da s ist«, pflichtete der Sonderberater ihm bei und lächelte glücklich. »Und die Leute erdreisten sich, da s Satelliten zu nennen.« Nachdem das Dinner beendet war, na hm der So nderberater Johansson erneut zur Seite, um einmal mehr vertra ulich mit ihm reden zu können. »Wie fa ndest du denn die Weine? «, eröffnete er das Gespräch. »Ausnahmsweise einmal richtig a nnehmbar, auch in diesem einfachen Ra hmen, wenn du mich fragst.« »Sta mmen sie aus deinem eigenen Weinkeller?«, frag te Johansson. »Nein, ganz und gar nicht. Nur ein kleiner Fund, den einer meiner Mitarbeiter getä tigt ha t. Lagen in Harpsund in einem Garderobenschrank versteckt. Bestimmt hat sie jemand vergessen. Ein richtiges kleines Lager sogar, das wir uns unter den Nagel g erissen ha ben.« »Ist das auch wirklich wahr?«, hakte Johansson nach. »Oder verhält es sich damit so wie mit den Hirschen in diesem Pa rk in Ox ford?« »Ganz wahr«, versicherte der Sonderberater und nickte eifrig . »Der ehemalige Besitzer scheint in großer Eile aufgebrochen zu sein. Hast du übrigens über das mit der Wahrheit nachgedacht, Johansson? Richtig darüber nachgedacht, meine ich.« 440
»Ja«, sagte Joha nsso n. Mein ganzes Leben lang, dachte er. »Wenn sich dir eine bedeutende Wahrheit offenbart«, sagte der Sonderberater, der jetzt so aufgeregt war, dass er Johansson am Sakkoärmel zupfte, »wenn sich dir eine wichtige Wahrheit o ffenbart... ka nnst du davo n weit stärker in Mitleidenschaft gezo gen werden, als wenn du eine große Lüge aufdeckst. Die Wahrheit berührt dich unendlich viel mehr als die Lüge. Wenn du sie wirklich vor Augen ha st, ka nnst du frei fallen wie im Traum. Wie in so einem unheimlichen Traum, du weißt schon. Wenn du plötzlic h frei fällst, kopfüber in eine Dunkelheit hina bfällst, die kein Ende nehmen will, und es so grauenhaft ist, da ss es sich, wenn du endlich wach wirst, so anfühlt, als ob dein Brustkorb bersten wolle. Wenn mehrere Minuten vergehen, bevor dir klar wird, ob du tatsächlich lebst oder tot bist. Hast du jemals so einen Traum gehabt?« » No ch nie« , sag te Jo ha nsso n. » Als ich ein kleiner Jung e war, sind mir die Mandeln rausgenommen worden, und da wurde ich zum ersten Mal betä ubt. Und zwar mit Äther, und den Geruch habe ich heute noch in der Nase. Ich erinnere mich, dass ich da auf diese Weise gefallen bin. Besonders angenehm wa r da s nicht.« »Aber nie im Traum?«, fragte der So nderberater erneut. » Du ha st das noch nie im Tra um erlebt? Völlig ausgeliefert, verlassen und hilflos?« »Nie im Traum«, sagte Jo ha nsson. »Du bist ein glücklicher Mann, Joha nsson«, seufzte der So nderbera ter. »Und g lücklich verheira tet bist du auch, mit einer Frau, die so wohl schö n, als a uch klug und gütig sein soll.« Versucht er mir etwas zu sagen?, dachte Joha nsso n. An diesem Abend fiel es Johansson ausnahmsweise einmal schwer, einzuschlafen. Nicht, dass er geträumt hätte, aber seine Kindheit meldete sich zu Wo rt. Erinnerte ihn an damals, als er elf Jahre alt und den ganzen Herbst lang erkältet gewesen war, woraufhin sein be441
sorg ter Vater schließlich mit ihm ins Hospital in Kramfors gefa hren war, damit ihm die Mandeln entfernt wurden. Es fühlte sich an, als sei es gestern gewesen, nur fünfzig Jahre später. Wie er seine ganze Kleidung hatte ausziehen müssen und ihnen ausgeliefert worden war, in einem weißen Krankenhausnachthemd, das die Öffentliche Hand zur Verfügung gestellt ha tte. Wie sie ihn auf einem gewöhnlichen Za hnarztstuhl festgeschnallt hatten. Wie sie seine Arme und Beine mit Lederriemen gefesselt ha tten. Wie sie seinen Kopf festgebunden hatten. Wie sie seinen Mund aufg estemmt ha tten. Zwei Erwachsene mit Masken vorm Gesicht und Augenlöchern. Dann das äthergetränkte Tuch, das sie ihm auf Na se und Mund gepresst hatten. Wie er versucht hatte, sich loszureißen, bevor sie ihn erstickten. Der stechende Geruch des Äthers. Viel beißender noch als Benzin, Diesel oder sogar Chlor, die ihm von seinem Leben auf dem Bauernho f vertra ut waren. Wie alles vor seinen Augen schwarz geworden wa r, wie es in seinem Ko pf gedröhnt hatte, wie alles um ihn herum angefangen hatte, sich zu drehen, wie er selbst kopfüber in die Dunkelheit hina bg efallen war und wie sein letzter Gedanke seinem Va ter Evert gegolten hatte, der ihn nicht hatte hineinbegleiten dürfen, obwo hl er bis zur Tür seine Hand gehalten hatte. Marja Ruotsala inen wohnte in einer kleinen Mietwohnung in Tyresö, etwa zwanzig Kilometer südö stlich von Stockholms Innenstadt. Im Hinblick auf das Leben, das sie geführt ha tte, schien sie ganz gut zurecht gekommen zu sein. Eine kleine schmächtige Frau mit dichtem, hennagefärbtem Haar, die in einer Tour rauchte und nur damit aufhörte, wenn ihr trockener Husten sie daran hinderte. Sie schien nicht so nderlich erfreut über ihr Auftauchen. Aber sie hatte sie immerhin nicht Bullenschweine genannt und sie auch nicht gebeten, zur Hö lle zu fa h-
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ren. Ha tte ihnen sogar ein sc hiefes Lächeln geschenkt, als sie an ihrem Küchentisch Platz nahmen. »Bullerten«, sagte Marja. »Womit habt ihr Mädels euch denn die letzten zwan zig Jahre beschäftigt?« Kaffee hatte sie ihnen nicht a ngebo ten. So etwa s gescha h meistens auch nur in Polizeiromanen, denn in Wirklichkeit boten Leute wie sie Polizisten fa st nie Ka ffee an. Übrigens auch nichts anderes. Dafür war sie umgänglicher geworden und ha tte angefa ng en, zu erzä hlen. Es seien in der Tat sie und ihr damaliger Freund gewesen, die sich a n dem Abend, als der Ministerpräsident ermordet worden war, im Chinarestaurant in der Drottninggata aufgehalten hätten. Sie hä tte bei ihrem Freund gewohnt, hä tte sich bei ihm versteckt. Sei schon monatelang auf der Flucht gewesen. Am Freitaga bend war' sie beinahe die Wände hochgegangen. Hätte in die Stadt gemusst und raus und sich bewegen, um atmen zu können, obwohl es für jema nden wie sie geeignetere Gegenden als die Innensta dt von Stockholm gegeben hätte. Sie sei es auch gewesen, die den Polizisten in Zivil wiedererkannt hätte, der scho n vor ihnen im Lo kal gesessen habe. Sie ha be ihn v o n damals, vo n vo r zehn Jahren, wiedererkannt, als sie erst siebzehn gewesen wäre und sie und einer von ihren doppelt so alten Freunden in einem Drogenviertel in Tensta gefasst worden seien. »So'n richtiger Scheißfaschist. Der Typ, der dir die Arme auf den Rücken gedreht hat, dich als Fixerhure beschimpft hat und in der Tür stehen geblieben is' und geglotzt hat, während die Gefängniswärterlesben dich aufforderten, alles auszuziehen«, brachte es Marja Ruotsalainen auf den Punkt. Sie ha tte es in schlechter Erinnerung behalten. Ein Jahr später hätte sie ihn wiederg esehen, als sie einen anderen Freund geha bt hä tte, der ebenfalls do ppelt so alt wie sie gewesen sei. Das sei vor dem Parlamentsge443
bäude gewesen, und der na me nlose Polizist und ein anderer vo n seiner So rte seien a us einem großen schwarzen Volvo ausgestiegen und hätten einem bekannten Politiker die Tür aufgehalten und ihn danach ins Gebäude eskortiert. »Die schrien ja geradezu nach Säpo«, sagte Ruotsala inen. »Hätten es sich ebenso gut auf die Stirn tä towieren können. Verfluchte Idioten. Wie bekloppt kann man sein?« »Dieser Politiker«, sagte Holt. »Sie wissen nicht zufällig noch, wie er hieß?« »Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Das muss einer von diesen Bürgerlichen gewesen sein. Könnte im Sommer 1977 gewesen sein. Als ich da mals nämlich Kunden in Solna aufgerissen hatte, war 1976. Da ra n kann ich mich no ch erinnern.« »Warum können Sie sich daran erinnern?«, fragte Mattei. »Weil das mein siebzehnter Geburtstag war«, sagte Marja. »Ihr wisst scho n, Geburtstagsg eschenke und so.« An den namenlosen Polizisten aus dem Restaurant könne sie sich nicht erinnern. Er hä tte dort scho n gesessen, als sie reingekommen seien. Da sei es ungefähr halb zehn abends gewesen. Er sei nach einer Stunde gegang en. Der Rest sei ihr erst später klar geworden, als sie von dem Mord an Olo f Palme gelesen ha be. »Er passte ausgezeichnet auf die Tä terbeschreibung. Dunkelhaarig, durchtrainiert, um die vierzig, 1,85 Meter gro ß. Dunkle Jacke. An die ka nn ich mich erinnern, denn die ha t er im Lokal getragen. Was für Hosen er angehabt hat, weiß ich allerdings nich' mehr. Hab ich wohl nicht drüber nachgedacht.« Dana ch hatten sie ihr Aufnahmen gezeigt. Zehn Porträ tfotos vo n Polizisten, die zwanzig bis dreißig Jahre früher gemacht worden waren. Die Orig inale hatten auf ihren Diensta usweisen geklebt. Eines v o n ihnen stellte 444
Kjell Göran Hedberg dar und war im selben So mmer fotografiert worden, als er einen unbekannten Politiker in da s Parlamentsgebä ude eskortiert ha tte. »Keinen blassen Schimmer«, sagte Ruotsalainen. »Das sieht doch wie ein Haufen Blaubeeren aus. Wie, zu m Teufel, soll ma n eine Bla ubeere v o n einer a nderen unterscheiden?« »Wie ist es denn hiermit?«, sagte Mattei und schob ihr eine ma schinengeschriebene DIN-A4-Seite hin. Zehn Polizisten, deren Namen sie größtenteils dem Personalverzeichnis der Zentra len Kriminalpo lizei entnommen hatte und von denen einer Kjell Gö ra n Hedberg hieß. Pettersson, Salminen, Tro st, Kova c, Östh, Jo ha nsso n, Hedberg, Eriksson, Berg , Kronstedt. Zehn Namen, und die Nachnamen standen noch nicht einmal in alphabetischer Reihenfolge da. »Östh erkenne ich wieder«, sagte Ruotsa lainen. »Das wa r einer vo n diesen Solnakripoleuten. Auch ein Scheißty p, aber ob er so mit Vornamen geheißen hat, weiß ich nich'.« »Lassen Sie sich Zeit«, sagte Holt. »Wir ha ben's nicht eilig .« »Ich auch nicht«, sagte Ruotsalainen. »Ich hab so viel Zeit, wie ich nur will. Da mals is' es ein verda mmtes Gerenne gewesen.« »Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Keinen blassen Schimmer. Da s sind doch bestimmt alles Bullen, und dann bin ich ihnen sicherl ich auch scho n mal begegnet.« »Nach der Festnahme 1976 in Solna wurden Sie und Ihr da malig er Freund wegen mehrerer Drogendelikte verurteilt. Das war im April 1976 auf dem Amtsgericht in So lna. Ich ha be hier die Urteilsverkündung«, sagte Mattei und scho b Ruotsalainen eine Plastikhülle hin. »Das, wa s Sie da gesagt haben, dass Sie siebzehn gewesen sind, als Sie festgenommen wurden, das stimmt, das geht aus dem Urteil hervor. Bevor Sie einen Blick darauf werfen, möchte ich, da ss Sie noch einmal über den 445
Namen des Polizisten nachde nken, der damals gegen Sie ausgesagt hat.« »Soll das hier etwa irgend so ein Psychozeugs sein, das du auf der Polizeihochschule gelernt ha st?«, fragte Ruotsalainen und lächelte. »Denken Sie nach, Marja«, sagte Ma ttei und lä chelte zu rück. »Denken Sie an diesen Polizisten, der gegen Sie ausgesagt hat. Schauen Sie sich die Liste mit den Namen an, die vor Ihnen lieg t.« »Kjell Gö ra n Hedberg«, stieß Ruotsalainen plötzlich hervor. »So hieß er. Mensch, Mä del. Du bist ja 'ne verdammte Zauberin, du!« »Das mit dem Na men« , fuhr sie fort. »Daran kann ich mich erinnern. Wie dieser Na zi dort vorne im Zeugenstand gesessen ha t und sich durch den Garten Eden gelo gen ha t, bevor er so richtig einen vom Leder gelassen hat. Ich, Kjell Gö ran Hedberg, schwöre und versichere. Und ob ich mich erinnern kann. Was glaubst du, wie viele mich Marja Lovisa Ruotsala inen nennen? Noch nicht mal mein Muttchen.« Bevor sie sich vera bschiedet ha tten, ha tten sie mit ihr über ihren damaligen Freund gesprochen, Jorma Kalevi Orja la, der ein paar Monate nach der Ermordung des Ministerpräsidenten von einem Unbekannten angefahren worden war und im Karlbergskanal ertrunken war. »Kalle«, Ruotsalainen seufzte. »Das wa r wirklich 'n richtiger, verdammter Irrer. Aber ihr seid ja wo hl kaum wegen ihm hier.« »Nein«, sagte Ho lt, die niemanden gerne belog, selbst dann nicht, wenn es sich um Menschen wie Marja Ruotsala inen ha ndelte. »Aber wir haben die Ermittlungsunterlagen gelesen. Denen zufolge ha t es sich mit größtmöglicher Wa hrscheinlichkeit um einen so gena nnten Unfall mit Fahrerflucht gehandelt. Jemand hat ihn von hinten kommend mit dem Auto angefa hren. Er wurde über die Kaimauer und ins Wasser ka tapultiert, wo er das Pech hatte zu ertrinken.« 446
»Pech«, schnaubte Ruotsalainen. » Ka lle wa r keiner, der Pech ha tte. Er ist ermordet worden. So viel müsst ihr do ch kapiert ha ben? « »Wenn das der Fall ist, sind wir auch seinetwegen hier« , sagte Ho lt und sah sie ernst an. »Wer hat ihn denn Ihrer Meinung nach ermo rdet? « »Ich wünschte, ich kö nnte sagen, dass es dieser verfluchte Hedberg war« , sag te Ruo tsala inen. » Aber da s glaub ich im Grunde nicht. Es gab verdammt viele Menschen, die Kalle ermorden wollten. An dem Abend war er zum Beispiel bei meiner Freundin und hat sie gefickt. Er musste wohl mal einen wegstecken, und ich selbst saß gerade im Kna st«, sag te sie und zuckte mit den Schultern. »Können Sie mir Namen nennen?« , ba t Ma ttei. »Wie hieß zum Beispiel Ihre Freundin, der Ka lle einen Besuch abgestattet hat? Vielleicht haben Sie ja auch eine Idee, wer ihn angefahren haben könnte?« »Natürlich«, sagte Ruotsala inen. »Das Problem is', dass sie schon alle tot sind. Kalle ist to t, meine Freundin ist tot. Ihr dama liger Ty p, der Kalle möglicherweise angefa hren hat, als er aus der Bude seiner Braut torkelte, is' auch tot. Ihr hä ttet schon vor zw anzig Jahren hier sein müssen. Wa rum wa rt ihr da s eig entlich nicht?« » Gute Frage«, sag te Holt, als sie im Auto saßen, das sie zurück ins Po lizeig ebäude brachte. »Warum haben wir dieses Verhör nicht scho n vor zwanzig Jahren geführt? « »Ich durfte damals noch keine Vernehmungen führen«, sagte Mattei. »Ich wa r erst elf, als Palme starb. Bei uns zu Hause hat immer nur meine Mutter Verhöre geführt. Ich hab da nn immer in meinem Zimmer auf der Bettkante gesessen, und meine Mutter hat vor mir gehockt und meine Hand gehalten. Außerdem ha t dieser eine Kollege immerhin einen Versuch unternommen. 447
Recht muss Recht bleiben« , sagte Mattei und nickte nachdrücklich. »Allerdings war er nicht so spitzfindig wie wir«, sagte Holt. »Denn er sollte zur Hölle fahren. Ein no rmales Bullenschwein.« »Männer«, sagte Mattei und zuckte die Schultern. » Die sind nur für eines gut.« Was ist bloß mit der kleine n Lisa passiert?, dachte Holt. Wird sie etwa erwachsen? » Aber do ch wo hl nicht Jo ha n?«, sag te Holt. » Nein, der nicht« , erwiderte Mattei. »Der ta ug t tatsächlich zu vielen Ding en. Man kann sich mit ihm unterhalten, und dann kann er sogar richtig gut putzen und Essen kochen.« »Kann er auch um Ecken scha uen?« , frag te Ho lt. »Nein«, sagte Mattei und seufzte. »Das ka nn nur Johansson.« Vielleicht noch nicht richtig, dachte Holt. Am Tag nach dem Treffen bei der Turinggesellscha ft entschied sich Joha nsson da für, hera uszu finden, wer dem Bankier Theo Tischler davo n a bgera ten ha tte, sein Privatvermögen in die Jagd nach Olof Palmes Mörder zu investieren. Er hatte eine plötzliche Eingebung, und wie schon so oft zuvor hatte er ihr sofort nachgegeben. Wo für a uch immer da s eigentlich g ut sein soll, dachte er, als er die Frau anrief, mit der er reden wollte. »Ich würde gerne mit der Anwältin Helena Stein sprechen«, sagte Johansson, als ihre Sekretärin sich gemeldet hatte. »Wen darf ich melden?«, fragte die Sekretärin. »Ich heiße Lars Martin Johansson«, sagte Jo hansson. » Worum geht es?« , frag te die Sekretärin. »Wir kennen uns«, sagte Johansson. »Grüßen Sie Frau Stein und fragen Sie sie, ob ich sie treffen kann. Am liebsten sofort.« »Einen Augenblick«, sagte die Sekretärin. 448
Sich kennen, dachte Johansson. So ko nnte man das auch nennen. Genau genommen hatte er nur einmal mit ihr gesprochen. Vor gut sieben Jahren, als er Opera tiver Chef der Sicherheitspolizei gewesen war und aus Anlass der Ernennung der damaligen Staatssekretärin Helena Stein zur Verteidig ung sministerin. Da mals ha tte er herausgefunden, dass sie eine Vergangenheit hatte, die sie nach fünfundzwanzig Jahren einzuholen drohte und ihrer politischen Karriere definitiv ein Ende bereitet hä tte. Zu dem Zeitpunkt hatte er sich wegen dieser Entdeckung bedauert und sich da na ch selbst dazu gratuliert, dass er sie vor einem viel schlimmeren Schicksal bewahrt ha tte. Zu einer anderen Zeit, in der sie, wie auch er, ein a nderes Leben gelebt ha tten. »Fra u Stein lässt ausrichten, dass es ihr in einer halben Stunde in ihrem Büro pa sst«, teilte ihm die Sekretärin mit. »Danke«, sagte Johansson und legte den Hörer a uf. Bürorä ume in der Sy billega ta in Östermalm. Eine große Altbauwohnung mit einer beträchtlichen Ra umhöhe, die sich von den Wandpaneelen bis zum Deckenfries erstreckte. Geschmackvoll zu einer Anwaltskanzlei umgestaltet, die sie, vom Schild a n der Tür zu schließen, mit drei Kollegen teilte. Eine äußerst schicke Frau empfing ihn, und es gelang ihr sogar, freundlich zu nicken und zu lächeln, obwo hl sie vermutlich da für all ihre Kräfte aufbieten musste. »Lassen Sie mich eines vora usschicken, bevor wir anfang en«, sagte Johansson, nachdem er sich in einem Sessel vor ihrem Schreibtisch niederg ela ssen ha tte. »Mein heutiger Besuch bei Ihnen ha t überhaupt nichts mit dieser Geschichte zu tun, über die wir da s letzte Mal, als wir uns getroffen ha ben, gesprochen haben. Sie können also ganz beruhigt sein.«
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»Sieht man mir das so deutlich an?«, sagte Helena Stein. Da nn lächelte sie erneut, und diesmal wa r es ein echtes Lächeln. »Ich brauche Ihre Hilfe«, offenbarte sich Joha nsso n. »Wenn ich Ihnen helfen kann, gerne«, sagte Helena Stein und nickte. Dana ch erzählte Johansson ihr von seinem Anliegen. Selbstverständlich ohne darauf einzugehen, worum es sich tatsächlich handelte. We shalb habe ihr Cousin, der Bankier Theo Tischler, sich da für entschieden, Ha ns Holmers Priva termittlung bezü glich der Verwicklung der Kurden in den Mord a n Olof Pa lme nicht fina nziell zu unterstützen? Habe Theo Tischler sie möglicherweise um Rat gefragt? Ein führendes Mitg lied der So zialdemo kra tischen Partei. Eine Beamtin in hoher Po sition im Umfeld der Regierung. Für jemanden wie Stein war es sicher nicht schwer, sich auszurechnen, wora uf er eigentlich hinauswollte, da chte Joha nsson, nachdem er seine Ausführungen beendet hatte. »Holmer«, sagte Stein und schüttelte erstaunt den Kopf. »Wann soll das gewesen sein?« »Im Frühjahr 1987«, sagte Johansson. Ein paar Monate, nachdem er in hohem Bog en ra usg eflogen ist, dachte er. »Nein«, sagte Helena Stein. »Wenn Theo das beha uptet, dann irrt er sich. Er ka m erst viel später zu mir, um über die Sa che zu reden. Viele Jahre nachdem Hans Holmer aus der Palmeermittlung ausgeschieden war. Im Frühjahr 1987 hä tte es auch gar keinen Grund dafür gegeben, mich diesbezü glich um Rat zu fragen. Ich war eine gewö hnliche frischgebackene Juristin, die in einer Anwaltskanzlei gearbeitet hat. Ich hab zwar gehö rt, wie darüber in der Familie getratscht wurde, dass Holmer Geld von Theo hatte haben wollen, aber auch, da ss das Ganze wie so viele andere Ideen und Einfälle Theos im Sande verlaufen sei.« »Können Sie sich denn noch daran erinnern, wa nn da s war? Als er Sie um Rat fragte?« 450
»Sehr viel später«, sagte Stein. »Muss gegen Ende der neunziger Jahre gewesen sein. Ich war zu dem Zeitpunkt Staatssekretärin, daran kann ich mich erinnern. Schätzungsweise 1999. Übrigens nur ein Ja hr, bevo r wir uns begegnet sind.« »Das hab ich vergessen«, sagte Jo ha nsso n. »Erzählen Sie bitte. Was wo llte Ihr Cousin? Welchen Rat haben Sie ihm erteilt?« »Er und einer seiner vielen Freunde - ein sehr bemerkenswerter Ma nn übrigens und einer der reichsten, den wir je in unserem La nd ha tten, weit vermög ender noch als Theo - hatten sich offenbar in den Kopf gesetzt, die so gena nnten ma rktwirtschaftlichen Kräfte Ordnung in die Palmeermittlung bringen zu lassen, woran unser Rechtswesen so tra urig g escheitert war. Beide waren zwar nicht gerade So zialdemo kra ten, um es milde auszudrücken, a ber da s mit der Ermordung Palmes, und vielleicht noch me hr das polizeiliche Fiasko, war ihnen sehr zu Herzen gegangen. Wa s macht ma n also in der Welt, in der Theo und sein guter Freund leben? Man investiert eine Milliarde, ka uft die fä higsten Personen ein, die es gibt, dazu Ausrüstung, Kenntnisse und Kontakte und sorgt für eine Lösung des Problems. So einfach ist das.« »Dieser Freund«, sagte Jo hansson. »Theos guter Freund. Hat er keinen Namen?« »Doch«, sagte Helena Stein. »Sie sind bestimmt schon selbst da hintergekommen, von wem ich spreche. Da s Problem ist, dass er scho n seit mehreren Jahren tot ist. Ein a nderes Pro blem ist, da ss ich ihn sehr mo chte. Einer der bemerkenswertesten Männer, die ich jemals kennengelernt ha be, und das im po sitiven Sinne. Also ich weiß nicht. Ich bin der Ansicht, da ss scho n zur Genüge über ihn geklatscht wurde.« »Jan Stenbeck«, sag te Jo ha nsso n. »Ja n Hugo« , sa g te Helena Stein mit einem Anflug v o n Wehmut in ihrem kühlen Lächeln. »Wer sollte es sonst sein, in dem Schweden, in dem wir leben? Aber es war eigentlich nicht so, dass er und Theo meinen Rat haben 451
wollten. Was hä tte ich zu der Diskussion über den Mord a n Olo f Palme a uch scho n beitra gen kö nnen? In rein sachlicher Hinsicht, meine ich.« »Was wollten sie denn dann von Ihnen? «, drängte Johansson. »Sie suchten Kontakt zu meinem damaligen Liebha ber. Oder Freund, wie es heutzutage ganz unabhängig vom Alter und emotionaler Leidenschaft ja wohl heißt.« »Was wo llten sie denn von ihm?«, frag te Jo ha nsson, der sich scho n a usgerechnet ha tte, wie er hieß. »Sie wollten, da ss er für sie arbeitete. Ihre Privatermittlung leitete. Mit mehr oder weniger unbegrenzten fina nziellen Mitteln, weil er der Beste war, den sie sich überhaupt vorstellen konnten.« »Aber er selbst ha t es vorgezogen, in der Nähe des Ministerpräsidenten zu bleiben« , sag te J oha nsso n. Da s zumindest ist jetzt ausgesprochen wo rden, da chte Johansson. »Ja, und weil Sie ihn kennen, kö nnen Sie es sich bestimmt ausmalen, wie er die Sache formuliert ha t.« » Nein. Bitte, erzä hlen Sie es mir«, bat Johansson und klang entzückter als beabsichtigt. »Um es kurz zu sagen, er mochte Theo nicht besonders. Ich meine mich zu erinnern, da ss er geäußert hat, wenn er denn die Macht hätte, die ihm alle Ahnungslosen zuschrieben, dann hä tte er nicht eine Minute gezögert, meinen Cousin Theo als erste Maßnahme öffentlich hinrichten zu la ssen. Mit einem stumpfen, rostigen Beil.« »Von diesem Beil hab ich schon gehört«, sagte Johansson. »Nur damit ich weiß, ob ich die Sache richtig versta nden habe. Dass Theo Tischler Ihr Cousin war, habe ich bereits gewusst. Dass Sie mit unserem Richelieu ein Verhältnis gehabt haben, war mir neu. Und dass Sie Jan Stenbeck geka nnt haben, wusste ich auch nicht.« »Unsereins kennt sich. So einfach ist da s«, stellte Helena Stein fest, während sie leicht ihren schmalen Nacken zur Seite neigte. 452
»Aber daraus ist nie etwas geworden«, fuhr sie fort und schüttelte den Kopf. »Er ha t mit Jan gesprochen und ihm gesagt, dass er sein Geld festhalten solle. Da ss gerade diese Investitio n zum Fenster ra usgewo rfenes Geld sei. Mit Theo zu sprechen hat er sich selbstverständlich geweigert. Er ha tte allerdings keine Probleme da mit, ein Gesprä ch mit Jan Stenbeck zu führen. Sie kannten sich wohl schon se hr lang e und ha tten unzählige Gemeinsamkeiten, die sich nicht nur auf Essen und Trinken beschrä nkten.« »Er hat Stenbeck abgera ten? «, wiederholte Joha nsson. »Welche Beweggründe hatte er? Und warum war das zum Fenster rausgeworfenes Geld?« »Weil der Mord an Palme bereits aufgeklärt sei« , sa gte Helena Stein. » Und dass er bereits wüsste, wer die Täter seien und warum sie den Ministerpräsidenten hatten ermorden lassen. Da ss es aus Rücksicht auf die nationalen Interessen Schwedens am besten für uns alle sei, wenn wir weiterhin im Ungewissen blieben.« »Das ha t er Ihnen gesagt?«, sagte Johansson erstaunt. Was er sich da wo hl reingekippt hatte?, dachte er. »Nicht mir«, Helena Stein schüttelte den Kopf. »Das hätte er sich nicht im Traum einfallen la ssen. Er hat es dafür zu seinem guten Freund Jan gesagt. Der, wa s das betraf, auch ein guter Freund von mir wa r. Ein sehr guter Freund, wenn man es denn genau nehmen will. Er wiederum hat es mir nur einen Mona t vor seinem To d erzählt. Worum es in der Sache gegang en sein soll, ha t er allerdings auch nicht gewusst. Als er seinerseits also mit Theo spra ch, ha t er nur gesag t, da ss er kein Interesse mehr an der Sache ha be. Kein Wort, wesha lb.« »Nein«, sagte Johansson. So ein Glück hatten wir nicht, dachte er. »Wenn es sich denn wirklich so verhalten ha t, wa r es wo hl auch richtig, dass er nicht mit Theo darüber geredet hat, sonst hätten wir es tag s da ra uf a lle im Expressen lesen können, meine ich. Theo ist ja nicht gerade diskret. Oder finden Sie, da ss ich meinen persönlichen Erfa hrungen zu viel Bedeutung beimesse?« 453
»Bestimmt nicht«, sagte Johansson mit mehr Na chdruck als beabsichtigt, weil er mit seinen Geda nken bereits woanders war. Wie stellt man es an, einen legendären schwedischen vielfachen Milliardär zu verhören, der vor fünf Jahren gestorben ist?, dachte Lars Martin Johansson. Zu versuchen, den So nderbera ter da zu zu vernehmen, war undenkbar. Egal, ob er lebte oder tot war, und erst recht, wenn an dem, was Helena Stein gera de erzä hlt ha tte, etwa s dra n war. Obwohl er Jan Hugo Stenbeck diesen Ra t wohl ka um aus Rücksicht auf den folgenlo sen Christer Pettersson gegeben hat, dachte Joha nsson, als er sich ins Taxi setzte, um zurück zur Arbeit zu fahren. Hedbergs Eltern waren scho n lange tot. Er selbst war nie verheira tet g ewesen. Ha tte keine Kinder. Jedenfalls keine, die sich im Register befa nden. Blieb nur noch seine jüng ere Schwester. Birgitta Hedberg, 60 Jahre alt. Auch sie war alleinstehend und hatte keinen Nachwuchs. Sie wohnte in einer 3-ZimmerGeno ssenschaftswo hnung, die im Andersväg in Solna lag. Die gleiche Wohnung, in der Hedberg früher gewohnt hatte, bevor er den Behörden seinen Weggang aus Schweden gemeldet ha tte. Das muss genügen, dachte Jan Lewin, denn irgendwo musste er ja schließlich anfangen. Hedbergs Schwester hatte bis vor vier Ja hren als Sekretärin bei einer größeren Baufirma gearbeitet, bis sie wegen Erwerbsunfähigkeit frühpensioniert worden war. Als sie ihren Chef zu einer Konferenz in Söderma nla nd cha uffiert hatte, hatte sie einen Auffahrunfall, erlitt ein Schleudertrauma und wurde arbeitsunfähig. Das staatliche Rentensystem hatte gegriffen und sie frühpensioniert. Ihr Arbeitgeber und ihre Versicherung ha tten zusä tzlich noch ein paar Millio nen a n Schmerzensgeld zugescho ssen, und da s war möglicherweise auch die ha uptsächliche Erklärung dafür, dass sich ihr 454
geschätztes Vermögen auf gut fünf Millionen Kronen an Bankguthaben, verzinslichen Obligationen und Fondsa nteilen belief. Aber vielleicht stimmte da s so auch nicht, dachte Ja n Lewin. Denn schon bevor die Versicherungssumme ausbezahlt worden war, hatte sie dem Fina nza mt einen Ka pitalzuwachs in Höhe von knapp drei Millionen gemeldet, und bei dem Lohn, den sie vorher verdient hatte, war das für Jan Lewins Verhältnisse ganz schön viel. Eine spa rsa me Lebensführung, ein reicher Liebhaber oder vielleicht einfach ein älterer Bruder, dem sie geholfen ha t, indem sie sein Geld verwahrte, überlegte Jan Lewin. Derselbe Bruder , der Joha nsson zufolge im Mai 1977 die Post in der Dalagata um 295 000 Kronen bera ubt ha ben soll. Fünf Brutto -Ja hresgehä lter für einen da maligen Kriminalinspekto r. Da s wusste Ja n Lewin ebenso gut wie Joha nsson, weil er zu der Zeit selbst bei der Mordkommission ge arbeitet ha tte und er sich sogar an den Fall erinnerte. Gut dreißig Jahre später entsprach das annä hernd zwei Millionen Kronen und immer noch fünf Brutto-Jahresgehältern für einen Kriminalinspektor, rechnete Lewin aus und fertigte eine Notiz da zu a n. Wenn es sich denn so verhält, da ss sie für ihren Bruder die Bank spielt, dann müssen sie in Kontakt zueinander stehen, dachte Jan Lewin. Und auch wenn es sich nicht so verhält, kann sie trotzdem Kontakt zu i hm ha ben, dachte er, o bwo hl Geschwisterliebe für jemanden wie ihn unbeka nntes Terrain war. Dana ch ging er da zu über, sämtliche Formulare auszufül len, die benötigt wurden, damit er Birgitta Hedberg den üblichen Kontrollen in den polizeilichen Registern unterziehen konnte, und beendete diesen Teil da mit, eine Telefo nabhörung zu beantragen. So weit die Routine und dann blieb nur noch der krea tivere Teil, bevor es Zeit für den Feiera bend war. Zuerst holte er das Fo to von ihr heraus. Glücklicherweise ein aktuelles, aufgenommen, als sie im Januar diesen Jahres ihren Pass erneuert ha tte. Es zeigte eine 455
dunkelhaarige Frau in den Sechzigern mit einem im Nacken stramm zu einem Knoten hochgesteckten Haar, regelmäßigen Gesichtszügen, einer geraden Nase, einem markanten Kiefer und einem ebensolchen Kinn und dunklen, wachsamen Augen. Sie sieht gut aus, dachte Jan Lewin. Wenn nicht dieser strenge, wachsame Ausdruck wä re. Falsch, dachte er. Sie sieht bö se a us. Pass, Auslandsreisen, Kreditkarte, Reisebüros. Mit der Kreditkarte anfangen, und wenn da s nichts ergibt, die Reisebüros in ihrer Wohngegend überprüfen, schrieb Jan Lewin. Schleudertrauma, Frührentnerin, Hä usliche Pflege, Beschwerden? Mit der Ambula nten Pflege sprechen, notierte Lewin. Wenn sie die ist, die sie dem Foto nach zu sein scheint, erinnern sie sich bestimmt an sie, dachte er. Dana ch setzte er seine gewo hnte To-do-Liste auf, denn sonst wäre er schließlich nicht Jan Lewin gewesen. Aus demselben Grund las er sie auch drei Mal, fügte etwa s hinzu, löschte etwas, änderte etwa s und machte die Änderungen wieder rückgängig , bevor er mit einem tiefen Seufzer endlich so weit war, da ss er sie Joha nsson schicken konnte. Dann sc hüttelte er noch ein weiteres Mal nachdenklich den Kopf. Es war der fünfzehnte und letzte Punkt, der ihm So rgen bereitete, »Birgitta Hedberg vernehmen?«. Ha b irgendwie ein ungutes Gefühl dabei, dachte Jan Lewin. Zuerst löschte er das Frage zeichen und, nach weiteren Grübeleien, den gesamten kurzen Satz und ersetzte ihn schließlich durch einen neuen. » Schla ge vor, wir warten so lange wie mög lich da mit, Hedberg s Schwester zu vernehmen«, schrieb Jan Lewin. Er holte tief Luft, nickte und drückte zuletzt a uf »senden« als letzte Amtshandlung dieses einen Tages in einer Abfo lge vo n Tagen, die sein Leben ausmachten. Clever, dachte Joha nsso n, als er zehn Minuten spä ter vor seinem Computer saß und las, was Jan Lewin geschrieben hatte. Nicht nur clever, sondern auch no t456
wendig, dachte er. Wenn ta tsächlich etwa s an der Sache dran war, die Helena Stein ihm erzählt hatte. Dann rief er ein halbes Dutzend von seinen verschwieg ensten Mitarbeitern zu sich und gab ihnen ein paar knappe Anweisungen. »Fragen?«, warf Johansson in den Raum und ließ den Blick über die Anwe senden schweifen. Alle schüttelten den Kopf, drei waren schon aufg estanden, und Kollege Rogersso n hatte es sogar scho n geschafft, die Tür zu öffnen, und war im Begriff zu gehen. »Gut«, sagte Joha nsson. »Und ab die Post!« Dann bat er seine Sekretärin, so fo rt seinen Amtsko llegen bei der Spanischen Nationalpolizei, der Guardia Civil, in deren Hauptquartier in Madrid zu kontaktieren. Sein spanischer Kollege meldete sich bereits eine Viertelstunde später. Jo ha nsson erzä hlte diskret vo n seinem Anliegen, und ihm wurde jede erdenkliche Hilfe zug esichert. Und sogar darüber hina us, wenn es sich denn als no twendig erweisen so llte. Ein paar Ko nta kte kö nnen doch nie scha den, dachte Joha nsson, als er den Hörer aufgelegt hatte und unweigerlich an das Hinterzimmer in der gemütlichen Bar in Lyon denken musste. Die Bar, in der er und die anderen richtig g roßen Uhus manchmal das Vergnügen gehabt hatten, zusammenzuh ocken. Die ganze strategische Planung hatte ihn nur gut eine Stunde geko stet. Selbstverstä ndlich ohne vorher Lewin, Mattei und am wenigsten Holt ein Wort über die Sache zu verraten, weil er sich jetzt in einer Situation befand, in der die eine Hand nicht wissen musste, was die andere ta t. Gut und schön, sofern er alleiniger Herrscher über beide wa r. Further informatio n will be given on a need to know ba sis, dachte Jo ha nsson zufrieden, lehnte sich in den Sessel zurück, in dem er saß, und hatte aus irgendeinem Grund ausgerechnet Anna Holt vor Augen. 457
Lisa Ma ttei hatte auch einen Blick auf die Photos geworfen, die sie von Joha nsson bekommen hatten, und getreu ihrer sy stematischen Veranlagung fing sie mit den Menschen an, die bereits verstorben waren. Der Erste Lotse Einar Göra n Hedberg , geboren 1906, gestorben 1971 im Alter von fünfundsechzig Jahren. Und seine Ehefra u Ingrid Cecilia , geboren 1924, im selben Ja hr, in dem sie seinen Sohn zur Welt brachte, und die achtzehn Jahre jünger als ihr Ehemann war. Gestorben 1964 im Alter vo n nur vi erzig Ja hren. Er sieht nicht besonders ne tt aus, da chte Mattei, als sie das Hochzeitsfoto der Eheleute Hedberg betrachtete. Einar Hedberg, in Lo tsenuniform, wie er schrä g hinter seiner Gattin steht, breitschultrig, und sie um mehr als einen Kopf überragt. Er hä tte gut ausgesehen, wä ren da nicht der wachsa me Ausdruck, die grimmige Miene, seine militärische Haltung und Körpersprache g ewesen. Daneben seine Ehefrau Cecilia . So wurde sie offenbar genannt. Klein, hübsch, süß, ängstlich in die Ka mera lächelnd. Den Blick schräg nach rechts gerichtet, und dazu die Hand ihres Angetrauten, die schwer und beschützend auf ihrer Schulter ruht. Was er wohl mit ihr gemacht ha t? , frag te sich Lisa Mattei. Einar Hedberg schien ein Ma nn gewesen zu sein, der es gewöhnt war, das Leben anderer zu lenken. Der nicht nur Schiffe durch schmale Fahrrinnen, über den Meeresgrund, über Untiefen und durch die schmalen Passagen in den Stockholmer Schären gelotst hatte. In seinem Nachruf in der Norrtälje Tidning sprach der Verfasser von seiner natürlichen Führungsstärke, seiner Prinzipientreue und seinen bedeutenden na utischen und maritimen Kenntnissen. Seine »vor ihrer Zeit verstorbene Gattin« habe zeit ihres Lebens »treu an seiner Seite gestanden« , aber ob er denn über den Tod hinaus schmerzlich vermisst und niemals vergessen werden würde, ging zumindest nicht aus seiner To desa nzeige 458
hervor. Einar Hedberg ha be » zwei erwa chsene Kinder« hinterlassen, und das war auch schon alles. Was er wohl mit ihnen gema cht hat? , fragte sich Lisa Mattei. Ungeachtet dessen, wa s der Erste Lo tse mit seinen beiden Kindern gemacht hatte, schien da s, von Johanssons Photos ausgehend, unterschiedliche Auswirkungen gehabt zu haben. Falls er denn überhaupt etwas gemacht ha t natürlich, dachte die sorgfältige Lisa Mattei. Ihr war bewusst, dass Fo to s ebenso v errä terisch wie Worte sein konnten. Unter den Aufnahmen, die sie vo n Jo ha nsso n bekommen hatte, waren auch vier Klassenfotos von der Volksschule in Vaxholm. Der große Bruder Kjell Göra n mit seinem Klassenlehrer und seinen Schulkameraden, als sie in die erste Klasse kamen, und in gleicher Aufstellung, kurz bevor er aus der Neunten abging und seine Schulzeit beendet war. Entsprechende Bilder von seiner kleinen Schwester Birgitta, die in dieselbe Schule gega ngen wa r. Es gab eine auffällige äußerliche verwandtschaftliche Ähnlichkeit zwischen den Geschwistern, insbesondere, wenn ma n da s Aussehen der Eltern kannte, aber da hörten die Übereinstimmungen da nn auch scho n auf. Die Art, wie sie sich der Umgebung und der Kamera gegenüber verhielten, unterschied sie deutlich voneina nder. Der siebenjährige Kjell Göra n Hedberg war ein robuster kleiner Kerl, der ruhig den Fo tografen ansah. Im Unterschied zu den meisten seiner Kamera den lä chelte er nicht. Er beobachtete da s, wa s gescha h, und das, wa s er sa h, schien ihn nicht im Gering sten zu kümmern. Seine Schwester lächelte auch nicht, und weil es so schien, a ls habe sie die wachsamen Augen ihres Vaters geerbt, wirkte sie beinahe misstrauisch. Da sselbe leicht gelockte, dunkle Haar, dieselben braunen Augen und harmonischen Gesichtszüge. Kjell Göra n Hedberg trotz seiner Locken mit adrettem Seitenscheitel. Seine Schwester Birg itta mit einer Rosette 459
im Haa r. Dieselbe ordentliche Kleidung, der Mutter Cecilia bestimmt allerlei Anstrengungen gewidmet ha tte, als sie in der guten Stube vor dem Nähkorb gesessen oder in der Waschküche im Keller gestanden ha tte. Allerdings besaßen die Gesc hwister einen ganz und gar verschiedenen Gesichtsausdruck. Der große Bruder; bereit, die Welt seinen Beding ungen zu unterwerfen, o bwohl er erst sieben Jahre alt und ein kleiner Winzling war. Seine kleine Schwester; bereit, sich stä ndig gegen dieselbe Welt zu verteidigen, g a nz g leich wa s sie ihr brachte. Neun Jahre später schien sich nur wenig geändert zu haben. Ein sechzehnjähriger Kjell Göra n in der Mitte des Bildes. Genauso groß wie der läng ste seiner Klassenka meraden, mit breiten Schultern, schmaler Taille und vor der Brust gekreuzten Armen. Der Mode der Zeit entsprechend war das leicht gelockte Haar mittels Kamm und Frisiercreme durch eine schwarz gewellte Elvistolle ersetzt worden. Der Blick war derselbe, ruhig, beobachtend, aber weil er sich jetzt ein leichtes Lächeln erla ubte, wirkte er fast amüsiert nachsichtig gegenüber den Geschehnissen. Nicht so seine Schwester. Sie hatte da s lang e Haar zu einem Pferdeschwanz hochgebunden und trug keine Ro sette mehr, und obwohl sie im objektiven Sinne das hübscheste Mädchen der Klasse hätte sein müssen, hatte sie dem Fotografen nur dieselben misstrauischen, dunklen Augen anzubieten. Er muss sie ga nz u nterschiedlich behandelt haben, schloss Lisa Ma ttei dara us. Schulzeug nisse, dachte Lisa Mattei, als sie sich aus der Da tei mit den Fotos von Kjell Göran Hedberg und dessen Angehörigen auslog gte. Ich muss mir seine Schulzeugnisse angucken, dachte sie, und nur fünf Minuten später saß sie bei Polizeiintendent Wiklander. Dem Leiter der hausinternen Informatio nsabteilung bei der Zentralen Kriminalpolizei und unter anderen Umständen auch ihr unmittelbarer Vorgesetzter.
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»Noten? Du willst Hedbergs Schulzeugnisse sehen?«, wiederholte Wiklander und nickte Mattei zu. »Ein seltsamer Zufall«, stellte er fest und nickte erneut. »Wieso Zufa ll?« »Als ich und unser hochgeschä tzter Chef vor ein paar Tagen darüber diskutiert ha ben, welche Da ten wir über Hedberg ra ussuchen sollten, hat er aus irgendeinem Grund seine Schulzeu gnisse erwä hnt.« »Tatsächlich.« »Ja. Ich meine mich zu erinnern, da ss er etwa s in der Art sag te, da ss es vielleicht am Besten sei, auch seine Schulzeugnisse rauszusuchen. Nicht, weil er meinte, dass sie im Hinblick auf die Ermittlungen von besonderem Interesse seien, so ndern vor a llem, damit du nicht traurig wirst, wenn du kommst und danach fragst. Und vermutlich hat er da s auch geta n, weil er um Ecken scha uen kann.« »Hat er das so formuliert?« , frag te Ma ttei. » Wortwö rtlich«, sagte Wiklander, seufzte zufrieden und reichte ihr eine dünne Plastikhülle mit Unterlagen rüber. »Eine besondere Leuchte scheint der gute Hedberg nicht gewesen zu sein«, fügte er hinzu. »Wohl eher normales, praktisch veranlagtes Mittelmaß, du solltest also vielleicht keine Seelenverwandtscha ft erwarten.« »Danke«, sagte Mattei und erhob sich. » Keine Ursache«, erwiderte Wikla nder. » Bevo r du gehst, soll ich dir no ch einen Gruß ausrichten. Vo n Johansson.« » Ich bin ganz Ohr«, sag te Ma ttei. »Du sollst weder mit Hedbergs Lehrer, seinen alten Schulkameraden noch mit überha upt jemandem sprechen, der auch nur im Verdacht steht, ihn geka nnt zu haben. Unter keinen wie auch immer gearteten Umständen.« »Hat er das so formuliert?« »Wortwörtlich!«, sagte Wiklander. »Also streich dir das aus dem Kopf. Sonst kommt nämlich der Teufel höchstpersönlich und holt dich. Ebenfalls ein wortwö rt461
liches Zitat von unserem obersten Chef. Befehl von ihm. Zur Sicherheit auch von mir.« »Habe verstanden«, sagte Mattei, nickte kurz und ging. Was die Ausbildung betraf, so gehörte Kjell Göran Hedberg einer verlorenen Genera tion an. In den neun Jahren, die er die Schule in Vaxholm besucht hatte, hatte er nach jedem Schulhalbjahr ein Zeugnis erhalten, neun Jahre und achtzehn Schulhalbjahre lang. Die Noten waren entsprechend einer siebengradigen Skala verteilt worden, auf der ein großes A den größten Erfolg und ein C das komplette Versagen ausdrückte, die sicherheitshalber noch durch eine Statistik vervollstä ndigt worden war, aus der herv orging, wie Hedberg s Klassenkameraden abgeschnitten hatten. Er gehörte zum ty pischen Mittelma ß, dem B o der Ba in fa st allen Fächern verliehen worden wa r. Mit Ausnahme von Geschichte, Werken und ‘Gymnastik mit Spiel und Sport’ wa r der Sohn des Ersten Lotsen in seiner ganzen Schulzeit fest im Mittelfeld der Klasse verankert gewesen. Scho n in der zweiten Klasse ha tte Hedberg ein AB in Geschichte bekommen und sich gemeinsam mit zwei Klassenkameraden den ehrenhaften ersten Platz geteilt. Zwei fahre später ha tte er sich auf ein kleines a verbessert, das er danach seine ga nze Schulzeit über behalten hatte. Den ersten Platz hatte er allerdings verloren. Aus der Statistik über die Abgangszeugnisse ging hervor, dass einer seiner Klassenkameraden ein großes A erhalten hatte und dass er einer vo n dreien gewesen war, die ein kleines a bekommen ha tten. Ich könnte Gift drauf nehmen, dass es sich bei den anderen um Mädchen gehandelt hat, da chte Lisa Mattei. In Werken hatte er zu den Besseren der Klasse gehört und im Durchschnitt die letzt en drei Schulja hre hindurch ein AB geha bt. Da sselbe AB, da s ihm einen ehrenvollen geteilten zweiten Platz unter den Holzwer462
kern und einen neunten Platz insgesamt eing ebracht hatte. Auf den sechs vorderen Plätzen der Klasse lagen nämlich fünf Textilwerker, verteilt auf zw ei große und drei kleine äs, a ber nur ein kümmerlicher Holzwerker. Wer die wohl gewesen sind?, fragte sich Ma ttei. Im Fach »Gymnastik mit Spiel und Sport« war Hedberg seine ganze Schulzeit über der Klassenbeste gewesen. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme, die eing etreten war, als er die achte Klasse besucht hatte. Schon in der vierten Klasse war er der Einzige mit einem kleinen a gewesen, und vom fünften Schuljahr an ha tte er ein großes besessen. Mit einer Ausnahme, wie gesagt. Im Herbsthalbjahr in der achten Klasse war seine Note auf ein kleines a gesenkt worden, wo er einer von vieren gewesen war. Im Frühjahrshalbjahr hatte er sogar nur ein AB bekommen und war auf einen zu teilenden achten Platz in einer Klasse mit insgesamt vierundzwanzig Schülern abgerutscht. Da nn war es wieder aufwärts gegang en. Ein großes A im Herbsthalbjahr in der neunten Klasse und der Einzige mit dieser Note, als er im Juni i960 die neunjährige Volksschule in Vaxholm beendet hatte. Pubertätsprobleme oder irgend so was, dachte Lisa Mattei, und scho n fünf Minuten später fasste sie einen Entschluss. Sie musste einfach mit Hedbergs altem Kla ssenlehrer sprechen. Tro tz Jo ha nsso n, Wikla nder, dem Teufel hö chstpersönlich und allen anderen Brüdern, die trotz ihrer schlechten Statistik versuchten, sie und ihre Mitschwestern unterzubuttern. Hedbergs Klassenlehrer hieß Ossian Grahn und befand sich auf demselben Klassenfoto wie Kjell Göran Hedberg und seine Klassenkameraden. Ein kleiner Mann in den Dreißigern mit vergnügten Augen und dünnem, blondem Haar. Nach einer Viertelstunde gekonnten Einhämmerns auf den Computer wusste Lisa Ma ttei da s meiste, was es über ihn zu wissen galt. 463
Der ehemalige Oberstudienra t Ossia n Gra hn war 1930 geboren worden und 1995 in Rente g ega ngen. Wa r seit fünf Jahren Witwer, hatte zwei erwa chsene Kinder, wo hnte in einem Einfamilienha us im Bä tma nsväg in Vaxholm und befand sich mi t Namen, Titel, Adresse und Telefo nnummer im Telefo nbuch. Die Suche im Internet ha tte außerdem gut hundert Treffer ergeben und machte deutlich, dass Ossian ein äußerst aktiver Rentner zu sein schien. Nicht nur im Seniorenverband in Vaxholm, wo er scho n seit vielen Jahren mit im Vorstand saß, sondern auch kra ft seiner g eistigen Interessen. Interessen, die allein in den letzten fünf Jahren Spuren in Form von drei gedruckten Schriften hinterla ssen ha tten. Ein Buch mit dem Titel »Bootsmänner und Bauern im südlichen Ro slagen« , wo er als alleiniger Autor genannt wurde. Ein Artikel in einem größeren Werk über die Festung von Vaxholm. Ein weiterer Artikel, »Vorgeschichtliche Denkmäler in Roslagen«, der als Sonderdruck vom Heimatverein in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Norrtälje herausgegeben worden war. Ans Telefon ging er auch, und das scho n nach dem zweiten Klingeln. Vor ihrem inneren Auge sah Lisa einen kleinen, munteren Pensionär mit vergnügten Augen und dünnem, blonden Haar, und mit irgendetwas anderem, als mit offenen Karten zu spielen war damit undenkbar. »Ich heiße Lisa Ma ttei«, sagte Mattei. »Ich bin Po lizistin und arbeite für die Zentra le Kriminalpolizei in Stockholm. Ich müsste mit Ihnen sprechen, Herr Oberstudienrat.« »Jetzt bin ich aber neugierig«, antwortete Grahn und klang gena uso vergnügt, wie sein Fo to versprach. » Wa nn wollten Sie denn vorbeiko mmen?« »Am liebsten so fort«, sa gte Lisa Ma ttei. »Wollen wir sagen in einer Stunde?«, schlug Grahn vor. »Denn ich vermute, da ss Sie mit dem Auto ko mmen und in diesem entsetzlich hässlichen, großen, braunen Gebä ude auf Kungsholmen in Stockholm arbeiten. Da s, 464
was man im Fernsehen sieht, wenn irgendein armer Schlucker in sein Unglück g era nnt ist.« Daraufhin raffte Li sa die Papiere zusammen, die sie ihrer Ansicht nach brauchte - zuoberst im Haufen la g das Klassenfoto vo n 1960 -, lieh sich einen Dienstwa gen, fuhr nach Vaxholm und traf den ehemaligen Oberstudienrat Ossian Grahn. Siebenundsiebzig Lenze, aber den Augen nach zu urteilen nicht einen Tag ä lter als auf Ma tteis fa st fünfzig Jahre altem Foto . Derselbe Ossian Grahn, der ihr Herz scho n erobert hatte, als sie sich in seinem aufgerä umten Wohnzimmer niedergelassen hatten und er ihr die erste Tasse Kaffee serviert hatte. » Eine neugierige Frag e«, begann Grahn das Gespräch. »Handelt es sich um Kriminalko mmissa rin Lisa Mattei oder um die Do ktorin der Philosophie Lisa Mattei, die mir die Ehre gibt? Ich habe Sie geg oog elt!« » Gute Frage«, sag te Ma ttei. »Ich glaube, dass Sie von beiden Besuch haben.« Dann holte Mattei das Klassenfoto von i960 ra us. Dasselbe Fo to , das Doktor Ma tteis Neugierde geweckt und bewirkt hätte, da ss sie bestimmte Fragen stellen wo lle. Aus Gründen, auf die Kommissarin Ma ttei leider nicht weiter eingehen könne, die sich a ber in der Sa che um einen seiner Schüler aus der Abgang sklasse i960 an der Schule in Vaxholm drehten. »Ich ha be das Klassenfoto mitgebracht« , sagte Lisa Ma ttei und reichte es ihm. »Eines müssen Sie wissen, Lisa«, sagte Ossian Grahn. »Ich war über fünfzig Jahre lang Lehrer. Ich habe im Laufe der Jahre an die tausend Schüler gehabt. Was speziell diese Klasse betrifft, war ich, wenn ich mich richtig erinnere, drei Jahre lang ihr Klassenlehrer, und zwar in den Jahrgang sstufen sieben, acht und neun. Ich unterrichtete sie in Schwedisch und Geschichte, und ein Grund dafür, weshalb ich mich daran erinnere, ist, da ss ich im Herbst desselben Jahres anfing, am Norra Latin 465
in Stockholm zu arbeiten. Do rt habe ich meine erste Festanstellung als St udienrat bekommen.« »Können Sie sich an irgendjemanden auf dem Bild erinnern?«, fragte Mattei. »An zwei«, sagte Ossian Grahn. »Und ich ho ffe zutiefst, dass nicht Gertrud der Anlass dafür ist, dass mir Kriminalko mmissarin Lisa Mattei einen Besuch abstattet.« Gertrud, die links in der hintersten Reihe stand. Süß und hübsch angezogen, mit langem, dunklem, über die Schultern fallendem Haar. Sie lächelte schüchtern in die Kamera, fünfzehn Jahre alt, aber den Augen nach zu urteilen war sie weitaus reifer. Gertrud, die damals Lindberg mit Nachna men hieß. Ihr Va ter besaß den ICA-Kaufladen in der Stadt, und ihre Mutter war Lehrerin und eine Kollegin von Ossian Grahn gewesen. Eine Schülerin von tausend, di e er in seinem la ng en Leben als Lehrer unterrichtet ha tte. » Eine der besten Schülerinnen, die ich je ha tte«, stellte Ossian Grahn mit einem entschiedenen Kopfnicken fest. »Wenn wir denn von jenen Fähigkeiten sprechen, die in Noten ausgedrückt werden kö nnen«, fügte er hinzu. »Fällt Ihnen noch mehr ein?«, sagte Lisa Mattei. »Gertrud war eine ganz bemerkenswerte Person«, sagte Grahn. »Sie war eine Seltenheit, ein äußerst entzückender Mensch. Sie war gebildet, sie war begabt, und sie war anderen gegenüber nett und anständig. Gutaussehend war sie auch. Da s ist sie übrigens heute noch. Ich kannte sie schon als kleines Mädchen.« »Sie sehen sie heute noch?« »Sie ist Ärztin. Chefin der Amtsarztpraxis hier in Vax holm« , sag te Grahn. » Bis vor ein pa ar Ja hren ha t sie im Karolinska Krankenhaus in Stockholm gearbeitet, aber dann wurde ihr zweiter Mann krank und in 466
den Vorruhestand versetzt, und da sind sie wieder hierhergezogen. Sie wohnen sogar ga nz in der Nä he, nur ein paar Häuserblocks von hier entfernt. In ihrem alten Elternhaus übrigens. Wir laufen uns ein paar Mal wöchentlich über den Weg. Heute heißt sie übrigens Rosenberg. Seit sie zu m zweiten Mal geheiratet ha t. Ihr jetziger Mann hat auch als Arzt gearbeitet. Obwo hl er inzwischen, wie ich scho n erwähnt habe, Vorruheständler ist.« »Ich bin nicht wegen Gertrud hier«, beruhigte ihn Lisa Ma ttei. » Wer war der Zweite, den ...« »Lassen Sie mich ra ten« , sa gte Ossian Grahn. »Sie sind herg ekommen, um über Kjell zu sprechen? Über Kjell Hedberg.« »Wie ko mmen Sie darauf? Und warum erinnern Sie sich a n ihn?« »Norma lerweise sind es wohl zw ei Sorten Schüler, an die sich jemand meines Schlages erinnert. Zum einen an so lche wie Gertrud, an die man immer nur mit Freude denkt - und das sind nicht allzu viele, müssen Sie wissen. Ja, und da nn deine Sorgenkinder. Die meistens leider in der Überzahl sind. Die üblichen Verdächtigen eben, Frechdachse - obwohl ein paar von ihnen richtig charmant sein ko nnten - und, leider, auch den einen o der a nderen richtigen kleinen Gangster. Aber der Großteil von ihnen gehö rte zu der Ka tegorie, die einem eigentlich nur leidtun konnten.« » Und Hedberg war also ei n Frechdachs?«, fragte Mattei. Hier wo llen wir anfa ngen, da chte sie, weil es das Letzte war, das sie sich vorstellen ko nnte. »Wenn es doch nur so gewesen wäre«, sagte Grahn und schüttelte sein dünnes, blondes Haar. »Es war also schlimmer?«, hakte Mattei nach. Jetzt nimmt die Sache endlich Gestalt an, dachte sie. »Er wa r hoffentlich eine Ausnahme«, sagte Grahn und wand sich unbehaglich auf seinem Platz. »Wie meinen Sie da s?« »Kjell Hedberg war ta tsächlich der einzige Schüler in meinem ga nzen Leben als Lehrer, vor dem ich 467
Angst hatte. Obwo hl er nie Streiche a usgeheckt ha t. Jedenfalls nicht in meinem Unterricht. Und das, obwohl ich sein Kla ssenlehrer und doppelt so alt war wie er. Da s hat irgendwie an seinen Augen und seiner Körpersprache gelegen. Seine Art, dich anzusehen, hatte etwas an sich, das offen gesagt Furcht einflößend wa r. Soba ld da irgendetwas war, das ihm nicht gepasst hat.« »J etzt bin ich es a ber, die neugierig ist«, sag te Ma ttei. » Da s müssen Sie mir erklären.« »Ich glaube, ma n macht es sich zu einfach, wenn man ihn als bösen Menschen bezeichnet. Kein Fünfzehnjähriger ist auf diese Weise bö se. Das werden sie, glaube ich, erst später im Leben.« »Was wa r es da nn?« »Ich glaube, dass er den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht kannte«, versuchte Grahn eine Erklärung. »Das Einzige, was in Kjells Welt etwas zä hlte, war, wie er dich sah und wie er dein Benehmen ihm gegenüber wa hrnahm. Mein Glück war wo hl, da ss ich ihn in seinem Lieblingsfach Geschichte unterrichtete.« » Er war a n Geschichte interessiert? « »Ja, auf eine ganz und gar unsympathische Art und Weise. Er konnte die Regier ungszeiten von Staa tso berhäuptern wie am Schnürchen herunterleiern, selbst wenn man ihn mitten in der Nacht geweckt hätte. Er wusste Zeit und Ort jedes einzelnen Feldzuges, aber sein Geschichtsverständnis war offen gesagt jämmer lich. Es drehte sich nur um bedeutende Persönlichkeiten. Alexander der Große, Hannibal und Caesar, Gustav IL, Adolf und Karl X II., Napoleon und Hitler. Bedeutende Männer, die da s Schicksal der Welt bestimmten und im Vorüberg ehen uns allen a nderen, Normalsterblichen sozusagen Lebensinhalt und Lebenssinn schenkten. Ich erinnere mich dara n, wie wir Gustav III. behandelt haben. Da ist er nach der Stunde zu mir gekommen und ha t erzählt, dass er überzeugt da von sei, dass Gustav III. homosexuell gewesen wäre. Dass Gustaf V. das gewesen se i, wisse er schon, das hät468
te sein Va ter, der Erste Lotse, ihm erzählt. Von dem alten König, der versucht haben soll, seinen Chauffeur zu vergewaltigen, der dara ufhin in den Graben gefa hren sei und ihnen beiden so da s Leben geno mmen hätte. Na ch dem eine Stra ße südlich vo n Stockholm benannt wä re... Ich versuchte, ihn zu beruhigen, indem ich einwandte, dass sie ja schließlich nicht miteinander verwandt gewesen seien.« »Und wie hat er da s aufgenommen? « »Er hatte irgendeine ausufernde Erklärung, in der es darum ging , da ss das an der Inzucht in unserem Kö nigshaus gelegen habe. Dass sie nicht miteinander verwandt gewesen seien, wisse er natürlich. Es habe sich um eine Art genetischer Verarmung gehandelt, und ein Grund dafür, da ss man Gustav III. erschossen ha be, sei vermutlich, dass man seine Ho mo sexualität entdeckt hatte.« »Trotzdem hat er als Abschl ussnote ein kleines a bekommen.« »Ja , da s ha t er tatsächlich«, bestätigte Ossian Grahn und seufzte. »Das hat wohl an den ganzen Regierungszeiten der Staatsoberhä upter und allen Jahresza hlen gelegen, und dann war ich auch ganz einfach zu feige.« »Seine No te in Gymnastik« , sagte Ma ttei. »Die brach ein, als er in der achten Klasse war. Können Sie sich noch daran erinnern?« »Ja«, seufzte Ossian Grahn. »Ich war ja sein Klassenlehrer, vo n der Geschichte ha be ich a lso nur zur Genüge meinen Teil a bbekommen. Sowohl von Kjell, seinem Va ter, dem Lo tsen, als auch von seinem Gymnastiklehrer.« »Was wa r denn pa ssiert?« »Als Kjell in die Achte kam, bekam er einen neuen Lehrer, und schon in der ersten Stunde sind sie wie zwei Hähne auf einem zu kleinen Hühnerhof aneinandergeraten.« »Und weshalb?« »Wenn Sie mich fragen, so ha t es, gla ube ich, da ra n gelegen, dass sie sich viel zu ähnlich wa ren. Nicht, dass 469
ich besonders viel über Gymnastik und Sport und so wüsste, aber Kjell hatte die No te, die er über die Jahre immer gehabt hatte, scho n verdient. Im Hinblick auf sein Alter war er schier unglaublich gelenkig und stark. Der Beste in Fußball, Handball und Eishockey an der Schule. Ganz zu schweigen vom Laufen und Schwimmen und all dem anderen.« »Ist etwas Besonderes passiert?« »Ich glaube, das Ga nze hat seinen Anfa ng genommen, als unsere Schulmannscha ft Fußball gegen die Schulma nnscha ft vo n Vallentuna spielen so llte. Da s wa r zu Beginn des Herbsthalbjahres. Kjells neuer Gymnastiklehrer war Mannschaftstrainer, und eines Tages kam es zwischen ihnen beiden zu Streitigkeiten. Da s eine ergab wohl das andere, und schon in der ersten Halbzeit befa hl ihm sein Lehrer, da s Spielfeld zu verla ssen, und schickte stattdessen einen von seinen Kameraden rein. Kjell ging direkt in den Umkleideraum. Duschte, zog sich um und fuhr per Anhalter nach Vaxholm. Und so ging das weiter. Ständige Auseinandersetzungen.« »Aber im letzten Schulja hr hat sich das gebessert«, stellte Ma ttei fest. »Ich ha be gesehen, da ss er scho n im Herbstha lbjahr in der Neunten sein großes A wiederbekommen ha t. Ha tten sie sich endlich vertragen?« »Nein«, sagte Ossian Grahn und schüttelte den Kopf. »Er bekam einen neuen Lehrer , mit dem er besser auskam.« »Und wa s wurde aus dem anderen? « »Er musste aufhören«, sagte Ossia n Grahn. »Aufhören? Warum das?« »Nur ein paar Tage vor Beginn des Herbsthalbjahres wa r er in einen schweren Autounfall verwickelt. Er wohnte etwa zwanzi g Kilometer nördlich von Vaxholm, bei Österäker, und eines Mo rgens, als er zur Schule fahren wollte, um an einer Sitzung teilzunehmen, in der wir Lehrer des Lehrerko llegiums den Schulbeginn vorbereiteten, ka m es zu einem Unfall. Er fuhr in den Graben. Es hätte richtig böse enden können. Er erlitt eine schwere Gehirnerschütterung und eine Vielza hl ernster 470
Knochenbrüche. Lag mehrere Mona te im Krankenhaus und ist nie mehr zu uns zurückgekommen.« »Was wa r denn geschehen?« »Er ha tte einen Vorderreifen verloren«, sagte Ossian Grahn. »Er fuhr zwar auch wie ein Wahnsinniger, aber es gab viele Gerüchte.« »Über Kjell Hedberg?« »Nicht soweit ich mich erinnere« , sag te Ossia n Gra hn und schüttelte den Kopf. »Er war ja auch erst sechzehn Jahre alt. Es handelte sich um diesen üblichen Klatsch über Untreue und Eifersucht, immer und immer wieder. Das ist hier auf dem Lande nichts Ungewöhnliches, müssen Sie wissen. Zugleich bin ich mir ziemlich sicher, dass die Polizei hier draußen die Sache als einen normalen Unfall abgeschrieben hat. Dass er bei einem Reifenwechsel geschlampt hätte, die Muttern nicht angezogen hätte. Wissen Sie was«, sagte Ossian Grahn und sah Mattei ernst an. »Sie sollten vielleicht mit Gertrud sprechen, wenn Sie scho n mal da sind. Ich gebe Ihnen ihre Nummer.« »Mit Gertrud Rosenberg? Über den Auto unfall?« »Nein«, sagte Ossian Grahn und schüttelte den Kopf. »Wenn es doch nur da s wäre.« Der Teufel höchstpersönlich kann mich mal, dachte eine zufriedene Li sa Mattei, als sie drei Stunden später auf die Autobahn Richtung Stockholm fuhr. Im dem Moment klingelte ihr Handy. »In meinem Zimmer, in einer halben Stunde«, sagte Johansson und klang todernst. »Du musst mir mindestens eine Stunde geben, Chef«, sagte Ma ttei. Ho ppla, dachte sie. »Es dauert doch wohl verdammt noch mal nicht eine Stunde, von Vaxholm hierherzufahren«, sagte Johansson. Hoppla, hoppla, da chte Mattei. »Es herrscht aber sehr viel Verkehr, und Autofa hren gehört nicht g era de zu meinen Stärken«, log Lisa Mattei. 471
»In meinem Zimmer«, sagte Jo ha nsso n. »Sobald du einen Fuß in das Gebä ude setzt, kommst du schnurstracks zu mir« , wiederholte er, woraufhin er ohne ein weiteres Wort den Hörer a ufleg te. Darüber ka nn ich mir immer noch Sorgen machen, wenn es so weit ist, dachte Lisa Mattei und gab noch ein bisschen mehr Gas, um da s, was sie alles noch erledigen wollte, ehe sie ihrem obersten Chef gegenübertrat, zu scha ffen. Das ist das erste Mal, dass ich ihn außer sich sehe, dachte sie etwa eine Stunde später, als sie sich im Besuchersessel vor Johansso ns gro ßem Schreibtisch niedergelassen hatte. »Woher wusstest du, dass ich draußen in Vaxholm war, Chef?«, fragte sie und lächelte ihn freundlich an. »Kollege Wiklander hat dich zufällig in die Tiefg ara ge gehen sehen. Und komm mir nicht mit der Beha uptung, dass du nicht weißt, dass wir heutzutage in fa st allen Autos GPS und Trackingausrüstungen haben. Ich weiß auf den Meter gena u, was du vorgehabt ha st.« Hab ich nicht dran geda cht, dachte Mattei und schüttelte eifrig den Kopf, um de n Kicheranfall, den sie aufsteigen fühlte, zu unterdrücken. »Du ha st über fünf Stunden im Bätmansväg 3 in Vaxholm gestanden, und ich gehe davo n aus, da ss es na türlich ein reiner Zufall ist, dass Kjell Göra n Hedbergs alter Kla ssenlehrer... dieser kleine, blo nde Arsch, der a uf dem Foto, das ich dir dummerweise zu gesteckt ha be und auf dem er wie seine eigenen Schüler aussieht... sein ganzes Leben lang dort gewohnt hat.« »Das hab ich wirklich nicht gewusst«, sagte Lisa Mattei. »Dass er dort sein ganzes Leben gewohnt hat, meine ich.« »Scheiß drauf« , sagte Johansson und starrte sie vergrätzt an. »Obwohl ich und Wiklander dir das Gegenteil befohlen haben, hast du stundenlang dort gesessen und mit ihm herumgemacht. Trotz einem ganz offensichtlichen Risiko, dass es den falschen Leuten zu Oh472
ren kommt. Was weißt du schon über ihn und Hedberg? Vielleicht wa ren sie ja seit der Oberstufe ein Paar?« »Ich glaube, sie ha ben nie ein Wort miteinander gewechselt. Nicht mehr, seit Hedberg die Schule beendet hatte.« » Ach nee« , sag te Jo ha nsso n. » Und wie kommst du darauf?« » Ich ha be a uch mit einer Klassenkameradin von Hedberg gesprochen. Sie war sich ziemlich sicher, dass es sich so verhielt.« »Du hast was gemacht?«, stöhnte Joha nsson und sah sie verblüfft an. Will sie mich etwa verarschen?, dachte er. » Ich ha be mit einer von seinen Klassenkameradinnen gesprochen«, wiederholte Mattei. »Sie ha t ganz in der Nähe gewohnt, also hab ich das Auto stehen lassen und bin zu ihr nach Hause spaziert. Falls Wiklander sich das fragen sollte«, erläuterte sie und lächelte freundlich. » Ich ho ffe« , sag te Joha nsso n. »Ich ho ffe... du hast eine sehr gute Erklärung da für« , wiederholte er und stützte sich schwer auf die Ellenbogen. »Sie ist sogar noch besser als sehr gut« , entgeg nete Lisa Mattei. »Lisa, Lisa«, seufzt e Jo hansson eine halbe Stunde später. »Was so ll ich bloß mit dir ma chen?« »Ich ha tte auf einen weiteren Goldstern gehofft«, sagte Lisa Mattei. »Einen riesengroßen«, fügte sie hinzu. Am darauffolgenden Morgen lag die Reinschrift des Verhörs mit der Amtsärztin Gertrud Ro senberg, gebo ren 1945, a uf Jo ha nssons riesig em Schreibtisch. Die Vernehmung war in ihrem Haus in Vaxholm abgehalten worden. Die Vernehmungsleiterin war Kriminalkommissarin Lisa Ma ttei gewesen. Da s Verhör war auf Tonband aufgenommen und bereits von der Frau, die sie den Tag zu vor vernommen ha tte, genehmig t worden. Die Durchführung hatte laut Protokoll eine 473
knappe Stunde gedauert. Da s Verhör fing mit einer kürzeren Zusammenfassung von Mattei an und endete damit, da ss sie Gertrud Ro senberg die Schweigepflicht auferlegte. »Gertrud Rosenberg gibt zu Beginn und zusammengefasst unter anderem Folgendes zu Protokoll: Sie war von der siebten bis zur neunten Klasse Klassenkameradin von Kjell Göran Hedberg in der da maligen Volksschule in Vaxholm, von September 1957 bis Anfang Juni i960. Nach Beendigung ihrer gemeinsamen Schulzeit fing Gertrud am Gy mnasium in Djursholm an. Dort machte sie im Mai 1963 ihr Abitur im naturwissenscha ftlichen Zweig, worauf sie im September desselben Ja hres vom Karo linska Institut zum Medizinstudium angenommen wurde. Deshalb zog sie auch ein halbes Jahr später in eine Studentenwohnung in Stockholms Stadteil Östermalm. Gertrud wurde im Juni 1970 examinierte Ärztin, Do ktorin und approbierte Ärztin. Ihren Anga ben zufo lge soll Kjell Göra n Hedberg , a ls er im Sommer i960 die Schule beendete, als Lehrling auf einer kleineren Werft bei einer Bootsbaufirma angefa ngen haben. Weil sie bis Mitte der sechziger Ja hre in Vaxholm Nachbarn gewesen waren, waren sie sich regelmäßig über den Weg gelaufen, wenn sie in der Stadt unterwegs gewesen waren, gemeinsame Freunde getroffen hatten etc. Irgendeinen nä heren Umgang mit Hedberg hatte sie aber nicht gepflegt, weder in der Schulzeit noch später. Zu gleich waren sie aber auch nie Feinde gewesen und ha tten die Male, bei denen sie sich zufällig begegnet waren, immer miteinander gespro chen. In den darauffolgenden Jahren waren sie sich seltener begegnet. Sie wusste jedoch, dass er Mitte der sechziger Jahre bei der Polizeischule angefa ngen ha tte und ein Jahr später Polizist gewo rden war. Das ha tten ihre Eltern ihr erzählt. Irgendwann Anfang der siebziger Ja hre, als sie in der No tfallaufnahme des Söderkrankenhauses gearbeitet hatte, hatte sie Hedberg und einen 474
seiner Kollegen getroffen, die damals bei der Funkstreife in Stockholm gearbeitet hatten. Zu der betreffenden Gelegenheit ha tten sie eine festgenommene, betrunkene Perso n, die mit einem Messer v erletzt wo rden wa r, eingeliefert. Bei derselben Gelegenheit ha tten sie auch zusammen eine Tasse Kaffee getrunken und ihre Telefonnummern ausgetauscht. Der Grund dafür war gewesen, dass sie und ihr damaliger Mann mit dem Geda nken gespielt ha tten, sich ein Segelboot zu kaufen. So hatte sie die Gelegenheit ergriffen, Hedberg um Rat zu fragen, weil sie wusste, dass er früher auf einer Werft gearbeitet und gewisse Kontakte in der Bootsbranche gehabt hatte. Eine erneute Kontakta ufna hme a us diesem Anla ss hatte jedoch nie stattgefunden. Dana ch hatte es fast zehn Jahre geda uert, bis sie Kjell Göran Hedberg erneut wiedergesehen ha tte. Es war an einem Sommerabend ir gendwann Ende der siebziger Jahre gewesen, als sie und ihr damaliger Ma nn im Restaurant des Vaxholm Hotels zum Essen waren. Hedberg war aus demselben Gr und da gewesen, gemeinsam mit einer Frau, die ihr sicher vorgestellt worden war, an deren Na men sie sich aber nicht erinnern konnte. Sie erinnerte sich allerdings da ra n, dass er da erwähnt hatte, da ss er inzwischen bei der Säpo arbeitete... Zum letzten Mal war sie Kjell Göran Hedberg am Freitag, den 28. Februar 1986 a uf dem Sv eaväg in Sto ckholm gegen elf Uhr abends begegnet. LISA MATTEI: Erzählen Sie bitte von Ihrer letzten Begegnung mit Kjell Göran Hedberg. So detailliert wie möglich. GERTRUD ROSENBERG: Wie ich vorhin schon erwä hnt ha be, war das an demselben Abend, als Olof Palme erschossen wurde. Was das betrifft, bin ich mir zu hundert Prozent sicher. Mein Begleiter und ich sind 475
den Sveaväg Richtung Norden gegangen. Wir hatten in einem Restaurant im Kungsträdgärden zu Abend gegessen und ein Zimmer in einem Hotel beim Tegnerlunden gemietet. Es wa ren viele Leute unterweg s, die in die entg egengesetzte Richtung gingen. Die Kinovorstellungen waren gerade beendet, deshalb wohl. Weil wir zu diesem Zeitpunkt beide andere Partner hatten und er außerdem auch mein Chef war, hatten wir uns da für entschieden, links in die Adolf Fredriks Kyrkoga ta abzubiegen, wo nicht so viele Menschen waren. Um nicht jemandem über den Weg zu laufen, den wir ka nnten. Gena u da hab ich Kjell gesehen. An der Kreuzung von Sveaväg und Adolf Fredriks Kyrko ga ta. Gena u bei der Würstchenbude, die dort steht. Auf derselben Straßenseite, auf der sich auch die Kirche und der Friedhof befinden. Gerade, als wir in die Querstraße abgebogen waren, überquerte er den Zebrastreifen Richtung Kungsgata. Ich habe ihn al so im Abstand von fünf, sechs Metern schrä g von der Seite gesehen, und wie ich Ihnen bereits erzä hlt ha be, v erfüge ich a uf beiden Augen über eine ausgezeichnete Sehkraft. LISA MATTEI: Und da war es wie spät? GERTRUD ROSENBERG: Irgendetwas nach elf. Wir haben das Restaurant nämlich kurz na ch elf v erla ssen, deshalb kann ich mich daran erinnern. Sagen wir, dass wir vielleicht eine Viertelstunde bis da hin brauchten, wo wir ihn trafen. Das Wetter war furchtbar, wir sind also schnell gegangen. Verliebt waren wir a uch, wir ha tten es wo hl a uch eilig, auf unser Hotelzimmer zu kommen. LISA MATTEI: Viertel na ch elf? GERTRUD ROSENBERG: Ja. Viertel nach elf. Früher nicht. 476
LISA MATTEI: Und Sie sind sich sicher, dass es wirklich Kjell Hedberg war? GERTRUD ROSENBERG: Spontan gesagt, ja. Ich hä tte ihn soga r beinahe gegrüßt. Im selben Augenblick fiel mir ein, da ss das v ielleicht nicht so ganz passend wa r, weil er ja meinen Mann kannte. Aber dann kamen mir doch arge Zweifel. Ziemlich lange war ich davon überzeugt, dass ich nur jema nden gesehen hatte, der Kjell ähnlich sah. Vor a llem, als ich erfuhr, was geschehen war. LISA MATTEI: Ha t er Sie gesehen? GERTRUD ROSENBERG: Da s glaube ich nicht. Er ist schnell gega ngen. Schien seine Aufmerksamkeit auf die andere Straßenseite zu richten. Auf den Sveaväg. LISA MATTEI: Während er gera deaus ging? In die entg egengesetzte Richtung, zur Kung sgata und in schnellem Tempo? GERTRUD ROSENBERG: Ja. Das war ja auch seine Art zu gehen. Ty pisch Kjell. Er war so. Durchtrainiert, zielgerichtet, ha t immer Augen und Ohren offen gehalten. Die Kleidung hatte irgendwie auch einen Hauch von Kjell. So eine praktische, etwas längere Jacke. Dunkel, ein Wintermodell. Dunkelgraue Hosen, keine Jeans, bestimmt ordentliche Schuhe an den Füßen, auch wenn ich nicht da rauf geachtet habe. Geschmackvoll und praktisch gekleidet. Da s war Kjell immer, bis ins kleinste Detail, könnte man sagen... »Sie geht also fremd?«, fragte Jo ha nsso n, scha ute von den Papieren in seiner Hand auf und sah Mattei an. »Ja«, sagte Mattei. »Mit ihrem Chef. Seit einem Mo na t. Beide sind verheira tet. Sie wo hnt mit ihrem Ma nn und zwei Kindern auf Kungsholmen. Er wohnt mit sei477
ner Frau in Östermalm. Er ist fünfzehn Jahre älter als sie, seine Kinder sind also scho n ausgeflogen. Offiziell befindet er sich auf einer Konferenz in Dänemark. Seine Frau war wahrscheinlich zu Hause. Unsere Zeugin wa r hingegen Stro hwitwe. Ihr Mann war mit den Kindern zum Skifa hren in den Berg en.« »Und warum sind sie nicht zu ihr nach Hause gegangen?« »Das ha b ich sie auch gefrag t. Sie wollte nicht. Fa nd, da ss da eine Grenze war.« »Ja , das ist wo hl so«, seufzte Johansson. »Stattdessen checken sie also im Hotel Tegner oben beim Tegnerlunden ein.« »Worüber wir froh sein sollten« , stellte Ma ttei fest. »Wieso denn?«, frag te Jo ha nsso n. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, das zu erzählen, aber ich habe heute Morgen die Hotelbuchung gefunden. Sie hat in einem von diesen alten Ka rtons gelegen, über die Jan regelmäßig seufzt. Eine von ein paar ta usend Hotelreservierungen, die nie bearbeitet wo rden sind. Gertrud Lindberg, das war ihr Mädchenname, hatte für eine Nacht ein Do ppelzimmer reserviert. Hatte das am Tag zuvor telefonisch gemacht und die Adresse ihrer Eltern in Vaxholm angegeben.« »Wer hätte auch an sie denken sollen, als man sich durch diese Papierberg e gewühlt hat?«, seufzte Johansson. »Warum hat sie denn so lange gezö gert, bis sie sich bei uns gemeldet hat?«, fragte Johansson. »Bevor sie Kontakt zu unseren lieben Kollegen aufnahm, um mich richtig auszudrücken.« »Steht im Verhör«, sagte Lisa und lächelte freundlich. »Ich weiß«, seufzte Jo hansson. »Hilf einem alten Mann auf die Sprünge.« » Der Grund, wesha lb sie sich nicht umgehend g emeldet hat, war nicht, da ss sie ‘fremdgegangen’ war. Da s ist nicht der entscheidende Grund, und das glaube ich ihr auch«, sagte Ma ttei. »Was ist da nn der Grund?« 478
»Dass sie glaubte, nichts beitragen zu können. Zu dem Zeitpunkt hat sie nicht einen Moment daran gedacht, dass Kjell Hedberg etwas mit dem Mord zu tun haben kö nnte. Sie hat ja die Eheleute Palme nicht gesehen. Und auch keinen Christer-Pettersson-Verschnitt. Oder irg endetwa s a nderes, da s verdächtig o der seltsam war. Sie ha t auch keine Schüsse gehört. Ein Freitagabend und ein Haufen Leute, die in der Stadt unterwegs sind, um sich zu amüsieren. Offenbar auch ein alter Schulkamerad von ihr. Vielleicht auf dem Weg zu einer heimlichen Geliebten?« »Nicht einen Pieps über diesen historischen Augenblick?« »Doch, schon. Bereits im Sommer 1986 hatte sie ihren alten Klassenlehrer zu Hause bei ihren Eltern in Vaxholm bei einem Grillfest getroffen. Sie hatten sich unterhalten, und wie so viele andere wa ren sie natürlich auch auf den Palmemord zu sprechen geko mmen. Da hat sie ihm erzä hlt, wa s sie gesehen ha tte.« »Dass sie fremdg egangen war und den Mord an Palme um ein paar Minuten verpasst hat?« »Ja. Ossian und sie können anscheinend über fast alles miteinander reden. Zu dem Zeitpunkt hatte sie außerdem schon ihren Mann verlassen.« »Das hast du auch überprüft?« »Ja, und Ossian hat da s gena uso bestätigt.« »Dann muss sie ihm auch von Kjell Göran Hedberg erzä hlt haben? « »Ja , allerding s mehr in Form vo n einer lustigen Anekdote. Da ss a uf dem Sv e aväg na hezu da s reinste Klassenfest geherrscht zu haben schien.« »Aber sie meldet sich erst im Frühjahr 1989 bei der Polizei«, sagte Johansso n. »Ja, und das ist eine ziemlich phantastische Geschichte«, sagte Mattei. »Ich ha b sie ebenfalls überprüft, und alles, was sie zu Protokoll gegeben ha t, stimmt mit unseren Papieren überein.«
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»Ich kann es kaum erwarten«, sagte Joha nsson, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und faltete die Hände über dem Bauch zusa mmen. Zuerst war bereits vierzehn Tage nach dem Mord ein 33-Jähriger verhaftet worden, und in dieser Situation hatte ihre Zeugin nicht einen Moment daran gedacht, dass Kjell Göran Hedberg etwas mit der Ermordung des Ministerprä sidenten zu tun haben kö nnte. Dann folgten Sommer und Herbst 1986, als »alle wussten, dass die Kurden Palme umgebracht ha ben«. Auch da ha tte sie selbstverständlich nicht an ihn geda cht. Erst ein Jahr später hatte sie angefa ngen, über die Sache na chzugrübeln. Die Kurden waren mittlerweile aus dem Spiel. Dafür stand die Polizeispur ernsthaft auf der Tagesordnung. Aus verschiedenen Gründen entschied sie sich dafür, sich nicht zu melden. Sie war sich nicht mehr so sicher, ob sie ihren alten Klassenkameraden wirklich gesehen hatte. Nach dem Mord waren bereits zwei Jahre verstrichen, und warum hatte sie sich in diesem Fall nicht scho n früher g emeldet? Um Hilfe und Rückhalt zu bekommen, beriet sie sich mit ihrem alten Chef und Liebha ber über die Angelegenheit. »Und der war natürlich schwer begeistert«, sagte Johansson und grinste. »Unserer Zeugin zufolge ha t er sie gefragt, ob sie ihn umbringen wolle. Er selbst habe nicht die geringste Erinnerung daran, dass sie einem ihrer alten Schulkamera den über den Weg g ela ufen seien. Wie auch? Er sei ja schließlich a uf einer Konferenz in Dänemark gewesen, als Palme ermordet wurde.« »Und jetzt ist der Arsch to t«, stellte Johansson fest. »Er starb 1997. Herzinfarkt. Habs überprüft.« Mattei nickte bekräftigend. Seit la ng em to t, wie die meisten anderen auch, da chte sie. »Aber im März 1989 nimmt sie Kontakt zur PalmeEinheit auf« , sagte Johansson. »Ja. Aber nicht, um ihnen einen Hinweis bezüglich Hedberg zu g eben, sondern um zu erzählen, dass sie 480
Christer Pettersson nicht gesehen hat, als Palme ermordet wurde.« »Dass sie Pettersson nicht gesehen ha t. Sie ruft die Palmeermittler a n, um zu erzä hlen, dass sie Christer Pettersson nicht gesehen ha t?« Das wird ja immer besser, da chte Jo ha nsson. Christer Pettersson hatte damals seit mehreren Monaten in Haft gesessen, des Mordes a n Olof Pa lme verdächtigt. Zu dem Zeitpunkt hatten auch »alle, die etwa s Wissenswertes wussten«, gewusst, dass er und kein anderer der Täter wa r. Um auch den geringsten Zweifel daran aus dem Weg zu scha ffen, wendete sich die Palme-Einheit trotzdem an den großen Detektiv »Öffentlichkeit«. Man sei daran interessiert, mit »allen, die sich in der betreffenden Gegend zu dem betreffenden Zeitpunkt aufgehalten hätten«, zu sprechen. Ungeachtet dessen, ob sie etwa s beobachtet hätten oder nicht. Auch jemand, der nichts beobachtet hä tte, kö nne demnach also ebenso interessant für die Po lizei sein wie eine Ta tzeug in. Weil Gertrud Ro senberg weder die Eheleute Palme noch Christer Pettersson gesehen ha tte - oder überhaupt jemanden, der Christer Pettersson auch nur ähnlich sah -, entschied sie sich dafür, der Polizei ihr Herz auszuschütten und zu erzä hlen, wa s sie wusste. Sie wählte die Telefo nnummer, die sie in der Zeitung gelesen ha tte. Sprach knapp zehn Minuten mit einem Er mittler der Palme-Einheit. Erzä hlte, wa s sie nicht g esehen ha tte, ohne ein Wort über ihren alten Klassenkamera den zu verlieren. Und la ndete so fo rt in einem der ganzen Ordner mit den überflüssigen Hinweisen. »Ich hab eine Kopie davon, fa lls du es sehen möchtest, Chef«, sag te Mattei. »Es ist ein no rmaler Ermittlung shinweis, von Hand verfasst.« »Ich bin ganz Ohr«, sagte Joha nsson und schüttelte resigniert den Kopf. » O.k.«, sag te Lisa Ma ttei. » Der Kollege schreibt Folgendes. Ich zitiere: ‘Die Zeug in gibt an, da ss sie Chris481
ter Pettersso n nicht gesehen habe. Sie gibt weiter an, dass sie auch die Eheleute Palme nicht gesehen habe oder zum betreffenden Zeitpunkt irgendwelche anderen Beo bachtungen vo n Interesse gemacht ha be.’ Zita t Ende.« »Haben die nicht gera de na ch so lchen Zeug en gesucht? Klingt fa st wie eine ideale Zeugin«, sagte Johansson und grinste entzückt. »Der Kollege, der da s aufgenommen hat, scheint nicht so entzückt gewesen zu sein wie der Chef.« » Wa s ha t er denn gemeint?« »Zitat. ‘Strahlenweib. Beha uptet Ärztin zu sein.’ Zitat Ende.« »Also ist sie im Idiotenordner gelandet.« »Ja. Allerdings ha t ein bürokra tischer Kolleg e sie offenba r sogar als Zeugin in eines der Computerregister aufg enommen. Auf dem Wege hab ich sie auch gefunden.« »Und dann?«, sagte Joha nsson. »Sie ruft kein zweites Mal an«, sagte Lisa Mattei. »Ich kann sie verstehen. Sie ha t mir dieses Gespräch ä ußerst bildreich beschrieben.« »Schlussfo lgerung?«, sagte Johansson und sah Mattei auffordernd an. »Sie bringt Hedberg in unmittelbaren Bezug zu Tatzeitpunkt und Tatort. Vermutlich kurz bevor er den Sveaväg überquert ha t und sich a n die Ecke Tunnelga ta -Sv eaväg gestellt hat, um auf Olof und Lisbeth zu warten.« »Glaub ich auch«, sagte Jo hansso n. » Außerdem ist sie Ärztin und nicht irgendeine gewö hnliche Fixertussi, die Grund hatte, Hedberg zu hassen.« »Ja «, sag te Lisa Mattei. Kein gewöhnlicher Fixer, dachte sie. »Weißt du, wodurch sich ein richtig schlechter Chef auszeichnet?«, frag te sie Johansson unvermittelt. »Nein«, sagte Ma ttei. Jetzt kommt's, dachte sie. » Da ss er Liebling e hat« , sagte Joha nsson. »Es gibt also keine Goldsterne mehr«, seufzte Mattei. 482
»Unter uns scho n«, sagte Johansson. »Wenn du versprichst, niemandem zu verraten.« »Versprochen«, sag te Ma ttei. »Und da ss du es nie wieder tust.« » Versprochen.« Trotz seiner Leiden hatte Bäckströ m nicht auf der fa ulen Haut gelegen. Jetzt herrschte Krisenstimmung, und da galt immer Gefa hr im Verzug. Da s wusste jeder richtige Bulle, und Bäckström wusste da s besser als jeder andere. Einmal hä tte er beinahe ein frei stehendes Ziel verfehlt, eben weil er unnötig gezö gert hatte. Natürlich war es letztlich g limpflich a usg egangen. Selbstverstä ndlich, wa s war auch sonst zu erwarten, wenn Bäckström das Ruder in der Hand hielt? Das wollte er diesmal nicht riskieren, auch wenn ihm der Onkel Doktor mit Warnungen in den Ohren lag. Da ss er einen Herzanfall, eine kleinere Gehirnblutung oder schlimmstenfalls beides erlitten hätte. Was soll man auch von einem erwarten, der davon lebt, einen Ha ufen Simulanten zu verhätscheln?, dachte Bäckström. Zuerst sprach er mit seinem Verwandten bei der Polizeigewerkscha ft. Er sa ß so wieso wie so eine Art Spinne im polizeilichen Netz und wurde mit allen Info rmationen gespeist, die seine Mitglieder sammelten. Logischerweise müsste jemand wie er so einiges über Palme und dessen Sexleben zu erzählen haben. Obwohl er kein Kollege von ihnen gewesen war. »Palme«, sagte sein Verwandter. »Wie zum Teufel soll ich da s wissen? Er war doch kein Polizist.« »Dann die Kollegen. Die müssen doch einen Haufen Scheiß über Palme geredet haben?« »Du rufst mich an, um mich zu fragen, ob die Ko llegen einen Haufen Scheiß über Palme geredet ha ben? Willst du mich verarschen? Bist du krank geworden oder was? Du zerbrichst dir den Kopf über da s Sexle483
ben von dem Typen? Es war wahrscheinlich wie bei allen a nderen.« » In diesem Fall soll es aber bedeutend schlimmer gewesen sein« , merkte Bäckströ m a n. » Er ha t bestimmt auch die Gelegenheit genutzt«, lenkte sein Verwandter ein. »Wer hä tte das nicht geta n, verdammt? Muss ihm in seiner Po sition ja alles auf dem Tablett serviert worden sein.« »Sieh zu, dass du wa s findest«, befa hl Bäckström. Du unfähiger Gewerkschaftsfuzzi, dachte er und knallte den Hörer auf. Dana ch ging er ins Internet. Diese unendliche Quelle des Wissens und Vergnügens. Ziemlich bald fa nd er auch allerhand Schwerwiegendes und Belastendes. Zuerst jede Menge Informationen über eine berühmte Sängerin, mit der sein Mordopfer etwa s gehabt haben soll. Eine Dame, mit der anscheinend nicht zu spaßen gewesen war, wenn man da s gla ubte, was im Internet über sie stand. Dann spürte er ein verrücktes Künstlerweib a uf, die offenbar ihren Lebensunterhalt damit bestritt, Nacktaufnahmen von sich selbst zu machen, über die sie dann Farbe kleckste und sie für teures Geld verscheuerte. Sie hatte ein ganzes Buch über ihr reiches Liebesleben geschrieben, und im Großteil ging es offenbar um Palme. Zumindest den Rezensionen in den Zeitungen zufolge. Bestimmt nur die Spitze des Eisberges, dachte Bäckströ m, der Ty p muss ein Sexbesessener gewesen sein. Und schon beim nächsten Suchdurchlauf wa r er auf Gold gestoßen. Pures Gold. Eine Go ldader von der Größe seines Zeigefingers. Zwei Journalisten hatten vor ein paa r Jahren irgendeinen dokumentarischen Enthüllungsroman verfasst. Er handelte von der Puffmutter und dem großen Bordellskandal, der Mitte der siebziger Jahre da s Esta blishment in Stockholm erschüttert hatte. Einer ihrer eifrigsten Kunden war ansc heinend der damalige Ministerprä sident gewesen, der außerdem noch so dreist gewesen war, zwei minderjä hrige Pro stituierte a ufs Übels484
te auszubeuten. Eine, die gerade fünfzehn gewo rden war, und eine erst Dreizehnjährige. Die Schlinge zieht sich zu, dachte Bäckström, und im selben Moment klingelte sein Telefo n. »Bäckström«, meldete er sich mit pa ssendem Timbre, weil der Hauch der Geschichte soeben vorbeigeschwebt wa r und mit den Flügeln seine Stirn gestreift hatte. Es war sein Verwandter von der Gewerkscha ft. Er habe ein bisschen herumgestö bert und aus praktischen Gründen im Pausenraum bei der Arbeit angefa ngen. Da habe ein alter Ko llege, der in den siebziger Jahren bei der Sitte in Stockholm gearbeitet hätte, erzä hlt, dass Olof Palme damals offenbar etwas mit Lauren Baca ll gehabt haben soll. »Du weißt scho n, diese Do nna, die mit Humphrey Bogart verheiratet war«, erlä uterte ihm sein Verwa ndter. »Wie sicher ist da s?«, fragte Bäckström. Die Alte muss doch scho n hundert sein? Mindestens, dachte er. Ga nz sicher, seinem Verwa ndten zufo lge. Bacall ha be Stockholm besucht und selbstverständlich im Grand Hotel gewohnt. Spät nachts habe sie Besuch vom Ministerprä sidenten erha lten. »Wie sicher ist da s denn?«, beharrte Bäckström. Hundertpro, dachte er. Vo n Dreizehnjährigen zu Hundertjä hrigen? Muss scheißpervers gewesen sein, dachte Bäckströ m. Ganz sichere Informatio nen, seinem Kollegen zufolge. Er wä re bei dem berühmten Besuch nämlich für die Bewachung verantwortlich gewesen und hätte persönlich da für geso rg t, den Ministerprä sidenten durch den Personaleingang des Hotels zu schmuggeln, da mit er auf möglichst diskrete Weise do rthin gela ngte. Eindeutig scheißpervers, urteilte Bä ckström. Danach widmete sich Bä ckström der Außendienstermittlung, die er mit einem Besuch bei dem Bankier Theo Tischler einläutete. Bäckströ m kannte Tischler noch von einer alten Angelegenheit, um die er sich da 485
mals gekümmert hatte. Da s war zwar fa st zwanzig Jahre her, a ber ihre damalig e Begeg nung ha tte a uf die denkbar günstigste Weise geendet und Tischler ko nnte sich noch gut an ihn erinnern. »Setz dich, Bä ckström«, sagte Tischler und wies auf den großen Rokoko-Lehnstuhl, in dem er seine Besucher zu platzieren pflegte. »Womit ka nn ich dienen?« Gefa hr im Verzug, dachte Bäckströ m und entschied sich, direkt zur Sache zu kommen. »Fotzenfritzen«, sagte Bäckström. »Erzähl mir davo n.« »Kein Vorspiel, einfach Bums drauf«, sagte Tischler und lächelte. »Was willst du wissen?« »Alles«, sagte Bäckströ m. »Alles, wa s von Interesse sein ka nn.« »Meinetwegen«, sagte Tischler. Und dann legte er lo s. Genau so, wie er es immer ta t, und oft genug, ohne dass überhaupt die entsprechende Frage gestellt wo rden war. »Dieser kleine Mythomane Claes Waltin wurde ausgeschlossen. Er hatte den guten Na men der Verbindung in den Schmutz gezogen, also musste ich ihn ra usschmeißen.« »Wie hat er das denn gema cht?«, fragte Bäckströ m, obwo hl er die Antwort scho n ka nnte. »Die Weiber ausgepeitscht, die er gefickt hat?« »Nein, Teufel auch, es wa r viel schlimmer. Er ha tte einen Schwanz so groß wie der von Jiminy Grille«, sagte Tischler. »Was glaubst du, verdammt noch mal, ha ben die Damen davon gehalten? Was hä tten sie denn von uns anderen in der Verbindung gedacht, verdammt? Also flog er hochkantig raus. War ja wohl klar, dass ich mit so einem keinen Umgang pflegen konnte. Weißt du übrigens, wie ich von meinen Freunden genannt wurde? Als ich bei den Pfadfindern war?« 486
»Nein«, antwortete Bäckström. Da ra ufhin erzä hlte Tischler die Anekdo te vo m Esel, und obwohl Bäckström ihn gebeten hatte, alles zu erfahren, musste er ihn eine halbe Stunde später bremsen. »Ich glaube, ich ha b mir ein Bild von der Sache gemacht«, bedankte sich Bäckström. »Unmöglich«, sagte Tischler . »Das muss ma n gesehen haben.« »Und dieser Thulin?«, versuchte Bäckström ihn abzulenken. »Was gibt's Interessantes über ihn?« »Du meinst den Schwamm Go ttes?«, fragte Tischler. »Er hat zu der Zeit wie ein Russe gesoffen, und wenn er voll war, hat er angefangen, irres Zeug über seinen unerschütterlichen Gottesglauben zu faseln. Mittlerweile ist allerdings ein feiner Pinkel aus ihm geworden.« »Ist mir bekannt«, sagte Bäckström. »Es soll auch irgendeinen Pokal gegeben ha ben« , ha kte er nach und sah sein Vernehmungsopfer verschlagen an. »Pokal? Was soll da s für einer gewesen sein?« »So ein Siegerpoka l, den ihr an denjenigen verliehen ha bt, der die meisten Mä dels gevögelt ha t. Ich glaube, ihr ha bt den Sieg er Fotzenmeister des Jahres gena nnt.« »Nein«, sagte Tischler und schüttelte den Kopf. »Wofür hätten wir so einen noch gebraucht? Wir brauchten doch keinen Pokal. Ich ha b doch sowieso immer gewonnen. Warum sollte ich mir selbst einen teuren Pokal verleihen? Es hat schon gereicht, dass ich alle Restaurantrechnungen bezahlen musste.« Weiter war Bäckström nicht geko mmen, und als er wieder a uf der Stra ße g esta nden hatte, hielt er ein Taxi an, fuhr nach Hause und machte einen Abstecher zu seiner Stammkneipe, weil es in seinem leeren Magen bedenklich hallte. Höchste Zeit, Klein Nimmersa tt zu füttern, dachte Bäckström und bestellte Grützw urst mit Ro ter Bete und 487
Spiegelei, ein doppeltes Pils und der Verdauung halber einen ordentlichen Verteiler. Dann kam eins zum andern, und als er endlich in seinem behaglichen Unterschlupf war, pflanzte er sich vor dem Fernseher aufs Sofa und zappte sich durch die vielen neuen und interessanten Kanäle, die er sich zugelegt hatte. Alles ha t seine Zeit, dachte Bäckström als der Philosoph, der auch in ihm schlummerte, und die innendienstlichen Ermittlungen über die Mitglieder der Fotzenfritzen konnten durchaus auch bis mo rgen warten. Bäckströ m war es gewohnt, wie ein Pferd ackern zu müssen. Genau genommen hatte er das in seiner gesa mten Laufba hn als Polizist getan, obwohl er nur selten den Lohn für die Mühe eingestrichen hatte. Meistens nur Dreck geerntet, von seinen missgünstigen und halbdebilen Kolleg en. In der letzten Woche war es noch aufreibender gewesen. Er wa r zwischen innen- und außendienstlicher Ermittlung hin- und hergeworfen worden, ha tte im Keller des Po lizeigebäudes umherschleichen müssen, um scho n im nä chsten Mo ment stundenlang vor seinem Rechner zu sitzen. Er ha tte diskrete Treffen in der Stadt gehabt, wo er Gespräche im Flüsterton geführt und die Rechnungen beglichen ha tte. Er ha tte sogar da s Filmarchiv des schwedischen Rundfunks aufsuchen müssen, um die Aufzeichnung einer alten Fernsehsendung zu bekommen, in der einer seiner Verdächtigen in Sö rmland in einer Kiesgrube gesta nden und mit einem Magnumrevolver wild um sich gescho ssen hatte. Er hatte seine unzähligen Kontakte angezapft, hatte überzeugt, überredet, gedro ht, g efleht. Ha tte Dienste und Gegendienste eingefordert und sogar einen außergewöhnlich korrupten Kollegen mit einer Flasche von seinem besten Maltwhiskey bestechen müssen. Am Mittwochabend war sie endlich fertig, und als er mit seinem Meisterwerk in der Hand dastand - dem Stoß Pa piere, der immer noch eine angenehme Wä rme von seinem Drucker a usstra hlte - wa r es, als hä tte ir488
gendeine Kraft, stärker no ch als er selbst, an seinem großen Herz gerührt. »Der Mord an Olof Palme. Ta ta na ly se, Tä terprofil und Tatmotiv. Aktennotiz von Kriminalkommissar Evert Bäckström, verfa sst am 26. September«, las Bäckströ m laut. Und just in diesem Augenblick rührte eine Kraft, stärker noch als er selbst, an sein Herz. Endlich fertig, dachte Bäckström. Und hätte er sich vo n Anfa ng a n um die g a nze Sache kümmern dürfen, hätten nicht alle unschuldigen Mitbürger des Landes über zwa nzig J a hre im Unkla ren schweben müssen. Eine Verschwörung aus vier Mitg liedern. Das war ihm schon ziemlich früh klargeworden, als er diesem Geheimbund auf die Schliche gekommen war. Getreu seiner sy stematischen Vera nlagung hatte er auch dort angesetzt, indem er die Rollen, die die verschiedenen Täter gespielt ha tten, skizziert ha tte. Da ss Claes Wa ltin der Kopf hinter dem Mord gewesen war, war offensichtlich. Ein Polizist in ho her Po sitio n bei der Sä po, der ausführlich über die Geschä fte des Mordopfers informiert gewesen war. Der die eigentliche Tat mehr oder weniger bis ins Detail hatte planen können. Nachdem das da nn erledigt gewesen war, hatten die anderen ihren Teil dazu beigetra gen. Der Staatsanwalt und das Parlamentsmitglied Alf Thulin, der die ganze Zeit über ebenfalls über die Arbeit der Palmeermittler informiert gewesen wa r. Sie soga r über einen la ngen Zeitraum steuern und bei Bedarf nö tige irreführende und ablenkende Manöver ha tte einleiten können. Und hier ka m a uch der reiche Theo Tischler ins Spiel. Um Verschleierungstaktiken anzuwenden und, falls nö tig, dem ersten Ermittlung sleiter einen Ha ufen Geld zu zustecken, damit dieser damit fortfa hren konnte, jede Menge verrückter Kurden zu To de zu h etzen. Sogar nach seiner Entlassung. Blieb der berühmte Wirtscha ftsjurist Erik Sjöberg. Welche Aufgabe war ihm bei der Ermordung Palmes zug efallen? 489
Den zuverlässigen Ze ugenaussagen vom Tatort zufolge, die darüber hinaus vo n v erschiedenen technischen Untersuchungen gestützt wurden, war der Tä ter, der Olof Palme erschossen ha tte, mindestens 1,80 Meter groß gewesen. Claes Waltin war zu klein. Nur 1,75 Meter, ganz abgesehen von allem anderen, das einen Juristendeppen wie ihn bela stete. Theo Tischler war no ch kleiner, 1,73 Meter, gena uso gro ß wie da s Opfer. Zug leich qua dra tisch und kahlkö pfig. Schlimmer noch war es mit Thulin, der, den Angaben seines Ausweises zufolge, mit seinen insgesamt nur 1,69 Metern am ehesten als ein la ng er und stattlicher Zwerg bezeichnet werden ko nnte. Blieb Sven Erik Sjöberg. Verglichen mit den anderen der Verbindung ein Riese von 1,82 Metern und zu dem durchtrainiert und stark. Dem Mann, den die Zeugen beschrieben hatten, auffalle nd ähnlich, und obwohl er scho n seit beinahe fünfzehn Jahren to t war, setzte Bäckströ m hier a n. Wie immer ha tte seine Intuitio n ihn nicht im Stich gelassen. Sjöberg war offenbar ein eifriger Vereinsbruder gewesen. Nicht nur als Jurastudent bei den Fotzenfritzen, denn da s war erst der Anfang. Der Auftakt einer langen Karriere im Vereinsleben, das sich vo m Ortsv erein der Christdemo kraten in Dandery d über den Unternehmerverband in Uppland, den Landfreundeverein, den Aktiensparverein, den Bund der Steuerzahler, den Verein gegen Arbeitnehmerfonds, der Großen Gesellschaft, der Kleinen Gesellscha ft, der Neuen Verbindung für ein freies Schweden, dem Rotary... und so weiter und so weiter erstreckte. Bis hin zum Schwedischen Jägerverband, dem Seglerverein Schneesegler, dem Winterschwimmclub Eisbären und dem Schützenverein Magnumspunde. Magnumspunde, dachte Bäckström und leckte sich die Lippen, und schon tags da rauf wusste er alles, was es über diesen illustren Verein zu wissen gab. An die fünfzig Mä nner, Schütze n, Wa ffensa mmler und Jäger, die 490
sich regelmäßig in einer Kiesgrube in Huddinge trafen, um mit Magnumrevolvern und Schnellfeuerwaffen auf Pa ppfig uren und leere Benzinfä sser zu schießen. Als Bäckström ihren Jahresbericht für da s Geschäftsjahr durchlas, stieß er auf die Informa tio n, da ss der Vizepräsident Sven Sjöberg offenbar im Oktober desselben Jahres als Ehreng ast in der vielbeachteten Fernsehsendung »Die Jung s von Fagerhult« mitgewirkt ha tte. Scho n am nä chsten Tag ha tte er sich vom Filmarchiv des Fernsehsenders einen Mitschnitt der Sendung bescha fft, und just da stieß er a uch a uf eine weitere Ader a us purem Gold. Diesmal so dick wie sein Da umen. Die Mo dera to ren, drei dickleibige Fernsehpromis mit Jagdleidenschaft, ha tten zum Auftakt der Sendung wiederum in irgendeiner Kiesgrube gestanden und auf eine gewöhnliche Scha ufensterpuppe gescho ssen, die mit der Schutzweste eines Polizisten bekleidet war. Sjö berg ha tte mit seinem eigenen Magnumrevolver auf die Puppe gefeuert, die eine auffallende Ähnlichkeit mit der von GeGurra beschriebenen Wa ffe besaß, während der dickste der drei Modera toren mit einem halbautoma tischen Gewehr der Marke Heckler & Koch zu Werke geschritten war. Nach ein paar Minuten war weder von der Puppe noch von der Schutzweste viel übrig gewesen, und der zweitdickste der Fagerhulter hatte das Ergebnis mit den Worten zusa mmengefa sst, dass er, was ihn beträfe, do ch sein kariertes Fla nellhemd der Polizeischutzweste vorziehen würde - falls er denn zufällig in eine so gena nnte Krisensitua tio n gera ten sollte. Dana ch fand ein gemeinscha ftliches Abendessen statt, und in ebendiesem Moment fiel Bäckström das fehlende Puzzlestück in die Hand und ergab ein Ganzes. Sjöberg war nicht bloß in seiner Eigenschaft als Jäger, Schütze und Vereinsbruder eing eladen worden. In Wirklichkeit war er dort, um die Waffengeschä fte zw ischen Bofors und Indien zu diskutieren. Und das in seiner Funktion als Mitglied des Aufsichtsrats und als lang jä hriger Jurist des Konzerns. Klar wie Kloßbrühe, dass man, wenn man Sjöberg fragte, seine Kano nen bei Bofors kaufen 491
müsse, und wenn man so ei n Produkt anbieten könne, seien a uch wirklich keine Bestechungsgelder nötig. Mehr war dazu nicht gesagt worden, so ndern ma n ging dazu über, auf die Sache anzustoßen und wesentlichere Dinge zu diskutieren, wie ma n zum Beispiel am besten unschuldige Tiere abmurkste. Im Lichte dieser neuen Informatio nen revidierte Bäckströ m auch sein anfä ngliches Ta tmotiv. Es war nicht nur Sex, obwo hl es starke Bande zu geben schien, die Täter und Opfer einten. Darüber hinaus hatte er jedoch Beweise für das zweite klassische Motiv gefunden. Geld. Viel Geld, das Bofors als Schmiergeld an die Inder und andere geza hlt ha tte. Nicht zuletzt an da s Mordopfer, wenn man denn den unzähligen Beha uptungen in diese Richtung Glauben schenken durfte, auf die Bäckström im Netz gestoßen war. Sex und Geld. Täter und Opfer mit einer gemeinsamen Vergangenheit. Ein Opfer, das ermordet worden war, weil es sich mit den anderen überworfen ha tte. Mit dem Kopf Waltin, dem Ma ulwurf Thulin, dem Fina nzier Tischler und dem Schützen Sjöberg. Derselbe Sjöberg, der beda uerlicherweise vor fast fünfzehn Jahren abgekratzt und deshalb nicht zu vernehmen war. Ein durch und durch natürlicher Tod, wie es schien. Beim alljährlichen Weihna chtsessen des Wichtelmännchen-Vereins ha tte er sich erhoben, um die alljährliche Dankesrede zu schwingen, und hatte mit dem begonnen, wa s er sein Lebtag getan hatte - den Mund aufgemacht. Anstatt jedoch einmal mehr das Wort zu ergreifen, hatte er plötzlich einen Schlaganfall erlitten, war wie ein leerer Sa ck in sich zusammengefa llen, ha tte beim Fallen noch einen überbackenen Schweinekopf mit sich geri ssen und war auf der Stelle gesto rben. Nach la nger schwerer Krankheit. Denkste, dachte Bäckström, der Sjöbergs Todesanzeige in Svenska Dagbladet gelesen hatte, aber sich nicht so leicht wie a lle a nderen reinlegen ließ. 492
Höchste Zeit, Worten Taten folgen zu lassen und die zwei Täter, die noch am Leben waren, damit zu ko nfro ntieren, dachte Bäckströ m, als er das stärkende Donnerstagsfrühstück aus Pfannkuchen mit gebratenem Speck, Apfelmus, Toastbrot mit extra gesalzener Butter, einer großen Tasse schwarzen Kaffees und einem Schluck Jägermei ster o bendra uf beendet ha tte. Dana ch bestellte er sich ein Taxi, fuhr zum Parlamentsgebäude und betrat den Empfangsbereich. Reichte dem dort sitzenden Wachmann eine Visitenkarte und bat um ein Treffen mit dem Parlamentsmitglied Alf Thulin anlä sslich einer Angelegenheit, die so wo hl dringlich als auch heikel war. » Ha ben Sie einen Termin?«, fragte der Wächter. »War leider keine Zeit dafür«, beda uerte Bäckström. »Bin auf gut Glück hierhergefahren.« Lutsch das, du kleiner Pultfink, dachte er. Gewo nnen, selbstverständlich. Wie immer, wenn er sich so richtig ins Zeug legte. Fünf Minuten später saß er auf dem Sofa des »Schwamms Go ttes«. Mittlerweile ein feiner und respektierter Pinkel, es galt also das Messer behutsam am Schleifstein zu wet zen. Wenigstens zu Beginn, dachte er. »Sie wo llten mich sprechen, Herr Kommissar?«, sagte das Parlamentsmitglied Thulin und fo rmte mit seinen kleinen kurzen Fing ern einen spitzen Kirchturm. »Ich will gleich zur Sache ko mmen« , Bäckströ m nickte. »Auch wenn meine Angelegenheit etwas delika t ist.« » Bitte sehr. Ich höre«, da s Parlamentsmitglied vollführte eine einladende Geste mit der rechten Ha nd. »Fotzenfreunde?«, warf Bäckström in den Raum und schob sein rundes Gesicht dem Gefragten entgegen, um besonders respekteinflößend zu wirken. »Ist es nicht höchste Zeit, dass Sie, wa s da s anbela ng t, Ihr Herz a usschütten? Lassen Sie uns da anfangen.« Und den Rest besprechen wir dann so nach und nach, dachte 493
Bäckströ m, der mehr Verhöre als alle anderen geführt hatte. »Wie bitte?«, das Parlamentsmitglied sa h Bäckströ m verdutzt an. »Ich spreche von den Fotzenfreunden. Eine kleine Studentenverbindung, bei der Sie in der unbeschwerten Studentenzeit Mitg lied waren. Dara n werden Sie sich doch noch erinnern kö nnen?« »Ich erinnere mich nicht einmal dara n, da ss wir beschlossen haben, die formal richtige Anrede weg zula ssen« , sagte das Parlamentsmitg lied und schielte aus irgendeinem Grund zur geschlossenen Tür seines Zimmers. O.k., da chte Bäckströ m. Wenn er es so ha ben will. »Schluss jetzt mit dem Quatsch, Herr Parlamentsabgeordneter Thulin«, sagte Bäckström und bohrte seinen vertra uten Polizistenblick in ihn. »Erzählen Sie mir jetzt alles darüber. Bitte sehr, Herr Thulin. Ich bin ganz Ohr. Oder soll ich Sie lieber ‘den Schwamm Gottes’ nennen und Sie mit ins Polizeigebäude zu m Beichtstuhl nehmen?« » Entschuldig en Sie mich einen Augenblick, Herr Kommissar«, sagte der Parlamentsabgeordnete und lächelte. »Ich fürchte, ich muss mir die Hände waschen. Ich bin so fort zurück.« »Kein Problem«, sa gte Bäckströ m. Bevor du dir in die Hosen machst, dachte er, und wenn er jemals ein Verhöropfer gesehen hatte, da s bald so gefügig wie ein Opferlamm sein würde, so war da s dieser Schwamm Go ttes. Verdammt, braucht der la nge, dachte Bäckströ m, als er zehn Minuten später auf die Uhr sa h. Ob der Arsch sich die Hose vollgekackt hat? Ich scha u' wo hl besser mal nach, dachte er. Erho b sich und drückte die Türklinke hinunter, um zu sehen, wohin Thulin verschwunden war.
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Verschlossen. Was zu m Teufel ist hier eigentlich lo s? , dachte Bäckström und probierte es sicherheitshalber noch einmal. Die Tür blieb zu. Was zum Teufel, ist hier eigentlich lo s? , dachte Bäckström eine weitere Viertelstunde später. Auf der anderen Türseite war es mucksmäuschenstill. Hier und da konnte er nur äußerst schwache Geräusche wahrnehmen, obwohl er da s Ohr gegen die Tür presste und, als er gekommen war, im Flur so viel Gerenne geherrscht hatte. Schleichende Schritte, etwa s Schweres wurde über den Boden gezo ge n. Hier ist jetzt richtig die Kacke am Dampfen, da chte Bäckström, denn plötzlich wa r es so still geworden, dass man die Stille richtiggehend hören konnte. Verdammte Scheiße aber auch, dachte Bä ckströ m. Ich hätte meinen kleinen sauren Siggi mitnehmen sollen, dachte er und tastete zur Sicherheit die Innenseite seines Sa kkos a b. Leer. Wer, verdammt no ch mal, schleppt sich auch mit Schulterhalfter und einem Haufen Eisenschrott ab, wenn man bloß mit einem Zwerg ringen will?, dachte er. Das wa r auch so ungefähr da s Letzte, was ihm durch den Kopf schoss, bevor er am nächsten Morgen aufwachte und so allmählich ka pierte, da ss er noch lebte. Trotz allem. Trotz den Fotzenfritzen, die offenbar Tentakel hatten, die sich bis in die höchste Polizeiführung erstreckten. Die anscheinend nur den Hörer abnehmen mussten, da mit der Scheißla ppe oben bei der Zentralen Krim seine Todespatrouille auf ihn hetzte. »Wie läuft's?«, sagte Jo ha nsso n, als Lewin sein Zimmer betrat. »Es plätschert so vor sich hin« , sagte Lewin und nickte frag end zu Johanssons Besuchersessel, bevor er sich setzte. »Lebt er noch?«, fragte Jo ha nsso n. 495
»Ich glaube scho n«, antwortete Ja n Lewin. »Ich bilde es mir zumindest ein«, fügte er mit einem vorsichtigen Räuspern hinzu. »Wir ha ben jedenfalls nichts, da s auf das Gegenteil hindeutet.« » Und sein Schwesterchen? Flitzt sie wegen der g a nzen Zin sen auf ihrem Konto andauernd ins Lokal und schlürft Champagner?« »Sie scheint ein sehr ruhiges Leben zu führen«, sagte Lewin und schüttelte den Kopf. »Von den Telefo nlisten ihres Festnetzanschlusses in der Wohnung zu schließen, scheint sie hauptsächlich mit einem alten Arbeitskollegen und ein paar Nachbarn aus ihrer Wohngegend Kontakt zu pflegen. Darüber hina us ist sie Schriftführerin im Mieterverein. Kaum persönliche Bekanntscha ften. Sie telefoniert höchstens zwei Mal am Tag. Ein Mobiltelefo n ha b ich nicht gefunden. Sie hat keinen Vertrag bei irgendeinem schwedischen Anbieter. Da für hat sie einen Computer und einen Internetvertrag mit Telia.« »Sie besitzt vermutlich so ein gewöhnliches Kartenha ndy , wie alle a nderen Verbrecher a uch. Keiner kann aus seiner Haut«, sagte Joha nsso n, als eine Polizeisirene in der Brusttasche seines Sakkos aufheulte. »Verzeihung«, sagte er und fischte sein ro tes Mo biltelefon raus. »Ja «, sa gte Jo ha nsson, wie er es immer tat, wenn er sich am Telefo n meldete. »Was sagst du da ?«, fuhr er fort. »Komm holterdiepolter her, damit wir die Aufstellung der Schützenkette besprechen können.« »Ja, also«, sagte Joha nsson und nickte. »Du musst mich jetzt entschuldigen, Jan. Ha b da ein bisschen wa s anderes auf die Tagesordnung bekommen, aber ich verspreche, mich bald zu melden.« Wa s ist hier eig entlich los?, dachte Lewin, als er aus Joha nssons Zimmer in den Flur trat und um ein Haar vom Leiter der Nationalen Einsatzkräfte und zweien seiner glatzköpfigen Mitarbeiter umgera nnt worden wäre, die sich in zügigem Ma rschtempo in die entgegengesetzte Richtung bewegten. 496
»Was ist hier los?«, fragte auch Jo ha nsso n, ohne auf seinen Besuchersessel zu nicken. Volle Kampfmontur und grimmige Mienen. Was, zum Teufel, ist hier los?, dachte er. »Wir scheinen unten im Parlamentsgebä ude eine Geiselnahme zu haben« , sagte der Einsa tzleiter. »In der Parteizentra le der Christdemo kraten. Ein Täter. Vermutlich bewaffnet und gefä hrlich.« » Wissen wir, um wen es sich handelt?«, frag te Jo hansson. »Die Typen vor Ort beha upten, dass es Bäckström sei«, sagte der Einsatzleiter. »Bäckström von der Abteilung für Diebesg ut. Dieser kleine, fette Sa ck. Er soll eine Person als Geisel genommen und sich in dessen Zimmer in ihrer Zentra le v erbarrika diert ha ben. Es ist dieser Thulin. Du weißt, wen ich meine, Chef? « »Wer Bäckström ist, weiß ich«, sagte Johansson. » Aber Thulin? Sprechen wir von diesem go ttesg nä digen Arsch, der regelmäßig im Fernsehen ist und immer über all die bö sen Menschen lamentiert, die ihm ständig über den Weg laufen? Den ehemaligen Staa tsa nwalt Alf Thulin?« »Antwo rt ja, Chef. Dieser Bäckström. Antwort ja, Chef. Dieser Thulin. Antwort ja, Chef.« »Fahr hin und richte dem kleinen Fettwanst aus, dass er sich wie ein normaler Mensch benehmen soll«, sagte Joha nsson und seufzt e. Eine Frau, die ein ruhiges Leben zu führen schien. Ein lebender Verwandter. Ein Bruder, der seinen eigenen Angaben gegenüber den schwedischen Behörden zufolge vor vierundzwanzig Jahren nach Spanien übergesiedelt war und heute in einem Appa rtementho tel in Sitges, südlich von Barcelo na wo hnte. Diese Adresse hatte er etwa zehn Jahre geha bt, a ber als er zuletzt vor sieben Jahren seinen schwedischen Pa ss erneuern ließ, wa r er o ffenbar in die 189, Calle Asuncion auf Palma de 497
Mallorca gezo gen. Zwei spanische Adressen in vierundzwan zig Jahren. Das war alles. Hoffentlich wohnt er da noch, dachte Lewin, der sein ganzes Erwachsenenleben in ein und derselben Wohnung auf Gärdet verbracht ha tte. Dana ch füllte er alle Fo rmulare aus, die notwendig waren, damit Europol die spanische Polizei bitten konnte, eine diskrete Adressenüberprüfung für ihn vorzu nehmen. Und zu sätzlich Kjell Göran Hedberg in allen anderen Registern zu suchen, über die sie verfügten; und selbstverstä ndlich hatte er auch ein Kreuz in das Kästchen gesetzt, das darauf verwies, dass es sich um eine Person mit »mutmaßlicher Verbindung zum Terrorismus« handelte. Da s so llte a uch den spa nischen Ko lleg en Beine machen, dachte Jan Lewin, obwohl er no rmalerweise nicht im Geringsten zu Vorurteilen neigte. Schön, dass man das nicht mehr in einen Briefumschlag stecken und eine Briefmarke daraufkleben muss, dachte er, als er seinen Antrag an den Kollegen der Zentralen Kriminalpolizei mailte, der sich um da s Praktische kümmerte und aus Sicherheitsgründen drei Türen weiter auf demselben Gang saß. »Hast du einen Augenblick Zeit, Chef?«, fragte Johanssons Sekretärin, während sie zaghaft an seine offene Tür klopfte. »Setz dich, zum Teufel«, zischte Joha nsson und zeigte mit einer Ha ndbeweg ung auf den in der einen Ecke des Zimmers stehenden Fernseher. Einsa tzkräfte, Parlamentsgebäude, wa s ist hier bloß los?, dachte sie. »Was ist denn hier los?«, fragte sie. » Bäckström«, sag te Jo ha nsso n. »Diese kleine Schweineschwarte ist offenbar ko mplett ausgetickt. Hat sich in der Parteizentrale der Christdemo kraten verschanzt und den Süßholzraspler Alf Thulin in Person als Geisel genommen. Ich ha b die Jung s von den Einsatzkräften hingeschickt, um dem Arsch Vernunft einzubläuen.« 498
Die Einsatzkräfte hatten geha ndelt, wie sie es gelernt hatten, wenn sie jemandem wie Bäckströ m Vernunft einbläuen sollten. Jemandem, der verdächtig t wurde, sowo hl bewaffnet als auch gefä hrlich zu sein. Diesmal handelte es sich um einen mit Sicherheit höchst ungewöhnlichen Polizisten, der leider Zugang zur selben Dienstwa ffe wie alle anderen Kollegen besaß. Derselbe Bäckström, der dem Einsatz beda uerlicherweise und ganz buchstäblich im Wege stand. Zuerst war er unter der Tür begraben worden, als die Kollegen sie einschlugen. Da nn war die Schockgranate, die sie gleichzeitig reing eworfen hatten, nur einen halben Meter neben seinem Kopf ex plodiert. Dana ch ha tten sich vier von ihnen über ihn geworfen und ihm Hand- und Fußfesseln verpasst. Alles im Laufe von weniger als zehn Sekunden. Der Einsatzleiter ha tte bestimmt höchstpersönlich die Zeit gestoppt. Als Bäckström auf der Bahre rausgetragen und in den Krankenwagen gehoben wurde, war er ohnmächtig und mit den erforderlichen Ha ndschellen versehen. Bereit zur Weiterbeförderung in die Psychiatrische Notaufnahme des Huddinge Kranke nhauses und aus Sicherheitsg ründen v o n einer Eskorte derselben Einsa tzkräfte begleitet, die ihn beinahe ums Leben gebracht hä tten. In den nächsten vierundzwa nzig Stunden sollte ein Dutzend seiner Chefs bei der Stockholmer Polizei einen Großteil ihrer Zeit darauf verwenden, zu diskutieren, wie gefährlich er wirklich war. Weil die Meinungen diesbezüglich auseinanderging en, rief ma n zuletzt seinen ehemaligen Chef, Lars Martin Johansson, an und bat um seine Einschätzung. » Ein kleiner, fetter Arsch, der die ganze Zeit über eine Menge dummes Zeug faselt«, brachte es Joha nsson auf den Punkt. »Nimmt der Erkazeh a n, da ss Ko mmissar Bäckströ m eine Gefa hr für die Sicherheit und das Leben anderer 499
darstellt?«, frag te der Polizeipsycholog e, mit dem Jo hansson sprach. »Bäckström?«, schnaubte Jo ha nsso n. »Willst du mich a uf den Arm nehmen?« Do ktor Frido lin, dachte er. Was ist denn das für ein Scheißna me? Und weiter war ma n nicht gekommen. Am Freitagvo rmittag rief Jo hansso n Anna Ho lt zu sich und teilte ihr mit, dass sie und Linda Mattei am Montagmorgen nach Mallorca fliegen so llten. Er hä tte bereits einen diskreten Kontakt zu den Kollegen vor Ort geknüpft. Alle Mittel so llten ihnen zur Verfügung stehen. Jeder Stein sollte umgedreht werden. Johansson habe soga r da für gesorg t, dass die spa nische Polizei wä hrend ihres Aufentha ltes für ihre Sicherheit gara ntierte. Nicht nur die üblichen Gefällig keiten unter Kollegen. Ihr Kontaktmann sei ein spanischer Polizeiintendent seines Alters, der der stellvertretende Leiter der Kriminalpolizei in Palma und ein ganz fantastischer Kerl sei. Zumindest seinem spanischen Freund - Spaniens Antwort auf Johansson - zu folge. Von den spanischen Bullen werde der Ma nn El Pa store, der Pastor, genannt. Nicht, weil er besonders g ottesfürchtig sei, sondern vor allem wegen seines Aussehens. Ein großer Mann mit einem düsteren und klerikalen Äußeren, der selbst den hartgesottensten Verbrecher dazu bringen könne, auszu packen und sich an seinen knochigen Schultern auszuheulen. »Mallorca«, sagte Holt. Eine sieben Jahre alte Adresse, die Hedberg selbst angegeben hat, dachte sie. Derselbe Hedberg, der vermutlich sehr gute Gründe ha tte, sich vor der Polizei zu verstecken. »Irg endwo müssen wir ja anfa ngen«, sagte Joha nsso n und zuckte mit den Schultern. »Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass das sein Aufentha ltsort ist.« » Wie ka nnst du dir da so sicher sein?«, frag te Holt. »Nur so ein Gefühl«, sagte Johansson. »Ein Gefühl?« 500
»Ja«, sagte Joha nsson und grinste. »Du weißt scho n, so ein Gefühl, das einen ma nchmal überkommt und dafür v era ntwo rtlich ist, da ss einige von uns um Ecken scha uen können.« » Da s ist der Ort, wo dieser Arsch herumlungert«, fuhr er fort. »Ich spüre es bis in die Knochen. Jetzt gilt es also, sich in die Büsche zu schlagen und ihn nicht zu verjagen.« »Der Staatsanwalt«, wa rf Holt ein. » Ich gehe davon aus, da ss du das mit dem Staatsanwa lt abgesprochen ha st?« »Selbstverständlich«, sagte Jo ha nsso n. » Du wirst innerhalb einer Stunde alle Pa piere bekommen. Fertig und unterschrieben. Sprich mit der Za hlstelle, falls du Geld brauchst. Ich bilde mir ein, da ss die Mädels freitags früher Feierabend machen. So llten sie scho n weg sein, ka nn ich da s für dich regeln«, fügte er generö s hinzu und tätschelte die Tasche, in der er seine Brieftasche a ufbewa hrte. »Du ha st also mit dem Staatsanwalt gesprochen«, bohrte Holt nach. »Mit der Oberstaatsanwältin der Palmeermittlung? « »Bist du verrückt, Anna?«, stöhnte Johansson. »Ich hab mit unserem zust ändigen Staa tsanwa lt gesprochen. Dem, vo n dem ich immer Gebra uch mache. Er ist ga nz a uf meiner Linie.« »Welche ist das denn?« »Dass es triftige Gründe für die Annahme gibt, dass Hedberg Kalevi Orja la ermo rdet hat. Dieser so gena nnte Unfall mit Fahrerflucht, falls du dich daran erinnerst. In Wirklichkeit war es vermutlich so, da ss Hedberg einfach einen Zeugen be seitigt hat. Einen weiteren Zeugen. Gena u wie damals, als er die Post in der Dalaga ta überfallen ha t.« »Willst du mich auf den Arm nehmen?«, sagte Holt. »Ein Fall, der im Mai 1986 zu d en Akten gelegt wo rden ist.« »Es kann doch wohl nicht sc haden, ein paar Unterlagen dabeizuhaben. Was da s Alter betrifft, so ist er auf 501
alle Fälle frischer als Palme. Außerdem ha ben wir da s ta tsächlich vo n Neuem a ufgerollt. Die Kollegen der Gruppe für cold cases haben es in der Tat scho n gestern von Stockholm übernommen. Höchste Zeit, dass sie etwa s ha ben, a n dem sie sich die Zä hne wetzen kö nnen.« »Aber, Lars...« »Hör jetzt zu, Anna«, fiel ihr Joha nsson ins Wort. »Ich weiß genau, was du sage n willst. Scheiß a uf Jorma Kalevi. Ich will Hedberg nach Hause holen. Ich will ihn in Ruhe und Frieden zu Hause haben, und es geht mir am Arsch vorbei, wie das rein formell lä uft. Versuch ausnahmsweise einmal ein bi sschen praktisch zu sein. Sind wir uns einig?« »Nein«, widersprach Anna Holt. »Aber ich verstehe, wie du das meinst.« Und außerdem bestimmst du, dachte sie. Am selben Freitagvormittag erwachte Bäckström in einem Bett auf der Psychiatrischen Abteilung im Hudding e Krankenhaus. Ein Zimmerg enosse, der zurzeit nur unter leichteren Zwangsvorstellungen litt und sogar die Erlaubnis erteilt bekommen hatte, den Krankenhauskiosk zu besuchen, ha tte ihm heimlich die Morgenzeitungen besorgt und sich in Anbetracht der Tatsache, dass Bäckström sowo hl auf der Titelseite der Metro als auch auf der Svenskan prangte, ein Autogramm erbeten. Zwar war sein Na me nicht genannt, aber immerhin. Dagens Nyheter war dagegen zurückha ltender gewesen und hatte sogar alternative Erklärungen nicht ausgeschlossen. Dort wurde von einem krankg eschriebenen Polizisten berichtet, der einen » beka nnten Pa rla mentsabgeordneten kontaktiert hatte, um sich wegen der Art, wie die Zentra le Kriminalpo lizei in der Palmeermittlung verfuhr, zu beschweren«, aber wa s darüber hinaus geschehen war, sei im hö chsten Ma ße unkla r. Den sicheren Quellen derselben Zeitung zufolge habe es sich jedo ch nie um eine »Geiselnahme« gehandelt. Das Parlamentsmitglied, um das es ging , ha be keine An zeige bei der Polizei erstattet und sei auch nicht für einen Kom502
mentar zu erreichen gewesen. Der Polizeieinsa tz wiederum sei sowohl bei der Abteilung für interne Ermittlung en der Stockholmer Po lizei als auch beim Justizombudsmann und beim Generalstaatsanwalt gemeldet worden. Schon am Nachmittag wurde Bäckström auf die Neurologische Abteilung verlegt, wo man sein rundes Haupt und seinen mürbe geklopften Körper in einen röhrenartigen Rö ntgenapparat gesteckt ha tte. Da nn hatte er gekochten Dorsch mit Eiersoße, Fliederbeersaft und Rhabarberpie beko mmen. Bevor er einschlief, hatte er fast ein halbes Dutzend verschiedenfarbige Ta bletten in sich reinstopfen müssen, und als er am nächsten Morgen a ufwa chte, sa ß einer der Vertrauensleute der Stockholmer Polizei neben seinem Bett und betrachtete ihn mit sorgenvoller Miene. »Wie geht's dir, Bäckströ m?«, frag te der Vertrauensmann und tätschelte ihm den Arm. » Wa s ist hier los?«, röchelte Bäckström. »Ist Krieg?« »Es ist jetzt vorbei, Bäckström« , sagte der Beauftragte und tätschelte ihn sicherheitshalber noch ein wenig mehr. »Bewahre nur die Ruhe und erho l' dich, dann wird sich alles zum Besten fügen.« »Das sagst du so leicht«, sagte Bäckströ m. Wa s redet er da, zum Teufel?, dachte er. »Dein persönlicher Betreuer wird ba ld vorbeischauen«, erzäh lte der Vertra uensma nn. » Die Polizeichefin hat eigenhändig Doktor Fridolin für diesen Auftrag abgestellt. Du weißt schon, den Psychologen, den du bei der Gleichstellungskonferenz getroffen ha st, wo du deinen Stroke erlitten ha st. Fridolf Fridolin, erinnerst du dich?« »Fridolein«, rief Bäckström. »Was zum Teufel ist falsch an einem simplen Genickschuss?« »Es wird sich alles fügen, Bäckströ m«, versicherte ihm der Berater. »Bewahre nur die Ruhe und erhol' dich und...« 503
» Ich will mit der Gewerkscha ft reden« , fiel Bäckström ihm ins Wort. »Außerdem fordere ich Personenschutz, damit diese verfluchten Einsatzterroristen nicht einen erneuten Versuch unternehmen kö nnen, mich umzubringen. Alles, nur keine Kollegen. Hol ein paar verlässliche Halba ffen vo n der Securita s her.« Am Montag wurde er entlassen und durfte nach Hause. Fridolin, der ihm das ganze Wochenende über treu zur Seite gestanden hatte, hatte ihn selbst gefahren und war mit in seinen gemütlichen Ba u geko mmen. »Ich werde dafür so rgen, dass irgendjemand von der Häuslichen Pflege zu dir nach Hause kommt, um für dich sauberzumachen, Ev e«, sag te Fridolin mit einem schwachen Lächeln, als er über die Türschwelle g etreten war und mit dem Bäckström'schen Hausfrieden konfrontiert worden war. »Setz dich, Fridolein« , sagte Bäckström und zeigte auf sein So fa . »Dann werden wir mal ernsthaft miteinander reden.« Dann gab Bäckström ihm seine Aktennotiz über die Verschwörung, die hinter der Ermordung des Ministerpräsidenten Olof Palme steckte. Komplett mit Tatanalyse, vier Täterprofilen und Tatmotiv . Darüber hinaus eine Kopie der Anzeige gegen Waltin für dessen Leistungen mit dem Kerzenständer in der Walpurgisnacht des Jahres 1968. »Aber das ist ja entsetzlich, Eve« , sagte ein erschütterter Fridolin, als er eine ha lbe Stunde spä ter fertig gelesen hatte. »Das ist ja noch schlimmer als in diesem Film von Oliver Stone über die Ermordung Kennedys. Wir müssen umgehend da für sorg en, da ss du Perso nenschutz erhältst, da mit sie nicht...« »Beruhige dich, Fridolein«, sagte Bäckström und hob abwehrend die Hand. »Wir wo llen uns jetzt nicht unnötig aufregen und einfach davonstürzen. Hol mir ein Pils aus dem Kühlschrank, da nn werde ich dir erzählen, wie 504
wir die Sache angehen. Nimm dir auch eins, wenn du willst«, fügte er hinzu, weil er spürte, dass er langsam wieder sein altes, freig iebiges Ich wiedererla ng te. Mittwoch, der 10. Oktober. Vor Cap de Formentor im Canal de Menorca. »Oh, Seligkeit, im Morgenlicht auf See jung zu erwachen«, denkt der junge Graf Malte Moritz von Putbus auf seiner Reise mit der Dreimastbark Speranza nach Westindien. Wir reisen in einem Roman von Sven Delblanc, und die Reise findet im selben Jahr statt, in dem Gustav III. auf der Opernmaskerade in Stockholm ermordet wurde. Die Hauptfigur des Romans ist Malte Moritz, der von seinen Freunden Mignon genannt wird. Jung, idealistisch und freiheitsliebend, und noch hat er nicht entdeckt, dass die Speranza Sklaven transportiert. Noch weniger hat er einen Gedanken daran verschwendet, dass ein grimmiges Schicksal auch den freiesten Mann in Eisen legen oder ihn völlig vernichten kann. Was der einsame Mann an Bord der Esperanza mehr als zweihundert Jahre später denkt und fühlt, wissen wir nicht. Es gibt wenig, was dafür spricht, dass er Malte Moritz als Mensch besonders ähnelt, aber von Ferne und im Morgenlicht auf dem Meer betrachtet, gibt es dennoch viel - jedenfalls im Hier und Jetzt -, das darauf hindeutet, dass er auf dieselbe Weise denkt und fühlt. Die ruhige Atmung des Meeres, das Rauschen der Wellen gegen den Steven, der Sonnendunst, der ihn umfängt, die salzige Brise, die Kopf und Stirn kühlt. Dann das Ruder, das sein Wille lenkt und das in seinen Händen ruht. Dass er, wann immer er möchte, den Kurs wechseln oder das Ruder ganz herumwerfen kann. Die Geborgenheit, die Freiheit, »Oh, Seligkeit, im Morgenlicht...«
Zehn Tage vorher, Montag, der 1. Oktober. Hauptquartier der Zentralen Kriminalpolizei auf Kungsholmen in Stockholm. 505
Am Montag, dem 1. Okto ber, fuhren Anna Holt und Lisa Ma ttei na ch Mallorca, um Kjell Göran Hedberg aufzuspüren, und Lars Martin Joha nsson zeigte sich von einer neuen Seite. Tat das darüber hinaus auf eine wortreiche und umständliche Weise. Zu der Zeit, in der Lars Martin Johansson selbst noch Kriminalpolizist auf Streife gewesen sei, habe er auch - buchstäblich - unzählige Mörder und schwere Gewa ltverbrecher festgenommen. Den Großteil, indem er ihnen einen Brief geschickt oder sie angerufen und zu einem kleinen Gesprä ch ins Polizeig ebä ude einbestellt hä tte. Vereinzelt hä tten er und sein Ko llege Jarnebring Hausbesuche gemacht, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten. Normalerweise seien er und sein bester Freund jedoch alleine klargekommen, und während ihrer ganzen aktiven Zeit hä tte keiner von ihnen auch nur nach der Dienstwaffe ta sten müssen. Einmal, »ich sage einmal«, stellte Jo ha nsso n klar, sei da ein »verrückter Jugo slawe« gewesen, der sich »ein bisschen dumm angestellt« und angefa ng en habe, mit Jarnebring zu kämpfen, der das Pro blem seinerseits durch den alten, klassischen polizeilichen Würgegriff, »ihr wisst scho n, diesen, den man vor dreißig Jahren verboten ha t« , gelöst hätte, während Joha ns son ihm Handschellen angelegt hätte. »Er war vor allem tra urig , die arme Sa u« , sa gte Johansson. »Wer wäre das auch nicht, wenn man seinen besten Freund totg eschlagen hätte, weil man etwa s in den falschen Hals bekommen hat?« So sei es immer schon gewesen. Und so sei es, im Wesentlichen, auch heute noch, und so würde es auch in Zukunft sein, wenn Joha nsson zu bestimmen hä tte. Jede gezo gene Dienstwa ffe, jede aufheulende Sirene, alle harten Worte, ja sogar jede ha stig e und undurchdachte Bewegung seien nichts anderes als ein Ausdruck po lizeilicher Unzulänglichkeiten, die glücklicherweise fast nie der Realität entsprächen. Bis auf eine Ausnahme viel506
leicht. Einen ehemaligen Kollegen mit Namen Kjell Göran Hedberg. »Also passt auf euch auf, Mä dels, und ruft an, fa lls irgendwas passieren sollte« , sag te Jo ha nsson. » Und vo r allem«, sag te er und hob zusätzlich einen mahnenden Finger, »unternehmt keine Abenteuer. Hedberg ist ein bösartiger Teufel. Wenn er auftaucht und zu la mentieren beginnt, erschießt ihn.« »Willst du damit sagen, dass wir unsere Dienstwa ffen mitnehmen so llen? «, fragte Holt. »Darum kö nnt ihr euch immer noch vor Ort kümmern«, sagte Johansson und zuckte die Schultern. »Warum den Scheiß mit ins Flug zeug schleppen? Besonders in diesen Zeiten, in denen man noch nicht einmal eine Flasche stinknormales Rasierwa sser oder eine Dose Leberpastete mitnehmen darf. Es ist also eindeutig besser, ihr regelt das, wenn ihr ankommt. Ich habe die Kollegen diesbezüglich übrigens scho n vo rgewa rnt.« Dann ha tte er sie herzlich umarmt, ha tte die Arme um ihre Schultern gelegt und zu gedrückt. Den rechten Arm um Mattei und den li nken um Holt, und das ganz ohne Hinterg edanken. Lewin sollte in Stockholm bleiben, um die Unterlagen in Ordnung zu bringen. Womi t Joha nsson sich die Zeit vertreiben würde, war ungewiss. Vermutlich damit, sich in seine eigenen Angelegenheiten zu vertiefen, mit anderen Wo rten, es blieb also a lles beim Alten. » Er ist eigentlich ziemlich g oldig« , schwärmte Ma ttei, nachdem ihr Flug zeug von Arlanda gestartet wa r. »Jo hansson, meine ich.« »Naja«, sagte Holt. »Nicht nur.« »Und er riecht auch gut« , sa gte Mattei, die nicht zuzuhören schien. »Er riecht irgendwie na ch Geborgenheit. Saubere Kleidung, Rasierwasser, er riecht wirklich wie ein richtiger Ma nn der alten Schule.« »Lisa«, Holt sah sie ermahnend an. »Ja ?« 507
»Lass jetzt gut sein«, sagte Holt. »O.k.«, sagte Mattei und holte ihren Laptop hervor. Wenn sie es lieber so haben will, bitte schön, dachte sie. Ihr spanischer Schutzengel, El Pastore, war anscheinend ein Mann, der seinen Auftrag außerordentlich ernst nahm. Als ihr Flug zeug gelandet und bis zum Gate gerollt war, hatte er bereits direkt vor der Flug zeugtür gestanden, und als er Holt und Mattei erblickt hatte, hatte er ihnen zu genickt, sie zur Seite geno mmen und zu dem kleinen elektrobetriebenen Fahrzeug geführt, da s dort auf sie wartete. Ein großer, hagerer Mann in den Sechzigern mit rabenschwarzem Haar und freundlichen, wachsamen Augen, der nicht die gering ste Ähnlichkeit mit der Fernandel-Figur hatte, die in Holts Phantasien umhergespukt war. In einigem Abstand hinter ihm standen seine beiden ha lb so alten Mitarbeiter, die offenbar fürs Praktische zuständig waren. Sie waren zehn Zentimeter kleiner, bedeutend kompakter, hielten gleichgültig dreinblickende Schlitza ugen und hatten die Hände vor ihrem jea nsbekleideten Schritt verschrä nkt. Nicht wie Hans und Fritz von den KatzenjammerKids, sondern eher wie Ha ns und Hans, und das Einzige, wa s fehlte, wa r das Kainsmal auf ihrer Stirn, das ein für alle Mal Aufschluss darüber gab, worin ihre Aufgabe bestand, damit man sie nicht mit zwei gewöhnlichen Berufskillern a us der Mittelmeerregio n verwechselte. Von dem spanischen Phlegma hatten sie ebenfalls keine Spur gesehen. Eine Viertelstunde später saßen sie bereits in einem zivilen Polizeiwag en a uf dem Weg vo m Flug platz zu ihrem Hotel im Zentrum von Palma. »Ich gehe davon aus, dass Sie sich erst in Ihrem Hotel häuslich einrichten wollen«, sagte El Pastore und lächelte verbindlich. »Danach wollte ich einen Besuch in meinem Büro vorschlagen, wo wir Ihre Wünsche in dieser Ang eleg enheit diskutieren können. Da na ch ein einfaches Abendessen 508
in einem Restaurant in der Nä he, dem ich selbst oft einen Besuch abstatte und wo ganz ausgezeichnete Meeresfrüchte serviert werden. Selbstverstä ndlich vorausgesetzt, die Damen haben keine anderen Wünsche?« Holt ha tte augenblicklich die Gegebenheiten akzeptiert. Hedberg finden, dachte sie. Und unterweg s die Sonnenbräune auffrische n. So soll es sein. Mit der Sonnenbräune und den Scha lentieren wa r es besser gelaufen als mit dem Auftrag. Begleitet von Hans und Hans hatten sie unzähligen Adressen in Palma und den umliegenden Städten und Dörfern einen Besuch abgesta ttet, wo sie möglicherweise Hedberg finden konnten oder vielleicht jemanden, der ihnen Auskunft darüber geben konnte, wo er sich befa nd. Die erste Adresse, die sie aufsuchten, war diejenig e, die Hedberg gegenüber den schwedischen Behö rden angegeben hatte, als er da s letzte Mal ein Lebenszeichen von sich gegeben ha tte. Vo r gut sieben Jahren, als er einen neuen Pa ss beantragt hatte. Der von ihm angegebene Wohnsitz stellte sich al s eine schlichte Pension in der Calle Asuncion in der Altstadt von Palma heraus. Der Mann an der Rezeption hatte nur den Kopf geschüttelt, als ihre spanischen Gehilfen ihn nach Hedberg gefragt ha tten. Kneipen, Ho tels, Bordelle, Vermietung sfirmen, Ma kler und Agenturen für alle vorstellbaren Dienstleistungen. Die üblichen Spitzel, Informanten, Kleinverbrecher und der eine oder andere no rmale Mensch, der Hedberg über den Weg gelaufen sein kö nnte. Alle ha tten bloß den Kopf geschüttelt. Erst nach fünf Ta gen, am Freitagnachmittag, dem 5. Okto ber, erhielten sie endlich einen Hinweis, der mit Fug und Recht als solcher bezeichnet werden konnte. Kaum war Holt von Arlanda gestartet, beka m Lewin plötzlich jede Menge Hilfe von unerwarteter Seite. Be509
reits als er am Montagmorg en eintra f, ha tte er eine Ko pie seiner eigenen, fünfzehn Punkte umfa ssenden Liste gefunden. Sie ha tte zuoberst auf einem ansehnlichen Berg von Papieren geleg en. Mit einem kurzen Gruß von Kollege Rogersson: »Vom Chef. Roger.« Dem Datum entnahm er, da ss das Schriftstück scho n gut einen Tag auf seinem Schreibtisch gelegen hatte, während er selbst in seiner gewohnten Einsamkeit ein weiteres ereignisloses Wochenende überlebt ha tte. Ich hä tte genauso gut im Büro sitzen können, dachte er. Eine Stunde später klopfte Kollege Falk an seine Tür und überreichte ihm eine Liste mit Transaktionen, die im Laufe des letzten Jahres mit Birgitta Hedberg s Kreditkarte getätigt wo rden waren. Eine no rmale Visa karte, die sie noch seltener als ihren Festnetzanschluss nutzte. Eine Zeile war ro t unterstrichen. Anfa ng März, vor sieben Mona ten - und einen Monat, nachdem sie ihren Pa ss erneuert hatte - hatte sie eine Cha rterreise nach Spanien gebucht und diese mit der Karte beza hlt. Eine Woche Ho tel mit Halbpension. Aber sie war nicht nach Mallorca geflogen, sondern an die Costa del Sol. Entweder Hedberg ist umgezogen o der er ha t sich einfach dafür entschieden, sie dort zu treffen, dachte Lewin. Die Vorstellung, da ss sie a us eigenem Antrieb do rthin gefahren sein könnte, ka m ihm erst ga r nicht. Birgitta Hedberg ist nicht der Typ, die eine Woche ihres Lebens damit verschwendet, schwimmen zu gehen, sich zu sonnen, oder Zeit mit Menschen verbringt, die sie nicht kennt, dachte Jan Lewin. Da s ha tte er sofort gewusst, als er den Ausdruck ihrer Augen auf dem Passfoto gesehen hatte. »Danke«, sagte Ja n Lewin. »Keine Ursache«, antwortete Falk. »Gleich kommt noch mehr.« »Bevor du gehst«, sagte Lewin. »Nur, damit wir uns nicht unnötig verfehlen.« »Ich höre«, sagte Fa lk, ohne sich zu setzen. 510
»Ich kümmere mich darum, dass unsere Kollegen unten die Information über Birgitta Hedberg s Reise erhalten«, sagte Lewin. »Und bitte sie zu überprüfen, ob Hedberg möglicherweise zur selben Zeit vo n Palma aus geflogen ist. Was könnte ich auch sonst tun, da ihr doch schon an allem dran seid oder es scho n für mich erledigt ha bt«, sagte Lewin und nickte freundlich, um seinen Worten, die anders vielleicht als Kritik hä tten aufgefasst werden kö nnen, die Schärfe zu nehmen. »Das mit Hedberg kannst du, glaub ich, vergessen«, sagte Falk. »Das haben wir nä mlich scho n mit Hilfe der Kollegen von Euro po l überprüft. Kein Hedberg an Bord der betreffenden Flug zeuge von und na ch Palma, was einen Scheiß aussagt, weil wir von spanischen Inla ndsflügen reden und wie die ihren Betrieb abwickeln. Und was sein Schwesterchen in den Ferien gemacht ha t, darauf ka nnst du, glaub ich, auch scheißen, denn das zu checken dauert viel zu lange. Denk stattdessen lieber über ihr Ha ndy nach«, sagte Falk. »Vielleicht fällt dir ja irgendetwas ein, wie wir an die Nummer ko mmen könnten.« »Wenn sie denn überha upt eines ha t« , sag te Lewin und klang vielmehr so, als ob er laut dächte. Obwo hl das eigentlich auf der Hand liegt, dachte er. Das war ihm auch aufg rund ihres Ausdrucks in den Augen klar geworden. » Sie ha t eins«, sag te Falk. »Ich ha b's selbst g esehen. Erst heute Morgen.« »Erzähl«, sagte Lewin. Hier geht's ja rund, da chte er. »Du ha st da s sicher in deinen Mails« , sagte Falk und scha ute auf die Uhr. »Kollege Wiklander wollte eine Aktennotiz an dich schicken.« Hier geht's wirklich rund, dachte Lewin und gab sich sicherheitshalber damit zufrieden, einfach nur zu nicken. Kollege Wiklander war der höchste Chef für die hausinterne Informationsabteilung, die so genannte KUT-Abteilung der Zentralen Kriminalpolizei. Seit 511
mehr als zwanzig Jahren war er Joha nsso ns Vertra uter, vor allem aber war er bekannt für seine Verschwiegenheit. Wiklander sammelte Informatio nen über Dinge, die von polizeilichem Interesse wa ren. Egal, o b v o n ho hem o der gering em Interesse, aber je hö her, desto besser. Vo n allen, die etwas Brauchbares anzubieten hatten, und wenn jemand etwas zurückha ben wollte, musste man belegen, da ss man sehr gute Gründe dafür hatte. Sonst waren es Wiklander und sein Analytikerstab, die entschieden, in welchem Umfa ng die Informa tio nen, die sie verwalteten, den Kollegen zugutekommen sollten, ga nz g leich, o b diese gebeten ha tten, ihren Teil davon abzubekommen oder nicht. Wiklander war ein Mann ganz nach Johansso ns Geschmack. Eine Perso n, mit der er völlig offen über die heikelsten Dinge sprechen ko nnte, weil er die ga nze Zeit über wusste, da ss das Gesprä ch nie stattgefunden ha tte, falls eine falsche Person a uf die Idee kommen sollte, da nach zu fragen. Lewin ha tte offenbar das Nadelöhr passiert. Zumindest, wa s das Aufspüren der Mo biltelefo nnummer vo n Kjell Göran Hedbergs Schwester anbela ngte. Immerhin besser als nichts, dachte Lewin und druckte Wiklanders Mail aus, weil er es vorzo g , etwa s zu lesen, da s er in der Hand ha lten und auf dem er Notizen machen konnte. Die Ermittlungen des Außendienstes gegen Birgitta Hedberg wa ren bereits a m Freitag der verga ng enen Woche von einer Gruppe der Streife der Zentralen Krim unter dem Kommando von Rogersson eingeleitet worden, obwohl er eigentlich bei der Mo rdkommissio n arbeitete. Scho n am Samstag ha tte er einen passenden »Nistkasten« gefunden. Ein kleines Apartment, da s gegenüber von Birgitta Hedbergs Wohnung auf der anderen Straßenseite lag und uneingeschränkten Einblick in ihr Schlafzimmer, ihr Esszimmer und ihre Küche bot. Ein idealer Nistkasten, der von einer angehenden Polizistin, die ihr letztes Semester an der Polizeihochschule absolvierte, zur Untermiete bewo hnt wurde. Die Birgitta Hedberg rein gar nicht ka nnte und die selbstver512
ständlich keine Ahnung ha tte, warum man sich für ihre Nachbarin interessierte. Sie war Feuer und Flamme vor Begeisterung, ihren künftigen Kollegen helfen zu können. Die auch noch von der Zentralen Kriminalpolizei waren. Bereits am Samstagnachmittag hatte sie die üblichen Schweigepflichtserklärungen unterschrieben, wa r bis a uf weiteres in ein Ho tel in der Nä he einquartiert worden und hatte obendrein no ch einen großen Schein wegen ihrer Umstände beko mmen. Dann ha tte Ro gersson sie scharf angesehen und ihr eingeschärft, dass sie nicht nur die Klappe ha lten, sondern sich auch fernhalten sollte. Nicht nur von ihrer Wohnung, sondern von der ganzen Gegend, in der sie sich befa nd. Während Rogersso n sich um die a ng ehende Polizistin und die juristischen und sozialen Details kümmerte, hatten seine Ermittler ihr Apartment bezogen und ihre Ausrüstung vor Ort in Stellung gebracht. »Die Überwachung der Lokalität entsprechend obiger Beschreibung wurde am Sa mstag, den 29. September, 14.00 Uhr eing eleitet«, hielt Wiklander als ersten Punkt in seiner Aktennotiz zur Ermittlung fest, und bereits a m Sa mstaga bend kam Beweg ung in die Sache. Nachdem Birgitta Hedberg abends um halb sieben ein einfaches Abendessen zu sich genommen hatte, war sie in ihr Wo hnzimmer gegangen, um Fernsehen zu gucken. Das wusste man nicht, weil man sie sehen konnte, denn ihr Wohnzimmer lag zur »falschen« Stra ßenseite, sondern weil ma n mittels des Mikro fo ns, da s ma n quer über die Straße auf ihr Küchenfenster gerichtet ha tte, ihren Fernseher hö ren konnte. Wo auch immer man das Instrument herhatte, denn schließlich rang das Parlament nachweisbar mit der Frage, ob man den Einsatz von so gena nnten großen Lauschangriffen dulden durfte. 513
Ungeachtet dessen hatte sie sich zuerst die Nachrichten auf TV4 angesehen. Danach war sie in die Küche zurückgekehrt. Ha tte Kaffee gekocht, aus der Vorra tskammer eine Tüte mit Keksen geholt und hatte nach zehn Minuten - nachdem der Ka ffee fertig gewesen war - Kaffee und Kekse mitgenommen und war in Richtung Wohnzimmer verschwunden. Danach ha tte sie sich über eine Viertelstunde durch verschiedene Kanäle geza ppt, bev or sie schließlich auf TV2 einen schwedischen Spielfilm ansah, der um acht Uhr begann. Als dieser zu Ende gewese n war, hatte sie umgeschaltet und sich die Spä tnachrichten auf TV4 angesehen. Dann hatte sie den Fernseher mitten im Abspann der Nachrichten ausgeschaltet. Exakt dreizehn Minuten nach zehn war sie erneut in ihrer Küche zu sehen gewesen. J etzt in einem Morg enmantel a us weißem Fro ttee, mit offenen Haaren, abgeschminkt, mit gebürsteten Zä hnen und fertig für die Nacht. Das hochsensible Mikro fo n ha tte so gar das Geräusch des Zä hneputzens und eines Ba dezimmerschranks aufgefangen, der geschlossen, geöffnet und wieder geschlossen worden wa r. Auch das Geräusch des Wassers, da s ins Waschbecken gelaufen war, und das der Toilettenspülung , als sie diese drei Minuten später betätigte. Was genau sie auf der Toilette gemacht hatte, war hing egen ungewiss, weil eventuelle na türliche menschliche Geräusche, der Gebrauch von Toilettenpa pier und Ähnliches, im Geräusch des Wa sserha hns unterg egangen waren, der immer no ch lief. Schließlich war auch der verstummt, und knapp eine Minute später, folglich siebenunddreißig Minuten nach zehn, war Birgitta Hedberg zurück in die Küche geko mmen. Mit dem Ka ffeebecher in der rechten Hand und der Kekstüte in der linken. Nachdem sie die Kekstüte in die Vorratskammer zurückgestellt ha tte, hatte sie unter fließendem Wa sser den Kaffeebecher ausgespült, ihn in die Geschirrspülmaschine gestellt, sich an den Küchentisch gesetzt und angefangen, das Kreuzworträtsel in der aktuellen Svenska Dagbladet zu lösen. Nachdem sie eine gute halbe Stun514
de dagesessen und geschrieben hatte, ha tte sie den Stift zur Seite gelegt, mit mürrischer Miene geseufzt, die Zeitung zusammengefaltet, sich erhoben und war in Richtung Diele verschwunden. »Unglaublich spannend«, ko mmentierte Kriminalinspekto r Joakim Eriksson von der Streife der Zentralen Krim, wie er da hinter der Kamera im Schutz der Dunkelheit in ihrem kleinen Nistkasten stand. »Besser wird's kaum werden«, stimmte seine Ko llegin, Kriminalinspektorin Linda Ma rtinez, ihm zu. In ebendiesem Moment kam Birgitta Hedberg mit einem ro ten Mobiltelefon in der rechten Hand zurück in die Küche. »Treffer«, stellte Eriksson fest, während seine mit einem Teleobjektiv versehene Mo to rkamera lo srasselte und die obligatorischen Standbilder mit einer Geschwindigkeit von zehn Bildern pro Sekunde scho ss. Danach hatte Birgitta Hedberg das Licht in der Küche gelöscht, war direkt in ihr Schlafzimmer gegangen, hatte die Lampe auf ihrem Nachttisch neben dem Bett eingescha ltet, da s ro te Ha ndy neben die Nachttischlampe gelegt, die Deckenlampe ausgeschaltet, wa r zum Fenster gegangen und hatte das Rollo hinuntergezo gen. Drei Minuten später hatte sie auch die Nachttischlampe ausgeknipst. Hinter dem Rollo lag das Zimmer im Dunkeln. Das war nicht so wichtig, weil Martinez das Mikro fo n bereits umpo sitio niert und a uf ihr Schla fzimmerfenster gerichtet hatte. Vom Tonband ging hervor, dass sie bereits eine Viertelstunde später eingeschlafen war. Dass sie in der Nacht hier und da geschnarcht hatte, sich kurz nach drei lautstark von der Luft im Da rm befreit ha tte und drei Stunden später aufgewacht war. Als sie um Viertel vor sechs morgens da s Rollo hochzog, trug sie bereits den Morgenmantel, und als sie das Mobiltelefon vom Na chttisch na hm, um es in die Tasche zu stecken, war 515
Kollege Falk bereits vor Ort und hatte das mit eigenen Augen sehen können. Im Laufe des So nntags war da sselbe Mobiltelefon bei drei weiteren Gelegenheiten observiert worden, und der Aktennotiz zufolge, die Lewin las, hatte man sich schon am Montagmorgen einen Reim darauf gemacht, wie sie mit dem Mobiltelefon verfuhr. Sie schien es nicht für ihre Anrufe zu benutzen. Es hatte sie auch keiner darauf angerufen. Zugleich sorg te sie jedo ch da für, da ss es sich immer in ihrer Nähe befand. Als sie am So nntag zweimal ihre Wohnung verlassen hatte, um kleinere Erledigungen zu verrichten, ha tte sie es in ihrer Ha ndtasche geha bt. Wenn sie zu Hause war, lag es in ihrer Tasche oder in ihrer Nä he. Offenbar achtete sie penibel darauf, dass es immer geladen war. Ein ga nz normales No kia telefo n versehen mit einer einfachen, roten Verschalung aus Plastik. Eines der gebrä uchlichsten Mo biltelefo ne in Schweden, aber weniger gebräuchlich in Spanien, was so weit ein g utes Zeichen war. Blieb, die Nummer herauszufinden. Um dadurch - hoffentlich ihren Bruder, Kjell Göran Hedberg, aufzuspüren. Falls Jan Lewin an einer Erörterung der Ta ktik in Zusammenhang mit dieser Ruffunkermittlung interessiert sein sollte, dürfte er sich um zehn Uhr in Joha nssons Büro einfinden. Vor zwei Minuten also, dachte Jan Lewin, stand auf, richtete seinen Schlips, zog sich da s Sa kko über und schaltete seinen Rechner aus. Bei Johansson herrschte ausgelassene Stimmung. Johansson, Wiklander, Rogersson, Falk, Martinez und Eriksson waren vor Ort, und bevor Lewin die Tür geöffnet ha tte, vernahm er das fröhliche Gelächter. »Setz dich, Jan«, sagte Johansson, noch ehe Lewin dazu kam, für sein verspä tetes Eintreffen um Entschuldigung zu bitten. »Nimm dir eine Tasse Kaffee«, sagte er und zeigte auf das Tablett auf dem Tisch. »Aber sei vorsichtig mit den Keksen. Linda hat uns gerade von 516
den Risiken erzählt, die mit dem übermäßig en Verzehr von Keksen zusammenhängen. Insbesondere vorm Schlafengehen. Erhöht die hörbare Darmtätigkeit auf unang enehme Weise.« Linda Martinez, dachte Lewin und nickte ihr zu. Gleichaltrig mit Lisa Mattei und so streetsmart wie Lisa Mattei klug war. Als Ermittlerin bei der Streife war sie eine Ausnahmeerscheinung. Wa s vielleicht, im Hinblick auf alles, wa s er über ihre Heldinnentaten gehört hatte, ein Glück war, dachte Jan Lewin und setzte sich hin. »O.k.«, sagte Johansson. »Die Hedbergsche ha t also doch ein Handy. Das meiste spricht wo hl da für, da ss sie es aus einem einzigen Grund ha t, und zwar, um Kontakt mit ihrem lieben Bruder zu halten. Wie kommen wir an die Nummer? Und zw ar am liebsten sofort. Unterbreitet mir doch bitte ein paar anregende Vorschläge.« »Wenn es nur darum geht, ihre Nummer ra uszufinden, kann ich das im Laufe des Tages deichseln«, sagte Linda Martinez. » Wie da s denn? «, frag te Jo ha nsso n überrascht. »Indem ich es klaue«, sagte Martinez und zuckte mit den Schultern. »Sobald sie das Haus verlässt, ka nn ich ihr Handy mopsen, und schlimmstenfalls muss ich ihr auch die Handtasche abnehmen. Aber in Anbetracht dessen, was ihr eigentlich wollt, würde ich entschieden davo n a bra ten. Aber es wäre ein Weg.« Martinez vollführte eine ausdrucksvolle Geste mit den Händen, um ihren guten Willen zu demonstrieren. »Es gibt ja auch eine völlig legale Mög lichkeit«, wandte Lewin mit einem vorsichtig en Rä uspern ein. »Welche denn?«, sagte Johansson, der auf einmal ziemlich misstrauisch aussah. Dass der Staatsanwa lt uns erlaubt, sie festzunehmen und ihr Mobiltelefon zu beschlagna hmen. Wie hundert von hundert anständigen Polizisten es tun würden, dachte er. 517
»Nix mit ‘x’« , sagte Johansson und schüttelte den Kopf. »Selbst wenn wir es Linda stehlen lassen - und so, wie sie zur Zeit aussieht, kö nnte sie sogar als eine harmlose Drogensüchtige durchgehen, die nur eine weitere Tasche an sich gerissen ha t -, dann würde die Hedberg'sche trotzdem ihren Bruder anrufen und ihm erzä hlen, dass sie das Ding verloren hat. Und zwar mit irgendeinem anderen Telefo n, da s wir auch nicht peilen können.« »Dasselbe gilt für deine Lösung, Lewin«, fuhr er fort. »Sobald sie Gelegenheit da zu hätte, würde sie ihn warnen. Dann fliegen wir definiti v auf, vor allem wenn wir sie vorher festgenommen ha ben. Außerdem können wir ja nicht ausschließen, da ss sie irgendeine Sicherheitsvorkehrung getroffen haben, von der wir nichts wissen. Dass sie sich in regelmäßigen Abständen meldet, um zu bestätigen, dass alles ruhig ist.« Obwohl das selbstverständlich keinen großen Unterschied macht. Rein juristisch und so und scho n gar nicht in Johanssons Welt, dachte Jan Lewin. Gera de a n Letzteres, irg endeine Sicherheitsvorkehrung , ha tte Wikla nder schon gedacht. Deshalb sei sein Mita rbeiter im Aug enblick a uch g era de da mit beschä ftigt, eine spezielle Mo bilte-lefonabhöranlage zu installieren, die auf Hedbergs Wohnung gerichtet sei. Sobald ihr Mo biltelefon ein Lebenszeichen von sich gäbe, sei das im Ka sten. Ebenso , falls Hedberg sich meldete. Zugleich läge das Problem auf der Hand. Ihnen würde die Zeit davonlaufen. Was, we nn sie nur einmal pro Woche miteinander kommunizierten oder, schlimmer noch, nur einmal im Mona t? Oder nie, falls es keine besonderen Anlä sse dafür gäbe. Einfach den Mast anzu za pfen könnten sie auch vergessen. Da sie nicht über ihre Nummer verfüg ten, sei das praktisch aussichtslos. Und Anrufe, die von Mobiltelefonen in der Nähe ihrer Wohnung mit Empfängern auf Mallorca getätigt worden wären - sofern sich Hedberg dort wirklich aufhielte -, seien auch keine sinnvolle Lösung, um die richtige Nummer hera uszufinden. Die 518
Wohnung läge im Andersväg in unmittelbarer Nä he zur nördlichen Einfahrt nach Stockholm, und ein dichterer Mobilfunkverkehr als in der Gegend sei landesweit kaum zu finden. » Verstehe«, fiel ihm Jo ha nsso n ins Wort. » Wa s ma chen wir da nn jetzt?« »Wenn wir nur von ihrem Mo biltelefon aus eine Nummerrückverfolgung starten könnten, dann würden wir ihre Nummer direkt beko mmen. Da nn könnten wir mit der Suche nach den von ihr gewä hlten Nummern beginnen. Unsere Computer würden in Anbetracht des Mobilfunkverkehrs allerdings ganz schön ins Schwitzen kommen. Wenn wir einen bestimmten Ta g oder auch einen bestimmten Zeitpunkt hätten, wä re das eine große Hilfe.« »Da sagst du was«, seufzte Johansson. »In dem Fall schlage ich den fünfzehnten August dieses J a hres vo r«, sag te Lewin. »Warum da s?«, frag te Fa lk. »Weil das sein Geburtstag ist« , erlä uterte Lewin. »Ich glaube, da ss sie der gewissenha fte Typ ist, der ihren älteren Bruder und einzig en Verwandten an seinem Geburtstag anruft. Selbst wenn er es vorzöge, da ss sie das nicht täte.« »Glaub ich auch«, pflichtete Joha nsson ihm bei. »Kapiert ja wo hl jeder einigermaßen intelligente Kollege, dachte er und starrte sicherheitshalber Fa lk an. »Wenn wir die betreffenden Mobilfunkmasten vor dem fünfzehnten August anza pfen, sitzen wir mit zehntausenden Anrufen da«, sagte Wiklander. »Wenn wir all die Gespräche, die vom Auto aus auf dem Weg nach und von Arlanda geführt werden, in Betracht ziehen, werden ta usende davon Auslandsgesprä che sein. Es würde Mona te dauern, sie rückzuverfolgen. Wir brauchen ihre Nummer. Anders geht's nicht. Sowie wir die Nummer haben, können wir das innerhalb von höchstens ein paar Stunden erledigen. Vo ra usgesetzt, dass sie ihn angerufen hat, natürlich.« 519
»Was hältst du davon, Lewin, wenn Martinez bei der Häuslichen Pflege in Solna anfängt zu arbeiten?« , sagte Joha nsson. Birgitta Hedberg war eine arbeitsunfähige Frührentnerin, und als solche hatte sie ein Recht auf Betreuung. Mit ebendiesem häuslichen Pflegedienst ha tte sie vom ersten Tag an immer wiederkehrende Ko ntro versen. In der jetzigen, aktuellen ging es um die versprochene Großreinigung ihrer Wo hnung, a us der immer noch nichts geworden wa r. Der ha uptsächliche Grund dafür war, da ss die meisten, die als hä usliche Betreuungskra ft arbeiteten, lieber gekündigt hätten, als einen Fuß in Birgitta Hedbergs Wohnung zu setzen. Wiklander hatte an ein paar von den üblichen Strippen gezogen. Hatte mehr oder weniger sofort einen Kollegen bei der Po lizei in Solna aufgetrieben, dessen Frau die Chefin des kommunalen, häuslichen Pflegedienstes war. Diskretion war Ehrensache, und scho n am Dienstagnachmittag hatte die Ehefrau des Kollegen Frau Hedberg angerufen und ihr mitg eteilt, da ss man mit dem v erspro chenen Gro ßreinemachen schon am nächsten Morgen beginnen könne. Das sei aber auch höchste Zeit, beschwerte sich Birgitta Hedberg, und sie könne die seit langem versprochene Kraft am nächsten Morgen bereits um acht Uhr empfangen. Danach ha tte sie das Gesprä ch beendet, ohne sich für die Hilfe zu bedanken. Ho ffe, die Alte krieg t lebenslä nglich, dachte die Ehefra u des Ko lleg en aus Solna, weil das Mitwirken ihres lieben Gatten in ebendieser Betreuungsangelegenheit diesbezüglich gewisse Hoffnungen nährte. »Ach so, ja«, sagte Birg itta Hedberg, als sie am Mittwochmorgen ihre Wohnungstür öffnete und Linda Martinez einem Röntgenblick unterzo g. Dieselbe Martinez, die ihr Bestes gegeben hatte, um die Rolle der unter520
würfigen Einwanderin im Dienste der schwedischen Sauberkeit spielen zu können. In den fo lgenden zwei Tagen war Linda Martinez wie ein weißer To rnado in Birgitta Hedbergs Dreizimmerwohnung umhergefegt. Ha tte so geputzt und geschrubbt, dass selbst Cinderella aus dem Disneyfilmklassiker gegen sie die pure Schlampe war. Am dritten Tag wa r ihr all die Gnade widerfahren, die jema nd wie Birgitta Hedberg einer wie ihr zuteilwerden ließ. Zuerst hatte sie ihre neue Arbeitgeberin auf einen Großeinkauf begleiten und alle Tüten umherschleppen dürfen, da nn hatte sie vor der Bank stehen und warten dürfen, wä hrend Birgitta Hedberg Erledigungen verrichtete, die eine wie sie nichts anging en. Schließlich waren sie zu einer in der Nähe gelegenen Konditorei gegangen, wo Birgitta Hedberg zwei Cremeschnitten erstanden hatte. Wieder wohlbehalten in der Wohnung angekommen, ha tte Martinez ihr zuerst mit dem Mittagessen zur Hand gehen müssen. Danach hatte sie den Kaffeetisch gedeckt. Zwei Tassen diesmal, und für jede ein Stück Kuchen. Als der Kaffee ausgetrunken war, hatte Martinez vor Beendigung ihres Arbeitstages weitere Instruktionen erhalten. Danach war Birgitta Hedberg auf die Toilette gegangen und hatte die Handtasche auf der Küchenbank stehen gelassen. Kaum ha tte sie die Tür hinter sich abgeschlossen, hatte Martinez Birgitta Hedbergs Mobiltelefon aus der Handtasche gefischt. Hatte die Nummer eingetippt, die Wiklander ihr gegeben hatte, und den Anruf wenige Sekunden, nachdem sie Kontakt zum Empfänger aufgenommen hatte, wieder abgebrochen. Hatte ihn aus dem Telefo nspeicher gelöscht, das Telefon zurück in die Handtasche gelegt und war da zu übergegangen, die Spuren von ihrem kleinen Ka ffeekla tsch zu beseitigen. Ho ffe, die Alte krieg t lebenslä ng lich, dachte Linda Martinez, obwohl sie keine Ahnung hatte, weshalb Birgitta Hedbergs Mobilnummer eine beina he lebenswich521
tige Bedeutung für ihren höchsten Chef zu haben schien. Eine Viertelstunde bevor Jan Lewin Feierabend machen wollte, ka m Wiklander in sein Zimmer, und sein zufriedenes Lächeln war Antwort genug auf die Frage, die Lewin seit einer Woche durch den Kopf gegangen war. »Am fünfzehnten August um acht Uhr zwei hat Birgitta Hedberg vo n ihrem Ka rtenha ndy a us ein Ausla ndsgespräch mit einem spanischen Kartenha ndy geführt.« »Die Ortszeit ist dieselbe«, verdeutlichte Wiklander. »Der letzte Funkmast, der den Anruf weiterbefö rdert hat, liegt im Norden vo n Ma llorca . Zwei Kilometer vo n einer kleinen Stadt namens Puerto Pollensa entfernt. Der Anruf hat siebzehn Minuten geda uert. Du ha st beide Nummern und alles andere in deiner Mail.« »Ich rufe so fo rt Holt an«, sagte Lewin. » Tu da s«, Wikla nder nickte. »Hallo, Anna«, sagte Lewin fünf Minuten später. » Wie ist das Wetter?« »Ganz ausgezeichnet«, antwortete Holt. »Überlegst du, ob du die Badeho se ei npacken und übers Wochenende einen Abstecher hierher machen sollst?« »Wenn das nur möglich wä re«, Lewin seufzte. »Wir haben jetzt ihre Nummer aufgetrieben. Wie es scheint, hat sie nur einen einzigen Anruf getä tigt. Am fünfzehnten August diesen Jahres. Hedbergs Geburtstag, wie du dich sicher erinnerst. Du hast alle Informatio nen in deiner Mail. Da s Gespräch ist über einen Mast gegangen, der zwei Kilometer von einer Stadt namens Puerto Poflensa im Norden von Ma llorca entfernt steht, aber wo gena u diese Stadt liegt, weiß ich nicht. Am besten fragst du einen von den spanischen Kollegen da nach.« »Kannst du eine Sekunde warten, Jan?«, ba t ihn Holt, legte da s Mobiltelefon auf ihren Schreibtisch und wandte sich an die Kollegen im Ra um. 522
»Puerto Pollensa?«, fragte Holt und lächelte Hans und Hans freundlich an, die ihre Schreibtische unmittelbar neben ihrem und dem von Mattei stehen ha tten. » Lieg t da s in der Nä he?« »Es liegt etwa hundert Kilo meter nö rdlich von hier. Man braucht je nach Verkehr ungefähr eine Stunde bis dorthin«, antwortete Pedro Rovira, der bedeutend besser Englisch sprach als sein bester Freund und Kollege Pablo Ballester. Am Freitagmorgen, dem 15. Oktober bekamen Holt, Mattei und ihre spanischen Kolleg en endlich ein erstes Lebenszeichen von Kjell Göran Hedberg. Es wa r zwar sieben Monate alt, aber verglichen mit dem, was sie zuvor gehabt hatten, war das die reinste Frischko st. Was irritierte, wa r vielleicht, dass der Hinweis schon die ganze Zeit über existiert ha tte. Aber nicht bei der Kriminalpolizei in Palma, so ndern bei der Anti-Terro rEinheit im Hauptquartier der Guardia Civil in Ma drid. Anfang März hatte Hedberg in der Hertz-Filiale am Flug hafen von Malaga ein Auto gemietet. Das war ein Tag, nachdem seine Schwester dort eingetro ffen war und in einem Hotel in der Nä he eing echeckt hatte. Drei Tage später hatte er bei Hertz angerufen und erzählt, dass da s Auto gestohlen worden sei. Sie hatten ihn gebeten, in ihrer Hauptfiliale im Zentrum von Malaga vorbeizukommen. Do rt war eine Diebstahlsanzeig e ausgefüllt worden. Ma n ha tte eine Fo to ko pie vo n Hedberg s Pass gemacht, und er hatte über da s bisschen, wa s er wusste, Bericht erstatten müssen. Er habe das Auto a bends a uf den Pa rkplatz des Ho tels, in dem er wo hnte, a bgestellt. Als er morgens ra usgekommen war, sei es verschwunden gewesen. Das sei alles, und wenn man mehr über die Sa che sprechen wolle, kö nne man ihn in seiner Wohnung in der Calle Asuncion 189 in Palma de Mallorca erreichen. Im Touristenland Spanien wurden jedes Jahr hunderte von Mietwagen gesto hle n, und solche Verbrechen waren jahrelang haufenweise Routinea ngeleg enheiten 523
gewesen. Etwas, das die Mi etwagenfirma, die Polizei und die Versicherung sfirma regelten, ohne den Mieter des Wagens zu involvieren. In den letzten Jahren ha tte sich da s geändert. Grund da für war der inländische und der internationa le Terrorismus. Die ba skischen Seperatisten der ETA und der islamistische Terrora nschlag auf den Bahnhof von Madrid, bei dem zweihundert Menschen ihr Leben gelassen hatten. Gestohlene Mietwagen und insbesondere solche, die von ausländischen Bürgern gemietet wurden, wa ren auf einen Schlag als so gena nnte vernetzte Verbrechen interessant geworden, eines der vielen Glieder für die Vo rbereitung eines terro ristischen Anschla gs. Die Register, die man aufgebaut ha tte, um so wo hl gestohlene Mietwagen als auch die, die sie gemietet ha tten, herauszufiltern, umfassten bereits zehnta usende vo n Fa hrzeugen und Personen. Eine Woche vorher, a m Freitag, dem 28. September, hatte die Anti-Terror-Einheit in Madrid eine direkte Anfrage von den Kollegen der hausinternen Informationsa bteilung der schwedischen Zentralen Kriminalpolizei erhalten. Eine Anfrage, die für die spanischen Kollegen Prio ritä t g eno ss, da ihr höchster Chef sich bereits gemeldet und den Befehl erteilt ha tte, dass a lles, was von dort kam, mit oberster Prioritä t zu behandeln war. Zumindest bis auf weiteres. Die Ausführung zu ihren Fragen wa r zudem schö n ausführlich gewesen. Ma n war an der weiblichen, schwedischen Mitbürgerin Birgitta Hedberg, 60 Ja hre, und ihrem drei Jahre älteren Bruder Kjell Göran Hedberg interessiert. Birg itta Hedberg soll sich den Anga ben zufolge zwischen dem dritten und zeh nten März in Südspanien aufgehalten ha ben, wo sie im Hotel Aragon a ußerhalb vo n Ma rbella gewo hnt hatte. Wo ihr Bruder sich aufgehalten hatte, wa r dagegen unbekannt, aber zug leich von höchstem Interesse. Birgitta Hedberg hatte man sofort gefunden. Anfragen, die vor Ort getä tigt worden waren, deuteten darauf hin, dass sie »in der betreffenden Woche in dem be524
treffenden Hotel« gewohnt ha be. Die Co mputer in Madrid ha tten scho n tags darauf ihren Bruder im Reg ister für gestohlene Mietwagen gefunden. Dagegen ha tte er nicht im Hotel Aragon in Marbella gewo hnt, wie er in seiner Diebstahlsanzeige gegenüber Hertz angegeben hatte. Es existierte jedenfalls keine Buchung auf seinen Namen, und falls er mit seiner Schwester das Hotelzimmer geteilt hatte, musste da s heimlich und in einem normalen Einzelbett geschehen sein. In Anbetracht der Tatsache, dass das Auto draußen am Flughafen von Mala ga abgeholt wo rden war, war es sehr merkwürdig , dass man den Namen des Mannes nicht auf den Passagierlisten der Fluggesellschaften finden ko nnte. Weder vo n Palma noch vo n irgendeiner anderen Destinatio n an dem betreffenden Tag. Selbst die Adresse von seinem Hauptwo hnsitz in Palma schien nicht zu stimmen. Am Donnerstag war die Angelegenheit deshalb mit der Bitte um Amtshilfe a n die Ko lleg en in Palma weitergeschickt worden. Weil der Absender in Ma drid sa ß, la ndete da s Schriftstück auf El Pa stores Schreibtisch, kurz bevor er nach Ha use gehen wo llte, um sich für da s Abendessen mit seinen höchst entzückenden schwedischen Kolleginnen vorzubereiten. Und da lag er plötzlich. Der Mann, nach dem er gut eine Woche vergebens gesucht ha tte; und nicht, weil er Informationen von jenen erhalten hatte, die er um Hilfe gebeten hatte, sondern weil andere ihn um Hilfe gebeten hatten. Wie es manchmal so ist, wenn die eine Hand nicht weiß, was die andere tut. Zuerst hatte der Pastor seinem spanischen Temperament freien Lauf gela ssen. Ha tte seinen Amtsko llegen in Madrid angerufen und ganz offen seine Meinung gesagt. Danach hatte er den Rest des Überdrucks an seinen unfähigen Mita rbeitern ausgelassen. Nachdem er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, hatte er Holt und Mattei in ihrem Hotel abholen lassen, hatte sie in ein weiteres, ebenfalls am blauen Meer gelegenes Meeresfrüchte-Restaurant ausgeführt und nicht ein Wort über das verloren, wa s kurz zu vo r geschehen wa r. Wes525
halb einen sonst so gelung enen Abend mit so etwa s ruinieren, dachte El Pastore und blickte Anna Holt tief in die Augen, als er sein Glas hob. Was für eine phantastische Frau, dachte er. Gena uso schö n wie eine junge Zigeunerin aus Sevilla in der Oper von Bizet. Am nächsten Morgen fuhren Hans und Hans zurück zur Pension in der Calle Asuncion. Nahmen den Mann an der Rezep tion zu r Seite und führten in Holts und Ma tteis Abwesenheit ein wirklich ernstes Gesprä ch mit ihm. Aber es hatte nichts genutzt. Er schüttelte immer nur den Kopf und stritt ab, einen Kjell Göran Hedberg zu kennen. »Nada«, sagten Hans und Hans mit einem gemeinscha ftlichen Schulterzucken, als sie am Nachmittag ins Büro zurückg ekehrt waren, um der dunkelhaarigen Schwedin Rapport zu erstatten. »Nada«, wiederholte Holt mit einem schwachen Lächeln, und im selben Moment klingelte ihr Mo biltelefon. »Hallo Anna«, sagte Ja n Lewin. »Wie ist das Wetter?« »Ganz ausgezeichnet«, antwortete Holt. »Überlegst du, ob du die Badeho se ei npacken und übers Wochenende einen Abstecher hierher machen sollst?« Und dich vo n El Pa store zum Duell a uffordern lassen sollst, fügte sie in Gedanken hinzu. »Wenn das nur möglich wä re«, seufzte Lewin. »Wir haben jetzt ihre Nummer aufgetrieben. Wie es scheint, hat sie nur einen einzigen Anruf getä tigt. Am fünfzehnten August diesen Jahres. Hedbergs Geburtstag, wie du dich sicher erinnerst. Du hast alle Informatio nen in deiner Mail. Da s Gespräch ist über einen Mast gegangen, der zwei Kilometer von einer Stadt namens Puerto Pollensa im Norden von Mallorca entfernt steht, aber wo gena u diese Stadt liegt, weiß ich nicht. Am besten du fragst einen von deinen spanischen Kollegen danach.« 526
»Kannst du eine Sekunde warten, Jan?«, ba t ihn Holt, legte da s Mobiltelefon auf ihren Schreibtisch und wandte sich an die Kollegen im Raum. Ich wusste es, da chte sie. Ich wusste es. Er wa r die ganze Zeit hier. »Puerto Pollensa«, fragte Ho lt. »Liegt da s in der Nä he?« »Es liegt etwa hundert Kilo meter nö rdlich von hier. Man braucht je nach Verkehr ungefähr eine Stunde bis dorthin«, antwortete Pedro Rovira, der bedeutend besser Englisch sprach als sein bester Freund und Kollege Pablo Ballester. Bäckströ m ha tte mehr oder weniger umgehend dafür geso rg t, seinem so genannten Betreuer Fridolein gute Manieren und Stil beizubringen. Er ha tte den Arsch mittlerweile sogar fa st ein wenig lieb gewonnen, o bwo hl er wie ein gescheiterter Tierversuch aussah und wie ein schlechtes Buch klang. Erinnert trotz allem ein wenig an Egon, dachte Bäckströ m. Auch wenn er natürlich nicht ganz so verschwiegen war. Egon war sein geliebter Goldfisch, dem ein außergewö hnlich bö sartiger Kollege leider da s Leben geno mmen hatte. Und zwar hatte er die Gelegenheit genutzt, als Bäckström in der großen weiten Welt unterweg s gewesen war und in einem Mordfall ermittelt ha tte. Danach hatte sich der Kollege des Leichnams entledigt, indem er ihn in Bäckströms Toilette runtergespült hatte. Aber dieses Schicksal wa r ja wo hl ho ffentlich nicht Fridolein beschieden, dachte Bäckström, weil er ihn wie gesagt - mittlerweile lieb gewo nnen hatte. Schon zwe i Tage später ha tte Fridolein Bäckström gebeten, ihn nicht länger Fridolein zu nennen. »O.k.«, sagte Bäckström. »Wenn du aufhörst, mich Eve zu nennen, versprech ich, dass du von nun an Fridolin heißen darfst.«
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»Ich da chte, du würdest Eve genannt werden?«, sagte Fridolein erstaunt. »Haben deine Freunde dich nicht so genannt?« »Ich hab gelogen. Habe nie irgendwelche Freunde gehabt«, sagte Bäckström, schüttelte den Kopf und spülte mit einem Schluck g utem Single Malt nach. »Wie traurig«, sa gte Fridolin, nippte an seinem Bier und klang aufrichtig. »Darf ich dir einen guten Ra t geben, Fridolin? Den Rat eines weisen Mannes?« Fridolin nickte. »Was immer du machst, leg dir nie Freunde zu. In dieser Scheißwelt kannst du nämlich nicht einer Scheißperson trauen.« Damit wa r das Eis auch gebrochen, und gemeinsam mit seinem jetzt treuen Knappen hatte Bäckström diskutiert, wie ma n seine Botschaft unters Volk bringen konnte, das alle verdächtigen Machthaber zwanzig Jahre lang hinters Licht geführt hatten. Fridolin war o hne Umschweife zur Sache gekommen und hatte vorgeschlagen, da ss er mit der Bezirkspolizeichefin von Stockholm sprechen sollte. Sie würde ihm nämlich jederzeit »ihr Ohr leihen«, und er sei sich ziemlich sicher, da ss er ein Treffen arrangieren könne, bei dem Bäckström die Wahrheit, die hinter dem Palmemord steckte, vortragen könne. Gut zu wissen, da ss es sich nicht um einen lebendigeren Körperteil handelt, dachte Bäckström. » Wa s ist der Witz bei der Sache?« , frag te er. Fridolin zufolge sei das do ch zumindest einen Versuch wert. Es gebe drei gute Gründe, die dafür sprä chen. Leute wie Waltin und dessen Kumpane lägen zuoberst auf der kriminalpolitischen Agenda der Frau Bezirkspolizeichefin. Fridolin würde sie - wie scho n gesagt - ihr Ohr leihen, und außerdem sei es ein offenkundiges 528
Geheimnis, dass sie als nä chste Landespolizeichefin gehandelt würde. »O.k.«, sagte Bäckström. Wenn Krieg herrscht, herrscht Krieg, dachte er. Puerto Pollensa im Norden von Mallorca. Diese Kenntnis hatte man bereits am Freitagnachmittag, und dass der Funkmast, der den Gebur tstagsanruf zu Kjell Göra n Hedberg befördert hatte, nur ein paar Kilometer von dem Ort entfernt stand, an dem vor fünfzehn Jahren der ehemalige Polizeio berintendent Claes Waltin ertrunken aufgefunden worden war, hatte zumindest weder Anna Holt noch Lisa Mattei so nderlich überra scht. Und auch nicht El Pastore, wie es schien. »Ich kann mich daran erinnern, dass ein Kollege von euch, der eine ho he Position innerhalb der schwedischen Sicherheitspolizei bekleidete, da o ben vo r v ielen Jahren ertrunken ist« , sagte er unvermittelt, als er, Holt und Mattei am Samstag gemeinsam zu Mittag aßen. »Ja «, Holt nickte. »Ja« , wiederholte sie und lä chelte besonders freundlich. »Ich verstehe«, antwortete El Pastore und neigte leicht sein Haupt. »Hier heißt es, vo rsichtig zuwege zu gehen«, warnte er. » Ich spüre es in den Knochen, dass er sich immer no ch dort aufhält. In unmittelbarer Nähe, und bald holen wir ihn uns.« Allerdings nicht am Sonntag. Auch nicht am Montag oder am Dienstag. Obwohl die Aktivitä ten um sie herum um mehrere hundert Prozent zugenommen hatten und obwo hl weder Holt noch Mattei ein Wort von alldem verstanden, was ihre spanischen Kollegen miteinander beredeten. »Geduld«, tröstete der Pastor, bevor er sie spät am Dienstagabend in ihr Hotel bringen ließ. »Geduld, meine Damen.« 529
Am nächsten Morg en um sechs Uhr rief er Ho lt im Hotel an, und weil sie scho n seit langem damit gerechnet hatte, klang sie hellwach, als sie beim zweiten Klingeln a bna hm. » Wir ha ben ihn g efunden« , sa gte der Pastor. »Er ist gerade in seinem Haus und schläft. Wenn ihr bei der Festnahme dabei sein wo llt, ka nn ich euch in einer Viertelstunde a bholen.« »Wir sehen uns an der Rezeption«, sagte Holt und stürzte unter die Dusche. Mattei stand scho n im Foyer und wartete auf sie, als Holt hinunterkam. Ungefähr zu r gleichen Zeit fuhr ihr Auto vor dem Ho teleinga ng vo r. »Ist dir etwas aufgefallen, Anna?«, fragte Lisa Ma ttei und deutete auf ihre Armbanduhr. »Was denn?«, entgegnete Holt und drückte die Einga ng stür auf. »Wir haben heute Mittwoch, den zehnten Oktober. Es ist nur acht Wo chen her, da ss wir wegen Joha nsson und seinen ganzen wunderlichen Ideen die Augen verdreht haben.« »Nein«, sagte Holt. »Daran hab ich gerade nicht gedacht. Im Moment haben wir an anderes zu denken.« Mit dem Auto nach Puerto Pollensa zu fahren, dara n war auch nicht zu denken. Erst recht nicht mit Blaulicht und Sirene, obwo hl die Fa hrt so früh am Morgen weniger als eine Stunde da uerte. Nur einen Kilo meter nördlich ihres Hotels fuhr das Auto geradeaus auf den Strand, wo ein Helikopter stand und auf sie wartete. El Pastore half ihnen selbstverstä ndlich in die Ka bine und kümmerte sich darum, da ss sie gute Plätze bekamen und gesichert wurden. El Pastore, Rovira, Ballester und drei weitere Kollegen der Kriminalpolizei au* Palma. Sich dem Ernst des Augenblicks bewusst und gerüstet, ihm zu begegnen. Schutzwesten, Schnellfeuerwaffen und schweigsame, verschlo ssene Gesichter. 530
Der Pastor half Anna Holt in die Weste und bot ihr ein Pistolenhalfter samt Pistole an, das sie mit einem Metallclip an ihrem Gürtel befestig te. Lisa Ma ttei ha tte sich selbst helfen müssen und hatte es außerdem abgelehnt, die Waffe, die Kollege Rovira ihr zu stecken wollte, zu nehmen. »O.k., Lisa«, sagte Rovira . »As lo ng as yo u keep yourself behind me. Promise!«, befahl er und grinste ihr zu. »Promise«, erwiderte Lisa Mattei und lächelte zurück. Gott, wie spannend, dachte sie. All das, vor dem Joha nsson sie beide gewarnt ha tte. Und noch dazu gemeinsam mit den spanischen Kolleg en, die beka nntlich nicht so zimperlich wie ihre Arbeitskollegen zu Hause verfuhren, wenn es darum ging, abzudrücken. Zwei Minuten später erhielten sie dort oben in der Dunkelheit Gesellscha ft. Es war da s Licht von einem zweiten Helikopter, der sich zu ihnen gesellte. Auch dieser von der Guardia Civil und dasselbe Modell wie ihrer. »Unsere Einsatzkräfte« , erklärte El Pastore auf Englisch. »Zwei Gruppen von jeweils sechs Männern. Bald holen wir ihn uns«, sagte er und tätschelte Holt die Hand. »Wir landen in fünfzehn Minuten und planen in spätestens vierzig Minuten, spätestens um Viertel nach sieben, sein Haus zu stürmen«, erläuterte er und zeigte auf seine Armbanduhr. »Ist er noch da?«, fragte Holt, die eine gewisse Besorgnis verspürte. Nicht zule tzt wegen Joha nssons letzter Worte, als er sich von ihnen vera bschiedet ha tte. » To be sure« , sagte der Pastor und nickte. Dann erzä hlte er. Am späten gestrigen Abend hätten sie den entscheidenden Hinweis von ihrem Informanten vor Ort bekommen. Erst vor ein paar Stunden hätten sie das Haus gefunden, in dem er wohnte. Hedberg lebe in einem kleinen Torhaus, das zu einem größeren Anwesen gehöre, das sich offenbar im Besitz eines vermögenden, englischen Paares befände, das nur selten dort sei. Das Anwesen lä ge weit abgeschieden von jeglicher Be531
bauung oben in den Bergen, gut zehn Kilometer südwestlich von Puerto Pollensa. Dort dürfe Hedberg im Gegenzug dafür, da ss er nach ihrem Eigentum sah, umsonst wo hnen und er habe dort offenbar die letzten zwei Jahre verbra cht. Wo mit er sich da rüber hina us beschäftige, sei immer noch unkla r. »Vielleicht die So nnenseiten des Lebens genießen«, der Pastor lächelte und zuckte die Schultern. »Ich ha b erst vor einer halben Stunde mit meinen Kollegen da oben gesprochen«, fuhr er fort. »Kurz nachdem sie sein Haus lokalisiert ha tten. Die Lampe über der Außentür leuchtet. Das Rollo im Schlafzimmer ist runtergezogen. Sein Auto parkt draußen auf dem Hof. Er hat keinen Wachhund, der ihn warnen kö nnte. Er schläft und kann um nichts in der Welt abhauen.« Am Ende ist doch alles so gekommen, wie J oha nsson gefürchtet hat, dachte Anna Holt eine halbe Stunde später. Als ihr das durch den Kopf scho ss, kauerte sie hinter einem Busch, nur fünfzig Meter von dem kleinen Torhaus aus gelbrosa Ka lkstein entfernt, in dem Kjell Göran Hedberg hoffentlich lag und seinen Schö nheitsschlaf schlief. Alles deutete zu mindest darauf hin. Es war ruhig und still. Die Lampe brannte über der Haustür. Das Auto stand auf dem Hof. Die Rollos waren runtergezogen. Genau wie El Pastore gesagt hatte. Die zwölf Kollegen von den spanischen Einsatzkräften näherten sich lautlos von allen Seiten. Schwarze Schatten, in der sie umgebenden Dunkelheit unmöglich zu erkennen. Schwarze Overalls, Kampfstiefel, die bis zu den Waden reichten, Helme, Schutzwesten, Schnellfeuerwaffen. Da nn war es plötzlich ganz still. »Zugriff«, flüsterte El Pa store, der neben ihr hockte, und in derselben Sekunde ging es los. Innerhalb von zehn Sekunden war alles vorbei. Das Geräusch, wie die Haustür und gleichzeitig drei Fenster eingeschlagen wurden. Die vier Schockgranaten, die hi532
neingewo rfen wurden. Die Knallkörper, Lichtblitze und das Gebrüll der Nachrückenden. Dann herrschte wieder Stille und aus einem unerklärlichen Grund musste Holt an Bäckström denken. Nach einer halben Minute kam der Einsatzleiter durch die Haustür, die nunmehr schief hing. Nahm den Helm ab, fuhr sich mit der Hand über sein stoppeliges Haar und zuckte bedauernd die Schultern. »Nada«, sagte er an El Pastore gewandt und schüttelte den Ko pf. Am späten Dienstagabend, dem 9. Oktober, bekam Johansson in seiner Wohnung auf Söder einen unerwarteten Anruf. Es war Persso n, eine Premiere, da ss er Jo hansson privat anrief. »Persson«, sagte Jo ha nsso n. »Wie schö n von dir zu hören. Ich hoffe, da ss alles in Ordnung ist?« Schlechte Verbindung, dachte er. Muss an diesem ganzen Mobilfunkverkehr draußen in Solna liegen, über den Wiklander g enörgelt ha tte. »Allererste Sahne«, bestätigte Persson. »Und ich ruf noch nicht mal an, um dich um Geld anzupumpen, sondern weil es da eine Sache gibt, über die ich mit dir reden will.« »Wann denn?«, sagte Johansson. Klingt ernst, dachte er. »Morgen Abend, falls du Zeit hast. Muss vorher nämlich noch was regeln. Ich hab mir gedacht, ich lade dich zu einem kleinen Abendessen auf dem Lande ein. Hab eine kleine Kate in Sörmla nd. Liegt eine knappe Stunde südlich der Stadt. Unten bei Gnesta.« »Ich dachte, du hä ttest dir ein Ha us in Spa nien gekauft?«, wunderte sich Joha nsson. »Hab ich auch«, entgeg nete Persson. »Hab's na ch ein paar Jahren wieder verkauft. Das Einzige, was du da unten machen ka nnst, ist Saufen und Golf spielen. Ich spiele kein Golf, und Saufen tue ich am liebsten zu Hause.«
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»Vernünftig«, sagte Joha nsson. »An welche Uhrzeit hattest du denn geda cht?« »Komm doch so gegen sieben«, schlug Persso n vor. »Dann können wir vor dem Essen noch in die Sauna gehen. Ich wollte dir eigentlich frischen Za nder anbieten. Wenn du Fisch magst? Sonst machen wir etwa s anderes.« »Zander ist großartig« , sagte Johansson. Fa st genauso lecker wie Marä ne, dachte er. »Du brauchst noch nicht mal Schnaps mitbringen«, sagte Persson. »Ausnahmsweise einmal hab ich den nämlich da. Es gibt nur eine Sa che, die du benö tigst.« » Wa s denn?« , frag te Jo ha nsso n. »Eine Wegbeschreibung«, sagte Persso n. »Hast du das GPS von der Arbeit da bei?« » Immer«, sag te Jo ha nsso n. Alles a ndere wä re ein Dienstvergehen, dachte er. »Gib mir die Nummer, dann schick ich dir die Koordinaten rüber«, schlug Persson vo r. »Du kannst sie direkt an mein Mobiltelefon simsen«, entg eg nete Jo ha nsso n. Da s sind a ndere Zeiten heute, dachte Johansson, nachdem er den Hörer aufg elegt hatte. Was er wo hl will?, fragte er sich. Eine falunrotes Hä uschen mit weißen Fensterra hmen, ein größeres und ein kleine res Nebengebäude, ein See fünfzig Meter unterhalb vom Haus. Am See ein Steg mit einer Sa una. Persson erschien in blauer Hose und Pulli und mit einer gleichmäßigen So nnenbräune. » Willkommen, La rs. Wie ich sehe, ha st du deinen Knecht dabei?«, sagte er und nickte zu Johanssons Dienstwagen und seinem Chauffeur hinüber, der auf dem Vo rdersitz saß und telefo nierte. »Wegen des Schnaps zum Za nder«, erklärte Joha nsson. » Vermutlich beschwert er sich g era de bei seiner Frau, dass ich ihm den Abend v erdo rben habe.« 534
»Vernünftig«, sagte Persson. »Wir werden wohl ein paar Stunden benötigen, wenn ich an unser Programm denke: saunen, reden und essen.« »Ich schick ihn nach Ha use«, beschloss Johansson. »Taxis gibt's hier draußen in der Provinz doch bestimmt auch?« »Vernünftig«, wiederholte Persson. »Ich muss nä mlich unter vier Augen mit dir sprechen.« Wa s er wohl will?, fragte sich Joha nsson erneut. Eine Holzsauna. Ein See, in dem man sich abkühlen konnte. Man musste nur dire kt vom Steg ins Wasser springen, das immer noch zehn Grad ha tte, obwo hl der Oktober schon ein Stück fortgeschritten war. Dazu ein Dra htkorb mit Pils, der zur Kühlung im See lag. »Diese Sonnenbräune hast du dir aber nicht hier zugelegt, oder?«, bemerkte Johansson, als sie jeder mit einer Bierdose in der Hand auf der Saunabank saßen. »Nicht zu dieser Jahreszeit, auch wenn die So mmer immer tropischer werden.« »Ich ha be eine Woche Urlaub gemacht«, sagte Persson und wischte sich den Bi erschaum von der Lippe. »Griechenland, Spanien, Türkei?«, riet Johansson. »Mallorca«, antwortete Persso n. »Ich musste da etwa s erledigen.« »Mallorca«, wiederholte Johansson. Wieso hatte er das scho n in dem Moment geahnt, als er aus dem Auto gestiegen wa r? » Schö n zu dieser Jahreszeit«, sagte Persson. »Eigentlich die beste Zeit. Warm, ohne zu heiß zu sein. Na chts kühl, so dass du schlafen ka nnst.« »Lustiger Zufall«, sagte Johansson. »Ich ha be gera de erst letzte Woche Montag zwei meiner Mitarbeiterinnen nach Palma geschickt.« »Ich weiß«, sagte Persson. »Holt und Mattei, die Hedberg aufstöbern sollen.« » Da s weißt du also?«, Jo ha nsso n kla ng ersta unt. Obwo hl ich auch da s scho n gea hnt ha be, dachte er. 535
»Du ka nnst sie zurückbeordern«, sagte Persso n. »Die Sache ist scho n geregelt.« »Erzähl«, sagte Johansson. Was ist hier eigentlich los?, dachte er.
Im Canal de Menorca vor Cap de Formentor, am frühen Morgen desselben Tages. Das Boot hieß also Esperanza, was auf Spanisch »Hoffnung« bedeutet. Die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft oder jedenfalls auf eine Zukunft, über die man selbst bestimmen konnte. Die Esperanza hatte ihren Namen vor vierzehn Jahren erhalten. Getauft hatte sie der Eigentümer, Skipper und das einzige Besatzungsmitglied, und im Hinblick darauf, was ihm und seinem Boot gleich zustoßen wird, hätte er keinen schlechteren Namen wählen können. Persso n zufolge ga b's nicht viel zu erzä hlen. Vor zwölf Stunden, am frühen Morgen um acht Uhr Ortszeit im Norden vo n Mallorca, ha be er da s Pro blem Kjell Göran Hedberg gelöst, indem er ihn und sein Boot in die Luft gesprengt habe. »Ung efähr fünfzehn Seemeilen vor dem Hafen von Puerto Po llensa, fa lls du weißt, wo da s liegt.« »Ich weiß, wo da s liegt«, sagte Jo ha nsso n. »Dort ha tte doch auch Claes Waltin das Pech zu ertrinken.« Will er mich vera rschen?, dachte er. »Na ja«, sagte Persso n. »Es war Hedberg, der ihn ertränkt hat. Allerdings war das ein gutes Stück weiter draußen in der Bucht.« »Seit wa nn wusstest du, wo er sich aufhielt?«, fragte Joha nsson. »Seit ich bei Waltin zu Hause die Hausi gemacht und begriffen habe, mit wem er zusammengearbeitet hat. No ch viele Ja hre, nachdem Hedberg bei uns aufgehört 536
hatte, hat Waltin ihn als Externen Operateur eingesetzt.« »Das ist mir beka nnt«, sagte Joha nsson. »Und ich glaube, dass ich auch kapiert habe, weshalb Hedberg ihn kielholen musste.« »Mit Waltin ging's bergab«, Persson nickte. »Er so ff zu viel, redete zu viel, verkehrte mit den falschen Leuten. Waltin war ein Sicherheitsrisiko, und Hedberg dachte ga r nicht daran, wegen ihm lebenslänglich zu bekommen.« »Verstehe«, sagte Johansson. »Und seit wann hat Hedberg sich im Norden vo n Ma llo rca a ufgehalten?« Persson zufolge im Großen und Ganzen die letzten zwa n zig Jahre. Die letzten davon habe er umsonst in einem kleinen Torhaus oberhalb von Puerto Pollensa in den Bergen gewo hnt. Im Gege nzug dafür, dass er für ein reiches englisches Paar da s Anwesen hütete, das diese in der Nä he besa ßen. Außerdem ha be er über einen Mietwagen verfüg t und ein kleines Fischerboot, das ihm gehört habe und dass er im Frühjahr 1993 hatte bauen lassen. Ein Boot, mit dem er To uristen beförderte. Zum Schwimmen, Sonnenbaden, Fischen und Tauchen. »Wie hast du ihn aufgespürt?« Persson zufolge sei da s keine große Kunst gewesen. Nicht im Hinblick auf die Vielza hl an Spuren von Hedberg, auf die er bei Waltins Hausdurchsuchung gestoßen sei. Als er vor zehn Tagen nach Mallorca geflogen sei, ha be er scho n alles gewusst, was er wissen musste. Von Hedbergs Boot, zum Beispiel. »Als ich erfuhr, da ss er einen Propangastank an Bord hatte, hab ich mich für die Vo rgehensweise entschieden. Der Arsch ha tte so einen Ga sgrill a us ro stfreiem Stahl oben an Deck installiert, und diese bekloppten Spanja cken ha tten die Propangasflasche unter Deck angebra cht und einen verdammten Haufen Schläuche kreuz und quer gezo gen. Hätte nicht besser laufen können.« »Erklär das bitte einem Laien«, sagte Johansson. Der noch nie die Zündk apsel von einer zweihundert Kilo 537
schweren verro steten Mine abgedreht hat, dachte er. Der noch nicht einmal wusste, ob man es in so einer Situation wagen durfte, den Ro tz von der Oberlippe zu lecken. Er habe die Vorkehrungen spä ta bends gereg elt, bevor es am darauffolgenden Morg en zum Knall gekommen sei. Unmittelbar, bevor er Johansson zu Hause angerufen und ihn zum Abendessen eingeladen ha be. Er habe da für g esorg t, dass Hedberg nicht in der Nä he wa r. Ha be normales Baudynamit von Nitronobel benutzt. Drei kümmerlich kleine Ladungen, und er ha be nur zwei Hekto von diesem klassischen, schwedischen Produkt gebraucht. Eine mit ausgerichteter Sprengkraft, um den Gastank aufzuschlitzen. Zwei an den Gasschläuchen, die ins Kajütenschott eingezogen worden waren. Nach einer halben Stunde sei alles erledigt gewesen. Er ha be soga r no ch Zeit g ehabt, die Tankschläuche ein bisschen zu leeren. »Propangas ist ja geruchslos, wie du weißt«, sagte Persson und deutete ein Prosit an. »Und als er dann den Motor angela ssen ha t, ha t's geknallt?«, fasste Johansson zusammen. » Wo für, zum Teufel, hältst du mich, Jo ha nsso n?«, rief Persson empört. »Ich bin doch kein verdammter Massenmörder. Zuerst habe ich natürlich gewartet, bis er auf offener See war, so dass sich keine anderen Menschen in seiner Nähe befanden. Ich bin ihm in meinem Boot gefolgt.« Und um, was diesen humanitären Aspekt anbelang te, kein Risiko einzugehen, habe Persso n sich als Auslö semechanismus eines gewöhnlichen Mobiltelefons bedient. Ein Kartenhandy, das er vor Ort gekauft und in bar beza hlt ha tte und da s nicht aufzuspüren gewesen wäre. Zudem mit zeitverzögertem Auslöser. »Wie du bestimmt verstehen kannst, ha tte ich diesen Arsch, im Hinblick auf all den Mist, den er sich in den letzten dreißig Ja hren geleistet hat, verdammt satt. Das weißt du übrigens vermutlich besser als jeder a ndere. 538
Also entschied ich mich da für, ihm einen letzten Gruß zu senden, um ihn zu verarschen.« Als Hedberg die o ffene See erreicht ha tte, ha be Persson ihn zuerst auf dessen Mo biltelefon angerufen. Als Hedberg da s Gespräch angenommen und geantwortet hätte, sei er zu dem Mobiltelefon weitergeko ppelt worden, da s ein paar Sekunden später die Sprengladung auslöste. »Wie bist du an die Nummer seines Handys gekommen?«, sagte Johansso n. »Die hatte ich scho n« , sagte Persso n. »Das war das Handy, das er benutzte, um seine Charterbootgeschäfte zu führen. Ein normales No ki a, mit diesem alten Klingelton, den alle ha ben und der bewirkt, dass man anfängt, an seinen Taschen zu zerren, sobald jemand in der Nä he einen Anruf erhä lt.« »Hat er denn etwa s gesag t?«, frag te Jo ha nsso n. »Natürlich«, sagte Persso n. »Ich la g ein Stück entfernt mit meinem Boot und beobachtete ihn durchs Fernglas. Allerdings hat er sich nicht mit Namen gemeldet.« »Was ha t er denn stattdessen gesagt?« »Si«, kicherte Persson. »Und du«, sagte Johansson. »Was ha st du erwidert?« Zuerst habe er ihm einen letzten Gruß von seinen Kollegen ausrichten wollen, sei a ber nach g ena uerem Nachdenken davon abgerückt. »Wer, zum Teufel, will schon so einen zum Kollegen haben? Stattdessen hab ich ihn gebeten, das Publikum zu begrüßen. Einen Gruß an da s Publikum, Hedberg, hab ich gesagt. Du hä ttest sehen sollen, wie überrascht er aussah. Insbesondere, weil in dem Moment, als ich ihn grüßte, auch ein anderes Telefon mit demselben Klingelton hörbar wurde. Ich konnte dem Arsch sogar noch zuwi nken. Ja, und dann hat's geknallt. Zuerst dreimal kurz, als die Ladung losging, und dann ein 539
großer verfluchter Feuerball, als das Propa nga s ex plo dierte. Ich hab sogar gesehen, wie er in die Luft flog. Bestimmt zehn Meter hoch. Hab gesehen, wie da s eine Bein in eine andere Richtung abhaute. Wenn du mich fragst, da nn glaube ich, dass es dieser rostfreie Deckel wa r, den er a uf seinem Grill hatte, der wegg eflog en ist und seinen Knüppel abgeka ppt hat. Sein Scheißboot sank wie ein Stein. Die Rinne da draußen ist fünfhundert Meter tief.« »Aha, ja«, sagte Joha nsson. »Und was hast du da nn gemacht? Bist nach Hause gefahren, um mit einem alten Kollegen gebratenen Za nder zu essen? « »Teufel auch, nein«, schnaubte Persso n. »Das war noch nicht alles. Es gibt noch mehr. Willst du no ch ein Bier?« »Nein, danke«, Johansson ho b ablehnend die Hand. »Ich hab noch welches«, er läuterte er und hob die Dose hoch, um nicht unhöflich zu wirken. »Und wa s ist da nn geschehen?«, fragte er. Persson sei näher auf die Wrackteile zug esteuert, um besser sehen zu können. Sei ein paar Minuten dort liegen geblieben, um die Lage zu beurteilen, solange es noch brannte. »Und wie ich da so liege und mich umscha ue, ta ucht der Arsch doch plö tzlich direkt neben meinem Boot auf. Rußig und verbrannt und wie ein Fisch nach Luft schnappend. Fluchte, was das Zeug hielt. Aber er lebte. Kurioserweise. »Help me, help me«, rief er und streckte mir die Hand entg egen. Natürlich, antwortete ich und reichte ihm meine. Da nn hab ich zu einem Rohr gegriffen, das ich in meiner Fischkiste hatte - um etwa s größere Ka ndidaten, die dir da unten mal ins Netz g ehen kö nnen, zu töten, falls du dich das fragen solltest -, und habe ihm ein paar Mal damit auf den Ko pf geschlag en. Ja, da s war wo hl alles. Er sank wie ein Stein, und das Rohr hab ich ihm als Andenken hinterhergeworfen.« »Und da nn?«, fragte Joha nsson. 540
»Dann bin ich mit dem Boot zurück zum Hotel gefahren. Ich wohnte in einer kleinen Pension gegenüber der Charterbrücke, an der sein Boot vertäut gewesen war. Ich ha be ausgecheckt, ha be mich ins Auto gesetzt und bin zu seinem Haus in den Bergen gefahren, um eine diskrete kleine Hausdurchsuchung durchzu führen.« »Und ha st du was gefunden? «, sagte Joha nsson. »Nichts«, sagte Persson. »Dazu kam es gar nicht mehr. Es wimmelte scho n von spanischen Polizisten in der Gegend, also bin ich direkt nach Palma zum Flughafen gefahren und nach Hause geflogen. Bin erst vor ein pa ar Stunden in Skavsta gelandet. Aber wenn du mich fragst, dann hatte er eigentlich nicht mehr als ein Bett, in dem er schlief. Hedberg war auch nicht so schlampig wie Waltin, deshalb glaube ich, dass wir uns um dieses Deta il keine Sorgen machen müssen.« »Du wa rst also zur selben Zeit wie Holt und Mattei da unten?«, räsonierte Joha nsson. »Ich war sogar zuerst da, wenn ma n pingelig sein will. Und das war auch ein verdammtes Glück. Denn wenn ich nicht da gewesen wäre, wä re er uns entko mmen. Und hätten wir ihn diesmal verpasst, hätten wir wohl niemals mehr auch nur eine Staubwolke von ihm gesehen.« »Wieso glaubst du das?«, sagte Johansson. Scheiße, wa s redet er da?, dachte er. »Er ist von einem deiner so gena nnten Mita rbeiter gewarnt worden«, verkündete Persson und zuckte mit den Schultern. »Was hältst du übrigens jetzt von einem Stück Zander?«
Einen Tag vorher in der Tiefrinne vor Cap de Formentor im Norden von Mallorca. Zu guter Letzt war es doch geschehen. Das, von dem er geglaubt hatte, dass es nie geschehen würde. Statt um neunzig Grad back541
bord zu gieren und Kurs auf die Frau in dem großen Anwesen unten am Strand von Sant Vincenc zu nehmen, war er hinaus in die Tiefrinne gefahren. Hatte einen neuen Kurs in seinen GPSNavigator eingegeben und sich zugleich beglückwünscht, dass die Esperanza immer mit vollen Treib Stofftanks vor Anker lag. Die groß genug waren, um ihn die dreihundert Seemeilen nach Korsika zu bringen, wo es mehrere wie ihn gab und zumindest einen, dem er bedingungslos vertraute. Der ihm für den Rest seines Lebens eine Freistätte gewähren konnte. Nicht wie die Frau, die gesagt hatte, dass sie aus den USA käme und das große Anwesen am Strand von Sant Vincenc gemietet habe. Die von ihrem reichen Mann erzählt hatte, den sie nie zu Gesicht bekam. Die zwanzig Jahre jünger war als er, langes dunkles Haar, weiße Zähne und große, wippende Brüste hatte und deren Augen ein Versprechen verhießen. Die erst vor einer Woche auf ihn zugekommen war, als er das Deck der Esperanza geschrubbt hatte, um sie, bevor der Herbst begann und die Saison endlich vorbei war, hübsch zu machen. Die ihn gefragt hatte, ob er Englisch spräche, ob er ein paar gute Stellen zum Tauchen kenne. Ob er oder jemand anderes ihr vielleicht helfen könne? Die Frau, die ebenso gut tauchen konnte wie er und das schon am ersten Tag, als sie mit ihm aufs Meer hinausgefahren war, unter Beweis gestellt hatte. Die Frau, die er bei dem großen Anwesen in knapp einer Stunde hätte abholen sollen. Die Frau, die ihn verraten haben musste, trotz des Versprechens in ihren Augen. Denn eine andere Erklärung gab es nicht. Nicht, seit Ignacio Ballester frühmorgens zu ihm nach Hause gekommen war und ihm erzählt hatte, was sein Neffe berichtet hatte, und sich dafür entschieden hatte, ihn zu warnen, statt ihn zu verraten. Er hatte nur das Nötigste und die kleine Tasche, die immer fertig gepackt dastand, mitnehmen können. Was völlig ausreichte, denn im Haus gab es nichts mehr, das noch Aufschluss über ihn oder das Leben, das er seit jenem Freitagabend vor mehr als zwanzig Jahren an der Kreuzung Tunnelgata-Sveaväg geführt hatte, hätte geben können. Seinen Mietwagen hatte er abgegeben, weil das so am si542
chersten war, und was wollte er auch damit. Ignacio hatte ihn runter zum Hafen und zur Esperanza gefahren. Hatte seine Hand genommen und ihm viel Glück auf dem Meer gewünscht. Eine Alternative gab es nicht, und das war ja auch der Grund, weshalb die Esperanza dort vor Anker lag. Ein schönes kleines Boot, aber auch eine Versicherung und eine ständige Erinnerung. Geborgenheit, Freiheit und das zu einem geringen Preis. Nur noch einen Tag und eine Nacht auf dem Meer. Gebratenes Za nderfilet, Butter und Zitrone, gekochte Pellkartoffeln, Bier und kalter Schnaps. Leckerer hätte es in all seiner Schlichtheit nicht sein kö nnen, aber Johansson hatte trotzdem keinen richtigen Appetit. »Wer von meinen Leuten hat ihn gewarnt?«, fragte Joha nsson, als er den ersten Bissen heruntergeschluckt hatte. »Du ha ttest die spanischen Kollegen bestimmt gebeten, ein paar lokale Talente abzukommandieren, um diese kleinen Damen zu be schützen, die du runtergeschickt ha st. Einer von denen war zufä llig der Neffe des Mannes, der die Werft besaß, auf der Hedberg sein Boot ha tte bauen lassen. Ihm fiel wohl plötzlich auf, da ss deine so g ena nnten Mitarbeiterinnen nach einem alten Kunden seines Onkels suchten. Er rief den Onkel an und riss das Maul auf. Daraufhin fuhr sein Onkel zu Hedbergs Haus und warnte ihn. Es ist nicht das erste Mal, da ss so etwa s pa ssiert, aber da s muss ich dir ja wo hl nicht erst erzä hlen.« »Nein«, sagte Jo ha nsson. »Das brauchst du nicht.« »Du isst so wenig, Lars«, beklag te sich Persson. »Warum isst du nichts? Wo ich mich doch vera usgabt habe.« »Was verlangst du vo n mir, zu m Teufel?« , sa gte Johansson. »Ist dir nie in den Sinn gekommen, da ss ich dich mit nach Stockholm nehmen und einbuchten kö nnte?« »Nein, nie«, entgegnete Pe rsson und lächelte freundlich. »Wofür auch, wenn ich fragen darf?« 543
»Für das, was du gerade erzä hlt ha st«, sagte Jo hansson. »Nein«, Persson schüttelte den Kopf. »Die Idee ist mir nie gekommen. Und falls du das doch tun solltest, hab ich einfach keine Ahnung, worüber du redest. Einer der Vo rteile, in der Sa una zu sitzen, wenn man über so etwas spricht. Kein Haufen Kleidung, in dem Leute Wanzen und anderes Ungeziefer verstecken können. Prost, übrigens.« »Prost«, sagte Joha nsson und leerte sein beschlagenes Glas. »Obwohl ich vo llstes Verständnis dafür habe, dass du ein wenig mitgenommen bist«, sagte Persson. »Wer wäre das nicht nach so einer Rä uberpisto le. Aber so wie du ein bisschen Überblick darüber gewinnst, wirst du mir dankbar sein.« »Dir da nkbar sein«, wiederholte Joha nsson. »Wofür denn? Da für, da ss du Hedberg getö tet ha st?« »Dafür, dass ich für uns ein Problem gelöst habe. Für dich und mich und alle anderen, die wie du und ich sind. Und nicht zuletzt für meinen einzigen Freund Erik. Wäre es nicht seinetwegen gewesen, hätte ich den Arsch sogar am Leben lassen können.« »Aber du musst doch Hilfe gehabt haben?«, sagte Johansson. Nach dem, was du heute Morgen geta n hast, kannst du wohl kaum mit ei nem reg ulä ren Linienflug zeug geflogen sein und jetzt hier am Tisch sitzen, dachte er. »Es würde mir nie in den Sinn ko mmen, über so etwas zu reden«, Persso n schüttelte den Kopf. »Ein guter Kerl schafft das auf eigene Faust. Wie, zum Teufel, würde es denn aussehen, wenn solche wie wir sich nicht trauten, füreina nder einzustehen? « Als Joha nsson ein paar Stunden später auf dem Rückweg im Taxi saß, klingelte sein ro tes Mobiltelefon. Das Mobiltelefon, dessen Nummer nur seine engsten Vertra uten besa ßen. 544
»Ja«, sagte Johansso n, der sich nie mit Namen meldete, wenn da s Rote klingelte. Holt, dachte er. »Wo ha st du gesteckt? Ich hab seit Stunden versucht, dich zu erreichen.« Holt schien nicht gerade erfreut. »Hatte jede Menge zu erledigen« , sag te Jo ha nsso n. »Erzähl, ich bin ganz Ohr.« »Er ist tot«, sagte Holt. »Tot«, rief Johansso n. » Scheiße, was sag st du da?« Die spanische Po lizei hatte mit ungewohnter Schnelligkeit reagiert. Ihre Ermittlung über den Bootsunfall vor Cap de Formentor war schon ein paar Wochen später vom eigenen Verbindungsmann der Zentralen Kriminalpo lizei in Spa nien per Kurierpo st eingetro ffen. Rein technisch habe man nicht so viel gehabt, auf das man sich hätte stützen können. Man habe verstreute Bootsteile gefunden. Das Einzige, auf was man von Kjell Gö ran Hedberg gestoßen wäre, sei sein linker Unterschenkel gewesen. In den Gewässern dort tummelten sich die Haie, das sei also ga nz n atürlich. Es g ebe sogar weiße Haie in der Gegend. Er sei bekannt dafür, nicht viel übrig zu lassen, wenn er fertig war. Da ss es sich um das Bein von Hedberg handelte, stünde zw eifelsfrei fest. Vergleiche mit dem DNA-Ma terial, da s man bei der Durchsuchung in seinem Haus gefunden habe, schlösse aus, dass es jemand anderem gehören kö nnte. Bei der Ermittlung ha be ma n sich sta ttdessen a uf Zeugenaussagen verlassen müssen. Drei Personen, die draußen auf der Landspitze auf der Aussichtsplattform gestanden hätten, als es passiert war, hatten der Polizei erzählt, wa s sie gesehen hatten. Alles deute auf einen Gasunfall hin, der durch ein Leck im Tank des Grills, der sich an Bord befunden hatte, verursacht worden sei. Vermutlich, als Hedberg ihn angestellt ha tte, um das Frühstück zuzube reiten. Joha nssons spanischer Verbündeter El Pastore ha tte sich mit einem persönlichen Brief an ihn gewandt. Irgendwelche Anhaltspunkte, die einen Hinterhalt vermuten ließen, habe er nicht. Er teile im Gegenteil die Auf545
fassung, zu der auch seine Ko llegen bei der Kriminaltechnischen Abteilung der Polizei in Palma geko mmen seien. Es handele sich um so einen unglücklichen Zufall, der leider selbst den am besten vorbereiteten Polizeieinsätzen einen Strich durch die Rechnung machen könne. Joha nsson hatte den Leiter seiner internationalen Einheit aufgefordert, einen kurzen und freundlichen Dankesbrief zu schicken. Selbstverständlich ohne ein Wort über den geschwätzigen Mita rbeiter des Pastors zu v erlieren. Wie hätte er auch etwas über ihn verlauten lassen können, ohne in Erklärungsnot zu geraten? Außerdem war da s nicht sein Bier. Die rechte Sache am rechten Platz, dachte Joha nsso n, als er die Ermittlungsunterlagen über diesen Todesfall in ein internes Kuvert zur Weiterleitung an die Kollegen steckte, die sich bei der Zentralen Kriminalpolizei um die Identifizierung schwedischer Mitbürger kümmerten, die bei Unfällen im Ausland umgekommen war en. Eig entlich hä tten sie sich damit beschäftigen sollen, den Mord an einem schwedischen Ministerprä sidenten a ufzuklären, a ber der Ma ngel a n sinnvollen Arbeitsa ufgaben in dem betreffenden Fall hatte bewirkt, da ss sie sich seit mehreren Jahren vor allem anderen Dingen widmeten. Drei Wochen nach Kjell Göra n Hedbergs Hinscheiden beschä ftig te sich Jo ha nsso n drei Tage la ng da mit, hinter sich aufzuräumen. Zuerst sammelte er alle Unterlagen zusammen, die da s Resultat seiner Anstrengungen und der seiner Mitarbeiter gewesen waren. Ließ den Großteil im Schredder landen und steckte den Rest in einen Ordner. Am Abend, na chdem seine Arbeitskollegen bereits nach Ha use gega ngen waren, beg a b er sich eigenhändig in den Palmeraum hinunter und verteilte den Inhalt seines Ordners auf die ta usend, die dort scho n standen. Genau wie im Alten Ro m ließ er die Gerechtigkeit auf den Zufall vertra uen, nachdem alles andere diese im Stich gela ssen ha tte. 546
Dann löschte er das Licht und ging. Im Stillen wünschte er zukünf tigen Archivforschern noch viel Glück. Am nächsten Tag aß er ausführlich mit der Oberstaatsanwältin zu Mittag, die auch die Chefin der Pa lme-Einheit war. Ihr überreichte er die Aktennotiz zur zukünftigen Archivierung des Materials der Palmeermittlung, die Lisa Mattei auf seinen Wunsch hin angefertigt hatte. Wie dieser gigantische Papierberg am besten für die Zukunft bewahrt werden könne und er selbst und seine Mitarbeiter zugleich die Rä umlichkeiten für sich zurückerobern könnten, die sie doch so dringend für das benötigten, mit dem sie sich hauptsächlich beschä ftig ten. »Wenn wir uns mit normalen Disketten und Sticks zufriedeng eben könnten«, sagte Johansson. »Wenn wir das ganze Material nur auf Datenspeicher überführen und es entsprechend der neuesten Technik speichern könnten, gäbe es absolut nichts, das dich daran hindern würde, es an einer normalen Schnur um den Hals zu tragen«, sagte er. »Jedenfalls in überschauba rer Zu kunft«, schob er hinterher. Um zu unterstreichen, da ss er da s ernst meinte, fischte er seinen eigenen Stick aus der Tasche. Der Stick, der bereits zehn Gigabyte umfa sste, am selben Ring wie sein Schlüsselbund hing und weniger Platz als seine eigenen Schlüssel beanspruchte, obwo hl er genügend Speicherkapazität besaß, um eine ganze Wand mit Ordnern zu beherberg en. »Ich hätte dann aber gerne einen Amethyst auf meinem Stick«, antwortete die Oberstaatsanwältin und lächelte ihm zu. »Selbstverständlich. Der geht auf mich. Wenn du dich darum kümmerst, die Akten unter Verschluss zu halten, und uns erzählst, wie du das rein praktisch bewerkstellig t ha ben möchtest.« 547
»Selbstverständlich«, sagte sie. »Wer sollte das sonst tun? Ich bin dann na türlich gezwungen, auch die Regierung zu informieren.« »Da ha b ich kein Problem mit«, sagte Johansson. Runter in den Keller mit den ganzen Papieren, dachte er. Fünfundzwan zig bis vier zig Jahre unter Verschluss, und was auch immer danach geschah, so betraf das nicht mehr ihn. Und auch kaum jemand anderen. Eventuell noch den einen oder anderen Historiker mit einem Haufen Buchstaben in seinem kleinen Kopf. Blieb da s Wichtigste. Mit seinen Mitarbeitern zu sprechen. Zuerst mit Lisa, weil das am einfachsten sein würde. Dann mit Lewin, weil das im Grunde uninteressant war. Zuletzt mit Anna Holt, denn da s würde bestimmt knifflig werden. »Was willst du jetzt machen, Lisa?«, fragte Joha nsson, während er ihr selbst den Kaffee servierte, um seine g ute Absicht zu unterstreichen. »Ich will zurück an meinen alten Arbeitspla tz bei der hausinternen Informationsabteilung«, antwortete Ma ttei. »Ist das wirklich das, wa s du am liebsten tun würdest?«, ha kte Jo hansso n na ch. »Ja «, sa g te Ma ttei. »O.k.«, entgegnete Joha nsso n. »Dann machen wir das so. Und mehr wurde nicht gesagt. J a n Lewin wa r sich nicht so sicher, o b er a n seinen alten Arbeitsplatz bei der Mordkommission der Zentra len Kripo zu rückkehren wo llte. Er ha be soga r erwäg t, nach über dreißig Jahren im Beruf den Dienst zu quittieren. »Wozu soll das gut sein?«, fragte Joha nsson und sah ihn erstaunt an. »Einmal Polizist, immer Polizist. Das weißt du doch, Jan?« 548
Wenn das so sei, da nn trä fe das leider nicht a uf ihn zu. Der Beruf ha be ihm hart zugesetzt. Außerdem habe er sich vielleicht von Anfang an nicht so ganz dafür geeignet. In den letzten Jahren sei er zunehmend deprimiert geworden. Johansson versuchte, ihn aufzumuntern, indem er ihm von einer Abhandlung über Polizeiforschung erzä hlte, die er kürzlich gelesen hatte. Dem Verfasser zufolge seien es gerade die leicht deprimierten Ermittler, die am allerbesten waren. Allen leichtsinnigen und gut aufgelegten Kollegen weit überleg en. »Man muss anscheinend nicht so scheißvergnügt und gut drauf sein«, sagte Joha nsson und grinste. »Sonst mangelt es dir an Sorgfä ltigkeit und Reflektion.« »Das behauptest du«, sagte Lewin. »Das Problem ist wo hl, da ss es dich mitnimmt. Es frisst dich innerlich auf, wenn du verstehst, was ich meine.« »Verstehe«, sagte Johansson. »Weißt du, was ich gla ube?« »Nein«, sagte Lewin und lächelte schwach. »Dass du eine Frau brauchst«, lautete Johanssons Urteil. Danach führte Johansson in Kürze seine Ideen bezüglich Jan Lewins wirklichen Bedürfnissen aus. Jeder Ma nn bra uche eine Frau. Gute Männer brauchten gute Frauen. So einfach war das, aber zur Sicherheit wiederholte er das zweimal. »Wolltest du denn jemand Speziellen vorschlagen? «, sagte Lewin. »Holt« , erwiderte Johansson. »Anna Holt. Sie mag dich nämlich. Außerdem seid ihr gleichaltrig. Ma n sollte sich davor hüten, hinter jüngeren Talenten herzurennen. Die haben eine Scheiß-Begabung, einem zu entwachsen.« »In ko llegialem Sinne vielleicht«, Lewin rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. »Außerdem bin ich zwölf Jahre älter als sie.« 549
»Ja, wer hätte das gedacht, zum Teufel. Du siehst nicht einen Tag älter als fünfundvierzig aus, und Anna ist doch siebenundvierzig, wenn ich mich erinnere, das sollte do ch wohl funktionieren.« »Du hast gut reden«, sagte Lewin und gab ein zweifelndes Lächeln vo n sich. »Da du bereits weißt, dass sie zwölf Jahre jünger ist, ist dir die Sache vielleicht schon längst durch den Kopf gegangen«, konstatierte Jo ha nsso n. » Wie kommst du dara uf?« »Das kapiert ja wohl jeder ernstzunehmende Polizist«, sagte Johansson. »Weiß man das, dann hat man die betreffende Da me scho n ins Aug e gefasst.« Das Gespräch mit Anna Holt lief besser als erwa rtet. Und bedeutend besser als befürchtet. Holt wollte auch zu ihrer ursprüng lichen Tätigkeit zurückkehren. Nicht nur da s, sie setze voraus, da ss sie das dürfe. »Natürlich«, sagte Johansson. »Du kannst alles haben, wa s du willst. Das weißt du doch.« »Danke«, Anna Holt lächelte. »Das, wa s ich ha be, reicht volla uf.« »Dann ist das beschlo ssene Sa che« , sag te Jo ha nsso n. »Ich habe nur noch eine letzte Frage«, sagte Holt im Aufstehen. »Das ha b ich fast scho n geahnt«, grinste Joha nsson. »Das, was mit Hedberg passiert ist, war doch scho n ein seltsamer Zufall?« »Ja «, bestätigte Johansson. »Das war einer der seltsamsten Zufälle, der mir in meinem ganzen Leben untergekommen ist.« »Und?«, fragte Anna Holt. »Ich war genauso erschüttert wie du, als du mir erzä hlt hast, was passiert war«, sagte Joha nsson und sah sie ernst mit seinen ehrlichen grauen Augen an. »Ich glaube dir«, antwortete Anna Holt, nickte und ging. 550
Am nä chsten Tag kam Lewin in Holts Zimmer, und nach dem üblichen Hüsteln und Räuspern rückte er mit seinem eigentlichen Anliegen hera us. »Hast du vielleicht Lust, mit mir essen zu gehen?« Holt hielt das für eine ausg ezeichnete Idee. Schlug vo r, da ss sie da s schon a m selben Abend machen sollten und am liebsten bei ihr zu Hause. An dem Restaurant, in das er sie einlud, sei sicher nichts auszusetzen, aber auf die Dauer fä nde sie es ein bisschen eintönig, auswärts zu essen. Zudem unnötig teuer. »Das mach ich gerne« , sagte Lewin ohne ein Rä uspern. » Soll ich irg endwa s mitbringen?« »Es reicht, wenn du dich se lbst mitbringst«, sagte Holt. Wenn ich dich bäte, deine Za hnbürste mitzubringen, würdest du bestimmt vorher anrufen und absagen, und das Schlimmste, was eintre ten kö nnte wäre, da ss du meine leihen musst, dachte sie. Die Bezirkspolizeichefin von Stockholm war eine vielbeschäftigte Frau. Erst an dem Ta g, an dem Johansson und die Oberstaatsanwä ltin von Stockholm beschlossen hatten, unter größtmöglichem Stillschweigen die Ermittlungsakten des Palmemordes in den Keller des Po lizeigebäudes zu transportieren, fand sie Zeit für Bäckströ ms Vo rtrag zu selbig er Ang eleg enheit. Anfang s war es auch noch ganz vielversprechend gewesen. Das persönliche Besprechungszimmer der Bezirkspolizeichefin. Eine kleine und hochqualifizierte Scha r. Sie selbst, der J urist der Sto ckholmer Polizei, der Vortragende Bäckström und sein treuer Knappe Fridolin. »Fotzenfritzen«, wiederholte die Bezirkspolizeichefin mit ungläubiger Miene. So hatte alles angefang en, und dann war es nur noch schlimmer geworden.
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Eine Stunde später war alles vorbei. Die Frau Polizeichefin hatte Bäckström kurz zugenickt und sich mit Frido lin ein Gespräch unter vier Augen erbeten. » Ich bin enttä uscht vo n dir, Fridolin«, stellte sie fest, wä hrend sie die Tür hinter ihnen schloss. Am nächsten Tag hatte sich ihr Jurist telefo nisch bei Bäckström gemeldet, um gewisse juristische und dienstliche Elemente klarzustellen. Die Privatperson Evert Bäckströ m ha be die große Freiheit, über da s eine wie da s andere zu denken, wie er wolle, wie beispielsweise über den Mord an Olof Palme, und in dem Maße, in dem er gegen Gesetze und Verordnungen verstieß, fiele das in seine persönliche Verantwortung. Was den Kommissar Bäckström anbela nge, verhielte es sich auch ganz einfach. Aktennotizen der Art, wie er sie tags zuvor an ihn und seine Chefin überreicht hatte, dürften nicht mit seinem Dienstgrad unterzeichnet werden, weil der Inhalt nicht das Gering ste mit Bäckströms Dienst zu tun habe. Täte er es dennoch, ha ndele es sich, wie gesagt, um seine eigene strafrechtliche Verantwortung. Um jegliche Missverständnisse in dem Punkt auszu schließen, habe er auch einen erklärenden Brief geschrieben, der bereits in seinen Briefkasten gelegt worden sei. »Was machen wir jetzt?«, fragte Bäckström und sandte Fridolin den bösen Blick. Du kleine Leuchte, sag was, bevor ich dich da s Klo runterspüle, dachte er. Bäckströ ms Knappe zufolge sei es auf jeden Fall zu früh, um das Handtuch zu we rfen. Stattdessen müsse man sich vielleicht für einen alternativ en Aktionsplan entscheiden. » Wie wär's mit dem Fernsehen, Bäckström?«, schlug Fridolin vor. »Ich ha b auch eine Menge Kontakte zu den Medien.« »Zeitung sschmierer«, schnaubte Bäckströ m, dem Egon inzw ischen auch schon rein körperlich zu fehlen begann. 552
»Hierbei handelt es sich nicht um gewöhnliche Journalisten«, versicherte Fridolin. »Ich kenne einen Mann bei TV4. Ein schweres Geschütz, bleischwer. Er arbeitet bei Kalla Fa kta«, berichtete Fridolin, der zunehmend wie sein neuer Mentor klang. »Tut er da s?«, sagte Bäckström, nickte und nippte nachdenklich an dem guten Malt, um no ch klarer denken zu können. »Tut er da s?«, wiederholte er. Wa ren im Krieg nicht alle Mittel erla ubt? , dachte er. Am Donnerstag, dem 2. November, segnete der Sonderberater das Zeitliche, in dem er gut sechzig Jahre gelebt und gewirkt ha tte. Nicht, weil er riesige Mengen Erbsensuppe und warmen Punsch ko nsumiert hatte, sondern aufgrund völlig natürlicher Ursachen. Sein schlechtes Herz, sein hoher Blutdruck, sein Leben lang ein Zuviel an Essen und al ko holischen Getränken, von dem ihm sein Arzt abgeraten hatte. Eine ständige Nachlässigkeit bei der Medikamenteneinnahme, obwohl derselbe Arzt beto nt hatte, wie wichtig es sei, dass er bis ins kleinste Deta il seinen ärztlichen Vo rschriften Folge leistete. Völlig natürliche Ursachen demnach, und da s große Geheimnis war vielmehr, wie er im Hinblick auf das Leben, das er geführt ha tte, auch nur einen Tag älter als dreißig ha tte werden können. Genau wie sein Mentor, der alte Professor Forselius, war er nachts und in seinem Bett gestorben, sofort und info lge einer massiven Gehirnblutung. Dem Obduktio nspro tokoll zufo lg e gab es mehrere To desursachen, aber da der Obduzent die Frage schließlich gestellt be kommen habe, wolle er auf eine Hauptursache hinweisen. Dass sein Blut so dünn wie Wasser gewesen sei, beruhe auf einer starken Über do sis des blutverdünnenden Medikaments Warfarinna trium, da s er wegen seines schlechten Herzens hatte einnehmen müssen. Ein klassisches, altes Rattengift, das aber von Nutzen für die Heilkunst sei, obwo hl es in Zusammenha ng mit der Einnahme von großen Mengen an Alkohol weitaus gefährlicher sei 553
als Rattengift. Sein hoher Blutdruck habe für den Rest gesorgt. Es habe alles sein logisches Ende und das große Rätsel sei, wie gesagt, wie er überhaupt so alt werden konnte. Die Ermittlungen in diesem Todesfall beinhalteten auch zwei Verhöre. Zum einen eines mit seiner Haushälterin, die ihn tot aufgefunden hatte. Zum anderen eins mit der letzten Person, die ihn lebend gesehen und am selben Abend, als er starb, mit ihm zu Abend gegessen hatte, dem ehemaligen Kriminalkommissar Äke Persson. Persson hatte den Großteil seiner aktiven Zeit bei der Sicherheitspolizei gearbeitet, und ihm zufolge hätten sich dort auch ihre Wege gekreuzt. Sie hätten ein einfaches Drei-Gänge-Menü verspeist. Schwedische Hausmannskost. Zuerst ein Stück Hering mit ein paar Schnäpsen und Bier, dann Seemannssteak vom Kalb, zu dem sie sich eine Flasche Rotwein geteilt hätten, und zum Dessert hausgemachten Apfelpie, den die Haushälterin des Gastgebers zubereitet hätte. Ein kleiner Cognac zum Kaffee und eventuell das eine oder andere, das er vergessen habe, aber auf keinen Fall zu viel des Guten. Sie hätten den Abend mit einer Partie Billard und einem kleinen Gute-Nacht-Grog beschlossen. Dann sei Persson nach Hause gefahren. Sein Gastgeber sei wie immer bei bester Laune gewesen und habe sogar für ihn gesungen, als Persson sich ins Taxi gesetzt habe. Was er genau gesungen habe, daran könne er sich allerdings nicht mehr erinnern. Was auch immer das mit der Sache zu tun habe. Der Sonderberater sei also eines natürlichen Todes gestorben, und was den Zeugen Persson betraf, hätte er gerne so lange wie möglich leben dürfen. Schmerzlich vermisst und niemals vergessen von seinen Lieben und Vertrauten, Verwandten, Freunden und Arbeitskollegen. Zudem ein Mann mi t einem guten Gedächtnis, der ein paar Wochen vor seinem Ableben seinem Testament einen Zusatz hinzug efügt hatte, in dem er dem Leiter der Zentralen Kriminalpolizei, Lars Martin Johansson, ein altes Buch über das Magdalen College in Ox ford vermacht ha tte. 554
»Für meinen lieben Freund Lars Martin Joha nsson. Zur Erinnerung an die Hirsche im Pa rk von Magdalen, zur Erinnerung an unsere za hlreichen aufmunternden Gespräche und weil ich endlich einmal das letzte Wort habe.« Johansson nahm sowohl an dem Begräbnis auf dem No rra Kyrkogä rden als a uch a n dem anschließenden Mittag essen im Grands Franska Restaurant teil. Auch Persson war dort, und als sie fertig gespeist und Abschied von den nä chsten Angehörigen genommen hatten, waren sie zu Johansson nach Hause gefahren, um in Erinnerung an den Verstorbenen einen Grog zu trinken und sich in Ruhe und Frieden unterhalten zu können. »Was sagt denn deine Gattin dazu?«, fragte Persson, als sie auf dem Heimweg zu Johanssons gemütlicher und geräumiger Wohnung auf Sö der im Taxi saßen. »Keinen Pieps«, sagte Johansson. »Sie befindet sich auf einer Konferenz. Sie ko mmt nicht vor heute Abend wieder.« Joha nsson vergeudete keine Zeit mit dummem Gerede. Führte seinen Gast in sein Arbeitszimmer, mischte ihnen zwei starke Grogs, bo t ihm den größten Sessel an und ließ sich auf dem Sofa nieder. »Ich ha be mir ein wenig Sorgen gemacht, als ich die Ermittlungsakte zu d em Todesfall gelesen habe«, sagte Joha nsson. »Könnte es sein, da ss dein Ordnungssinn Amok gelaufen ist?« »Ach wa s, vergiss es«, sagte Persson und schüttelte den Kopf. »Weder du noch deine Mitarbeiter müssen sich wegen irgendetwas Sorgen machen«, beruhigte er ihn. »Unser gemeinsamer Freund hat sich zu Tode gegessen. Hat seine Kerze an beiden Enden abgebrannt. Sicherheitshalber ha t er sie auch noch in der Mitte angezündet, so ei nfach war da s.« »Schön zu hören«, sagte Jo hansson. »Was glaubst du denn über die Sache mit Bäckström? Als ich letzte Woche mit Jarnebring gesprochen habe, hab ich von ihm gehört, da ss er mehr oder weniger die Wä nde hochgeht, 555
wenn er nicht gerade wegen seiner ganzen Verschwörungstheorien, die ihn erfüllen, wie ein Sperrballon durch die Gegend schwebt. War bestimmt irgendein Journalist von TV4, der Bo a ngerufen ha t, um zu fragen, ob er irgendetwas über eine geheimnisvolle Sexspur im Palmemo rd wisse, über die Bäckströ m dummes Zeug gefaselt hat.« »Könnte doch nicht besser laufen«, grunzte Persson. » Wenn Bäckström da s beha uptet, dann müssen sogar diese Idioten vom Fernsehen kapieren, dass das so auf keinen Fall gewesen sein kann. Darüber hina us ist er doch auch krankg eschrieben? Wenn ich raten darf, wird der kleine Fettsack da s no ch ziemlich la nge sein.« »Das behauptest du«, sagte Johansson. »Aber jetzt mal zu etwas ganz anderem. Wann hast du die Puzzlestücke eigentlich zusammengesetzt?« »Im Herbst 1992. Als wir von den spanischen Ko llegen Bescheid erhielten, dass Waltin auf Mallorca ertrunken war. Da entschied Berg sich dafür, da ss wir bei Waltin zu Hause eine Ha usdurchsuchung machen sollten. Hätte er da s nicht geta n, hätte ich es trotzdem gemacht«, sagte Persson und nickte. »Ich ha be mich selbst darum gekümmert. Ordnung und Klarheit. Keine Schlamperei. Um seine Stadtwohnung, seinen Hof unten bei Strangnä s, um drei verschiedene Bankfächer und um eine zusätzliche Wohnung in der obersten Etage des Hauses in Norr Mälarstra nd, in dem er wohnte. War als Sitz irgendeiner Firma, die er besaß, angegeben. »Hast du denn was Interessantes g efunden?« , fra gte Johansson, ohne im Mindesten neug ierig zu wirken. »Nein«, sagte Persson und schüttelte den Kopf. »Nur eine Tüte mit alter Kleidung, Schuhen, Winterkleidung und einer Strickmütze. Die ha b ich noch am selben Tag verbra nnt. Nichts, was sich aufzubewahren lohnte. Die Kleidung war noch nicht mal gewaschen. Dann noch anderer Müll von geringem Interesse, und hauptsächlich ha t der sich um Klein Wa ltins beso ndere Neig ung geha ndelt, bev or er im selben Feuer zur Asche wurde.« 556
»Sonst nichts?« »Nichts, von dem du was hö ren willst«, sagte Persso n. »Um ebendieses Deta il hab ich mich gekümmert, als ich mit meiner Flamme die Fähre nach Finnland genommen habe. Irgendwo auf der Höhe von Landsort, wo es ein paar hundert Meter tief sein soll. Sie ist übrigens Finnin, und wir wo llten in ihrer Heimat ihre alten Eltern besuchen. Alt wie Methusalem und quietschv ergnügt. Muss an der Sache mit der Sauna liegen.« » Berg «, warf Jo ha nsso n ein. »Ha st du es ihm erzählt?« » Nein«, erwiderte Persson. »Warum sollte ich? Er hatte doch genug mit seinen eigenen Angelegenheiten zu tun.« »Weshalb hast du dann fünfzehn Jahre mit Hedberg gewartet? Hättest du es nicht gena uso gut auf sich beruhen lassen können?« »Deine Schuld, La rs«, sagte Persson. »Als du vor ein paar Monaten bei mir aufgetaucht bist und angefangen hast, Fragen über Waltin zu stellen, wusste ich, wa s die Stunde geschlagen hatte. Der Mann, der um Ecken schauen kann«, Persson grinste. »Dann war das also im Grunde meine Schuld?«, fragte Joha nsson. »Was heißt schon Schuld« , entgeg nete Persso n und zuckte mit den Schultern. »Du hast mir zwar gesagt, dass du Leim aus dem Arsch kochen wolltest, aber ich ha b es um Eriks willen geta n.« »Um Erik Berg s Willen? « » Für wen so nst?«, gab Persson zurück. »Was glaubst du, wie sein Nachruf ausgefallen wäre, wenn du Hedberg vor das Stockholmer Amtsgericht gezerrt hä ttest? Was glaubst du, wäre mit der Organisation pa ssiert? Und nicht zuletzt mit dir, wa s das betrifft. Du hast ja immerhin sechs Jahre lang bei uns als Operativer Chef gesessen. Und wenn Erik noch gelebt hä tte, wäre er sicher auch im Bau gelandet. Zu r Sicherheit, wenn aus keinem a nderen Grund. Ich gla ube, da ss sogar du dir das Lachen verkniffen hä ttest, wenn die Medientrottel 557
sich an dir gütlich getan hätten. Denn du glaubst doch wohl nicht, dass die sich mit Waltin und Hedberg zufriedeng egeben hä tten?« »Ich verstehe, was du meinst«, sag te Jo ha nsso n, der sofort an seine Frau denken musste. »Und wer hat dir geholfen?«, fragte Johansson. Jetzt ist es vorbei, dachte er. »Die letzte Frage. Sind wir uns da einig?« »Ja«, sagte Joha nsso n. »Danach ziehen wir einen Strich unter die Sache.« »Einen Toast auf den Da hingeschiedenen« , sagte Persson und hob sein Glas. »Der Mann hatte nicht nur eine große Klappe.« »Einen Toast auf ihn«, wiederholte Jo hansson. Das wusstest du ja schon la nge, dachte er. »Ich habe übrigens ein Geschenk für dich« , sag te Johansson, steckte die Hand in die Hosentasche und gab ihm die kupferumma ntelte Bleikugel, die er von der Arbeit mitgebracht ha tte, als er zur Beerdigung gefahren wa r. »Die berühmte fünfundsiebzigprozentige?«, sagte Persson, lächelte und hielt sie in seiner unwahrscheinlich großen rechten Pranke zw ischen Da umen und Zeigefinger hoch. »Das weißt du also auch«, stellte Jo ha nsso n resigniert fest. »Unser verstorbener Freund hat es mir erzählt«, sagte Persson. »Er hatte Ohren, an denen alles kleben blieb, musst du wissen.« »Ist mir bekannt«, sagte Joha nsson. »Ich ha be drei Brüder und drei Schwestern«, sagte Persso n. »Zusa mmen haben sie ein Dutzend Kinder zustande gebracht. Hab ich dir das scho n erzä hlt?« »Nein«, sagte Johansso n. » Ich ha be a uch drei Brüder und drei Schwestern.« Zusa mmen ko mmen wir sogar noch auf mehr Nachwuchs als ihr, da chte er. 558
»Ich weiß«, sagte Persson und musterte die Kugel, die er in der Hand hielt. »Meine Neffen und Nichten sind jetzt erwachsen, aber als sie noch klein waren, ha b ich immer für sie geza ubert. Wenn sie ein Fest feierten, sollte Onkel Ake für sie za ubern. Ich wurde ziemlich gut da rin. Hätte davon sogar meinen Lebensunterhalt bestreiten können. Wenn man da s einmal gelernt hat, dann verlernt man es nie wieder.« » Da s gla ub ich dir«, sagte Joha nsso n. »Gut«, sagte Persson. »Wo so llte es auch sonst hinführen? Wenn solche wie wir sich nicht aufeinander verla ssen kö nnen?« » Nicht so weit! Vi elleicht sogar richtig schlimm enden, vermute ich«, pflichtete Joha nsson ihm bei und nippte an seinem Grog. »Was hältst du denn hiervon?«, sagte Persson, zog die rechte Hemdma nschette herunter, deutete auf die Kugel, die er in den Fingern hielt, hob die Hand, ballte sie, drehte seine riesige Fa ust, bevor er sie wieder öffnete und seine leere Ha nd zeig te. » Simsala bim«, sa gte Persson. Am selben Abend, nachdem seine Ehefrau nach Hause gekommen war und sie sich schlafen gelegt hatten, träumte er. Den einzigen Albtraum seit seiner Kindheit. Diesmal war keine Äthernarko se schuld, er ha tte auch noch nicht mal besonders viel getrunken, und er war definitiv kein Elfjähriger mehr. Und doch war er frei gefallen. Frei gefallen, gena u wie im Traum. Wa r einfach direkt nach unten gewirbelt, kopfüber in ein schwarzes Loch hinabgefallen, das kein Ende nahm. Er hatte sich mit zum Zerreißen gespa nnten Muskeln kerzeng era de im Bett aufgesetzt, ohne zu wissen, ob er lebte oder tot war. Irgendetwa s anderes musste er auch geta n ha ben, weil Pia ihn so hart am Arm pa ckte, da ss es schmerzt e. »Wie geht's dir, Lars? Gott, hast du mich erschreckt.« »Ich lebe«, rief er. Tu ich das wirklich?, dachte er. 559
»Natürlich lebst du«, sagte Pia und streichelte seine Wange. »Das wa r nur ein Traum. Ein Albtraum. Du bist einfach nicht a n so etwas gewöhnt. Vergiss nicht, dass du mir versprochen ha st, hundert zu werden.« »Hab ich nicht vergessen. Versprochen«, sagte Jo hansson und schüttelte den Kopf. Ich lebe, dachte er. »Es ist doch nichts anderes passiert? Da ist nichts, was du erzählen möchtest? Nichts, wa s du zu erzählen vergessen hast?« »Ich werde den Dienst quittieren« , sagte Joha nsso n. »Ich hab schon mit ihnen gesprochen. Ich bin jetzt fertig da mit. Ich da chte, dass ich nie damit fertig werden würde, a ber jetzt bin ich so weit.« »Und etwas anderes ist nicht passiert? Etwas, das ich wissen sollte? « »Nichts«, beruhigte sie Johansson. »Nichts ist passiert.« Endlich, dachte er. Endlich ist es vorbei. Wahrheit, Mythos oder nur eine simple Lügengeschichte? Wie dem auch sei, aber am frühen Freitagmorgen, den l. Dezember, hallte ein einsamer Schuss durch den Park hinter dem Maria-von-Magdalen-College in Oxford. Die Nacht zuvor war kalt gewesen. Der Boden war weiß von Frost, in Nebelschwaden gehüllt, die vom Fluss Cherwell heraufzogen, als der größte Hirsch des Parks sein Leben ließ. Zwar war er der Größte von allen, aber seit zwei Jahren ließen seine Kräfte nach. Mittlerweile brachte er meistens nur noch Unordnung in das Rudel, störte die Hirschkühe und drängte die jüngeren und lebenskräftigen Hirsche zurück. Deshalb hatte jemand entschieden, dass er abgeschossen werden sollte. Der Mann, der die Flinte hielt, war ein einunddreißigjähriger Jäger von einem der umliegenden Güter. Neben vielem anderen war sein Dienstherr auch Mitglied des Vorstands von Magdalen und kümmerte sich nebenbei um die Wildhege beim College. Aber er war kein Proctor, mit Umhang und hohem schwarzem Zylinder bekleidet, denn der gehörte einer längst vergessenen Zeit an. Er war vielmehr ein junger und sehr professioneller Wildhüter, der mit einer grünen Kappe und einer Wachsjacke bekleidet war. Der sich, bevor er schoss, vergewissert hatte, dass sich ausreichend Schussfang hinter der Beute befand, der am Abend zuvor die Patronen eingelegt hatte, 560
um nicht unnötig den Frieden in den heiligen Hallen der Gelehrten zu stören, und der kurzen Prozess gemacht und die Kugel in den Hals des Hirsches geschossen hatte. Der Hirsch stürzt sofort, fällt auf den Kopf und das Geweih, mit eingeknickten Vorderläufen und einigen letzten, strampelnden Tritten mit den Hinterhufen. Das rote Blut färbt den weißen Frost, ein letztes schnaufendes Ausatmen. Das rote Blut, das sich deutlich von dem weißen Frost abhebt, die Zeit steht für einen Moment still. Aber das ist auch schon alles, und für die anderen im Rudel geht das Leben weiter. Wahrheit, Mythos oder nur eine simple Lügengeschichte? Wie dem auch sei, aber am 1. Advent, am Sonntag, dem 3. Dezember, nahm man im Magdalen College ein Dinner zum Gedenken an den kürzlich verstorbenen Honorary Fellow ein. Kein besonderes Dinner, nur ein typisches englisches Herrendinner mit Hirschsteak, brauner Soße und zerkochtem Gemüse, aber der Wein, den man trank, war ganz ausgezeichnet. Ein Romanee-Conti aus dem bedeutenden Jahr 1985, von dem der Sonderberater vor langem eine größere Partie in dem dreihundert Jahre alten Geschäft Berry Brothers & Rudd in der St. James's Street in London erstanden hatte und damals zudem die Gelegenheit wahrgenommen hatte, dem Weinkeller des Magdalen College ein paar Kartons zu vermachen. In der englischen Oberklasse gibt es die gute Sitte, so gut wie nie während eines Dinners Reden zu halten. Dinner isst man jeden Tag, Dinnerreden hält man nur zu besonderen Anlässen, und an ebendiesem Tag hatte einer der Dinnergaste eine Rede gehalten. Eine Gedenkrede zu Ehren des Verblichenen. Der Redner war selbst sowohl Honorary Fellow als auch Mitglied im Vorstand eines anderen Colleges. Es war mehr als fünfhundert Jahre später gegründet worden und zu einer ganz anderen Zeit als jener, in der die Gebäude zu Ehren des Andenkens an die bedeutendste Jüngerin Jesu errichtet wurden. Es hieß St. Anthony's College, was verglichen mit den Namen anderer Colleges in Oxford durchaus ehrenwert war, aber von allen Eingeweihten wurde es nur »The Spy College« genannt. Es war nach dem ersten großen Weltenbrand von Gönnern gegründet worden, die fast immer anonym bleiben wollten und durchweg unendlich viel Geld besaßen. Als aka561
demische Institution war es die logische Antwort auf die Forderung der Westmächte nach besseren, gebildeteren und verlässlicheren Gehirnen für die Sicherheitsorgane der westlichen Welt. Vielleicht das historische Erbe, als Reaktion auf die fünf Verräter von Cambridge, wenn man es denn vorzog, in solchen Bahnen zu denken. Der Dinnerredner hieß Michael Liska, war während des Zweiten Weltkrieges in Ungarn geboren worden und als Fünfzehnjähriger nach dem Aufstand gegen die Russen 1956 in die USA geflüchtet. Bemerkenswerte akademische Qualifikationen besaß er nicht und erst recht nicht in der Gesellschaft, in der er sich jetzt befand. Er hatte sein ganzes Erwachsenenleben für den amerikanischen Nachrichtendienst CIA gearbeitet, eine erfolgreiche Tätigkeit, und als er vor zwei Jahren in Rente gegangen war, war er Deputy Director der Organisation gewesen. Hatte sogar bei einigen Anlässen den Chef der Organisation vertreten, als die Umstände den Präsidenten der USA zu schnellen und radikalen Veränderungen gezwungen hatten. Ein großer, grobschlächtiger Mann, der stets »Der Bär« genannt worden war, obwohl Liska »Fuchs« auf Ungarisch heißt. Michael »The Bear« Liska, der mittlerweile ein überaus rüstiger Rentner von siebenundsechzig Jahren war. Obwohl er schon als Fünfzehnjähriger in den Straßen von Budapest auf einen russischen T54 geklettert war, einen Molotowcocktail durch die geöffnete Turmluke geworfen und einen Kugelhagel durch den Körper des Fahrers gesandt hatte, als dieser versuchte, aus dem brennenden Panzer zu kriechen. Darüber und über andere, ähnliche Geschichten verlor er selbstverständlich kein Wort. Für seine gelehrten Zuhörer sprach er stattdessen über seinen schwedischen Freund und Waffenbruder, mit dem ihn eine fast vierzigjährige Freundschaft verband. Er leitete seine Gedenkrede für den Verstorbenen damit ein, über die wissenschaftlichen Errungenschaften des Freundes Rechenschaft abzulegen. Die entscheidenden Beiträge, die er auf dem Gebiet der Mathematik zur harmonischen Analyse geleistet habe, die Bedeutung, die diese für die Kodierung und Verschlüsselung für die nachrichtendienstlichen Tätigkeiten gehabt hätten. Liska stellte ihn auch in einen historischen Kontext. Er sei der letzte und jüngste der drei großen Mathematiker, die von einer Gabe Gebrauch ge562
macht hätten, wie nur Gott der Allmächtige sie ihnen verliehen haben konnte, um Freiheit und Recht zu verteidigen. Arne Beuling sei der Erste von ihnen gewesen. Er habe als Professor der Mathematik an der Universität von Uppsala gewirkt, habe sich 1940 widerwillig als wehrpflichtiger Sergeant in den Dienst der Nachrichtenabteilung des Verteidigungsstabs gestellt und habe danach innerhalb von vierzehn Tagen mit Papier, Stift, harmonischer Analyse und einem höchst außergewöhnlichen Kopf die geheimen Codes der Deutschen für die Telekommunikation geknackt. Sein Kollege und Zeitgenosse Johan Forselius sei Professor der Mathematik an der Königlich Technischen Hochschule gewesen, und mit den Rechnern der neuen Zeit und seinen eigenen Beiträgen zur mathematischen Primzahltheorie habe er dafür gesorgt, dass die Nachrichten, die die Demokratien der westlichen Welt unbedingt verheimlichen wollten, auch verheimlicht wurden. Bis zum Ende der Zeit, wenn notwendig. Dann der jüngste der drei, für den man sich nun versammelt hätte, um ihm ein letztes Geleit zu geben. Forselius' Schüler, der im Alter von neunundzwanzig Jahren Professor der Mathematik an der Universität Stockholm geworden sei, und zwar mit einer Abhandlung über stochastische Variablen und harmonische Teilungen. Eine Arbeit, die über viele Jahre die Aufdeckung von allen bösen Anschlägen und heimlichen Hinterlisten von Diktaturen beträchtlich erleichtert hätte. Liska beendete seine Rede damit, die Schlussworte eines Briefes zu zitieren, den er von seinem alten Freund erst einen Monat vor dessen Ableben erhalten hatte. »Ungeachtet der Frage, ob Wahrheit absolut oder relativ ist, und ungeachtet der Tatsache, dass viele von uns auf der Suche nach ihr sind, bleibt sie am Ende doch fast allen verborgen. In der Regel aus Notwendigkeit oder zumindest aus Fürsorge für jene, die sie doch nicht verstehen würden.« 563
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