Stig Dalager
Zwei Tage
im Juli
Roman
Aus dem Dänischen von Heinz Kulas Gustav Kiepenheuer Verlag
Die Originalaus...
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Stig Dalager
Zwei Tage
im Juli
Roman
Aus dem Dänischen von Heinz Kulas Gustav Kiepenheuer Verlag
Die Originalausgabe unter dem Titel »To dage i juli« erschien
2002 bei Tiderne Skifter, Kopenhagen.
Der Autor dankt Politikens Fond, Jorcks Fond, Berlingske
Fond, Hejgaards Fond und der deutschen
Botschaft in Kopenhagen für die finanzielle Unterstützung
bei der Entstehung des Romans.
Die Übersetzung wurde gefördert vom
Augustinus-Fonden, Kopenhagen.
ISBN 3-378-00660-9
1. Auflage 2004 © Gustav Kiepenheuer Verlag GmbH,
Berlin 2004
Copyright © 2002 Stig Dalager
Einbandgestaltung gold, Anke Fesel/Kai Dieterich
Druck und Binden Rodesa S. A. Villatuerta
Printed in Spain
www.gustav-kiepenheuer-verlag.de
Der Autor, in Dänemark vor allem bekannt durch Theaterstücke und Drehbücher, wagt sich mit seinem 1. Roman an einen schwierigen Stoff. Dargestellt werden der Vorabend und der Tag der Ausübung des Attentates auf Hitler im Juli 1944. Zentrale Figur ist Claus v. Stauffenberg, seine Motivation für das Attentat, die Formierung des militärischen Widerstandes, vorausgegangene gescheiterte Attentatsversuche etc. Auch der Mensch Stauffenberg mit seiner Liebe zu Familie, Kirche, Lyrik und Musik wird beschrieben. Demgegenüber stellt Dalager Hitler, den er im Medikamenten-Delirium träumen lässt, um Erinnerungen an Kindheit und Jugend, sowie seine Beziehung zu Frauen zu erzählen.
Mit diesem Roman stehe ich tief in der Schuld bei einer Reihe hervorragender historischer Werke über Claus von Stauffenberg und Adolf Hitler. Darunter seien besonders Werner Masers Adolf Hitler: Legende, Mythos, Wirklichkeit (München, 1971) erwähnt, Alan Bullocks Hitler und Stalin – Parallele Leben (London, 1991), Peter Hoffmanns Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder (Stuttgart, 1992), Joachim Fests Staatsstreich – der lange Weg zum 20. Juli (Berlin, 1994), Stig Hornshoj-Mollers Forermyten (Der Führermythos, Kopenhagen, 1998), Ian Kershaws Hitler, 1-2 (London, 1997-2000). Außerdem sind mir die Angaben in Albert Speers Autobiographie Erinnerungen (Neuausgabe: Berlin, 1999) von besonderem Nutzen gewesen. Natürlich ist keiner der Verfasser dieser Bücher für den Bericht in dem vorliegenden Roman verantwortlich, dafür stehe nur ich selber ein, und zwar um so mehr, als er eine Fiktion ist, die sich auf das Wissen der Historiker stützt. Indes wäre der Roman ohne dieses Wissen nicht entstanden. Ich möchte dem ehemaligen Kulturattaché an der deutschen Botschaft in Kopenhagen, Herrn Boris Ruge, Enkel von Fritz von Schulenburg und Charlotte von Schulenburg, für sein Engagement und seine Unterstützung meines Vorhabens danken. Darüber hinaus danke ich Marion Gräfin Dönhoff für ihre Ermunterung und die Mitteilung ihrer persönlichen Erfahrungen mit einigen der am Putschversuch Beteiligten sowie für ihren Eindruck von der Begegnung mit Adolf Hitler. Stig Dalager
Wohin sollt’ ich fliehen?
Ich tat nichts Böses.
Doch jetzt fällt mir ein,
Dies ist die Erdenwelt, wo Böses tun
Oft löblich ist und Gutes tun zuweilen
Als schädlich gilt und töricht.
Lady Macduff in William Shakespeares Macbeth.
Nach Richard Lányi: Shakespeares Dramen, 1934/35,
bearbeitet von Karl Kraus, Kösel-Verlag, München, 1970.
I 19. JULI 1944
Ein wundervoller blauschwarzer Himmel, die verdunkelten Häuser und Gebäude in Steglitz gleiten langsam vorüber, hier ist nichts von der gespenstischen Stimmung in der Mitte Berlins, keine grauen Gesichter, keine Trümmer, kein Kalkstaub, kein Gasgeruch, kein Schwefel; er ist müde und eigenartig wach zugleich, der dumpfe Schmerz im rechten Armstumpf meldet sich plötzlich, doch er ist so daran gewöhnt, ihn zu verdrängen, daß kein Platz für ihn ist, daß er ihn fast heiter stimmt; nur wenn man in diesem Moment sein Gesicht durch die Scheiben des kleinen schwarzen Mercedes mit Schweizer am Steuer sähe, würde man sich über den grauen Schimmer auf der Haut und die leicht aufgelösten Gesichtszüge wundern, die an einen Schlafwandler erinnern. Viele Wochen lang hat er nachts kaum mehr als zwei, drei Stunden geschlafen, die Telefone klingeln unablässig, ohne Rücksicht auf Zeit und Ort, und das Band der Gespräche ist endlos, er kann nicht mehr wie früher auf einem nackten Stein einschlafen. Manche Nacht hat er in seinem Bett in der Tristanstraße geschlafen, während es Bomben auf die Stadt regnete und das Echo der Flak in der Nacht zu hören war. Vor drei Wochen hatte ihm der Chirurg Professor Ferdinand Sauerbruch nach ihrer Besprechung mit einer Reihe von Generalen und Politikern in seinem Haus in Grunewald zu einigen Wochen Erholung geraten, doch er hatte es in den Wind geschlagen. - Ich habe eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, sagte er und begann von seinen Putschplänen zu reden. Sauerbruch wollte ihm nicht zuhören. - Ihre Verwundungen sind zu schwer, Ihr körperlicher Zustand ist zu schlecht, Ihre Nerven sind nicht gut genug, Sie werden zu leicht Fehler machen! sagte er in seiner gewohnt direkten Art.
Er regte sich auf, war verletzt, stand auf und wollte gehen, Sauerbruch hielt ihn zurück und versuchte, ihn zu beschwichtigen. Er fühlte einen leichten Schwindel, Sauerbruchs massive Gestalt verlor sich in dem ohnehin schon schwach erleuchteten Raum, wo eine Lampe dank der unsicheren Stromversorgung plötzlich unheildrohend flackerte. - Sie wissen, daß ich 37 Hitlers Arzt war, sagte Sauerbruch und kniff die Augen zusammen, – schon damals war er für mich ein Grenzfall zwischen verrückt und genial. Er ließ deutliche Zeichen von Größenwahn erkennen, sein starrer Blick hatte mich erschreckt. Ich weiß noch, wie ich zu einem Freund sagte: Herr Hitler hat das Potential in sich, der wahnsinnigste Verbrecher zu werden, den die Welt gekannt hat. Mein Freund lachte und sagte: Was soll man machen? Die Deutschen lieben ihn. Er ist der Rattenfänger unserer Zeit. - Worauf wollen Sie hinaus? fragte er. - Ich unterstütze Sie hundertprozentig bei dem, was Sie tun müssen. Doch momentan fehlt Ihnen die Kraft, sagte Sauerbruch mit Betonung auf momentan und trocknete sich die schweißnasse, gefurchte Stirn mit einem weißen Taschentuch. Aber keiner kann ihn mehr überreden umzukehren. Im Gegenteil, er überredet andere zum Mitmachen. Er macht weiter, obwohl er an ihren Gesichtern sehen und ihren Stimmen hören kann, daß sie verwirrt sind und ihm gewiß nur halb folgen können. Obwohl sie ihn im Stich lassen, obwohl er sich fast selber im Stich ließ. Er muß sich ständig vor Augen halten, wo ihre Grenzen sind, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Das gilt auch für General Wagner, den er vor einigen Stunden in Zossen besucht hat, um die Pläne für morgen durchzugehen. Wagner wollte unbedingt Hasen vor die Flinte bekommen, und als sie ins Gelände gingen, dachte er: Nur das Hasenschießen, sonst interessiert ihn gar nichts.
Nein, er ist ungerecht. Er ist müde und übertreibt. Sein rechtes Auge folgt der Häuserreihe, sein linkes ist weg, eine Klappe verdeckt die Augenhöhle. Vor einigen Wochen noch hätte Schweizer das Glasauge in einer Schachtel im Auto aufbewahrt, jetzt aber ist es egal. Er bittet Schweizer, das Auto anzuhalten, dieser nickt und biegt schweigend in die einsame Straße vor der Kirche ein.
In den letzten vierzehn Tagen ist er mindestens zwanzig Jahre gealtert, falls Alter sich überhaupt messen läßt. Doch seine Instinkte, sein Körper und sein Willen sind immer noch erst siebenunddreißig Jahre alt. Was hatte Trott vor einer Stunde zu ihm gesagt, als er ihm in seinem kleinen Haus gegenübersaß? Ich bin mindestens sechzig und werde nie jünger werden. Ich bin bereit zu sterben, aber wir haben noch ein paar Dinge zu erledigen. Er sieht Trotts große, dünne Gestalt vor sich, das feine Lächeln unter der scharfen Nase. Wenn dieser Mann lächelt, dann verändert sich die Welt. Er steigt aus dem Auto und geht in Richtung der dunklen Kirche, seine langschäftigen Stiefel federn unter ihm, und die kühle Luft und der Himmel machen ihn wach, wieder der Himmel; er ergreift mit seinen drei Fingern den Handgriff der Pforte, dreht ihn halb herum und geht hinein. Seine Schritte auf dem Marmorfußboden hallen unter den Gewölben der kleinen Kirche im Dämmerlicht wider, ein Küster wendet sich apathisch nach ihm um und verschwindet leicht hinkend hinter einem Vorhang, er ist mit der Stille und den schwach flackernden Lichtern mehrerer Altäre allein. Sein Blick fällt auf ein dunkles Gemälde, das Maria Himmelfahrt zeigt, in ihrem schwach erleuchteten Gesicht ist ein melancholisches, frommes Lächeln zu erahnen. Er tritt vor den Altar, zündet eine Kerze an, geht einige Schritte zurück, und
anstatt die Hände zu falten, umfaßt er mit den drei Fingern den lose herunterhängenden rechten Uniformärmel. Er schließt die Augen und murmelt ein Gebet. Plötzlich fällt ihm mitten im Gebet etwas ein, und er lächelt. Als er einmal vor dem Marienbild in der Kirche in Lautlingen stand – er war drei – hatte er zu seiner Mutter gesagt: Ich will nicht nach oben in den Himmel, ich will immer hierbleiben – oder doch in den Himmel, aber nicht ins Fegefeuer und die Hölle. Er ist ruhig, und dennoch zittern die drei Finger der linken Hand leicht, er nimmt die Hand vom Ärmel und geht weiter in die Kirche hinein, sucht sich eine Bank und läßt sich auf das harte Holz gleiten. Hölle. Hiersein. Himmel. Er ist verzweifelt, hatte er nicht zu Ludwig Thormaehlen gesagt: - Ich bin fast darüber verzweifelt, daß ich wieder gesund wurde, daß ich nach Tunesien wieder auf die Beine kam. Ich bin verzweifelt, weil ich vielleicht nicht die Aufgabe erfüllen kann, die mir zugefallen ist. Bilder kommen über ihn, Worte, Geräusche, ferne Bewegungen, Landschaften und Gesichter, die sich ineinander verweben und plötzlich hervortreten. Eine Welle von Lärm und Wut in den innersten Hüllen von Hirn und Rückenmark und ein Gefühl von Doppeltheit, als ginge ein anderer mit ihm, jemand, den er kennt und der ihm im stillen Kirchenraum dennoch fremd ist. Hat er nicht seit je in eben dieser Räumen, die er selten aufsucht, das Gefühl von einem anderen gehabt, einem anderen, dessen Atem er im Nacken spürt und der seine Gesichtszüge trägt, jedoch glücklicher, freier, fast etwas mystisch und unbegreiflich größer ist als er, den er mit den Wäldern verbindet, den Tälern, den Bergen in Oberfranken und mit Namen wie Lautlingen, Jettingen, Amerdingen, Greifenstein, oder mit bestimmten Strophen in Stefan Georges
Gedichten, und der sich plötzlich in Träumen, aus denen er in letzter Zeit nachts erwacht ist, als Fata Morgana eines Jungen herauskristallisiert, der da durchsichtig einige Meter vor seinem Bett steht und ihm zulächelt. Ruft er ihn nicht? Er bildet sich ein zu wissen, wer es ist. Bei der Erstkommunion vermißte er ihn und flüsterte ihm etwas zu, dem Zwillingsbruder Konrad Maria, tot, schon am Tage nach der Geburt fort, aber dennoch wie eine Membran anwesend, eine Verdoppelung des Lebenden und Toten, wodurch manchmal sein Sehvermögen und seine Energie gestärkt sind und er das Gefühl hat, beschützt zu sein, unverwundbar trotz seiner Wunden; manchmal jedoch das Gefühl von Heimatlosigkeit, Halbheit. Alt-jung, heimatlos sehend, ja, er sieht. Sah er nicht in Hitlers einschüchternden Blick, als er ihm 42 im aufgeheizten Hof des Heereshauptquartiers in Winniza, wo die Fliegen und Mücken eine Plage waren, zum erstenmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand und Hitler am Ende den Blick abwenden mußte? Sah er nicht, wie hinfällig und psychopathisch er war, als er ihn fast zwei Jahre später in Begleitung des geschminkten und unter Morphium stehenden Göring auf dem Berghof wiedertraf? In diesen großen Räumen mit Panoramablick und voller geschmackloser Schilderungen und seltsamer Drapierungen und von servilen SS-Leuten und Ohrendienern bevölkert, hier hatte er beim Führer, der in einer plötzlichen Eingebung und aus Eitelkeit Truppenteile und Divisionen auf den Karten hin und her schob, als wären es Spielzeugheere, Verfall und Anzeichen von Irrsinn erlebt. Seine verschleierten Augen und der leiernde Redestrom, jäh von Kunstpausen unterbrochen, in denen er alle Anwesenden forschend betrachtete oder einen fernen Punkt in den Berchtesgadener Bergen fixierte, weckte bei allen Anwesenden die Angst. Man erwartete einen seiner sattsam bekannten
Wutanfälle, die manchmal in einer kompletten und momentanen Lähmung seiner ganzen Beredsamkeit kulminierten; in solchen Augenblicken konnten ihm die Stimme und auch die Luft wegbleiben, um im nächsten Augenblick weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Er hatte gesehen, was er bisher nur durch Gerüchte oder Berichte aus zweiter Hand oder aus sinnlosen Führerbefehlen kannte, die für Zehntausende von Soldaten Gefangenschaft, Elend und Tod bedeuteten und die er in seiner Zeit in der Organisationsabteilung des Generalstabs in Winniza mit aller Kraft abzuwenden versucht hatte. Er hatte in dieser Gesellschaft innerhalb von fünf Minuten die Intrigen und die Rücksichtslosigkeit der obersten Heeresleitung in Winniza durchschaut und wiedererkannt, die, gelähmt und dem Führer zu Munde redend, seinen Befehl, sich nicht zurückzuziehen, gutgeheißen und die Armee von Feldmarschall Paulus im eisigen Niemandsland der Sowjetunion im Stich gelassen hatte. Er hatte in Hitlers, Görings, Keitels Nonchalance und Egozentrik den schwindelerregenden Abstand zwischen den Führern und den gemeinen Soldaten wiedererkannt, die ohne ausreichende Bekleidung und Material in den Schlammpfützen, Eiswüsten und Frostnächten der russischen Steppen ihr Leben aufs Spiel setzten. Als er sah, wie es um die Bewegungsmöglichkeiten auf dem Berghof stand, hatte er zu Generalmajor Stieff gesagt: - Sehen Sie nicht, daß man sich in der Nähe des Führers nahezu zwanglos bewegen kann? Doch Stieff bestand darauf, daß der Führer unberechenbar war und jeden zweiten Tag SS-Wachen in die Konferenzräume befahl, die alle fanatisch bewachten und sich bei der geringsten falschen Bewegung auf jeden stürzen würden. Und dann lachte Stieff sein plötzliches, überlegenes Lachen, das ihm bestätigte, sich nicht geirrt zu haben, als er ihn dem
jungen von dem Bussche gegenüber einen nervösen Rennreitertyp genannt hatte. Stieff, der nicht nur zu ängstlich war, als es darauf ankam, sondern ihn auch im Stich gelassen hatte und erst vor vier Tagen in der Wolfsschanze die Aktentasche mit Sprengstoff außerhalb seiner Reichweite gebracht hatte. Hauptmann Bussche hatte ihn dazu bewegt, als er Ende November des letzten Jahres durch Schulenburgs Vermittlung mit ihm im Quartier des Ersatzheeres in Düppel zusammentraf. Nachdem er an der Ostfront dreimal durch Brustdurchschuß verletzt worden war, saß der Mann mit den hellen Haaren und den hellblauen, aufmerksamen Augen nun in dem spartanischen Raum vor ihm und war davon besessen, Hitler auszulöschen. Während Bussche ihm abwechselnd in die Augen sah und seine Hände anstarrte, erzählte er mit bebender Stimme von einer Erfahrung in Dubno in der Ukraine, bis er schließlich schwieg: Am Ende eines großen Platzes hatten SS-Leute ein großes Loch ausgehoben, zu dem sie jetzt große Gruppen von Juden – Kinder, Frauen, Männer – führten und ihnen befahlen, sich auszuziehen und in das Loch hinunterzusteigen, während sie mit ihren Gewehren und Pistolen herumfuchtelten; auf dem Boden lag schon eine Schicht aus Körpern, einige von ihnen zuckten immer noch; jetzt wurde den Juden befohlen, sich mit dem Gesicht nach unten auf die Ermordeten zu legen, worauf man sie mit Schüssen in den Hinterkopf tötete. - Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, die Sonne schien, und plötzlich tat sich der Boden unter mir auf, sagte Bussche, plötzlich war ein ganz selbstverständlicher, immer gegenwärtiger Zusammenhang zwischen dem, was Menschen einander antun konnten, und dem, was ausgeschlossen war, eine ganz natürliche Ordnung des Universums verschwunden. Ich fühlte ein großes Verlangen, mit den Juden in den Tod zu
gehen oder laut zu schreien, und ich berichtete am selben Tag meinem Regimentschef alles, was ich gesehen hatte, und forderte ihn auf, diese Ungeheuer sofort zu verhaften, doch er lehnte ab. Die sind zu stark, sagte er, wir erreichen nichts weiter, als daß wir selber er schossen werden. Er sagte Bussche, er habe Kenntnis, daß Tresckow, Schulenburg, York und Beck auch von den Massenmorden an den sogenannten rassisch Minderwertigen, insbesondere den Juden wüßten, ebenso hätten sie Kenntnis, daß Millionen russischer Kriegsgefangener umgekommen waren, erfroren, verhungert, in sogenannten Lagern oder unter freiem Himmel an beliebigen Stellen hinter der Front erschossen. Ich zweifle nicht daran, daß die Morde an den Juden vom Führer persönlich und direkt angeordnet sind, sagte er, und daß auch das Heer Blut an den Händen hat. Vor allem wegen dieser Verbrechen müssen wir handeln. Bussche schien seine Klarheit in dieser Frage zu überraschen und konnte anscheinend nicht glauben, daß so viele andere im tiefsten Innern erschüttert waren und auch Bescheid wußten; er hatte sein Wissen viel zu lange für sich behalten und war gezwungen gewesen, es vor den meisten geheimzuhalten, so geheim, daß es fast unwirklich geworden war, und erst jetzt, da er sich das Grauen wieder in Erinnerung rief, verlor er für einige Minuten den Boden unter den Füßen. Das Grauen war wirklich und von dieser Welt, wenn jedoch diese Welt so war, wo war dann die Erlösung? Er sieht vor sich, wie Bussche, als er auch von einem lutherischen Standpunkt aus über die Berechtigung des Tyrannenmordes sprach (er wies auf Luthers Äußerungen zum Recht auf Widerstand hin), wieder ganz anwesend war und ihn unterbrach: - So etwas ist für mich überhaupt nicht mehr wichtig, über diesen Punkt bin ich hinaus. - Wie halten Sie’s mit dem Soldateneid? fragte er ihn.
- Der Soldateneid beruht auf gegenseitiger Treue, er ist jedoch von Hitler gebrochen worden und deshalb ungültig, sagte Bussche und wirkte ganz klar. Sie sprachen darüber, wie ihm Stieff als Mitverschwörer Zugang zu Hitlers Lagebesprechung in der Wolfsschanze oder auf dem Berghof verschaffen könnte, und er deutete an, daß Bussche das Attentat auf Hitler selber ausführen sollte. Als er ihm klarmachte, daß Stieff nicht dazu imstande war, wurde Bussche unruhig. - Er hat Zugang zu Hitler und hält Deutschlands Schicksal in der Hand, sagte er, als würde er laut denken, - ich verstehe ihn nicht. Eine Stunde später willigte Bussche ein, das Attentat auszuführen, und war bereit, am 23. November anläßlich einer Vorstellung von Ostfrontuniformen im Führerhauptquartier in Mauerwald sich zusammen mit Hitler in die Luft zu sprengen – er wollte den Sprengstoff mit einer Handgranatenzündung am Körper tragen und sich im richtigen Augenblick über Hitler werfen. Doch genau wie so viele andere geplante Attentatsversuche wurde nichts daraus. Hitler hatte einen Teufelskreis um sich gezogen – oder waren es reine Zufälle, die ihm immer wieder das Leben retteten? Die Vorführung wurde abgesetzt, die benötigten Uniformen verbrannten einen Tag vorher bei einem Luftangriff vor Berlin in irgendwelchen Eisenbahnwagen. Bussche fuhr an die Front zurück, und er versuchte vergeblich, ihn im Januar wieder für eine Vorführung zurückzubeordern. Bussches Divisionskommandant lehnte es ab, seine Leute als Modepuppen einzusetzen. Er erinnert sich noch immer an Bussches Gesicht, der ihn, nachdem er sich die Sache überlegt hatte, an jenem Oktobertag aufsuchte, um ihm sein Ja zum Attentat zu geben. Es war
ruhig, seine Hände und sein Körper ebenso, doch seine Stimme bebte. Über seinen Augen lag ein Schleier. Er dachte: Er macht es und ist schon dabei wegzugehen. Er spürte seine Stärke und seine Ausstrahlung am ganzen Körper. Er sah seinen verborgenen Schmerz. Er gebrauchte seine Augen, und dennoch war er blind gewesen. Blind war er auch an diesem Tag in Bamberg im Januar 1933 gewesen, als er sich, in Leutnantsuniform auf dem Wege zu einer Abendgesellschaft, von einer hitlerbegeisterten Menschenmenge mitreißen ließ und an der Spitze dieser johlenden Menschen durch die Stadt zog, die NSDAP-Fahnen schwenkten und Kampflieder der Partei sangen; älteren Offizieren hatte er erklärt, daß die großen Soldaten stets Sympathie für eine echte Volkserhebung empfunden hätten. War nicht auch er über Hitlers Ernennung zum Reichskanzler begeistert gewesen, hatte er Hindenburg nicht für einen Reaktionär gehalten, an den sich die Spießbürger klammerten, und hatte er nicht selbst Stefan George gegenüber seine Sympathie für Hitler verteidigt und sich mit mehreren Anhängern des Kreises darüber gestritten, ob es richtig wäre, für ihn zu stimmen, um den bürgerlichen Parteien klarzumachen, daß sie nicht an der Macht bleiben konnten? Er erinnert sich an das Schweigen des Meisters bei diesem Anlaß, an sein Nicken und den plötzlich fernen Blick, als wollte er ein weiteres Mal seine Gleichgültigkeit gegenüber allem unterstreichen, was mit Politik zu tun hatte. Aber hatten alle diese verführerischen Worte, das neue Reich, die neue Ordnung, Deutschlands welthistorische Mission, das Führerprinzip – hatten all diese Worte, die im Munde des Meisters wie Botschaften von einer noch nicht erstandenen Welt und eines geheimen Deutschland klangen, das nur sie gemeinsam hatten, nicht dazu beigetragen, ihn für Hitler und den Nationalsozialismus zu begeistern? Als Soldat, als Offizier
war er dafür gewesen, daß die Nationalsozialisten den erniedrigenden Vertrag von Versailles brachen, er war für den Wiederaufbau und die Vergrößerung des Heeres gewesen, er war national, das waren seine Reflexe, das war seine Erziehung, das war seine Familie und die Geschichte seiner Familie, das war Gneisenau, das waren die Staufer. Doch warum hatte er nicht gesehen und gehört? Hatte der Meister nicht gesagt, wenn die Nationalsozialisten an die Macht kämen, müsse in Deutschland jeder mit einer Schlinge um den Hals herumlaufen, damit man ihn jederzeit aufhängen könne; und wer das nicht wolle, der werde gleich gehängt? Noch im April 1942 hatte er in der Organisationsabteilung des Generalstabs in Mauerwald geglaubt, es wäre für das Heer ein Geschenk, daß Hitler selber die Führung übernahm und mehrere Feldmarschälle und Generale entlassen hatte; er hatte in ihm eine hervorragende und willensstarke Persönlichkeit gesehen und fand es natürlich, daß er in allen Fragen der Kriegsführung die letzte Entscheidung traf, und als ihm in einer Diskussion weder sein Bruder Alexander noch sein Vetter Clemens zustimmten, war er aufgebraust und hatte gesagt, das Schicksal der ganzen Nation hänge von der direkten Verbindung dieses Mannes zum Generalstab und zum Heer ab. In seinem Glauben an Hitler hatte er Generalleutnant von Loeper zurückgewiesen, der ihm vertraulich von dem sinnlosen Befehl berichtete, den er als Kommandeur der 10. Infanteriedivision in der Panzergruppe 2 in der Nähe von Moskau erhalten hatte, wonach er sechshundert Kilometer weiter nach Gorki vorstoßen sollte, obwohl er nur über zehn Prozent seines Materials verfügte. Er erinnert sich an Loepers Enttäuschung und Verblüffung, als er Hitlers Absicht verteidigte, die Hauptstadt einzunehmen und alles auf eine Karte zu setzen, und als er ihn überzeugen wollte, daß die
Ostfront immer noch zu halten und die Sowjetunion zu besiegen wäre. - Welchen Preis müssen wir dafür zahlen, Stauf? hatte Loeper ihn gefragt, und er hatte geschwiegen. Auch den damaligen Sekretär an der deutschen Botschaft in Moskau, Herwarth von Bittenfeld, hatte er im selben Frühjahr von Hitlers Vorzügen und der Schwäche und dem fehlenden Überblick seiner Berater überzeugen wollen, doch hatte Herwarth ihm nicht direkt gesagt: - Dieser Mann ist eine Inkarnation des Teufels, er müßte verhaftet werden! Durch all diese Briefe und Frontberichte, die er erhielt, wußte er ja Bescheid, er wußte, daß die Winterausrüstung der Truppen überhaupt nicht ausreichte und daß Hitler und Keitel dies völlig falsch berechnet hatten und daß aus demselben Grund Zehntausende im russischen Winter erfroren. Jeden Tag hatte er persönlich in der Organisationsabteilung des Generalstabs daran gearbeitet, weitere Bekleidung zu beschaffen und umzuleiten; im März 1942 wußte er, daß nur ein verschwindend geringer Teil der einhundertzweiundsechzig Infanteriedivisionen an der Ostfront für Angriffsoperationen einsetzbar war und es um die sechzehn Panzerdivisionen noch schlimmer stand; er wußte, daß über eine Million Männer bereits verloren war; er wußte aus den Briefen von Oberst Ulrich Bürker von der 10. Panzerdivision, daß die Männer im Feld auf dem Schlachtfeld bei Borodino vor Moskau (die einfachen Soldaten, von denen er seit seiner ersten Offiziersbestallung immer eine hohe Meinung hatte) mit ihren Fahrzeugen im Schlamm steckengeblieben waren und in Schwärmen von Raketen und Panzern zusammengeschossen wurden, daß die Überlebenden total erschöpft waren, fertig, und dennoch durch sinnlose Führerentscheidungen vorwärts getrieben wurden; er wußte, daß Hitler im Januar 1942 wie ein Wahnsinniger getobt hatte, als Generalstabschef Halder den
Mut besaß, den Führerbefehl anzuzweifeln, die Front ohne Rücksicht auf die Folgen zu halten. All dieses und noch viel mehr hatte er gewußt, doch die Vorstellung von den großen Zangenbewegungen der Truppen durch das südliche Rußland, durch Nordafrika, den Irak und Persien auf den Kaukasus und das Kaspische Meer zu, hatte ihn fasziniert; mit seiner ganzen Überredungsgabe versuchte er eines Tages, Oberleutnant Richard von Weizsäcker vor den Lageplänen im Hauptquartier zu überzeugen, daß der Krieg noch immer zu gewinnen wäre; sie wären Soldaten, und sie hätten eine Aufgabe: Sie kämpften für Deutschland. Doch Weizsäcker war anderer Meinung und fand sein Vertrauen in die Möglichkeiten stark übertrieben. Hatte er nicht wegen seines eigenen soldatischen Glaubens an die Möglichkeiten, die Sowjetunion und Stalin zu besiegen, längere Zeit geschwankt, ob er Hitlers fanatische Pläne unterstützen oder über Hitlers immer unprofessionelleren, ja schonungslosen und desperaten Befehle verzweifeln sollte, die für das Heer anscheinend endlose Verluste und sinnlose Organisationsprobleme bedeuteten? Jeden Tag hatten er, sein Chef und Untergebene der Organisationsabteilung daran gearbeitet, neue Forderungen an die Rüstungsindustrie aufzustellen, Pläne für den freiwilligen Zusammenschluß russischer und anti-bolschewistischer Truppen zu machen, sich neuartige Typen von Infanteriedivisionen auszudenken, Material und Vorräte für Tausende von Kilometern entfernte Truppen zu beschaffen und Truppen von der Ostfront nach Afrika zu verlegen; doch das meiste ließ sich nur langsam oder überwiegend unter großen Schwierigkeiten umsetzen, und obwohl er weitergearbeitet hatte, schienen das Heer und die Operationen langsam auseinanderzufallen und sich aufzulösen. Als er im August 1942 mit Oberstleutnant i. G. Mertz in Winniza über diese Dinge sprach, war fast alles, woran er glaubte, hinter dem Horizont versunken: die großen
Zangenbewegungen ließen sich wegen fehlenden Materials und fehlender Mannschaften und wegen Hitlers Angewohnheit, sich in Details zu verlieren und immer selbstsicherer jeden Rat zurückzuweisen, besonders den von Generalstabschef Halder, nicht durchführen; täglich machte Hitler im Hauptquartier Generale und Generalstab herunter, er stieß die entwürdigendsten und gehässigsten Beschuldigungen und Beleidigungen aus, gelegentlich steigerte er sich ins reine Lächerlichmachen, was ihn selber und seine Einfälle in immer neue Höhen hob und das Opfer als inkompetent oder idiotisch darstellte; seine Angriffe gegen die leitenden Offiziere wurden um so schriller, je näher die Katastrophe bei Stalingrad rückte und er die Kontrolle verlor und möglicherweise selber nicht mehr an einen Sieg glaubte; schlechte Nachrichten mußten beschönigt und umgeschrieben und konnten nur zu bestimmten Tageszeiten oder überhaupt nicht überbracht werden; im Laufe des Sommers und Herbstes 1942 verwandelte er sich in ein Nachtwesen, das kaum mehr das Licht und die Wärme des Tages vertrug und in den engen Gängen der Holzhäuser und Baracken inmitten des dreieckigen kleinen Waldes im innersten Sperrkreis seines Lagers Werwolf sein eigenes mysteriöses Leben führte. In seinem Nachtreich, umgeben von Dienern und anderen Helfern, verfiel Hitler manchmal in depressive, grübelnde Zustände, die nach stimulierenden Mitteln verlangten, mit denen sein Leibarzt Theodor Morell ihn versorgte. Diese Aufputschmittel wurden ihm allmählich unentbehrlich und trugen zu weiteren Unlustzuständen und Exzessen bei, so als er während der Besprechung gegenüber Halder höhnisch darauf bestand, daß die Kriegsführung bei Stalingrad keine Frage militärischen Könnens sei, sondern der Glut des nationalsozialistischen Bekenntnisses. Immer deutlicher zeigten sich bei Hitler der nationalsozialistische Fanatismus und seine Menschenverachtung, und er begann, ihn
dafür zu hassen und als Verbrecher zu sehen. Mertz wie dem ehemaligen Militärattache an der deutschen Botschaft in Moskau, General Köstring, gegenüber hatte er im August 1942 seinen klaren Abstand ausgedrückt: - Ich hasse den Führer, ich hasse dieses ganze Pack um ihn herum! Er erinnert sich, wie Hitlers Befehl an Paulus, als dieser mit seiner Armee auf dem Weg nach Stalingrad am 26. August die Wolga erreichte, ihn zunehmend darin bestärkt hatte, mit diesem Mann abzurechnen. Der Befehl lautete, die ganze männliche Bevölkerung Stalingrads zu vernichten, und dieser Befehl widersprach nicht nur all seinen Vorstellungen vom Kampf gegen die stalinistische Tyrannei zugunsten der Sowjetbevölkerung, sondern auch allem, was er als Soldat unter anständiger Kriegsführung verstand, und er hatte in der folgenden Nacht einen Alptraum, aus dem er in gewisser Weise noch nicht erwacht war. Er sah sich selber an der Spitze eines Panzerregiments durch die Prospekte einer verkohlten, halb brennenden Stadt einziehen, hier und dort wurden Männer zwischen den Trümmern erschossen, eine Wolke aus Ruß und Asche lag über der Stadt, in der Ferne stand ein halb zerschossener zwiebelförmiger Turm, ein Windstoß fegte plötzlich die Aschewolke weg und offenbarte eine graue Stille, in der Männer mit den Händen über dem Kopf aus den Ruinen und den gähnenden Löchern in den zerschossenen Fassaden heraustraten. Alle standen still in dieser Niemandslandschaft und schauten in seine Richtung, im Turm erklang eine Glocke, doch ihr Geläut wurde von der Stimme des Führers übertönt, die durch die kaum noch vorhandene Stadt gellte: - Schießt, erschießt sie! rief die Stimme, und er hob langsam den Arm, um ein Signal zu geben, als ihm klar wurde, daß der Junge, den er in weiter Ferne sah, der Junge, der am Glockenseil hing und den Ton erzwang, Heimeran war, sein Sohn. Der Führer war
unsichtbar; er selbst zog seine Pistole und befahl, den Kübelwagen vorwärts zu fahren, und fing an, auf die Lautsprecher zu schießen. Doch ganz gleich, wie sehr er schoß, breitete sich die manische Stimme des Führers zwischen den Ruinen und in seinen Ohren aus. Er erhebt sich von der Holzbank und geht zum Marien-Altar und starrt in die wenigen brennenden Kerzen, deren Flammen auf dem dunklen Gemälde einen schwachen Widerschein erzeugen; aus dem Innern der Kirche dringen einige Geräusche zu ihm, der Küster läßt irgend etwas mit einem plötzlichen harten Knall auf den Steinboden fallen, er hört ihn aufseufzen, und wieder wird es dunkel. Aus irgendeinem Grund hört er Georges Stimme flüstern: Warum schickst du dann den Sommer Wo wir schnellen frei und nackt? Er erinnert sich an seinen schmächtigen Körper und das markante Gesicht mit den grauen, träumenden Augen, die an den Tagen, als sie im Garten vor dem Pförtnerhäuschen in Berlin-Nikolassee um ihn versammelt waren, gleichsam im Sonnenlicht verschwanden. Allein seine schweigende Anwesenheit war wie ein Versprechen, daß es in seinem Leben etwas Unbegreifliches gab, und das Unbegreifliche war lebendig. Es strömte wie Musik aus seinem Mund und eröffnete eine Welt der Schönheit, die er mit jungen Männern auf dem Marktplatz bei der Akropolis verband oder mit der Atmosphäre in längst begrabenen griechischen Städten, wo das Leben sich unbeschwert entfaltete, frei, und wo die Welt eine Einheit war, weil Männer spartanisch und geistig ihre Ideale lebten; es war eine Welt, die er schon als Zwölfjähriger aus Hölderlins Gedichten kannte, eine größere und reichere Welt voll Musik, Gesang und einfachen Taten, inspiriert von Worten wie Treue und Bruderschaft und Hingabe an eine gemeinsame
Sache. Wenn der Meister über den neuen Menschen und über die Vereinigung von Fleisch und Geist redete, die diesen charakterisierte, wenn er in seinen Gedichten auf die halbmystischen Handlungen des Tempelordens hinwies, die eine versteinerte, von Begehren und Verblendung geprägte Welt auflösten, wenn er auf die Welt der Schönheit deutete, die in der Natur liegt, und auf noch nicht erwachte Urkräfte, die durch das Volk erlöst würden, und wenn er wie Hölderlin von der Liebe sprach, die die Welt trug, und von Freundschaft, die sie weitertragen würde, hatte er sich erwählt und in ihren kleinen Kreis berufen und von der unklaren, aber starken Vorstellung einer großen Aufgabe überwältigt gefühlt, die ihn erwartete; so wie seine Vorfahren wollte er sich in den Dienst der Nation stellen, er wollte führen, aber auch dienen, er wollte wie Hölderlins Empedokles die Tyrannei bekämpfen und dem Volk zur Macht verhelfen und, wenn nötig, das eigene Leben opfern. Als Achtzehnjähriger schrieb er dem Meister über seine Gefühle für das, was in allen Dingen lebte, und vom Lebendigen im Menschlichen, das sich beim Lesen seiner Gedichte offenbarte und in ihm gerade die Sehnsucht zu handeln weckte. Das Ganze war für ihn so dunkel gewesen wie die überwältigenden Gefühle in der Einsamkeit seines Albfelsens in den Bergen bei Lautlingen, mit ihrer unendlichen Perspektive und sausenden Stille, die ihn oftmals an die Geburt der Welt erinnert hatten. Hier hatte er, wie nirgendwo sonst in all den Jahren, Ruhe gefunden und war er in seiner Idee von der göttlichen Größe der Natur und seiner eigenen Zugehörigkeit zu dieser Welt bestätigt worden; hier hatte er im wachen Zustand geträumt und sich davon überzeugt gefühlt, daß Traum und Handeln genauso zusammengehörten wie Gott und Mensch.
Eben das hatte der Meister selber und seine Gedichte ihm und den anderen eingeschrieben, Max Kommereil, Johann Anton Thormaelen, Walter Anton und seinen eigenen Brüdern Alexander und Berthold. Sie glaubten an eine spirituelle Wiedergeburt eines ganzen Landes, an ein hellenistisches Mirakel, sie glaubten, Gott offenbarte sich in edlen Handlungen und Gedanken der Menschen, sie fühlten sich gefährdet und privilegiert zugleich und erlebten, daß sie ein geheimes Wissen hüteten, daß sie der Kern eines geheimen Deutschland waren, das immerzu auf dem Wege gewesen war und das nur der Dämon zerstören konnte. Das Geheime, das sich offenbaren sollte, lag mit den Worten des Meisters dort, Wo noch kein taster es spürt Lang im tiefinnersten schacht Weiblicher erde noch ruht Wunder undeutbar für heut Geschick wird des kommenden tages. Er war gerade siebzehn Jahre alt, als er dem Meister zum erstenmal in Berlin begegnete, und während seine Brüder, wie im Kreis üblich, sogleich Namen erhielten, die ihre besondere Art des In-der-Welt-Seins ausdrückten, behielt er den eigenen, er war Claus, und wenn der Meister in seiner stillen Art zu ihm redete und seinen Namen benutzte, fühlte er, daß er mit einem Seher und einem Freund zugleich sprach, der ihn vorbehaltlos als den akzeptierte, der er war, und ihm zugleich mit einem kleinen Wink und einer Weisung zeigte, was er werden könnte. Er fühlte sich ermuntert und aus der Fassung gebracht und zugleich bestätigt. Erst in der Gegenwart dieses Mannes begann er, sich selbst zu entdecken; auf ganz selbstverständliche Weise, fast wie in einem Traum, öffnete dieser kleine Mann mit den scharfen Zügen und den starken Augen ihm und seinen Brüdern die Worte und Gedanken Holbeins, Friedrichs des Großen, Herders, Goethes, Hölderlins
und Nietzsches; sie waren die Helden des geheimen Deutschland, und obwohl er sie aus dem literarischen Salon der Mutter und von Lesungen in der Jägerstraße in Stuttgart kannte, flossen sie hier zusammen und wurden im Antlitz, in Gedichten und Worten des Meisters seltsam lebendig. Durch seine bloße Anwesenheit schien er die Zeit aufzuheben. Damals verstand er bei weitem nicht alles, was der Meister schrieb, doch wenn er laut las oder sprach, ergab sich allein durch das Hören seiner Worte plötzlich und manchmal ein unerklärlicher Sinn, derselbe Sinn, wie er ihn erlebte, wenn er allein oder zusammen mit seinen Brüdern auf dem Cello musizierte. Der Meister, der allein für seine Gedichte und Ideen lebte, verlangte für sich selber nichts, sondern gab die ganze Zeit, er lebte puritanisch, und seine Kleidung war verschlissen (wie seine dunkle Lodenjacke) und fast ärmlich; es war ihm ein Mysterium gewesen, wie es solche Menschen überhaupt geben konnte, jedoch eines der Mysterien, das ihn darin bestärkte, daß das In-der-Welt-Sein in erster Linie eine Frage der Gesinnung war. Gerade in den Jahren, als er wegen seiner schwachen Gesundheit wiederholt dem EberhardLudwig-Gymnasium in Stuttgart fernbleiben mußte und einen Privatlehrer bekam und sich oftmals selber und seinem eigenen Willen überlassen fühlte, war er für Menschen, die aus ihrer eigenen Energie heraus lebten, besonders empfänglich. Später dann hatten Schulenburg und Tresckow ihre Gedanken über die Gedichte des Meisters mit ihm geteilt, ja, waren sie sich nicht auch durch diese Gedichte nähergekommen, und war er nicht durch sie zu der Überzeugung gelangt, daß sie dasselbe sahen, wenn sie die Welt aus Schande und Grauen betrachteten, die sie jetzt umgab? Hatte Schulenburg ihm nicht erzählt, wie er eines Tages in Prag, wo er zum erstenmal in einer Gesellschaft die Gedichte des Meisters über den Krieg
gelesen hatte, so bewegt gewesen war, daß er allein sein mußte, um sich zu besinnen? Er murmelt: Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande Wenn je dieses volk sich aus feigem erschlaffen
Sein selber erinnert der kür und der sende
Wie oft waren ihnen diese Zeilen seitdem nicht Code und Zeichen gewesen? Und wie oft hatte er nicht aus des Meisters Widerchrist zitiert, entweder um die Reaktion junger Offiziere zu sehen und sich über ihre Haltung zu Hitler klarzuwerden oder einfach, weil er gerade in diesem Gedicht die Dämonie Hitlers so bildhaft beschrieben fand, so verführend und prophetisch, daß jedem, der es hörte, die Augen über seine Taten aufgingen. Er memoriert: Dort kommt er vom berge • dort steht er im hain!
Wir sahen es selber • er wandelt in wein
Das wasser und spricht mit den toten.
O könntet ihr hören mein lachen bei nacht:
Nun schlug meine stunde • nun füllt sich das garn •
Nun strömen die fische zum harnen.
Die weisen die toten – toll wälzt sich das volk •
Entwurzelt die bäume, zerklittert das korn •
Macht bahn für den zug des Erstandnen.
Der Fürst des Geziefers verbreitet sein reich •
Kein schatz der ihm mangelt •
kein glück das ihm weicht.
Zu grund mit dem rest der empörer!
Ihr jauchzet • entzückt von dem teuflischen schein •
Verprasset was blieb von dem früheren sein
Und fühlt erst die not vor dem ende.
Dann hängt ihr die zunge am trocknenden trog • Irrt ratlos wie vieh durch den brennenden hof. Und schrecklich erschallt die posaune. Als er mit Tresckow zum erstenmal über das Gedicht sprach, sagte dieser: - Ich weiß kein anderes Gedicht, das mich auf dieselbe Weise berührt. Wenn ich es lese oder höre, weiß ich nicht, ob ich gleich die Uniform ausziehen soll oder dieses Doppelspiel weitermachen soll: Jeden Tag denke ich daran, wie und wann wir mit diesem Mann und dem Wahnwitz abrechnen können, jeden Tag führe ich Befehle aus und gebe Befehle weiter, die in irgendeiner Weise seinen Stempel tragen. - Tragen Sie die Uniform weiter, das ist unsere einzige Möglichkeit, sagte er. Tresckow sah ihn mit einem kleinen müden Lächeln in seinem freundlichen, melancholischen Gesicht an, das ihn sogleich an Berthold und sein nach innen gekehrtes, stilles Wesen erinnerte, aber an den Berthold, wie er als Junge war: verträumt und entschlossen, der große Bruder, immer einen kleinen Schritt voraus und mit Gedanken beschäftigt, denen er selber gerade erst auf die Spur gekommen war. Tresckow war auch immerzu voraus gewesen und war nicht nur ein Träumer, er war ein handelndes Wesen mit einem Schein über oder neben seinem Gesicht, das war ihm unerfindlich, vielleicht kam der Schein ganz einfach von seiner Haut oder seinen Augen oder von seinem sanften Lächeln, er schien tief in seine eigene Welt versunken und war zugleich vielleicht derjenige von ihnen allen, der am besten Bescheid wußte, obwohl er sich meistens Tausende Kilometer von Deutschland entfernt in der Heeresgruppe Mitte aufhielt und nur in größeren Abständen nach Berlin kam oder den Generalstab besuchte.
Tresckow war fast allen Plänen voraus gewesen. Hatte Tresckow ihm nicht 43 gesagt, er hätte schon 42 mehrere Offiziere für Putschpläne allein mit der Begründung angeworben, Zehntausende von Juden würden auf das grausamste umgebracht, und er wäre überzeugt, daß der Befehl direkt vom Oberbefehlshaber, von Hitler selber komme, was ihm nur allmählich aufgegangen sei, weil es so ausgezeichnet getarnt und ungeheuerlich wäre und den Oberbefehlshaber des Heeres ein für allemal zum Verbrecher stempelte. Tresckow und seine Mitverschworenen aus der Heeresgruppe Mitte hatten schon im März 43, als er sich selber an die Front in Tunesien geflüchtet hatte, ihr Attentat am Tag des Frontbesuchs Hitlers im Hauptquartier in Smolensk geplant, und welche Überlegungen hatten sie nicht bis ins letzte Detail angestellt. Er kennt es jetzt, diesen Gemütszustand von Nervosität und Erregung und eine merkwürdig schuldbetonte Leere, während man Schritt für Schritt ein Mordkomplott durchdenkt und vorherzusehen sucht, wie man das Ziel am besten und mit dem geringsten Risiko für den Putschplan unschädlich macht. Schon seit er mit seiner damals schwachen Gesundheit seinen Dienst beim 17. Bayerischen Reiterregiment in Bamberg angetreten hatte und bis er zwölf Jahre später als Quartiermeister in der ersten leichten Division zum Generalstab kommandiert wurde, hatte er seine Ausbildung bei Kavallerie, Infanterie, Artillerie und der Panzerwaffe getreu der Familientradition als Tätigkeit im Dienste der höheren Sache gesehen. Er hatte das Offiziershandwerk gelernt, um für Volk, Staat und Nation zu kämpfen; Offizier zu sein hieß, im Dienste des Staates und Teil des Staates mit dessen gesamter Verantwortung zu sein. Hatte er sich nicht geradezu eingebildet, ihm selber wäre eine besondere Rolle zugedacht (er sah sich selber im Lichte einer großen Aufgabe, ohne daß
er viele Jahre lang eigentlich wußte, worin sie bestand). Soldat sein hieß, Verantwortung für die Nation zu übernehmen, das hieß gegebenenfalls auch, einen Feind zu bekämpfen, aber hieß es auch, Mörder zu sein? Er hatte nie gelernt, wie ein Mörder zu handeln. Tresckow und seine Mitverschwörer in Smolensk waren darauf verfallen, Hitler bei seiner Truppeninspektion direkt mit Pistolen niederzuschießen, dann aber kamen die ganzen Bedenken: Benutzte man Maschinenpistolen, riskierte man dann in der unausweichlich entstehenden Verwirrung nicht, Generalfeldmarschall Kluge oder andere hohe Offiziere in Hitlers unmittelbarer Nähe zu treffen? Trug Hitler nicht eine schußsichere Weste? Und was war mit seiner wachsamen und viele Männer zählenden Leibwache, wie sollte man sie ablenken? Tresckows endgültige Wahl war einfach: Mit Hilfe seines Adjutanten Schlabrendorff übergab er einem Adjutanten Hitlers an dem Tag, als dieser mit seinem Flugzeug nach Ostpreußen zurückkehren sollte, ein Päckchen mit zwei Flaschen Cointreau. Angeblich war das Päckchen ein Geschenk an einen Freund, und der Adjutant nahm es mit ins Flugzeug. Eine Flasche enthielt Sprengstoff mit einem Zeitzünder, dessen Mechanismus Tresckow einige Zeit zuvor erprobt hatte. In Berlin hatte Ulbricht alle notwendigen Maßnahmen für einen Putschversuch getroffen, und man wartete nun in eisiger Spannung auf die Mitteilung, das Flugzeug des Führers sei abgestürzt. Doch einige Stunden nach dem Abflug in Smolensk landete Hitler unbeschadet in der Nähe der Wolfsschanze. Als er zum erstenmal vom Attentatsversuch hörte, verblüffte es ihn, daß dieser ebensowenig geglückt war wie der von Oberst Gersdorff am Heldengedenktag im Zeughaus in Berlin, als sich Gersdorff mit Sprengstoff in der Tasche seines Uniformmantels zusammen mit Hitler in die Luft sprengen
wollte, Hitler jedoch, ganz gegen seine Gewohnheit, durch die Ausstellungsräume geeilt war. Als hätte der Führer einen sechsten Sinn, als würde irgendein Dämon oder eine unheimliche Intuition ihn beschützen. Nein, daran glaubt er nicht. Doch, er glaubt daran. Hatte er nicht eine ganze Nation in den Bann geschlagen, waren Soldaten nicht bereit, mit seinem Namen auf den Lippen in einen sinnlosen Tod zu gehen, waren nicht Nachbarn bereit, sich gegenseitig anzuzeigen, zeigten nicht Kinder ihre Eltern an, waren nicht junge Männer, die nichts von der Welt wußten, bereit, Unschuldige zu töten, zu ermorden, zu Krüppeln zu machen…? Hamburg, München, Berlin, überall fallen Bauten in Schutt, in diesen Städten wirbelt der Staub auf, und das Feuer fegt durch die Straßen, während er selber unberührt, geschützt hinter den dicken Mauern der Wolfsschanze sitzt. Ein Gefreiter mit den Augen eines Fanatikers. Ein Heiland mit dem glühenden Blick eines Psychopathen. Ein Verwandlungskünstler, ein Rattenfänger, ein Meisterredner. Hatte Generaloberst Beck in seiner ruhig-abgeklärten Art nicht zu ihm gesagt: - Schon 38 sah ich, daß er unberechenbar war, hemmungslos, ich sah, daß er Deutschland ins Unglück führen würde. Unser Plan war, ihn zu verhaften, doch Chamberlain überzeugte die Welt, daß er ein Friedensstifter wäre. Und hatte Goerdeler im selben Jahr nicht seine ganze Energie darauf verwendet, seine englischen Verbindungsleute zu überzeugen, daß die barbarische und sadistische Verfolgung von Zehntausenden polnischer Juden, die man mit Maschinengewehren über die deutsche Grenze trieb, eine Antwort verlangte und der Anfang vom Ende Deutschlands war? Der hitzige Goerdeler, der bis vor einigen Wochen noch zweifelte, ob es richtig wäre, Hitler umzubringen.
Doch die Engländer blieben blind und taub, und hatte er nicht selber an Hitler als Friedensstifter geglaubt, bis ihn die Entlassung des Kriegsministers von Blomberg und des Generalobersten von Fritsch empört und Schulenburg ihn überzeugt hatte, daß der Mann Krieg wollte? Damals hatte er zu Schulenburg gesagt, er würde sich bereitwillig hinter Beck stellen, ohne ihm je begegnet zu sein. Und als daraus nichts wurde, hatte er gedacht: Welch ein merkwürdiges Gefühl, den bereits gezogenen Säbel wieder in die Scheide zu stecken. Doch als der Krieg kam, als der Krieg des Friedensstifters kam, war er begeistert gewesen. War er nicht euphorisch aus Polen zurückgekommen? Er erinnert sich an den Abend im schönen Trebbow, an dem er und Schulenburg Charlotte Schulenburg mit dem überraschend schnellen Sieg über Polen und ihren eigenen Meriten unterhalten hatten. Er erinnert sich an die begeisterte Stimmung unter den Panzertruppen seines Regiments während des Feldzugs gegen Frankreich und die Freude über den erstaunlich leichten Sieg, der die MaginotLinie in eine Luftfestung verwandelte. Hitler hatte es gegen den Rat der meisten seiner Generale klar gesehen, daß die Maginotlinie zu durchbrechen war, er hatte wie Napoleon in großen Zügen gedacht und sich plötzlich als militärisch schöpferischer Geist erwiesen. Das war ein Geist, den er bewundern konnte. Hatte er nicht gedacht, es wäre stimulierend, in Hitlers Nähe zu arbeiten? Hatte er seine Gedanken vom Kleinbürger Hitler nicht bereut und zu einem Bekannten gesagt: - Der Vater dieses Mannes war kein Kleinbürger. Der Vater dieses Mannes ist der Krieg. Und hatte er nicht selber die Nachschubaufgaben perfekt gelöst, war er von seinen Vorgesetzten nicht gelobt worden? Und hatte er sich nicht gefreut, Soldat zu sein, sein Handwerk endlich in einem gerechten Krieg gebrauchen zu können, der das Unrecht, das Deutschland nach dem Ersten
Weltkrieg erlitten hatte, wiedergutmachen würde? Das alles, obwohl er damals das seltsame Gefühl gehabt hatte, Wunder wären etwas Flüchtiges und das Glück würde sich wenden. Und jetzt stand er vor einem Sodom – war es etwa kein Sodom?
Sein Blick gleitet über das schwach leuchtende Mariengesicht, ihre Augen sind zum Himmel erhoben, und ihr Lächeln ist dunkel, irgend etwas an dem Lächeln erinnert ihn an die Mutter und ihr alterndes Gesicht, ihre Bewegungen und ihr unvorsichtiges Reden über Hitler und seine Bande; wie oft haben er und Berthold ihr nicht begreiflich machen wollen, sich zurückzuhalten und daß sie mit ihren vorwitzigen Reden sich und die Familie in Gefahr bringt. Sie hatte das Ganze lange vor ihnen gesehen. Er denkt an seine eigenen vorwitzigen Reden in Winniza und muß plötzlich laut lachen. Der Widerhall verstimmt ihn. Wann hatte er das letzte Mal Grund zu lachen? Es sitzt in seinem Körper wie in einem Schraubstock. Wird er allmählich verrückt? Oder ist er nur erschöpft? Morgen muß er klar sein, ganz klar und den Zünder richtig einstellen; erst vor vier Tagen hatten seine drei Finger versagt. Er war zu nervös gewesen, nein, Witzleben und Wagner und Ulbricht hatten in Berlin ihre Entscheidung so lange hinausgezögert, daß keine Zeit mehr geblieben war. Doch morgen? Was hat er morgen zu tun? Warum kann er sich plötzlich an nichts mehr erinnern, warum kann er nichts sehen, wo kommt diese Stimme her? Er bewegt sich über den Marmorboden, und die Stiefel federn unter ihm und erzeugen ein Echo unter der Decke, er bleibt stehen und dreht sich plötzlich zum Altar und dem Mann am Kruzifix um, dem Schatten eines Mannes, einem Abdruck
eines Mannes mit dunklen Tentakeln auf dem Kopf. Eine Dornenkrone. Als Junge war er vor der Dornenkrone und dem bleichen leidenden Mann zurückgewichen. Seine Leiden schreckten ihn, verstimmten ihn. Er konnte nicht atmen. Hölle. Hier sein. Himmel.
Er besaß die besondere Gabe, Schmerzen zu widerstehen. Als er mit zerschossenem Arm, seinem leeren Auge und Splittern im Körper in München im Krankenbett lag, als er zwischen Leben und Tod schwebte und in Schmerz eingehüllt war, wollte er keine schmerzstillenden Mittel. Das war ein Protest. Das war ein Aufruhr. Er vertrieb die Schmerzen. Sein Wille vertrieb sie. Doch der Schmerz dieses Mannes war anders, rätselhafter. Es war der Schmerz der ganzen Welt. Berthold hatte ihm von Dietrich Bonhoeffer erzählt, der in der Seidelstraße gefangensaß, der Theologe, den die Gestapo zusammen mit den Leuten aus dem Abwehrkreis Miller und Dohnanyi verhaftet hatte, ein Mann mit weichem Gesicht, heller Brille und breiten Lippen. - Erst nimmst du ihn gar nicht wahr, hatte er gesagt, er hält sich im Hintergrund, aber er hat eine Art zu reden, die schlägt einem die Füße weg. - Was hat er gesagt? hatte er gefragt. Bertholds untrügliches Gedächtnis versagte ihm nie den Dienst. Er erinnerte sich sogar daran, wie der Mann seine Worte betonte. - Er sagte: Wir können nur im begrenzten Maß die Leiden des anderen teilen. Wir sind nicht Christus, doch wenn wir Christen sein wollen, müssen wir das große Herz mit Christus teilen, indem wir in der Stunde der Gefahr verantwortlich und in Freiheit handeln, wir dürfen nicht in Furcht handeln,
sondern aus wirklicher Sympathie mit denen, die leiden. Nur zusehen und abwarten heißt, nicht christlich zu handeln. - Nein, hatte er gesagt, nicht nur zusehen und abwarten. - Bonhoeffer meint, sagte Berthold, die Zeit habe uns gelehrt, die Geschichte von unten zu betrachten, aus der Perspektive der Ausgestoßenen und Machtlosen. Auch hätten wir gelernt, daß man durch persönliches Leid mehr über die Welt erfahre als durch das Glück des einzelnen. - Er ist also ein Mann, der am Leiden hängt? - Nein, sagte Berthold. Er ist einer, der klar sieht. Heldentum ist ihm egal.
Woher kommt diese Stimme? Aus dem Chor, von der Orgel, aus der Sakristei, vom Eingang? Vielleicht kommt sie aus ihm selber. Er hat das Zeitgefühl verloren. Er sieht auf seine Uhr. Schweizer sitzt im Auto und wartet, er muß zu ihm hinaus. Er muß in die Tristanstraße. Er muß schlafen. Aber er kann jetzt nicht schlafen. Er weiß, daß es eine Nacht der Schlaflosigkeit wird. Er muß sich die Papiere ansehen, den Plan und die Befehle noch einmal durchdenken, und: Was ist mit dem Sprengstoff?… Schweizer hat die beiden Packungen bei Lancken geholt, er muß daran denken, sie bis morgen in der Aktentasche zu verstecken, er muß… Er will die rechte Hand in einer gewohnten Bewegung an die Stirn heben, doch die Hand ist nicht da, statt dessen gleiten die drei Finger der linken Hand über die Wange. Er geht einige Schritte vor, setzt sich wieder auf eine Holzbank und atmet tief ein. Wie kann die rechte Hand immer noch schmerzen, obwohl sie nicht mehr da ist?
Er erinnert sich an das brennende Gefühl in der zerschossenen Hand und im Arm, an die Geräusche von den klirrenden Ketten des Panzerregiments, die brummenden Motoren, die knallenden Geschütze der Kampfwagen, das trockene Geräusch der entfernt schießenden Artillerie und den aufgewirbelten Staub unter der Sonne am El-Hafay-Paß in Tunesien. Es ist ein Nebel. Was war zuerst da: der zerschossene Arm oder die Unruhe im ganzen Körper? Oder seine Rufe über den Kampfplatz zwischen dem ChabitaKhetati-Paß und dem summenden Ufer am Salzsee, oder die Soldaten, die wie besessen über den sandigen Boden liefen, um den herabstürzenden Jagdflugzeugen mit ihren tickenden Maschinengewehrsalven zu entgehen, die den Sand in langen Rinnen aufpflügten und zuckende Körper auf dem Boden zurückließen? Alles war und ist ein einziges Inferno. Als Kommandeur der 10. Panzerdivision deckte er den ungeplanten Rückzug ihrer Einheiten durch die Pässe bei Mezzouna. Am frühen Morgen des 7. April 43 standen sie vier Kolonnen breit vor dem El-Hafay-Paß, den jedoch nur eine Kolonne passieren konnte. Unter heftigem Beschuß und großen Verlusten kamen sie durch. Er befand sich plötzlich in dem offenen Horch-Kübelwagen mit seinen Panzerfunkstellen in dem schmalen Gebiet zwischen dem Chabita-Khetati-Paß und dem Salzsee. Sie kämpften gegen mindestens zwanzig englische Panzer, sie waren eingekesselt und in der Unterzahl und versuchten, sich zurückzuziehen. Alles war trocken, die Sonne brannte, der Sand wirbelte in die Augen, in die Münder; ein Panzer nach dem anderen ging in Flammen auf, Soldaten schrien, einige liefen wie brennende Fackeln umher, es war unerträglich. Er stand im Kübelwagen und winkte die Panzer zurück, die Panzerführer sahen ihn sicher nicht; plötzlich kam dieser Jagdbomber und stieß wie ein schwarzer Vogel auf ihn
herunter. Er hörte ein trockenes Knistern, etwas explodierte unter ihm, er stürzte in den Sand, konnte kaum Schmerz empfinden, sah die Welt verschwinden. Im selben Augenblick sah er seine Kinder vor sich. Dann wurde alles schwarz. Man brachte ihn übers Mittelmeer, über Livorno nach München hoch in Sauerbruchs Klinik. Er erinnert sich schwach an die Gesichter, die Räume; ihm war, als wandle er neben sich her, und er konnte keinen Unterschied zwischen sich und Konrad Maria erkennen; war Konrad Maria am Leben und er selber tot, oder waren sie beide tot? Stimmen riefen ihn, Farben und Gerüche tauchten plötzlich auf, aber auch Konrad Marias Stimme war aus einem anderen Land zu vernehmen; fiel er in den Schlaf, fürchtete er, nicht mehr zu dem schwachen Gefühl von Farben zurückzufinden. Sauerbruch bot ihm Morphium an, doch er lehnte ab. Die Schmerzen waren ein Zeichen, daß er noch lebte. Er schloß jeden Morgen die Augen, kniete im Geiste nieder und betete um die Kraft zu überleben. Die Stimme. Konrad Marias Stimme, die Zwillingsstimme, seine bessere Hälfte rief ihn. Sie ruft ihn. Sie ruft ihn auch jetzt in der Kirche, wo die Stille so durchdringend ist. Sie ist wie ein Wind, ein Sausen in den Ohren. Vielleicht muß er sterben, vielleicht ist es morgen soweit. Als er Nina zum letzten Mal in Bamberg gesehen und sie umarmt und von ihr Abschied genommen hatte, hatte er da nicht auf seine gewohnt ausgelassene und zugleich nüchterne Art gesagt: - Die Chancen stehen fifty-fifty! Und hatte sie sich nicht von ihm losgemacht, sich halb von ihm abgewandt und von anderen Dingen geredet, seinen frischgewaschenen Kleidern, die in die Koffer gepackt waren, den Kindern? Und er hatte dagestanden, ohne ihr zuzuhören, und war in Gedanken schon auf dem Wege nach Berlin; bei alledem hatte er ihre Angst gespürt, die auch seine eigene war, eine Angst,
die anscheinend zur Gewohnheit geworden war, aber wie ein Damoklesschwert über ihr hing und sie zugleich traurig, schweigsam machte. Vierzehn Tage im Jahr, das war im großen ganzen die Zeit, die sie all die Jahre gemeinsam verbrachten, sie hatte den Haushalt und die Kinder und mußte zurechtkommen; in den vielen Briefen an ihn ging es ausschließlich um die Kinder, fast nie um sie selber oder ihre Sorgen; doch war es ein Geschenk für ihn, daß sie ihm von den Kindern berichtete und ihm ihr Leben schilderte, ganz gleich, wo er sich befand. Dafür liebte er sie. Und er konnte und wollte sie nicht im Detail in das einweihen, was geschehen sollte, je weniger sie wußte, desto besser für sie und die Kinder. Er hatte ihr viele Male gesagt, sie solle ihm gegenüber nicht loyal sein, falls das Attentat mißlinge, und er wußte, daß sie ganz genau verstand, was er meinte; wenn die Gestapo sie holte, sollte sie die dumme kleine Hausfrau mit Kindern und Windeln und schmutziger Wäsche spielen. Wenn er oft Hunderte, manchmal Tausende von Kilometern von ihr entfernt war und einen Blick auf das Foto von ihr und den Kindern warf, das er stets vor sich stehen hatte oder in der Brusttasche trug, dann hörte er ihre unverblümten Kommentare, ihre Bemerkungen, die auf witzige Weise sein idealisiertes Selbstbild zurechtstutzten und ihn wieder auf die Erde, in ihre Welt hinunterholten, die ihn zum Lachen brachten und zum Wundern, so daß er sich fragte, warum er nicht einfach mit ihr in dem riesigen duftenden Garten in Lautlingen saß und die wahnsinnige Welt fahrenließ. - Spielst du den Verschwörer? hatte sie ihn eines Tages gefragt, als sie spürte, daß er ihr etwas verheimlichte; er brauchte nur zu nicken, sie kannte ihn, sie kannte die Art, wie er sich bewegte, seinen Gesichtsausdruck und seine etwas sanguinische Natur, unter der er todernste Dinge verbarg; doch er kannte auch sie, er wußte, daß sie ihm ihre Sorgen nicht
zeigen wollte, sie wollte der Rolle der Soldatenfrau gerecht werden, der Dienst und Pflicht über alles gingen. Er hatte gemerkt, daß sie ihn zurückhalten wollte, als sie von dem Sprengstoff erfuhr, aber als er ihr erklärte, wie wichtig es für ihn war und daß er es auch der Kinder wegen tat, stimmte sie ihm zu. Tue, was du tun mußt, sagte sie ohne Bitterkeit in der Stimme. Jetzt erinnert er sich gleichzeitig, wie sie, als er in München auf dem Krankenbett lag, versuchte, seine Phantasien, das Deutsche Reich zu retten, zu zerstreuen. Mit Bandagen um Kopf und Arme lag er im Dämmerschlaf und fabulierte etwas von seiner Mitverantwortung als Generalstabsoffizier; er sagte unablässig denselben Satz: - Wir müssen Deutschland retten, wir müssen Deutschland retten. Er wußte, daß sie neben ihm saß, bald war sie nur ein Schatten, bald trat sie ganz vor sein rechtes Auge, doch er wußte nicht genau, wo sie waren; vielleicht im Haus in Bamberg, vielleicht in Lautlingen, und sie war auf einmal ganz jung, und in einem großen Saal mit einem aufspielenden Orchester und Hunderten von tanzenden Paaren erklang eine Strauß-Melodie, und er forderte sie auf, und sie tanzten, und durch das Kleid spürte er ihren zierlichen Körper; da war ihr Duft und das ernste, nervöse Lächeln, als er ihr die Hand küßte und nicht wußte, ob sie sich etwas aus ihm machte; und dann trug sie den Brautschleier, und sie gingen zusammen die Treppe der Bamberger Jakobskirche hinunter; wohin gingen sie zwischen all diesen Leuten hindurch, die in der Sonne auf der Treppe standen und lächelten? Woher kam die Dunkelheit? Es war, als verschwänden sie im Dunst, als hätten sie nie existiert, sondern wären nur Kreidezeichnungen auf einer Tafel. Er nahm ihre Hand, die trockene, warme Hand, und tauchte mit ihr in das weiße Bett ein, das weiße Bett in dem dunklen Zimmer in dem Haus in Bamberg, und er spürte
ihre Haut, den nackten Körper, die Brüste. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, ihre Augen glühten schwarz, und jetzt war sie es, die ihre Nägel in seine Schultern bohrte, als er in sie eindrang. Er ritt sie, wie er eines seiner Pferde ritt, und sie schrie, und er kam wieder zu sich und küßte sie und strich ihr übers Haar. Sie lachte ihn aus. - Bist du nervös? fragte sie, und jetzt lachte auch er, dieses befreiende Lachen, das sie ihm zum Geschenk machte durch ihre bloße Gegenwart. Er war wieder im Krankenbett, und auf einmal stand ihr ovales Gesicht mit dem dunklen Haar ganz deutlich vor ihm. Hatte sie geweint? Seinetwegen sollte sie nicht weinen. Ein Schmerz durchfuhr ihn, von Kopf bis Fuß, er flüsterte: - Ich muß das Deutsche Reich retten! Und sie antwortete: Dazu bist du gerade der richtige in deinem Zustand! Erneut tat sie seine Worte ab, doch diesmal lachte er nicht; in diesem Augenblick war er von ihrer Reaktion enttäuscht, denn gerade jetzt brauchte er ihre Unterstützung. Doch irgendwo im Hinterkopf wußte er, daß sie in anderen Bahnen dachte und das Ganze herunterspielte, weil auch sie nicht, weil niemand fassen konnte, was um sie herum geschah, und weil die Anspannung zu groß war. Als sie ging, ließ sie ihn in seinem Delirium und seiner Klarheit allein zurück. Dann kamen die Bilder über ihn, trotz der Sonne, trotz der Helligkeit im Zimmer, Bilder aus einem Schattenland, einem Land im Verfall. Seine Versehrung empörte ihn. Er wollte aufstehen; er wollte seine ganze verbliebene Energie darauf konzentrieren, diesen Mann, der alles, woran er glaubte, auf den Kopf gestellt hatte, vom Erdboden zu tilgen. Selbst ein Jahr später, als er ihm auf dem Berghof in dem geschmacklos drapierten Lageraum von Angesicht zu Angesicht begegnete, selbst an diesem Tag, an dem Hitler nur ein Schatten seiner selbst war, spürte er die Elektrizität um ihn herum, aber er war krank, ja, wahnsinnig und eiskalt, und
plötzlich, ganz unerwartet: einschmeichelnd. Er war eine Nicht-Person, die alles in sich einsog und mit einer für ihre Umgebung beeindruckenden Entschlossenheit und Selbstsicherheit über Leben und Tod bestimmte, wie nur jemand es konnte, der auf dämonische Weise frei von allem war, was an Gewissen gemahnt. An diesem Tag war es unverkennbar, daß eine Hand des Führers zitterte. Doch niemand machte eine Bemerkung über sein Gebrechen, alle taten so, als ob es, genau wie der Wahnsinn des Mannes, nicht existierte. Für diese Leute wirkte dieser Wahnsinn auf sonderbare Weise normal, ja, er wirkte so normal, daß seine nächsten Mitarbeiter längst zahlreiche seiner Gewohnheiten und Redensarten übernommen hatten. Nie zuvor hatte er so leere Augen gesehen. Fischaugen in einem Menschengesicht. Auf diesem bald schlaffen, bald angespannten Gesicht zeichnete sich die Wut ab, die die ganze Zeit gegenwärtig war. Die Benachteiligung. Der Haß, der sich einen Gegenstand suchte. Tat er nicht endlich, was er schon 42 hätte tun können, ehe er sich desillusioniert an die Front nach Tunesien geflüchtet hatte? Ihm war nach seinen Versuchen, die höchsten Offiziere zur Aktion gegen Hitler zu überreden, der Boden zu heiß geworden. Er war naiv gewesen und hatte wirklich geglaubt, als Major und Gruppenleiter in der Organisationsabteilung des Oberkommandos aufgrund einer gemeinsamen ideellen Grundlage, die im März 1939 in Sodensterns Aufsatz Vom Wesen des Soldatentums festgelegt worden war, an das Gewissen dieser Feldmarschälle appellieren zu können. Als er im September 1942 und Januar 1943 als Organisationsoffizier General von Sodenstern in Starobjelsk und Generalfeldmarschall von Manstein in Saporoshje besucht und sie um eine persönliche Unterredung gebeten hatte, waren sie auf seinen Wunsch eingegangen.
Er redete zwei Stunden lang mit Sodenstern über die katastrophale Nachschubsituation, über Hitlers fehlgeschlagene Strategie, über das mangelnde Rückgrat des Oberkommandos, über Hitlers Verbrechen und daß er seine Macht nicht freiwillig abgeben würde. - Wenn man den Führer nicht entfernt, dann geht Deutschland unter, sagte er und beugte sich zu dem ruhigen Sodenstern vor, der ihn bei seinen Ausführungen nur wenige Male unterbrochen hatte. - Ich verstehe, was Sie wollen, sagte Sodenstern, aber ich muß zurückweisen, was Sie sagen. - Sie betrachten Hitler und sein Regime also nicht als Gefahr für Deutschland? Sodenstern lächelte schwach, sah ihn aber nicht an. Er faltete seine Hände auf dem Feldtisch und rieb die Daumen aneinander. Plötzlich richtete er den Blick auf ihn. Sie sind ein junger Generalstabsoffizier, sagte er, Sie haben nicht meine Verpflichtungen. Ich bin Generalstabschef, ich kann es mir in einer Kriegssituation nicht erlauben, an einer Meuterei teilzunehmen. Das ist mit meiner Auffassung von der Ethik des Soldaten unvereinbar. - Was Hitler vertritt, steht jenseits aller Ethik, sagte er. - Ich kann soviel sagen, gleichviel wie ein Regierungswechsel in Berlin verlaufen würde, so würde meine Heeresgruppe weiterhin ihre Pflicht tun. Und noch dazu: Falls ich in die Heimat versetzt werde, dann könnte ich möglicher weise eine andere Stellungnahme geben. Ich habe angefangen, Hitler und den Nationalsozialismus als ein Verhängnis zu sehen. Mit Manstein war er nicht viel weiter gekommen. Zu Beginn ihres Gespräches im Hauptquartier der Heeresgruppe Don, wo der kalte Wind an den nackten Bäumen vor den Fenstern zerrte, war der imposante Manstein scheinbar
entgegenkommend gewesen. Mit kurzem Nicken des grauen, faltigen und von Müdigkeit geplagten Kopfes hatte er zu erkennen gegeben, daß er ihm ein Stück weit folgen konnte. Ja, der Führer habe Fehler begangen, ja, es wäre das beste, das Oberkommando im Osten einem Fachmann zu überlassen; er selbst habe mehrmals versucht, Hitler zu überreden, einen Teil seiner militärischen Macht abzugeben, jedoch vergeblich. - Ich verstehe, daß Sie von der Stimmung im Führerhauptquartier belastet sind und daß sie das Gefühl haben, kein Gehör zu finden, sagte Manstein. Ihre persönliche Lösung muß dann wohl sein, daß Sie sich in eine Frontgeneralstabsstelle versetzen lassen. - Das löst das Problem für Deutschland nicht, sagte er und versuchte, den unbestimmten Blick der schmalen Augen einzufangen. - Verstehen Sie, sagte Manstein, Hitler gibt nie seine Macht ab, sein Standpunkt ist, er sei der einzige, der genug Vertrauen in der Armee und beim Volk besitzt. Und er hat recht. Alles hängt vom Vertrauen zu seiner Person ab. Fällt er aus, kommt es zum Zusammenbruch der Kampfmoral, ja, der Fronten. - Und seine Verbrechen? Manstein sah ihn überrascht an, runzelte die Brauen, preßte die Kiefer zusammen - ein Manöver, das wahrscheinlich die Offiziere beeindruckte, mit denen er sich gewöhnlich umgab, auf ihn aber keinen Eindruck machte. - Verbrechen? wiederholte Manstein und schmeckte dem Wort nach, als wäre es ein Fremdkörper. Mir sind keine Verbrechen im Namen des Führers bekannt. - Zehntausende von Juden, vielleicht Hunderttausende wurden hinter der deutschen Front erschossen… Meinen Informationen nach wissen die Frontoffiziere sehr wohl Bescheid, und die meisten finden es abscheulich und mit den Ehrbegriffen der Wehrmacht unvereinbar.
- Oh, die Juden. Sie reden von den harten Vergehen am Judentum, da muß ich Ihnen sagen, ich betrachte den deutschen Soldaten an der Ostfront als Träger der völkischen Idee und das Judentum als den geistigen Träger des bolschewistischen Terrors. Meine Offiziere hier haben sich nicht dagegen gewandt, soweit ich weiß. Persönlich finde selbstverständlich auch ich diese Tötungen abscheulich, je doch verständlich in einer Kriegssituation, in der wir den Bolschewismus bekämpfen. Manstein erhob sich, überraschend gewandt, und verließ den Raum, ohne die Tür zu schließen. Er zündete sich eine Zigarette an und hörte ihn im Dienstzimmer nebenan telefonieren. Mansteins Sprechweise war plötzlich trocken und direkt, fast bellend. Kurz darauf rapportierte ein Ordonnanzoffizier draußen auf dem Flur, einen Augenblick später kam Manstein zurück und nahm wieder ihm gegenüber Platz. Er sah auf seine Uhr und sagte mit einem kleinen vergrämten Lächeln: - Wir sind gewiß damit fertig, nicht? - Ich bin nicht hergekommen, um Sie zu überreden, mit Hitler zu sprechen, sagte er, nachdem er einen Zug von seiner Zigarette genommen hatte. Er ist, wie Sie selber sagen, unzugänglich. Ich bin hier, um Sie aufzufordern, die Armee und die Nation zu retten und sich an die Spitze eines… - Eines was…? - … eines Staatsstreichs zu stellen. Eines Staatsstreichs, der wieder die Ehre des deutschen Volkes und der deutschen Soldaten herstellt. - Sind Sie sich darüber im klaren, was Sie da sagen? fragte Manstein und ballte eine Hand. - Als Christ und überzeugter Katholik fällt es mir schwer, erwiderte er, doch wir müssen handeln, wenn nötig, mit Gewalt. Mit Ihrer Führungslegitimität und dem Respekt, den
Sie in der Wehrmacht genießen, sind Sie dazu prädestiniert, die… Manstein winkte ab und stand vom Stuhl hinter dem Schreibtisch auf: - Wenn Sie nicht sofort mit diesen Sachen aufhören, lasse ich Sie verhaften! Jetzt stand er auch auf, und obwohl er innerlich kochte, sagte er: - Wie Sie wollen. Ich empfehle mich. Ihre Blicke trafen sich. Schweigend betrachteten sie sich einen Augenblick, dann winkte Manstein mit einem Ausdruck der Verachtung in seinem grauen Gesicht ab. Diese Verachtung. Er kennt sie. Von sich selber. Er hatte Nina gesagt, daß Mansteins Antwort unwürdig gewesen sei, ja, daß er Stroh im Kopf hätte und überhaupt nichts wolle. Sein Horizont sei zu eng, er sei der Techniker und Stratege, der seine Hände in Unschuld wusch, während die Welt in Schutt und Asche fiel und die Soldaten in der Wintereinsamkeit um ihn herum wie die Fliegen wegstarben. Und was hatte er selber getan? Er hatte gegenüber seinen nur halbwegs vertrauten Kameraden und Untergebenen in Winniza alle möglichen verächtlichen Bemerkungen gemacht und sich selber und seine eigene Familie in Gefahr gebracht: - Wir müssen mit dieser Gesellschaft Schluß machen. Die Zeit ist gekommen, daß ein Offizier sich eine Pistole einsteckt und diesen Schmutzfinken über den Haufen schießt. Eine grundsätzliche Änderung ist nur möglich, wenn er beseitigt wird. Ich bin bereit, es zu tun. Und er hatte Schulenburgs, Moltkes und Bertholds Anerbieten, an der Verschwörung in Berlin teilzunehmen, abgelehnt. Im Januar 43 hatte er nicht an eine lockere Zusammenarbeit zwischen Zivilisten und Militärs geglaubt; eine Opposition ohne militärische Führung war in seinen Augen nicht mehr als eine Gruppe Bombenschmeißerle: Er hatte sie unterschätzt und war davongelaufen, er hatte diesen falschen Heroismus gewählt, den er bei anderen angeprangert hatte. Was hatte er
sich vorgestellt? Daß nur er und sonst keiner den Weg kannte? Und was wollte er damit beweisen? Daß er kein Schreibtischoffizier war, daß er keine Angst hatte, im Kampf zu fallen? Selbst als er das graue Niemandsland zwischen Leben und Tod hinter sich gelassen hatte, selbst als er sich erholt hatte und Fahrners und Alexanders Übersetzung des dritten Gesangs der Odyssee durchzusehen begann, worin von Odysseus’ Sehnsucht nach dem Zuhause, nach Ruhe, nach Liebe die Rede war, selbst da hatte er an die Front gewollt, sich gewünscht, mit dem einen Arm und dem einen Auge mitten im Bombenund Kugelhagel zu sein. Er, der Architekt hatte werden wollen und in seinen seltenen freien Augenblicken Cello spielte, bis ein Jagdflugzeug ihn zum Invaliden machte. Was wollte er wieder da draußen, erwartete ihn da etwas anderes als der Tod? Sehnte er sich nach dem Tod und erregte ihn der Gedanke an die Begegnung mit ihm, so daß er zögerte, nach Berlin zu gehen? Oder wollte er einfach nicht der Tatsache ins Auge sehen, daß er ein Invalide war, daß sein immer noch junger Körper flügellahm geschossen war? Erst vor knapp einer Woche war er zusammen mit Oberst Hansen bei Strüncks in den Kellerräumen unter Schachts ehemaliger Villa in Westend gewesen, um Hans Bernd Gisevius zu treffen, Agent der Abwehr im Generalkonsulat in Zürich und einer ihrer Verbindungsleute zu den Kriegsgegnern. Sie kamen nach Mitternacht an, gleich nach einer Sitzung mit seinem Vorgesetzten, dem Oberbefehlshaber des Ersatzheeres, General Fromm, der in Sachen Putschplänen schwankte. Nur indirekt und voller Andeutungen, die man wenden und drehen mußte, kam Fromms Sympathie für ihre Pläne zum Vorschein. Wieder einmal legte ein älterer Offizier diese opportunistische Haltung an den Tag, auf die er schon häufiger gestoßen war. Nach einem langen Tag voll an
Nachschubplanungen und Strategien zur Truppenverlegung an die Ostfront war er erschöpft und ärgerlich gewesen, als er in dem schlecht erleuchteten und feuchtnassen Keller endlich Gisevius traf. Nach allem, was er über Gisevius wußte, hatte er als Jurist gleich zu Kriegsanfang zusammen mit den übrigen Abwehrleuten, darunter dem jetzt verabschiedeten Generalmajor Oster, den er bewunderte, besessen nach Wegen gesucht, mit Hitler abzurechnen. Von Beck wußte er, daß Gisevius sich selber eine große Rolle als Reichskommissar zur Säuberung und Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung in einer neuen Regierung zugedacht hatte, doch jetzt traf er einen Mann, dessen sarkastische Art zu reden ihm sofort zuwider war. Vom ersten Augenblick an spürte er den überlegenen Ausdruck in Haltung und Blick des Mannes mit dem schütteren Haar. Er war ganz anders als der Sozialdemokrat Julius Leber, den er, versehen mit ähnlichen Vollmachten, die Gisevius anstrebte, sich schon als Innenminister vorgestellt hatte. Julius Leber wußte, was Krieg war, und war schon 33 einer der gefährlichsten Gegner der Nazipartei gewesen, Er dachte weiter und praktisch, während dieser Mann eher in eigene großpolitische Spekulationen und eine konspiratorische Welt eingesponnen war, wodurch ihm anscheinend nichts radikal genug war. Ironisch wies er die Möglichkeit zurück, mit dem Feind im Osten oder Westen auch nur zu verhandeln; ebenso wenig hielt er davon, daß Militärs sich in politische Angelegenheiten einmischten. Er sprach zu ihm und zu Hansen wie zu zwei Schuljungen, die er zufällig auf der Straße getroffen hatte. Einen Augenblick später fiel ihm plötzlich ein zu sagen: - Sie müssen wissen, Oberst Stauffenberg, daß ich natürlich Ihren Mut zum Attentat anerkenne! Er ließ die Bemerkung einen Moment lang in der Luft hängen, konnte aber seine Gereiztheit nicht verbergen, als er
antwortete: - Wissen Sie denn genau, daß ich die Bombe werfen werde? Gisevius lachte abwehrend und begann die Säuberung nach dem Aufstand zu diskutieren. - Ich finde, man muß alle Feldmarschälle und auch Typen wie von Brauchitsch und von Halder bestrafen, die auf ganz charakterlose Weise zu Beginn des Krieges die hitlerischen Überfälle auf die Tschechoslowakei, Polen, Frank reich und die Sowjetunion akzeptierten, sagte er und sah ihn herausfordernd an. - Man muß zwischen den unbestrittenen Parteigeneralen und jenen Generalen unterscheiden, die nie im Sold der Nazipartei gestanden haben. In einem neuen juristischen System kann man Militärs nicht dafür bestrafen, daß es ihnen an Charakter fehlte. Man muß zwischen Charakterlosen und Verbrechern wie Keitel und Reinecke unterscheiden. Gisevius blieb hartnäckig. - Die Leitung der gesamten Wehrmacht und des Heeres ist für die Katastrophe verantwortlich. - Ja, in einer Hinsicht, doch nicht alle sind Verbrecher. Gisevius schüttelte verständnislos den Kopf. - Darin würde General Oster nicht mit Ihnen übereinstimmen. - Vielleicht nicht, sagte er müde. - Oster ist derjenige Offizier, der am klarblickendsten, am entschlossensten und am längsten gegen die braune Tyrannei gekämpft hat, und es ist ein kapitaler Fehler, daß wir jetzt keinen Kontakt mit ihm haben, sagte Gisevius und starrte ihn in dem niedrigen Kellerraum wieder herausfordernd an. - Ich warne Sie vor dem Kontakt mit Oster, sagte er, er wird ständig von der Gestapo überwacht. Ein Kontakt mit ihm würde alle unsere Pläne gefährden. Zwei Tage später hörte er von Beck, daß Gisevius seine Eignung, den Aufstand anzuführen, angezweifelt hatte.
- Auf Grund seiner Verstümmelung scheint Stauffenberg an einem Minderwertigkeitskomplex zu leiden und versucht, diesen überzukompensieren, hatte er gesagt. Auf mich macht er den Eindruck eines Amateurpolitikers, selber aber bildet er sich ein, sowohl Soldat und Tyrannenmörder als auch Befreier des Vaterlandes zu sein. Doch in Wahrheit ist er ja, im Gegensatz zu Oster, erst aufgewacht, als durch die Katastrophe von Stalingrad vielen klar wurde, daß der Krieg verloren war. Also ein enttäuschter Prätorianer. - Damit erreichen Sie bei mir nichts, hatte Beck gesagt. Stauffenberg hat die ganze Last bei den Vorbereitungen zum Aufstand getragen. Und was Oster betrifft, vor dem ich großen Respekt habe, so ist er jetzt matt gesetzt und ist an dem Punkt angelangt, wo er geneigt ist, das Schicksal des Naziregimes mit dem der Nation gleichzusetzen. Er wirkt resigniert, Stauffenberg aber ist bereit, sein Leben einzusetzen. - Sie müssen zugeben, daß man sich schwerlich vorstellen kann, wie dieser bedauernswerte Mann in einem größeren Kreis auftreten sollte, geschweige denn, wie er sich vor den Massen machen würde. Stauffenberg hat sich nach dem Aufstand keine größere Rolle zugedacht, diese Sorge können Sie sich also ersparen. Er zuckte mit den Schultern, als Beck ihm diese Dinge berichtete, und schenkte ihnen nicht viel Aufmerksamkeit – er war viel zu sehr mit dem Attentatsversuch am 15. Juli in der Wolfsschanze beschäftigt. Doch obwohl er Gisevius nicht mochte und ihn durchschaut hatte, so traf dessen Skepsis doch etwas in ihm und vermehrte den Zweifel an den eigenen Motiven und Fähigkeiten.
Er blickt zu dem Schatten am Kreuz hin, und als sein Blick dort keine Ruhe findet, wendet er sich dem dunklen Gemälde
zu, das Maria Himmelfahrt zeigt. - Gib mir Kraft, murmelt er vor sich hin und hält seine dreifingrige Hand vor die Brust. Was muß er beweisen? Daß er Hitler und Keitel und den ganzen Kriegsrat töten kann? Daß er bereit ist zu sterben? Daß er bereit ist, seine Kinder und Nina einem Ungewissen Schicksal zu überlassen? Daß er die Kraft hat, einen Hochverrat zu begehen und im Fall des Gelingens als Mörder angesehen zu werden? Er weiß, die neue Gesellschaft, die kommen wird, hat keinen Platz für einen Meuchelmörder. Keiner sagt es laut, doch er weiß es. Dennoch will er der Mann sein, der den Dolch führte. Alle um ihn herum haben Angst, keiner will das Messer führen, weder sein Bruder noch Schulenburg, Wagner, Olbricht, York von Wartenburg, nicht einmal Tresckow und bestimmt nicht Fellgiebel, auch nicht Stieff, der doch direkten Zugang zu Hitler hat. Warum dann er…? Weil er müde ist, weil er einen Abschluß will, weil er sich wieder flüchtet, weil er sich vorm Krieg flüchtet, weil ihn das Grauen und das Morden überrascht haben? Ihm fallen plötzlich einige Zeilen aus dem Gedicht des Meisters ein: Zu jubeln ziemt nicht: kein triumpf wird sein Nur viele Untergänge ohne würde… Des Schöpfers hand entwischt rast eigenmächtig Unform von blei und blech gestäng und rohr. Töten, und das er? Ein Mörder? In Winniza hat er verschiedene Male mit Major Berger über den Tyrannenmord diskutiert, während sie morgens ausritten und die Pferde im Schritt durch den Birkenwald beim Hauptquartier lenkten; in diesen frühen Morgenstunden war die Luft kühl gewesen, die Sonne war noch fern und leuchtete
bleich am Himmel, der langsam Farbe annahm; auf den breiten Pfaden zwischen den schimmernden weißen Stämmen erklang der Vogelsang wie ein Ruf aus einer Traumwelt, die von einem unvergänglichen Leben außerhalb ihrer Reichweite kündete; doch wie er so auf dem großen schweren Körper des Pferdes saß, dessen Mähne und Geruch ihm entgegenwehten, fand er plötzlich Zugang zu dieser Welt, und die Welt, aus der er kam, erschien ihm auf einmal sinnlos. - Sie erschießen massenhaft Juden, sagte er eines Morgens, ohne Berger anzusehen. Die Verbrechen dürfen nicht weitergehen. - Wir können nichts machen, sagte Berger. Darauf haben wir keinen Einfluß! - Diktaturen bringen den Menschen bei, sich nicht verantwortlich zu fühlen. Und damit erhebt man die Verantwortungslosigkeit zum Schicksal. Ich kann keine Verantwortung für die Befehle der höheren Offiziere übernehmen, selbst wenn sie falsch sind – aber ich muß sie ausführen! sagte Berger und tauchte mit dem Kopf unter einem Zweig weg, der ihm im Wege war. Sie gaben ihren Pferden die Sporen und ritten eine Zeitlang im Galopp durch den Wald, bis sie an eine Lichtung gelangten, wo sie ihre Tiere zum Stehen brachten. Nebel stieg aus einem Sumpf weiter vorn, Spinnweben glänzten zwischen dem dichten Gebüsch, und die Birken warfen dünne Schatten über das wildwachsende Gras. - Wissen Sie, daß Thomas von Aquin unter gewissen Umständen den Tyrannenmord erlaubte? sagte er unvermittelt. Berger sah ihn überrascht an, während er die Zügel seines ungeduldigen Wallachs stramm hielt. - Diese Gedanken treiben mich gerade um, sagte er und strich mit der Hand am schweißigen Hals des Pferdes entlang.
- Auch Tyrannenmord ist Mord, sagte der junge Berger. Durch Mord kann man keine bessere Gesellschaftsordnung schaffen. Wie gewöhnlich ritten sie zu ihrem langen Arbeitstag am Schreibtisch zurück, und er erinnert sich an den Dämmerzustand, in dem er sich in den folgenden Tagen befand. Wenn die Telefone einmal nicht klingelten, mußte er wieder an seine Worte denken. Er warf sich selber Sentimentalität vor, weil er überhaupt Hemmungen hatte, den Mord am obersten Feldherrn zu Ende zu denken. Und jetzt? Jetzt fühlt er Abscheu bei dem Gedanken, und er weiß genau, daß er als Verräter dastehen wird. Doch er hat keine Wahl mehr, der Rubikon ist überschritten, er trägt bereits das Nessusgewand, Julius Leber ist verhaftet, Tresckow hat ihn in einem Brief überzeugt, daß sie es der Ehre wegen tun müssen, nicht mehr aus militärischen Gründen; aber das Leben Hunderttausender kann gerettet werden, ist das nicht ihre eitle Hoffnung? Alle in ihrem Kreis schauen auf ihn, er selber hat dieses Vertrauen aufgebaut, fast ein ganzes Jahr lang hat er sie an den Gedanken gewöhnt, daß er die treibende Kraft ist, daß die Fäden in seiner Hand zusammenlaufen; er hat die Befehle und Bekanntmachungen des Walküre-Plans nach Ulbrichts und Tresckows Entwürfen verbessert, und er hat auch die Kontakte und die Stichwörter für die Heeresschulen und die Bataillone in Potsdam, Cottbus und Krampnitz sowie für die Führer in Hamburg, Paris, Prag, Wien und in anderen Städten. Und doch stand er vor einigen Tagen schwitzend in einem Korridor in Hitlers Lagerbaracke im innersten Sperrkreis der Wolfsschanze mit einem Telefon in der Hand da und mußte wie ein beliebiger Bittsteller die Generale von Witzleben, Ulbricht, Hoepner und Beck in der Bendlerstraße um Handlungsfreiheit ersuchen, weil Himmler, anders als erwartet,
nicht zur Besprechung mit Hitler aufgetaucht war und weil Stieff und Fellgiebel ihn im Auftrage von General Wagner eindringlich gemahnt hatten, daß das Attentat nicht ausgeführt werden dürfe, wenn sie nicht auch Himmler zu fassen bekämen. Wer entschied die Sache, wer bestimmte? Er hatte sich widersetzt, dieser Tag mußte es sein, er ertrug die Wartezeit nicht länger, die Anspannung, die Schlaflosigkeit und das Bewußtsein, daß er es war, der sowohl die Drecksarbeit machen als auch das Ganze vorantreiben sollte. Einzig auf Mertz war Verlaß gewesen. Drei Gelegenheiten hatte es am 15. Juli gegeben, und sie ließen alle verstreichen, obwohl Ulbricht in Berlin den Walküre-Plan ausgelöst hatte und die Marschbefehle an die Stadtkommandantur und die Walküre-Bataillone rund um Berlin ausgegeben waren. Stieff hatte am Morgen seine Aktentasche mit dem Sprengstoff entfernt und ihn ständig im Auge behalten. Als er die Tasche schließlich fand und in Berlin anrief, erhielt er keine Antwort. Die Holzwand vor ihm verschwamm, seine drei Finger zitterten, als er den Hörer hielt, oder war es der Hörer selber, der zitterte? Er traute seinen Ohren nicht, während er mit dem Rücken zum Konferenzraum in der betonverstärkten Holzbaracke stand und den Schweiß auf dem Rücken spürte und so tat, als würde er ein sachliches, fast gleichgültiges Gespräch mit dem Hauptquartier des Generalstabs in der Bendlerstraße führen; Mertz am anderen Ende der Leitung versuchte ihn zu beruhigen, da rief man ihn plötzlich zu einer neuen Besprechung hinein. In zehn Minuten erwarte der Führer einen neuen Vortrag, und er mußte den Hörer auflegen und seine Papiere heraussuchen. Sie hatten berechnet, daß die Zünder eine Verzögerung von etwa zehn Minuten hatten, nachdem sie entsichert waren; die Entsicherung war jedoch eine schwere Prozedur für jemanden,
der nur mit drei Fingern eine Zange führen mußte. Das würde fünf bis zehn Minuten in Anspruch nehmen. Deshalb hatte er Stieff um Hilfe gebeten, doch Stieff war – selbst als er ihm klargemacht hatte, daß er die Sache telefonisch mit der Bendlerstraße abgesprochen hatte – den ganzen Vormittag überzeugt, es wäre verkehrt, zuzuschlagen, so daß er auf sich allein gestellt war. Am frühen Nachmittag, als er wieder mit Fromm und Hitler und Keitel und mehreren anderen in einer Lagebesprechung war, hatte er dieses Gefühl von Unwirklichkeit, das Gefühl, an einer Maskerade teilzunehmen. Fromm erläuterte stehend die Möglichkeiten des Ersatzheeres, die Wangen seines runden und glatten Gesichts glänzten in dem Sonnenlicht, das hell von draußen hereinschien, die Worte fielen träge aus seinem Mund und kamen wegen des kleinen zuvorkommenden Lächelns in den Mundwinkeln fast nicht heraus; alle Bewegungen, alle Worte waren direkt an Hitler gerichtet, der von ihm keine Notiz zu nehmen schien. Keitel machte Notizen und stellte auf seine spitze Art Fragen, und Hitler in seiner einfachen zweireihigen Uniformjacke starrte abwesend aus dem Fenster. Über den Tisch hin fing er Stieffs Blick auf, sein kleiner Körper war angespannt, die Hände unruhig – es war wieder nicht der richtige Zeitpunkt. Er schob seinen Stuhl zurück, erhob sich und griff unter dem Vorwand, telefonieren zu müssen, seine Aktentasche und verließ den Raum. Wieder ging er zu dem Telefon im Korridor und rief die Bendlerstraße an, wo er Mertz am Apparat hatte. Erst vor wenigen Tagen hatte er ihm spätabends in seinem Haus in Berlin am Eßtisch gegenübergesessen, und sie hatten angeregt über ihre gemeinsame Zeit vor dem Krieg auf der Militärakademie und ihre Cafebesuche am Alexanderplatz gesprochen. Diese Zeit war Lichtjahre her. Zum erstenmal seit
langem hatte das Lachen wieder zu ihm gefunden, als Mertz ihn an seine Angst vor Wespen erinnerte. Jetzt sagte Mertz: - Man hat hier abgestimmt, und die Mehrheit ist dagegen, daß du etwas unternimmst. Er hielt den Atem an. Draußen hörte er Vogelstimmen, fern, fern. Seine Schläfen pochten. Ihm war übel. - Was meinst du? Soll ich es trotzdem tun? Mertz atmete schneller am Telefon. - Tu’s! sagte er und legte den Hörer auf. Er nahm die Tasche, sah sich im Korridor um und ging auf eine Toilette. Er schloß die Tür hinter sich, öffnete schnell die Tasche und nahm mit seinen drei Fingern das Päckchen mit dem Sprengstoff und den Zündern unter dem Hemd heraus, das er als Abdeckung benutzt hatte. Er ergriff auch die Zange und preßte nach einigen Versuchen die Kupferhülsen eines Zünders mit leichtem Druck zusammen; in den Kupferhülsen saßen die säuregefüllten Glasampullen, und die Säure würde die Messingdrähte auflösen, von denen die Spiralfedern mit den kleinen Zündbolzen gespannt wurden. Er hatte es viele Male geübt und wußte, daß er vorsichtig mit der Zange hantieren mußte, damit nicht in dem Augenblick, in dem er die Kupferhülsen zusammendrückte, die Messingdrahte brachen. Doch er war zu vorsichtig, und die Kupferhülsen blieben ganz. Er setzte einen Augenblick lang die Zange ab und atmete schnell, während er nach dem totenstillen Korridor lauschte. Er hatte Schweiß auf der Stirn, und er verfluchte flüsternd seine Behinderung. Wieder setzte er die Zange an die Kupferfassungen, doch jetzt tastete seine Hand zitternd mit der Zange nach den Kupferhülsen; im selben Augenblick hörte er auf dem Korridor Stimmen, dann rief Fromm aufgeregt nach ihm. Hastig packte er die Sachen in die Tasche, wartete etwas und ging hinaus. Als er in den Lageraum zurückkam, stand
Fromm genau in der Tür und unterhielt sich mit Keitel. Hitler war verschwunden. - Die Besprechung ist beendet, sagte Keitel und drehte sich zu ihm um. - Wohin sind Sie verschwunden? Fromm hat nach Ihnen gesucht. - Auf die Toilette! sagte er und lächelte etwas, während seine drei Finger sich fest um den Griff der Tasche krampften. - Nun ja. Selbst deutsche Offiziere müssen auf die Toilette! Fromm lachte; er kannte dieses Lachen. Am selben Abend rief er von der Tristanstraße aus Nina in Bamberg an. Aus irgendeinem Grund war Berthold nicht im Haus, und er mußte mit jemandem sprechen. Wegen des Abhörens sprachen sie beim Telefonieren nur über allgemeine, tägliche Dinge oder in codeartigen abstrakten Redewendungen, und an diesem Abend sagte er, ohne ihr Näheres zu erklären: - Es ist ein tiefdeprimierendes Gefühl… daß man letztlich, wenn es den unbedingten Mut und Willen zur aller letzten Konsequenz gilt – sich alleine sieht. Ich verstehe dich, sagte sie und sprach sofort über andere Themen. Er war jedoch nicht sicher, ob sie verstand, wie sollte sie auch verstehen, wenn er nicht einmal von Angesicht zu Angesicht nur andeuten konnte, was vor sich ging? Er erinnert sich, wie er nach dem Gespräch allein in dem verdunkelten Haus umherging, ohne Ruhe zu finden. Ehe er mit seinem Adjutanten Klausing, der sich den ganzen Tag lang in einem Auto im innersten Sperrkreis bereitgehalten hatte, die Wolfsschanze verließ, hatte er wieder Mertz im Bendlerblock angerufen und das Zeichen gegeben, das Ganze abzublasen, und Mertz hatte ihn gebeten, am Apparat zu bleiben, während er den Bescheid weitergab.
Als Mertz zurück war, sagte er: - Du kannst es dir nicht vorstellen, Stauf… sie waren euphorisch vor Erleichterung! - Und was ist mit dir? fragte er. - Ich bin tief enttäuscht… besonders deinetwegen. Hältst du durch? - Ja, sagte er, war aber nahe daran, nein zu sagen. Und warum sagte er nicht nein? An diesem Abend wollte er am liebsten zu allem nein sagen. Nein, ich halte nicht durch, nein, ich mache es nicht – nicht noch einmal. Macht ohne mich weiter – laßt einen anderen im Stich. In der Dunkelheit der Zimmer war der Tag plötzlich zu einem Alptraum geworden, aus dem er nicht erwachen konnte, und als er in den Raum mit dem Bett und seinem unordentlichen Laken und der hingeworfenen Bettdecke ging und sich dort setzte, mußte er einen kurzen Augenblick danach aufstehen, um wieder in die leeren Zimmer zu gehen, ohne zu wissen, was er mit sich anfangen sollte. Er ging zum Fenster und starrte auf die verdunkelte Straße. Die Häuser lagen grau und blind auf der anderen Seite des Weges, umkränzt von den dichtbelaubten Ulmenkronen; nichts rührte sich unter dem schwach schimmernden Abendhimmel, der halb von fließenden tintenschwarzen Wolken bedeckt war. Plötzlich wurde der Mond sichtbar und erstrahlte kurz ein Feld des Himmels mit seinem schneidenden silberartigen Licht. Er bemerkte Geräusche von fernen Flugzeugen, konnte aber nichts sehen. Weit weg stieg jäh ein Lichtschein auf, und der undeutliche Knall einer Flak echote in der Dunkelheit; noch immer war Brummen von Flugzeugen zu hören, und am Horizont zeichnete sich schwach ein weiterer halluzinatorischer Lichtschein ab. Er malte sich aus, wie Häuser irgendwo am anderen Ende Berlins einstürzten, wie Steine und Möbel und Glas durch die verlassenen Straßen fegten, wie Kalkstaub aufwirbelte und sich zu einem
wandernden Nebel verdichtete, der auf allem seine Spur hinterließ: Bäumen, Fenstern, Gebäuden, Händen, Kleidung und Gesichtern, diesen Gesichtern von Kindern, Frauen und alten Männern, die schließlich in denselben Straßen umherirrten oder in Bunkern, Kellern oder notdürftigen Schutzräumen kauerten. Diese ängstlichen grauen Gesichter. So weit waren sie gekommen. Es war nur mehr eine Frage der Zeit, bis die ganze Stadt voller Ruinen war – wenn nicht… Er verließ das Fenster und ging tiefer in die Dunkelheit des Zimmers. Er schaltete eine Lampe ein, die sofort zu flackern begann, öffnete einen Schrank und holte den Cellokasten hervor. In Kürze waren die Bomber vielleicht über dem Wannsee und der Tristanstraße und dem Haus, aber er war außerstande, Schutz zu suchen. Er kämpfte mit dem schweren Kasten, bis er ihn schließlich öffnete, mit seinen drei Fingern den Hals des Cellos umfaßte und es aus dem Kasten hob. Unter Schwierigkeiten trug er es zu dem Stuhl und gelang es ihm, das Cello dagegen zu lehnen. Dann holte er den Bogen, setzte sich auf den Stuhl und versuchte, beide Seiten des Cellokörpers fest mit den Beinen zu umschließen. Es war ein schwieriger Balanceakt, das Cello kippte mehrmals nach einer Seite, schließlich aber konnte er es ruhig halten. Jetzt griff er den Bogen, den er mit dem Mund gehalten hatte, und strich damit über die Saiten. Der Klang war falsch, ein Jammern. Er griff nach oben und spannte die Saiten langsam und konzentriert; eine Zeitlang strich er mit dem linken Arm in umgekehrter Richtung, der fehlende Daumen erschwerte es, den Bogen zu halten. Schließlich brachte er einen melodischen Klang hervor, den er immer wiederholte. Er stellte sich vor, ein BrahmsStück zu spielen, das durch das ganze menschenleere Haus drang.
Er weiß nicht, wann er in den Schlaf fiel. Er kann sich nur erinnern, daß er etwas Brot aß und ein Glas Wasser trank und, während er im Bett lag und in die Dunkelheit starrte, sich danach sehnte, seine Kinder in den Arm zu nehmen, ihr unbegrenztes Vertrauen zu spüren, zu spüren, daß er selber existierte. Er hatte sich im Spiegel gesehen, und sein Gesicht war ihm fremd gewesen. Die Unsicherheit, die in seinem Körper saß und an die er sich im letzten Dreivierteljahr in Berlin gewöhnt hatte, als er im Bendlerblock fast täglich insgeheim am Walküre-Plan und an Vorbereitungen zu einem Putschversuch arbeitete, türmte sich vor ihm auf. Sie waren umgeben von einer Welt des Mißtrauens, umgeben von möglichen Verrätern, wohingegen Hitler – trotz allem – noch immer in einem Meer von Vertrauen schwamm. Wem konnten sie trauen? Die meisten waren bereit, sie zu denunzieren. Nur fünf, sechs Leute aus ihren kleinen Kreisen kannten sich persönlich, sie riefen sich oft von Telefonen an Straßenecken oder in Postämtern an; sie sprachen verschlüsselt; er rief aus dem Bendlerblock an, wußte aber, daß die Gestapo mithörte. Wie deuteten sie, was sie hörten? Wenn sie Mitteilungen hinausschickten, mußten sie dem Boten hundertprozentig trauen können, doch war das möglich? Oft trafen sie sich persönlich, immer unter diesem oder jenem Vorwand und oft an einem neuen Ort – einer kannte einen, der einen mit einer Wohnung kannte, und so weiter. Die Gestapo oder die Leute vom Sicherheitshauptamt saßen ihnen ständig im Nacken, allein die Vorstellung, daß sie da waren, genügte; vor einigen Monaten ging er mit Schulenburg und dessen Sekretärin auf der Straße, als ein Auto mit SS-Leuten neben ihnen auffuhr. Er dachte: Jetzt geschieht es! Es geschah nichts, die SS-Leute gingen in eine Bäckerei. Sie hatten Moltke verhaftet, vor einigen Wochen nahmen sie Reichwein und Leber hoch, sie folterten Leber, wie lange konnte Leber dichthalten?
In dieser Nacht träumte er, er würde zur Nachtzeit auf dem schwarzen Hengst aus Winniza durch die gespensterhaften Berliner Straßen reiten; er ritt durch das Brandenburger Tor und hatte einen Brief in der Tasche, der Brief brannte auf seiner Haut; weit draußen hinter der Reihe aus Ruinen erhob sich ein Birkenwald, er gab dem Pferd die Sporen und ritt auf den Wald zu, doch der Wald entfernte sich, je länger er ritt, und der Kalkstaub bedeckte seine Augen. Er sprang an einer Wegbiegung vom Pferd und wischte sich den Staub aus den Augen, als ein Mann aus einem zerbombten Gebäude trat und die Hand ausstreckte. - Der Brief ist für mich, sagte er. Er reichte ihn dem Mann, der ihn öffnete und las: - Empedokles! Mit einer nonchalanten Bewegung warf er den Brief weg und lachte, der Bogen flog über die Ruinen und verschwand wie ein weißer Fleck in der Dunkelheit. Das Lachen des Mannes schwoll an und wurde zu einem Wind, der durch die Straßen fegte. Und der Mann war grau, und über seine Oberlippe lief ein schwarzer Rußstreifen. Und er sprang aufs Pferd und gab ihm wieder die Sporen und ritt auf die weißen Stämme und den Wald zu, der sich ständig entfernte. Er erwachte jäh aus dem Traum und wußte einige Augenblicke lang nicht, wo er war. Befand er sich doch mitten im Birkenwald? War er tot? Er konnte nichts hören, nichts sehen. Benommen stand er aus dem Bett auf, und erst als er festen Boden unter den Füßen hatte, wurde ihm klar, wo er war; er legte sich wieder ins Bett und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Im stillen ging er alles durch, was immer noch dafür sprach, daß er das Attentat ausführte, obwohl er sich nun nicht mehr der Unterstützung der Generale sicher war und hundertprozentig nur auf Mertz rechnen konnte. Noch deutlicher als früher wurde ihm klar, daß es eine entscheidende Schwäche sein konnte, Tresckow mit seiner ganzen
Ausstrahlung und seinem Gewicht nicht in Berlin zu haben, wenn er sich wieder entschloß, sein Leben in der Wolfsschanze aufs Spiel zu setzen. In der Dunkelheit fielen ihm einige Worte Tresckows ein: Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, daß Gott auch Deutschland um unsertwillen nicht vernichten wird. Wer in unseren Kreis getreten ist, hat damit das Nessushemd angezogen. Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine feste Überzeugung sein Leben hinzugeben. Schöne Worte, große Worte, vielleicht geradezu pathetisch, doch Tresckow hatte sie auf seine gewöhnlich ruhige und abgeklärte Art ausgesprochen, und er wußte, daß er mit jeder Faser seines Körpers dafür einstand. War Tresckow ein Phantast, dann galt es genauso für ihn. Dann mußte er eben ein Phantast sein, der sich auf seine letzten Stunden vorbereitete. Hatte er nicht ein leicht erregbares Gemüt? Hatten seine Brüder und seine Mutter das nicht immer von ihm gesagt? Er lächelte im Dunklen, er wußte, daß er es tun würde, egal, wie die Chancen standen. Und er wußte, daß er, ganz abgesehen davon, was er tat, als Verräter dastehen würde. Würde er es nicht tun, würde er sein eigenes Gewissen verraten, tat er es, und besonders wenn der Putschversuch mißlang, so würde er noch lange Zeit der Verräter sein, der dem Führer den Dolch in den Rücken stoßen wollte. Ja, selbst wenn es gelang, so konnte er nicht wissen, was man von ihm halten würde. In der Dunkelheit begann er Pläne für das nächste Attentat zu machen und fiel plötzlich tief erschöpft in den Schlaf. Am nächsten Morgen stand Mertz früh in Begleitung eines Hauptmanns aus dem Generalstab, den er noch nie gesehen hatte, vor dem Haus in der Tristanstraße.
Er öffnete die Eingangstür und zeigte auf den jungen Hauptmann, der im starken Sonnenlicht schützend eine Hand vor die Augen hielt. Ein Auto fuhr vorbei, doch darin schaute niemand in ihre Richtung. - Wer ist das? - Siebeck, sagte Mertz. Ich bürge für ihn. Er hilft uns im Hauptquartier und wird in den Plan eingeweiht. - Gut, sagte er und ließ sie schnell herein. Mertz sah sich besorgt um, als sie in einer Sofaecke im Wohnzimmer des Hauses Platz nahmen. Er sah müde aus, seine Nerven lagen blank. Doch Mertz sagte nichts. Sie kamen ohne Umschweife auf den mißglückten gestrigen Versuch zu sprechen, und er sagte mit erzwungener Ruhe zu Mertz: - Ich bin darauf eingestellt, es ein letztes Mal zu versuchen. Vielleicht wird es schon irgendwann in der nächsten Woche sein, die Gerüchte sagen, man will mich im Führerhauptquartier wieder hinzuziehen, um über die Sperrdivisionen im Osten zu reden. Wie du weißt, kann das ganz kurzfristig geschehen, ja, von einem Tag zum anderen. Dieses Mal nehme ich meinen Adjutanten Haeften als Hilfe mit. Mit Stieff rechne ich jetzt nicht, und jemand muß mir den Zünder halten, während ich mit der Zange arbeite. Wir tragen zwei Aktentaschen, eine mit dem Sprengstoff, die andere mit meinen persönlichen Dokumenten. Haeften ist bereits einverstanden, und ich treffe mich mit ihm, sobald wir das Datum kennen. - Was ist mit dem Einverständnis der Generale? fragte der sonst energische Mertz und strich sich mit einer Hand über das schüttere Schläfenhaar, das ihn an diesem Morgen zehn Jahre älter machte. - Wir machen es unter allen Umständen, sind wir uns einig? Mertz nickte und sagte: - Du weißt, was das bedeutet?
Ja. Das Risiko, daß es schiefgeht, ist größer. Damit müssen wir leben. Sie sahen sich an, ohne den Hauptmann zu beachten, Mertz lächelte schwach, als er versuchte, ihm Optimismus einzuflößen, doch er spürte seine Nervosität. Ich werde persönlich die Walküre-Befehle im Haupt quartier ausführen, sagte Mertz. Wir müssen darauf setzen, daß meine Befehlsautorität als Generalstabschef im Haupt sitz der Materialabteilung genügt, falls Olbricht zögert und Fromm überhaupt nicht mitmacht. Sie gingen noch einmal die strategische Situation durch, und er erklärte gleichzeitig Hauptmann Siebeck die Hintergründe: Der Walküre-Plan besteht ursprünglich aus den internen Maßnahmen im Falle eines Putsches gegen den Staat, und zwar um die zur Verfügung stehenden Kampfeinheiten zur Unterstützung des Staatsapparates zu mobilisieren. Sie sind auf Befehl des Führers für den Fall erarbeitet worden, einen Aufruhr im Reich zu zerschlagen. Wir werden diese Pläne zu unseren Gunsten nutzen, sie sozusagen gegen den Hitlerstaat selber wenden. In raschem Tempo sollen die wichtigsten SSEinheiten und Parteizentralen und Naziführer verhaftet werden, die wichtigsten Ministerien und Rundfunksender werden besetzt und unter unsere Kontrolle gebracht. Ausgangspunkt des Ganzen wird sein, daß der Führer tot ist. In den ersten Stunden handeln wir offiziell in seinem Namen, wir wollen, daß das Heer es glaubt. Später legen wir die Maske ab. Ist der Putsch erst im Gange, müssen wir uns auf die Kommandostruktur verlassen und daß die Offiziere und Soldaten den Befehlen gehorchen, die von uns kommen. Wir haben alle zentralen Posten ausfindig gemacht, die direkt für unsere Sache arbeiten können. Es sind nicht viele, aber genug. - Wie viele sind genug? fragte Siebeck.
- Das läßt sich schwerlich in Zahlen ausdrücken, sagte er, höchstens vierzig bis fünfzig. Siebeck sah ratlos aus. - Einschließlich der anderen Offiziere und der Zivilisten auf wichtigen Posten sind wir mehrere Hundert, fügte Mertz rasch hinzu. Siebeck nickte nachdenklich und sah von einem zum anderen. - Ja, verzeihen Sie, sagte er, es muß doch ein logistisches Problem sein, wenn Generalstabschef Stauffenberg am selben Tag den Sprengstoff in Ostpreußen zünden und auch den Putsch in Berlin leiten soll? - Selbstverständlich ist es das, sagte Mertz, doch Stauf hat als einer der wenigen von uns Zugang zu Hitler, und wir sind alle anderen Möglichkeiten durchgegangen. - Beck hat mir gesagt, sagte er mit einem kleinen Lachen, ich soll in der Wolfsschanze nichts unternehmen, wenn ich sehe, daß ich mein eigenes Leben in Gefahr bringe. Aber genau das werde ich tun müssen, nicht wahr? - Also möglicherweise kommen Sie nie nach Berlin? sagte Siebeck zögernd und sah ihn an. - Es gibt drei Sperrkreise in der Wolfsschanze, sagte er. - Wer weiß? Er erinnert sich, daß Mertz bei einem Treffen am selben Abend im Haus in der Tristanstraße wieder zu seiner Vitalität gefunden hatte und in seinen Äußerungen zum Putsch fest entschlossen wirkte. An diesem Abend hatten er und Berthold mehrere Personen zu Gast, die engstens mit der Verschwörung verbunden waren: Schulenburg, Trott, Hofacker, Schwerin und Hansen. Als Folge der beiden fehlgeschlagenen Attentatsversuche vom 6. und 15. Juli war die Stimmung gedrückt, aber nüchtern, und es war für alle wichtig, die Situation durchzusprechen. Gab es doch eine andere
Möglichkeit als das Attentat und die Aktion Walküre? Ließ sich der Staatsstreich mit einer Öffnung der Westfronten einleiten? Sollte man versuchen, vierundzwanzig Stunden lang den Nachrichtenapparat zu besetzen und aus der Bendlerstraße Rückzugsbefehle an sämtliche Heeresgruppen ausgeben? Beide Aktionen wurden als unrealistisch abgelehnt. Oberstleutnant Caesar von Hofacker, sein Vetter, der in Paris stationiert war, hatte sowohl mit Rommel, Kluge und Stülpnagel und mit Speidel gesprochen und hatte von allen vieren die Vollmacht erhalten, die Putschmaßnahmen im Westen mit den Ereignissen in der Bendlerstraße und der Wolfsschanze zu koordinieren. - Bei Kluge weiß man nicht, sagte Caesar von Hofacker. Doch wenn das Attentat gegen den Führer gelingt und die Aktion in Berlin läuft, dann deutet viel darauf hin, daß Rommel anschließend bereit wäre, die Front zu öffnen. Kluge macht wahrscheinlich mit, wenn er sieht, daß Rommel handelt. Ich bin mir sicher, daß Stülpnagel die Situation in Paris völlig unter Kontrolle haben wird. - Wie lange läßt sich die deutsche Stellung in Frankreich halten, so wie es jetzt aussieht? fragte er Caesar. Nach der Invasion in der Normandie rechnen wir da mit, daß jetzt über eine Million amerikanischer und englischer Truppen gelandet ist, sagte Caesar. Die Amerikaner brauchen nur bis nach Avranches kommen, das ist eine Frage von ein oder zwei Wochen, und dann werden sie durchbrechen. Sie diskutieren lange, ob es mit den Alliierten im Westen und Osten überhaupt Verhandlungsmöglichkeiten gab, sollte der Putsch wirklich gelingen. Trott war überzeugt, daß der Osten wie auch der Westen mit einer neuen Regierung verhandeln würden, jedoch nur über die Bedingungen einer Kapitulation. Als sie sich spätabends trennten und jeder seinen Geschäften nachging, tauchte unerwartet sein Vetter Oberleutnant und
Oberregierungsrat Peter York von Wartenburg auf. Er überbrachte einen Gruß des verhafteten Moltke, des informellen Leiters des Kreisauer Kreises; dieser Gruß kam über seine Frau Freya von Moltke, die ihn in seiner Zelle in Tegel besucht hatte. Er führte Peter zu der verschlissenen Sofagruppe in der Zimmerecke und bat ihn, Platz zu nehmen. Kurz darauf kam Berthold dazu. Er erinnert sich, wie plötzlich das Licht in den wenigen eingeschalteten Lampen ausging, in einem Küchenschrank fand er ein paar Stearinkerzen, die er ins Zimmer brachte, aber jetzt fehlten ihnen Streichhölzer, und Berthold mußte im Stockfinstern nach oben gehen, eine Schachtel zu holen. Die dunklen Augen in Peters feinem bleichen Gesicht leuchteten im Schein der schwach flackernden Kerzen, er wirkte in der Uniform sonderbar schmächtig und sah wie ein Mann aus, der zu essen aufgehört hatte. Er war soeben mit dem Auto aus Berlin-Mitte gekommen und begann, Eindrücke von der Stadt zu schildern, die er besser kannte als sie, und obwohl sie flüchtig dasselbe gesehen hatten wie er, rief doch irgend etwas in seiner Stimme Schmerzen hervor. Er sagte: - Die Innenstadt ist schon eine Ruinenlandschaft. Am Tirpitzufer und in der Bendlerstraße steht, abgesehen vom Oberkommando, fast kein Haus mehr. Die Tiergartenstraße ist völlig ausgebrannt. Im ganzen Tiergartenviertel stehen nur noch wenige Häuser, eins davon ist das große Gebäude der Fernbahn. Das Hotel Eden, die ganze Tauentzienstraße, die Budapester Straße, Kleiststraße, und auch die Behrenstraße, Friedrichstraße, Unter den Linden, der Pariser Platz und so weiter: Von einigen einzelnen Häusern abgesehen, steht da nichts mehr. Es erinnert mich an eine Erscheinung, die Helmuth Moltke 43 hatte. Bei einem der letzten Male, als sich der ganze Kreis in Kreisau traf, hat er mir davon erzählt. In einer Pause zwischen den Diskussionen saßen wir bei einer
Suppe, er war plötzlich abwesend und starrte zum Fenster hinaus, und ohne mich anzusehen, sagte er: - Vor einigen Tagen bin ich wie gewöhnlich mit dem Fahrrad durch Mitte gefahren, ich war auf dem Wege zum Ministerium und fuhr an all diesen Ruinenbunkern vorbei, einer davon war wahrscheinlich ein Geschäft für Scherzartikel gewesen. Eine Gruppe Kinder zwischen vier und vierzehn Jahren hatte die ganze Aufmachung mitgehen lassen, sie hatten bunte Hütchen aufgesetzt, sie hielten Fähnchen und Lampions in den Händen, sie warfen Konfetti und zogen lange Papierschlangen hinter sich her, sie gingen in einer langen Reihe durch die Ruinen. Ein unheimliches Bild, ein apokalyptisches Bild. - Helmuth hat Röntgenaugen, sagte Berthold, man darf sich in ihm nicht täuschen, unter seiner beißend witzigen, angelsächsischen und manchmal kühlen, ja arroganten Art verbirgt sich eine Fähigkeit, mehr als andere zu sehen und zu spüren. Eigentlich hat er mich in das hier hereingezogen. Schon viele Jahre vor dem Krieg hat er darüber nach gedacht, wie ein neues Deutschland und Europa aussehen sollten, wenn die Nazis sich endgültig demaskiert hätten. Noch kurz vor seiner Verhaftung hat er mich zu Hause besucht, sagte Peter, ganz in Gedanken versunken. Er stand in langem Staubmantel und sorgfältig gepreßtem dunklen Anzug draußen vor der Tür. Groß und dünn, sein Kopf scharf geschnitten und das Haar glatt und dick. In einem Augenblick machte er sich über die vielen Beamten lustig, die aus der Stadt geflohen waren und einen Mann wie ihn allein in seinem kalten Dienstzimmer zurückgelassen hatten, um in einem Prozeß nach dem anderen mindestens vier Rollen zugleich zu spielen. Im nächsten Augenblick sprach er von der falschen Überwindung des Grauens. Er war Zeuge gewesen, wie zwei seiner Freunde zerfetzt wurden. Er sagte: - Ich überwand meine eigene innere Bewegung und das Grauen, und dann ging
es verhältnismäßig leicht. Aber es war eine falsche Reaktion. Man ist gezwungen, die eigene Verteidigung der Gleichgültigkeit zu überwinden, man darf sich nicht panzern, man muß es aushalten und ertragen. Um Tod und Grauen auszuhalten, versucht man, das Menschliche abzutöten, und diese Gefahr ist viel größer als das ständige Risiko, das Ganze nicht aushalten zu können. Er war, genauso wie Berthold, einige Zeit stumm und betroffen von Peters Worten. Dann sagte er zu Peter: - Ich habe meine Vorbehalte gegen ihn sicher übertrieben, doch seine beharrliche Skepsis gegenüber unseren Plänen und sein direkter Widerstand gegen das Attentat machen es mir schwer. - Ironischerweise war er vor einigen Jahren dafür eingetreten, daß die Generale auf irgendeine Weise aktiv würden, sagte Peter, als er aber sah, daß nichts geschah, kam er immer mehr zu der Überzeugung, daß die Nazis freie Hand haben müßten, damit den Deutschen aufging, wer für dieses Kriegschaos verantwortlich war. Wir waren uns beide lange Zeit darin einig, daß ein Mord an Hitler nicht zu rechtfertigen war und es die verkehrte Art wäre, den Übergang zu einer neuen Regierung zu schaffen. Wie kann man sich konsequent vom Terror der Nazis distanzieren und zugleich selber an einem Mordkomplott beteiligen? Das war die Frage. - Hast du die Antwort? fragte er mit einem müden Lächeln. - Es gibt keine eindeutige Antwort, und doch beteilige ich mich an dem Putsch. Wir stehen einem verbrecherischen Regime und einem Staat gegenüber, die totalen Anspruch auf den Menschen erheben, ich möchte sagen, einem Staat, der alles Religiöse, alle religiösen Normen, alle moralischen und geistigen Werte ausrotten will. Moltke fürchtet, der gegenwärtige Staat sei nur die Karikatur einer Zukunft, wo die Technik eine zu große Rolle spielt, wo die Regierenden sich von den Regierten entfernt haben, wo die Staaten zu groß sind,
um human zu sein. Vielleicht hat er recht, er hätte Deutschland gern in mehrere Staaten geteilt und sieht ein vereintes Europa aus kleineren Staaten vor sich, von denen jeder einen Teil seiner Souveränität ab getreten hat. Selber fürchte ich nicht so sehr die Staatenbildung und das Nationale, doch setzt das den Einfluß der Bürger auf lokaler Ebene voraus, auf die Fabriken, die Unternehmen, die politischen Räte. - Dergleichen nennen Goerdeler und die Alten Sozialismus! sagte Berthold. - Das ist weder Sozialismus noch irgend etwas anderes. Wir müssen ganz von vorn anfangen! sagte Peter und erhob sich. - Ich brauche eine klare Antwort von dir, sagte er. - Habe ich die nicht gegeben? sagte Peter und faßte sich an die Stirn. - Du bist doch nicht krank, oder? fragte Berthold. - Nur erschöpft… genau wie ihr, sagte Peter und lächelte schwach. - Er ißt zu wenig, sagte er, und außerdem hat er mir nicht geantwortet, warum ich Hitler töten soll. Peter ging vom Sofa weg, und obgleich sein Schritt leicht war, als er sich zum Fenster zur Straße mit den schwarzen Gardinen bewegte, knackte doch der Holzfußboden unter ihm. Mit dem Rücken zu ihnen zog er eine Gardine zur Seite und sah in den fernen dunklen Himmel. In dem Zimmer mit seinen wenigen Möbeln und der zunehmenden Nachtkühle war es still; irgendwo in der Dämmerung tickte eine englische Standuhr, ihre Kupferzeiger leuchteten schwach im Schein der fast heruntergebrannten Stearinkerzen. Während er Bertholds Gesicht über dem Kragen der Marineuniform betrachtete, rief er sich plötzlich den Jungen in Erinnerung, mit dem er im glitzernden Winteridyll von Lautlingen zusammen Ski gelaufen war. Eines Tages hatten sie in der weißen Landschaft eine schwarze, tote Krähe im Schnee
gefunden, und ehe sie mit nackten Händen vergeblich versuchten, sie in der kalten harten Erde zu begraben, hatte Berthold eine Messe für sie gehalten. Peter wandte sich um und sagte: - Du mußt den Mann töten, Stauf, weil er das Schlimmste verkörpert, was je geschaffen wurde, und weil jedes beliebige zivile Gerichtsverfahren ihn sowieso zum Tode verurteilen würde. - Ist er nicht nur ein Ausdruck der deutschen Neigung zum Absoluten, müßten wir dann in letzter Konsequenz nicht eine halbe Nation töten? fragte er, seiner alten Vorliebe zum Advocatus Diaboli folgend. - Nein, wir müssen ihre Blindheit und Verblendung töten. Und die zeigen sich in ihm. - Warum dann nicht warten, bis wir ihm einen zivilen Prozeß machen können? fuhr er fort. Peter hielt einen Augenblick lang den Atem an. - Wann wird das sein? Wie viele müssen sterben, ehe wir die Gelegenheit dazu haben? Danke, sagte er, genau das wollte ich hören. Er stand auf, ging auf Peter zu und umarmte ihn. Im Hinausgehen drehte Peter sich zu ihm um und sagte: Moltke hat auch noch etwas anderes Interessantes gesagt. - Ja? - Er sagte ungefähr: Die Probleme, vor denen wir stehen, sind riesengroß, welcher Gigant kann sie lösen? Läßt sich denken, daß eine Gruppe Durchschnittsmenschen das schafft? Ist es nicht wahrscheinlicher, daß gerade eine solche Gruppe damit fertig wird – und nicht der Gigant? In der Diele zog Peter einen dünnen Sommermantel an. Er öffnete ihm die Tür, und Peter trat einige Schritte in die kühle Nachtluft hinaus. Die Ulmen auf der anderen Straßenseite standen als Silhouetten im Mondlicht. Es ging kein Lufthauch. Mit dem Rücken zu ihm sagte Peter nebenbei, als würde er von
irgend etwas Alltäglichem reden: - Wußtest du, daß mein Bruder Bia, selbst später als Offizier, nie seinen Karabiner geladen hat? - Nein, sagte er. - Er wollte es nicht riskieren, in die für ihn unerträgliche Situation zu kommen, auf jemanden schießen zu müssen. - Und dir geht es genauso? - Was du machen wirst, würde ich nicht wagen. Ich könnte es nicht. - Vielleicht bin ich primitiver als du, sagte er. Hast du daran gedacht? Peter wandte sich um und maß ihn mit den Augen. - Wir stehen vor etwas, das so primitiv und banal ist, daß keiner es je durchschaut. Ein wenig davon haben wir selber in uns, nicht? - Soll das eine Verteidigung sein? - Nein, aber man kommt an eine Grenze, und dann kann man das Primitive nicht aufhalten, ohne selber primitiv zu werden. Es ist ein Teufelskreis. - Vielleicht hört es nie auf? - Eines Tages. Aber wir werden nicht hier sein, um es zu erleben. Peter verabschiedete sich von ihm mit einer leichten Handbewegung und ging eilig zu seinem alten Opel, der ein Stück entfernt stand. Einen Augenblick später war er verschwunden, und die Straße war leer.
Der Küster schlägt den Vorhang zur Seite und kommt hinkend auf ihn zu; seine schwarze Jacke schließt ein einziger Knopf; er hat ein ältliches, vertrocknetes Gesicht mit einem leicht mißtrauischen Blick, der nicht zu seiner unterwürfigen Handbewegung paßt. Als er vor ihm stehenbleibt, betrachtet er ihn.
- Wir schließen die Kirche jetzt, Herr Oberst, sagt er. Ich schlage vor, Sie kommen nun langsam zum Ende. Er reagiert langsam, geistesabwesend. Ja, selbstverständlich, sagt er und erhebt sich von der Bank. Der Küster bleibt vor ihm stehen und sagt unsicher: - Das hat nichts mit Ihnen zu tun, doch hier kommen alle möglichen Leute herein. Neulich wurde abends ein Kerzenständer gestohlen. - Sie brauchen mir nichts zu erklären, sagt er und geht zu dem Altar mit der Jungfrau Maria. Die Juden haben keinen Respekt vor dem Haus Gottes. Er geht auf die Bemerkung nicht ein und faßt mit seinen drei Fingern nach dem locker hängenden Uniformärmel, doch der Küster wiederholt den Satz. - Woher wissen Sie, daß es ein Jude war? sagt er und wendet sich jäh um. - Das weiß man einfach. Diese Leute sind zu allem fähig. Ich bin deutscher Christ und weiß Bescheid. - In ganz Berlin gibt es fast keinen Juden mehr, und jetzt lassen Sie mich in Frieden! sagt er scharf und dreht sich zu dem Bild und den heruntergebrannten Kerzen um. Der Küster murmelt irgend etwas vor sich hin und hinkt tiefer in die Kirche hinein. Er hört ihn nicht mehr und beugt den Kopf. - Heilige Mutter, vergib mir, gib mir Kraft, flüstert er. Beschütze meine Kinder und meine Familie. Er schließt das Auge in seinem müden, angespannten Gesicht und erlangt einen Augenblick Frieden. Dann hebt er den Kopf, tritt einige Schritte zurück, macht kehrt und geht schnell über den Marmorboden und kommt zur Tür, durch die er nach einigen beschwerlichen Griffen in den kühlen, späten Abend hinaustritt.
Als er ihn sieht, startet Schweizer sofort den schwarzen Mercedes und fährt augenblicklich los, sowie er auf dem Rücksitz Platz genommen und die Tür geschlossen hat. - Tristanstraße? fragt Schweizer mit seiner gewohnt rauhen Stimme. Er nickt. Einige Sekunden lang begegnen sich ihre Augen im Rückspiegel. Er spürt plötzlich Schweizers ehrliche Sorge um ihn. Wo führt ihn das Ganze hin?
Unterwegs durch die spärlich erleuchteten Straßen, wo von Zeit zu Zeit plötzlich ein Steinhaufen und ein baufälliger Giebel in den Reihen unbeschädigter Häuser auftauchen und der Abendhimmel noch immer schwach bläulich leuchtet, erklärt er Schweizer abermals seine Aufgabe für den morgigen Tag, den 20. Juli. Um sieben Uhr früh soll Schweizer mit dem Auto in der Tristanstraße sein und ihn zum Flugplatz in Rangsdorf fahren, nachmittags um drei soll er wieder in Rangsdorf bereitstehen. - Von diesem Zeitpunkt an können Sie damit rechnen, daß Haeften und ich mit dem Flugzeug aus Ostpreußen gelandet sind, sagt er und lehnt sich auf dem Sitz vor. - Passiert es wirklich morgen? fragt Schweizer und hält dabei den Blick fest auf den Weg draußen gerichtet. - Ich werde Hitler persönlich von der Neuaufstellung der Sperrdivisionen im Ostgebiet vortragen. Und dann ist es soweit. Wir rechnen damit, daß gegen 13 Uhr der Kriegs rat zusammentritt. Kommen wir aus den Sperrbezirken hin aus, ist es noch ein Stück bis zum Flugzeug. Und von dort ein paar Stunden nach Berlin. Also frühestens um 15 Uhr. Ein Fahrer von Mauerwald oder Haeften fährt das Auto in Ostpreußen. Sie fahren es in Berlin. Gibt es Verspätungen, erfahren Sie es telefonisch.
- Jawohl! - Sorgen Sie dafür, daß Sie heute nacht gut schlafen, sagt er und lehnt sich im Sitz zurück. - Wie macht man das? fragt Schweizer mit einem leisen Lachen. - Keine Ahnung! sagt er und spürt wieder die Übelkeit. Ihm ist schwindlig, und sein linker Arm zittert leicht, als er in der Uniformjacke nach Zigarette und Feuerzeug sucht. Mit einer geübten Handbewegung zündet er sie schnell an und inhaliert tief, bis er die beruhigende Wirkung des Nikotins in den Schläfen spürt. Er schließt die Augen und sieht sich selber unter den Apfelbäumen im Garten in Lautlingen; Heimeran, Valerie und Franz Ludwig sitzen um ihn herum. Im letzten Sommer? Eine andere Welt? Ihre Gesichter verlieren sich in der Dunkelheit. - Um etwas verweilet noch die Nacht, sagt er leise und erinnert sich an ein Gedicht des Meisters, während er wie der an der Zigarette zieht. Eine Weile fahren sie schweigend, draußen gleiten die Gebäude und die Bäume vorbei. Er denkt an sein letztes Gespräch mit Nina vor drei Tagen, in dem er sie aufforderte, mit den Kindern in Bamberg zu bleiben, doch sie hatte die Koffer schon gepackt und war buchstäblich mit Kindern und Haushalt auf dem Sprung nach Lautlingen. Als er aufgelegt hatte, nahm er von ihr Abschied. Seitdem hatte er mehrmals vergeblich versucht, in Lautlingen anzurufen. - Morgen wird es sehr warm, sagt Schweizer und biegt in die Tristanstaße ein. - Woher wissen Sie das? - Der Himmel. Keine Wolken, Chef, sagt Schweizer und drosselt das Tempo des schnurrenden Autos.
Als sie vor dem Gitter in dem kleinen gemauerten Portal halten, wirkt das Haus mit seinem spitzen, holzgeschnitzten Giebel und seinen Säulen auf dem Balkon im ersten Stock wie etwas, das er einmal geträumt hat. Er bleibt einen Augenblick sitzen und sieht zu den verdunkelten Fenstern hoch, während Schweizer um das Auto herumgeht und ihm die Tür öffnet. Als er auf dem Gehweg steht und Schweizer schon wieder zu seinem Platz hinter dem Steuer zurückgeht, fällt ihm etwas ein: - Mein Glasauge, liegt es im Handschuhfach oder zu Hause im Schrank? - Zu Hause! sagt Schweizer. Doch ich dachte, Sie würden es nicht mehr benutzen. - Morgen brauche ich alle beide! sagt er. Er lacht mit einer jähen Energie, sie sehen sich verständnisinnig an, und er geht mit seiner Aktentasche in der Hand schnell hinein.
Im Wohnzimmer, das drei Lampen erleuchten, hat Berthold ihm auf dem Eßtisch ein Tablett mit einem Nachtimbiß bereitgestellt, er setzt sich sofort und fängt zu essen an: Hering, Wurst, Käse, ein kleiner Klecks Butter und Weißbrot. Einige Minuten später taucht Berthold im Uniformhemd auf, er geht mit einem kurzen Gruß an ihm vorbei und kommt mit einer Flasche Burgunder und zwei Gläsern zurück; entkorkt die Flasche schweigend, schenkt zwei Gläser ein und reicht ihm eins. Ich habe die Flasche aufgehoben, sagt er im Stehen. Prost, Claus, jetzt gilt es. Er nickt, sie trinken und leeren ihr Glas. Berthold setzt sich ihm gegenüber, er ist müde und erregt zugleich, sein Zeigefinger trommelt unruhig auf die Tischplatte; die breiten Lippen in dem für gewöhnlich ruhigen Gesicht, das Stefan George zwanzig Jahre zuvor, ergriffen von seiner Jugend, mit
dem Adjibs verglichen hatte, dem Wunderbaren, Sohn eines Herrschers aus Tausendundeiner Nacht, sind leicht geöffnet; jetzt ist das Gesicht verbraucht, und Berthold sucht nach Worten. Er, der als Intendanturrat in der Völkerrechtsabteilung im Oberkommando der Seekriegsleitung führende Admirale immer wieder durch seine ruhige Art zu einer verhältnismäßig anständigen Kriegsführung überzeugen konnte, er, der gemeinsam mit Peter York und Moltke im Prisengericht in Hamburg beharrlich dafür gearbeitet hat, am Völkerrecht festzuhalten, er, der erstmals im November 38 angesichts der antisemitischen Auswüchse des Regimes erschrocken war, dieser in sich gekehrte 39jährige Mann hat seine eigene Grenze überschritten. Er sagt: - Furchtbar, zu wissen, daß es morgen sicher nicht gelingt und daß wir es dennoch für unser Land und unsere Kinder tun müssen. Claus nimmt die Flasche und gießt beiden noch ein Glas ein. - Erinnerst du dich, wie du einmal, als wir klein waren, in ein Loch gefallen bist, eine Art Moortümpel in Lautlingen? - Ja, doch, sagt Berthold und versteht nicht, worauf er hinauswill. - Du hast vor Angst geschrien, und Alexander und ich haben dich herausgezogen. Es war ganz knapp. - Ja? - Vielleicht hatten wir noch mehr Angst als du, und dennoch mußten wir es tun. Berthold sieht ihn schweigend an, nickt. - Damals dachte ich wirklich, ich würde nicht herauskommen. Ein Telefon klingelt. Er geht in das andere Zimmer und hebt ab und spricht einige Zeit verschlüsselt mit Mertz. Mertz macht sich Sorgen um Goerdeler (Pfaff), der die Gestapo nicht ganz ernst zu nehmen scheint, obwohl ihm den Gerüchten nach die Verhaftung droht. - Er sollte jetzt überhaupt nicht in der Stadt sein, sagt Mertz.
- Er ist unser neuer Kanzler (K.), und wer weiß, welches Lied er singt, wenn es schiefgeht. - Einverstanden, sagt er. Aber ich habe getan, was ich konnte. - Morgen ist die letzte Gelegenheit für die WalküreVorstellung. Man sagt, in der Stadt gingen schon Gerüchte um. Fremde Leute reißen sich um die Eintrittskarten. - Du hast für ein paar ordentliche Plätze gesorgt, ganz vorn? fragt er. - Ja, sagt Mertz mit verhaltenem Atem. - Wir schaffen es, sagt er und legt den Hörer auf. Er geht in die Diele und in den Keller hinunter und holt aus einem Versteck hinter einem unscheinbaren Schrank eine braune Packung hervor. Er trägt sie nach oben und verstaut sie in der Aktentasche in der Diele. Die Tasche in der Hand, geht er wieder ins Zimmer, öffnet sie und stellt sie vor Berthold auf den Tisch. Berthold beugt sich vor und schaut hinein. Ohne den Sprengstoff zu erwähnen, sagt Berthold: - Ich habe immerzu das Gefühl, ich hätte dir zu wenig geholfen. - Was hättest du tun sollen? fragt er und zündet sich eine Zigarette an. - Duli bat mich immer, auf dich aufzupassen, als wir Kinder waren. - Mutter war einfach nervös veranlagt, sagt er mit einem kleinen Lachen. Du warst zart und mußtest immer auf die höchsten Hügel und Felsen! Ich erinnere mich, wie Alexander eines Tages sagte: Claus hat vor gar nichts Angst, das ist ungerecht. - Kompensierung, nicht? - Das glaube ich nicht. - Soweit ich weiß, warst du auch recht wild, sagt er. Wenn Vater sich bei Tisch aufregte und es Ohrfeigen setzte, dann hast in der Regel du sie eingefangen.
Sie lachen beide und trinken aus ihren Gläsern. - Als ich letzte Nacht die Augen schloß, habe ich die Weinberge hinter dem Haus in der Jägerstraße vor mir gesehen, sagt Berthold. - Ich weiß, was du meinst, sagt er. Als ich heute nach mittag in der Bendlerstraße mit dreißig jüngeren Offizieren sprach, sah ich in den Himmel, doch es war nicht der Himmel über Berlin, es war eine Art gedämpftes Blau, ein paradiesischer Himmel, und ich war plötzlich wieder in Lautlingen. Ich saß an einem frühen Morgen hinter meinem Fenster und sah zu eben diesem Himmel hoch und war erst sechs oder sieben Jahre alt. Alles, was wir in uns tragen, muß vergehen, nicht? - Ich bin ja halber Agnostiker, Claus, sagt Berthold. Doch eigentlich glaubst du doch, daß nichts verlorengeht. - Unsre Zeit ist, wie ein Schatten dahinfähret, und wenn wir weg sind, ist kein Wiederkehren; denn es ist fest versiegelt, daß niemand wiederkommt. - Steht es nicht so geschrieben? - Das hört sich bekannt an. - Die Weisheit Salomos, sagt er. Mag sein, daß nichts verlorengeht. Doch hier geht es verloren, nicht? Duli hat mir einmal erzählt, ich hätte ihr als Zwölfjähriger gesagt, der Gedanke an die Ewigkeit mache mich immer traurig. - Warum? fragt Berthold und lächelt ein wenig. - Weil man Ewigkeit eben nicht denken kann. - Meister Eckhart konnte es, sagt Berthold. - Nein, er hat sie gesehen, er hatte Gesichte. - Du auch? - Nein, in diesem Punkt bin ich immer noch zwölf. Viel zu erdverbunden. Doch ich würde gern. Heute abend in der Kirche gab es einige wenige Augenblicke… - Du warst in der Kirche, allein?
- Ja. Doch… In meinen allerruhigsten und klarsten Augenblicken verwirrte mich plötzlich ein einziger Ge danke und ließ mich nicht mehr los. - Und das war? - Ab morgen brauche ich nicht mehr von meinem Frühstückstisch aufstehen und in mein Dienstzimmer in der Bendlerstraße fahren, um Zehntausende in den Tod zu schicken! Berthold sieht ihn unruhig an. Wieder sucht er nach Worten. - So zu werden, das hatten wir uns nicht erträumt, nicht wahr? Wir können es nicht abwaschen, egal, was wir tun… - Nein, das hat Duli sich nicht erträumt, als sie mit Rilke korrespondierte und sich um unsere Zukunft sorgte. Sie hat mir vor einigen Jahren einen seiner Briefe gezeigt. Sie hatte ihm ein Kinderfoto von uns geschickt, und er schrieb, wie glücklich und strahlend wir aussehen, gesund, glaube ich, sagte er. - Gesund? - Ja, bestimmt gesünder als die vielen Winkeladvokaten im Generalstab, die vielen kleinen Pilatusse. Vielleicht sind die Ohrendiener die schlimmsten, ohne sie wäre der kleine Gefreite mit der großen Redegabe nie so weit gekommen. Er wäre ein Windhauch in der Sahara gewesen. - Jetzt ist er ein Windhauch in den Ruinen Berlins. Ich halte ihn auf, sagt er und erhebt sich vom Tisch mit diesem kleinen körperlichen Ungleichgewicht, das ihn über ein Jahr lang begleitet hat und manchmal seine Haltung unsicher machte, wenn er es zu eilig hatte oder zu zerstreut war, um den künstlichen rechten Arm zu tragen. Berthold betrachtet ihn, während er mit seinen drei Fingern die Aktentasche schließt und sie aufnimmt. - Schaffst du es morgen, mit deiner verletzten Hand? fragt er. - Haeften ist ja da, sagt er. - Aber du mußt mit der Zange umgehen, nicht?
- Ich habe es geübt, sagt er, es wird nicht besser. Oder schlechter. Ich habe keine Illusionen. Morgen erledige ich es, ich ziehe es bis zum Ende durch. - Das weiß ich, Claus, sagt Berthold. Genau das macht mir Sorgen. - Und wenn ich nicht zurückkomme, gehörst du zu denen, an die ich noch zuletzt denke.
Ehe er sich schlafen legt, geht er noch einmal den Zeitplan durch und verschafft sich einen Überblick über die Kontakte zu den vielen Befehlsstellen, die in den Putschplan einbezogen sind. Er sitzt allein im Zimmer, in der Ferne hört er das Geräusch der Flak und die dumpfen unwirklichen Laute von Bomben, die irgendwo in der Stadt detonieren. Wieder meldet sich die Übelkeit, die Buchstaben tanzen auf dem Papier, seine Sicherheit versinkt in einem weißen Nebel der Erschöpfung, verstärkt von der Wirkung des Weines. Er erhebt sich vom Tisch und geht in die dunkle Küche und gießt sich ein Glas Wasser ein, das er schnell leert. Der Schmerz im rechten Armstumpf, den er in der Regel verdrängt, ja, der ihn manchmal erregt, trifft ihn plötzlich. - Wie soll ich zur Ruhe kommen? sagt er halblaut vor sich hin. Mit Peter hat er darüber gesprochen, daß sich ein schlechtes Gewissen manchmal physisch äußert und man den Appetit und die Lebenslust verlieren und der eigene Körper zum Gefängnis werden kann, von dem man erlöst werden möchte. Dieses Gefühl war eine neue Erfahrung für ihn gewesen, gehörte er doch zu den Menschen, die vor nichts zu fliehen brauchten, denen nicht immer die Sorge im Nacken saß, sondern die auf der Sonnenseite geboren waren. Und doch war da meist ein Grundton von Melancholie gewesen, ein unerklärliches Sehnen und zugleich eine Barriere,
dem äußerlichen, sanguinischen und betörenden Agieren nachzugeben, das die Umgebung oft mitriß, ihn jedoch allein in einem Raum zurücklassen konnte, einem fremden Raum, unerreichbar für Nina, die Kinder, die Brüder und die Freunde. Hatte er nicht einmal seinem Vater, zu dem er eine überwiegend praktische Beziehung hatte und der bis zuletzt der Patriarch und Hofmarschall war und nur seine Pflichten im untergegangenen württembergischen Königshaus im Blick hatte, hatte er ihm nicht geschrieben, er habe einen Kern in sich, den niemand berühren dürfte? Einen unantastbaren Ort. Was genau schützte er hier? Eine Unbehaustheit? Ein Chaos? Eine Angst? Eine Sehnsucht nach dem weißen Punkt? Hätte er sich im Krankenbett in München nicht beinahe aufgegeben, nur um Frieden zu haben? Losgelassen, den Knochenmann mit seiner verschwommenen schwarzen Decke eingelassen, die bloß eine Vermummung des Weiß, des Lichts, des himmlischen Lichts ist? Wie viele Tage hält er diesen Zustand der Anspannung noch aus, in dem die Einsamkeit am stärksten zu spüren ist? Früher war er gern allein; wenn seine Kameraden von der Militärakademie in Berlin auf eine Gesellschaft nach der anderen gingen, konnte er sich abends in Homer, Hofmannsthal und Nietzsche vertiefen oder in die Bearbeitung der Werke des Meisters. Erst letzten Sommer hatte er zusammen mit Fahrner und Max Wetter und Berthold an der Bearbeitung des Rolandliedes und an den Dialogen des neugriechischen Dichters Dionysios Solomos und am siebten Gesang der Ilias gearbeitet; damals hatten sie über die Beziehung zwischen Dichter und Tatmensch geredet, doch jetzt ist ihm diese Fähigkeit, sich hinter verschlossenen Türen in etwas zu vertiefen, abhanden gekommen. Er fühlt sich gefährdet, sich selber gegenüber nackt, weil dieses Bild des Mörders sich mit jeder Stunde vor ihm auftürmt, weil dieses
Bild kaltblütiger Brutalität ihm in seinem eigenen Gesicht begegnet, wie er da in der Küche steht und es als Spiegelung der blanken schattigen Fensterfläche sieht. Ja, er ist ein Schatten seiner selbst. Er ist im Schattenreich, alle, denen er in den letzten Wochen begegnet ist, sind da, das ganze Land ist im Begriff, in Schatten und Brutalität und Geschrei und Lärm und Lügen zu versinken, und wer erlöst sie? Er holt die Aktentasche aus dem Zimmer, dreht das Licht auf der Kellertreppe an, trägt die Tasche in den Keller und versteckt dort die Sprengstoffpackung. Als er wieder oben im Wohnzimmer ist, beginnt das Licht in den Glühdrähten der Birnen plötzlich zu zittern, einen Augenblick darauf bleibt es ganz weg, und mit einemmal ist das Zimmer pechschwarz; er tastet sich zum Schlafzimmer durch, wo er sich auszieht und todmüde unter das dünne Federbett schlafen legt. Er schließt die Augen und gleitet langsam in den Schlaf, versinkt in die Welt des Traums. Er ist in einem großen weißen Raum, der früh verstorbene Zwillingsbruder Konrad Maria ruft aus einem Heer von flüchtigen Gesichtern und Stimmen nach ihm. Die Gesichter und Stimmen gleiten in- und auseinander, plötzlich sind sie Wasser, ein trüber Fluß, Soldaten und Frauen rufen vom Fluß her; ein Feuer erscheint auf dem Fluß, und mitten im Feuer tauchen Maulbeerbäume und Eichen auf… Er wacht schweißgebadet auf. Jetzt hört er Schritte im Zimmer und dann Bertholds Stimme. - Du hast gerufen? - Ich? - Ja. Es war ein Traum. Ich habe geträumt, Konrad Maria hätte mich gerufen. - Beruhige dich, Claus. Ich begleite dich morgen nach Rangsdorf! - Das brauchst du nicht, sagt er. - Ich bestehe darauf, sagt Berthold.
Er sieht nur seinen schattenartigen Umriß in der Türöffnung und richtet sich halb im Bett auf. - Bist du da? sagt er. Berthold tritt ins Zimmer. - Ist etwas nicht in Ordnung? - Die Angst, sagt er, sie ist da. - Wenigstens weißt du, wo sie herkommt, sagt Bert hold. - Ich kann ihn morgen töten, aber die Angst kann ich nicht töten. - Die Angst wovor? - Diesem Ungeheuer in mir, das dich und mich dazu gebracht hat, ihm eine Zeitlang zu folgen. An wem wollten wir uns eigentlich rächen? - Wollten wir uns rächen? - Oder war es nur Dummheit, Idiotie? - Vielleicht, sagt Berthold und setzt sich auf den Bettrand. - Er hat uns gefangen, ich vergebe es mir nicht, daß… - Schlaf jetzt, Claus, sagt Berthold. Du bist überspannt. Es hat keinen Sinn. Sie geben sich die Hand, eine Bewegung, die tief in ihnen sitzt. Einen Augenblick später steht Berthold auf und wünscht ihm eine gute Nacht. Er liegt lange da und starrt auf den Umriß, den Berthold in der Dunkelheit hinterlassen hat. In derselben Nacht, in denselben Stunden der Schlaflosigkeit, viele hundert Kilometer vom Schlafzimmer in der Tristanstraße entfernt, ist der Führer in seinem Bunker, einer notdürftig eingerichteten sogenannten Baracke mit massiven Betonwänden im innersten Sperrbezirk der Wolfsschanze, vom Tisch mit dem spartanischen vegetarischen Essen aufgestanden und gedenkt jetzt, zu Bett zu gehen; doch er fühlt sich unwohl und haßt diesen Augenblick, da er allein im Dunklen liegen wird. Auf dem Berghof, da ist Eva, um sich ihm
anzuschließen, wenn er sich gewöhnlich spätnachts oder gegen fünf Uhr morgens nach Unterhaltungen im engsten Kreis nach oben begibt. Oder sie ist schon längst nach oben gegangen und liegt im Schlafzimmer oder in ihrem Zimmer nebenan und wartet auf ihn. Falls sie schläft, weckt er sie nicht, und Linge hilft ihm beim Auskleiden; schon das Gefühl, nicht allein zu sein, genügt. Ist sie wach, kommt sie, wenn weder Bormann noch Linge in Sicht sind, in ihrem seidenen Nachtanzug zu ihm herein und legt sich kurz zu ihm oder streicht ihm übers Haar und sagt ihr Wolf oder Wolfi und beugt sich über ihn und gibt ihm einen zarten Kuß, ehe sie wieder verschwindet, leicht und unmerklich, als sei sie fast gar nicht dagewesen, obwohl sie zweifellos dagewesen war. Sie weiß, daß er oft lieber allein in seinem Bett schläft, jedoch mit der offenen Tür zu ihrem Zimmer. Zuviel körperliche Berührung beeinträchtigt seinen ohnehin schlechten Schlaf, wo er überdies schon mit dem Ödem und den Muskelzuckungen in der linken Seite und dem hohen Blutdruck und seiner Grübelei geschlagen ist. Doch in gewissen Nächten, wenn Morells Tabletten und Spritzen ihren Zweck erfüllen und er das Gefühl hat, sanft zu schweben, liegen sie zusammen, und sie schmiegt sich an ihn und ist sein kleines Mädchen, sein kleiner Schatz, den er fest in die Arme schließt, bis er plötzlich von selbst in einen schweren, traumlosen Schlaf fällt. Ganz gleich, was sie tun – und es gibt in der Regel nur geringe Variationen, denn Regelmäßigkeit ist wichtig –, Eva ist da, um ihn zu trösten, wenn seine Kopfschmerzen zu heftig werden oder seine Angst vor dem Herzfehler in Furcht vor Krebs mündet oder die unerklärlichen Bauchschmerzen sich melden; das kann nach einer Mahlzeit sein, wenn sie allein zusammen sind, das kann mitten in der Nacht sein; er braucht nur ein einziges Mal zu rufen, dann steht sie da und setzt sich hinter ihn, so daß er seinen Kopf in ihren Schoß zurücklehnen
und die warme Fraulichkeit spüren kann, die ihn immer an seine Mutter erinnert; wenn sie nicht in Reichweite ist, wie hier in dieser Nacht, dann muß er sie anrufen. Er bestellt ein Sondergespräch zum Berghof, um zu sich selbst zu kommen und sich angesichts der riesigen Aufgaben, die auf ihm lasten, und des Unverstands, auf den er nicht zuletzt in der Heeresleitung und beim Generalstab stößt, verstanden und getröstet zu wissen. Eine Art Glück ist es, sie beteuern zu hören, daß sie weiß, daß er das ganze Reich auf seinen Schultern trägt, und bereit ist, ihm zu folgen, wohin er will. - Ich will mein Schicksal mit dir teilen, sagt sie mit ihrer Jungmädchenstimme, bis in den Tod, wenn du es willst. Hatte sie ihn nicht auch als einzige wirklich verstanden, gerade wenn er Vorahnungen vom Tod hatte? Hatte er nicht schon 37 gewußt, daß ihm der Tod auf der Stirn geschrieben stand und daß seine Zeit begrenzt war, um die große Aufgabe zu erfüllen, zu der die Vorsehung ihn auserkoren hatte? Ähnlich dem Messias, Napoleon, Kaiser Karl VII. oder anderen großen Persönlichkeiten ist die Zeit für seine irdischen Aufgaben eng bemessen, und obgleich sie diese Aufgaben überhaupt nicht begreift – begreifen nicht auch Goebbels und Speer sie nur begrenzt? –, so spürt sie wohl, daß seine Kräfte manchmal fast erschöpft sind, ja, daß er sich manchmal nach Frieden sehnt. Wenn er seine Stunde auf dem Berghof hatte und vor dem größten versenkbaren Fenster der Welt im Wohnzimmer mit der schwindelerregenden Aussicht über Untersberg und die Bergmassive in Berchtesgaden und Salzburg saß, konnte er dann nicht erzittern und sich daran ergötzen, daß gerade er berufen war, in die Fußspuren des großen bayerischen Fürsten und römischen Kaisers Karl VII. zu treten und das Reich wieder in seiner Herrlichkeit herzustellen? Nicht zufällig waren er wie auch Karl VII. so eng mit München verbunden;
es war ein Omen, das nur er und seine engsten Vertrauten ernstlich zu deuten wußten, obwohl sich natürlich besonders begabte Künstler mit seltenem Talent wie Fräulein Riefenstahl gefunden hatten, die in Bild und Ton seine Mission wiederzugeben vermochten. O ja, diese schöne, einnehmende Frau, diese Tänzerin, Schauspielerin und athletische Bergsteigerin, für die Goebbels und alle Prominenten schwärmten, sie hatte ihm 32 – das war schon viele Jahre her – einen Brief geschickt, in dem sie ihm auf die allerselbstverständlichste Art für sein Auftreten im Sportpalast in Berlin Beifall gespendet hatte; er erinnert sich an diesen Brief, weil hier eine Künstlerin schrieb, die wie wenige andere mitten in dem überwältigenden Eindruck seiner Rede vor Tausenden von begeisterten Zuhörern in der Lage war, seine künstlerische Darstellung zu beurteilen. Und als er sie zu ihrer ersten Begegnung in Berlin einlud und später wieder zu einer zweiten Begegnung in der Reichskanzlei, bestätigte sie seinen klaren Eindruck, einer Person gegenüberzustehen, die ihn nicht nur im Lichte des Erlösers, sondern auch in dem Wagners zu sehen vermochte. Nachdem er wieder ihre Filme studiert hatte, wußte er, daß sie und kein anderer mit ihrem Blick die Parteitage in Nürnberg zu einem filmischen Dokument machen konnte, das die Welt in Erstaunen versetzen würde. Nur er konnte derlei sehen; Goebbels war natürlich eifersüchtig und reizbar gewesen, weil er nicht selber auf die Idee gekommen war und weil ihm die Aufgabe zugunsten einer jungen Frau, die nicht einmal Parteimitglied war, entzogen worden war. - Außerdem fragt sie nach der Judenemigration, hatte Goebbels gesagt. - Nun ja, sehr schüchtern. Die Judenfrage können wir mit ihr nicht diskutieren, hatte er gesagt. Politisch ist sie völlig ahnungslos, es ist nur von Vorteil, daß sie vom Innenleben und der Politik der Partei nichts weiß. So wird sie nur das
Entscheidende wahrnehmen und ein künstlerisches Dokument herstellen. Nicht diese langweiligen Parteifilme, diese reinen Nachrichtenreportagen. Er war auf Goebbels und das Propagandaministerium wütend gewesen, weil sie die Sache auf die lange Bank schoben und diese charmante Frau kurzfristig über seine Pläne im Ungewissen ließen. Und was für ein Film war bei den sechstägigen Aufnahmen herausgekommen! Wieder und wieder hatte er ihn gesehen: Aus einem leicht bewölkten Himmel über Nürnberg schweben seine Flugzeuge herunter und werfen, just als die Sonne durchbricht, einen kreuzförmigen Schatten auf die Erde, ja, er kommt von der Sonne und mit der Sonne, er ist ein Sohn des Sonnengotts, der in seiner rechten Hand das Licht durch die Menge schreiender und ekstatischer Frauen und Kinder auf dem Wege mit den vielen Hakenkreuzbannern und Flaggen trägt; die blonden Frauen werfen ihm Blumen zu, der er ruhig und gefaßt in dem offenen Auto steht und ihre Huldigungen entgegennimmt; aus allen Winkeln kann eine ganze Welt sehen, wie sehr sein Volk ihn liebt und wie er es aus der Dunkelheit emporhebt. Wie überzeugend ist nicht sein Einzug auf dem großen Platz, wo die schnurgeraden Reihen von Soldaten zu Zehntausenden aufmarschiert sind, alle bereit, für das Vaterland zu kämpfen und zu sterben, alle bereit, ihm zu folgen; hier bedeutet der einzelne nichts und die Masse alles, hier gibt es keine Gesichter, nur den männlichen Körper des deutschen Volkes in einer unerhörten Disziplin, die schwarze Schattenschnüre durch die Phalanxen zieht. Er spricht mit seiner Stimme, und die Menge antwortet mit einer Stimme, beherrscht vom Willen zum Sieg, und Speers Lichtsäulen krönen das Ganze und geben ihm das Gepräge eines Tempels. Eben jene Massenaufzüge sah er schon an einem Novemberabend in Linz vor sich, als er, siebzehnjährig,
zusammen mit Kubizek auf den nahen Freinberg in der Stadt gegangen war, um seiner Ergriffenheit von Wagners Oper Rienzi Luft zu machen, die sie gerade zusammen in Linz in der Oper gesehen hatten. Er ergriff den Freund mit beiden Händen und sah ihn mit sprühenden Augen an; die Rede, die seinem Körper entströmte, kam von einem anderen als ihm selber, sie brach wie eine Urkraft aus ihm heraus, er befand sich in einem Zustand körperlicher Ekstase. Bisher hatte er in sich selber nur den Architekten gesehen und hatte schon die ersten Skizzen zu einem neuen Stadtplan entworfen, doch jetzt sah er sich selber als einen neuen Rienzi, als Messias seines Volkes und Tribun, dem eines Tages auferlegt wird, das Volk aus der Sklaverei in die Glückseligkeit der Freiheit zu führen. Aus demselben Grund wurde der Parteitag in Nürnberg auch festlich mit der Rienzi-Ouvertüre eröffnet. In Linz war er der Träumer mit den hellblauen Augen gewesen, er war das Muttersöhnchen, das noch nicht aus den weichen Kissen gekrochen war, er war noch nicht gestählt und hart; doch die Vision von den Massenaufzügen verließ ihn nicht und schwebte ihm auch in der sogenannten Zelle in Landsberg vor seinem inneren Auge vor, als er Hess Mein Kampf diktierte und man versucht hatte, ihn zu demütigen, obwohl er damals eher meinte, ihm käme die Rolle des Trommlers zu, desjenigen, der etwas noch Größerem den Weg bereitete. Seitdem hatte sich gezeigt, daß er selber der Mann war, auf den er und alle anderen warteten, und er nahm die Rolle an und erfüllte sie mit einer Energie, die ihn manchmal selber überraschte. Sie konnte ihn quälen, dann mußte er Ruhe vor ihr suchen, er mußte sich zurückziehen und in den Bergen wandern, er mußte Eva finden, da Geli nicht mehr für ihn da war und sich unbegreiflicherweise selber umgebracht hatte. Hatte er Eva nicht mit Brillanten, Smaragden, Goldarmbändern und Pelzen überschüttet, soviel sie sich
wünschte, und dafür gesorgt, daß man ihr handgenähte italienische Schuhe schickte und Kleider und Jacken aus Pariser Modehäusern, damit sie sich mindestens fünfmal am Tag umziehen konnte und mehr als präsentabel war? Hatte er ihr nicht gestattet, anstelle seiner eigenen Schwester Angela als Hausfrau aufzutreten, wenn Bormann und seine Frau, Speer und seine Frau, der Direktor von Daimler-Benz, die Schauspielerin Anny Ondra, Max Schmeling und die Adjutanten und einige andere aus dem engsten Kreis eine Gesellschaft gaben? Sie, diese einfache Verkäuferin, eine Tochter des Volkes, saß sie nicht in dem eleganten Eßzimmer mit Holztäfelung aus hellem Lärchenholz auf dem Ehrenplatz zu seiner Linken und hatte seinen Sekretär Bormann zum Tischherrn? Konnte sie nicht mit einer einfachen Handbewegung seine Diener rufen und ohne sein Eingreifen verlangen, was sie wollte? Hielt er nicht nachts in Anwesenheit des Freundeskreises ihre Hand, während sie Kriminal- und Wildwestfilme sahen? Und war sie nicht die erste, an die er sich in diesem Kreis wandte, wenn er am späten Vormittag die Treppen herunterkam und alle verstanden, daß er zu ihr reden mußte, wie man zu einer geschätzten Privatsekretärin redete? - Guten Tag, Fräulein Braun. Haben Sie gut geschlafen? - Guten Tag, Chef. Ja, danke, ich habe gut geschlafen. - Was für ein herrliches Wetter wir haben. - Ja, Chef. Was für ein herrliches Wetter. Als sie sich bei ihm darüber beklagte, daß seine Schwester und mehrere Angestellte des Berghof-Personals sie für eine dumme Kuh und Modepuppe hielten, hatte er da Angela nicht gebeten abzureisen und dem Personal persönlich befohlen, sie zu respektieren, und bei Indiskretionen die strengste Strafe angedroht? Natürlich konnte sie nicht dabeisein, wenn Staatsoberhäupter zu Besuch kamen, es verletzte wohl ihre Eitelkeit, daß sie sich in den ersten Stock zurückziehen mußte,
doch der Propagandaminister Dr. Goebbels hatte ihr auf seine Veranlassung öfter erklärt, der Führer habe kein Privatleben. - Ach so, hatte sie einmal gesagt. Ist das mein Name: Fräulein Kein Privatleben? Er öffnet die Tür zum Schlafzimmer und starrt in den dunklen leeren Raum mit der kreideweißen, schwach leuchtenden Bettdecke auf dem gemachten Feldbett. Eine Uhr tickt aus der Dunkelheit, doch kann er sie nicht sehen, und einen Augenblick lang lösen sich die Zimmerkonturen auf. Er faßt sich mit der leicht zitternden linken Hand an die Stirn, vielleicht hat er Fieber? Sein Körper ist etwas gekrümmt, die blauen Augen, die mit der seltsamen Glut kalten Stroms so viele andere Augen festgehalten haben, wirken in dem grauen Gesicht mit seiner schon sichtbaren Maskenhaut farblos. Sein völlig fleckenloses Jackett und die stromlinienförmigen schwarzen Hosen korrespondieren mit seinen blanken Schuhen, und obwohl er bei der schwülen Nachttemperatur schwitzt, legt er das Jackett nicht ab; selbst hinter verschlossenen Türen kann er sich nicht entspannen, die bewußt schmucklose Uniform gibt in diesen Augenblicken Sicherheit, ohne sie packt ihn der Zweifel, wer er sei. Beschwerlich dreht er sich mit jenen abrupten Bewegungen um, die immer charakteristischer für ihn geworden sind, und überlegt, Morell zu rufen, sieht aber im selben Augenblick das eingerahmte Foto Evas. Er geht näher heran, holt die Brille hervor, setzt sich an den Schreibtisch und starrt das Bild an. Eva in bayerischer Nationaltracht vor den Bergen, o ja, seinetwegen hatte sein Kücken versucht, sich das Leben zu nehmen, mit einer 6.5-mm-Pistole hatte sie sich im Haus der Eltern in den Hals geschossen, weil er keine Zeit gefunden hatte, sie zu sehen. - Sie wollte meinetwegen sterben. Sie hat sich aus Liebe zu mir erschossen, hatte er nicht ohne eine gewisse Begeisterung
in der Stimme zum Fotografen Hoffmann gesagt, an dem Tage, nachdem er mit Blumen an ihr Krankenhausbett in München geeilt war, wo sich herausstellte, daß die Kugel nur ihren Hals gestreift hatte. Damals hatte er ihr versprochen, daß sie die einzige Frau in seinem Leben sei und er würde sie nicht so oft allein lassen. Er hatte ihr eine Wohnung in München beschafft, doch sie verstand nicht, daß er sie mit Rücksicht auf Diskretion nur nachts besuchen konnte und seine großen Aufgaben ihm nicht viel Zeit ließen. Selbstverständlich hatte es andere Frauen gegeben, Anny Ondra, Lady Valkyrie und noch andere, die sich wahrscheinlich das Leben genommen hatten, weil er sie enttäuschen mußte, er erinnert sich kaum an ihre Gesichter, obwohl er sich für gewöhnlich Gesichter gut merken kann; er war in Bewegung gewesen, am Kreisen, und hatte ihr dabei wunderbare Stunden geschenkt, waren das damals nicht genau ihre Worte? Und dennoch hatte sie ihn um eine Erklärung gebeten. - Du läßt mich immer noch vor Fremden katzbuckeln, hatte sie gesagt Warum? Oder: - Ich verstehe dich nicht: In einem Augenblick gibst du mir alles, im nächsten Augenblick bist du böse, und ich finde keinen Kontakt zu dir. Sein Kücken hatte es wieder mit zwanzig Vanodorm versucht und war dem Tode nahe gewesen, glücklicherweise fand ihre Schwester sie im Bett. War er nicht geschockt gewesen und hatte es als Warnung begriffen und von da an allen Frauen die nächtlichen Zusammenkünfte in der Reichskanzlei verwehrt? Er hatte ihr das Haus in der Wasserburger Straße geschenkt und einen kleinen Scotchterrier und Frau Hoffmann auf das strengste gebeten, auf Eva achtzugeben. Von da an hatte er sie jeden Abend angerufen. Und wieder hatte sie gefühlvoll von der Ehe mit dem größten Mann der Welt geredet, und er hatte ihr gesagt, wenn sein Werk vollbracht wäre, könnten sie sich über so etwas unterhalten. Er war zuallererst Führer und danach, erst lange danach, Privatmann, ein Mann von dieser Welt, ein
Mann aus Fleisch und Blut mit banalen ehelichen Bedürfnissen. Und sie kannte ja seine Einstellung als Führer. Bormann hatte ihr eines Tages auf seinen Wink hin seine Überlegungen zu dem Problem Ehefrau oder Liebhaberin vorgelesen. Er hatte ganz klar vom Glück der führenden Persönlichkeiten gesprochen, die nicht geheiratet hatten. - Das wäre eine Katastrophe, hatte er gesagt. Es gibt einen Punkt, wo die Frau niemals den Mann versteht. Nämlich dann, wenn der Mann in der Ehe nicht soviel Zeit für die Ehefrau erübrigen kann, wie sie zu fordern scheint. Meine Gattin wäre mir immer mit dem Vorwurf gekommen: - Wo bleibe ich? Es war ihm unerträglich, an das vergrämte, ausgezehrte Gesicht zu denken, mit dem ihm seine Ehefrau begegnen würde, wenn er seine Pflicht erfüllte und es ihr nicht recht machen konnte. Das schlimmste an der Ehe war, daß sie große Anforderungen stellte, es war richtiger, eine Liebhaberin zu haben. Da entfiel die Last, und alles wurde zum Geschenk. Dies galt natürlich nur für Männer in herausragenden Stellungen. Damals wie jetzt glaubte er nicht daran, daß ein Mann wie er jemals heiraten würde. Im Geiste schuf er sich das Idealbild einer Frau, indem er den Körper der einen nahm, das Haar der zweiten, die Spiritualität der dritten und die Augen der vierten, und mit diesem Modell nähert er sich jeder neuen Frau. Ein solches Geschöpf gibt es ganz einfach nicht. Man muß froh sein, wenn ein Mädchen irgend etwas Anziehendes hat. Es gibt wohl nichts Herrlicheres, als ein junges Mädchen heranzuziehen; ein Mädel um die Zwanzig ist weich wie Wachs. Es muß einem Mann möglich sein, jedem Mädchen seinen Stempel aufzudrücken. Er erinnert sich, wie er eines Tages, während sie in ihrem Kreis auf dem Berghof um den Eßtisch saßen, zu Rüstungsminister Speer sagte: - Sehr intelligente Männer sollten sich eine primitive und dumme Frau anschaffen. Stellen
Sie sich vor, ich hätte eine Frau, die sich in meine Arbeit einmischte. Wenn ich frei habe, dann hätte ich es gerne angenehm. Speer nickte und sagte mit seinem kleinen höflichen Lächeln: - Wer hätte es nicht gerne angenehm? - Ich werde nie heiraten können, fuhr er fort. Wenn ich Kinder hätte, welche Probleme! Am Ende würden sie bestimmt versuchen, meinen Sohn zu meinem Nachfolger zu machen. Außerdem hat jemand wie ich keine Hoffnung auf einen begabten Sohn. - Warum nicht? fragte sein Sekretär Bormann, der neben Eva saß. In solchen Fällen ist es fast die Regel. Denken Sie nur an Goethes Sohn, der ein völlig untauglicher Mensch war. Ich habe Tausende von Frauen als Anhängerinnen, weil ich nicht verheiratet bin. Das war besonders in den Kampfjahren wichtig. Es ist genau wie bei einem Schauspieler: Heiratet er, verliert er das, was seinen Anbeterinnen etwas bedeutet. Dann vergöttern sie ihn nicht mehr so. Eva, die neben ihm saß, hatte nichts gesagt. Doch er ging davon aus, daß sie in diesem Fall verstehen würde, was er meinte, und war es nicht das beste, geradeheraus zu reden? Doch selbst mit ihr, selbst mit seiner Liebhaberin, die er aus dem Dasein einer simplen Verkäuferin in Hoffmanns Fotogeschäft und Atelier erhoben hatte, gab es Probleme. Eines Tages wollte sie in Gelis verschlossenes Gedenkzimmer auf dem Berghof, und er mußte ihr gegenüber hart sein, damit sie begriff, daß weder sie noch andere jemals diesen heiligen Bereich betreten dürften. - Die Zimmermädchen machen doch drinnen sauber! sagte sie und faßte ihn herausfordernd an die Schulter, dabei wußte sie, daß es ihm nicht gefiel, wenn sie ihn unvermittelt berührte, und er mußte sie nach oben schicken.
Etwas anderes war es, wenn er sich selbst entschloß, sie zu berühren, oder wenn er sie geradezu rief, wie es geschah, wenn mitten in einem Alptraum erwachte. Doch diese unerwarteten Berührungen, wenn er sie zurechtwies, waren ihm zuwider. Er kann problemlos Frauen die Hand küssen und ritterlich auftreten, Frauen haben ein Recht auf Höflichkeit, und er läßt sie ihnen auch angedeihen, ja, in reichem Maße, nicht umsonst ist er Österreicher von Geburt, selbst seinen Sekretärinnen in der Reichskanzlei und in der Wolfsschanze kommt sein korrektes Auftreten zugute. Frauen neigen von Natur aus mehr zum Weinen und zu oberflächlichen Gemütsbewegungen und sind leichter aus der Fassung zu bringen. Eines Tages kam Eva weinend zu ihm auf die Terrasse des Berghofs und sagte: - Speer hat zu Linge gesagt, mein Schmuck bestehe nur aus Halbedelsteinen, warum sagt er so etwas? Es war nicht das erste Mal in letzter Zeit, daß Speer ihn enttäuscht hatte, und er hatte ihn daraufhin angesprochen. Doch Speer machte selbstverständlich Ausflüchte, und außerdem hatten sie viel wichtigere Dinge zu besprechen. Die Wunderwaffen zum Beispiel, die anscheinend Speer und nicht Göring ihm beschaffen konnte, obwohl er ihn immer weiter hinhielt und die endgültige Erprobung hinauszögerte. Im Gegensatz zum feigen Generalstab, der den Ereignissen im Osten wie im Westen ständig hinterherhechelte, hatte er, der Führer, wieder einmal alles vor sich gesehen: Mit der fliegenden Bombe VI, die bereits in Massen produziert wurde, und der V-2-Rakete und einem neuen Bombergeschwader, bestehend aus Me 262, konnten sie einen kombinierten Angriff auf London durchführen und die Invasion der Alliierten zurückdrängen. Hatte er nicht im Vertrauen in seine nationalsozialistische Vision, die wie üblich der negativen und defensiven Haltung der Generale ganz entgegengesetzt war,
dem slowakischen Premierminister Tiso gesagt: - Wenn die Briten jetzt Friedensfühler ausstrecken, weigere ich mich, vor der Invasion darauf einzugehen. Wenn wir sie erst mit Sicherheit abgewehrt haben, dann werde ich die Eroberung Rußlands wiederaufnehmen. Und was war geschehen? Dönitz hatte die beiden ersten Mark-XXI-U-Boote von Stapel laufen lassen, ein halbes Jahr vor Plan, einen U-Boot-Typ, mit dem die deutsche Flotte sich wieder die Seeherrschaft sichern würde; Sauer hatte zu seinem Geburtstag eine Vorführung zweier Kampfpanzer organisiert, eines 38-Tonners und eines, der Schnelligkeit mit einer 75 mm-Kanone verband, Kampfpanzer, die den Russen die Beine weghauen würden; doch selbst Speer trödelte, weder die Jagdbomber noch die V-2-Raketen standen bereit, die Invasion war gekommen, und wieder war er der einzige unter den hohen Herren mit ihren feinen Titeln, der nicht die Fassung und den Mut verlor, ohne ihn würde Deutschland untergehen. Als er im Juni mit den Feldmarschällen Rundstedt und Rommel bei Soissons zusammentraf, war er ausgelaugt gewesen, ja hatte viele Nächte zuvor nicht geschlafen und dagesessen und nervös mit seiner Brille und einigen Farbbleistiften gespielt, während er sich die merkwürdigen Erklärungen der beiden Herren über ihre armseligen Bemühungen anhören mußte. Natürlich war er über diese Männer erbittert gewesen, die in entscheidender Stunde versagt hatten. - Begreifen Sie nicht, sagt er, daß es bloß eine Frage der Zeit ist, bis Massen von deutschen Jagdflugzeugen der Luftherrschaft der Alliierten ein Ende machen werden? England wird bald unter den V-Bomben zusammenbrechen, die es über London regnet, und bald werden wir Raketen haben, keiner kann diesen Raketen widerstehen, solche Raketen hat die Welt noch nicht gesehen. Und, meine Herren,
die Situation im Osten ist stabilisiert, wir kämpfen im Augenblick ernstlich nur an einer Front. Doch die beiden Männer hatten sich stur gestellt und blieben unempfänglich für seine Visionen. Der kleine Rommel, von dem er so viel gehalten hatte, bis er in Afrika aufgab, sagte: Mein Führer, Deutschlands Situation ist verzweifelt, die alliierten Luftstreitkräfte haben die völlige Luftüberlegenheit erreicht, wir rechnen damit, daß schon sechshunderttausend alliierte Soldaten gelandet sind, man führt tagsüber ungehindert Truppenbewegungen durch, bald wird eine Million feindlicher Truppen auf dem Festland stehen. Es ist bloß eine Frage der Zeit, bis sie uns überrennen. Ich habe nur einen Vorschlag: Sie müssen diesen Krieg beenden. Wieder unterschätzte man ihn. Wie er das kannte! Schon aus Linz und Wien kannte er das! Er erhob sich aus seiner zusammengekauerten Stellung auf dem Schemel und sagte kalt in dieses selbstzufriedene Gesicht, das ihm die Kontrolle entziehen wollte: - Kümmern Sie sich nicht um den künftigen Gang des Krieges, sondern um Ihre Invasionsfront! - Wollen Sie die Invasionsfront nicht inspizieren? fragte von Rundstedt. - Ich habe mich um andere und wichtigere Dinge zu kümmern, sagte er und verließ sie schleunigst. Natürlich mußte er diesen Mann bald darauf durch von Kluge ersetzen, so wie er im Osten von Manstein und von Kleist durch Model und Schöner ersetzen mußte, das heißt durch Männer, die Krieg nicht vom Schreibtisch aus führten, sondern an die Front fuhren und ihre Männer zum Äußersten antrieben. Er hatte genug von Generalen, die sich um die strategische Situation sorgten. Hitler erhebt sich vom Schreibtisch, geht zur Tür und ruft in den dunklen Korridor, wo zwei SS-Wachen postiert sind: - SSHauptsturmführer Linge, kommen Sie herein!
Ehe Linge aus dem Zimmer schräg gegenüber auftaucht, winkt er den beiden Wachen ab, und sie eilen mit einem HeilHitler weiter den Korridor hinunter, wo er sie nicht sehen kann. Was jetzt geschehen soll, das ist nichts für ihre Ohren. Als Linge sich zeigt, erstaunten ihn wieder das immer frische Aussehen dieses Mannes und seine Dienstbereitschaft, niemals hat er ein Wort der Klage von ihm gehört, er wäre der letzte, der schlecht über ihn reden würde. Linge grüßt ihn wie gewöhnlich mit erhobenem Arm und bleibt einen Augenblick lang draußen im Korridor stehen, bis er ihn hereinwinkt. - Sie kennen meine Grammophonplatten, sagt Hitler. Suchen Sie bitte Lohengrin heraus und legen Sie die auf. - Jawohl, sagt Linge und sieht sorgfältig die Plattensammlung dicht an der Tür durch, bis er die Platte findet, sie aus der Hülle nimmt und auf das strombetriebene Grammophon legt. - Sie haben Übung! sagt er mit einem kleinen zufriedenen Lachen und strebt auf den gepolsterten Sessel zu. - Jawohl, mein Führer. Soll ich es einschalten? - Sagen Sie, sagt er und läßt sich schwer in den Sessel fallen, haben Sie bei mir eine Veränderung bemerkt? - Ich weiß nicht, was der Führer meinen, sagt Linge. - Eine Veränderung im Äußeren? Sehe ich älter aus? - Der Führer wirkt wie immer auf der Höhe der Situation. - Also sehe ich nicht krank aus? - Krank? Ganz bestimmt nicht, sagt Linge ohne ein Lächeln in dem glatten, ebenmäßigen Gesicht mit den kleinen Vertiefungen unter den Wangenknochen. Die Farbe seiner Augen geht in die schwach erleuchteten Wände über. - Wenn die Musik aufhört, dann rufen Sie die Wachen an die Tür zurück. Danach schicken Sie Dr. Morell herein. Haben Sie verstanden?
Jawohl, sagt Linge und führt auf sein Nicken den Grammophonarm zum Plattenrand. Einen Augenblick später ist er gegangen, und die Musik entströmt den Doppellautsprechern mit leichtem Kratzen. Hitler faltet die Hände, die linke zittert auf einmal nicht mehr, er schließt die Augen. Der einleitende harmonische Streicherklang ist überirdisch, er kennt dieses Schweben und jeden einzelnen Ton, er verdichtet sich in kräftigeren Harmonien, die sich in der Tiefe erweitern und bei den Hörnern in einen Klang rausch steigern, bis sie in den Flageolett-Tönen der Violine entschweben. Er versinkt im Sessel und wartet erst das GralsThema in Elsas Traumerzählung ab, danach das helle Lohengrin-Motiv und den berauschenden Klang des Schwanenchors bei Lohengrins Ankunft; als das dritte Leitmotiv auftaucht, singt er mit. - Nie sollst du mich befragen, nie sollst du mich befragen… Als die Musik später dramatisch ansteigt, während Lohengrin mit einem Streich den hereinstürzenden Telramund fällt, fühlt er sich wie so oft schon in seiner Führerrolle bestätigt, und als Lohengrin für immer von Elsa Abschied nimmt und die Musik in einer musikalischen Erinnerung an das kurze Glück der beiden ausklingt, treten ihm Tränen in die Augen, während er rezitiert: - Fühl3 ich zu dir so süß mein Herz entbrennen. Ein Gewirr von Assoziationen entsteht in dieser sentimentalen Situation, wo er ganz in der Musik aufgegangen ist. Franz von Stucks Bild des weißen engelähnlichen und dunkelhaarigen Wächters des Paradieses, dessen Anblick ihn der Welt entrückte und mit dem er sich identifizierte, steht einige Augenblicke lang leuchtend klar vor ihm; jetzt ist er zusammen mit Winnifred Wagner in Bayreuth und wächst in der Dunkelheit im Rausch der entrückenden Klänge aus dem Orchestergraben und der Stimmen der Sänger auf der exponierten Bühne; jetzt redet er in Nürnberg zu der zitternden
Menge der Hitler-Jugend, dieser tausendköpfige Körper folgt den Kadenzen seiner Gestikulation, seinem Wortstrom und der Stimmodulation der durchchoreographierten Ein-MannVorstellung, die er 1924 in München vor den Spiegeln in Hoffmanns Atelier verfeinert hatte und die ihm immer unvermittelt einen Augenblick lang alle Kraft nahm und ein erlösendes Loch für zunehmend improvisierte Wut- und Begeisterungsausbrüche ließ, ganz gleich, wie sehr er späterhin seine Wirkung vor seinen Sekretärinnen erprobte. Wie lange ist es nicht her, daß er vor der Menge stand und sie in den Himmel emporhob und in den Abgrund stieß, um ihr dann gegen Schluß den Schlüssel zu Kampf, Heil, Krieg zu reichen? Er hat sich isoliert, er ist von ihr entfernt, und jetzt landen seine Gedanken wieder einmal bei Geli, dieser schönen, dunklen jungen Frau, die seine Nichte war und ihn ganz unverständlicherweise verlassen hat. Er vermißt sie natürlich, doch mitten in diesem süßen Schmerz quält sie ihn. Warum? In seinem großen schwarzen Mercedes mit Chauffeur, seinem Dienstauto, das sie so beeindruckte, hatten sie Berchtesgaden besucht und waren zusammen in den Bergen gewandert, sie waren in München in der Oper gewesen, an der Nordsee, er hatte sie in seiner Wohnung am Prinzregentenplatz einquartiert, und zwischen all den Wahlreden, den Flugreisen durch Deutschland und den Sitzungen im Braunen Haus und im Reichstag, hatte er sich da nicht um sie gekümmert, sie unterhalten? War sie nicht immer in seinen Gedanken gewesen, wenn sie voneinander getrennt waren, und war er nicht nach einem kurzen Intermezzo, wo er aus gutem Grund auf sie böse wurde, weil sie mit seinem Chauffeur mehr als flirtete, bereit gewesen, alles zu vergessen? Er konnte nicht ohne sie sein, das wußte sie, er wollte genau wissen, wo sie war und mit wem, und als ihr Onkel war er von Rechts wegen für sie verantwortlich, er glaubte, sie würde
verstehen, daß sie die Wohnung nicht einfach verlassen konnte, ohne daß er oder seine Helfer davon wußten. Aber sie war widerspenstig, sie protestierte in einer Art kindlichem Trotz, und er mußte sie zurechtweisen, vielleicht hatte er sie bei einer einzigen Gelegenheit hart angefaßt, das war unvermeidbar, wenn man jemanden mit brennender Leidenschaft gern hatte; sie wollte plötzlich nach Wien, er hatte ihr in München den besten Gesangsunterricht besorgt, die fähigste Gesangslehrerin, bei der sie Wagner singen lernen konnte, und dann hatte sie ihn um Geld gebeten, um nach Wien zu reisen, um dort unterrichtet zu werden. - Ich kann dir kein Geld geben, hatte er gesagt. München ist für dich besser. - Warum? fragte sie und sah ihn anklagend an. - Weil der Mann, der Gesangslehrer, nicht gut für dich ist! - Du kennst ihn ja nicht. - O doch, ich kenne diesen Typ. Er kann die Finger nicht von dir lassen, und bald hat er dir ein Kind gemacht! - Du willst mich hier in deinem goldenen Käfig eingesperrt halten, ich bekomme keine Luft! Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie wandte sich von ihm ab, und er mußte kurzen Prozeß machen: - Du fährst nicht. Ich verbiete dir zu fahren. Sie sah ihn mit ihren dunklen, blanken Augen an und begann zu weinen, er mochte es nicht, wenn sie weinte, er mochte es nicht, wenn Frauen weinten, er nahm seine Sachen und verließ die Wohnung. Als er viele Stunden später zurückkam, hatte er ein Geschenk dabei, ein Goldarmband, und brannte darauf, sich mit ihr zu versöhnen; sie freute sich über das Armband, und er zog sie an sich, und sie küßte ihn, und als er sie bat, für ihn zu singen, und sie sich dem Gesang hingab und wie ein kleiner Vogel strahlte, war er überzeugt, daß alles vergessen wäre. O ja, er liebte seinen kleinen Singvogel mit seiner
eifrigen Stimme, er liebte seinen Duft und seine Ergebenheit und wollte nie von ihm lassen. Ebensowenig von dem Körper dieses Singvogels mit seinen klassischen Proportionen und den üppigen Brüsten! Hatte sie nicht nackt Modell für ihn gestanden, hatte er sie nicht nach dem Bilde griechischer und römischer Statuen gezeichnet? Tags darauf fuhr sein Chauffeur ihn nach Hamburg, wo er eine seiner vielen Wahlreden halten sollte, sie übernachteten in Nürnberg. Frühmorgens rief Rudolf Hess ihn im Hotel Deutscher Hof an. Er erkannte sofort seine hohe, leicht tonlose Stimme, die immer auf Korrektheit und Treue erpicht war. - Ihre Nichte ist ernstlich verletzt. Sie hat sich mit Ihrem Revolver in die Herzgegend geschossen. Die Polizei kann jeden Moment hier sein. Die Beine gaben unter ihm nach, er bat Hess um nähere Erklärung. - Ihre Reinemachefrau hat sie gefunden, sagte Hess, die Tür war verschlossen, sie verschaffte sich gewaltsam Zugang, und da lag sie. Glücklicherweise hat sie sofort mich angerufen, jetzt ist ein Arzt hier, und ein Krankenwagen ist unterwegs. - Sie ist also nicht tot? fragte er und hielt den Atem an. - Der Arzt macht keine große Hoffnung, sagte Hess. - Ich komme sofort, sagte er. - Auf der Kommode in der Diele liegt ein zerrissener Brief, sagte Hess zögernd. - Beseitigen Sie ihn, sagte er. Tun Sie Ihre Pflicht. Und Hess hatte den Brief natürlich beseitigt, den Brief von Eva, die ihm für einen wundervollen Theaterabend dankte und mitteilte, daß sie die Stunden zählte, bis sie sich wiedersehen würden. Den Brief hatte er in eine Jacke in der Diele gesteckt, und Geli hatte ihn gefunden.
Damals bedeutete ihm Eva nicht viel, sie war nur ein Mädchen, mit dem er sich unterhielt – wie unmenschlich doch das Dasein war! Geli war eine Stunde nach seinem Telefongespräch mit Hess gestorben. Er war unglücklich gewesen, nein, wochenlang tief deprimiert, er hatte sofort seine Wahlkampagne abgesagt und war bereit gewesen, sich das Leben zu nehmen; hatte er seinen Parteikameraden nicht geradezu gedroht, aus lauter Kummer ganz vom Erdboden zu verschwinden? Er hielt es nicht länger in der Wohnung aus, wo alles an sie erinnerte, o ja, er weinte und warf sich selber dieses und jenes vor, wenn er allein dort war. Und die ganzen Gerüchte, für die er herhalten mußte! Man behauptete, er hätte Geli geschwängert und sie zur Abtreibung zwingen wollen, man behauptete, seine Handlanger hätten sie ermordet, nein, schlimmer: Er hätte sie selber erschossen, als er unerwartet von Nürnberg nach Hause kam und sie mit einem Liebhaber in flagranti im Schlafzimmer ertappte. Er, der sich persönlich seit 23 in der Öffentlichkeit mit keiner Waffe mehr gezeigt hatte, als er im Bürgerbräukeller in München mit gezogener Pistole in der Hand vor der verblüfften Versammlung von Politikern, Generalen und Kameraden aufs Podium gestürmt war. Er, der den Anblick von Blut nicht ertragen konnte, besonders in größeren Mengen nicht, wie konnte man ihm derlei anhängen? War er hiernach nicht völliger Abstinenzler und ergebener Vegetarier geworden, ein Mann, der darüber erhaben war, im Fleisch der Tiere zu schwelgen? Er war Denker, Philosoph, Künstlerpolitiker, kein banaler Mörder, allein einer Schlachtung beizuwohnen war ihm ein Greuel. Hatte er nicht bei einer Gelegenheit den Gästen auf dem Berghof gesagt: Ich kam in diesen Schlachthof und sah, wie Kühe und
Schweine geschlachtet wurden. Es war ein furchtbarer Anblick. Überall Blutspritzer. Und welcher Gestank. Nicht auszuhalten. Und hier sitzen nun Menschen und essen Fleisch am Mittagstisch. Unbegreiflich! O ja, die ganzen Scherereien, denen er ausgesetzt gewesen war, die ganzen infamen Beschuldigungen. Hatte man ihn nicht auch bis Kriegsanfang in gewissen Schmutzblättern und Büchern angeklagt, er wäre jüdischer Abstammung, und ihn beschuldigt, kein würdiger Antisemit zu sein, ja, kein vertrauenswürdiger Deutscher? Höhepunkt des Ganzen war ein Brief des Sohnes seines Halbbruders Alois an die Kanzlei, der riet, im Lichte dieser Presseunterstellungen bestimmte Familienverhältnisse besser nicht von allen Dächern zu pfeifen. Er hatte sofort Reichsminister Dr. Frank hinzugerufen, seinen persönlichen juristischen Berater, und ihm gesagt: - Sie müssen einige vertrauliche Erkundigungen einziehen, was soll ich sonst mit diesem widerwärtigen Stück Erpressung meiner ekelhaften Verwandten anfangen? Und der immer diensteifrige Reichsminister hatte einige Zeit danach geantwortet, die nun intensiv durchgeführten Untersuchungen zeigten, daß sein Vater als uneheliches Kind von einem Juden in Graz abstammte, einem Juden, zu dem seine Großmutter väterlicherseits, Maria Anna Schicklgruber, angeblich ein Verhältnis gehabt haben soll. - Was bedeutet dieser ganze Unsinn? hatte er gefragt. - Das bedeutet, mein Führer, es ist sich nicht ganz aus zuschließen, daß Ihr Vater den Untersuchungen zufolge Halbjude war. - Und ich sollte also Vierteljude sein? - Das ist auch nicht ganz auszuschließen, obwohl es nur eine Möglichkeit ist. - Das ist sinnlos. Kennen Sie in der deutschen Ge schichte jemanden, der mehr für den Antisemitismus getan hat als ich?
Der dunkelhaarige, schlanke Dr. Frank schüttelte den Kopf. Nein, sagte er und reichte ihm nervös den Brief und die als geheim gestempelten Papiere. - Habe ich mich nicht aufs äußerste angestrengt, um diesen Krebsbazillus der Zivilisation, diesen tödlichen Feind allen Lichtes zu vernichten? - Das wissen alle Deutschen, sagte Frank. - Dann gibt es also nichts zu diskutieren. Kein anständiger Deutscher kann dieser Infamie Glauben schenken. Verbrennen Sie die Papiere und lassen Sie mich nicht wieder davon hören! Dr. Frank hatte ihn nicht enttäuscht und hatte mit seinem Leben und seiner Ehre für den Befehl eingestanden. Hatte er nicht auch mit ihm als Organisator in der Judenfrage rechnen können, als er Leiter des Generalgouvernements wurde? Doch warum jetzt daran denken? Warum plagen diese Bagatellen ihn mehr als früher? Wo bleibt nur Dr. Morell? Warum zittert sein linkes Bein? Und jetzt der linke Arm. Wieder. Verdammte Arme und Beine. Soll er hier wie ein altes Tier zittern, ohne Verpflegung, ohne Arzt? Und wo ist die Musik? Hat er geschlafen? Schlafen alle an diesem gottverlassenen Ort? Er will aufstehen, kommt aber wegen der steifen Glieder und des zitternden Beins nur halb aus dem Sessel hoch, ehe er zurückfällt. Jetzt ruft er zum Flur hin, doch seine Stimme wirft bloß ein schwaches Echo unter der betongeschützten Decke und läßt ihn in einer erstickenden Stille zurück, die seine plötzlich wiederkehrende Angst und das Unwohlsein verstärkt. Früher hatte ihm der Aufenthalt in den tiefen Waldgebieten Ostpreußens Freude bereitet, einem Gebiet mit großen, dunklen, himmelspiegelnden Seen und menschenleeren Gebieten; paßten sie nicht zu einer Gestalt von seinem Format, die letzten Endes wie Zarathustra mit ihrer grandiosen Aufgabe
zur einsamen Wanderschaft verdammt war? Selten hatte er die Umgebung der Wolfsschanze besucht, sich meistens über die neu angelegten Wege fahren lassen, doch allein das Gefühl des Ausmaßes hatte ihn heiter gestimmt. Für einen Mann, der in seinen Machtphantasien im Begriff war, die Großmachtträume der Antike wiederauferstehen zu lassen und ein Imperium von römischen Dimensionen zu erschaffen, war die Größe von Natur, historischer Mission und Gebäuden wesentlich. Mit einem seismographischen politischen Realitätssinn und Gespür dafür, die Stimmung in der Bevölkerung auszunutzen, hatte er die Nation dahin manövrieren können, wo nur ganz wenige zwischen Wahnvorstellung und Realität, unerhörter Brutalität und nationaler Notwendigkeit zu unterscheiden imstande waren oder wagten. Er existierte kaum noch selber, er war ein immer kranker, neurotischer und isolierter werdender Mann, der im Schatten eines Mythos lebt, welcher – so wie die von ihm in vielen Jahren geplanten Bauten – durch einen mechanischen und effektiv arbeitenden Propagandaapparat immer opulenter und inhaltsloser wurde. Wenn er um diese Bauten herumtanzte – auf dem Zeichenbrett im Berghof, auf dem Schreibtisch in der Reichskanzlei oder in der Wolfsschanze oder vor einem dreißig Meter langen, von Speer entworfenen Modell, das die beiden Männer sich von Zeit zu Zeit ansahen –, waren sie gelegentlich für ihn wirklicher als alles andere. Durch sie war er mit dem siebzehnjährigen, eine Joppe tragenden Tagedieb in Linz und dem zweiundzwanzigjährigen Postkartenmaler und Herumstreuner in Wien verbunden, der die monumentale Architektur der Ringstraße bereits in Hunderten von Zeichnungen wiedererschaffen hatte. Mit seinem besonderen perspektivischen Talent hatte er 1925 den ersten Entwurf für einen Triumphbogen in Berlin gezeichnet und sich vorgestellt,
daß dieser Bogen den napoleonischen in Paris um ein Vielfaches übertraf; er sollte aus ewigem Granit bestehen und alle Namen der fast zwei Millionen deutschen Soldaten tragen, die im Ersten Weltkrieg fielen. Als Speer ihm 39 zu seinem fünfzigsten Geburtstag ein vier Meter hohes Modell dieses Triumphbogens schenkte, war er entzückt gewesen und hatte aus Freude, daß die Vorsehung seinen Traum erfüllte, eine halbe Nacht davor verbracht. Wie viele Male schienen in den Kampfjahren die Situation hoffnungslos und seine Ideen nur Phantastereien zu sein, an die nur er selbst und seine alten Kämpfer glaubten; selbst Goebbels war gleich nach dem Machtwechsel 1933 entmutigt gewesen, als Hindenburg und von Papen und von Schleicher sich mit zugehaltener Nase ständig von ihnen distanzierten und Schleicher gegen sie zu intrigieren suchte; aber er hatte ihnen gezeigt, daß man mit hohem Einsatz und rücksichtslos und, ohne mit der Hand zu zittern, nach allen Seiten spielen mußte, um zu gewinnen. Bis ganz zuletzt drängte Strasser ihn zum Kompromiß, doch es gab keinen Grund zu einem wirklichen Kompromiß mit den blutarmen Herren, deren Autorität frei in der Luft schwebte. Er forderte den Kanzlerposten und bekam ihn, und war er erst dort gelandet, so wußte er, ließ sich die nationale Revolution ohne die ganzen doppelzüngigen Rücksichten auf die Demokratie in kurzer Zeit durchführen. Und was hatte er getan? In seinem eigenen Bewußtsein hatte er, der Führer, Deutschlands oberstes Gericht, der Messias, die Arbeitslosigkeit abgeschafft, er hatte das Heer aufgebaut, er hatte dem Volk das Rheinland und Österreich zurückgegeben, in München Chamberlain ausgeschaltet und die Tschechoslowakei überwunden, er hatte Ruhe und Ordnung hergestellt, er hatte sein Volk auf billige Auslandsreisen geschickt, er hatte ihm die Olympiade und Paraden und Festspiele gegeben, kurz gesagt: Brot und Spiele; darauf
jubelte man ihm nicht nur in der Rolle des unbestrittenen Führers einer ganzen Nation zu, sondern er war auch der visionäre Architekt, der ihre Größe anschaulich machte. War er selber im Spiegel hinter seinem Gesicht momentweise den eigenen Wahnvorstellungen begegnet, einem Gesicht, das auch er mehr im Licht einer grandiosen Inszenierung sah, die ihn in allen Amtsstuben, Versammlungsräumen der Partei und trauten Heimen auf jede Wand brachte und auf die weiße Leinwand und den Umschlag von Millionen von Illustrierten und seine Stimme stoßweise, aggressiv, moduliert und besitzergreifend in Straßen emanieren ließ, auf Plätzen und in Millionen von Wohnzimmern, so war an diesem Abend des Jahres 39 der Abstand zwischen Größenwahn und Wirklichkeit aufgehoben, der Unterschied zwischen seinem eigenen fleischlichen Gesicht und dem mythischen des Führers. Er war der Mythos in Fleisch und Blut, niemand konnte ihn davon überzeugen, daß er sich selber oder andere betrog, am allerwenigsten der Meisterregisseur Goebbels, der außerhalb seiner Reichweite mit seinem größten Kunststück prahlte: Ich habe Adolf Hitler geschaffen. Der Triumphbogen existierte bis zu dieser Nacht zwischen dem 19. und 20. Juli 1944 noch immer nur als Modell, doch die Ehrentribüne in Nürnberg krönte ein Adler, der die Freiheitsgöttin in New York um vierzehn Meter überragte, er war wirklich, er hatte selber darunter gestanden, warum also sollte aus der geplanten Brücke über den Hamburger Hafen, die einst die Golden Gate Bridge übertreffen würde, nichts werden? Warum sollte der geplante Kuppelberg in Berlin, in dem die Peterskirche in Rom vierzehnmal Platz hatte, nicht zu verwirklichen sein? Ebenso wie der Feldzug nach Rußland, der ihm von Napoleon vorgeschrieben war, dessen Heldentaten er übertreffen wollte, ohne seine Torheiten zu wiederholen.
Doch wie sollte er dann die letzten Meldungen verstehen, daß siebenundfünfzigtausend deutsche Gefangene mit ihren Generalen an der Spitze in Kolonnen durch die Straßen der russischen Hauptstadt geführt worden waren, unter schweigender Gegenwart ihrer Bewohner? War das die Art, wie die deutschen Truppen endlich Moskau erreichten? In Gefangenschaft? Unter Demütigungen? Und wie sollte er es verstehen, daß jeder der vier Stützpunkte in Weißrußland, die er Ende Juni um jeden Preis zu halten befohlen hatte, von den Millionen zählenden Heeren der Marschälle Schukow und Wassilewski mit ihren viertausend Kampfwagen und Selbstfahr-Geschützen und vierundzwanzigtausend Stück Artillerie und sechstausend Flugzeugen überrannt wurde? Wie sollte er es verstehen, daß Minsk am dritten Juli gefallen und daß die Armeegruppe Zentrum ausgelöscht war und fünfundzwanzig bis achtundzwanzig deutsche Divisionen, das heißt alles in allem dreihundertfünfzigtausend Mann vom Erdboden verschwunden waren? Das war nicht zu verstehen, das war der Fehler der Oberbefehlshaber, der Generale, die er sogleich auswechselte, doch ohne daß es einen Unterschied machte. Auch die neuen Generale ließen ihn im Stich.
Wer steht da in der Tür, fett und in nachlässiger Uniform und mit einer Tasche in der Hand? Das unrasierte und bebrillte Gesicht des Mannes liegt in dem schwach erleuchteten fensterlosen Raum halb im Schatten. - Der Führer hat gerufen! sagt Morell. - Warum kommen Sie so spät? fragt er und gibt es augenblicklich auf, sich aus dem Sessel zu erheben. - Linge sagte, Sie hörten Wagner, ich wollte sicher sein, Sie nicht zu stören, mein Führer.
Er nickt schwach. - Mir tut es überall weh, und ich kann nicht aufstehen, helfen Sie mir aus dem Sessel! Morell stellt die Tasche auf einen Tisch, tritt zu ihm hin, umfaßt seine beiden Arme und zieht ihn auf die Beine. Hitler steht einen Augenblick lang unsicher auf dem Boden; sein linkes Bein zittert, er macht einen Schritt nach vorn und beginnt, in dem Raum auf und ab zu gehen. - Besser, viel besser, mein Führer, sagt Morell mit leicht erhobener Stimme. Sie müssen sich etwas mehr bewegen, die hundert Meter, die Sie mit Ihrer Blondi jeden Tag gehen, reichen nicht. Den Tremor habe ich heute schon behandelt. - Ihr Testoviron und die anderen Dinge wirken nicht, sagt Hitler und starrt ihn an. - Die Hormonspritzen sind für Ihre Depressionen, nicht für Ihren Tremor, sagt Morell still. - Ich sage Ihnen, wenn das Zittern nicht aufhört und ich von hier hinausgetragen werden muß, dann ist Ihr Leben auch nichts mehr wert! - Ich weiß, sagt Morell, scheinbar ruhig, er ist ja diese plötzlichen Ausbrüche gewöhnt, die er mit Hitlers hohem Blutdruck verbindet; er öffnet die Tasche und sucht eine Reihe Pillenfläschchen heraus. Rasch schüttet er schwarze, grüne und rote Pillen zusammen auf einen kleinen Teller, den er Hitler reicht, der sie, ohne hinzusehen, in der rech ten Hand anhäuft und in den Mund steckt. Morell reicht ihm die Flasche mit Kurwasser, die er mit den Fingern seiner stark behaarten Hand geschickt öffnet, und Hitler spült die Pillen hinunter. - Sie brauchen Ruhe, mindestens eine Woche Ferien und würzige Luft. Die Luft hier ist schlecht, hier ist es muffig, naßkalt. Und das Wasser, ich habe Bazillen im Trinkwasser gefunden. - Von Ruhe und Ferien kann keine Rede sein, und ich gehe hier auch nicht raus.
- Ein Spaziergang morgen in der Umgebung würde gut tun. Morell gibt nicht auf. Ihre Blicke begegnen sich, es liegt etwas Zwingendes in Morells blankem und leicht verhangenem Blick, ebenso in seiner weichen, tiefen Stimme, die ihn einen Augenblick lang an die nächtlichen Tee-Audienzen erinnert, die Morell besonders im vorigen Jahr bei ihm hatte. Hitler faßt sich plötzlich ans Herz. - Es ist mein Herz! sagt er und schließt die Augen. - Strophantin, sagt Morell, öffnet seine Tasche, sucht eine Injektionsspritze heraus und zieht aus einer kleinen Kapsel Flüssigkeit auf. Hitler tritt einige Schritte vor und zieht automatisch seinen rechten Ärmel bis zum Ellbogen hoch; Morell hilft ihm, den Arm ganz freizumachen. Mit Hilfe der Fingerspitzen tastet er sich über die fast unsichtbaren Venen des Arms vor, der dem eines Süchtigen gleicht, gezeichnet von kleinen Malen, die von Transfusionen von KokainAdrenalinlösung, von Glukose, Jodiden, Leberextrakt, Brom, Eupaverin, Enzym- und Vitaminpräparaten und Eukodal herrühren. Als er eine Vene findet, hat sie zu viele Einstichwunden, und er bittet Hitler, den anderen Ärmel hochzukrempeln. Hitler tut, was er sagt, und nach längerem Suchen, das er mehrmals unterbrechen muß, weil der Arm zittert, findet Morell endlich eine kleine unversehrte Vene, in die er die Nadel einstechen kann. - Ihre Koronarsklerose ist auf dem Wege der Besserung, sagt Morell, und sowohl der Klang seiner Stimme als auch die Gewißheit, daß der Stoff und die Pille stimulierend und zugleich beruhigend wirken, verschaffen Hitler endlich Entspannung. Morell mißt seinen Blutdruck und nickt vor sich hin. Kurz darauf fühlt Hitler, daß die Wolfsschanze der einzige Ort ist, wo er sich zu Hause fühlen kann. Er setzt sich wieder
in den Sessel und sagt: - Ich bleibe hier, ich bleibe an diesem Ort, meine Sekretärinnen finden hier die Aussicht so schön. - Wie Sie wollen, mein Führer, sagte Morell und läßt sich – auf sein Geheiß – ihm gegenüber in einen Sessel sinken. - Und was, wenn die Herzverkalkung doch weitergeht? fragt Hitler im nächsten Augenblick ängstlich und hält seine rechte Hand vor die leicht zitternde linke. - Ich tue mein Bestes, sagt Morell und wirkt zum ersten mal unsicher; Morell ist der Mann, den Göring in Hitlers Gegenwart mit einer jovialen Grimasse den Reichsspritzenmeister und den Eva eine schlimme Mistsau genannt hat, weil er sich selten wäscht, ja geradezu stinkt. Aber Hitler, der selber übertrieben reinlich ist und oft Oberbekleidung und Unterwäsche viele Male am Tag wechselt, ist es egal; hat er ihm nicht oft das Leben gerettet? Er hat seinen Tinnitus mit Wanzen kuriert, seine Ödeme mit Salben und seinen schmerzenden Bauch mit Dr. Kösters Antigas-Pillen beruhigt; und ist Morell nicht Schüler des berühmten Metschnikow aus Paris, des Mannes, der die Immunologie begründet hat? Und ist Morell nicht Arzt beim Schah von Persien gewesen? - Sie glauben bestimmt, ich hätte Angst vorm Sterben, sagt Hitler, aber ich fürchte den Tod nicht, er wäre eine Erleichterung für mich. - Sie leben noch viele Jahre, mein Führer, sagt Morell und weiß, daß Hitler genau diese Worte von ihm erwartet. - Als mein Arzt müssen Sie es ja wissen, sagt Hitler und starrt mit Augen vor sich hin, die in den letzten zehn Minuten merklich an Glanz gewonnen haben. Hitler spürt jetzt ernstlich das Sausen in den Schläfen und stürzt sich in einen der langen Monologe, die Morell sich schon früher in den stillstehenden Nachtstunden, die er in diesem Betonraum verbracht hat, gewohnheitsmäßig
schweigend anhörte. Manchmal war er vom assoziativen Redestrom des Führers fasziniert, der ihn zu den unterschiedlichsten Orten führte, andere Male war er verzweifelt, wenn er sich kaum aufrecht halten konnte und nur noch den Wunsch zu schlafen hatte. Die konkurrierenden Ärzte des Stabs, Dr. Brandt in der ständig glänzenden SSUniform und Dr. Hasselbach, würden für diese besondere Gunst und die vielen anderen, die er genoß, ihren rechten Arm geben; selber verfluchte er gelegentlich in seinem tiefsten Innern diesen selbstgefälligen Nachtmenschen, der nicht allein sein und ihn nicht in Frieden lassen konnte. Doch von dem Punkt an, als er sich ins Morphium flüchtete, hatten sich seine Kräfte vervielfacht, und er hatte wieder Freude an seinem besonderen Status als Leibarzt des Führers, an seinem außergewöhnlichen Honorar und den vielen Millionen, die ihm sein medizinisches Geschäftsimperium einbringt, obwohl er aus ihm selber unerfindlichen Gründen immer Schulden hat. In dieser Nacht hört er wieder einmal von Hitlers Zukunftsplänen, von den Hochgeschwindigkeitszügen, die er bauen lassen will, wenn der Krieg irgendwann in den fünfziger Jahren beendet ist, von den Autobahnen, den Bauten, Parks und dem vegetarischen Essen, das genauso wie Fernsehen Allgemeingut sein soll, und von der Weltregierung mit Zentrum in der neuen Hauptstadt Germania, die ihre Fäden bis in die entferntesten Winkel des Reiches spinnen soll. Der Redestrom aus dem grauen Gesicht mit den plötzlich glänzenden Augen wirkt besessen, reizt ihn aber dennoch, selbst wenn sein Gegenüber die Vision vom brutalen Existenzkampf als Mutter aller Dinge und vom Blut als aller Dinge Anfang entwirft. - Habe ich es nicht gesagt, habe ich es nicht gedacht? sagt Hitler, hebt die Stimme und starrt vor sich hin, als stehe er vor einer Menschenmasse. Die sogenannte Humanität ist
lächerlich, wir müssen uns von ihren Ketten befreien! Die Lebensenergie, der ureigene Lebenstrieb, wird die der Natur innewohnende heilige Humanität bestätigen, welche das Schwache ausrottet und dem Starken Platz schafft. Hitler hat sich müde geredet und wirkt mit sich selber zufrieden, und jetzt hat Morell Gelegenheit, seine Anliegen vorzutragen. - Mein Führer, sagt er, Dr. Brandt und Dr. Hasselbach behaupten, ich würde Sie vergiften! Doch Hitler ist bereits in sich selbst versunken und reagiert nicht. Es geht um Ultraseptyl, mein eigenes Produkt, und um die Antigas-Pillen, die natürlich etwas Strychnin enthalten. Man sagt, ich würde Sie systematisch mit Strychnin vergiften! Ich hoffe, daß Sie, mein Führer, die beiden Herren korrigieren werden! Hitler nickt, sieht ihn aber nicht an. Hat er ihn gehört, hat er ihn verstanden? Hitler streckt schweigend seine zitternde linke Hand in die Luft, fertigt ihn ab. Die Audienz ist beendet. Morell erhebt sich ärgerlich, sammelt seine Utensilien ein, schließt die Tasche und geht zur Tür. - Diese Schweine! sagt Hitler vor sich hin, aber Morell weiß nicht, wovon dieser hysterische und zerrüttete Mann spricht. (Hat er ihn nicht viele Male als hysterisch diagnostiziert und versucht, den hohen Blutdruck zu beheben?) In diesem Augenblick ist es ihm auch gleichgültig, er müht sich mit der Tür, öffnet sie rasch und trottet in den dunklen, klammen Flur hinaus, wo die SS-Männer auf ihrem Posten stehen. Hitler, der nur am Rande seines Bewußtseins Morells Abgang registriert hat, ist weit weg in einem flimmernden, halb träumenden, halb wachen Zustand: Es schneit, er steht vor der Feldherrenhalle in München, dünn, die blauen und kalten Augen zugleich entflammt, und redet; auf diesem Platz geht er
in seinen dunklen, abgetragenen Sachen fast unter; er ballt eine Hand zur Faust und hält den Hut in der anderen, er friert und merkt es nicht; eine zerstreute kleine Gruppe bleicher Personen in Winterkleidung hat sich zögernd um ihn versammelt; die Worte wirbeln aus seinem Mund, Novemberverräter, Diktat von Versailles, jüdische Volksverderber; sein Körper ist angespannt, seine gutturale Stimme unterbricht den Atemstrom, er fuchtelt mit den Händen und ist rot im Gesicht, jetzt macht er eine Pause; während er Luft in sich hineinsaugt, bewegt er sich von einer Seite zur anderen und legt erneut Druck in die Stimme, eine neue Suada aus Wörtern wird in die kalte Luft hinausgestoßen und erinnert an Kommandos: - Hätte man zu Anfang und im Laufe des Krieges zwölf- bis fünfzehntausend dieser jüdischen Volksverderber solchermaßen unter Giftgas gesetzt, wie Hunderttausende unserer allerbesten deutschen Arbeiter aus allen Berufen es im Felde aushalten mußten, so wäre das Millionenopfer nicht vergebens gewesen! Er hält einen Augenblick inne, um die Wirkung der Worte wahrzunehmen, zwei Männer mit Hammer und Sichel auf den Schirmmützen halten eine rote Fahne hoch und rufen ihm etwas zu, ein harter Gegenstand, eine leere Flasche, fliegt durch die Luft und in seine Richtung. Er tritt einen Schritt zur Seite, ballt die Faust und macht weiter. - Diese Schweine, wiederholt er im Sessel und ist jetzt zurück im Schützengraben an der Somme, in Morast und Regen, Kartätschen knallen über seinem Kopf, plötzlicher Feuerschein und Rauchwolken von Bomben, die herabfallen und die Erde erschüttern, umgeben ihn und die Soldaten, die sich neben ihm schutzsuchend verkrauchen, von weiter vorn ist ein dumpfer Lärm von knisternden Maschinenkanonen zu hören; er erhebt sich blitzschnell und wirft einen Blick übers Gelände, wo hier und dort Männer wie Schatten fallen, er klammert sich an ein
Brett und denkt: Nicht ich nächstes Mal, nicht ich; und gleichzeitig ist er erregt, wütend auf sich selber, wütend über seine Feigheit; ein Unteroffizier packt seinen Arm und ruft ihm mitten in dem Lärm einen Befehl zu; er soll eine Depesche ins Hinterland bringen; sie wird ihm wie ein Rohr in die Hand gedrückt, und er klettert mit dem Gewehr in der Hand aus dem Graben und beginnt zu laufen; er ist der Läufer, der ohne Rücksicht auf Leib und Leben für Verbindung sorgt, viele aus seinem Regiment sind schon erschossen worden, umgekommen, doch er, der Mutige, er wird sie alle überleben, er wird ein Beispiel geben; er läuft und läuft über das matschige Ackerland, die Pickelhaube auf dem Kopf, und plötzlich fühlt er einen Stich in der Hüftgegend, einen Stich, der ihm die Beine wegschlägt; er verliert das Gleichgewicht, fällt vornüber und landet mit einem Klatschen in der klebrigen Masse. Er windet sich vor Schmerzen, und als er eine halbe Stunde später auf einer Feldbahre aus dem Erdmatsch weggetragen wird, ist er nur halb bei Bewußtsein, dennoch klammert sich seine Hand an das Depeschenrohr. - Die haben mich nicht gekriegt, murmelt er in dem Sessel, und jetzt ist er in den Straßen von Wien. Er ist aus dem Zimmer in der Stumpergasse ausgezogen, geflohen vor den Demütigungen, geflohen vor dem Zusammentreffen mit Kubizek, seinem Zimmergenossen, der bald vom Militärdienst in Linz zurückkehrt, um am Konservatorium in Wien weiterzustudieren; er hat sich den Kopf über eine einzige Sache zerbrochen: Wie soll er ihm sagen, daß er zum zweitenmal von der Kunstakademie in Wien abgelehnt worden ist, daß ihm nicht einmal gestattet wurde, die Aufnahmeprüfung zu machen, ihm, dem geborenen Maler und Architekten, ihm, der berufen ist, Geschichte zu schreiben? Er hat seine Adresse nicht hinterlassen, er hat keine Adresse, hat kein Geld, das Erbe der Mutter ist aufgebraucht; gelegentlich
gelingt es ihm, sich einen Platz im Asyl für Obdachlose zu erzwingen, unter Mittellosen und Obdachlosen, die stinken, ihn anrempeln und ihm auf die Nerven gehen und derentwegen er sich für immer weg wünscht, weg vom Erdboden. Ein Jahr lang hat er in der Stumpergasse gewohnt und sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen, während er antisemitische Pamphlete wie Ostara las, wo Lanz von Liebenfels unter praktischer Verwendung anthropologischer Forschung vor Rassenvermischung warnte und für das Recht des europäischen Herrenvolks plädierte, die reine Rasse zu schützen. Er besuchte die Volksbibliotheken der Stadt, um sich aufzuwärmen und die antisemitische Literatur zu studieren, und gerade in diesem Jahr, als er hilflos immer tiefer sank, fand er, der Ausgestoßene, den Schlüssel zu seiner Verstoßung und zum jüdischen Problem, ja, zum Gang der gesamten Geschichte. Langsam wurde es ihm klar und kristallisierte sich schließlich als Offenbarung heraus. Was war die marxistische Theorie von der Gleichheit gegen das aristokratische Prinzip der Natur, das eine natürliche Ungleichheit zwischen Individuen und Rassen vorschrieb? Die Verderbtheit in der Zivilisation, die er überall beobachten konnte – in der modernistischen Kunst und Musik, in Pornographie und Prostitution, ja, im weißen Sklavenhandel –, kam von dieser marxistischen Gleichmacherei, sie brachte die jüdische Rasse in allen gesellschaftlichen Stellungen an die Spitze und machte es Genies, echten Deutschen wie er selber, unmöglich, dahin zu gelangen. Genauso wie das Christentum das Römische Reich untergraben hatte, so war der jüdische Marxismus im Begriff, die deutsche Nation zu untergraben. Und die Juden selber, diese kaftangewandeten Ausbeuter, denen er im Leopoldsviertel an jeder zweiten Ecke begegnete, sie waren das eigentliche Symbol des Untergangs, auch seines eigenen; sie waren das kranke Glied. Nicht nur Schoenerer und seine
pangermanische Nationalistenbewegung, sondern gerade der Bürgermeister von Wien, Karl Lueger, hatten dies gesehen; das war ein Mann, den er bewundern konnte, er verstand es, die bedrohten Teile der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Als er erst einen Blick dafür bekommen hatte, da war ihm aufgegangen: Wohin er auch sah, saß dort schon ein Jude und thronte auf der Spitze des Kuchens – nein, es war noch schlimmer: Gab es eine einzige Form von Schamlosigkeit und Schmutz, vor allem im kulturellen Leben, an der nicht wenigstens ein Jude beteiligt war? Stach man eine solche Beule vorsichtig auf, traf man, so wie auf die Made in einem faulen Körper, auf Anhieb auf einen kleinen Juden, der oft von dem plötzlichen Licht geblendet wurde. Dies alles konnte er denken, solange er noch ein Dach über dem Kopf hatte und einen klaren Gedanken fassen konnte, doch jetzt ist er von Zimmer und Miete geflüchtet und ist hungrig und obdachlos und hustet und hat weder Mantel noch Rock und ist verdreckt und kann sich in keiner Bibliothek sehen lassen; er stinkt und muß sich für eine Schüssel lauwarmer Suppe in der Schlange vor einem Nonnenkloster anstellen. Er nimmt die Suppe mit steifen Fingern entgegen und verzehrt sie stehend unter lautem Schlürfen, wobei er die ausgebrannten Gesichter in der Schlänge hinter sich anstarrt. Es ist Abend, er streift durch die Stadtmitte, sucht im Dom Schutz, sitzt dort und reibt sich die Hände mit Aussicht auf Anton Pilgram unter dem Orgelfuß; aber auch dort wird es zu kalt, er findet eine windgeschützte Toreinfahrt in der Mariahilferstraße und nickt sitzend ein; ein Polizist jagt ihn mit dem Knüppel weg, nun muß er zum Schloßpark; er geht und geht, kommt an einem erleuchteten Cafe und Restaurant nach dem anderen vorbei, wo die Leute unverdrossen essen und trinken, aber er hat gelernt, nicht wegzuschauen, und wenn er doch wegschaut, dann verflucht er, was er sieht: Das wird
eines Tages anders sein, eines Tages wird er sich an diesen selbstzufriedenen Bürgern rächen, den Advokaten, den Akademikern in ihrem sodomitischen Wohlleben. Auf der vereisten Steinfläche vor der Hofburg und ihren brennenden Laternen sucht er sich durch die Balustrade den Weg zum dunklen Park mit den nackten Bäumen und Büschen, und dort irgendwo steht die Bank, die Bank, auf der er schon öfter gelegen hat; doch an diesem späten Abend hat er keinen Schutz, nicht mal eine alte Decke oder einen aussortierten Mantel, in die er sich einwickeln kann. Als er die Bank entdeckt und sich todmüde und frierend darauf legt, nimmt er die Arme vor die Brust und wiegt den Körper auf dem harten Holz hin und her; er starrt in den sternen-besetzten Himmel, schließt die Augen und fällt rasch in den Schlaf. Als er eine halbe Stunde später erwacht, ist er steifgefroren und kann kaum die Arme bewegen. Einige Augenblicke lang weiß er nicht, wo er ist. Die Angst überfällt ihn, er zwingt sich aufzustehen und irrt kopflos durch den gespenstischen Park. Ein Schatten. - Zum Teufel, sagt er im Sessel und ist jetzt im Schlafzimmer der Mutter im Haus in Urfahr bei Linz; Klara Hitler, erst siebenundvierzig, liegt mit nässenden Wunden und starken Schmerzen totenblaß im Bett; er sitzt auf der rechten Bettkante und verfolgt die kleinste Veränderung in dem ovalen Gesicht, das einmal schön war und dessen matte Augen einst blau waren und glänzten. Dr. Bloch, der jüdische Arzt, der ihr gerade Morphium verabreichte, hat die Decke halb zur Seite gezogen und ihre dünnen Arme und schmächtigen Schultern entblößt, während er eine Wunde mit Jodoformgaze verbindet. Es stinkt in dem Zimmer, doch Hitler riecht es nicht, er beugt sich vor und trocknet ihre heiße Stirn mit einem kühlen, feuchten Tuch. Einen Augenblick lang scheint es, als würde sie zu Bewußtsein kommen, er fängt ihren Blick auf, sie lächelt
schwach, er reicht seiner Schwester Paula das Tuch nach hinten und umfaßt im nächsten Augenblick die heiße, schlappe Hand der Mutter. Sie darf nicht von ihm gehen, sie darf ihn nicht verlassen. Sein Vater ist tot, sein Bruder ist tot; er hat es überlebt, ja, der Tod seines Vaters war eine Art Befreiung, doch hier am Bett schwindelt ihm, während er Tag für Tag Zeuge ist, wie die Mutter zunehmend schwächer wird. Sie war krank geworden, als er noch zu Hause wohnte, sie wurde in Linz ins Krankenhaus eingewiesen und kam geheilt zurück, so glaubte er, doch sie hielt ihre Übelkeit und den Krebs vor ihm verborgen, während sie ihn in seinen Plänen unterstützte, nach Wien zu gehen, so wie sie ihn immer unterstützt hatte. Sie hatte ihn freigegeben, im Gegensatz zu seinem Vater, der hatte darauf bestanden, daß er nach seinem Vorbild die Beamtenlaufbahn einschlug, und ihn kurz vor seinem Tod durch die Bureaus des Hauptzoll-Amtes in Linz geführt, als Krönung seiner unerschütterlichen Überzeugung von der Zukunft seines Sohnes. Im Gegensatz zu seinem Vater hatte sie in ihm den Künstler gesehen, und als der Vater tot war, hatte sie akzeptiert, daß er vorzeitig von der Realschule in Steyr abging; sie wußte, daß er verkümmerte und daß seine Aufsässigkeit, seine schlechten Zensuren und Wutanfälle in der Schule von seiner Künstlernatur zeugten und für ihn sprachen, ja, daß er absichtlich durch Trotz glänzte, um den Vater zu überzeugen, daß er auf dem Holzwege war. Hatten sie ihn in Linz vielleicht nicht mehr oder weniger von der Realschule geworfen, und war er nicht allein in Steyr gelandet, in einem kalten Zimmer mit Aussicht auf Ratten im Hinterhof, war es nicht für jeden, der ihn auch nur im geringsten kannte, klar, daß er und die unfähigen Lehrer in den österreichischen Schulen sich nichts zu sagen hatten und daß er, wenn er es nur wollte – siehe die guten Noten, die er in Fächern, die ihn interessierten, mühelos erhielt, etwa in Geographie, Zeichnen
und Turnen –, jedes beliebige Fach mit Höchstnoten bestanden haben würde? Sein Vater hatte sein offensichtliches Zeichentalent nicht geschätzt, aber seine Mutter und seine Schwester hatten es sofort erkannt, und obwohl die übrige Familie behauptete, er würde nichts tun, weil er keine Arbeit hatte, und obwohl seine Mutter ihm oftmals besorgt gesagt hatte, er würde zu sehr in seiner eigenen Welt leben, wenn er sich in Wagner, Schopenhauer und eigene Musikkompositionen versenkte und Kubizek lange Vorträge darüber hielt, so wußte er, daß sie ihn bewunderte, daß er auf sie zählen konnte, daß sie sich keinem seiner Wünsche widersetzen würde, nicht einmal dem Wunsch, auf eigene Faust nach Wien zu gehen und dort mit dem väterlichen Erbe und der Pension seine Studien weiterzuführen. Aber als er die Prüfung an der Kunstakademie nicht bestand, konnte er es ihr nicht sagen, er war wie vom Blitz getroffen, er war erschüttert und aus der Bahn geworfen, bis er nach einem persönlichen Gespräch mit dem Rektor der Akademie und einigem Grübeln zu der Überzeugung gekommen war, eigentlich doch Architekt zu werden, und das hatte er ihr erzählen wollen; aber jetzt sitzt er an ihrem Totenbett, Dr. Bloch, der sorgfältige Arzt, hat keinen Zweifel daran gelassen: Seine Mutter liegt im Sterben. Vor anderthalb Monaten erhielt er von einer Tante einen Brief über den Zustand der Mutter, und er kehrte sofort nach Hause zurück und übernahm die Haushaltsführung, er kochte für seine elfjährige Schwester und machte die Kranke sauber, er holte Medizin aus der Apotheke, er ließ beim geringsten Anzeichen von Unruhe und Verschlimmerung des Krebses den Arzt rufen, er wachte Tag und Nacht über seine Mutter; ja, er, der übrigens seit seiner Zeit im Knabenchor der katholischen Kirche in Leonding als Kind nicht mehr gebetet hatte, er betet jetzt murmelnd für sie, während er dasitzt und ihre Hand hält; er ist der treue Sohn, im Gegensatz zu seinem Halbbruder
Alois, den sein Vater vor die Tür setzte, weil er zu gar nichts taugte. Nachts nickt er auf einem Stuhl neben dem Bett der Mutter ab und zu ein, und wenn er erschöpft versucht, auf dem Sofa im Wohnzimmer einzuschlafen, überkommt ihn eine große Angst vor der Dunkelheit; er muß aufstehen und eine Lampe einschalten, und schläft er endlich ein, dann wird er von Gesichten geplagt, die aus dem Schnee in der Nachteinsamkeit um das Haus aufsteigen: Er ist allein in einer Berghütte auf einem schneebedeckten Berg, er weiß nicht, wie er dort hingelangt ist, ohne Essen und Trinken. Der Schneesturm draußen schlägt gegen die dünne Holzwand des Hauses, es knackt im Gebälk, er friert und kann weder hinausgehen noch bleiben; plötzlich wird die Tür aufgeweht, und von weit draußen winkt ihm ein blaugefrorener nackter Körper zu: seine Mutter. Er geht auf die Tür zu, ruft nach ihr, ruft erregt in die Dunkelheit hinaus, aber sie ist verschwunden. Er erwacht von seinem Ruf auf dem Sofa, Paula steht erschreckt in der Tür und sieht ihn an, er bringt sie benommen ins Bett und eilt ins Schlafzimmer der Mutter; sie liegt immer noch im Bett, bleich in der Dunkelheit. Er beugt sich über sie, umfaßt ihre schlaffe Hand und ist erleichtert, als er ihren schwachen Puls fühlt und sie atmen hört. Einige Nächte später, als sie leblos wirkt und er mehrmals vergeblich mit ihr zu reden versucht, läßt er wieder Dr. Bloch rufen, der Arzt hat sich neben sie aufs Bett gesetzt und faßt an ihren Hals, um die Halsschlagader zu finden; er verfolgt jede Bewegung, die Mutter starrt leer ins Zimmer; der Arzt wendet sich ihm halb zu, schüttelt den Kopf. Sie ist nicht mehr hier, sagt er ruhig mit seiner heiseren Stimme. Doch der Sohn glaubt ihm nicht, wird zornig und verlangt, daß er sie noch einmal untersucht. Und wieder nimmt er ihren Puls und legt die flache Hand auf ihr Herz und benutzt schließlich sein
Stethoskop, und wieder schüttelt er den Kopf, diesmal aber, ohne ihn anzusehen. - Es ist sinnlos, Herr Hitler, sagt er, Ihre Mutter hat Sie verlassen. Er dreht Dr. Bloch den Rücken zu und verbirgt sein Gesicht in den Händen; doch schon eine Stunde nachdem die Leichenbestatter mitten in der Nacht den Sarg ins Schlafzimmer getragen und man ein Kirchenlied gesungen hat, besitzt er die Geistesgegenwart, seine Mutter zum letztenmal auf den Zeichenblock zu bannen, ehe sie in den Sarg gelegt und der Sarg zugenagelt wird. Den Rest der Nacht kann er nicht schlafen, er weiß nicht, was er mit sich anfangen soll, jetzt, da der Sarg, die Leichenbestatter und auch Dr. Bloch verschwunden sind. Er umkreist das leere Bett der Mutter, sitzt lange Zeit im Licht einer Lampe und starrt seine gelungene Zeichnung an, und erst gegen Morgen dämmert ihm, daß Paula alles verschlafen hat. Er weckt sie und zeigt ihr die Zeichnung und bringt kein Wort heraus, aber das Mädchen versteht sofort, was geschehen ist, und stürzt weinend ins Schlafzimmer. Er geht ihr nach und versucht sie zu trösten, doch wie soll er sie trösten, wenn er selber untröstlich ist? Einen Tag lang verbirgt er sich im Schlafzimmer der Mutter und will nicht einmal mit seiner Schwester reden, ein Nachbar kümmert sich um sie; er begreift nicht, warum gerade ihn dieses Unglück treffen muß: Erst lehnt ihn die Kunstakademie ab, danach verläßt ihn seine Mutter. Hat sein Vater mit seinen Angriffen auf die Kirche, die falsche Hoffnungen weckt, nicht doch recht gehabt? Es gibt keinen Gott, nicht einmal Barmherzigkeit, es bleibt nur der Kampf und das starke Individuum. Schaffst du es nicht, mußt du krepieren. Stundenlang sitzt er auf dem leeren Bett und starrt in die Luft; widerstreitende Gefühle von Trauer und Haß durchströmen ihn, und erst als der Leichenbestatter und Dr. Bloch wiederholte Male darauf bestanden haben, mit ihm zu
sprechen, erhebt er sich an diesem frühen Morgen vom Bett und öffnet ihnen die Tür. - Ich bin in jämmerlicher Verfassung, sagt er zu ihnen, und Sie wissen, warum. Der umgängliche Bloch hat schon gemeinsam mit dem Leichenbestatter das Begräbnis angesetzt, und am selben Tag, einen Tag vor Heiligabend, einem Tag, an dem der Schnee die Luft über dem Friedhof in Leonding zu Myriaden erfüllt und die Familie der Mutter in ihrer schwarzen Kleidung aus der Nachbargemeinde angekommen ist, trägt er den Sarg der Mutter in vorderster Reihe zu dem schwarzen rechteckigen Loch in der harten Erde, das ihre letzte Ruhestätte sein soll. Ängstlich sieht er in das Loch hinein, als er am Rand steht und mit den sechs anderen Trägern den Sarg langsam hinunterläßt, bis er mit einem Bums auf die Erde trifft. Er wendet den Blick zum Himmel, in das Schneetreiben hoch, seine Augen werden von diesem weißen Schnee geblendet, den er seitdem haßt. Auf das Grab setzt er keinen Stein, und er besucht es später nur ein einziges Mal, als er als Führer und Reichskanzler des deutschen Volkes an der Spitze seines triumphalen Einzugs in Österreich kurz in Leonding hält. Der Abstand zwischen dem jungen, verbitterten, trauernden Hitler und dem triumphierenden Führer, der mit seinem Gefolge vor dem jetzt geschmückten und gekennzeichneten Grab anhält, ist geringer, als es scheint. Eine gerahmte Fotografie der Mutter steht auf seinem Schreibtisch im Führerbunker. Er kann sie vom Sessel aus sehen, ist aber woanders. - Rühr mich nicht an! sagt er im Sessel und steht im Korridor des imposanten Hauses in Hafeld, wo sein massiger Vater, der pensionierte Zollamtsoberoffizial mit dem kaiserlichen Schnurrbart und der schlechten Gesundheit, mit einem Kleiderbügel in der Hand auf ihn zugeht. Tagtäglich und auch an diesem Tag klagt sein Vater am Mittagstisch über die
verfluchte Arbeit auf den 38000 Quadratmetern Land, die zu dem Haus gehören; er sei kein Bauer, sagt er, anders als sein Vater, der sei Bauer gewesen, und seine faulen Söhne seien ihm keine Hilfe. Hat er nicht schon Alois aus dem Haus geschickt, mit dem Bescheid, nicht mehr zurückzukommen, einen Tagedieb übelster Sorte? Seine Mutter starrt bei dieser Suada nach unten auf das geblümte Tischtuch, und er wartet nur darauf, daß er an der Reihe ist. Heute ist er vom Tisch weggelaufen, ehe er an der Reihe war, und hat sich hinter einem Fliederstrauch im großen Garten vor dem Haus versteckt. Mit lauten Rufen und einem Bügel in der Hand trieb ihn sein Vater vom Garten durch die Doppeltüren des weißen Hauses tief in den dunklen Korridor bis in den Hauswirtschaftsraum, wo keiner sie hören kann; er weiß nicht, was er angestellt hat, sein achtjähriger Körper ist ganz angespannt, während er einen Arm schützend vor sich hält und wegen der geschlossenen Tür im Rücken nicht länger zurückweichen kann; er versteht nicht, warum sein Vater mit seinem weißen Kragen und dem glänzenden hohen Hut nicht wie so oft im Gasthaus sitzt und Wein trinkt und Zeitung liest und zu den Leuten im Gasthaus mit den vielen fremden, lateinischen Wörtern spricht, wie sie die wenigsten in Hafeld kennen, selbst sein Lehrer in der Benediktinerschule in Lambach ist von seinem Vater beeindruckt und spricht den Namen Hitler mit einem besonderen Klang aus; er versteht nicht die plötzliche Wut in dem Gesicht, das so freundlich ist, wenn sie den Zeitungsredakteur und seine Frau zu Gast haben, und er ist erregt und ängstlich zugleich, als der erste Schlag fällt; er tritt nach seinem Vater und schlägt Löcher in die Luft und wirft ihm in rascher Reihenfolge einige Schimpfwörter an den Kopf, die er auf dem Schulhof gelernt hat, und dann gibt es kein Erbarmen. Die Schläge fallen in rascher Folge auf seine Schulterblätter und Arme, bis er demütig um
Entschuldigung bittet und sein Vater außer Atem und schwitzend den Bügel wegwirft und ihn im Korridor zurückläßt. Er weint nicht, das ist sein kleiner Sieg, er will nicht weinen; doch warum ist da niemand, der ihm hilft? - Mutter, flüstert er heiser in dem Sessel und ist wieder in der Küche in der oberen Etage des Gasthauses Zum Pommer in Braunau; schwach dringen lachende Stimmen aus den Räumen des Gasthauses nach oben, Stimmen, die sich manchmal mit etwas lauterer Musik vermischen; die Musik unten versetzte ihn als Dreijährigen in ein Elfenland in den Bergen, seine Mutter trug ihn damals in die Gaststube, und auf ihrem Arm erlebte er, wie die rotbackigen, biertrinkenden Gäste zur Tirolermusik jodelten; er fuchtelte eifrig mit den Ärmchen, und als er hinuntergelassen wurde, begann er sofort zu tanzen. Jetzt sitzt er als Fünfjähriger am Eßtisch der geräumigen Küche, seine Mutter steht mit dem Rücken zu ihm an dem glatten, sonnenbeschienenen Herd mit den Kupferplatten; ihr rabenschwarzes Haar, das zu einem Knoten aufgebunden ist, glänzt. Gerade geht die Sonne über den Ufern des Inn unter, dort, wo er jeden Tag mit seinen gleichaltrigen Kameraden aus dem Dorf Seefahrt und Pirat spielt. Auch im Garten, dem großen Garten hinter dem Gasthaus mit Weiden und Zypressen und blühenden Apfelbäumen, spielen sie, und wenn er müde ist, kann er immer zur Mutter kommen, sie streicht ihm übers Haar, sie drückt ihn und gibt ihm den Kuchen, den seine Geschwister ihm neiden, und sie ist manchmal nervös, weil er nicht genug ißt und es immer eilig hat und weil der Tod ihr drei Kinder genommen hat, seine drei Geschwister, die jetzt im Himmel sind, und sie betet jeden Abend zusammen mit ihm, wenn sie ihn ins Bett bringt, sie betet zum Herrgott, ihm ein schönes Leben zu geben, und wenn er krank ist, sitzt sie lange an seinem Bett und hat Angst, ja, es fällt ihr ein, den Herrgott zu bitten, ihn zu verschonen, während er zuhört. Wer aber
bestimmt, das ist sein Vater, und wenn er in Hailbach in Österreich ist und sich um seine Bienenstöcke kümmert und er nicht tut, wie ihm sein Vater geheißen hat, zeigt sie auf seine an einem Gestell lehnenden Pfeifen und macht seine Stimme nach, er sieht sie an und weiß nicht, was er glauben soll, denn sie hat doch eine ganz andere Stimme als Vater und er hat nie Angst vor ihr. Du bist mein kleiner Sonnenjunge, sagt sie zu ihm und kann ihm nichts abschlagen. Jetzt dreht sie sich am Herd um und fragt mit einer Stimme, die Vater die ach so besorgte nennt, ob er satt sei. Heute abend, wo sein Vater spät aus Hailbach zurückkommt, will er in ihrem Bett schlafen, auch wenn Alois ihn ein Muttersöhnchen nennt und ihm Fratzen schneidet. - Oh, stöhnt er schwach in der Sonne und ist hinter einem Schleier aus Dunkelheit verschwunden. Er wird wieder unruhig, weil er nichts sehen kann, ein alter Schmerz des Körpers steigt in ihm auf, sein Bein und auch sein Arm zittern wieder, er kommt aus einem See des Friedens und ahnt einen Lichtspalt, er muß durch diese Dunkelheit hindurch, er, der so wenig Platz einnimmt, etwas sitzt fest, etwas schmerzt, etwas drückt ihn vorwärts, und das Licht überwältigt ihn, eine Kaskade von Licht, ein Schock, und er brüllt, und er ist geboren, und etwas zieht ihn an sich, etwas Warmes, und etwas sieht ihn an. Die blauen Augen der Mutter starren ihn entzückt-ängstlich an. - Angreifen! sagt er im Sessel und steht ganz oben auf einem Hügel am Rande von Leondingen, fünf Jungen aus dem Dorf sind um ihn versammelt, alle mit gezogenem Degen und Holzgewehr; in ihren Gürteln stecken Messer und Schleuder, und zwei von ihnen tragen Leinenhüte mit Federn auf dem Kopf; sie sind Buren, und er ist ihr Anführer, und er hat sie mit
Gebärden und lauter Stimme überzeugt, daß der Feind, die Engländer, die Jungen aus Untergaumberg in der Nähe sind, daß sie sich drüben hinter der Scheune unten am Hügel befinden und Pläne gegen sie schmieden; sie müssen zuerst angreifen und sie gefangennehmen und aus Leondingen vertreiben, und wenn sie nicht wollen, dann müssen sie sie niederwerfen. Einer der Jungen, Franz Winther, protestiert und schlägt vor, sich ein Versteck zu suchen, doch der neunjährige Adolf hebt jähzornig sein Gewehr und bombardiert ihn mit Worten, Worten, die in einer langen Reihe aus seinem Mund kommen; die Worte stecken sie an, sie wissen kaum, was er sagt, und können nichts machen, sie müssen tun, was er sagt, sie müssen angreifen; auf sein Kommando machen sie kehrt und stürzen mit erhobenem Holzgewehr und lauten Rufen den Hügel hinunter. - Diese Sklaven, diese Untermenschen, sagt er im Sessel und steht jetzt im Wohnzimmer im Männerheim in der Meldemannstraße in Wien und redet, die Worte strömen aus seinem Mund, sein Körper ist gespannt wie ein Bogen, wie er da am äußersten Rand des Kreises von Intellektuellen steht und mit einem Pinsel herumfuchtelt, der vor Wasserfarbe tropft; er ist gerade von der Staffelei aufgestanden, wo er an einem Postkartenformat gearbeitet hat, die Farben des realistisch wiedergegebenen Parlaments sind ebenso wie die Flecken auf seiner hängenden, zerknitterten Malerjacke noch immer feucht; die Intellektuellen in ihren schäbigen Jacken und Hosen, die jeden Nachmittag über Politik und soziale Fragen diskutieren, wenn sie sich nach ihren verschiedenen Geschäften und Ausflügen in der Stadt treffen, sind an die Ausbrüche dieses Kunstmalers gewöhnt; in der Regel sitzt er ruhig vor seiner Staffelei und malt seine kleinen Ölbilder oder Aquarelle als Kopie von Postkartenabbildungen oder alten Stichen und verkauft sie dann an Glasermeister oder jüdische Kunsthändler
im Viertel; seine Lieblingsthemen sind das Kärntnerthortheater, das Rathaus, die alte Ferdinandbrücke, der Michaeierhofplatz, Hofburg, Michaeierkirche, Alsenkirche und die Karlskirche, die er wieder und wieder malt; Hanisch zufolge, der zu diesem Kreis gehört und es übernommen hat, seine Bilder zu verkaufen, ist Hitler auf die Kunstakademie gegangen und hofft, Architekt zu werden; wenn er nicht malt, sitzt er, in seine vielen entliehenen Bücher über Architektur, Militärwesen und Antisemitismus vertieft, und hat sich zu einem rechten Experten für Antisemitismus und Architektur gemausert; Hanisch hat mehreren Mitgliedern des Kreises erzählt, daß Hitler aus dem Stegreif stundenlang inspirierende Vorträge über Gottfried Semper und andere Meister halten kann; er ist ein Sonderling, dessen Wut sie oft teilen, und er fühlt sich, so wie sie, über das Gros der vagabundierenden Typen erhoben, die täglich im Heim übernachten. Er erkennt in ihren Augen die Mischung aus Erstaunen und Bewunderung, wenn er auf ein beliebiges Stichwort hin zu einer seiner langen Tiraden über den Bankrott der Habsburger anhebt, über die Dominanz von Juden und Tschechen oder die Erniedrigung der deutschen Nation; sie sind sein Publikum, und er versetzt sie in einen merkwürdigen Spannungszustand, in dem sie seine Verachtung über ihre groben Manieren, wirtschaftliche Verelendung und ihr fehlendes Wissen trifft und sie sich zugleich mit ihm meilenweit über die slawischen und jüdischen Untermenschen in Wien erheben. In seinem wütenden, angespannten Körper und in seiner Rede spüren sie die Furcht, noch tiefer zu fallen, und erkennen gleichzeitig den Ausweg aus den Demütigungen, die an ihren Gedanken kleben, ihren abgelebten, verwirrten Gesichtern und schmierigen Kleidern. Er redet mit Feuer und unvermittelt, und ebenso unvermittelt endet er, wenn er sich mit einer
nachlässigen, resignierenden Handbewegung wieder an seine Staffelei setzt und ruhig weitermalt.
- Verrat, flüstert er im Sessel und befindet sich jetzt wieder an einem Novembertag des Jahres 1918 im Aufenthaltsraum des Militärhospitals in Pasewalk bei Stettin in Pommern, das graue Licht von draußen hat sich über sein eigenes Gesicht und die Gesichter der anderen Patienten gelegt; verwundet, zusammengesunken und schweigend sitzen sie da und hören dem Hospitalspfarrer zu, einem kleinen, unansehnlichen Mann, der sie anläßlich einer wichtigen Mitteilung zusammengerufen hat. Er traut kaum seinen eigenen Ohren, als der Pfarrer in leicht psalmodierendem Ton bekanntgibt, daß der Krieg verloren, die Monarchie abgeschafft und die Republik eingeführt seien. Jetzt muß Deutschland sich auf die Gnade der Sieger gefaßt machen, eine möglicherweise grausame Gnade, sagt der Pfarrer und macht eine beschwörende Handbewegung. In Trance steht der bleiche, rekonvaleszente Hitler mit dem wilden Oberlippenbart aus dem Sessel auf und begibt sich in den Schlafsaal, wo er sich auf sein Bett wirft und den Kopf unter erregtem Weinen, das mit einemmal seine Augen wieder blind macht, im Kissen verbirgt; als er den Kopf aus dem Kissen hebt, kann er überhaupt nichts sehen und ist wieder von der Dunkelheit des 21. Oktober umgeben, des Tages, als er mit acht Kameraden auf dem Rückzug aus ihrem Erdloch im Schützengraben bei dem kleinen Höhenzug La Montagne südlich von Wervicq vom Senfgas aus den Flaschen der Engländer blind wurde. Während es über dem Schützengraben und der Höhe, die sie vergeblich zu verteidigen suchten, Bomben regnete und das giftige Gas sich mit jeder Minute in ihre Augen brannte und ihnen die Sicht nahm, klammerten sie sich ängstlich aneinander und ließen sich von einem
Kameraden, der noch die Konturen der Landschaft erkennen konnte, ins Feldlager in Sicherheit führen. Zusammen mit anderen Verwundeten von einem Feldlazarett in Flandern wurde er nach Pasewalk gebracht, wo er allmählich seine Sehfähigkeit zurückgewann und wieder erste Skizzen machte. Jetzt ist er verloren und bleibt mehrere Tage lang im Bett, ohne anderes als Wasser zu sich zu nehmen; die katholischen Krankenschwestern sorgen sich um ihn – mitten in dem Durcheinander von Matrosen, die jeden zweiten Tag auf Lastwagen herkommen und in kleinen Gruppen mit ihren roten Fahnen und revolutionären Aufrufen lärmend durch das Lazarett ziehen; er verschließt die Ohren und ist in seiner eigenen Welt aus Ohnmacht und Wut. Vier Jahre lang ist die Armee sein Heim gewesen, sein Halt, selbst auf seine Kameraden in den Schützengräben haben seine Ergebenheit gegenüber der Nation und sein rücksichtsloser Opferwillen als Meldegänger übertrieben gewirkt; ein Mann, der fast nie lächelt und feierlich erklärt, keine Zeit für Frauen zu haben, wirkt regelrecht komisch; wenn sie sich vollaufen ließen und den Krieg verfluchten, saß er allein da und las und grübelte; man bekam von ihm nicht zu hören, daß ihn die Leiden des Krieges besonders bekümmerten, er redete im Gegenteil mit Begeisterung vom Krieg; in den Sturmangriffen aber konnten sie immer auf ihn zählen, und hatte er andere nicht mehr als einmal buchstäblich mit seinem Körper, mit seinem Leben gedeckt? War er trotz allem nicht einer von ihnen, Teil eines großen Organismus? In seinem kühlen Fanatismus lag auch ein Mut, der ihm wohlverdiente Auszeichnungen einbrachte, das konnte man anerkennen, das verschaffte ihm Respekt, selten gab man das Eiserne Kreuz I. Klasse einem Gefreiten, einem einfachen Mann im Felde. Dieses Eiserne Kreuz hatte ihm zum größten Tag seines
irdischen Lebens verholfen, er war dem Heer und der Vorsehung sehr dankbar gewesen; doch das ist jetzt vorbei, jetzt ist das Schlimmste eingetreten, um ihn herum zeichnen sich seine düstersten Vorahnungen ab. Im Dunklen liegend, hat er nichts zu erwarten, ein blinder Maler, ein blinder Architekt, hat es so etwas je gegeben? Und sollte er das Augenlicht wirklich wiedererlangen, dann muß er von vorn anfangen, muß in die Münchner Straßen zurück, muß wieder betteln gehen, sich selbst demütigen. Mit jeder Stunde dieser Tage, die er weiter im Bett verbringt, steigt seine Erregung. Man hört ihn seufzen, manchmal in seinem verschwitzten als auch frierenden Zustand sarkastisch lachen; doch außer den katholischen Schwestern nimmt unter den vielen anderen Verletzten im Lazarett, wo es durchdringend nach Äther und Chlor riecht und der Lazarettpsychiater Edmund Forster alle Hände voll zu tun hat, keiner sonderlich Notiz von ihm. Hitler quält sich selber, und es bereitet ihm eine gewisse Freude, sich Deutschlands großes Unglück im Lichte seines eigenen viel geringeren auszumalen, und seine Wut sucht sich ein naheliegendes Ziel. Was ist der Schmerz in meinen Augen, gemessen am Elend des Vaterlandes? Du erbärmlicher Lump, willst du jammern, wenn es Tausenden schlechter geht als dir, denkt er, um im nächsten Augenblick die jüdische Verschwörung zu verfluchen und die Bande Krimineller, denen ein schwacher Kaiser und eine erbärmliche Militärführung nachgegeben haben; wäre er Minister gewesen, würden diese marxistischen Führer, die jetzt Berlin und München ins Chaos stürzen, innerhalb von vierundzwanzig Stunden an die Wand gestellt; die sozialdemokratische Führung genauso wie der Jude Kurt Eisner, der sich jetzt mit dem Titel Bayerns Führer schmückt, sind reif für den Galgen; das Vaterland haben sie mit diesem Dolchstoß verraten, seit
dem Tod der Mutter hat er nicht so geweint, wie er jetzt über den Verlust der deutschen Seele und über das deutsche Elend weinen muß. Worte wie Krieg, Mutter, Ehre, Todesangst, Opfer, Blut und Rachegeister schwirren ihm durch den Kopf, doch alle diese Begriffe und Gedanken helfen zunächst gar nichts, er weiß nicht, wohin mit seiner Wut, die schmerzenden Augenlider und das tiefe Schwarz rufen in dem mageren Kopf einen Zustand von Schwindel und Erschöpfung hervor, so daß er in Halluzinationen verfällt; in einem klaren, lichten Augenblick, den er später mit Bestimmtheit diesen traumatischen Tagen zuschreibt, schwebt ihm vor, daß gerade er dazu berufen ist, das deutsche Volk zu erlösen und Deutschland seine Größe zurückzugeben. Als Edmund Forster in seinem Dienstzimmer endlich Zeit hat, den zusammengebrochenen Soldaten zu behandeln, fabelt Hitler von einer inneren Stimme, die ihm eine Vision von seiner Zukunft eingegeben hat. Forster diagnostiziert bei dem Gefreiten, hysterisch und vom Krieg seelisch schwer mitgenommen zu sein, und beginnt eine reduzierte Hypnosebehandlung, die seinen Eindruck einer zeitweiligen Geistesverwirrung bestätigt. Doch da hat Hitler sein Augenlicht schon wiedererlangt und sich mit Hilfe der katholischen Schwestern im Laufe einer Woche beruhigt. - Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen, flüstert er im Sessel vor sich hin und befindet sich jetzt als V-Mann, als Vertrauensmann des Hauptmanns im Generalstab der örtlichen Heeresführung, Mayr, im Leiberzimmer des Sterneckerbräus in München. Als Einpeitscher und Redner der Aufklärungseinheit, die dem Lager für heimkehrende, desillusionierte Soldaten in Lechfeld angeschlossen ist, hat er sich als ungewöhnlich geeignet erwiesen; bei Prof. Karl Alexander von Müller hat er einen antibolschewistischen Kurs an der Universität München besucht und hat mit dem Mann,
der wie er den bayerischen Dialekt einzusetzen versteht und ihn wegen seines natürlichen rhetorischen Talents gelobt hat, über eine Zukunft als Berufspolitiker gesprochen. Am selben Tag hat Hitler in seiner Regimentsbaracke letzte Hand an einen Bericht gelegt, bestellt hat ihn Hauptmann Mayr, der um eine Programmerklärung zu der Gefahr bat, die das Judentum in unseren Tagen für die Nation darstellt, und er ist mit dem Gefühl zum Abendtreffen der Deutschen Arbeiterpartei gegangen, die Aufgabe perfekt gelöst zu haben. Zu seiner großen Zufriedenheit ist das kommunistische Sowjetregime der Stadt vor einem halben Jahr brutal niedergeschlagen worden, die politische Situation ist fließend, eine Reihe rechts nationalistischer Organisationen und Freikorps hat mehr Spielraum erhalten, und jetzt schaut er sich in Zivil in dem kleinen Kreis von vierzig bis fünfzig Parteimitgliedern als Zuhörer um, während der Vorsitzende der kleinen Partei, Gottfried Feder, einen Vortrag über die künftigen Aufgaben der Partei hält. Gottfried Feder, den er einige Monat zuvor bei einem Kursus der Heeresleitung getroffen hat, spricht langgezogen und langweilig, und hätte er sich nichts von der anschließenden Diskussion versprochen und den Auftrag gehabt, darüber zu berichten, würde er aufstehen und gehen. Er ist ohnehin mit den existierenden Parteien unzufrieden, und was er hier hört und sieht, überzeugt ihn schnell davon, daß die Parteiführung keine Vorstellung hat, wie man eine große Anhängerschar rekrutiert, ja, es fast gar nicht möchte. Als die Diskussion beginnt, schleppt sich das Ganze hin, bis ein Professor Baumann aufsteht und dafür plädiert, daß Bayern sich vom Reich trenne und zusammen mit Österreich eine Union bilde. Da muß er aufstehen und dem gelehrten Herrn gehörig antworten. Er stellt sich als Gefreiter vor, nennt seine Einheit und legt los. Er ist über das fehlende pangermanische Verständnis des Professors entrüstet und erteilt ihm und der
kleinen Versammlung eine kurze Lektion über die Bedeutung der deutschen Volksgemeinschaft, bald hat er mit fuchtelnden Armen, die gefühlsgeladenen Worte Reich, Novemberverrat, deutscher Geist, Kampf, Rachedurst unterstreichend, einen solchen Ton angeschlagen, daß die Versammlung allein durch die Modulation der Stimme in Spannung und Erregung gerät und ihm zuhören muß. Als er das Leiberzimmer verläßt, hält ihn Anton Drexler, der Erste Vorsitzende der Deutschen Arbeiter-Partei, an und überreicht ihm bewegt ein Exemplar seiner Broschüre Mein politisches Erwachen. Bereits einige Tage später nimmt er auf Einladung an einer Ausschußsitzung der Partei teil und wird – nachdem er sich die Sache einige Tage lang überlegt hat – Mitglied und verantwortlich für Propaganda und Anwerbung neuer Mitglieder. Das ist der Anfang, das ist der Wendepunkt; hat er diese kleine Partei nicht als Skelett jener Massenpartei gesehen, von der er seit den Wiener Tagen geträumt hat, als er fasziniert den Marsch der Arbeiterkader durch die Straßen verfolgte, einer Partei, die mit den sozialdemokratischen und kommunistischen Massenparteien konkurrieren kann? Und tritt er jetzt nicht als der Redner hervor, dessen oratorische Begabung sogar selbst ihn erstaunt? In den folgenden Monaten steht er im Namen der Partei vor immer größeren Versammlungen, und selbst da, wo er nicht der Hauptredner ist und man ihn ausbuht und es zu Tumulten kommt, genießt er auch die Unruhe und die aufgeheizte Atmosphäre und beherrscht die Situation durch direkte Hinwendung an die Zuhörer, ja, das Gespräch mit dem Saal. Er ist nun im Zentrum eines aufgepeitschten Gefühlsmeers, er, der Gedemütigte, der Freundlose, der Sonderling, er, der sich vor kaum einem Jahr in der buchstäblichen Dunkelheit befand, in der Angst, wieder Opfer der Umstände zu werden, und nicht wußte, was er mit seiner unerlösten Energie anfangen sollte,
aber dennoch bis hin zur Hysterie am Glauben an seine große Mission festhielt. Auf ihn richten sich alle Augen, er ist der Redner, der vor einer fast zweitausendköpfigen Versammlung, die den ganzen Festsaal im Hofbräuhaus füllt, zur Sache kommt und eine Namensänderung der Partei in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei durchsetzt. Er ist der Mann, der unter Zurufen und ständig wachsender Begeisterung in dem überfüllten Saal Satz für Satz das Fünfundzwanzig-Punkte-Programm der neuen Partei vorlegt und schließlich eine stehende, ihm zujubelnde Versammlung vor sich hat. Hat er an diesem Abend nicht ein neues Feuer entzündet, hat er nicht das Schwert für den germanischen Siegfried geschmiedet, das Schwert, das der deutschen Nation wieder neues Leben geben soll? Hat er jetzt nicht damit begonnen, das Versprechen einzulösen, das er sich selbst und Kubizek viele Jahre zuvor oben auf dem Freinberg mit der Aussicht auf Linz gab? Seine linke Hand zittert in dem gepolsterten Sessel, und das linke Bein zuckt abrupt und unkontrolliert unter ihm. Er sieht sich selber auf dem Rednerstuhl im Hofbräuhaus, aber die Hand ärgert ihn, und warum nun diese Übelkeit? Es gelingt ihm, auf die Beine zu kommen, er zwingt sich dazu, in dem dunklen Raum hin und her zu gehen, von Wand zu Wand; wie üblich hat Morell auf dem Schreibtisch in einem Glas drei Sorten Tabletten zurückgelassen; er nähert sich dem Glas, leert es in die zitternde Hand aus und schluckt sie. Er überlegt, Morell zu rufen, läßt es aber und geht wieder zum Sessel zurück. Er kann nicht schlafen und kann es nicht aushalten, wach zu sein. O ja, diese Reden vor immer größeren Versammlungen, dieses Aufgebot von Masse, Bannern, Hakenkreuzen und Festen, die ganzen großen Stunden, in denen seine Planungen und Berechnungen und Einstudierungen von Mimik,
Gestikulationen und Worten aufgingen. Die Reaktion von Tausenden von Menschen in einem überfüllten Zuschauerraum zu spüren, war es nicht das größte Glück gewesen, das ein Mensch erleben kann? Es fehlt ihm. Ihm fehlt dieses Erlebnis, daß sein ganzer schöpferischer Apparat, alle seine inneren Federn, Knöpfe und Pedale automatisch funktionieren, dieser unbeschwerte, begeisterte Akt, wenn ein Redetext geboren wird und die Worte aus einer Leitidee heraus von allein entstehen. Es fehlt ihm, vor der Masse zu stehen, ihre Teilnahme und ihr Engagement zu fühlen, wenn sie seine schöpferische Energie weckt und die Zuhörer ihm helfen, die beste, endgültige Formulierung für die sorgfältig vorbereiteten Worte zu finden. Ihm fehlt das Gefühl, stark zu sein, berauscht zu sein, der Mann zu sein. Hatte er sich nicht nach oben und ins Volk hinein geredet, und gab es einen anderen Ort auf der Welt, wo, wie in Deutschland, Volk und Führer eins wurden und miteinander verschmolzen? Er hatte die Jugend an sich gerissen, weil er auf Gottes Geheiß handelte, er hatte ihr etwas gegeben, das sie anbeten konnte; sie hatte an ihn geglaubt, wenn er von seinem Rednerstuhl aus ihr künftiges Wesen umschrieb, ihre aufrechte Haltung, ihre Wachsamkeit und Härte, die der wilder Hunde und Kruppstahl glich. Sie hatte an ihn geglaubt, wenn er das Bild von Deutschland als organisiertem Feldlager beschwor, und Frauen hatten ihm zu Tausenden Blumen auf den Weg gestreut, wenn er das Geteilte einte und von Volksgemeinschaft und Opferwillen redete. Im Gegensatz zum unbedeutenden Gewürm seiner Gegner (er hatte sie 38 in München ausgemacht) war er für sein Volk, dem er Arbeit, Festspiele und spektakuläre Veranstaltungen gegeben hatte, allgegenwärtig gewesen. Schon 24, als er Hess in der bequem eingerichteten Zelle in Landsberg Mein Kampf diktierte, konnte er aus seinen Erfahrungen als Redner schließen: Die
Massen sind nur für das empfänglich, was stark und unbeugsam ist, die Massen sind wie eine Frau, deren Inneres nicht so sehr vom abstrakten Denken bestimmt, sondern von einer vagen emotionalen Sehnsucht geprägt ist, die ihr Wesen ergänzt und die sich eher dem Starken unterwirft, als sich vom Schwächling beherrschen zu lassen. Die Massen wollen lieber das Gefühl mentaler Sicherheit durch eine Doktrin, die keinen Widerspruch duldet, als eine liberale Lehre mit verschiedenen Wahlmöglichkeiten. Die Massen empfinden auch fast keine Scham dabei, daß man sie intellektuell terrorisiert, in der Rede sehen sie nur die rücksichtslose Kraft und Brutalität, der sie sich immer beugen. So dachte er über die Psyche der Massen, und war er darin nicht bestärkt worden? O doch, Rücksichtslosigkeit und Brutalität ohne die verdammte jüdische Erfindung Gewissen, das nur die Willensstärke untergräbt und die Massen weich macht und verwirrt. Mitleid genauso. Christentum genauso. Er zieht Schopenhauer vor, doch Nietzsches Schwester, Elisabeth Förster, hatte die erste arische Kolonie gegründet und ihn für Nietzsche interessiert, und hatte Nietzsche nicht Wagner bewundert und im Antichrist gesagt: Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen. Was ist schädlicher als irgendein Laster? – Das Mitleiden der Tat mit allen Mißratnen und Schwachen – das Christentum… Nein, er ist müde und möchte gern schlafen, warum jetzt an all das denken? Er starrt mutlos zum Bett hin, die hervortretenden Augen sind wieder matt und die Haut grau, kein einziger Lebensfunken findet sich in seinem leicht geschwollenen Gesicht, das aus Stein gemeißelt zu sein scheint. Könnte er schlafen, könnte er doch verschwinden. Aber bald glühen die Augen wieder auf diese besondere halluzinierende Weise, die sich nur den nächtlichen Tabletten
zuschreiben läßt, und die Gedanken wirbeln aufs neue voran, kreisen weiter und finden ihren eigenen Weg. Er hatte nicht gezögert, er hatte das Schwert gefunden und es gebraucht; er war kein Schwächling gewesen, als er mit einem SS-Kommando, seine Hundepeitsche in der Hand, in dunkelbrauner Lederjacke und schwarzen Stiefeln, an diesem Morgen des Jahres 1934 in dem Hotel in Bad Wiessee Röhm und die SA-Führer aus dem Bett jagte. - Heil, mein Führer? hatte Röhm gesagt und einem verschlafenen Kind ähnlich gesehen, wie er da in den Federn lag. - Du bist verhaftet! hatte er gebrüllt und nicht die unterwürfige Verteidigungsrede dieses eigenwilligen und homosexuellen alten Kameraden abgewartet. Sein Ansehen im Heer erforderte es, daß er Röhm und seine Bande aus dem Wege räumte, und wie sollte ein Mann wie Röhm mit seinem begrenzten Horizont diese Staatsraison durch schauen? Hatte er nicht mit Hilfe Görings und Himmlers in Berlin in entscheidender Stunde blitzartig gehandelt? Hatte er obendrein Röhm nicht aus alter Verbundenheit angeboten, er könne sich selbst das Leben nehmen, ehe er mit großer Entschlossenheit seinen Schießbefehl gab? Natürlich hatten Göring und Himmler zu diesem Anlaß eine Anklage fabriziert, die auf die drohende Gefahr eines SA-Staatsstreichs hinauslief; ungefähr zweihundert waren hin gerichtet worden, unter anderen der frühere Kanzler von Schleicher und Gregor Strasser, mit dem er die Kampfjahre in München geteilt hatte. Natürlich war er einige Tage lang nervös gewesen; wer konnte ihm das verdenken, wenn historische Gründe einen dazu zwangen, mit der eigenen Vergangenheit zu brechen? Hatte er sich selber und dem deutschen Volk nicht bewiesen, daß er über juristischen und rechtlichen Konventionen stand und sein Regime nur auf der Moral der Natur aufbaute? Röhm war schwach und mußte fallen.
O ja, die Schwäche und die Stärke! Er selber war nie schwach gewesen, nicht einmal als er viele Jahre lang über Frieden redete und noch 41 den Engländern zum letztenmal die Hand gereicht hatte. Als Kanzler hatte er von 33 bis 38 über Frieden geredet, während er gemeinsam mit Göring das Heer aufbaute, er hatte sich sogar gezwungen gefühlt, mit Mussolinis Vermittlung Chamberlain in München die Hand zu reichen; zugleich hatte er Mussolini versichert, daß es auf Dauer erforderlich wäre, gegen Frankreich und England ins Feld zu ziehen. Doch als er auf diese Weise bekommen hatte, was er wollte, und nachdem er in einer Rede im Sportpalast in Berlin der Welt versichert hatte, mit dem Sudentenland hätte er keine Gebietsansprüche in Europa mehr, gab er der smokingbekleideten Presse und Goebbels nach der Reichskristallnacht eine notwendige Kursänderung in bezug auf die breite Masse des Volkes bekannt. Er erinnert sich an die bleichen, halb verblüfften und verschreckten Gesichter auf diesem Cocktail-Empfang, als ihnen aufging, daß die Zeit gekommen war, das deutsche Volk psychologisch umzustellen und ihm langsam begreiflich zu machen, daß man manches mit gewaltsamen Mitteln durchführen mußte, wenn es nicht friedlich ging. Er mußte diesen Schreiberlingen erklären, daß man keine Propaganda für die Gewalt an sich zu machen brauchte, sondern es reichte, gewisse Themen (die jüdische Frage etwa) auf eine Weise zu erhellen, daß die innere Stimme des Volkes allmählich von selber nach Gewalt zu rufen begann. Was die breite Masse des Volkes betraf, so war die logische Argumentation nutzlos, das sah er gänzlich anders als die irrigen, sich selbstüberschätzenden Intellektuellen; bei der breiten Masse des Volkes war das Gehirn nur für Gefühle und Erlebnisse empfänglich und würde durch die richtige Beeinflussung automatisch zur Überzeugung kommen, daß man mit Gewalt
lösen mußte, was nicht im guten zu lösen war. Die deutsche Zukunft erschien heller und größer als je zuvor, und alle mußten diese Zukunft vorbereiten, indem sie dem Volk den absoluten, beharrlichen und selbstverständlichen und vertrauensvollen Glauben einflößten, der da lautete: Am Ende werden wir alle das erreichen, was nötig ist. Diese Überzeugung hatte ihn selber einmal aus dem Lazarett und hierher geführt, wo er jetzt vor ihnen stand. Der Weg des deutschen Volkes war ein Weg ins Grandiose, in eine große Zukunft. Das hatte er gesagt und wie immer – unabhängig von der Größe der Versammlung – gespürt, wie die Fassade der halb schlaffen und skeptischen, halb erwartungsvollen Gesichter völlig aufweichte und sich in ein einziges lauschendes und empfängliches Wesen verwandelte, das ihm schließlich aus der Hand fraß. Die einzelnen Menschen, aus denen dieses Wesen bestand, interessierten ihn nicht, er hatte weder Lust, noch brauchte er sie kennenzulernen. Insgeheim wunderte er sich darüber, daß er nur Verachtung für sie fühlte, wenn er erst ihren Widerstand überwunden hatte und sie ihm danach nur schwach und unwissend vorkamen; was ihn aber wirklich trieb, war die Erregung und die Bestätigung, wenn er ihren Widerstand, und mochte er noch so schwach sein, brach. Schwitzend und schließlich völlig verausgabt, kam er zu einem Höhepunkt, auf dem er sich selber vergaß und allmächtig fühlte. In den leuchtenden Augen der Massen war er für Deutschlands Schicksal verantwortlich, und war es nicht ein Glück für ihn und seine wenigen vertrauten Männer, daß Menschen nicht selber denken, sondern sich lenken lassen? Allein kraft seiner Vision war das Rad der Geschichte zurückgedreht worden, damit es um so schneller vorwärts rollte, das waren seine Gedanken, als er nach dem Durchbruch
der Maginot-Linie mit seinem Gefolge hochrangiger Offiziere La Montagne südlich von Wervicq besuchte und den Ort wiedersah, wo ihn im Oktober 1918 das Senfgas blind gemacht hatte. Am selben Tag hatten ihm auf dem großen Friedhof bei Langemarck, wo die Gefallenen der Schlacht vom 10. November 1914 begraben lagen, seine Soldaten als siegreichem Feldherrn gehuldigt, und zwanzig Tage später diktierte er gemeinsam mit seinen Verteidigungschefs und Ribbentrop und Hess in Marschall Fochs altem Salonwagen Frankreich die Bedingungen für einen Waffenstillstand mit Deutschland, und zwar an demselben Ort im Wald von Compiegne nordöstlich von Paris, wo Foch 1918 der deutschen Generalität den demütigenden Waffenstillstand diktiert hatte. Es war ein blendender Sonnentag, und als er mit seinem Gefolge in seinem schwarzen Mercedes ankam, betrat er ernst und feierlich und mit federnden Schritten den Wagen und setzte sich auf Marschall Fochs Stuhl. Die fünf Minuten später eintreffende französische Delegation hörte sich schweigend die Bedingungen des Waffenstillstands an, der Punkt für Punkt verlesen wurde, während er mit einer gewissen höhnischen, inneren Freude den bleichen Ausdruck von Schmach in den Gesichtern der französischen Offiziere und Politiker studierte. Als er genug gehört und gesehen hatte, stand er auf und hob die Hand zum Heil-Gruß und verließ unvermittelt den Wagen. Ein paar Tage früher hatte er in demselben Wald aus Freude und Begeisterung über die Aussicht, diesen Augenblick zu erleben, da er ein für allemal den Schandfrieden von 1918 aus der Geschichte tilgen würde, mit seinen Stiefeln auf der Erde herumgetrampelt; jetzt ging er mit ernster Miene zu seinem schwarzen Mercedes zurück, während ein Musikkorps Deutschland, Deutschland über alles spielte. Er stand im Zenit, alles war geglückt, und das war erst der Anfang der vielen Eroberungen; ein paar Tage später sagte er nach einer
Besprechung mit seinem privaten Generalstab zu Keitel: - Jetzt haben wir gezeigt, wozu wir imstande sind. Glauben Sie mir, Keitel, ein Feldzug gegen Rußland wäre im Vergleich hierzu nur eine Sandkastenübung. War er nicht euphorisiert gewesen, als er am frühen Morgen des 23. Juni 1940 mit Speer und seinem Fotografen Heinrich Hoffmann auf dem Pariser Flughafen landete und mit einem kleinen Gefolge aus drei Autos die Attraktionen der Stadt besichtigte, die jetzt unter seinen Auspizien stand? Er besuchte die Oper, ein Gebäude, das er nur von Zeichnungen und Fotografien kannte und dessen Treppe, Fassade und Portal er für die perfektesten Konstruktionen und Entwürfe der Neuzeit hielt, und konnte hier einem verblüfften Direktor gegenüber sein Wissen über verborgene Türen ausbreiten, die früher anläßlich eines Umbaus eingesetzt worden waren; in den stillen Morgenstunden, in denen die Stadt noch immer schlief, fuhren die Autos über die Champs Elysées, an La Madelaine vorbei zum Trocadero und dann zum Eiffelturm, wo er die Autos halten ließ. Während er zu Speer über die unübertroffene Schönheit der vielen Bauten sprach, fuhren sie weiter am Triumphbogen mit dem Grab des unbekannten Soldaten vorüber und zum Invalidendom, wo er schweigend und lange am Sarkophag Napoleons saß. Bald würde er dieses militärische Genie übertreffen, diesen Herrscher über militärische Siege und Eroberungen, und er würde nicht seine Fehler begehen. Gegen Ende besuchten sie das Pantheon und Sacre-Coeur, und er konnte sich nur schwer von der feierlichen Schönheit losreißen, die diese Bauten ausstrahlten. - Mein Führer, sagte Speer zu ihm, als sie wieder im Auto saßen und auf dem Weg zum Flughafen waren, wann wünschen Sie eine Siegesparade?
- Wir sind vor britischen Luftangriffen nicht sicher, antwortete er, doch als Speer darauf bestand, sagte er: - Ich habe keine Lust auf eine Siegesparade. Wir sind noch nicht am Ende. Er erinnert sich, daß es Speer schlecht wurde, als er am selben Tag am Abend in Berlin vorschlug, das Pantheon und die Oper nach Berlin zu überführen. - Das ist hoffentlich nicht Ihr Ernst, mein Führer. Das wäre gleichbedeutend damit, sie zu zerstören, ja, Paris zu zerstören. - Was bedeutet ein zerstörtes Paris? Frankreich ist von nun an dazu verdammt, eine Provinz des Dritten Reichs zu sein. Speer antwortete ihm nicht, sondern blieb schweigsam. - Sollte die deutsche Ingenieurskunst dieser Aufgabe nicht gewachsen sein? sagte er zu ihm. - Die Aufgabe wird überaus schwierig, sagte Speer, und Hitler konnte den Ton bei seinem Lieblingsarchitekten nicht wiedererkennen. Wo war seine gewohnte Begeisterung, die auch ihn ansteckte und ihre gemeinsamen Stunden mitten in den vielen Kriegsvorbereitungen und politischen Trivialitäten zu Oasen machte? - In diesem Augenblick ist nichts zu schwer für uns! sagte er. Als Speer aber gegen seine Gewohnheit bei seinem Widerstand blieb, befahl er, augenblicklich mit einem Plan für Berlin zu beginnen, der Paris in allem in den Schatten stellen würde. Speers schönes, angenehmes Gesicht hellte sich wieder auf, und sie malten sich gegenseitig aus wie Berlin aussehen sollte. Speer verstand seine künstlerischen Visionen, und in seiner Gegenwart gestattete er sich Zweifel, ohne daß es die klare Rollenverteilung zwischen ihnen in Frage stellte. Wenn Speer auf den Berghof zu Besuch kam, zogen sie sich oft gemeinsam zurück und vergaßen die Welt. Anhand seiner Skizzen oder Speers präziser Zeichnungen konnten sie stundenlang von den Prachtbauten des tausendjährigen Reiches fabulieren, die einst
in ferner Zukunft als Ruinen übrigbleiben und neue Generationen an ihre architektonischen Anstrengungen erinnern würden, Anstrengungen, die der versunkenen griechischen Welt des Schönen in nichts nachstehen würden. Genauso, wie er in vielen Reden die Massen mitgerissen hatte, wenn er über den neuen Menschen sprach, den arischen Menschen, der gefühllos war, disziplingestählt und gleichzeitig von der großen deutschen Begeisterung für die Zukunft entbrannt, konnte er mit Speer über die neue Welt reden, eine Welt mit der Hauptstadt Germania, die sich nur mit Babylon vergleichen ließ. Jedes Jahr sollten Abordnungen der Sklavenvölker durch die Straßen dieser Prachtstadt geführt werden, einzig und allein, damit sie von dem Glanz und der Größe berichten konnten, die sie gesehen hatten. Die Gespräche mit Speer erinnerten ihn an seine Knabenzeit, als er sich zusammen mit Fritz und den Haudum-Brüdern im Schülerheim in Linz epische Gedichte ausdachte. Über die belastendsten Dinge konnte er mit Speer jedoch nicht ausführlich reden, Speer war zu weich und besaß in Rassenfragen nicht die Scharfsicht und die nötige Unerbittlichkeit; von Bormann abgesehen, konnte oder wollte er niemandem aus dem inneren Kreis auf dem Berghof seine Überlegungen zu den radikalen praktischen Lösungen und Methoden mitteilen, die jede Form von Mitleid ausschlossen. Hatte er sich in den ersten beiden Kriegsjahren nicht selber gezwungen, in Gegenwart von mehr als zwei, drei Leuten nur allgemeine Redensarten zu benutzen, um nicht zuviel zu verraten? Natürlich konnte er ganz friedlich über dieses Thema konversieren, bei einem Essen zum Beispiel. Für ihn war es jedenfalls wichtig gewesen, daß gerade Personen wie Speer, andere Reichsminister und nicht zuletzt geladene höhere Offiziere in diesem Punkt an seine unerschütterliche Einstellung erinnert wurden, ja, überwiegend kamen ihm die
Assoziationen dazu genauso natürlich wie der Drang, zur Körperreinigung ein Glas Kurwasser zu trinken. Zum Beispiel konnte er sagen: - Ich möchte die Juden in Europa vernichten. Dieser Krieg ist die entscheidende Konfrontation zwischen dem Nationalsozialismus und dem Weltjudentum. Einer von beiden muß ins Gras beißen, und das werden gewiß nicht wir sein. Ein Glück, daß ich als Österreicher die Juden so gut kenne. Wenn wir verlieren, werden sie uns vernichten. Warum sollte ich finden, daß es schade um sie wäre? Oft hatte sich in solchen Augenblicken ein Schweigen verbreitet, das den Anschein von Verlegenheit um ihn herum erwecken konnte, aber er hatte zu keinem Zeitpunkt daran gezweifelt, daß das Weltjudentum es auf einen Krieg anlegte; Dietrich Eckhardt, den er bis zuletzt bewunderte und an seiner Seite vermißte, hatte ihn schon in den 20er Jahren davon überzeugt, und hatte er nicht gesehen, daß seine 39 zu den Engländern ausgestreckten Friedensfühler von dem jüdischen Führer Weizmann und den einflußreichen jüdischen Kreisen in England zurückgewiesen wurden? Derlei hatte er oft mit seinem Stellvertreter Hess diskutiert, der 41 ohne sein Wissen den verzweifelten Versuch eines Alleinfluges nach England unternommen hatte, um die Engländer zu überreden, Churchill abzusetzen und sich vom jüdischen Einfluß zu befreien. Ja, die Juden trugen die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Krieges, aber hatte er nicht seine Zweifel gehabt, ob das deutsche Volk noch bereit war, den ganzen Weg mit ihm zu gehen, obwohl er es 1939 in seiner Reichstagsrede auf die möglichen Folgen vorbereitet hatte? So wie viele seiner engsten Gefolgsleute mußte auch das deutsche Volk langsam darauf vorbereitet werden, was in jüdischen und rassenmäßigen Angelegenheiten zu geschehen hatte. 39 hatte er sich mit Drohungen begnügt, aber wer historisches und
politisches Gespür und Verständnis für den Antisemitismus besaß, der wußte, was er mit seiner Drohung meinte: Sollte es dem internationalen Finanzjudentum wie 1914 noch ein weiteres Mal gelingen, die Nationen in einen Weltkrieg zu treiben, dann wäre das Ergebnis nicht die Bolschewisierung des Erdballs und damit der Sieg des Judentums, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa. Das hatte er gesagt, aber selbst Göring hatte geschwankt, als er später mit ihm über die Konsequenzen redete; glücklicherweise hatte er mit Goebbels und nicht zuletzt mit Himmler und Heydrich beliebig einsetzbare Männer, die mit methodischer und organisatorischer Begabung selbst diese große, lebenswichtige Aufgabe erledigen konnten. Schon 1940 hatte er Himmler im Wolfpalast in Frankreich in einem stundenlangen Gespräch unter vier Augen auf die kommenden Ereignisse vorbereitet; aber es ging nicht ohne einen Schwertstreich ab, und erst als er ihn seinen Zorn spüren ließ, begriff Himmler den Ernst der Sache. - Ich möchte, daß Sie mir mit Heydrichs Hilfe einen Plan ausarbeiten, wie man sich in dem kommenden Feldzug gegen das jüdisch-bolschewistische Rußland des jüdischen Elements entledigt, und täuschen Sie sich nicht, ich meine die physische Ausrottung. Sie müssen geographisch denken und sozusagen die Kriegshandlungen in Polen ausnutzen. Die erste Aufgabe ist die Ausmerzung der polnischen Juden, danach kommen die russischen an die Reihe, die französischen und so fort. - Mein Führer, ich nehme an, daß die Juden als Sklavenarbeiter benutzt werden und dem Reich Geld einbringen sollen, sagte Himmler und wollte ihn nicht verstehen. - Sobald sie das Reich Geld kosten, müssen sie genauso totgeschlagen werden wie die Zwangsarbeiter, die ihre Aufgabe überleben. Wenn wir sie nicht totschlagen, dann
werden sie den Grundstock für ein noch gefährlicheres Judentum ausmachen. - Alle Juden? fragte Himmler mit angehaltenem Atem und sah ihn erschrocken an. - Ja, alle, ohne Ausnahme. - Und was ist mit dem Madagaskar-Plan? - Benutzen Sie ihn als Tarnung, benutzen Sie ihn, um Informationen über alle europäischen Juden zu sammeln. Juden, die den Krieg überleben, können wir später nach Madagaskar schicken, falls erforderlich, aber der Krieg gegen die Sowjetunion wird uns die neuen Möglichkeiten geben, die wir für die Endlösung der Judenfrage suchen. Himmler sah ihn mit diesen Augen an, deren Farbe er nie identifizieren konnte. Himmler richtete sich im Sessel auf, und er, der selten Leidenschaft zeigte, bat jetzt flehentlich: - Mein Führer, wir werden die slawische Bevölkerung ohnehin zu Millionen umsiedeln und dezimieren, das ist unsere heimliche Aufgabe, ich bitte Sie… - Bitten Sie mich um nichts. - Mein Führer, ich und meine SS sind bereit, für Sie zu sterben, aber erteilen Sie mir nicht diese Aufgabe. - Hören Sie immer noch nicht auf! Verweigern Sie einen Befehl? - Ich verweigere gar nichts, sagte er kleinlaut und faßte mit der Hand an seine Brille. Hitler packte wütend seinen Arm, und die Brille fiel Himmler aus dem Gesicht. - Alles, was Sie sind, verdanken Sie mir, und jetzt verweigern Sie mir den Gehorsam! Sie sind zu den Verrätern übergelaufen! - Sagen Sie das nicht, erwiderte Himmler ängstlich und blinzelte mit den Augen wie ein blindes Huhn.
Er hielt seinen Arm fest und stieß Flüche und Verwünschungen gegen ihn aus. Himmler sank schweigend in sich zusammen, ohne ihn anzusehen. Er ließ ihn los, stand auf und ging wütend in dem Raum auf und ab. Ich bin kein Verräter, ich bin kein Verräter, wieder holte Himmler und starrte vor sich hin. Er blieb einige Meter vor ihm stehen. Wechselte den Ton: - Wie soll ich Sie sonst nennen? Was macht Sie besser als Röhm? - Mein Führer, Sie wissen, mein Motto ist blinde Loyalität… - Und wo ist diese jetzt? Himmler stand auf und wandte sich ihm mit offenen Handflächen zu: - Mein Führer, vergeben Sie mir, ich werde alles tun, absolut alles, was Sie befehlen, und noch mehr. Doch Sie dürfen nie, nie sagen, ich sei ein Verräter. - Wie würden Sie selber Ihr Verhalten nennen? ließ er nicht locker. - Es ist der pure Egoismus, mein Führer, ich bedauere. - Sie müssen sich darüber klar sein, daß Sie mir berichten müssen und daß ich Sie in dieser Sache genau beobachte. Sie müssen vor Ihren SS-Leuten reden und sie auf die Aufgabe vorbereiten, wir nehmen das ganze auf Platte auf, und ich will diese Platten hören… - Jawohl! sagte Himmler erschöpft und bückte sich nach seiner Brille. Er betrachtete ihn schweigend, während Himmler die Brille mit nervösen Händen auf der Nase befestigte. Es gab keinen Grund mehr, gereizt zu sein; sein Zorn hatte seine Wirkung getan, und von einem Augenblick zum anderen sprach er wieder mit seiner gutturalen, weichen Stimme und lud Himmler ein, mit ihm eine Zwischenmahlzeit einzunehmen. Beim Essen sprachen sie entspannt über Himmlers Hühnerzucht, die er wegen seiner vielen Pflichten
fast ganz seiner Frau überlassen hatte, einer deutschen Musterfrau, bis Himmler sich wieder seine Kriegserfahrungen anhören durfte. Alles hängt und hing von ihm selber ab. Das war auch damals eine Bürde. Er erinnert sich, wie er vor dem Triumph in Frankreich und dem Feldzug gegen Polen fünfzig leitende Offiziere in der Großen Halle auf dem Berghof um sich versammelt hatte, um sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, das Land so schnell wie möglich anzugreifen. Die Generale, einschließlich Göring, waren in Zivil gekommen, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, und saßen in mehreren Stuhlreihen vor ihm, während er am Flügel in der Halle lehnte. Beim Sprechen schweifte sein Blick ab und wanderte über die sonnenbeschienenen Bergmassive vor den großen Fenstern. Er fühlte sich verpflichtet, ihnen zu erklären, daß – gerade weil in der Essenz alles von ihm abhing, von seiner Existenz und seiner politischen Begabung – die Zeit zu handeln gekommen war. Wahrscheinlich würde man niemandem sonst in ganz Deutschland mehr so sehr vertrauen wie ihm. Darum war seine bloße Existenz ein Faktor von großem Wert. Aber man müßte sich darüber klarwerden, daß er jederzeit von einem Verrückten oder Kriminellen eliminiert werden konnte. Abgesehen von ihm selber und Mussolini und Franco, so fehlte es Europa an hervorragenden Persönlichkeiten, die ein Volk führen konnten. Natürlich spielten auch Deutschlands wirtschaftliche Schwierigkeiten eine Rolle, die wirtschaftliche Situation könnte noch einige wenige Jahre so bleiben. Es war notwendig, zu expandieren, Lebensraum zu schaffen. All das nötigte sie, zu handeln und jetzt den Konflikt zu suchen. Niemand wußte, wie lange er noch leben würde. Wie gewöhnlich beeindruckte die Rede seine Zuhörer gehörig, und Göring hatte ihm anschließend Komplimente gemacht. Er erinnert sich an Görings Jovialität, als er in seinem
fremdartigen Jagdanzug auf ihn zukam und ihm die Hand auf seine Schulter legte. - Dann ziehen wir in den Krieg, mein Führer, sagte er, aber ich verspreche, ich werde erst meine Garderobe aufsuchen! Vieles war in den ersten Kriegsjahren leichter und schneller gegangen, als er geglaubt hatte, obwohl er sich selber weiterhin nicht viel Zeit zumaß und es sich darum kaum gegönnt hatte, sich auf seinen Siegen auszuruhen. Für die Wehrmacht war es kein Problem gewesen, neben der Tschechoslowakei, Polen und Frankreich die kleinen Länder Europas zu erobern, die keinen nennenswerten Widerstand leisteten, und durch die Allianz mit Mussolini hatte man schnell nach Süden und in den Balkan expandieren können. Der bereitwillige Marschall Petain hatte es ihnen auch leichtgemacht, das französische Gebiet ohne größere Konflikte zu verwalten, ja, dort auch später mit dem französischen Antisemitismus im Rücken die Judenfrage effektiv und schmerzlos zu lösen. Selbst das Problem des unwerten Lebens, der Geisteskranken und Behinderten, hatte er über seine eigene Kanzlei und dank ergebener und ambitionierter Beamter wie Bouhler und Brack durch die Euthanasie-Aktion gelöst, der sie, nach der Adresse ihrer Tarnorgansisation in der anonymen Villa in der Tiergartenstraße 4, den Decknamen Aktion-T4 gegeben hatten. In Wirklichkeit hatte gar nicht er die praktische Initiative ergriffen, sondern sie waren auf ihn zugekommen, weil sie seine prinzipielle Einstellung in der Sache kannten und verstanden, sie auszuführen. So war es wohl auch mit der Judenfrage gewesen, als er erst Himmler in Gang gesetzt hatte. Sie wußten, was er von ihnen erwartete und daß er nicht an Details interessiert war oder Lust oder Zeit hatte, Berichte von mehr als zwei Seiten zu lesen, eine Zusammenfassung von
einer Seite, zum richtigen Zeitpunkt übergeben und zuvor von Bormann durchgekaut, genügte. Schon 35, während er im geheimen zusammen mit seinen engsten Vertrauten die Strategie für den kommenden Krieg vorbereitete und sich in seinen Voraussagen immer mehr bestätigt fühlte, daß eine kleine handfeste Gruppe mit dem rechten nationalsozialistischen Geist völlig genügte, um das neue Deutschland mit einer nationalsozialistisch gesinnten Generation zu lenken, hatte der Leiter der Reichsärzte, Gerhard Wagner, ihn zu dem radikalen Schritt gedrängt, der zur Ausrottung unwerten Lebens führen sollte; er hatte ihn damals darauf hingewiesen, daß er, wenn erst Krieg war, die Euthanasiefrage anpacken würde. Er sah voraus, daß der Krieg den von den Kirchen zu erwartenden Widerstand verringern und eine glatte und leichte Lösung dieser Frage garantieren würde. Er hatte die Absicht, das Problem der Anstalten für geistig Behinderte und Geisteskranke ganz radikal zu lösen. Hier wie in anderen Dingen hatte ihm seine Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen, geholfen. Vor dem Hintergrund einer einzigen Erlaubnis, die er 39 aus Euthanasiegründen für die Tötung eines schwerbehinderten Kindes gegeben hatte (er hatte lediglich bedauernd und resolut auf das Gesuch des Kindsvaters reagiert), beauftragte er seinen Arzt, Dr. Brandt, die Sache weiter zu verfolgen, und bald hatte Dr. Brandt ein Reichskomitee geschaffen, unter dessen Auspizien Tausende Stiefkinder der Natur auf die allerfriedlichste Weise aus der Welt geschafft werden konnten. Im selben Jahr, als der Krieg erst Realität war und man Hospitäler, Ärzte und medizinisches Personal dafür brauchte und keinen Platz für geisteskranke oder geistig behinderte Patienten hatte, beschloß er, daß die Zeit gekommen wäre, die Möglichkeit eines EuthanasieProgramms zu untersuchen. Er besprach dies mit dem Reichsgesundheitsleiter Dr. Leonardo Conti, der ihm das
Einverständnis Tausender von deutschen Ärzten versicherte und daß es kein Problem wäre, praktische Lösungen zu finden. Er erinnert sich, daß Dr. Joseph Brand, Professor der Moraltheologie an der Universität Paderborn, seine letzten Zweifel ausgeräumt hatte, als er auf diskrete Anfrage bestätigte, daß der Staat das Recht habe, geistig Kranke zu töten, und daß die orthodoxe katholische Lehre in theologischer Hinsicht zwar gegen so etwas war, man aber von der Kirche in Deutschland nicht mit einer unzweideutigen Opposition rechnen brauchte. Doch da war der Leiter seiner Kanzlei, Bouhler, der Sache schon zuvorgekommen und hatte die Skizze zu einem Plan vorgelegt, den er bloß zum richtigen Zeitpunkt zu autorisieren brauchte. Er hatte dem immer kultivierten und sorgfältigen Bouhler, der still an einem Dauerschaden eines Beins zu leiden schien, gesagt: - Ich wünsche die strengste Geheimhaltung und eine vollkommen unbürokratische Lösung dieses Problems, selbst der Innenminister soll so weit wie möglich aus der Sache herausgehalten werden. Nichts darf durchsickern. Ich mache Sie persönlich verantwortlich! Bouhler hatte seine Erwartungen ganz und gar erfüllt und einige Tage danach in der Reichskanzlei ein Treffen mit ungefähr einhundert Ärzten arrangiert, wo man sachlich und in guter Stimmung zu dem Schluß gekommen war, daß sich ungefähr sechzigtausend Patienten für das Programm eigneten. Später erfuhr er aus Bouhlers Berichten, daß man im Rahmen der Aktion in ausgewählten Krankenhäusern des ganzen Reiches Kohlenmonoxid-Gas einsetzte, um den Patienten den schonendsten Tod zu bereiten, natürlich auch aus Rücksicht auf Hygiene und Effektivität; so kam man auf eine Gesamtzahl, die alle Berechnungen übertraf. Mehr brauchte er nicht zu wissen, bis er im August 1941 die Aktion mit Rücksicht auf die Proteste abblies, die Bischof Galen in seinen
Predigten in Münster vorbrachte. Das Land war im Krieg, die Engländer warfen Bomben über Münster ab, und Galen versuchte, die Situation auszunutzen, um von der Kanzel herab Stimmung gegen ihn zu machen und die Moral an der Heimatfront zu untergraben. Hatte nicht derselbe Herr einige Monate zuvor den Angriff auf die Sowjetunion willkommen geheißen und gemeinsam mit seiner Gemeinde zu den höheren Mächten gebetet, dem Heer möge die Abwehr der bolschewistischen Bedrohung gelingen? Jetzt redete Galen plötzlich offen und heuchlerisch davon, daß die Bombenangriffe auf Münster Gottes Strafe für die Übertretung des Gebotes Du sollst nicht töten wären, und ließ Abschriften seiner Predigten in Münster zirkulieren. Er war nicht gefühllos, im Gegenteil; was sie geleistet hatten, war ein Werk der Barmherzigkeit und eine Reinigung, wofür die Geschichte ihm danken würde. Wie sollte ein katholischer Bischof das je verstehen können? Goebbels hatte vorgeschlagen, man solle im Lichte der wahrscheinlichen Erfolge der östlichen Feldzüge eine Gelegenheit finden, ihn zu erledigen, und dabei blieb es. Diese kleine Episode bestätigte ihn darin, die nötigen radikalen Schritte gegen die Kirchen erst nach dem Kriege ins Auge zu fassen, und er verbot allen Gauleitern und der Gestapo, weitere Klöster und Kirchen zu schließen, ja, er wütete zum Schein gegen die Hitzköpfe unter den Gauleitern, die bereits zu weit gegangen waren. All das waren nur Abschweifungen, verglichen mit der Hauptsache: dem Feldzug gegen die Sowjetunion und den jüdischen Bolschewismus. Im Herbst 41 ging es um die Operation Taifun und die Einnahme Moskaus; in einem Aufruf an alle beteiligten Soldaten hatte er den Bolschewismus und den Kapitalismus als nebensächlich gegenüber der Tatsache bezeichnet, daß in beiden Systemen Juden, und nur Juden die
treibende Kraft waren. Jetzt war die Zeit gekommen, dem Bolschewismus den tödlichen Schlag zu versetzen. In einer Sportpalastrede hatte er, vom heftigen Beifall der Zuhörer unterbrochen, die Bedrohung aus dem Osten als zweiten mongolischen Ansturm eines neuen Dschingis Khan geschildert und unter abschließenden jubelartigen Ovationen erklärt, der Feind wäre bereits geschlagen und würde sich niemals wieder erheben. Hatten sie nicht zweitausend Panzer und achtundsiebzig Divisionen, fast zwei Millionen Soldaten, unterstützt von Tausenden von Flugzeugen der Luftwaffe, gegen Marschall Timoschenkos Heere eingesetzt? Die Truppen machten Hunderttausende von Kriegsgefangenen und rückten in schnellem Tempo vor. Hatte er nicht zu Goebbels gesagt: Der Sieg ist uns nicht mehr zu nehmen, wir sind unüberwindlich; war das Wetter nicht auf ihrer Seite gewesen, und hatte er an jenem Oktoberabend in Berlin, wohin er aus der Wolfsschanze zurückgehastet war, nachdem er Feldmarschall Brauchitsch zum sechzigsten Geburtstag gratuliert hatte, nicht allen Grund gehabt, sich die Zukunft nach seinen Vorstellungen auszumalen? Vor sich sah er Europa einschließlich des deutschen Ostraums – und nicht Amerika – zum Kontinent der unbegrenzten Möglichkeiten werden. Bald würde die riesige monotone asiatische Steppe ihren Charakter ändern. Autobahnen würden das östliche Territorium bis hin zur Krim, zum Kaukasus, nach Sibirien durchziehen, und wo Flüsse zusammenflossen, würden deutsche Städte als Verwaltungszentren entstehen. Er sah voraus, daß in den nächsten zwanzig Jahren drei Millionen Kriegsgefangene die notwendige Arbeitskraft liefern und daß zwanzig Millionen Kolonisten aus Deutschland, Skandinavien, Holland, ja selbst aus Amerika sich dort niederlassen könnten. Er stimmte mit Himmler überein, daß achtzig bis neunzig Prozent der
bettelarmen Bevölkerung entbehrlich wären und daß der Rest der slawischen Bevölkerung weiterhin in seinem eigenen Dreck weit weg von den großen Straßen dahinvegetieren müßte. Für sie würde es reichen, die Straßenschilder lesen zu können. Da wäre kein Platz für die christlichen Kirchen. Aber alle diese Visionen, die allein er gehabt hatte, was waren sie gegen das östliche Wetter gewesen, den Regen, den Schlamm, die arktische Kälte und die fehlende Führung und Überzeugung der verantwortlichen Offiziere? Wetter und Winter wurden zu seinem Alptraum, und der Alptraum wurde wahr, sie waren einen Monat zu spät draußen gewesen (hatte er das nicht die ganze Zeit gesagt?), und bei Rostow erlitt Kleists Panzerheer die erste Niederlage und wurde zurückgedrängt; er war in einem Zustand starker Erregung gewesen und hatte den weiteren Rückzug verboten. Er hatte den Oberbefehlshaber Brauchitsch zum Führerhauptquartier befohlen und über seine Inkompetenz getobt und ihm befohlen, Feldmarschall von Rundstedt, dem Leiter der Heeresgruppe Süd, aufzutragen, den Rückzug zu stoppen, und als von Rundstedt zu erkennen gegeben hatte, nicht gehorchen zu wollen, mußte er ihn entlassen, so wie er später viele andere entlassen mußte, die kein Rückgrat hatten und Befehlen nicht unbedingt gehorchten. Wenn andere versagten, mußte er das Ganze vorantreiben. Als der kompetente Minister für Munitionsbeschaffung Todt ihm 41 unerwartet unter vier Augen eröffnete, militärisch wäre der Krieg nicht mehr zu gewinnen, kamen ihm zum erstenmal Zweifel. - Die russische Panzerproduktion übersteigt die unsrige, und das amerikanische Waffenpotential ist laut Walter Rohland, dem Leiter unserer Panzerproduktion, enorm. Unsere Nachschublinien reichen nicht aus, unsere Winterausrüstung ist mangelhaft, sagte Todt.
- Wie soll ich denn den Krieg beenden? fragte er ihn und war sekundenlang selber überrascht, wie er überhaupt die Frage stellen konnte. - Der Krieg kann allein mit politischen Mitteln beendet werden, antwortete Todt auf seine nüchterne und ruhige Art. - Ich kann kaum mehr einen politischen Weg erkennen, wie der Krieg zu beenden wäre, sagte er und verbarg seine Angst. In der Nacht nach diesem Gespräch schlief er nicht. Wie konnte es sein, daß anscheinend seine größten Pläne schon zunichte waren, ehe sie überhaupt Wirklichkeit geworden waren? War alles vergebens gewesen: die Kampfjahre in München, der Kampf um die Macht und den Kanzlerposten in Berlin, die Eroberungen in Europa? Er rief Feldmarschall Keitel zu sich und fing zu reden an; Reden war sein Narkotikum, die Worte sprudelten aus seinem Mund; in langen Sätzen mit raschen Assoziationen erhob er sich und redete sich in eine neue Stimmung aus Selbstvertrauen und überzeugte sich selber, daß die Vorsehung es eben so wollte: Sie mußten vor Moskau haltmachen, sie mußten überall die Front halten, und was die Nachschublinien anging, so war es ein Glück, daß sie nicht weiter nach Osten gekommen waren; es würde eine Frühjahrsoffensive mit neuen Panzerwaffen und ausgeruhten Soldaten geben, und er würde selber das Oberkommando über das Heer übernehmen und Brauchitsch absetzen. Keitel lauschte schweigend und flocht, ihm zunickend, hier aber eine Bemerkung ein. - Hervorragende Idee, mein Führer, sagte er, doch wird die Verantwortung die Wehrmacht und dazu noch für die tägliche Strategie des Heeres und die taktischen Operationen Sie nicht über Gebühr belasten? Oh, sagte er, an der Spitze des Heeres zu stehen bedeutet lediglich, über die großen Linien hinaus noch etwas mehr an die Operationsführung zu denken. Das kann jeder machen.
Schon Kriegsminister Blomberg hatte ihm oft für sein militärstrategisches Genie Komplimente gemacht, warum also sollte er zweifeln? Und waren sie nicht mit einer intakten Front über den Winter gekommen? Gewiß, er hatte einen strategischen Rückzug befohlen, aber hatten sie nicht standgehalten, und hatte er mit seinen Anweisungen, die Stellungen bis zum letzten Mann zu halten und jedem einzelnen Soldaten den Willen einzubleuen, den Boden zu verteidigen, auf dem er stand, dem Offizierskorps nicht neues Leben eingehaucht? Natürlich hatten sich einige Offiziere nicht umstellen können, Offiziere, die glaubten, ihre Meriten machten sie zu Ausnahmemenschen, Panzergeneral Guderian zum Beispiel; im Dezember 41 hatte er sich gar zusammen mit dem ganzen Oberkommando einen Tag lang Guderians Proteste gegen seine sogenannten Durchhalteparolen angehört. - Wir können die Stellung unmöglich halten, wir werden überrannt und müssen uns zurückziehen, das gilt für die ganze 2. Armee und meine Panzertruppen, sagte Guderian ruhig zu ihm. - Davon kann keine Rede sein. Die Truppen müssen sich eingraben und jeden Quadratmeter Boden verteidigen. - Die Erde ist bis zu fünf Fuß tief gefroren, sagte Guderian und sah ihm in die Augen. - Dann setzen Sie Haubitzen ein, um Krater herauszusprengen, wie wir es im Ersten Weltkrieg in Flandern gemacht haben, sagte er, und starrte in Guderians Augen. - Die Bodenbedingungen in Flandern lassen sich kaum mit denen des russischen Winters vergleichen, sagte Guderian. Er mochte Guderians Ruhe nicht; normalerweise war Guderian begeistert, leidenschaftlich. Seine Ruhe in dieser Situation kam Arroganz gleich. - Denken Sie, was Sie wollen, aber die Truppen bewegen sich keinen einzigen Meter. Das ist ein Befehl.
- Mein größter Einwand ist der, sagte Guderian, ohne den Blick von ihm abzuwenden, daß der Verlust an Männern enorm wäre. - Glauben Sie im Ernst, die Grenadiere Friedrichs des Großen hätten es mit dem Sterben eilig gehabt? antwortete er wieder scharf. Sie wollten auch leben, aber der König tat recht daran, sie zu bitten, sich zu opfern. Ich meine auch, ich habe das Recht, jeden beliebigen deutschen Soldaten zu bitten, sein Leben zu geben. Guderian schüttelte sachte und schweigend den Kopf und sah ihn jetzt nicht länger an. - Sie sind zu nahe an den Leiden Ihrer Truppe und haben zuviel Mitleid mit ihnen, fuhr er fort. - Mitgefühl ist kein Minus im Soldbuch eines deutschen Offiziers, sagte Guderian und wollte nicht nachgeben. - Treten Sie ein paar Schritte zurück, sagte er. Glauben Sie mir, die Dinge erscheinen einem in klarerem Licht, wenn man sie mit etwas mehr Abstand analysiert. Auch Guderian hatte er entlassen, obwohl er ihn später begnadigte; er mußte hart sein, manchmal brutal, und konnte keine persönlichen Rücksichten nehmen; würde er nach außen dieselbe Schwäche und den Pessimismus zeigen wie die Generale, war Deutschland verloren. Und für ihn war der Krieg in erster Linie keine militärakademische Kriegskunst wie für gewisse Generale, Manstein zum Beispiel, der ihn mehrmals belehren wollte und es auf eine Position als Oberbefehlshaber der Ostfront abgesehen hatte; der Krieg war ein Kampf, ein gewaltsamer Kampf, wo die feindlichen Massen vor den deutschen Linien verbluteten. Wer kannte schon all seine Sorgen und nervlichen Belastungen, wenn er allein im Dunklen lag und ihm die roten und blauen Positionen auf einer zweieinhalb Meter langen Feldkarte im Kopf herumgingen und die Stimmen in den
endlosen Beratungen zu einem Wind wurden, der von nirgendwoher kam. Wenn ihn die umgebende Dunkelheit aufsaugte und einer furchtbaren Niederlage ähnlich sah, seiner eigenen Vernichtung? Da fand er sich im Park in Wien wieder, frierend in seinen schmutzigen Sachen, unbrauchbar, gedemütigt und leer, mit einem Haß auf sich selber, den er nur durch beharrliche Anstrengung, ja, Anbetung des Willens, in Energie verwandeln konnte, die nach außen zielte und ihn selber aufrichtete. Diese Energie zwang ihn fast krankhaft, zu zeigen, wer die wahren Feinde waren und daß er selber, auch in Anbetracht der großen Deutschen, über diesen stand. In der Dunkelheit wußte er plötzlich nicht, wer er war, und fühlte sich völlig substanzlos. Er hatte Angst und sehnte sich nach seiner Mutter und der Küche über dem Gasthaus Zum Pommer in Braunau zurück, um in der Erinnerung an das Licht in dieser Küche und der Bewunderung in den Augen seiner Mutter in gesichtslosen Körpern aufzuerstehen, die allmählich Gestalt annahmen und mit der Stimme Napoleons sprachen oder wie Friedrich der Große gesprochen haben mußte. Wie erleichtert er war und wie unbeschwert er die Persönlichkeit dieser Männer annehmen und wieder ablegen konnte! Aus seiner Zeit in den Wiener und Münchner Leihbüchereien wußte er alles über sie, nicht zuletzt über Friedrich den Großen; manchmal, wenn er hinter verschlossenen Türen ruhelos auf und ab wanderte, sprach er mit seiner Stimme. Er konnte sich in Momenten darüber wundern, woher sein Haß kam, und wollte sich dann schnell damit beruhigen, daß sowohl Goebbels, Himmler, Heydrich als auch besonders Bormann, mit dem er sich immer enger zusammenschloß, seine Verachtung für alles Schwache und Rassenunreine teilten; aber über seine Stellung neben den großen Persönlichkeiten der Geschichte war er sich selten im Zweifel; vieles wurde ihm klar, wenn er sie imitieren konnte; er war überzeugt, daß die zunehmenden
Schwierigkeiten im Feldzug gegen die Sowjetunion und im Zwei-Fronten-Krieg sich von selbst in einen Fortuna Belli auflösen würden, wie es Friedrich dem Großen geschah, als die Koalition gegen sein Heer zerbrach und er nach einer fast aussichtslosen militärischen Situation aus dem Siebenjährigen Krieg als Sieger hervorging. Hatte er nicht im Frühjahr 42 Goebbels gegenüber zugegeben, daß er sich eine Zeitlang krank und schwindlig gefühlt hatte, aber war er nicht auch sofort derjenige gewesen, der Japans Eintreten in den Krieg als historischen Wendepunkt hervorgehoben hatte, und hatte er nicht die ganze Energie in die Führung der Frühjahrsoffensive in der Sowjetunion gesteckt? Und was war geschehen? Wieder war er von seinen Generalen und Feldmarschällen und von den unfähigen rumänischen, italienischen und ungarischen Soldaten bei Stalingrad enttäuscht worden. Ja, selbst Göring und die Luftwaffe hatten ihn enttäuscht, als er im Vertrauen auf sie General Paulus’ 6. Armee und ihren etwa zweihundertfünfzigtausend Soldaten verweigert hatte, sich bei der größten Winterkälte aus der Stadt zurückzuziehen. Der schlimmste von allen aber war General Paulus, dem er mitten in diesem heroischen Drama der deutschen Geschichte, als seine Soldaten von allen Seiten eingekreist wurden, den Rang eines Feldmarschalls verliehen und eine historische Chance gegeben hatte, ehrenvoll zu sterben; dieser Offizier, der Zeuge gewesen war, wie fünfzig- bis sechzigtausend Soldaten starben und sich bis zuletzt tapfer verteidigten, hatte sich freiwillig den Bolschewiken ergeben! Das war ein Verrat von historischen Dimensionen. Er hatte keinen Respekt vor einem Offizier, der lieber in Gefangenschaft ging, anstatt sich selber zu erschießen. Er hatte es nicht verstanden und versteht es noch immer nicht. So viele müssen sterben, und dann geht so ein Offizier hin und beschmutzt sich. Er hätte sich selber von
allem Elend erlösen und in die Ewigkeit eintreten können, in die nationale Unsterblichkeit; doch er zog es vor, nach Moskau zu gehen. Es war Wahnsinn. Genauso Wahnsinn wie Feldmarschall Rommels letzte Mitteilung von der Westfront über Fernschreiber an ihn. Generaloberst Jodl hatte sie ihm unter wachsender Skepsis am 15. Juli auf der Mittagslage vorgelesen; die Verlustzahlen von etwa siebenundneunzigtausend Mann und zweihundertfünfundzwanzig Kampfpanzern waren ein Faktum, ebenso wie die nur sechstausend Mann und siebzehn Kampfpanzer Ersatz, doch die Schlußfolgerung, man müsse den Durchbruch des Feindes im Laufe von zwei, drei Wochen erwarten, war unbrauchbar, ebenso wie die ungeheuerliche Empfehlung zum Schluß: Ich muß Sie bitten, augenblicklich die Konsequenzen aus dieser Situation zu ziehen. Wieder wollte Rommel sich in die Leitung der Kriegsführung einmischen, wieder wollte er den Krieg auf die allerschäbigste Weise beenden, dieser General, der bei der Aufgabe von El Alamein völlig die Nerven verloren hatte. Er hatte zu Jodl, Keitel, dem Heeresstabschef Buhle, Generaloberst Fromm und Stabschef Stauffenberg, der aus Berlin gekommen war, um über die zur Verfügung stehenden Ersatztruppen vorzutragen, gesagt: - Rommel ist ein Symbol unserer Schwierigkeiten: Ein großer und energischer Führer, solange es gutgeht, jedoch absoluter Pessimist, sobald die geringsten Schwierigkeiten auftauchen. Er macht das Schlimmste, was ein Soldat überhaupt machen kann, er mischt sich ins Politische ein und sucht andere Auswege als militärische. War das nicht derselbe Mann, der in Italien einen Zusammenbruch vorausgesehen hatte? Aber es hatte keinen Zusammenbruch in Italien gegeben. Hingegen stehen wir wegen seiner Feigheit vor einem Zusammenbruch in Afrika. Rommel ist kein Mann, der fest steht.
- Nein, das zeigt sich immer deutlicher, sagte Keitel. Und dann dieses Unglück vor einigen Tagen, bei dem Rommel in seinem Auto schwere Verletzungen erlitt, als sein Fahrer bei dem Angriff einer feindlichen Jagdmaschine tödlich verwundet wurde. Was soll er davon halten, wenn er ohnehin daran gedacht hatte, ihn abzulösen? Was soll er davon halten? Im Osten, Westen und Süden ist es wie verhext. Ist nicht alles verloren? Hatte Todt doch recht gehabt? Der Krieg ist nicht zu gewinnen. Er starrt die Betonwand drei Meter vor sich an. Was macht er hier? Warum nur sitzt er hier? - Selbstverständlich kann er gewonnen werden, sagt er mit schwerer Stimme im Sessel. Er sehnt sich nach Eva. Sie könnte ihn überzeugen. Ihn trösten. Ohne das geringste zu verstehen. Du bist der größte Mann der Welt, würde sie sagen. O ja, er weiß es. Ohne seine Macht ist er nichts. Hatte er nicht öfter zu Speer gesagt, würde er sich zurückziehen und sein Amt einem Nachfolger überlassen und sich mit Eva und Blondi irgendwo in den Bergen aufhalten, da würde kein Hahn nach ihm krähen? Ein Mann ohne Macht. Noch geschwächter und bedeutungsloser als schon Mussolini, den er nur um Haaresbreite vor der großen Demütigung gerettet hatte. Er zieht sich nicht zurück. Es wird keinen Nachfolger geben. Er geht unter. Er geht mit seinem Volk unter, das zu schwach ist, das bereits untergeht. Wer kann länger ausschließen, daß es seine Prüfung gegenüber der Geschichte nicht besteht und zu nichts weiter bestimmt ist als zum Untergang? Er wird selber untergehen, alle.
Er steht unter Mühen aus dem Sessel auf und geht in der tiefen Dunkelheit zur Tür, öffnet sie und ruft draußen im Flur nach
Linge. Die jungen Wachposten in dem jetzt grell erleuchteten Flur rühren sich nicht, sehen ihn nicht an; er ruft wieder, macht kehrt, geht wieder tiefer in den Raum hinein und steuert auf den Sessel zu. Genau in diesem Augenblick, in dem er sich mit einem leichten unkontrollierten Zucken des Beins im Sessel niederläßt, tritt Linge in Uniformjacke über die Türschwelle; von einer nackten Birne im Flur schräg hinter ihm schwach beleuchtet, ähnelt er einer Silhouette, und er kann seinen Gesichtsausdruck nicht sehen. - Was befehlen Sie, mein Führer? sagt Linge mit verschlafener Stimme und drückt den Rücken durch. - SS-Hauptsturmführer, kommen Sie herein und schließen Sie die Tür, sagt er. Linge tritt zu ihm herein und bleibt einige Meter von ihm entfernt stehen, bereit, einzuspringen und ihm beim Entkleiden behilflich zu sein, aber als er ihm einen Platz in einem Sessel in der Nähe zuweist, zögert er, und Hitler muß die Aufforderung wiederholen, ehe er ihr nachkommt. - Kennen Sie Schopenhauer? fragt Hitler und starrt Linge an. Linge zögert wieder, stellt sich möglicherweise eine hochstehende Militärperson darunter vor, doch ehe er eine Antwort erhält, beginnt Hitler mit belegter Stimme zu rezitieren: - Was aber das Leben des Einzelnen betrifft, so ist jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte: denn jeder Lebens lauf ist, in der Regel, eine fortgesetzte Reihe großer und kleiner Unfälle, die zwar jeder möglichst verbirgt, weil er weiß, daß andere selten Teilnahme oder Mitleid, fast immer aber Befriedigung durch die Vorstellung der Hagen, von denen sie gerade jetzt verschont sind, dabei empfinden müssen; – aber vielleicht wird nie ein Mensch, am Ende seines Lebens, wenn er besonnen und zugleich aufrichtig ist, wünschen, es
nochmals durchzumachen, sondern, eher als das, viel lieber gänzliches Nichtsein erwählen. Hitler hält inne, sein Blick ist verschleiert, seine geschwollenen Augenlider schließen sich, und Linge ist einen Augenblick lang im Zweifel, ob er in Schlaf gefallen ist, doch jetzt öffnet Hitler wieder die Augen und starrt ihn mit einem unverständlichen, suchenden Blick voller Angst an. Plötzlich huscht ein ironisches Lächeln über Hitlers Gesicht. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, dieses Buch hat mich nie verlassen, seit ich es gelesen habe, selbst im Schützengraben nicht. Ich erinnere mich noch immer an längere Passagen. - Jawohl, sagt Linge. - Sie müssen es unbedingt lesen, sagt Hitler und will aufstehen. Linge tritt hinzu und bietet seinen Arm an, aber Hitler kommt allein auf die Beine. Linge hilft Hitler, Jacke und Hemd auszuziehen, und hängt sie auf einen Bügel, mit seiner leicht zitternden Hand will Hitler die Hosen selber ausziehen – vergeblich. Erst als er sich auf einen Stuhl gesetzt hat und Linge dazukommt und langsam an den Hosen zieht, streift er Hosen und Schuhe ab. - Verdammter Tremor, sagt er und bleibt auf dem Stuhl sitzen, während er leer auf das Bett in dem angrenzenden kleinen Zimmer starrt. Linge reicht ihm ein Feldhemd, das er unbedingt selber anziehen will. - Haben Sie noch Wünsche? fragt Linge und wartet bereitwillig auf seine Antwort. - Gehen Sie nur, sagt er und hat ihn bereits vergessen. Linge löscht die beiden Lampen im Raum, schaltet eine Leuchte neben dem Bett ein und geht zur Tür; ehe er den Raum verläßt, dreht er sich um und sagt: - Ich wünsche Ihnen einen guten Schlaf, mein Führer.
Hitler erhebt sich von dem Stuhl und strebt auf dem kalten Betonboden dem Feldbett zu. Als er vor dem Bett steht, fällt ihm ein, daß er vergessen hat, sich zu waschen, aber das schafft er nicht mehr. Er schafft gar nichts mehr. Er löscht die Lampe, kraucht unter die Bettdecke und sucht in der Dunkelheit nach einer Stellung, die ihm Ruhe gibt. Durch die betonverstärkten Mauern dringt der erste Vogelgesang des frühen Morgens nicht zu ihm herein. Gegen Mittag: Noch eine Besprechung, auf der General Heusinger ihn informieren will, Oberst Stauffenberg kommt wieder aus Berlin und trägt über die Ersatztruppen vor, und Mussolini hat sein Kommen angesagt und… Noch ein Tag. Er will nicht daran denken. Nach einiger Zeit schaltet er die Lampe wieder ein, und erst da fällt er endlich in den Schlaf. Er träumt, daß er in dem überdimensionalen Dienstzimmer der Reichskanzlei hinter dem Schreibtisch sitzt, die Lampe auf dem Schreibtisch geht aus, vergebens versucht er sie einzuschalten; er nimmt den Telefonhörer ab und will nach draußen telefonieren, doch die Leitung ist tot; jetzt erhebt er sich vom Schreibtisch und strebt durch die Dunkelheit dem hinteren Dienstzimmer zu, als er aber die Tür öffnet und hineinsieht, ist es leer. Er macht kehrt und geht den langen Weg durch die Dunkelheit zur Tür, die zum Korridor führt, doch die Tür ist verschlossen; er zieht und rüttelt am Handgriff und beginnt zu rufen; mitten im Ganzen hört er ein Lachen, er weiß nicht, wo es herkommt, ein Lachen, das ihm bekannt vorkommt, ohne daß er es identifizieren kann. Es erinnert ihn an das Lachen seines Vaters, ist aber doch anders; er wendet sich instinktiv und ängstlich um und erblickt durch die Dunkelheit eine Person hinter dem Schreibtisch am anderen Ende des Raumes; der Abstand zu dieser Person ist enorm, und
trotzdem ist er ihr ganz nahe; so, als würde das Herz dieser Person in seinem eigenen Herzen schlagen, und er atmet zusammen mit der Person; obgleich es ihm nicht so scheint, als würde er sich von der Stelle bewegen, nähert er sich dem anderen hinter seinem Schreibtisch und entdeckt, daß er ihm ähnelt; doch der andere sieht ihn nicht, nicht einmal, als er einen Meter von ihm entfernt steht und ihn anspricht. Lassen Sie mich raus, sagt er bittend. Die Person hinter dem Schreibtisch wirkt tot, doch jetzt lacht sie. - Ich bin der Führer, keiner lacht über mich! sagt er. - Sie sind eine Null, die gleich gehenkt wird! sagt der andere plötzlich und mißt ihn mit den Augen. Er beginnt zu reden, schnell und beschwörend, doch der andere winkt ab. - Ich kenne Ihre Tricks. Sie glauben, Sie können sich aus allem und jedem herausreden. - Ich habe mich an die Macht geredet, ich habe die Macht, und Sie verschwinden von meinem Schreibtisch! - Sie haben keine Macht, ich habe Sie erkannt, Sie sind eine Null, und noch einen Augenblick, und ich lasse Sie verschwinden. Das können Sie nicht, Sie sind tot! ruft er erregt und geht auf den Mann zu, der ihm nicht nur zum Verwechseln ähnlich sieht, sondern er selber zu sein scheint. Er schlägt nach ihm, trifft aber niemanden, er schlägt Löcher in die Luft und hört wieder dieses Gelächter. Er begibt sich an alle möglichen Stellen, kann nichts sehen, die Dunkelheit ist wie eine Mauer, er erstickt beinahe; er braucht Luft und bewegt sich auf eines der viereckigen Fenster zur Straße zu; als er das Fenster öffnet und hinuntersieht, fährt er zusammen: Der ganze Platz unten vor der Kanzlei, der dem Marienplatz in München ähnelt, ist mit Galgen übersät, starker Verkehr von Autos und
Fahrzeugen strömt über den Platz. An den Galgen hängen tote Körper, in Kaftane gekleidet -hingerichtete Juden, sie stinken, der ganze Platz stinkt, er kann den Geruch und den Anblick nicht ertragen und dreht sich um, schließt das Fenster, doch er kann den Fensterhaken nicht wieder einhängen, seine Hand zittert; er drückt den Haken fest hinunter, und hinter ihm erschallt das Gelächter, das Gelächter aus seinem eigenen Mund. - Das haben Sie 22 vor sich gesehen, und jetzt haben Sie Angst davor! sagt dieses Totenkopfgesicht. - Ich habe keine Angst, sagt er. - Sie haben Angst. Eine Null! - Ich habe keine Angst, wiederholt er. Das Totenkopfgesicht beginnt, ihn zu imitieren. Er starrt es an, kann den Blick nicht davon abwenden. Einen Augenblick danach erwacht er mit einem Ruf, in Schweiß gebadet.
II 20. JULI 1944
Als Stauffenberg nach einem kurzen und unruhigen Schlaf im Haus in der Tristanstraße aufwacht, ist es fünf Minuten vor sechs; die frühe Hitze macht seinen Hals trocken, und die Glieder sind steif, aber als er auf dem Boden steht und gleich in die Küche geht, wo er ein Glas Wasser leert, spürt er eine gute Energie im Körper. Er spritzt sich mit der linken Hand Wasser ins Gesicht, wäscht sich den Hals und bringt mit einem geübten Griff das Gummiband mit der Klappe vor dem linken Auge an. Ein helles Licht dringt durch das Fenster zu ihm herein, die Vögel singen laut und beharrlich im hinteren Garten, und während er noch ein Glas Wasser trinkt und auf die dichtbelaubten Ulmen hinausstarrt, fühlt er sich beschwingt; die Luft in dem stillen Haus scheint zu vibrieren und aus einer besonderen Form von Sauerstoff zu bestehen. Seine Müdigkeit ist verflogen, er geht einige Male im leeren Erdgeschoß herum, benommen und doch auch mit klarem Kopf, ehe er ohne die übliche Mühe fast akrobatisch in seine Hosen und Stiefel steigt und die Prothese an der richtigen Stelle befestigt, sich die Uniformjacke überzieht und sie zuknöpft. Heute kann er alles. Alles geht von selbst. Er begibt sich mit seiner Aktentasche in den Keller und holt die Packung mit dem Sprengstoff heraus, die er vorsichtig in der Tasche verstaut; als er wieder oben im Erdgeschoß ist, setzt er sich mit seinen Notizen für den Vortrag über die östlichen Ersatztruppen an den Wohnzimmertisch und liest sie rasch durch, falls die ganze Aktion mißlingt und die Situation ihn zwingt, Hitler seinen Bericht abzuliefern. Jetzt steckt er die Papiere in die Tasche und sucht in den Schubladen seines Zimmers nach einem Uniformhemd, das er als Vorwand benutzen kann, um sich in der Wolfsschanze im geeigneten Moment zu entfernen und die Bomben scharf zu machen. Als
er es gefunden hat und wieder auf dem Weg ins Wohnzimmer ist, hört er seinen Bruder auf der Treppe; er öffnet die Tasche, legt das Hemd über die Packung, so daß sie nicht zu sehen ist, falls jemand die Tasche zufällig öffnen sollte, und schließt die Tasche. - Wie hast du geschlafen? fragt Berthold mit einem leichten Lächeln und fängt seinen Blick auf. Sein Bruder steckt schon in der blauen Marine-Uniform. - Nicht besonders gut, sagt er, aber das ist in Ordnung. - Du siehst gut aus, sagt Berthold. - Ich bin bereit, sagt er. Laß uns etwas essen, Schweizer kommt um sieben. Er lacht, ohne zu wissen, warum.
Während sie ein einfaches Frühstück verzehren, geht er mit Berthold, der wie verabredet gegen halb fünf desselben Tages persönlich in der Bendlerstraße auftauchen und davor mit den jungen Ordonnanz-Offizieren im Hotel Esplanade Verbindung halten wird, noch einmal die Kernpunkte des Aktionsplans durch. - Es wird ein heißer Tag, sagt Berthold, macht das was? - Der Bunker hat eine Klimaanlage, aber keine Fenster, die sich öffnen ließen und damit die Sprengkraft verringern würden, das ist also kein Problem. Natürlich sind wir bei klarem Himmel eine leichtere Beute für feindliche Flug zeuge, doch damit müssen wir uns abfinden. - Rechnest du damit, daß der Sprengstoff alle im Lageraum töten wird? Stauffenberg sieht seinen Bruder an, atmet schwer ein, einen Augenblick lang ist sein Gesicht grau. - Ja, alle, sagt er. Nur so können wir es machen. - Weißt du, wer dasein wird?
- Ein Teil des Generalstabs und Heusinger, Schmundt und selbstverständlich Keitel, aber ich will am liebsten nicht daran denken. - Und Himmler? - Himmler müßte dasein, wenn Hitler und Himmler doch nur die einzigen wären… - Habt ihr, Beck, Ulbricht und du, euch überlegt, was ihr macht, falls Hitler überlebt? fragt Berthold. - Er überlebt nicht, nicht bei der Sprengkraft, die allein eine Packung hat, sagt er und trinkt einen Schluck vom dünnen Ersatzkaffee. - Danach habe ich dich nicht gefragt, Claus, sagt Bert hold ruhig. - Es klingt so, als hättest du selber darüber nachgedacht? - Ja, sagt Berthold. - Und deine Antwort? - Wir machen es. - Das ist auch meine Antwort, sagt Stauffenberg. - Auch die der anderen? - Bei Beck und Mertz bin ich mir ganz sicher, und wenn ich nur da rauskomme und es nach Berlin schaffe, dann haben wir auch Olbricht dabei… - Bei ihm bist du dir nicht sicher? - Das Problem ist General Fromm, er ist nicht einzuschätzen, seine Vollmacht ist am Anfang wichtig, und die muß Olbricht beschaffen. - Wenn du aber Olbricht in der Situation nicht voll vertraust…? fragt Berthold weiter. - Ich rechne damit, daß es in der Wolfsschanze klappt, es ist bestimmt unsere letzte Chance, und ich habe zu allen Vertrauen – ich muß. Ist der Sprengstoff erst explodiert, gibt es kein Zurück mehr.
Kurz darauf fährt Schweizer in dem kleinen schwarzen Mercedes vor der Villa in der Tristanstraße vor. Die beiden Brüder, die in wachsender Spannung auf Schweizers Ankunft gewartet haben, umarmen sich schweigend in der Diele und gehen hinaus. Schweizer springt aus dem Auto und öffnet ihnen die Tür. Stauffenberg reicht ihm die Tasche, klopft ihm anerkennend auf die Schulter, setzt sich auf den Rücksitz und nimmt die Tasche entgegen, die er auf seinen Schoß stellt. Schweizer fährt die Hauptstraße durch Kleinmachnow und Teltow entlang, wo sie in dem spärlichen Morgenverkehr rasch und mühelos vorwärts kommen. An dem friedlichen, sonnigen Morgen liegen die unbeschädigten Villen aneinandergereiht am Wege, man sieht keine Spur vom Krieg. Der Morgen könnte für die drei im Auto der Beginn einer frühen Spritztour in die idyllischen Ausflugsorte südwestlich der Stadt sein. Über den kleinen Gärten und Häusern in Teltow liegt eine unbekümmerte Atmosphäre, hier und da spielen einige Kinder mit Springseilen und Bällen; Stauffenbergs Auge fängt begierig alles ein, was es erblickt, er lächelt freundlich und melancholisch vor sich hin. Der schöne Morgen dämpft eine Unruhe, die in seinem Körper auf dem Sprung liegt. Im Wagen schweigen sie, bis Schweizer, mit einer Anspielung auf Stauffenbergs Augenklappe, sagt: - Chef, ich dachte, Sie würden heute beide Augen brauchen! - Ich habe mein zweites Auge vergessen, Schweizer, nein, ich habe beschlossen, daß eins genügt! antwortet er, und alle drei lachen. In der flachen Marklandschaft nördlich des Flugplatzes Rangsdorf – nicht weit von den Garnisonsgebäuden im Heereshauptquartier in Zossen, wo sich die Generale Witzleben und Wagner, die den Verschwörern angehören, bald einfinden werden – überrascht sie eine Nebelbank, die um so dichter wird, je näher sie dem Flugplatz kommen. Schweizer
fährt das Auto vor das kleine flache Hauptgebäude neben dem Kontrollturm, Berthold und Stauffenberg steigen schnell aus, und Berthold geht um das Auto herum. Er legt seinem Bruder die Hand auf die Schulter: - Tu es nicht, wenn du nicht lebend zurückkommen kannst, sagt er eindringlich. - Ich komme lebend zurück, sagt Stauffenberg und lächelt. Bertholds Augen sind blank, er nickt, macht kehrt und setzt sich wieder ins Auto. Es fährt weg, Stauffenberg steht einen Augenblick mit seiner Tasche da, blickt ihm nach und geht dann in das graue Gebäude. Hier erwarten ihn schon sein Adjutant von Haeften und Generalmajor Stieff; sie geben sich die Hand, gehen etwas zur Seite und sprechen diskret über den Zeitplan und über den Nebel, der die Kuriermaschine draußen auf der Startbahn daran hindert, zum festgelegten Zeitpunkt abzuheben. Stieff wirkt nervös und bewegt die Arme seines kleinen Körpers beim Reden auf und ab; er verschwindet plötzlich und taucht ebenso plötzlich wieder auf, gerade als sie zur Maschine hinausgerufen werden. Als sie gemeinsam mit anderen Militärs in die enge Kuriermaschine steigen, finden Stauffenberg und Haeften einen Sitzplatz nebeneinander, und während das Flugzeug im Nebel das Startsignal abwartet, kann Stauffenberg seine Aktentasche öffnen und die mit Bindfaden umwickelte Sprengstoffpackung an Haeften weiterreichen, der sie sofort in seiner Tasche verwahrt. Die Kuriermaschine rollt langsam zur Startbahn hinaus, und ihr großer Propeller dreht sich plötzlich unter ohrenbetäubendem Lärm in hoher Umdrehungszahl. Mit einem Ruck des Fahrgestells bewegt sich die Maschine immer schneller vorwärts, um endlich mit einem Zittern des Rumpfes vom Boden abzuheben und in einer stetig ansteigenden Kurve aus dem Nebel in den sonnigen wolkenlosen Raum aufzusteigen.
Mit Aussicht auf den unendlich blauen Raum sagt Haeften: Als ich schwer verwundet war, habe ich im Fieber von diesem Himmel phantasiert, und ich dachte, ich würde ihn nie wieder sehen. - Sieh ihn dir gut an, sagt Stauffenberg, vielleicht sehen wir ihn zum letztenmal. - Du glaubst doch nicht, daß es gelingt? sagt Haeften überrascht. - Doch, sagt Stauffenberg, aber heute gibt es Dinge, die wir nicht unter Kontrolle haben. Wenn das Ganze nicht klappt, sind wir erledigt. - Ich möchte gerne noch leben… Stauffenberg sieht ihn an, und plötzlich geht ihm auf, wie jung sie beide sind. - Den Krieg überleben, sagt er, das ist wie ein Traum. - Es ist ein Traum, sagt Haeften. - Das beste wäre, ihn zu erschießen und es hinter uns zu bringen. So war mir schon 42 in Winniza. Vielleicht hätte ich es getan, hätte ich die Möglichkeit dazu gehabt. - Glaubst du? - Ich kam nicht in seine Nähe, und ich dachte an meine Kinder, ich denke immer noch an sie. - Die Kinder, das ist das schlimmste. Wenn es nicht klappt, dann… sagt Haeften und schließt die Augen. - Es klappt! sagt Stauffenberg. Er öffnet seine Aktentasche, zieht ein Papier heraus und reicht Haeften den Zeitplan. Dieser geht ihn schweigend durch. - Hast du irgendwelche Einwände? Haeften schüttelt den Kopf. Sie sind das Papier oftmals schon durchgegangen, und jetzt steckt er es in seine Tasche. - Wenn du von Mauerwald zurückkommst, mußt du immer darauf achten, wo ich bin. Du mußt dir in Keitels Bunker einen
Raum suchen, wir haben höchstens fünf Minuten. Wir treffen uns im Flur. Haeften nickt. - Hast du die Zange? fragt er. Stauffenberg nickt und lehnt den Kopf in den harten Sitz zurück. Er schließt die Augen und will kurz schlafen, kann es aber nicht. Der ganze Körper ist angespannt und luftig zugleich, in den Schläfen kreist das Blut schneller, er schwitzt in der kühlen Kabine, wo die meisten Passagiere schon unter den ausgegebenen groben Decken schlafen. Bilder von Hitlers Körper und Gesicht kommen zu ihm. Er stellt sich vor, wie er den Lageraum betritt und sich den stieren Augen in dem grauen Gesicht und dem leicht vorgebeugten Körper gegenübersieht. Einzig dieser Mann befindet sich in dem Raum; Hitler beginnt zu ihm zu reden, er hat die Aktentasche draußen vergessen und weiß nicht, was er tun soll. Er schiebt die Phantasie gewaltsam weg. Einige wenige Sekunden lang spürt er, wie erschöpft er ist. Vielleicht hatte Sauerbruch recht? Nein, er will nicht daran denken. Ein Gefühl völliger Unwirklichkeit trifft ihn in der großen Höhe über dem Erdboden, und er dreht den Kopf zu dem halb schlafenden Haeften hin und erkennt ihn nicht. Um zehn Uhr fünfzehn landet die Kuriermaschine im blendenden Sonnenschein auf der Landebahn des Flugplatzes Rastenburg unweit der Wolfsschanze. Ein Auto mit Fahrer von der Kommandantur im Hauptquartier steht bereit und bringt Stauffenberg über die engen Waldwege zum KommandantenKasino im Sperrkreis II, während Haeften und Stieff in ein Auto nach Mauerwald steigen. Im Kasino nimmt Stauffenberg mit den Mitgliedern des Kommandantenstabs und dem Adjutanten des Kommandanten, Rittmeister Möllendorf, ein kurzes spätes Frühstück ein. Man spricht über das Wetter und
die bevorstehende Vorbesprechung in Keitels Bunker, und Möllendorf lädt ihn ein, nach der Mittagslage bei Hitler mit dem Kommandanten, Oberleutnant Streve, zu Mittag zu essen. Zum Schein nimmt Stauffenberg die Einladung mit einem Lächeln an und versucht, seine zunehmende Erregung zu dämpfen. Plötzlich sagt Möllendorf: - Sie wissen doch, daß die Mittagslage heute in die Speerbaracke verlegt worden ist? - Nein, wieso? - Die Bauarbeiter verstärken gerade den Führerbunker, darum findet sie nicht dort statt. Stauffenberg schaut nicht länger in Möllendorfs glattes Gesicht, stellt die Tasse mit Kaffee ab, und sein Blick wird abwesend. Er schluckt seinen Speichel hinunter, während er sich eine unverfängliche Antwort zurechtlegt. In denselben Sekunden wird ihm klar, daß sich die Chance für ein gelungenes Attentat verringert hat: der Speerbunker ist gänzlich aus Holz, während Hitlers Bunker durch Beton verstärkt und geschlossen ist, er sieht schon die offenstehenden Fenster im Speerbunker vor sich. Als er die Antwort hat, fragt er nach Möllendorfs Beförderung. Möllendorf antwortet bereitwillig. Als Stauffenberg sich zusammen mit einem Ordonnanzoffizier, der seine Tasche trägt, gegen elf Uhr zu einer Besprechung mit General Buhle im Sperrkreis I fahren läßt, um mit ihm und Generalleutnant von Thadden die Aufstellung von Sperrdivisionen in den Ostabschnitten zu erörtern, erwacht Hitler im Führerbunker – von seiner inneren Uhr geweckt – zum zweitenmal aus seinem unruhigen Schlaf. Während er zögernd mit bloßen Füßen aus dem Feldbett steigt, erinnert er sich schwach an den Alptraum, der ihn vor einigen Stunden gequält hat, und ist verstimmt. Er geht zum Handwaschbecken und Spiegel und wäscht sich Hände, Hals
und Gesicht mit Seifenwasser. Als er sich das Gesicht abtrocknet, betrachtet er sich forschend im Spiegel und findet keinen Gefallen an den glanzlosen Augen, die ihn anschauen. Nicht mein Gesicht, denkt er und dreht sich unwillkürlich zum großen fensterlosen Raum hinter sich um. Kein Laut dringt zu ihm herein. Das Vakuum ist ihm gerade an diesem Tag unerträglich, und doch will er niemanden sehen. Er legt sich wieder aufs Bett, schaut unwillkürlich auf seine Uhr. In fünf Minuten wird Linge mit dem Frühstückstablett dasein, den Bulletins, dem Tagesprogramm, den Zeitungen… Und danach Morell mit Spritzen, Tabletten… Wenn er den Tag überstehen soll, muß erst Morell kommen. Doch in diesem Augenblick schafft er es nicht, nach ihm zu läuten, und bleibt liegen, obwohl ihm sein verschwitztes Nachthemd Unbehagen bereitet. Nein, erst muß Linge neue Unterwäsche bringen, frische Wäsche, von oben bis unten. Mussolini kommt. Der geschlagene Mussolini. Sein Blick gleitet über die graue Betondecke, und aus dem Grau steigt das Gefühl, bedroht zu sein, in Gefahr zu sein; vor einigen Wochen hat er seine Adjutanten gebeten, den Bunker mit mehr Beton sichern zu lassen und die Personalia des Stabes sorgfältig auf die geringsten Unregelmäßigkeiten hin zu durchforsten, er befahl häufigere SS-Kontrollen aller Militärs auf dem Gelände, von den Gästen ganz abgesehen. Doch kann er sich sicher fühlen? Gibt es einen sicheren Ort auf der Welt? Ist es am sichersten, im Bett zu bleiben? Der Berghof war sein Ort. Jetzt ist der Berghof in ein schwarzes Tarnnetz gehüllt und für ihn verloren. Die ganzen schönen Stunden auf dem Berghof – wo sind sie geblieben? Was hat die Welt ihm zu bieten? Einen Spaziergang mit Blondi! Blondi ist das einzige lebende Wesen, auf das er sich verlassen kann.
Es klopft an die Tür, Linge tritt mit dem Tablett ein. - Wenn Morell hiergewesen ist, will ich mit Blondi rausgehen! sagt Hitler zu ihm, noch ehe Linge das Tablett mühsam auf seinem Bett abgestellt hat.
Gegen halb zwölf, unter einer Sonne, die aus einem wolkenlosen Himmel herunterbrennt und Hitzewellen durch ganz Ostpreußen schickt, geht Stauffenberg zusammen mit Buhle, Thadden und Oberstleutnant i. G. Lechler das kurze Stück zu Keitels Bunker, um dort die Vorbesprechung mit Keitel und seinen Adjutanten abzuhalten. Haeften, der in der Zwischenzeit im Auto aus Mauerwald im Sperrkreis I angekommen ist, stößt mit einem kurzen Gruß zu der kleinen Gruppe und folgt ihnen in den erst zur Hälfte durch Beton verstärkten Bunker. In seiner schwitzenden Rechten hält er die Aktentasche mit der Sprengstoffpackung, und während die übrigen in den Lageraum verschwinden, wo Keitel und seine Adjutanten sie schon erwarten, läßt Haeften sich auf einem Stuhl im Vorzimmer nieder. Der dünne Offizier der Reserve mit Bankausbildung Haeften, der am Morgen desselben Tages keine Nahrung zu sich nehmen konnte, achtet in der nächsten Dreiviertelstunde auf die Zeit und starrt viele Male wie in einem Nebel auf seine Uhr; er steht manchmal vom Stuhl auf und geht vor der Tür zum Lageraum unruhig auf und ab, während er auf die Stimmen hinter der Tür horcht; allein mit sich selbst und seiner wachsenden Nervosität, nimmt er plötzlich die Aktentasche auf den Schoß, öffnet sie und holt den Sprengstoff heraus, eine unansehnliche Packung in braunem Papier. Abwesend stellt er die Packung auf den Boden, während er sich mit einem Griff in die Tasche vergewissert, daß sich die beiden Zündstifte immer noch in einer Schachtel auf dem Taschenboden befinden. Er
hört nicht das Geräusch von Schritten in dem langen Korridor, der am Ausgang endet, und entdeckt Oberfeldwebel Vogel aus Keitels Stab erst, als er einige Meter von ihm entfernt steht und ihn anredet: - Wem gehört diese Packung? - Mir, sagt Haeften und schließt die Aktentasche. - Soll sie hier liegenbleiben? fragt Vogel. - Oberst Graf Stauffenberg braucht sie für seinen Vortrag beim Führer, sagt Haeften betont ruhig und bereut, sie nicht sofort aufgehoben zu haben. - Jawohl, sagt Vogel und bleibt einen langen Augenblick stehen. Plötzlich dreht er sich um und eilt zum Dienstzimmer von Major John von Freyend. Beschämt nimmt Haeften die Packung auf und verstaut sie vorsichtig in der Tasche. Er erhebt sich jetzt, läßt die Aktentasche auf dem Stuhl stehen und geht bis ganz ans Ende des Korridors, während er sich im stillen verflucht. Benommen, wie er ist, vergißt er, nach einem Zimmer Ausschau zu halten; er geht zu dem Stuhl mit der Aktentasche zurück, setzt sich und schaut wieder auf seine Uhr. Es ist zwölf Uhr, in einer Stunde beginnt die Mittagslage mit Hitler. Doch zwei Minuten nach zwölf klingelt das Telefon im Lageraum, Keitels Adjutant, Major John von Freyend, steht von dem Stuhl um den Besprechungstisch auf und nimmt den Hörer ab; als er hört, daß es Linge mit einer Mitteilung des Führers an Keitel ist, reicht er den Hörer schweigend an Keitel weiter. Keitel, der mitten in einem Satz zur Situation an der Ostfront ist und den Blick steif auf Stauffenberg auf der anderen Seite des Tisches gerichtet hat, nimmt gereizt den Hörer entgegen. Als er aber Linges Mitteilung hört, antwortet er mit der weichen, einschmeichelnden Stimme, die er gewöhnlich dann annimmt, wenn etwas den Führer direkt betrifft.
In den letzten paar Wochen, in denen Keitel sich durch unangenehme Gerüchte im Generalstab über seinen baldigen Rücktritt angegriffen fühlte, ist die Stimme geradezu unterwürfig geworden. Generalfeldmarschall Keitel ist Hitlers Ohrendiener, ein Oberbefehlshaber ohne Heer, ein Mann, der nervös mit den Launen und unvorhersehbar wechselnden Sympathien des Führers lebt; in seinen langen glänzenden schwarzen Stiefeln balanciert er am Rande der Entlassung, nachdem er in den ersten Kriegsjahren im Sonnenwagen des Führers mitgefahren war; vom Führer völlig abhängig, ist er ein Echo geworden, immer grauer und unpersönlicher, ein Echo, das seine Quelle sucht; selbst seine Augen sind erloschen, und viele Bewegungen des großen gealterten Körpers und die Mimik des Gesichtes haben die Form der Kopie angenommen; doch einen Imitator zu imitieren ist dasselbe, als würde man zu existieren aufhören, und was bleibt, ist – in den vielen einsamen Nächten – nur ein Seufzen und – an den vielen Tagen – Verachtung für die Untergebenen. Mehr als so viele andere aus dem militärischen Kreis um den Führer lechzt Keitel nach einer Gelegenheit, dem Führer seine völlige, bis in den Tod reichende Loyalität zu beweisen und die persönliche Misere zu überwinden, in die Hitlers wachsende Verachtung seiner Umgebung ihn gebracht hat. Dazu wird er an diesem Tag unerwartet Gelegenheit haben. Er legt den Hörer auf und sagt lakonisch: - Mussolini ist mit dem Sonderzug unterwegs, um den Führer am frühen Nachmittag zu treffen, die Mittagslage ist aus demselben Grund auf zwölf Uhr dreißig eine halbe Stunde vorverlegt. Wir müssen uns beeilen. Während Stauffenberg in knapper Form seine Ansichten vorträgt, wie sich die Truppenzufuhr an die Ostfront verbessern läßt, und logistische Vorschläge für die Transportmöglichkeiten unterbreitet, spürt er langsam
Schweißperlen an seinem Hals. Er denkt: Eine halbe Stunde weniger, eine halbe Stunde… keine Zeit, nicht viel Zeit, und seine Gedanken überschlagen sich. Beim Reden schaut er auf seine Uhr, und im nächsten Augenblick heftet sich sein Blick auf die Krone einer Linde vor den Fenstern. Die Gesichter vor ihm sind Schatten. Keitel unterbricht ihn und bittet ihn, die Zeitperspektive für den Truppentransport darzulegen, und er antwortet mit Datumsangaben, Ausgangspunkt und Örtlichkeiten für die Aufstellung der Truppen; Major John von Freyend erhebt sich, zieht die Feldkarte über den Tisch und bittet ihn im selben Moment, die Örtlichkeiten genau auf der Karte anzugeben, damit sein Plan allen Anwesenden ganz klar wird. Oberstleutnant Lechler bezweifelt plötzlich die Einsatzbereitschaft der Truppen, doch Stauffenberg garantiert für die Ausbildungsprogramme des Ersatzheeres, und während sich die Anwesenden langsam von Stauffenberg überzeugen lassen, klingelt wieder das Telefon, und nach einem kurzen Gespräch sagt Keitel: - Meine Herren, es ist zwölf Uhr fünfundzwanzig, Generalleutnant Heusinger ist gerade aus Mauerwald angekommen und auf dem Weg zur Mittagslage, wir müssen hier zum Ende kommen und aufbrechen. - Ist der Führer zugegen? fragt Stauffenberg scheinbar ruhig. Keitel klappt seine Schreibmappe zu und sieht ihn unruhig an. - Der Führer ist definitiv auf dem Wege. Haben Sie noch etwas hinzuzufügen? - Nein, sagt Stauffenberg und bleibt einen Augenblick sitzen, um die Zeit hinauszuzögern. Diesmal will er sicher sein, daß Hitler sich im Lageraum befindet. Keitel erhebt sich ungeduldig, schiebt den Stuhl unter den Tisch und nickt zu Freyend hin. - Wir müssen jetzt gehen! sagt er schroff und geht schnell zur Tür.
Auch Stauffenberg erhebt sich und nimmt seine Mappe unter den Arm; er wendet sich an Freyend, der dabei ist, die Karte zusammenzurollen. - Ich möchte mein Hemd wechseln, es ist die Hitze, sagt er. Haeften hilft mir, aber wo ist es am besten? Ohne ihn anzusehen, sagt Freyend: - Der Aufenthaltsraum genau vor dem Ausgang. - Am Ende des Korridors? Freyend sieht ihn aus irgendeinem Grund verwundert an, bindet die Karte zusammen, nickt. Stauffenberg geht rasch um den Tisch herum und auf die Tür zu, als er Freyends Stimme hört: - Sie haben etwas vergessen! Er dreht sich steif um. - Ja? - Ihre Mütze! Ärgerlich geht er wieder um den Tisch herum, stellt die Aktentasche ab, setzt die Mütze auf, jetzt nimmt er mit seinen drei Fingern die Tasche auf und eilt zur Tür, doch Freyend, der auch hinaus will, dreht sich vor der Tür zu ihm um und versperrt die Tür mit seinem Körper. - Geben Sie mir doch Ihre Tasche, dann trage ich sie, sagt er. Die beiden Männer starren sich einen Augenblick an. - Nein, danke, sagt Stauffenberg mit Nachdruck und gleitet an ihm vorbei und geht nach rechts in den Flur. Hier trifft er Haeften mit der Aktentasche in der Hand. Haeftens Gesicht ist ganz weiß, er hat Speichel in den Mund winkeln. - Schnell, sagt Stauffenberg, mir nach. Mit schnellen Schritten erreichen sie den kleinen Aufenthaltsraum, Haeften öffnet die Tür, sie gehen hinein, treten einige Schritte vor, stellen die Tasche auf den Boden, Haeften wendet sich an Stauffenberg: - Die Mittagslage ist erst in einer halben Stunde, wir haben Zeit… sagt er mit leicht schriller Stimme. Sie ist jetzt, sagt Stauffenberg.
Sie stehen mit dem Rücken zur Tür einen Meter hinter ihnen, Haeften öffnet seine Tasche, holt die Sprengstoffpackung heraus, reißt das Papier ab, hält Stauffenberg, der inzwischen die Zange hervorgeholt hat, eine der Packungen mit neunhundertfünfundsiebzig Gramm Plastiksprengstoff mit einer englischen Übertragungsladung und einem englischen Zünder hin. Während Haeften sie mit beiden Händen hält, beginnt Stauffenberg mit seiner Zange die Kupferhülsen der Zündvorrichtung vorsichtig zusammenzuklemmen; Schweißperlen treten auf seine Schläfen. Im selben Moment klingelt das Telefon in Freyends Dienstzimmer weiter unten im Flur. Freyend, der mit Keitel, Buhle, Lechler, Thadden und Vogel draußen in der Sonne steht und auf Stauffenberg wartet, läuft jetzt ins Gebäude und in sein Zimmer und hebt ab. Es ist ein anderer Verschwörer, General Fellgiebel, der unbedingt – nach Plan – mit Stauffenberg reden will. Der Anruf ist als Vorwand für Stauffenberg gedacht, damit er später die Mittagslage mit Hitler verlassen kann, kommt aber für den jetzt vorgezogenen Zeitplan zu spät. - Kann ich das nicht erledigen? fragt Freyend. Ich muß mit ihm persönlich sprechen, sagt Fellgiebel. Während Stauffenberg durch ein kleines Schauloch in der Zündvorrichtung kontrolliert, ob die Spiralfedern des Zünders noch immer gespannt sind, läuft Freyend an der geschlossenen Tür zum Aufenthaltsraum vorbei zu den draußen im Sonnenschein Wartenden und bittet Vogel, umgehend Stauffenberg zu suchen. Er muß sich jetzt beeilen, sagt er, die Mittagslage hat schon begonnen, und der Führer kann nicht warten. - Wo bleibt denn der Mann! sagt Keitel und wirft einen Blick über die dreihundert Meter zur Speerbaracke; kurz zuvor hat er den Führer mit seinem Hund und einem Adjutanten ein Stück hinter der Baracke gesehen. Jetzt ist er verschwunden, und
Keitel, der seinen Ehrgeiz daransetzt, in Gegenwart des Führers immer pünktlich zu sein, ist gereizt, aufgeregt. - Stauffenberg, so kommen Sie doch! ruft er, doch der Ruf prallt an den betonverstärkten Mauern ab, und Stauffenberg und Haeften hören in ihrem tranceähnlichen Zustand nichts, bis Feldwebel Vogel plötzlich die Tür öffnet, sie streift Stauffenbergs Rücken, er macht einen kleinen Schritt nach vorn, während er im selben Augenblick daran arbeitet, den Sicherungsstift zu entfernen und den jetzt entsicherten Zünder in die englische Übertragungsladung einzusetzen. Erst in diesem Augenblick zittert seine Hand. - O nein, flüstert Haeften. Die Zeit steht still. Vogel starrt auf ihre Rücken und spürt, daß sie sich mit irgendeinem Gegenstand vor ihnen beschäftigen. Dann sagt er: - General Fellgiebel hat angerufen und will mit Ihnen sprechen, Major Freyend bittet Sie, sich zu beeilen. Im selben Augenblick gelingt es Stauffenberg, den Zündsatz zu befestigen. Die Rückwärtszählung von höchstens zehn Minuten ist ausgelöst. - Ich komme! sagt er wütend, und Vogel läßt die Tür einen Spaltweit offenstehen, tritt auf den Flur hinaus und geht in sein nahegelegenes Dienstzimmer. Was hat er gesehen? - Sie müssen jetzt kommen, Stauffenberg! ruft Major Freyend von draußen. Einen verschwindenden Augenblick lang erstarrt Stauffenbergs Körper; vom Armstumpf über der Prothese breitet sich ein Schmerz zum restlichen Körper aus, und er beißt die Zähne zusammen. Haeften öffnet Stauffenbergs Aktentasche und verstaut die entsicherte Sprengladung auf dem Boden der Tasche, Stauffenberg reicht ihm die Zange und die Schachtel mit dem Zündsatz und packt seine Tasche. Einige Sekunden lang steht Haeften da und fuchtelt mit der zweiten Sprengstoffpackung.
- Was machen wir? sagt er. Rein in deine Tasche, flüstert Stauffenberg, eine reicht! Haeften stopft den Sprengstoff in seine Tasche, und Stauffenberg eilt mit seiner Tasche auf den Flur und tritt einen Augenblick später zu der vor dem Gebäude wartenden kleinen Gruppe Offiziere hinaus. Major Freyend geht auf ihn zu und will wieder seine Tasche tragen, doch Stauffenberg wirft ihm einen gereizten Blick zu und eilt an ihm vorbei und holt bald Buhle ein, der vorgegangen ist. Ein Stück weiter, schon im Begriff, die Wache am Schlagbaum zum Führersperrkreis zu passieren, geht Keitel vornübergebeugt und in Eile und scheint von einem Gespenst verfolgt zu werden. - Der alte Mann hat es eilig! sagt Stauffenberg zu Generalmajor Buhle mit einem euphorischen Lachen. Auch Buhle lacht. - Ja, er muß sich von seiner besten Seite zeigen, sagt er. Während Major Freyend neben ihnen aufschließt, kommen sie am großen Offizierskasino vorbei, dem Kino, den Unterkünften der Fahrer und den Garagen, und biegen um die Ecke mit dem Nachrichtenbunker, in dem sich normalerweise General Fellgiebel aufhält; in der größten Mittagshitze, in der seine drei Finger am Griff der Aktentasche kleben, hat Stauffenberg wieder das Gefühl zu fliegen, und während er sich unter dauerndem Lachen mit Buhle über gleichgültige Dinge unterhält, rotieren seine Gedanken angestrengt um das, was jetzt kommt: Ankunft im Lageraum, Abstellen der Aktentasche, sein schneller Abgang. Die hundertmal durchdachte Situation im Lageraum und seine Euphorie machen ihn gegen die Gefahr immun, in der er selber schwebt, aber irgendwo in ihm tickt die Zeitbombe mit. Als sie problemlos den Wachposten am Schlagbaum passieren und die Speerbaracke mit dem flachen Dach vierzig Meter vor sich haben, geht er noch einmal die Zeitkalkulation
durch; er schielt nach seiner Armbanduhr, doch die Uniformjacke verdeckt sie; jetzt zieht er im Gehen die Tasche hoch, so daß der Ärmel hochgleitet. Das Uhrglas reflektiert die Sonnenstrahlen und macht die Zeiger unsichtbar. Noch sieben bis acht Minuten, sieben Minuten, denkt er kühl und geht schneller. Als erster der drei erreicht er den Eingang und wartet einen Augenblick, bis Major Freyend herankommt. - Nehmen Sie meine Tasche, sagt er, und stellen Sie sie freundlicherweise in die Nähe des Führers. Buhle geht an ihnen vorbei und hinein. Freyend übernimmt seine Tasche und sieht ihn einen Augenblick verwundert an. - So nahe beim Führer wie möglich, ich werde als nächster vortragen, sagt Stauffenberg und macht Major Freyend Platz, der eilig den Korridor vor dem Lageraum betritt. Stauffenberg wartet einige Sekunden lang im schattigen Korridor, bis Major Freyend die Tür geöffnet und den Raum betreten hat; als er selber eintritt, bleibt er einen Augenblick lang in der Tür stehen. Die Lagebesprechung ist schon im Gang, die Fenster stehen offen, doch das merkt man der Raumluft nicht an, die dick um die vierundzwanzig anwesenden Männer steht; im Kreis der Offiziere und Offiziersadjutanten, die sich alle um den kurzen Lagetisch aus massiver Eiche versammelt haben, gibt General Heusinger gerade einen Bericht über die Situation an der Ostfront; seine dünne Stimme schneidet durch die Luft, und er wendet sich direkt an Hitler, der, leicht vorgebeugt und mit dem Rücken zu Stauffenberg, die Feldkarte auf dem Tisch betrachtet. Hitler trägt anläßlich Mussolinis baldigen Besuchs schon seine rostrote Führerjacke. Jetzt lehnt er sich über den Tisch, korrigiert eine Markierung und winkt seine beiden Adjutanten General Schmundt und SS-Gruppenführer Fegelein dichter an die Tischkante auf der anderen Seite des Tisches
heran. Freyend hat den Tisch erreicht, er drängelt sich zwischen General Warlimont und Keitel und stellt die Aktentasche rechts neben Major Brandt, Heusingers Adjutanten, der sich an der rechten Seite seines Chefs, einen halben Meter von Hitler entfernt, befindet, unter den Tisch. Warlimont, der Stauffenberg erblickt hat, tippt Keitel auf die Schulter, und jetzt blickt Keitel in Stauffenbergs Richtung, der sich dem Tisch nähert. - Melde Oberst Stauffenberg, Generalstabschef des Heimatheeres, sagt er und wendet sich an Hitler, er wird über die Neuaufstellung von Truppen an der Front vortragen. Heusinger wird einen Augenblick lang still. Hitler dreht sich nach rechts hinten um, Stauffenberg ist jetzt einige Meter von ihm entfernt, mehrere Offiziere treten zur Seite, um eine Gasse zu bilden; der kurzsichtige Hitler macht unbeholfen einen kleinen Schritt nach vorn und erblickt erst jetzt die Gestalt des jüngeren Offiziers ganz, der ihm schon früher öfter aufgefallen ist; er findet ihn schön und fern und ist über seine plötzlichen Lachanfälle befremdet; er hält ihm schlaff die Hand entgegen und wirft ihm schweigend seinen üblichen prüfenden Blick zu; Stauffenberg, der auch seine Hand ausstreckt, ist für einige Sekunden über die tödliche, bleiche Gegenwart des Führers entsetzt, doch als er einen Augenblick lang spürt, wie Hitlers rechte kühle Hand seine drei Finger umfaßt, und er in den stieren, färblosen Blick schaut, entzieht er mit einer schnellen Bewegung seine Hand und tritt schweigend zur Seite, um sich einen Platz am Tischende neben dem Stenographen zu suchen. Einen Augenblick lang schaut er über die Karte mit den vielen Markierungen und Flaggen, eine Karte, die eine durchlöcherte und durchbrochene Front zeigt; jetzt fühlt er einen Stich und eine plötzliche Übelkeit, die aus dem Bauch kommen, dann murmelt er irgend etwas und bedeutet gleichzeitig Major Freyend, ihm aus dem Raum zu folgen. Als
sie einen Augenblick darauf im Korridor stehen, bittet er Major Freyend, ihm eine Verbindung mit General Fellgiebel herzustellen. Freyend wendet sich an den Telefonisten und beauftragt ihn, gleich Fellgiebel anzurufen; der Telefonist stellt die Verbindung her, Freyend geht in den Lageraum zurück, und der Telefonist erklärt, daß ein Tischtelefon in der Nähe bereit sei. Stauffenberg nimmt Mütze und Koppel ab und legt beides auf den Tisch und hebt den Hörer ab, um ihn im nächsten Augenblick neben das Telefon zu legen und eilig hinauszugehen. Die Uhr tickt. Draußen im Freien, unter der brennenden Sonne, befreit von Aktentasche, Koppel, fliegend, erleichtert, fliegt er fast die vierzig Meter zum Schlagbaum, passiert die Wache und biegt um die Ecke mit dem Nachrichtenbunker; von dort sind es einige hundert Meter zum Adjutanturgebäude, wo er einbiegt, um nach Haeften zu suchen und nach dem Auto zu fragen, das sie wegbringen soll. Er findet Haeften zusammen mit Fellgiebel im Dienstzimmer des Nachrichtenoffiziers und verläßt mit ihnen gemeinsam das Gebäude. Das Ganze geschieht wortlos, mit einem kurzen Wink und Nicken und äußerster Konzentration, einer Konzentration, die alles, außer dem Ziel, ausblendet. Sie sehen sich, sie nehmen sich wahr, aber nur als Figuren eines Spiels und eines Plans, der über sie selber hinausreicht, und mittendrin fürchten sie unbewußt jede Abweichung vom Spiel, aber auch diese Furcht verstärkt ihr Gefühl zu leben.
Im Lageraum der Speerbaracke stößt Major Brandt mit einem Fuß gegen die Aktentasche, er bückt sich und stellt die Tasche hinter einen der massiven Eichensockel, die den Tisch tragen.
Im selben Augenblick fragt Hitler nach Stauffenberg, General Buhle verläßt den Raum, um nach ihm zu suchen. Die Uhr zeigt einige Sekunden nach zwölf Uhr vierzig. In diesem Augenblick hallt durch die stille, sonnige Wolfsschanze eine heftige Detonation, ein ohrenbetäubendes Krachen zerschneidet die Mittagsstille, und eine blaue und gelbe Stichflamme steigt von der Speerbaracke auf; das Dach der Baracke stürzt halb ein, Offiziere werden gegen Wände geschleudert oder von unten bis oben aufgeschlitzt, auf Gesichtern und Haut bilden sich Brandblasen, bei einigen steht sogleich das Haar in Flammen; Fensterkreuze, Lattenreste und Gegenstände fliegen durch die Luft, Holzsplitter sausen durch den Raum, die meisten werden von dem Druck hochgehoben und umgeworfen und fallen zu Boden und liegen stöhnend, schon tot, verwundet oder jammernd da; Hitler, der sich im Augenblick der Explosion noch einmal über die Karte auf dem Tisch beugte, um auf Heusingers Bericht hin eine Stellung zu überprüfen, wird nach links gestoßen und fällt mit zerrissenen Hosen und akuter Taubheit durch den kräftigen Eichentisch, der sofort in der Mitte zerbricht; im Fallen registriert er das Blau der Stichflamme und denkt: Englisch, das ist englisch. Mitten in dem erstickenden, dicken Rauch ist Keitels Ruf zu hören: - Wo ist der Führer? Der stickige Rauch steigt auf und wird schnell zu einer schwarzen Wolke über der zerstörten Baracke, von der man Rufe nach dem Arzt hört. Glassplitter, Isolierwolle und Pappe wirbeln umher, und Personal und Wachleute eilen von allen Seiten zur Gebäuderuine.
Als der Sprengstoff detoniert, zucken Stauffenberg und Fellgiebel dreihundert Meter entfernt zusammen, und Haeften
ist schon mit seiner Tasche auf dem Weg zum wartenden Auto mit Fahrer. Oberstleutnant Sander kommt aus dem Adjutanturgebäude geeilt. - Was ist passiert? fragt Fellgiebel wider besseres Wissen und hält den Blick auf die schwarze Rauchwolke gerichtet. Stauffenberg schüttelt nur den Kopf. - So etwas geschieht öfter, sagt der Oberstleutnant in einem Versuch, sie zu beruhigen. Es ist sicher eine Mine, es passiert öfter, daß wilde Tiere sich wegen der Minen in der Gegend in die Luft sprengen. - Oh, Sie meinen, es ist eine Mine? sagt Fellgiebel scheinheilig, und die drei gehen den Weg weiter, um einen besseren Ausblick zu haben.
Während Haeften und sein Fahrer im Dienstwagen neben Stauffenberg aufschließen, haben sowohl Hitler als auch Keitel sich hinter der Holzfassade in der zusammengebrochenen Baracke erhoben. Keitel stürzt auf den geschockten Hitler zu und umarmt ihn. Mein Führer, Sie leben, Sie leben! ruft er und kann nicht von ihm lassen. Hitler befreit sich nachtwandlerisch von Keitel, einen Augenblick später sind sein persönlicher Adjutant Julius Schaub und Linge bei den Verwundeten, Toten und Stöhnenden und führen den zitternden Hitler zum Hinterausgang hinaus. In denselben Sekunden erscheinen vor der rauchenden Baracke zwei Helfer mit einem toten Mann auf ihrer Bahre. Ein Umhang verbirgt die Leiche, und dieser Umhang trägt deutlich das persönliche Siegel des Führers. Stauffenberg und der ältere Fellgiebel sehen es von ihrer Position an der Ecke vor dem Nachrichtenbunker aus.
Stauffenberg nickt Fellgiebel zu und steigt neben den Fahrer ins Auto: Hitler ist tot. Es hat geklappt. Das Auto legt schnell die dreißig Meter zu dem Wachposten an der westlichen Einfahrt zum Sperrkreis I zurück, wo der wachhabende Leutnant auf eigene Initiative einen Schlagbaum errichtet hat; Stauffenberg kurbelt das Fenster herunter und wird sogleich von dem Leutnant wiedererkannt; und als er diesem mit einem aufgesetzten Lächeln mitteilt, er sei dringend zu einer wartenden Maschine auf dem Flugplatz Rastenburg unterwegs, hebt der Leutnant den Schlagbaum und läßt das Auto passieren. Das Auto überquert die Eisenbahnschienen und fährt nach rechts und gleich darauf nach links auf dem schmalen Weg durch den Wald in den Sperrkreis II. In der Zwischenzeit ertönen in beiden Sperrkreisen die Alarmsirenen, in dem schnell fahrenden Auto hören sie nichts, aber Stauffenberg ist bei der Außenwache im Umkreis von Sperrkreis II auf Widerstand gefaßt, und als das Auto dort vor dem neuen Schlagbaum anhält und der wachhabende Feldwebel mit erhobener Maschinenpistole zu ihnen herantritt und ihnen das generelle Durchfahrverbot mitteilt, regt er sich auf und verweist lauthals auf seinen Rang. Der junge Feldwebel läßt sich nicht einschüchtern. - Ich habe meinen Befehl direkt von der Kommandantur, sagt er mit festem Griff um die Maschinenpistole. - Und jetzt haben Sie einen neuen. Ich befehle Ihnen, den Schlagbaum zu öffnen! sagt Stauffenberg. - Ist leider nicht zu machen, Herr Stabschef! Weigern Sie sich, einem Befehl zu gehorchen? sagt Stauffenberg wütend und ballt vom Autositz aus seine linke Hand gegen ihn. - Kommandant Streve gibt mir hier die Befehle, sagt der Feldwebel.
Einen Augenblick lang erwägt Stauffenberg, mit der Waffe gegen den Feldwebel vorzugehen, dann läßt er es darauf ankommen. Obwohl er von Streve eine Einladung zum Mittagessen angenommen hat und die augenblickliche Situation in der Kommandantur nicht kennt, sagt er: - Dann verlange ich, rufen Sie augenblicklich Oberstleutnant Streve an und lassen sich die Erlaubnis von ihm persönlich geben! Der Feldwebel zögert einen Augenblick, dreht sich um, geht in das Wachhäuschen und telefoniert, während er das Auto durch die offenstehende Tür im Auge behält. Die Wartezeit ist unerträglich, soll das Ganze hier scheitern? Wieder erwägt Stauffenberg, seine Pistole zu ziehen, und schielt zur Seite zu den beiden anderen einfachen Wachleuten auf der Fahrerseite des Autos hin, die sich bisher passiv verhalten haben. Haeften bewegt sich schweigend und unruhig auf dem Rücksitz, während der Fahrer unbeteiligt durch die Frontscheibe hinausstarrt und plötzlich wissen will, ob das Flugzeug auf sie wartet. - Es ist eine He 111, die uns General Wagner zur Verfügung gestellt hat, sie wird schon warten, doch die Frage ist, ob wir durchkommen, sagt Stauffenberg zu dem nicht ein geweihten Fahrer und steckt unbemerkt die linke Hand in seine Uniformtasche, wo er seine Pistole verwahrt. Er dreht sich zu Haeften um und gibt ihm ein Zeichen, und Haeften knöpft seine Pistolentasche auf. Im selben Augen blick erteilt Rittmeister Möllendorf durchs Telefon seine Erlaubnis zum Passieren, da er den Grund des Alarms nicht kennt; der Feldwebel winkt aus dem Wachhäuschen den Wachmännern am Schlagbaum zu, den sie sofort zur Seite schieben. Sie können fahren. Sie atmen auf. Als sie auf halber Strecke zum Flugplatz sind, öffnet Haeften seine Aktentasche, zieht die Packung mit dem anderen
Sprengstoff heraus, kurbelt das Fenster herunter und wirft sie zwischen die Bäume.
Zum gleichen Zeitpunkt untersucht Dr. Morell den zitternden, aber gefaßten Hitler in einem unweit von der schwelenden Speerbaracke gelegenen Raum. Zwei Ärzte haben schon etwa hundert Eichenholzsplitter aus seinen Beinen entfernt, besonders aus dem rechten. Hitlers Haar ist angesengt, und durch die Explosion sind beide Trommelfelle geplatzt. Ein Ohr blutet, der rechte Unterarm ist jetzt angeschwollen und hängt schlaff herunter, und an Händen, Beinen und Gesicht finden sich oberflächliche Brandwunden, die Morell mit Penicillinpuder behandelt; dazu erhält Hitler Optalidon und Bromnervacit. Doch der Tremor in Armen und Beinen ist verschwunden, und schon im Laufe der kurzen Behandlung leuchten seine Augen auf. - Mein Führer, ich glaube, man wollte Sie aus der Luft treffen, sagt Morell mit wiedererwachter Sympathie für Hitler. - Ich bin unverwundbar, ich bin unsterblich, sagt Hitler und starrt Morell selig an. - Ich empfehle Ruhe, sagt Morell und ruft im selben Moment Linge herein, dem Führer zu helfen, sich die neuen Sachen anzuziehen, die auf einem Stuhl neben den von der Explosion vollständig zerrissenen Hosen bereitliegen. Hitler betrachtet einen Augenblick lang die zerfetzten und verrußten Hosen. Sorgen Sie dafür, daß man sie Eva Braun auf den Berghof schickt, damit sie versteht, welches Zeichen die Vorsehung mir heute gegeben hat. - Wird erledigt, sagt Linge und legt die Hosen zusammen. Mit einem Blick auf Morell sagt Hitler: - Ich will einen Spaziergang im Führersperrkreis machen, alle sollen dieses
Wunder sehen können. In ein paar Stunden empfange ich Mussolini. - Dann empfehle ich, Ihren Umhang überzulegen, sagt Morell. Es gibt keinen Grund, der Welt ihren geschwollenen Arm zu zeigen.
Inzwischen ist das Auto mit Stauffenberg und Haeften auf dem Flugplatz Rastendorf angekommen und nach einem Halt bei einem Wachposten direkt zu dem an der Startbahn wartenden kleinen Flugzeug gefahren. Der Pilot sitzt schon im Cockpit, und aus dem Personalgebäude eilt jemand herbei und hilft ihnen in den engen Passagierraum, wo sie auf zwei Sitzen angeschnallt werden. Fünf Minuten später hebt das Flugzeug unter starkem Lärm ab. Haeften ruft Stauffenberg zu: - Wir haben es geschafft! Der Tyrann ist tot! Stauffenberg nickt erschöpft und berauscht vor sich hin.
Es ist einige Minuten nach ein Uhr mittags, und Hitler hat Dr. Morell und Linge verlassen und geht allein in der Sonne bei der Speerbaracke umher, während Sicherheitsleute und Adjutanten eingehend das zerstörte Innere untersuchen. In dem immer noch intakten Korridor des Gebäudes findet Wachtmeister Adam Stauffenbergs Koppel und Mütze auf dem Telefontisch und bespricht die Sache mit Oberstleutnant Sander an Ort und Stelle. - Ich glaube nicht an Ihre Vermutung, daß Bauarbeiter auf dem Gelände dahinterstecken, sagt er zu Sander und hält ihm Stauffenbergs Koppel und Mütze hin. - Worauf wollen Sie hinaus?
- Oberst Stauffenberg hat die Besprechung ohne seine Aktentasche verlassen… - Ja und was? - Warum hatte er es so eilig? Man vergißt nicht einfach ein Koppel und eine Mütze! - Sie meinen also, Oberst Stauffenberg hätte…? - Ja. Oberstleutnant Sander traut seinen eigenen Ohren nicht. - Ich habe mit dem Oberst gleich nach der Explosion gesprochen, er war ebenso geschockt wie ich, sagt er. - Gut möglich, sagt Adam, aber ich werde der Sache nachgehen. - Wenn Sie wirklich meinen, daß es nötig ist, einen so ungeheuerlichen Verdacht gegen einen hochrangigen Offizier anzuzeigen, sagt Sander erregt, dann müssen Sie sich an den Reichssicherheitsdienst wenden. Wachtmeister Adam nickt, denkt dabei aber schon an Bormann. Vor der eingestürzten Baracke setzt Hitler seinen kurzen Spaziergang in der Sonne fort und betrachtet, nicht ohne eine gewisse Faszination, das verkohlte Dach und die zerstörten Fenster. Leute seines Stabes haben seine Gegenwart bemerkt und halten in ihrer Tätigkeit inne. Es ist ein friedlicher Augenblick. General Fellgiebel hat gerade den Nachrichtenbunker schräg gegenüber vom Schlagbaum zum Führersperrkreis verlassen und geht angespannt, ruhelos und in Gedanken versunken auf dem Asphalt vor dem Bunker auf und ab. Zwei Minuten zuvor hat er in voller Übereinstimmung mit einem Adjutanten Hitlers alle Nachrichtenverbindungen zur Außenwelt gekappt; einer Eingebung folgend, schaut er zur Speerbaracke hinüber und erblickt im Schatten zwischen den Bäumen Hitler; er faßt sich ans Herz und bleibt einen Augenblick wie angewurzelt stehen, dann eilt er zum
Nachrichtenbunker zurück, geht in sein Dienstzimmer, schließt die Tür hinter sich und setzt sich vor dem Schreibtisch an sein Telefon – eines der wenigen Telefone, die neben Keitels und Himmlers nicht gesperrt sind. Unvorbereitet auf diese Situation und mangels eines verabredeten Kennworts ruft er das Generalstabsgebäude in der Bendlerstraße an und erreicht den Mitverschwörer General Fritz Thiele, den Stabschef des Heeresnachrichtenwesens. Zu ihm sagt er: - Das Attentat hat stattgefunden, aber es ist etwas Fürchterliches passiert, der Führer lebt… - Aber, wie…? ruft Thiele erschrocken aus. - Obwohl das Attentat nicht geglückt ist… - Ja? - … muß die Operation Walküre doch stattfinden. - Wie sollte das möglich sein? - Ich gehe davon aus, daß es so sein muß, sagt Fellgiebel zögernd. Ich würde empfehlen, daß es so ist. - Ich bezweifle das, sagt Thiele und will mehr über Stauffenberg wissen, doch Fellgiebel bricht die Verbindung plötzlich mit der Mitteilung ab, Olbricht anrufen zu wollen. Thiele verläßt eilends sein Dienstzimmer, geht eine Etage tiefer und findet Olbricht zusammen mit dem entlassenen Generaloberst Hoepner in seinem Dienstzimmer. Sie warten beide gespannt auf Neuigkeiten aus der Wolfsschanze. Hoepner mit dem vierschrötigen Gesicht und dem kurzgeschnittenen Haar ist noch immer in Zivil und hat seine Uniform in einem Koffer dabei. Hinter Olbricht befindet sich der Tresor mit den Anweisungen für die Aktion Walküre. Thiele sieht beide einen Augenblick lang verbissen an und bekommt in dem schlanken, fast zarten Gesicht kein Wort über die Lippen. - Was ist passiert, Thiele, haben Sie Neues gehört? fragt Olbricht.
- Das Attentat ist durchgeführt, aber Hitler lebt, wo Stauffenberg ist, weiß ich nicht, vielleicht haben sie ihn festgenommen, vielleicht lebt er nicht… - Sind Sie sicher, daß Hitler überlebt hat? fragt Hoepner unschlüssig. Olbricht starrt leer in die Luft. In demselben Augenblick klingelt im Vorraum des Dienstzimmers das Telefon, und das Gespräch wird augenblicklich zu ihm hereingestellt. Er nimmt den Hörer, kehrt ihnen den Rücken zu und beugt sich leicht über den Schreibtisch, sagt einige Male knapp ja und nein und legt den Hörer beherrscht wieder auf. Jetzt sucht er nach einem Taschentuch und trocknet sich die Stirn, immer noch, ohne sie anzusehen. Sein kleines rundes, dünn behaartes Gesicht mit den schmalen Lippen und dem fast kühl-sachlichen Blick hinter der leichten Metallbrille, mit der er eher einem Angestellten ähnelt als einem Infanteriegeneral, ist plötzlich grau. - Das war Oberst Hahn aus Mauerwald, sagt er und schüttelt den Kopf, er bestätigt es, das Attentat ist mißlungen. Er hat keine Ahnung, wo Oberst Stauffenberg sich befindet. - Was machen wir? sagt Hoepner, als würde er mit sich selber reden. Keiner der drei Generale sieht die anderen an, sondern jeder ist einige Sekunden lang in sich versunken. Ihre Gedanken arbeiten wild in vielen Richtungen. - Das beste wäre, gar nichts zu tun, sagt Olbricht und sieht prüfend Thiele an, der sich auf einen Stuhl setzt und an die Stirn faßt. - Meinen Sie wirklich? fragt Hoepner. - Ja, wir müssen uns völlig ruhig verhalten. Gehen wir Mittag essen, wie immer, sagt Olbricht und hebt die Stimme, um sich selber zu überzeugen.
- Sie meinen, die Aktion ganz abblasen? fragt Hoepner. - Können wir das? Ist es nicht zu spät? Thiele nimmt die Hand von der Stirn. - Im Gegenteil, sagt er. Ulbricht hat recht. Es ist noch nicht zu spät. Wir können uns aus allem herausziehen. Die erste Phase von Walküre ist noch nicht mal eingeleitet, und wenn Stauffenberg angehalten wurde oder sein Flugzeug nicht erreicht hat, dann… - Sind das hier nicht zu viele Wenns? sagt Hoepner, und die drei Männer diskutieren weiter, bis es Ulbricht einfällt, Generalquartiermeister Wagner im Heeresoberkommando in Zossen anzurufen. Da ist es kurz nach halb zwei. Als Dienstältester und ranghöchster General im Hauptquartier des Heeres in Zossen hat Wagners Stimme für die drei besonderes Gewicht. Wagner, der bereits über das mißglückte Attentat informiert ist, sagt durchs Telefon zu Ulbricht: - Das beste wäre, bei allem so zu tun, als ob wir von überhaupt nichts wissen. - Ist das Ihre aufrichtige Meinung? fragt Olbricht. - Ganz entschieden, sagt Wagner. Warum das Leben für eine Sache riskieren, die schon verloren ist? - Und was ist mit Stauffenberg? - Irgendwie ist er wohl schon ausgeschaltet. Vielleicht sitzt er in meinem Flugzeug, doch das nützt nichts. - Das ist eine sehr unangenehme Situation, sagt Olbricht. - Machen Sie das Unangenehme nicht noch schlimmer, indem Sie eine Dummheit begehen! Olbricht hält einen Augenblick den Atem an, während er durch das Fenster zum großen Hof des Blocks in den blauen Himmel hochschaut. - Ich werde unter allen Umständen abwarten und hören, was sonst noch an Meldungen aus der Wolfsschanze kommt, sagt er.
Machen Sie keine Dummheiten, um Gottes willen, sagt Wagner und legt auf. Kaum hat Ulbricht den Hörer aufgelegt, wird Fellgiebel wieder mit ihm verbunden. Am Telefon ist Fellgiebel kurz angebunden. - Das hat alles keinen Sinn mehr, sagt er. Ulbricht legt den Hörer wieder auf, wendet sich den beiden anderen zu und faßt einen Entschluß: - Wagner und Fellgiebel teilen unsere Auffassung. Wir haben immer noch die Möglichkeit, das Ganze zu ignorieren. Tun wir also, was wir sonst zu dieser Tageszeit tun. - Ja, fahren wir in die Stadt und essen zu Mittag, sagt Thiele und erhebt sich erleichtert von seinem Stuhl.
Einige Dienstzimmer weiter im selben Flur hat Oberst Mertz von Quirnheim, Ulbrichts Stabschef, auch eine Meldung über das Attentat in der Wolfsschanze erhalten, doch im Gegensatz zu den drei Generalen fühlt er sich an den verabredeten Zeitplan gebunden und beschließt, Fellgiebels erste Meldung (die er nur aus zweiter Hand kennt) als so unklar zu interpretieren, daß er Hitler für tot hält und die Aktion Walküre für Realität. Er ist darauf vorbereitet, daß die Generale die Situation – wie schon vor fünf Tagen – wieder drehen und wenden und möglicherweise vor einer entscheidenden Handlung, die sie selber bloßstellt, zögern werden. Daher hat er mit sich selber abgemacht, den Staatsstreich unter allen Umständen voranzutreiben. In den nächsten Stunden bis zu Stauffenbergs verspäteter Ankunft aus Rangsdorf übergeht Mertz mit seinen Initiativen Ulbricht mehrere Male, und in dem Vakuum, das entsteht, als die drei Generale den Bendlerblock verlassen, ruft er die Offiziere vom Stab im Hauptdienstzimmer der Materialabteilung zusammen und gibt bekannt, der Führer sei
bei einem Attentat umgekommen und die Wehrmacht habe die Befehlsgewalt übernommen, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Er gibt den nichteingeweihten Offizieren – darunter Herber, Heyde, Harnack und Fließbach – zu verstehen, daß gerade die Direktiven für den Walküre-Alarm (Erste Schritte) ausgegeben werden und es damit zu einer neuen Situation im Reich kommt, in der alle Waffen-SS-Einheiten dem Heer unterstellt werden. Er bereitet sie auch darauf vor, daß Generalfeldmarschall von Witzleben neuer Oberbefehlshaber der Wehrmacht wird und man Generalmajor Beck in Kürze zum neuen Staatsoberhaupt ernennt. Vor dieser Besprechung in seinem Dienstzimmer mit den jungen Offizieren, die seine Mitteilungen schweigend und diszipliniert zur Kenntnis nehmen, hat Mertz sich mit den Walküre-Truppen in der Panzerschule Krampnitz in Verbindung gesetzt, um ihren Marsch auf Berlin zu beschleunigen, und auch einen Walküre-Befehl an die Infanterieschule in Döberitz ausgestellt; nach der Besprechung befiehlt er Major Harnack, in allen Wehrkreisen die WalküreMaßnahmen auszulösen, ob telefonisch oder durch Fernschreiber. Doch obwohl Harnack bereit ist, seinem Chef Folge zu leisten, kommen ihm doch Zweifel, wie in der Sache technisch zu verfahren sei, und er arbeitet nur langsam und ohne Begeisterung. Es ist zehn Minuten nach zwei, und erst gegen drei Uhr kommen die drei Generale, ohne klarer zu sehen, von ihrem Essen in der Stadt zurück. Wertvolle Zeit ist verlorengegangen. Hitler hat in Begleitung seines Stabs, den schlaffen Arm unter einem Umhang verborgen haltend, Mussolini auf dem kleinen Bahnhof der Wolfsschanze, Görlitz genannt, empfangen. Dem sonnengebräunten, jedoch abgemagerten und verzagten Mussolini fehlt sein sonstiger Elan; im vergangenen Jahr hat er erlebt, wie seine Macht und sein Einfluß
unerbittlich unter ihm wegbrachen, und er hat es nur einer kühnen deutschen Rettungsaktion unter Leitung von SSOffizier Otto Skorzeny zu verdanken, daß er in diesem Augenblick überhaupt auf freiem Fuß ist. Einst Hitlers Mentor, steigt er als dessen Schatten aus dem Zug, und nur weil Hitler ihn als verzweifelte Bestätigung braucht, daß sich am Verlauf des Krieges nichts Entscheidendes geändert hat, ist er immer noch als Gast willkommen. Mussolini erfährt hier auf dem Bahnhof zuerst von dem Attentat, ehe man sich geschlossen zu den wartenden Autos begibt, um zur Wolfsschanze zu fahren. Noch ehe man in die Autos steigt, diskutiert Hitler mit Himmler, wie man die Sache am besten angreift. Himmler zweifelt nach Bormanns Auskünften nicht daran, daß Oberst Stauffenberg der Täter ist, und hat telefonisch den Chef des Reichssicherheitsbüros, Ernst Kaltenbrunner, und den Kriminalrat Bernd Wehner hinzugerufen, um die Sache aufzuklären; der immer noch mit schwacher Stimme sprechende Hitler bittet Himmler, alles zu tun, um Stauffenberg zu finden. - Nehmen Sie ihn fest und finden Sie heraus, ob er allein gewesen ist, sagt er, ehe er gemeinsam mit Mussolini in den schwarzen Mercedes steigt. Auf dem Wege zur Wolfsschanze berichtet ein wortkarger Hitler seinem Gast weitere Details von der Explosion: - Ich sah gleich an der Stichflamme, daß es sich um eine Bombe mit einem Zünder aus englischer Fabrikation handelte, sagt er nüchtern und lädt Mussolini ein, sich den zerstörten Lageraum in der Speerbaracke anzusehen. Als die beiden Diktatoren mit ihrem Gefolge, darunter der Dolmetscher Paul Schmidt, den verbrannten Lageraum betreten, der nach der Explosion immer noch widerlich stinkt, beginnt Hitler den ganzen Ablauf der Explosion durchzuspielen: Wie er mit dem Arm auf den Tisch gelehnt
dastand, als er die Karte studierte, wie alles um ihn herum plötzlich bebte, wie er durch den Tisch fiel, der in der Mitte entzweibrach, während er die Flamme sah; seine Stimme wird immer erregter, und seine Gesten werden immer theatralischer, als er von den Schwerverletzten und den Toten, besonders von seinem Adjutanten Generalleutnant Schmundt, als Märtyrern spricht. Mit einemmal fällt er in Schweigen und zeigt Mussolini das versengte Haar im Nacken; er begibt sich zwischen die verbrannten Reste von Möbeln und Stühlen und dreht eine Kiste um. Hier setzt er sich, während Paul Schmidt für Mussolini einen immer noch intakten Stuhl findet. Einige Augenblicke lang sitzen die beiden Männer schweigend in den Ruinen der Baracke. Zusammengesunken, ausdruckslos. Dann kreist Hitler um seine eigene Rettung und schlägt mildere Töne an. Er sagt: - Wenn ich mir alles noch einmal vergegenwärtige, so ergibt sich für mich, daß mir eben nichts passieren soll, besonders da ich ja nicht zum erstenmal dem Tod auf wunderbare Weise entronnen bin. Nach meiner heutigen Errettung aus der Todesgefahr bin ich mehr denn je davon überzeugt, daß es mir bestimmt ist, nun auch unsere gemeinsame große Sache zu einem glücklichen Abschluß zu bringen. Mussolini nickt gedankenvoll und antwortet langsam, damit der Dolmetscher alles mitbekommt: - Nach dem, was ich hier gesehen habe, bin ich absolut Ihrer Meinung. Das war ein Zeichen des Himmels.
Es ist halb drei Uhr nachmittags, und Stauffenberg und Haeften werden in der kleinen He 111, die mit ihrem langsamen Flugtakt und unter schwierigen Windverhältnissen noch weit von Rangsdorf und Berlin entfernt ist, vom Motoren- und Propellerlärm und Luftwiderstand eingehüllt.
Gelegentlich rufen sie sich irgend etwas zu, doch ein Gespräch ist unmöglich, und sie versinken in den leicht zitternden und frei schwebenden Sitzen immer mehr in sich selber. Alle möglichen Gedanken gehen Stauffenberg durch den Kopf. In einem Augenblick ruft er sich die zerstörerische Detonation ins Gedächtnis, im nächsten die nervöse Flucht aus dem Lageraum, er sieht Ninas Gesicht vor sich, ein Gesicht, das sich in dem brutalen, unendlichen Sonnenlicht draußen vor dem kleinen runden Fenster auflöst. In seiner Erschöpfung versucht er in dem Sitz zu schlafen, doch der Lärm zersplittert seine Gedanken noch mehr, und er gleitet in eine Zwischenwelt aus hautnaher Wachheit und Schlaf hinein: Plötzlich steht er im Garten in Lautlingen und hält nach seinen Kindern Ausschau; dann geht er durch die sonnigen Räume und sucht nach ihnen, aber die Möbel sind mit weißen Laken abgedeckt, und irgend etwas, das wie eine Uhr klingt, tickt durch ihn hindurch. Er schaut auf seine Uhr am linken Arm, sie ist verschwunden. Er denkt: Vielleicht sind wir doch nicht hiergewesen. Und im nächsten Augenblick: Es ist zu spät. Sie sind nicht mehr hier. Jetzt steht er in einem Korridor des Hauses, und Nina kommt ihm entgegen, er will sie umarmen, doch sie geht einfach durch ihn hindurch. Er richtet sich im Sitz auf und dreht sich halb zu Haeften um und sagt trotzig: - Es geht jetzt erst los. Jetzt geht es los. Doch Haeften ist eingeschlafen und hört ihn nicht. Vor sich sieht er, daß es gelungen ist. Er sieht sich selber in seinem Dienstzimmer in der Bendlerstraße sitzen, von bekannten Gesichtern umgeben. Alle sind erschöpft, es ist Nacht, sie haben gerade die Meldung erhalten, Kluge habe die Öffnung der Westfront befohlen, Berlin sei genommen, sie kontrollieren Prag, Paris, Wien. Beck hat soeben seine Ansprache im Radio gehalten, seine erste Ansprache als neues
Staatsoberhaupt. Die Öffnung der Konzentrationslager ist angelaufen. Die Telefone läuten ständig, er erhebt sich und bringt ein Hoch auf das neue Deutschland aus. Sie lachen. Müde lachen sie, gehen auseinander, um die ganze Nacht zu arbeiten. Er lächelt schwach, schließt die Augen, atmet schwer. Vor sich sieht er, daß er Nina anruft. Er hört ihre Stimme. Sie lacht. Es quält ihn, daß er buchstäblich festgeschnallt ist und nichts unternehmen kann, diese eine Situation hat er nicht vorausgesehen: bewegungsunfähig mitten im blauen Ozean des Himmels zu sitzen und hundertprozentig von anderen abhängig zu sein. Aber auch dieser Zustand löst sich von selbst auf, und als er wieder zum Fenster hinausschaut, fliegt er, ist berauscht und auf dem Wege zur Sonne.
Um Viertel nach drei gelingt es General Thiele, aus seinem Dienstzimmer im Bendlerblock mit einem Nachrichtenoffizier in Mauerwald zu telefonieren, der bestätigt, daß es im Lageraum der Speerbaracke eine Explosion gegeben hat. Die Verbindung ist schlecht, der Offizier vage, und die Worte kommen nur schwach durch. Thiele sucht sofort Ulbricht und Hoepner in Ulbrichts Zimmer auf und berichtet: - Mehrere Offiziere sollen ernstlich verletzt sein, und wenn ich nicht irre, so soll der Führer schwer verletzt oder möglicherweise tot sein. - Das ergibt eine ganz neue Situation, sagt Olbricht. Sind Sie sicher? - Nein, sicher bin ich eben nicht, sagt Thiele. - Also keine neue Situation! sagt Hoepner und schüttelt den Kopf.
Wir müssen das Radio einschalten, sagt Thiele, man erwartet im Laufe der nächsten zehn bis fünfzehn Minuten ein Kommunique aus dem Führerhauptquartier. Ulbricht schaltet das Radio ein und sucht den Deutschlandsender, eine feurige Strauß-Musik entströmt dem Lautsprecher. Die drei Generale setzen sich, um zu warten. Im selben Moment meldet Mertz von Quirnheim sich im Vorzimmer und tritt einen Augenblick später zur Tür herein. Sein Körper ist gespannt, und die energischen, fast fieberartigen Augen suchen schnell den Raum ab; mit leicht gereiztem Ausdruck macht er eine Handbewegung und bittet um die letzten Informationen. Ulbricht teilt ihm die Neuigkeiten aus Mauerwald mit. - Das ist mir nicht neu, sagt er, ich habe die ganze Zeit damit gerechnet, daß Hitler tot ist. - Wir wissen nichts Endgültiges, sagt Thiele. - Das Attentat hat mit Sicherheit stattgefunden, und Stauffenberg und Haeften sind auf dem Wege, das ist alles, was wir wissen müssen, sagt Mertz scharf. - Wer hat Ihnen gesagt, daß Stauffenberg sein Flugzeug erreicht hat? fragt Hoepner und steht auf. - Ich habe keine anderslautenden Meldungen, und es ist sinnlos, hier herumzustehen und die Zeit zu verschwenden, sagt Mertz und wendet sich Olbricht zu. Auch Olbricht erhebt sich, sichtlich verwirrt. - Ich habe die diensthabenden Offiziere zusammengerufen und sie unterrichtet, und ich habe die Alarmmaß nahmen in Gang gesetzt, sagt Mertz. - Ohne sich an General Fromm zu wenden? Ohne mich zu fragen? - Sie waren nirgendwo zu finden… - Sie hätten warten sollen, sagt Olbricht. Ich schätze es nicht, daß Sie mich übergehen.
Ohne auf Olbrichts verdrossenen Ton einzugehen, sagt Mertz: - Ich ersuche Sie, so schnell wie möglich den zweiten Schritt der Walküre-Befehle auszulösen, das hätte schon vor wenigstens einer Stunde geschehen müssen. In Krampnitz sowie in Döberitz ist man bereit auszurücken, Kommandant Hase wartet noch immer auf die notwendigen Befehle, Truppen nach Berlin hineinzuschicken. - Wenn überhaupt, dann genügt meine Unterschrift allein nicht, sagt Olbricht. - Eine bessere bekommen wir in dieser Situation nicht, sagt Mertz. Auf General Fromm können wir nicht zählen. - Wir müssen den Dienstweg befolgen! sagt Hoepner, grau im Gesicht. - Dazu ist keine Zeit, und es ist vergeblich, sagt der schwitzende Mertz und ballt die Hand. - Sie vergessen Ihre Stellung, sagt Thiele, der jetzt auch aufgestanden ist und einen Schritt auf Mertz zu gemacht hat. Olbricht ist Ihr Chef, Sie sind Oberst und Stabschef bei Olbricht. - Warum geben Sie nicht einfach zu, daß Ihnen der Mut fehlt? sagt Mertz und macht wieder eine Armbewegung. - Keiner hat mich jemals beschuldigt, daß es mir an Mut fehlt, entgegnet Thiele. Das ist unerhört! Die Minuten vergehen, die in Streit ausartende Besprechung wird zu den Tönen von Strauß fortgesetzt. Das Kommunique aus der Wolfsschanze bleibt aus.
In der Wolfsschanze hat Hitler Mussolini gutgelaunt zu einer Gesellschaft im Führerbunker begleitet, wo Göring, Ribbentrop, Keitel und Jodl samt mehrerer ihrer Adjutanten zum Tee versammelt sind. Als beide den Raum betreten, der aus diesem Anlaß mit Nazifahnen und italienischen Flaggen
geschmückt wurde, ist eine erregte Diskussion im Gang. Die Versammelten geben sich wechselseitig die Schuld für den unglücklichen Ausgang des Krieges. Hitler weist Mussolini einen Platz am Tisch an, und die beiden setzen sich nebeneinander und trinken den brühheißen Tee, während sie anscheinend unberührt und schweigend den immer heftigeren Meinungsaustausch verfolgen. Hitler versinkt in sich selber und ist für niemanden ansprechbar, bis Ribbentrop in einem Nebensatz das Röhm-Komplott von 34 erwähnt; da springt er wütend von seinem Stuhl auf und ruft: - Ich werde mich an allen rächen! Ich bin von der Vorsehung ausersehen, die Geschichte zu machen, und alle, die mir in die Quere kommen, werden ausgelöscht. Alle sehen ihn erstaunt und erschreckt an, doch er fährt fort, geht an dem Tisch auf und ab, rudert mit den Armen, redet sich von einem Wutcrescendo ins andere, und man hat das Gefühl, er würde vor einer großen imaginären Versammlung reden. - Was ich für Deutschland geschaffen habe, kann niemand ermessen, ruft er. Ich habe die Welt in Bewegung gesetzt, und was hat sie mir dafür gegeben? Einen Haufen Amateure, nein, nicht Amateure, schlimmer als das: eine Ansammlung von Dummköpfen, die nicht wissen, was Härte ist; einen Karren voller alter Weiber, deren Hände zittern und die in ihrer Feigheit nicht einmal wissen, was Gehorsam ist. Das ganze Pack muß ausgewechselt werden, da ist kein einziger, der Augen und Ohren im Kopf hat, keiner unterscheidet einen Verräter von einem Helden, vielleicht hat man noch den Wagen des Verräters angeschoben? Ich hatte sofort diesen Junkertyp in Verdacht, diesen aristokratischen Schwanz, dem alles mit goldenen Löffeln gereicht wurde und der das deutsche Volk verachtet. Warum hat man ihn nicht schon längst aufgeknüpft? Weil man weder Augen noch Ohren hat. Weil man schläft. In diesem Schwanz ist hundertmal mehr Mut
als im gesamten deutschen Generalstab. Ich sehe, ich bin der einzige, der sieht, und ich werde alle diese Schlafenden aufwecken, ich werde mich an allen rächen, die den kleinsten Fehler machen… Nach einer halben Stunde in dieser Art schreit er: Stauffenberg muß hängen, ich werde ihn persönlich hängen! Genauso plötzlich, wie er begonnen hat, setzt er sich wieder, nimmt eine Pastille aus einer Schachtel in der Uniformtasche, steckt sie in den Mund und versinkt wieder in seinen Gedanken. Alle Versammelten haben es jetzt eilig, durcheinanderredend dem Führer ihre Loyalität zu bekunden; einige stehen auf, andere bleiben sitzen, während Mussolini vergrämt auf seine Uhr schaut. Bei all diesen Bekundungen, die Hitler nur mit mehrmaligem kurzen Nicken zur Kenntnis nimmt, während er weiter an seinen zuckersüßen Pastillen lutscht, kommt es zum Streit zwischen Reichsmarschall Göring und Außenminister Ribbentrop. - Sie tragen die Verantwortung, daß die Luftwaffe überhaupt nicht funktioniert! ruft Ribbentrop Göring zu, der nun auf der anderen Seite des Tisches aufsteht und mit seiner dicken rechten Hand in dem weißen Uniformärmel krampfhaft seinen Marschallstab festhält. - Ihre Außenpolitik ist völlig bankrott! ruft Göring zu rück. - Wir kennen Ihre Versprechungen! Wir haben es bei Stalingrad gesehen! Wir sehen es jetzt, wo die Engländer unsre Städte zerbomben. Leere, hohle Versprechungen! ruft Ribbentrop, bleich vor Wut. Göring eilt prustend und ungewöhnlich leichtfüßig um den Tisch herum und hebt seinen Marschallstab gegen den sonst furchtsamen Ribbentrop: - Sie schmutziger kleiner Champagnervertreter! zischt er. Halten Sie Ihr verdammtes Maul!
Ribbentrop tritt einen Schritt vor, beißt die Zähne zusammen. - Ich bin immer noch Außenminister, und ich heiße von Ribbentrop, wirft er Göring an den Kopf, der leicht schwankend vor ihm stehenbleibt und ihn mit Blicken einzuschüchtern versucht. Etwa Viertel vor vier klingelt in Mertz’ Dienstzimmer im Bendlerblock ein Telefon, er ist immer noch in Olbrichts Zimmer und will die Tür zu dem Raum öffnen, der zwischen diesem und seinem eigenen liegt; da die Tür aber verschlossen und kein Schlüssel zu finden ist, stürzt er auf den Flur hinaus und von dort in sein Zimmer, wo er fieberhaft den Hörer abhebt. - Haeften hier, sagt eine Stimme im Hörer. Wir stehen in Rangsdorf, das Attentat ist durchgeführt… - Und Hitler? - Hitler ist tot. - Wann kommt ihr? fragt Mertz erregt. - Schweizer ist nicht hier, wir müssen uns einen anderen Fahrer besorgen, wir kommen sofort, sagt Haeften, und der Hörer wird aufgelegt. Als Mertz zu Olbrichts Dienstzimmer zurückgeht, klingelt im Vorzimmer ein Telefon, der Anruf wird zu Olbricht hineingestellt. Dieser hebt ab. Hitler ist tot, lassen Sie sofort Walküre anlaufen, teilt Stauffenberg mit, ehe einen Augenblick danach seine Stimme verschwindet. Olbricht legt den Hörer auf, wendet sich Mertz zu, der eilends das Dienstzimmer betritt. - Haeften hat aus Rangsdorf angerufen, sie sind gelandet, sagt er, wir müssen jetzt mit der zweiten Stufe anfangen! Olbricht sieht von einem zum anderen.
- Ich empfehle zu warten, bis Stauffenberg selbst kommt, sagte Hoepner. - Es handelt sich bestimmt nur um eine halbe Stunde. Wir müssen völlig sicher sein, sagt Thiele. - Das geht nicht, sagt Mertz und tritt vor die beiden Generale. - Sie haben recht, sagt Olbricht, wir haben schon zuviel Zeit verloren. Rufen Sie den Stab zusammen. Ich gehe zu Fromm! Jetzt holt Olbricht den Schlüssel zum Tresor heraus, öffnet ihn und entnimmt ihm die versiegelten Walküre-Befehle; er reicht Olbricht ein Exemplar, der sofort Major Harnack anruft, um ihn zu beauftragen, es an die Stadtkommandantur und alle Militärdistrikte und Heeresschulen in und um Berlin zu schicken. Bald ist der Stab jüngerer Offiziere in Ulbrichts Dienstzimmer versammelt und nimmt die Befehle entgegen, während General Hoepner und General Thiele zusehen. Olbricht verläßt den Raum und geht den Gang entlang und die Treppen hoch und tritt mit einem Exemplar der WalküreBefehle unangemeldet in Fromms Dienstzimmer ein. Was wollen Sie hier? fragt Fromm von seinem Schreibtisch ganz am Ende des Raums; der große, schwere Mann, der von seinen Offizieren hundertprozentigen Gehorsam verlangt, runzelt die Augenbrauen und betrachtet kühl den unruhigen Olbricht, der einige Schritte vom Schreibtisch entfernt stehenbleibt und nur zögernd den Mund öffnet. Er beginnt Fromm die Situation zu erklären und reicht ihm die Papiere. - Was soll ich damit? fragt Fromm und tut so, als wisse er nicht Bescheid. - Es sind die Walküre-Anweisungen, ich bitte Sie, diese in Ihrer Eigenschaft als Oberbefehlshaber des Ersatzheeres zu
unterzeichnen, sagt Olbricht ohne größere Überzeugung in der Stimme. Fromm, der vom ersten Augenblick an Ulbrichts Unsicherheit bemerkt hat und dessen Motto es während seiner ganzen Karriere gewesen war, immer richtigzuliegen^ greift sofort nach dem Telefon und ruft Keitel an. Keitel hat in der Zwischenzeit die Teegesellschaft in Hitlers Bunker in der Wolfsschanze verlassen und sich in sein Dienstzimmer im nahe gelegenen Bunker begeben. Hier nimmt er Fromms Anruf entgegen. Das Gespräch zwischen dem Oberbefehlshaber des Ersatzheeres und dem Chef des Generalstabs der Wehrmacht ist nur kurz. Fromms Stimme nimmt einen diensteifrigen Ton: - Fromm hier. Ich möchte nur wissen: Wie verhält es sich mit den Gerüchten, die über den Tod des Führers in Umlauf sind? - Damit hat es nichts auf sich, sagt Keitel. Zwar hat ein Attentat stattgefunden, doch der Führer hat nur ein paar Schrammen abbekommen. - Hervorragend, sagt Fromm und lächelt zufrieden zu Ulbricht hin. - Wo ist Ihr Stabschef, Oberst Stauffenberg? fragt Keitel brüsk. - Er ist noch nicht zurück, sagt Fromm. - Melden Sie mir, wenn es der Fall ist! sagt Keitel und legt auf. Noch ehe er den Hörer auflegt, hat Fromm seinen Entschluß gefaßt. - Ich unterschreibe nicht, sagt er zu Ulbricht. - Darf man den Grund erfahren? fragt Olbricht. - Der Führer lebt, Ihre Aktion entbehrt jeder Grundlage, sagt Fromm und hebt theatralisch seinen großen Arm und weist Olbricht aus dem Zimmer.
Es ist fünf Minuten nach vier. Im Führerbunker ist der Tee getrunken und die Teegesellschaft beendet, Hitler hat sich kurz und knapp von Mussolini verabschiedet, und Göring begleitet den Duce zu einem wartenden Auto hinaus. Einige Minuten lang ist Hitler mit Himmler allein. - Mein Führer, die telefonischen Informationen deuten darauf hin, daß im Bendlerblock irgend etwas im Gange ist, sagt Himmler und starrt Hitler durch die dicken Brillengläser an. - Was wäre das? fragt Hitler. - Kaltenbrunner und meine Leute arbeiten an der Sache, ich habe ihn nach Berlin zurückbefohlen. - Ein Aufruhr unter unseren eignen Leuten? fragt Hitler. - Wir wissen es nicht, mein Führer, sagt Himmler klein laut, um nicht einen der gefürchteten Wutausbrüche her vorzurufen. Hitler streicht sich mit der linken Hand über die Schläfe, sieht Himmler lange an; und Himmler, der mit den Jahren gelernt hat, nicht wegzuschauen, hält seinem Blick stand. - Ich traue Fromm nicht, der Mann hat kein Rückgrat. Ich ernenne Sie zum Oberbefehlshaber des Heimatheeres. Untersuchen Sie, was in Berlin vorgeht. Setzen Sie alles ein. Haben Sie verstanden? - Jawohl, mein Führer, sagt Himmler und eilt aus dem großen Betonraum. Hitler ist allein und denkt in diesem Augenblick daran, Eva Braun anzurufen. Wann hat dieser Tag ein Ende? Ist er nicht gerade gerettet worden? Und jetzt diese Schweinerei! Er kann es nicht glauben, er glaubt nicht daran. Warum sollte ihn jemand stürzen wollen, ihn in den Morast werfen? Hat er nicht das Vertrauen des Volkes? Was sind das für kranke Hirne, die ihm nach dem Leben trachten? Deutschland kann nicht auf ihn verzichten.
Ihm schwindelt. Er sucht nach seinem Stuhl und setzt sich schwer. Dieses ganze Offizierspack. Dieser ganze Ärger. Die Müdigkeit. Für einen Augenblick versinkt alles um ihn herum, seine Augen sind ganz leer. Dann erhebt er sich langsam, geht zu einem Tisch, sucht die Pillenschale, schluckt alle Pillen, die roten, die schwarzen, die grünen. Jetzt wird er Linge rufen. Er öffnet die Tür zum Flur und ruft nach Linge. Mit Blondi Spazierengehen. Nur das eine will er.
Als Olbricht unverrichteter Dinge in sein Dienstzimmer im Bendlerblock zurückkommt, erfährt er von Thiele, daß Mertz ihm zuvorgekommen ist und Hauptmann Klausing befohlen hat, dafür zu sorgen, daß die Walküre-Aufträge mit seiner eigenen Unterschrift und der von Generalfeldmarschall Witzleben an alle Teile des Reiches und nach Prag, Wien und Paris hinausgehen. Der junge Klausing mit dem ernsten Jungengesicht ist mit den Befehlen nach unten in die Vermittlungszentrale gegangen, um sie zu verschlüsseln und via Fernschreiber versenden zu lassen, ein Vorgang, der mehrere Stunden dauern wird. Durch einen Fehler bei der Umstellung geht eine der ersten Fernschreibermeldungen aus dem Bendlerblock auch an die Vermittlungszentrale der Wolfsschanze; hier reicht man sie augenblicklich an Keitel selber weiter, der sich mit zunehmender Verwunderung in den Text vertieft, der mit den Worten beginnt: Der Führer Adolf Hitler ist tot! Eine gewissenlose Clique frontfremder Parteiführer hat es unter Ausnutzung dieser Lage versucht, der schwerringenden Front in den Rücken zufallen und die Macht zu eigennützigen Zwecken an sich zu reißen. Während Keitel zu Hitlers Bunker eilt, um mit dem Führer persönlich zu reden, beginnt Olbricht in seinem Dienstzimmer
im Bendlerblock die eingeweihten Offiziere in zentralen Kommandostellen innerhalb und außerhalb Deutschlands anzurufen, unter anderen General Wagner in Zossen und Feldmarschall Kluge in La Roche-Guyon, doch sowohl Wagner als auch Kluge verhalten sich skeptisch und wollen den Gang der Ereignisse abwarten. General Wagner warnt Olbricht: - Ich habe schon gesagt: Solange wir nicht mit Sicherheit wissen, ob Hitler tot ist, ist dieses Unternehmen lebensgefährlich. Wieder zögert Olbricht und bleibt eine Zeitlang tatenlos in seinem Zimmer sitzen, während er die Sache ein weiteres Mal mit General Thiele durchspricht. Erst als Mertz zusammen mit Hauptmann Klausing im Dienstzimmer auftaucht und meldet, daß man nun soweit sei, einen neuen Walküre-Text auszugeben, der die Aktion definitiv als Staatsstreich erkennen lasse, wacht er auf und begibt sich wieder zu Fromms Dienstzimmer, um ihn zu überreden, die Befehle zu unterschreiben, die ohnehin schon seinen Namen tragen. Während Olbricht über den langen Flur die Treppen hochgeht, liest er den Text, der den Befehl enthält, alle wichtigen Gebäude zu okkupieren, alle Gauleiter, Minister, Polizeipräsidenten und höheren SS- und Polizeiführer zu verhaften und so schnell wie möglich die Konzentrationslager zu besetzen. Kurz vor Fromms Vorzimmer hält er an und liest mehrmals denselben Satz: Die Bevölkerung muß sich des Abstandes zu den willkürlichen Methoden der bisherigen Machthaber bewußt werden. Die Worte gehen ihm im Kopf herum, und Angst steigt in ihm auf; für einen Augenblick denkt er daran, den Flur hinunterzugehen und so zu tun, als ob nichts wäre; vielleicht ist es noch immer nicht zu spät. Dennoch geht er, ohne sich bei der Sekretärin im Vorzimmer anzumelden, direkt in Fromms Zimmer. Noch immer sitzt
Fromm hinter seinem Tisch und schreibt mit seinem Füllfederhalter; Fromm sieht ihn gereizt an, als er eintritt, doch anders als zuletzt ist Olbricht diesmal direkter. - Hitler ist wirklich tot, sagt er. Sie haben keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. - Ich halte mich an Keitels Versicherung, sagt Fromm. Ich werde überhaupt nichts unterschreiben. Olbricht hält den Atem an. - Wir haben bereits den Befehl zur Bekämpfung innerer Unruhen ausgegeben! sagt er. - Also Walküre? - Ja. - Was meinen Sie mit wir} ruft Fromm plötzlich und schiebt seinen massigen Körper vor. Wer hat den Befehl gegeben? Den Oberbefehl, den habe immer noch ich! - Oberst Mertz, sagt Olbricht. Fromm erhebt sich, sein Kopf ist rot, und ruft: - Dann müssen Sie ihn holen, Sie müssen den Oberst augenblicklich holen! Jetzt läuft Olbricht die Treppen hinunter und trifft Mertz in seinem Dienstzimmer an, wo er sich mit vier verbündeten Offizieren, die inzwischen als Reserveordonnanz vom Hotel Esplanade eingetroffen sind, wo sie seit dem frühen Nachmittag den Gang der Ereignisse abgewartet haben. Mertz teilt ihnen Aufgaben zu, läßt sich aber von Olbricht unterbrechen und geht mit ihm zu Fromms Dienstzimmer. Hier steht Fromm mitten im Zimmer bereit und scheint den ganzen Raum auszufüllen. Mit seinem Gespür für Theatralik und aus Furcht, überrollt zu werden und im Niemandsland zu enden, wo weder Aufrührer noch Machthaber ihn brauchen, zeigt er auf Mertz und fordert eine Erklärung. Mertz bestätigt ruhig, daß er die Walküre-Befehle ausgelöst hat und daß die Panzertruppen wahrscheinlich schon auf dem Wege ins Berliner Zentrum sind, um Regierungsgebäude zu umstellen und Rundfunksender zu besetzen. Auch Stoßtrupps
halten sich bereit, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis man die Stadt kontrolliert. - Sind Sie noch bei Troste? ruft Fromm und hebt den Arm. - Ja, sagt Mertz und beißt die Zähne zusammen. - Mertz, Sie befinden sich in Schutzhaft. - Das können Sie nicht, sagt Olbricht unsicher. - Machen Sie, daß Sie rauskommen, schreit Fromm und geht auf ihn zu. Ich bin’s, der hier das Kommando hat! Olbricht läßt Mertz bei Fromm zurück, macht kleinlaut kehrt und geht auf den Flur hinaus; als er die Treppen hinuntergeht, fallen seine Augen auf ein Auto im Innenhof des Bendlerblocks. Er bleibt stehen. Aus dem Auto steigen Stauffenberg und Haeften und eilen in das Gebäude. Es ist zwei Minuten nach halb fünf.
Keitel ist vergebens zum Führerbunker gelaufen; dank eines Adjutanten hat er Hitler mit seinem Schäferhund Blondi im Schatten der Bäume hinter dem Bunker gefunden. Außer Atem teilt der alte Mann dem Führer mit, was sich im Hauptquartier des Generalstabs und des Ersatzheeres in Berlin abspielt. Hitlers bleiches Gesicht zeigt kein Zeichen von Überraschung, und er schaut zu einem fernen Ort am Horizont, während er den Schäferhund stramm an der Leine hält. - Ich wußte es, auch das muß ich ertragen, sagt er. Über all gibt es kleines Ungeziefer und Verräter. Auch an diesem wunderschönen Tag. Er beugt sich vor und streichelt Blondi den Hals. - Was befehlen Sie, mein Führer? fragt Keitel. - Treffen Sie Ihre Gegenmaßnahmen, schicken Sie über all Gegenbefehle hin, nehmen Sie Verbindung mit Himmler auf, früher oder später muß er nach Berlin und die Sache mit seiner
SS in Ordnung bringen. Lassen Sie diese Leute in ihrem eigenen Saft schmoren. - Also Gegenbefehle? fragt Keitel und will den Blick des Führers auffangen. - Ja, natürlich. Funktelegramme, Fernschreiber… Sie müssen telefonieren. Und Goebbels, erreichen Sie Goebbels, wir müssen ins Radio. - Wir können ihn nicht erreichen. Hitler starrt Keitel an. - Finden Sie ihn! sagt er und geht mit seinem Hund weiter aus dem Schatten der Bäume hinaus. - Jawohl, mein Führer, ruft Keitel ihm nach und eilt zurück.
Stauffenberg und Haeften haben Stauffenbergs Dienstzimmer erreicht, wo sein Bruder und Schulenburg und Panzerkommandant Oberst Jäger ihn in gespannter und gehobener Stimmung empfangen. - Hat’s geklappt? fragt Schulenburg und geht sofort auf Stauffenberg zu. Gebückt steht er vor ihm, doch mit wachem Blick sieht er ihn durch seinen Kneifer direkt an, und Stauffenberg fühlt sich zu Hause, Er kann an Schulenburgs nachlässiger Kleidung und linkischen Bewegungen die Bruderschaft geradezu wittern. - Hitler ist tot, ich habe gesehen, wie man ihn herausgetragen hat, sagt er und fragt nach Ulbricht. - Er muß in seinem Zimmer sein, sagt Schulenburg und legt eine Hand auf Stauffenbergs Schulter. - Wie geht es dir? fragt er. - Es wird klappen, es muß klappen, sagt Stauffenberg und verläßt auf der Stelle das Zimmer, um Olbricht aufzusuchen. Ein müder Olbricht empfängt ihn mit einem reservierten Lächeln in seinem Zimmer.
- Ihr habt’s gemacht? sagt er und schaut ihn und Haeften prüfend an. - Ja, sagt Stauffenberg, ich versichere Ihnen, der Mann ist tot. Wir reden von der Detonation einer Fünfzehn-ZentimeterGranate, die kann doch keiner überleben! - Fromm glaubt es nicht. - Wie weit seid ihr? sagt Stauffenberg und überhört bewußt Ulbrichts Bemerkung. - Mertz ist mir zuvorgekommen und hat die Aktion in Gang gesetzt, doch Fromm hat ihn unter Arrest gestellt. Ich weiß nicht, wo er ist. - Wir gehen zu Fromm! sagt Stauffenberg und ist einige Sekunden später aus dem Zimmer. Ulbricht und Haeften folgen ihm über den schattigen, anonymen Korridor, auf dem jüngere Offiziere stehenbleiben, um einen Blick auf Stauffenberg zu werfen. Einige von ihnen führen nur ihre Befehle aus, ohne zu wissen, wem sie damit dienen, die Eingeweihten halten dicht und treiben die anderen an. Als sie eine halbe Minute später gemeinsam in Fromms Dienstzimmer eintreten, finden sie dort Hoepner und Fromm ins Gespräch vertieft. Sie werden augenblicklich still, als hätte man sie auf frischer Tat ertappt, und sowohl Fromm und Hoepner als auch Ulbricht spüren, daß es jetzt zu einer Entscheidung mit lebensgefährlichen Konsequenzen kommen muß; alle schauen auf Stauffenberg, der schon längst die Grenze überschritten hat, die ihn an die Machthaber bindet, und frei handeln kann. Sein Gesicht und seine Haltung strahlen das beeindruckende, aber vibrierende Selbstvertrauen eines Seiltänzers aus, der sich hundert Meter über dem Abgrund sicher fühlt. Das immer noch starke Sonnenlicht aus dem bläulichen Abendhimmel, das durch die großen viereckigen Fenster des Dienstzimmers zu ihnen hereinfällt, macht ihre Haut bleich – nur Fromm hinter seinem Schreibtisch sitzt im
Schatten – und enthüllt jede Falte sowie die augenblickliche Angst in den Gesichtern. Sie kennen sich schon lange, kennen sich aber doch nicht mehr, in dem plötzlichen Machtvakuum sind ihre Bewegungen und Reaktionen unvorhersehbar: Wer gedenkt, sich zu retten? Wer denkt an die Sache? Stauffenberg lächelt und hat für Fromm, den er schon längst durchschaut hat, nur Verachtung übrig. Aber sein Lächeln und seine Sicherheit, ja selbst seine augenblickliche Ruhe sind verzweifelt, gerade weil der Abgrund unter ihm und in ihm selber ist und er sich auf der Flucht befindet, ohne sicher zu sein wohin. Was erwartet ihn am Ende des Tages? Welche Falle? Und wann schnappt sie zu? Mitten in seiner Euphorie muß er sich für alle Warnungen taub machen. Es rauscht in seinen Ohren, und er sagt: - Hitler ist tot, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, ich habe gesehen, wie man ihn herausgetragen hat! - Keitel hat mir das Gegenteil versichert, sagt Fromm. - Ich sage Ihnen: Hitler ist tot! Keitel lügt wie immer! - Und darum haben wir die Walküre-Maßnahmen aus gelöst! sagt Olbricht nun mit neuem Selbstvertrauen. Fromm schlägt mit der Faust auf den Tisch: - Das ist Hochverrat, Sie erwartet die Todesstrafe. Ich frage Sie nochmals: Wer hat den Befehl gegeben? - Mein Generalstabschef! sagt Olbricht. - Holen Sie ihn herein, er ist im angrenzenden Zimmer! Haeften und Oberleutnant von Kleist, die im selben Augenblick dazugekommen sind, öffnen die Tür zu dem Raum, und Mertz tritt heraus. Er nickt Stauffenberg zu und bleibt neben Hoepner stehen, der ihn nicht beachtet. - Sie stehen alle unter Arrest! ruft Fromm. - Wer hier unter Arrest steht, sind Sie! sagt Stauffenberg ruhig. Ich habe selbst die Bombe gezündet, ich weiß mit Sicherheit, daß Hitler tot ist!
- Sie haben es selber getan! ruft Fromm wieder. - Ja, ich habe es getan. Fromm sieht ihn verblüfft an, steht auf, der Stuhl fällt hinter ihm um. - Haben Sie eine Pistole, dann wissen Sie, was Sie zu tun haben! - Ich tue es nicht, sagt Stauffenberg. - Holen Sie eine Pistole! sagt Fromm zu Mertz. - Das kann ich nicht, sagt er, ich befinde mich in Schutzhaft. - Wenn jemand in Schutzhaft gehört, dann Sie, Herr Generaloberst, sagt Stauffenberg und macht einen Schritt auf ihn zu. In diesem Augenblick verliert Fromm die Beherrschung und fährt mit geballten Fäusten um den Schreibtisch herum, um Stauffenberg niederzuschlagen, aber Kleist und Haeften halten ihn zurück, und Kleist drückt ihm die Mündung seiner Pistole in den Bauch. - Sie stehen unter Arrest, sagt Stauffenberg. - Arrest? sagt Fromm benommen. - Sie haben fünf Minuten Zeit, um zu überlegen, ob Sie sich uns anschließen wollen.
Fromm wird in seinem Dienstzimmer allein gelassen, und als er seine Lage durchdacht hat, beschließt er, sich seiner Befehlsgewalt enthoben zu fühlen, und läßt sich zusammen mit seinem Ordonnanz-Offizier zu einem Arrestraum in der Adjutantur führen. Man stellt draußen im Flur einen Wachposten auf und bringt ihm auf Verlangen eine Flasche Cognac, und General Hoepner – jetzt in seiner Generalsuniform – übernimmt mit Bedauern Fromm gegenüber zögernd dessen Dienstzimmer und Befugnisse. In der Zwischenzeit schwirren die Gerüchte über einen Staatsstreich durch den ganzen Bendlerblock, und alle Generalstabssoffiziere, die zuvor nur halb Bescheid wußten,
werden sich im Laufe der nächsten halben Stunde bewußt, für wen sie arbeiten. Auf den Gängen taucht eine wohlbekannte Gestalt nach der anderen in Uniform oder Zivil auf und schließt sich dem Aufstand an; man sieht Generaloberst Beck, Graf Schwerin von Schwanenfeld, Oberleutnant Ludwig von Hammerstein, den Regierungspräsidenten von Potsdam, Bismarck, den Grafen Helldorf, Polizeipräsident von Berlin, und Dr. Gisevius und später Gerstenmaier von der kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes; einige kommen kurz zu Besuch und verschwinden wieder in die Stadt, um ihre vorgesehenen Aufgaben auszuführen, andere gehen in Olbrichts oder Stauffenbergs Dienstzimmer, um sich untereinander und mit den bereits Anwesenden zu beraten und die letzten Meldungen über die Entwicklungen in Berlin, Hamburg, Wien, Prag und Paris zu erfahren. Die Atmosphäre in den schattigen Gängen, in den großen, mit Sonnenblenden versehenen Sälen und in der Vermittlungszentrale ist elektrisiert; hier klingelt ein Telefon, da verschlüsselt oder notiert eine Sekretärin einen Befehl, aus vielen Richtungen sind erregte oder erwartungsvolle Stimmen, sogar Lachen zu hören, als habe sich das ganze Gebäude aus einer tristen Ruine erhoben und eine neue Seele bekommen und könnten die Wände plötzlich reden; wie das Metronom eines Herzens eilt der einarmige Stauffenberg von Telefon zu Telefon, von Dienstzimmer zu Dienstzimmer, Person zu Person, um anzufeuern und zu organisieren und zu bestätigen – und um jedermann davon zu überzeugen, daß dies der Schicksalstag sei, an dem der Führer gestorben ist und sich die Machtverhältnisse ändern.
Zur gleichen Zeit sitzt der graue und schwitzende Keitel in seinem Bunker und telefoniert mit den Kommandostellen des
Reiches und gibt die Gegenbefehle des Führerhauptquartiers weiter. Seine Stimme ist scharf, kurz angebunden, drohend und zieht alle Register der Macht. Die Stimmen der beiden Männer, die des jüngeren und die des alternden, sind plötzlich Klingen, die gekreuzt werden, und in dem mächtigen deutschen Resonanzraum von Verführung und Führerangst dringt die Stimme des Aufruhrs nur unklar hindurch. Solange Hitler lebt, leben Verführung und Angst. - Hitler ist tot, ruft Stauffenberg in den Hörer. Keitel lügt! - Hitler lebt, ruft Keitel. Stauffenberg lügt! Seit seiner Verwundung 43 in München, als er von einer Abrechnung mit der Macht und den Verbrechen der Macht phantasierte, ja, seit seiner jungenhaften Identifikation mit Hölderlins Empedokles, darin von Stefan George unterstützt, hat Stauffenberg sich bewußt als auch unbewußt auf diese Stunden und auf eine Rolle vorbereitet, in der kindliches Allmachtsgefühl und aufrührerischer Fanatismus Hand in Hand mit der Verachtung für diesen Mann einhergehen, den er sich nun um jeden Preis tot und beseitigt wünscht. Ist er nicht tot, so soll er doch tot sein. Für Keitel, den Ohrendiener, gilt das Gegenteil: Obwohl der Führer tot war, soll er doch um jeden Preis am Leben erhalten werden. Als Generaloberst Beck in diesen Stunden mit dem noch immer skeptischen Hoepner über Hitlers Tod spricht, sagt er: Für mich ist Hitler schon lange tot, und eben in diesem Geist muß der Staatsstreich durchgeführt werden. Diese frühen Abendstunden im Bendlerblock sind Stauffenbergs Sonnenstunden, alles, was er gelernt und geträumt hat, legt er in seine Beratungen mit den jungen Offizieren und in seine Telefonstimme: Er appelliert, er ruft, er erklärt, er hört zu, er bestätigt Befehle, er stellt Befehle aus, er versucht, die Skeptischen zu überreden, er überzeugt die
Wankelmütigen, nicht nur Mertz, sondern auch Olbricht sind nun an seiner Seite, ebenso Berthold, Beck, Schulenburg, York und Gerstenmaier und selbst Gisevius, dessen Vorbehalte ihm gegenüber gerade in diesen Stunden verflogen sind. In seinem kurzen Zenit ist er von glücklicher Ahnungslosigkeit, daß sein Mitverschwörer, der Chef der Organisationsabteilung des Heeres, Generalmajor Stieff, in denselben Stunden von Mauerwald aus General Wagner in Zossen anruft und seine Aktion und die der anderen völlig wahnsinnig nennt und daß Wagner ihm danach befiehlt, alles, was er über den Staatsstreich hört, dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Keitel, zu melden. Er ahnt nicht, daß Generalleutnant Thiele, verantwortlich für die Nachrichtenoffiziere zur Besetzung der Rundfunksender in Berlin, aus dem Bendlerblock verschwunden ist und sich auf dem Wege zu Walter Schellenberg im Reichssicherheitshauptamt befindet, um sich selber anzuzeigen und die Seite zu wechseln. Er weiß auch nicht, daß sein anderer Mitverschwörer, Artilleriegeneral Fritz Lindemann, verantwortlich für den Aufruf der neuen Regierung im Rundfunk, dabei ist, sich selber und den Text unerreichbar zu machen. In Prag, Wien, Paris und in Berlin selbst scheinen die sonst trägen Räder der Geschichte sich zugunsten der Aufrührer schneller zu drehen. Während gutbetuchte Berliner sich zurechtmachen, um in den mondänen Restaurants am Kurfürstendamm zu Abend zu essen, unter dem klaren, sonnigen Abendhimmel, einem Abendhimmel, der gerade an diesem Tag nicht von feindlichen Flugzeugen bevölkert wird, rücken Mannschaftswagen der Unteroffiziersschule in Potsdam in das Gebiet um die Siegessäule in Tiergarten, Bendlerstraße, ein und besetzen es. Gegen sechs Uhr treffen Panzertruppen aus Krampnitz in demselben Gebiet ein. Aus Mangel an
Mannschaftswagen ist die erste Kompanie der Heeres- und Waffenmeisterschule in Berlin-Treptow in Straßenbahnen unterwegs, um das Stadtschloß zu besetzen; Kampfeinheiten der Ersatzheerbrigade Großdeutschland okkupieren die Sender in Herzberg und Königs Wusterhausen und unterwerfen ohne Widerstand die örtlichen Partei- und SS-Einheiten. Stoßtrupps der Feuerwerker-Schule des Heeres sowie Kriminalbeamte, die Reichskriminaldirektor Nebe zur Verfügung stellt, werden für den Einsatz im Regierungsviertel in der Stadtmitte aufgestellt, und eine Einheit von der Infanterieschule in Döberitz besetzt das Funkhaus in der Masurenallee. Polizeipräsident Helldorf hat von seinem Dienstzimmer aus die Sicherheitspolizei alarmiert und wartet im Hinblick auf die geplante Verhaftung hoher Parteileute, Minister und SS-Führer jetzt auf Befehle aus der Bendlerstraße. Unter Leitung von Major Ernst Remer umstellen Kampfwagen und Truppen des Wachbataillons der Stadtverwaltung gegen sechs Uhr das Propagandaministerium und lassen vor dem Haus von Propagandaminister Goebbels doppelte Wachposten aufziehen; im Laufe der nächsten halben Stunde riegeln drei Kompanien des Bataillons das Regierungsviertel um den Potsdamer Platz hermetisch ab. Eine Einheit des Bataillons fährt zum Bendlerblock und verstärkt dort den Wachdienst. Von seinem Arbeitszimmer im ersten Stock im Palais südlich des Brandenburger Tors aus beobachtet Goebbels zusammen mit Rüstungsminister Speer, wie Soldaten mit Helmen, Handgranaten am Koppel und Maschinenpistolen in der Hand sich in kleinen Gruppen in Richtung Brandenburger Tor bewegen. Hier stellen sie Maschinengewehre auf und unterbrechen den Verkehr. Wachen besetzen das Tor in der Mauer zu Goebbels’ Haus.
Der sonnengebräunte Goebbels, der sich durch die Nachricht aus dem Hauptquartier, daß im ganzen Reich ein Militärputsch im Gange sei, ohnehin schon in einem Zustand der Erregung und Nervosität befindet, verläßt das Fenster und geht ins angrenzende Schlafzimmer, aus dem er schnell mit einigen Zyankalitabletten zurückkehrt; die Tabletten verstaut er mit seinen langen, geschmeidigen Pianistenfingern in einer kleinen Schachtel. Als er die Schachtel in die Tasche steckt, sagt er mit einem kleinen bedauernden Lächeln zu dem ruhigen Speer: Nur für alle Fälle. Der stets etwas unbeteiligt wirkende Speer, der allerdings fürchtet, mit seinem Bekannten Fromm in Verbindung gebracht zu werden, begnügt sich mit einem Nicken. Genau wie Stauffenberg und Keitel arbeitet Goebbels hektisch am Telefon, seine manchmal einschmeichelnde und verführerische Stimme klingt in dieser Zeit schroff und schrill. Dann aber – als er eine Anordnung in Form einer Proklamation aufnehmen läßt – klingt er ruhig und offiziell. Anschließend versucht er vergebens, mit Himmler in Kontakt zu kommen, der von der Bildfläche verschwunden zu sein scheint. - Himmler hat sich versteckt, sagt er zu Speer, aber wes halb? Speer ist überrascht, hat aber keine Erklärung dafür. - Ich traue ihm nicht, sagt Goebbels plötzlich und greift wieder nach dem Hörer und verlangt von der Zentrale eine neue Nummer. Speer überlegt, ob Himmler irgendwie an dem Putsch beteiligt ist oder nur kühl abwartet, weist den Gedanken aber als ungeheuerlich zurück und raucht seine Zigarette weiter, während er die Beinstellung auf dem bequemen Samtsofa in Goebbels’ Arbeitszimmer wechselt. Nach einem längeren hitzigen Gespräch, das damit endet, daß er einen gezielten Befehl erteilt, knallt Goebbels den Hörer auf
die Gabel und sieht einen Augenblick lang träumend aus dem Fenster. In diesem Moment ähnelt er einem großen Kind, das zu verachten gelernt hat. Die Augen in dem schmalen, massigen Kopf mit der hohen fliehenden Stirn und den hervortretenden Kiefern leuchten auf; mit seinem durch den Klumpfuß leicht humpelnden Gang erreicht er schnell das Sofa und setzt sich Speer gegenüber. - Denken Sie sich: Mein Telefon funktioniert, im Rundfunk hören wir keine Proklamation von den Putschisten, warum kommen die nicht hier rein und nehmen mich fest? Wissen die nicht, wie gefährlich ich bin? Ehe Speer antworten kann, gibt Goebbels selber die Antwort, während er erregt die Hand ballt: - Sie zögern, die haben Angst! - Sieht so aus, sagt Speer. - Ich habe meine Anweisung aufnehmen lassen, damit der Rundfunk sie senden kann, sagt Goebbels. Sie kann je den Augenblick aus dem Haus des Rundfunks kommen.
In denselben Minuten wendet sich Gisevius wieder an Stauffenberg, um eine schnelle Entscheidung bezüglich Goebbels’ und SS-Gruppenführers Heinrich Müller, des Gestapo-Chefs, herbeizuführen. Zehn Minuten zuvor hat Stauffenberg SS-Oberführer Achamer-Pifrader festgenommen, als er ihn in dem Gebäude aufsuchte, um ihn zu einem Gespräch mit Heinrich Müller im Gestapo-Hauptquartier zu bitten. - Meiner Meinung nach sollte man unbedingt sichtbare Tatsachen schaffen, zumindest sollte man Goebbels und Heinrich Müller auf der Stelle erschießen, sagt Gisevius. - Aha? sagt Stauffenberg mit einem Telefonhörer in der Hand.
- Mit ein paar Leichen wird man dem gesamten Aufstand den Rückzug abschneiden. - Sollte das nötig sein? Es wird keinen Rückzug geben. Allein daran zu denken ist Defätismus. - Sehen Sie nicht, wie die Leute um Sie herum zögern und wie langsam alles geht? - Nein, sagt Stauffenberg gereizt. - Ich stelle mich gern persönlich an die Spitze eines Offizierskommandos, das Goebbels und Müller erledigt. Stauffenberg betrachtet einen Augenblick lang den angespannten Gisevius, und obwohl er ihn nicht mag, sieht er ein, daß Gisevius mit seinen radikalen Forderungen möglicherweise recht hat. Weil er sozusagen Blut an den Händen hat und seine Prinzipien für den Aufstand ihm Festnahme vor Liquidierung gebieten, schwankt er. Bei dem Gedanken, zu töten, übermannt ihn plötzlich eine latente Übelkeit, er dreht Gisevius den Rücken zu und macht einige Schritte zum Fenster hin. Von hier sieht man auf den Hofplatz hinunter, gerade überqueren ihn zwei jüngere Offiziere, entspannt gestikulierend, sie bleiben stehen, einer zündet sich eine Zigarette an. Beide sehen aus irgendeinem Grund in den Himmel mit seinem abnehmenden Licht. Ein fernes Lachen dringt zu ihm herauf. Der Abstand zu den Männern im Hof, die anscheinend in glücklicher Unwissenheit leben und keine Ahnung haben, was gerade in den Gängen im Bendlerblock vor sich geht, ist schwindelerregend. Mit dem Handrücken trocknet er sich den Schweiß auf der Stirn und wendet sich Gisevius zu. - Wir haben Oberst Jäger, sagt er, doch weder hier noch in der Stadtkommandantur stehen Stoßtrupps zur Verfügung. - Das ist ein großer Fehler, sagt Gisevius. Stauffenberg überhört ihn und geht eilig auf den Flur, um Oberst Jäger aufzusuchen, doch da er nirgends zu finden ist und er in
Olbrichts Dienstzimmer auf Major Korff von den Feuerwerkern stößt, befiehlt er statt dessen ihm, eine kleine Gruppe von Offizieren zusammenzustellen, um sofort Goebbels festzunehmen. Kurz darauf begeben sich Korff und seine Offiziersgruppe mit einem Haftbefehl zum Haus des Propagandaministers.
Es ist halb sieben abends, und die Dunkelheit legt sich nur langsam über Berlin. Das Haus des Rundfunks schickt in diesen Minuten Goebbels’ Proklamation durch den Äther: Auf den Führer sei ein Sprengstoffattentat verübt worden, doch er habe überlebt und unverzüglich die Arbeit aufgenommen. Er werde später zur Nation sprechen. Wegen General Thiels Abfall muß Major Jakob, der mit seinen Truppen das Haus des Rundfunks in der Masurenallee besetzt hat, die nötige Sachkenntnis und die versprochenen Nachrichtenoffiziere entbehren; er läßt sich von den Versicherungen des Rundfunkdirektors täuschen, daß der Sender seine Sendetätigkeit eingestellt habe. Auf diese Weise kommt es zu der Situation, daß die Aufrührer das Haus besetzt haben, das zugleich ihr Vorhaben dementiert. Die Meldung von der Besetzung des Hauses dringt nie zu Beck durch, der nach Stichworten von Gisevius und Schulenburg und York eine neue Proklamation zusammengeschrieben hat, die anstelle der mit Lindemann verschollenen verlesen werden soll. Auch über die besetzten Sender Tegel und Nauen wird jetzt die Neuigkeit vom Attentat und Überleben des Führers verbreitet; gerade das Gerücht vom Überleben des Führers macht überall die Runde, bei allen Kommandoposten, Wehrkreisen und den eingesetzten Truppen und Offizieren; das Gerücht schafft Verwirrung, und mitten in der Verwirrung reißt langsam die Befehlskette; Panzer und Mannschaftswagen, die eben in
Marsch gesetzt wurden, bleiben auf Brücken und in Straßen stehen; die Offiziere verlassen sie, um nähere Erkundigungen einzuziehen, oder befehlen nach Besprechungen mit der Stadtkommandantur oder örtlichen Befehlsbehörden kehrtzumachen. Aber gerade weil dies alles langsam vor sich geht, ja, zögernd, und von Zweifel und Verdacht begleitet ist, gerade weil das Gerücht so saumselig unter den Soldaten und Offizieren des Aufstands verbreitet wird, ist es abends Viertel vor sieben noch immer nicht zu Major Remer und seinem Wachbataillon im besetzten Regierungsviertel gedrungen. Dieses Bataillon hält bis auf weiteres das Machtzentrum der Stadt als auch den Aufruhr in seiner hohlen Hand. Der nationalsozialistisch gesinnte Remer hat auf Punkt und Komma, jedoch nur mit einem gewissen Widerwillen den für ihn nicht ganz durchsichtigen Befehl der Stadtkommandantur ausgeführt, das Allerheiligste in Berlin zu besetzen; war er doch bis zu diesem Zeitpunkt überzeugt, an der Niederschlagung von Kräften innerhalb der SS und der Partei beteiligt zu sein, die dem Führer nach dem Leben trachteten. Als nun ein überzeugter nationalsozialistischer Führungsoffizier im Bataillon namens Hagen seinen Verdacht in bezug auf die Berechtigung der Aktion weckt und kurz danach zum stellvertretenden Gauleiter Schach geht, der sich am Ort des Geschehens befindet und in ständiger Verbindung mit Goebbels steht, kommt Bewegung in die angespannte und festgefahrene Situation. Leutnant Hagen verbürgt sich bei Schach für die rechte nationalsozialistische Einstellung des jungen Majors, und mit dieser Meldung sucht Schach umgehend Goebbels in seinem Arbeitszimmer auf. - Sagen Sie ihm, ich will mit ihm verhandeln, sagt Goebbels sofort.
- Er hat einen ausdrücklichen Befehl von Stadtkommandant Hase, nicht mit Ihnen zusammenzutreffen. - Sagen Sie ihm, ich hätte ihm etwas Lebenswichtiges zu berichten, und er soll sich überlegen, wer ich bin. - Jawohl! sagt Schach und eilt aus dem Zimmer. Goebbels bewegt sich nervös in dem Raum auf und ab, lauscht einen Augenblick nach nebenan, wo Speer ein Telefongespräch führt. Dann geht er zum Fenster und betrachtet die fernen Wachposten am Brandenburger Tor. Dort hat sich eine lange Schlange von Autos und Radfahrern gebildet. Er schließt die Augen und durchdenkt die Situation. Von vorn und von hinten. Sieht auf seine Uhr. Plötzlich läutet das Telefon auf seinem Schreibtisch, er fährt zusammen, greift steif danach. Es ist Remer selber, der feierlich und mit sopranartiger Stimme erklärt, er sei zu einem Treffen mit ihm bereit. Vielleicht muß er doch nicht sterben. Er trocknet sich mit einem weißen Taschentuch die hohe Stirn. Jetzt ruft er über eine besondere Leitung auf Vermittlung seines Ministeriums Hitler in der Wolfsschanze an und macht ihn mit hektischer Stimme mit der Situation vertraut. Er genießt es, vor dem Führer in keiner geringeren Sache als der Zukunft des Regimes die Hauptrolle spielen zu können, und er merkt sich Hitlers beeindruckten Tonfall. Die beiden Männer einigen sich, daß Hitler das Ergebnis des Gesprächs abwarten soll, und er wird sich bereithalten, selbst mit dem Major zu telefonieren. Er ruft Speer in sein Dienstzimmer, um einen Zeugen und Helfer zu haben. Er sagt zu ihm: - Ich bin in meinem Vorgehen oft zu übereilt. Sie können mit Ihrer Ruhe die Balance herstellen. Wir müssen ganz überlegt handeln. Speer nickt schweigend und setzt sich wieder aufs Sofa. Es vergehen einige Minuten im schweigenden Warten, aus der Halle sind Lärm und Stimmen zu hören, erst später wird
beiden Männern klar, daß Major Remer in denselben Sekunden auf Major Martin Korff aus dem Bendlerblock gestoßen ist und auf dem Weg nach oben zu Goebbels’ Arbeitszimmer vorläufig verhindert hat, daß Korff Goebbels verhaftet. Jetzt betritt der dünne, bleiche Major Remer, gefolgt von Gauleiter Schach, das Zimmer und konzentriert sich mit seiner Strammheit und einem Heil-Hitler-Gruß sofort auf Goebbels, der wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hat. Remers steife, soldatische Haltung verbirgt seine Furcht. Ist dieser Minister, dem er jetzt gegenübersteht, an einem internen, von der Partei ausgehenden Putsch gegen den Führer beteiligt? In diesem Fall kommt es zu seiner eigenen Verhaftung und dem, was noch schlimmer ist. Doch: Er hat seine Männer in der Halle stehen, bereit einzugreifen. Er wirft einen schnellen Blick im Zimmer umher: keine Waffen, keine Pistolen. Die nächsten Minuten sind lebenswichtig, und obwohl Goebbels die erste Runde für sich entschieden hat, ist er bei weitem nicht sicher, auch die nächste zu gewinnen. Seine Spielernatur verleugnet sich selbst in diesem Augenblick nicht, lediglich durch seine zuvorkommende und zugleich selbstsichere Haltung hat er die Führung übernommen. Goebbels beherrscht seine Nervosität und erinnert Remer sogleich an seinen Eid auf den Führer. - Ich bin dem Führer und der nationalsozialistischen Partei ganz treu ergeben, sagt Remer, doch… - Ja? - Der Führer ist ja tot, und folglich muß ich als Major der Wachkompanie den Befehlen meines Vorgesetzten, Generalleutnant von Hase, gehorchen. - Der Führer lebt! sagt Goebbels mit Betonung auf dem letzten Wort.
Remer sieht ihn verblüfft an, sinkt etwas in sich zusammen. Goebbels nickt, schlägt mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Remer nestelt unsicher an seinem Koppel, tritt etwas zur Seite, und ehe er ein Wort herausbringt, sagt Goebbels hektisch: - Er lebt! Ich habe erst vor einigen Minuten mit ihm gesprochen! Eine kleine ehrgeizige Clique von Generalen hat einen Staatsstreich durchgeführt! Eine Gemeinheit! Die größte Gemeinheit der Weltgeschichte! - Ja, er lebt, sagt Gauleiter Schach, von Goebbels’ Ausbruch mitgerissen. Remer wirkt plötzlich erlöst und erleichtert und starrt die drei Männer in dem Zimmer mit einem kleinen Lächeln an, als habe er noch nicht ganz begriffen, was hier eigentlich vorgeht; mit seiner begrenzten Phantasie fällt es ihm schwer, sich vorzustellen, Offiziere des deutschen Heers könnten sich gegen den Staat erhoben haben und er könnte in diesem Moment ihr Werkzeug sein. Und wie soll er sich nun verhalten? Doch hier kommt ihm Goebbels zu Hilfe, mit seinem Sinn für Pointen und Höhepunkte hält er seinen Trumpf zurück. - Sie müssen sich klarmachen, sagt er, welch ungeheure Verantwortung vor der Geschichte auf Ihren Schultern ruht. Selten hat das Schicksal einem Menschen eine solche Chance gegeben, und es liegt nun ganz an Ihnen, sie zu ergreifen oder auszuschlagen! Der wortkarge Remer läßt sich mitreißen und ist überrascht und zugleich beeindruckt, daß er sich unerwartet im Auge des Orkans befindet, und eben da spielt Goebbels seinen letzten Trumpf aus, wohl wissend, daß er Remer in die Enge getrieben hat. - Ich rufe jetzt den Führer an, und dann haben Sie auch Gelegenheit, mit ihm zu reden. Ob der Führer Ihnen wohl Befehle erteilen kann, die jene Ihres Generals aufheben?
Goebbels hat seine Stimme moduliert, und die letzten Worte fallen mit einem leicht ironischen Tonfall, der bei Gauleiter Schach ein anerkennendes Lächeln hervorruft und bei Speer ein beherrschtes, fast nachsichtiges Lächeln. Mit einer energischen Handbewegung greift Goebbels nun den Hörer und ruft Hitler an, und als Hitler einige Sekunden später am Apparat ist und Goebbels ihm schnell die Situation dargelegt hat, reicht er Major Remer den Hörer. Sie sprechen mit Adolf Hitler, sagt Hitler von einem Telefon in seinem großen Zimmer im Führerbunker in der Wolfsschanze aus. Erkennen Sie meine Stimme? Remer, der vor einigen Wochen von Hitler persönlich das Ritterkreuz erhielt, hat keine Zweifel, er drückt die Brust heraus und sagt beeindruckt: - Jawohl. - Also bin ich am Leben. Der Aufstand ist fehlgeschlagen. - Ja, mein Führer. - Diese Schweinerei in Berlin muß aufhören, sagt Hitler. Ich ernenne Sie auf der Stelle zum Oberst, und bis der Reichsführer eintrifft, zum Verantwortlichen für alle militärischen Angelegenheiten in Berlin. Er ist zum Oberbefehlshaber des Heimatheeres ernannt. Und Sie müssen alle seine Anordnungen ausführen. - Jawohl, mein Führer, sagt Remer und schlägt die Hacken zusammen. - Sie haben also augenblicklich die Vollmacht, den Aufstand niederzuschlagen. Verstanden? - Jawohl. Verstanden! - Ausgezeichnet, sagt Hitler. Und da wünsche ich Ihnen einen guten Abend! - Danke, danke, sagt Remer und reicht den Hörer wie der Goebbels, dem Hitler eine kurze Zusammenfassung des Gesprächs gibt.
Von der Situation überwältigt, nimmt Remer sofort die ersten Befehle von Goebbels entgegen, der vor den Männern vom Wachbataillon in seinem Garten eine Rede halten will; einen Augenblick später eilt er aus dem Dienstzimmer, um als erstes die Belagerung des Regierungsviertels aufzuheben und seinen Offizieren aufzutragen, alle übrigen Einheiten in der Innenstadt unter ihren Befehl zu bringen. Als eine halbe Stunde später Oberst Jäger vor Goebbels’ Wohnung auftaucht, um Goebbels festzunehmen, wird ihm vom Personal des Wachbataillons der Zugang verwehrt; mit knapper Not entgeht er seiner Verhaftung. In der Bendlerstraße wird er nicht mehr gesehen, er verschwindet in den dunklen Straßen der Stadt.
Zwischen sieben und acht Uhr abends nimmt die Dunkelheit um den Bendlerblock zu, und der Mißmut wächst in den grell erleuchteten Dienstzimmern und düsteren Gängen; in Fromms Zimmer beantwortet Hoepner nur widerwillig Anrufe von immer skeptischeren Offizieren, und während die Offiziere aus Olbrichts und Fromms Stab, die bis zu diesem Zeitpunkt den Befehlen der Verschwörer gefolgt sind, anfangen, auf Gängen und in Dienstzimmern zu beratschlagen und Pläne für eine Konfrontation mit Stauffenberg und Olbricht zu machen, geht Hoepner zu Beck hinunter. Der ältere Beck mit dem spitzen Gesicht, den langsamen Bewegungen und müden, zuverlässigen Augen, der Mann, der in den Augen des Kreises immer noch das neue Staatsoberhaupt des Reiches ist, sitzt allein in seinem Dienstzimmer, dessen Tür zu dem lärmenden, plötzlich übervölkerten Flur offensteht – ein Mann, der jetzt immer mehr neben den Ereignissen steht, ein Mann, für den dieser Tag der Höhepunkt des sechs Jahre währenden zähen
Widerstands gegen den unberechenbaren Kriegstreiber Hitler sein sollte. In der letzten halben Stunde hat er immer wieder vergebens nach der Meldung über die Besetzung des Funkhauses gefragt, er hat mit Feldmarschall Kluge telefoniert, dem Chef der Westfront, und hellsichtig sogleich die Ausweichmanöver des Feldmarschalls durchschaut, während er ihn dennoch zu einer Zusage zu drängen suchte, die Verschwörer in Paris zu unterstützen; in seinem einzigen Befehl als Staatsoberhaupt hat er in Übereinstimmung mit Stauffenberg dem Chef der Heeresgruppe Nord Befehl zum sofortigen Rückzug aus Kurland gegeben, so weit wie möglich dem eigenen Gewissen und der eigenen Einschätzung folgend, ein Prinzip, das Beck in der neuen Ära für alle Befehlsangelegenheiten gelten lassen will. Ist Stauffenberg das verzweifelte Herz und in Momenten das kühle Hirn des Aufstandes, so ist Beck der Sauerteig, der den Aufstand hat aufgehen lassen. Durch seine zurückgezogene Lebensweise und seine einfachen, in einer tieferen religiösen Überzeugung wurzelnden Prinzipien wird er mitten im Orkan des Krieges den Männern des kleinen, harten Kerns der Aufrührer, die in dieser Stunde noch immer aushalten, nicht zuletzt für Stauffenberg selber, zur Stütze. Er war der Mann, der 38 alles in allem als erster Militär seine Stellung als Generalstabschef des Heeres in die Waagschale warf, um vor Hitler zu warnen. Allein aus diesem Grund ist er zum neuen Staatsoberhaupt berufen, und selbst in dieser Stunde, die schnell an ihm vorbeigeht und ihn in einem abgelegenen Dienstzimmer als Schatten zurückläßt, bewahrt er die Fassung und den Glauben an den Sinn des Aufstandes. Als Hoepner sich mit düsterem Gesicht in der Tür zeigt und sich über die vielen losen Enden beklagt, winkt er ihn mit einer einfachen Handbewegung in sein Zimmer herein.
- Alles deutet jetzt darauf hin, daß Hitler nicht tot ist, sagt Hoepner. - Wie ich Ihnen schon früher gesagt habe, erwidert Beck, so ist er für mich schon lange tot, und ich habe die Konsequenzen daraus gezogen. Er interessiert mich nicht. Wenn Hitler aber wirklich überlebt hat, läßt Hoepner nicht locker, so ist die ganze Sache hier, das ganze Unternehmen, idiotisch, dann handelt es sich bloß um eine Kraftprobe! - Ja, genau, eine Kraftprobe, sagt Beck. - Die haben wir von vornherein verloren! - Nein, sagt Beck, wir haben sie nicht von vornherein verloren, und sie ist noch immer nicht verloren. - Daran glauben Sie selber nicht, sagt Hoepner betrübt und verbirgt einen Augenblick lang sein Gesicht in den Händen. - Ich weiß am besten, was ich glaube, sagt Beck, aber Hoepner hört ihm nicht mehr zu, erhebt sich plötzlich, verläßt das Zimmer und geht kraftlos zu den ständig läutenden Telefonen in Fromms Dienstzimmer, das er noch nicht wirklich zu seinem gemacht hat. Er setzt sich hinter den Schreibtisch, sein Blick fällt auf ein Foto von Fromm in voller Montur, er sinkt leicht in sich zusammen und ignoriert das Läuten der Telefone, bis er es nicht mehr erträgt, dann verläßt er das Dienstzimmer wieder und geht ziellos durch die Gänge. In der Zwischenzeit telefoniert Stauffenberg von seinem Zimmer aus ununterbrochen mit wachhabenden und leitenden Offizieren in den Heereskreisen in Breslau, Kassel, Hamburg, Nürnberg, Stettin, Dresden, Stuttgart, Wiesbaden, Salzburg, München, Danzig, Posen, Krakau, Prag, Wien und Paris. Bei einigen Stellen sind die Walküre-Befehle zu spät eingetroffen, und man hat sich noch nicht dazu geäußert, bei anderen wartet man Befehle von den kommandierenden Offizieren ab und verlangt mehr Informationen, und wieder woanders ist man erst den Befehlen nachgekommen, um sie danach unter dem
Eindruck von Keitels telefonischen Gegenbefehlen zu widerrufen. Überall rumort die Frage nach Hitlers angeblichem Tod, und obwohl Stauffenberg energisch an den Befehlen aus der Bendlerstraße festhält und mit seiner immer angestrengteren Stimme für Hitlers Tod einsteht, wächst die Zahl der skeptischen und abweisenden Reaktionen. Seine Beine geben unter ihm nach, er setzt sich, steht auf, setzt sich wieder, steht wieder auf, wie ein Mann, der keine Verbindung mehr mit seinem Körper hat und außerhalb von Zeit und Ort ist, und die Gesichter, die wirklich um ihn sind – von Schulenburg, Berthold, York, Schwerin, Gerstenmaier –, verlieren sich vor ihm mit ihren immer leiseren Ermunterungen und unsteten Blicken. Er ist in die große Ohrmuschel des Telefonnetzes eingetaucht, und während die Euphorie langsam aus seinem Körper weicht und er mit enormem Willen nicht nur sich selber, sondern auch den Aufstand aufrechterhält, frißt sich der Zweifel an Hitlers Tod in ihn hinein. Gegen sechs Uhr, als er einige Sekunden lang mit Oberst Hassel, Chef des Hauptbüros des Signalwesens im Bendlerblock, konfrontiert ist, läßt er dies unfreiwillig erkennen: – Der Mann ist ja nicht tot, aber der Wagen, der fährt, hat er Hassel ins offene, verblüffte Gesicht gesagt und das Ganze wieder zurückgenommen, ja, es verdrängt, weil selbst er nur gegen die symbolische Anwesenheit Hitlers ankämpfen kann und nicht dagegen, daß die Mitläufer und Loyalisten der Macht ihn als lebendes Gespenst anbeten. Im Laufe dieser und der nächsten Stunden wird ihm aufs bitterste bestätigt, was er und Olbricht und Tresckow die ganze Zeit geahnt haben – daß Hitlers physischer Tod die absolute Voraussetzung für den Aufstand ist. Und dennoch fährt er im Wagen weiter, und der Wagen fährt mit ihm.
Mitten bei alldem wird er, ob von Schulenburg oder Berthold, oder einem dritten, nach Feldmarschall von Witzleben gefragt, dem neuen Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Wo bleibt er? Warum hat er sich noch nicht gezeigt? Versteckt er sich? Ist er auch – wie Thiele – abgesprungen? Inzwischen haben General Guderians Panzertruppen, deren Kampfkraft die aller anderen Truppen in und um Berlin übersteigt, den Fehrbelliner Platz erreicht; der kommandierende Offizier der Truppen, Bolbrinker, weigert sich, den Befehlen des frischernannten Obersten Remer zu gehorchen, und Goebbels und Remer beginnen, an Guderians Loyalität zu zweifeln. Gehört er zu den Aufrührern, oder steht er loyal zur Regierung? Hat Goebbels seine Trümpfe doch vergeblich ausgespielt? Einige Minuten lang ist Goebbels unschlüssig und versucht nervös und wieder vergeblich, sich mit Himmler in Verbindung zu setzen, um sich von ihm Unterstützung zu holen, doch Speer, der Mann mit dem angenehmen Gesicht und der großen Effektivität und den vielen Verbindungen, stellt den Telefonkontakt mit seinem Bekannten Bolbrinker her und versichert sich der Loyalität der Panzerstreitkräfte. Jetzt kann Goebbels sich seelenruhig von seinem Arbeitszimmer die Treppe hinunter zu der offenstehenden Tür und in den abendlich-dunklen Garten begeben, wo sich ungefähr einhundertundfünfzig Soldaten aus Remers Berliner Wachbataillon gespannt aufgestellt haben, um ihn reden zu hören. Ehe er in die Tür tritt, dreht er sich zu Speer um und sagt: - Wenn ich auch sie überzeugen kann, ist das Spiel gewonnen. Passen Sie auf, wie ich sie in die Tasche stecke! Goebbels stellt sich mitten in die Tür, hinter sich das Licht vom Flur, und beginnt zu der kleinen anonymen Versammlung zu sprechen, deren dunkle Gestalten miteinander verschmelzen. Er sagt nichts, was sie nicht schon gehört
hätten, er spricht über Loyalität zum Führer und die ganzen Siege, die vor ihnen liegen, und über die große Zukunft des Dritten Reiches, zu deren Sicherung jeder beitragen kann, doch seine selbstsicheren Gebärden, seine persönlichen Betonungen und seine betörende Stimme, die weder droht noch kommandiert und mit bühnenreifer Leidenschaft versehen ist, überzeugen alle in dieser kleinen Menge. Bald werden diese einhundertfünfzig Mann den Kern der Kompanie bilden, die auf Remers Befehl den Bendlerblock umstellt und seine Wachen entwaffnet und die Aufrührer von der Umwelt abriegelt.
Es ist fünf Minuten vor acht an diesem pechschwarzen Sommerabend, ein müder und gleichzeitig erleichterter und noch immer geschockter Hitler hält in seinem Arbeitsraum im Führerbunker seinem Sekretär Martin Bormann einen Monolog über das Wesen des Verrats. Einige Minuten zuvor hat Goebbels ihn angerufen und ihm mit seinem augenblicklichen Elan versichert, die Niederschlagung des Aufstandes sei bloß eine Frage von wenigen Stunden. SS-Obergruppenführer Jüttner hat sich bei Goebbels gemeldet und unternimmt allem Anschein nach große Anstrengungen, um den Aufstand niederzuschlagen. Doch wo bleibt Jüttners Chef Himmler? - Ich habe Himmler nach Berlin geschickt, sagt Hitler, ist er noch nicht angekommen? Hitler nippt an dem kochendheißen Tee aus der Tasse in seiner linken Hand (die rechte hängt immer noch schlaff herunter) und stellt sie vorsichtig ab, während er gedankenvoll in den Raum starrt. Bormann weiß, daß er ihn jetzt nicht unterbrechen darf, sondern nur die Ohren aufsperren und die Rolle dessen bestätigen soll, dem sich der Führer am liebsten anvertraut. Diese vertraulichen Mitteilungen haben ihm,
besonders im letzten Jahr im permanenten Stellungskrieg um die Gunst des Führers in seinem engsten Kreis von Generalen, Ministern und Parteileuten, entscheidende Vorteile verschafft. Aber abgesehen davon, wie vertrauensvoll der Führer sich in der einzelnen Situation erweist, so hat der radikale Bormann gelernt, daß der Führer letztlich unberechenbar ist und seine Meinung von einem Tag zum anderen gänzlich ändern kann. Es kommt also darauf an, die augenblickliche Gefühlslage des Führers zu erkennen und ihr nachzugeben, wenn man seinen Einfluß behalten oder sogar schärfen will, ja, ihr am besten voraus zu sein: und da es dem Führer gerade gefällt, optimistisch und zugleich tief mißtrauisch zu sein, stellt sich der glattgesichtige und leicht pausbäckige Bormann darauf ein, bis er bei nächster Gelegenheit demonstrativ seine Sympathie zeigen kann. Hitler ist hartnäckig: Goebbels hat ihn durch seine Tatkraft überrascht, wäre der Generalsstab nur zur Hälfte aus seinem Holz geschnitzt, dann hätte die Wehrmacht schon den Krieg gewonnen. Ist dieser Verrat nicht ein Zeichen, eine Warnung? Soll er nicht, wie Stalin bei seinem Prozeß gegen Tuchatschewski, einen entscheidenden Schritt machen und die ganze Generalstabsbande auswechseln, mit allen ihren Offiziersverbrechern? Frischen Kräften Platz machen, die die Schlacht in der Sowjetunion wenden können? Kann er noch die Möglichkeit einer verräterischen Zusammenarbeit zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Generalstab ausschließen? Was soll er glauben? - Die Generalität verdient Verachtung! wirft Bormann ein. Hitler faßt sich in einem Anflug von Schmerz an das Ohr mit dem verletzten Trommelfell und betrachtet seinen Zeigefinger, auf dem sich ein Flecken frischen Bluts abzeichnet, aber er ist von seinen eigenen Träumereien hingerissen.
- Jetzt sehe ich, warum in den letzten Jahren meine ganzen großen Pläne in Rußland scheitern mußten, sagt er. Alles war ein einziger Verrat! Hier liegt meine Rechtfertigung gegenüber der Geschichte! Meint man noch heute, ich hätte nur zufällig so viele SS-Divisionen wie möglich aufstellen lassen? Ich wußte genau, warum ich es gegen allen Widerstand getan habe… Plötzlich sieht Hitler Bormann an. - Ich sage Ihnen, Herr Bormann, wären Sie eines dieser Schweine gewesen, dieser Verbrecher im Bendlerblock, da wären Sie ohne Gnade gehenkt worden. - Ich weiß, sagt Bormann mit stockendem Atem. - Ich war zu nachsichtig, sagt Hitler, ohne den Blick von ihm abzuwenden, doch jetzt ist Schluß, dieses ist der Wendepunkt, die Schweine werden gehenkt, ihr Fiasko lähmt einen jeden, der so denkt wie sie, wir räumen auf, neue Generale werden das Kommando übernehmen. Der Sieg ist in Reichweite… - Davon war ich immer überzeugt, sagt Bormann und schenkt dem Führer mit schneller und sicherer Hand Tee nach. Hitler hat sich halb von ihm abgewandt und murmelt: Warum höre ich nichts? Ich muß wissen, ob sie aufgegeben haben… Es ist fünf Minuten nach acht, und Generalfeldmarschall von Witzleben befindet sich endlich auf der Treppe zum Bendlerblock. Der kleine, schmächtige Mann mit dem scharfgeschnittenen Gesicht, der in diesem Augenblick in der Welt der Verschwörer Oberbefehlshaber der Wehrmacht ist und nach langem Überlegen vor diesem Tag beschlossen hat, sich ihrem Vorhaben anzuschließen, ist sichtlich erregt und reizbar, als er den Flur entlanggeht und sich durch eine Gruppe junger Ordonnanzoffiziere den Weg zu Fromms Dienstzimmer bahnt. In einer Hand hält er den Marschallsstab, den er vor
vielen Jahren bei einer Zeremonie persönlich von Hitler überreicht bekam, in der anderen seine vergoldete Mütze. Den ganzen Tag lang hat er sich aus der Ferne und durch Gespräche mit General Wagner in Zossen und Meldungen von Hauptmann Schwerin von Schwanenfeld über die Entwicklung des Aufstandes orientiert, ohne selber einzugreifen, und er ist jetzt davon überzeugt, daß alles verloren ist; besser als jeder andere weiß er, daß sein Schicksal besiegelt ist. In seinem Dienstwagen hat er auf dem Weg zum Bendlerblock mit der eigenen Wut gekämpft, daß er, der bis zum Schluß Anhänger der Verhaftung Hitlers war, sich von Beck und Stauffenberg hat überreden lassen, seinen Rang und Namen für dieses hoffnungslose Unternehmen herzugeben. Wie konnte ein erfahrener Mann wie er sich von einem Bengel wie Stauffenberg verleiten lassen? Als Stauffenberg ihm als einer der ersten auf dem Flur entgegenstürzt, um Meldung über die augenblickliche Situation zu machen, brechen plötzlich seine Frustration, selber nichts unternommen zu haben, und seine Verbitterung, jetzt hilflos in der Klemme zu sitzen, aus ihm heraus. Ohne anzuhalten, ohne mehr als einen schnellen, arroganten Blick für ihn, sagt er: - Schöne Schweinerei, das! und geht mit Beck über den Flur zu Fromms Zimmer. Davor sammelt sich eine ständig anwachsende Gruppe von Offizieren, angelockt von dem Gerücht über Witzlebens Ankunft. Die Anwesenden beobachten, wie Beck mit seinen ruhigen Handbewegungen versucht, Witzlebens Wut zu dämpfen und seine Vorwürfe über die unmögliche Situation abzuwehren. Auch der derzeitige Chef des Heimatheeres, Hoepner, nimmt mit dunkler Miene und wiederholtem Kopfschütteln Aufstellung im Vorzimmer und erhält hier seine endgültige Bestätigung von der Sinnlosigkeit der ganzen Aktion.
- Ich bitte Sie um Verständnis für die vielen Probleme, auf die wir gestoßen sind, sagt Beck zu Witzleben; doch Witzleben, der sich bestimmt hinter Fromms Schreibtisch aufgestellt hat, fertigt Beck mit seinem Marschallsstab ab. - Probleme! Hier gibt es nichts anderes als Probleme! sagt er und verlangt, sofort Stauffenberg und Schwerin her beizurufen. Kaum sind die beiden ins Dienstzimmer eingetreten, als Witzleben sie mit Vorwürfen überhäuft: Hitler sei tot! behaupte man hier, doch er glaube nicht daran, und selbst wenn er tot wäre, warum seien weder das Regierungsviertel noch die Funkhäuser unter Kontrolle? Wie könne man Goebbels seine Erklärungen senden lassen? Warum seien nicht wenigstens einsatzfähige Verbände in der Stadt verteilt? Witzlebens Stimme kippt um, er schlägt mehrere Male mit der geballten Faust auf den Tisch, während Stauffenberg und Schwerin schweigend dastehen und ihm zuhören. - Was Sie heute hier gezeigt haben, meine Herren, ist reiner Dilettantismus! ruft Witzleben, und ihm bleibt einen Augenblick lang die Luft weg, hochrot im Gesicht. - Sie machen es sich zu leicht, im letzten Augenblick herzukommen und den Verärgerten zu spielen, sagt Stauffenberg plötzlich. Wo sind Sie selber gewesen, was haben Sie selber zu bieten? Witzleben traut seinen eigenen Ohren nicht und starrt Stauffenberg an. - Ich habe den Überblick, den haben Sie nie gehabt! - Den Überblick von der Seitenlinie, sagt Stauffenberg, doch weder Tatkraft noch Ideen! Es ist Ihnen noch nicht aufgegangen, daß dies hier noch nicht am Ende ist, warum sollen wir hier die Zeit vergeuden? - Ich bin Ihr Vorgesetzter, gegen mich brauchen Sie keinen Aufstand zu machen.
Sind Sie sich nicht darüber im klaren, daß wir getan haben, was wir konnten, und immer noch alles tun, wohingegen andere überhaupt nichts tun? sagt Stauffenberg. - Verschonen Sie mich mit Ihrem pathetischen Gerede, aus Ihrem Fiasko können Sie sich nicht herausreden. - Wir wollen uns wieder versöhnen, wir wollen alle dasselbe, sagt Beck und tritt zwischen sie. Doch Witzleben erhebt sich trotzig von Fromms Schreibtisch, nimmt Mütze und Marschallsstab und verläßt wortlos das Zimmer und den Bendlerblock genauso plötzlich, wie er gekommen ist. Er läßt die drei im Zimmer mit dem Gefühl zurück, daß er mit ihrer Sache nichts zu schaffen haben wolle. Ohne von den vielen unschlüssigen Offizieren in Fromms Vorzimmer Notiz zu nehmen, eilt Stauffenberg wieder in sein Zimmer, um läutende Telefone zu abzunehmen und die immer kühleren und mißtrauischeren Stimmen im Hörer zu ermutigen, die Aktion fortzusetzen oder die ausgegebenen Befehle noch einmal zu bedenken. Wie er so eifrig redend, mit dem Hörer in der Hand, dasteht, scheint er einer der wenigen im Bendlerblock zu sein, die noch nicht erkennen wollen, daß das Ende des Aufstandes bedrohlich nahe ist. Doch die zunehmende Verzweiflung in seiner Stimme verrät, daß seine inneren Deiche allmählich brechen. Zwischendurch streift sein Blick die schweigenden Gesichter von Schulenburg, York oder Berthold und zeigt ihm, was geschieht, wenn auch er aufgibt. Was in Olbrichts Zimmer vor sich geht, weiß er nicht mehr, und wie Mertz sich verhält, kann er nur erraten; instinktiv geht er davon aus, daß Mertz, genauso wie er, bereit ist, bis zum bitteren Ende zu gehen. Beinahe körperlich verspürt er, daß sich in dem Gebäude Kräfte zu einer Gegenaktion sammeln und daß seine Zeit geliehen ist; in einer Pause zwischen zwei Telefonaten bittet er York, Schulenburg, Haeften und Berthold, für alle Fälle die Pistolen
bereitzuhalten, doch als York bloß abweisend den Kopf schüttelt, greift er erneut zum Hörer und vergißt es wieder. In dieser Stunde setzt er sein Vertrauen immer verzweifelter auf die Ereignisse in Prag, Wien und Paris. Aus Prag hat der kommandierende Panzergeneral Schaal ihm schon gegen sieben versichert, daß er in Blick auf Sicherung der militärischen Situation alle nötigen Maßnahmen ergreifen und die SS- und Parteimachthaber der Stadt festsetzen werde. Aus Paris hat ihm sein Vetter Caesar von Hofacker bestätigt, daß der Aufstand seit zwei Uhr nachmittags in Gang ist und er mit dem kommandierenden General Stülpnagel auf dem Wege nach La Roche-Guyon zu einer Besprechung mit dem Oberbefehlshaber der Westfront, von Kluge, ist; Zweck der Begegnung ist es, den schwankenden Kluge zu überreden, sich doch dem Aufstand anzuschließen und die Westfront zu öffnen, das heißt den Krieg im Westen mit einem Befehl einseitig zu beenden. Telefonisch erörtert er mit Hofacker das Risiko, daß Hitler doch nicht tot sei, und Hofacker sagt zu ihm: - Kluge wird sicher Hitlers Überleben als Argument benutzen, um nichts zu unternehmen, er wird Angst haben und versuchen, die eigene Haut zu retten, das lädt uns anderen nur noch mehr Verantwortung auf, den Aufstand erfolgreich durchzuführen. - So denkt man hier in der Bendlerstraße nicht, antwortet er. - Denkt man nicht so, ist das Ganze zum Scheitern verurteilt, sagt sein Vetter und beendet das Gespräch. In Wien hat sein Bekannter, der kommandierende Panzertruppengeneral von Esebeck, ihm heute schon versichert, die Walküre-Befehle seien eingegangen und würden ausgeführt. Der Chef des örtlichen Generalstabs, Oberst Kodre, hat gegen sechs Uhr bestätigt, die Spitze der SSund Parteiführer in Wien sei verhaftet, der Wiener Polizeipräsident entwaffnet und mehrere Bahnhöfe und
Postämter besetzt, doch von dem eingeweihten Hauptmann Szokoll hat er inzwischen erfahren, daß es Probleme gibt, und er versucht jetzt, Oberst Kodre anzurufen. Als er ihn endlich erreicht, sagt er: - Was ist bei euch los, ihr werdet doch wohl nicht aus dem Ganzen ausbrechen wollen? - Keitel hat gerade angerufen, antwortet Kodre, mehr kann ich nicht sagen. Der Hörer wird aufgelegt, ein lautes Tuten geht durch Stauffenbergs Schädel, leicht benommen legt er auch auf. Über der weißen Uniformjacke, die er seit seiner Ankunft in der Bendlerstraße trägt, ist sein Gesicht totenbleich. Dann läutet das Telefon wieder, schlafwandlerisch greift er zum Hörer, Hauptmann Szokoll teilt ihm mit flüsternder und bebender Stimme aus Wien mit, Esebeck und Kodre hätten gerade Keitels Anruf erhalten und die Seite gewechselt. Ihr werdet doch nicht auch schlappmachen…? sagt Stauffenberg müde, ehe die Verbindung jäh unterbrochen wird. Er steht mit den Rücken zu den anderen und will den Hörer hinlegen, in Gedanken hat er sich schon umgedreht und begonnen, die entmutigende Nachricht weiterzugeben. Doch plötzlich wächst die Stille hinter seinem Rücken; sein Körper wird steif, er starrt die Wand vor sich an, sein Hals fühlt sich ganz trocken an; kalter Schweiß trifft seine Stirn, und irgend etwas trägt ihn fort; einige Sekunden lang ist er in einem Trichter, wo die Bilder von allem, was er im Begriff zu verlassen ist, durch ihn hindurchscheinen: ein sonniger Bergweg mit Brombeerbüschen und Gestrüpp und summenden Bienen und Berthold, der ihn von ferne ruft; das lichte, unbewegte Gesicht des Meisters mit der gebogenen Nase; die schwarze, verschwitzte und glatte Flanke eines Pferdes; die Gesichter der Freunde mit den blitzenden Augen in Yorks Haus, als er eines Abends spät ins Zimmer tritt und ihm ihre Energie und Sympathie entgegenströmen; er tanzt mit Nina,
sein Mund ist dicht an ihrem Hals. Und jetzt wieder: der sonnige Berg mit den Brombeerbüschen und Bertholds Stimme und Jungengesicht ganz weit weg unter einem überwältigend blauen Himmel. Der Hörer fällt ihm aus der Hand und schlägt auf dem Boden auf. Er bückt sich danach, doch irgend jemand kommt ihm zuvor und zieht den Hörer am Kabel hoch. Es ist Berthold. Er lehnt sich einen Augenblick an ihn. Sie sehen sich schweigend an und wissen Bescheid.
In denselben Minuten entkommen General Fromm und sein Adjutant, der beinamputierte Bartram, durch eine unbewachte Seitentür der Adjutantur; in den vielen Arreststunden haben Fromm und Bartram ungestört Pläne für den Fall gemacht, daß der Putsch mißlingt; Pläne mit dem Ziel, daß Fromm wieder das Kommando im Bendlerblock übernimmt und Bartram sofort beginnt, die regimetreuen Offiziere in Fromms Stab zu versammeln und sich mit der Wolfsschanze telefonisch abzusprechen und Truppen für eine Gegenaktion zu organisieren. Angeführt von General Spech, Inspektor der Offiziersausbildung, tauchen jetzt mehrere von Fromms Stabsoffizieren in Olbrichts Dienstzimmer auf und säen offensichtlich Zweifel über die Walküre-Befehle und Hitlers Tod, wohl wissend, daß Stauffenberg und den Verschwörern jetzt der Wind ins Gesicht bläst. - Ich kann nur wiederholen, sagt ein defensiver Olbricht, daß Hitler tot ist und daß wir deshalb diese Aktion eingeleitet haben. Und ich appelliere an Sie, die erteilten Befehle zu befolgen. Ihre Versicherungen nützen mir nichts, sagt General Spech, schließlich habe ich dem Führer einen Eid geschworen, und alle in diesem Raum stehen geschlossen hinter mir.
Da Olbricht nicht die Mittel hat, sie zurückzuhalten, verlassen die Offiziere das Gebäude, um sich mit Handgranaten, Maschinenpistolen und Pistolen zu versehen und auf einen Kampf mit der kleinen Gruppe der immer noch aktiven Verschwörer vorzubereiten. Während das Gerücht von der verlorenen Sache der Aufrührer in den Gängen die Runde macht, ein Gerücht, das noch keinen offenen Widerstand hervorruft, warten viele jüngere Offiziere in den zahlreichen Zimmern im großen Komplex des Bendlerblocks in Sicherheit ab, wägen ihren Standpunkt und ihre Möglichkeiten ab; gerade wer im Laufe des Tages mehr oder weniger freiwillig und halb unentschlossen gemeinsame Sache mit den Putschisten gemacht hat, dem wird allmählich der Boden unter den Füßen zu heiß, jetzt aber kann es das Leben kosten, wenn man nicht einen unzweideutigen Abstand zu dem – wie es scheint – mißglückten Aufstand an den Tag legt. Doch ist er mißglückt? Und sind Olbricht, Mertz und Stauffenberg nicht immer noch ihre Vorgesetzten, deren Befehlen sie gezwungenermaßen gehorchen müssen? Keiner von ihnen ist je zuvor in einer ähnlichen Situation gewesen, und alle haben gelernt zu gehorchen. In der allgemeinen Verwirrung unter den Ordonnanzoffizieren des Putsches – Kleist, Oppen, Fritzsche und Hammerstein – über die gerissene Befehlskette und die zusammengebrochene Bewachung des Gebäudes gelangt General Fromm in sein Dienstzimmer, wo Hoepner wieder seinen Platz eingenommen hat. Hoepner ist in seinem Mißmut nicht sonderlich überrascht, ihn durch die Tür eintreten zu sehen, und erhebt sich sofort von Fromms Schreibtisch, um sein Entgegenkommen anzudeuten. Fromm, der sich in der Situation noch unsicher fühlt, bleibt mitten im Raum stehen. - Ich möchte Sie um eines bitten, sagt er zu Hoepner und gibt sich freundlich.
- Ja? - Geben Sie mir Gelegenheit, in meine Privatwohnung in der oberen Etage zu gehen, damit ich mich umziehen kann, ich unternehme selbstverständlich nichts gegen Sie und Ihre Kollegen. - Natürlich können Sie zum Umziehen hochgehen, sagt Hoepner in kameradschaftlichem Ton, und ehe er sich’s versieht, ist der große und massige Fromm wieder zur Tür hinaus.
Es ist einige Minuten nach neun, als Oberleutnant Kleist aus der Stadtkommandantur zurückkehrt und meldet, Remers Wachbataillon habe die Seite gewechselt und Stadtkommandant Hase eine Einladung von Goebbels in seine Privatwohnung am Brandenburger Tor angenommen. Während Stauffenberg in seinem Dienstzimmer in einer letzten Anstrengung versucht, mit Krampnitz und Cottbus in Verbindung zu kommen, um sich dort der Unterstützung zu versichern, zieht in der Dunkelheit eine Abteilung des Wachbataillons vor dem Bendlerblock auf und postiert vor allen Eingängen Wachen mit Maschinengewehren und entwaffnet den Wachdienst am Haupteingang. Große Lichtkegel von hastig aufgestellten Projektoren in dem verdunkelten Berlin bewegen sich kurz darauf über die Außenfassade des Gebäudes und lassen erkennen, daß es umzingelt ist. In Mertz’ Zimmer beraten Schulenburg, York, Gerstenmaier und Haeften mit Mertz die immer bedrohlichere und hoffnungslosere Situation. Mertz starrt aus seinem Fenster in das gespenstisch starke Licht hinunter und wendet sich mit einer resignierten Geste den anderen zu. - Es ist vorbei, die Sache ist verloren, sagt er. - Doch nicht ganz? sagt Schulenburg ohne Überzeugung.
- Alles ist versucht worden, sagt Mertz. - Es gibt zu viele Loyalisten in Deutschland, sagt York, das haben wir unterschätzt. - Gisevius brachte eine Meldung von Nebe, wonach es ein eklatanter Fehler von Stauf gewesen wäre, nur eine Bombe zu benutzen, sagt Mertz und sieht Haeften an. - Wir wurden mittendrin unterbrochen, sagt Haeften, und Stauf war sich ganz sicher, daß eine reichen würde. - In Hitlers Betonbunker hätte es auch gereicht, sagt Mertz und zuckt mit den Schultern. - Zufälle? sagt Schulenburg. - Unheilvolle Zufälle, sagt Mertz bedrückt, aber es hat keinen Sinn, sich jetzt zu ärgern. - Wir müssen unsere Waffen bereithalten, sagt Gerstenmaier. - Eine schlechte Idee, sagt York, notfalls läßt Göring das ganze Gebäude einfach zusammenbomben. In seinem zehn Meter entfernten Dienstzimmer auf demselben Flur hat Ulbricht in der Zwischenzeit eine Besprechung mit den nichteingeweihten Offizieren seines Stabes beendet, den Gruppenleitern Herber, Heyde, Harnack, Pridun und Fließbach; müde hat er sie überreden wollen, ihren Widerstand gegen den Putsch aufzugeben, und ihnen befohlen, für die Aufstellung einer neuen Wachkompanie zu sorgen und das Gebäude zu sichern. Sie haben Ulbrichts Dienstzimmer in erregter Stimmung verlassen und diskutieren in Heydes Dienstzimmer gerade ein weiteres Mal ihre Lage: Sollen sie sich definitiv weigern, Ulbrichts Befehlen zu gehorchen? Gegen wen sollen sie das Gebäude sichern? Können sie es noch immer verantworten, gegen ihren Eid auf den Führer zu handeln? Während sie noch immer diskutieren, wird gemeldet, Fromm befinde sich nicht länger unter Arrest und mehrere seiner Stabsoffiziere hätten Waffen ins Haus geschafft. Die Erregung
in der Gruppe wächst, man erwägt, sich mit Fromms Stabsoffizieren zusammenzutun und sich durch eine schnelle Aktion die Unterstützung vieler zögernder junger Offiziere zu sichern. Herber sagt: - Wir müssen die Diskussion beenden. Wir sind deutsche Offiziere. Noch eine Minute länger, und man wird uns für unsere Aufsässigkeit zur Verantwortung ziehen, obwohl wir zu keinem Zeitpunkt in die Pläne der Putschisten verwickelt waren. Für mich gilt nur: Ist man für oder gegen den Führer!? Und sind wir nicht alle für ihn? Wollen wir bei diesem Verrat mitmachen? - Selbstverständlich nicht, sagt Heyde, und keiner widerspricht ihm. - Wir bewaffnen uns und gehen zu Olbricht! sagt Herber mit einem wilden Ausdruck in den Augen. In einer Mischung aus Angst und selbstgerechtem Zorn und einer gewissen Erleichterung, sich über die drückende Verwirrung hinwegsetzen zu können, verlassen sie Heydes Dienstzimmer und gehen zu einem anderen Zimmer am Ende des Flures, wo sie sich schnell bewaffnen. Ausgerüstet mit Maschinenpistolen, Pistolen und Handgranaten, laufen sie wie Schakale den Flur entlang und drängen andere Offiziere vor sich her in Olbrichts Zimmer; als Olbricht sie kommen sieht, erhebt er sich von seinem Schreibtisch und steht einen Augenblick wie gelähmt da. Herber tritt mit erhobener Maschinenpistole vor ihn und ruft: Herr General, sind Sie für oder gegen den Führer? Olbricht versteht die plötzliche Verachtung in Herbers Augen nicht und starrt stumm in sein Gesicht. - Ich verlange, mit General Fromm zu sprechen! sagt Herber mit schallender Stimme. - Ja, wir verlangen, mit Fromm zu sprechen, ruft Heyde.
- Mit Fromm können Sie nicht sprechen, aber ich gehe mit Ihnen gern zu General Hoepner! sagt Olbricht. In demselben Moment betritt Stauffenberg das Zimmer, angelockt von den lauten Stimmen und dem Lärm der vielen Männer. Einige Sekunden lang ist alles still, mehrere bewaffnete Offiziere drehen sich zur Tür um und bekommen Stauffenbergs verblüfften Ausdruck mit; Stauffenberg starrt den verschreckten Olbricht und die ratlosen Sympathisanten an, die zurück ins Zimmer gedrängt wurden, und blickt einen Augenblick nach links, wo die Tür zum Nachbarzimmer offensteht. Irgendwer ruft: Packt ihn! Pridun und zwei andere Offiziere treten einige Schritte vor und versuchen, ihn festzuhalten, doch er reißt sich los und flieht durch den Nebenraum in Mertz’ Zimmer, wo er die Tür hinter sich zuwirft. Mit dem Rücken zu den verängstigten Mitverschwörern im Zimmer macht er seine belgische Pistole vom Koppel los und hält sie gegen die Armprothese, die er zugleich in die Hüfte preßt, so kann er die Pistole mit seinen drei Fingern laden. Unter Lärmen und Getöse macht sich die Gruppe bewaffneter Männer augenblicklich über den Flur und die Treppe zu Fromms darübergelegenem Dienstzimmer auf; plötzlich tritt Hauptmann Klausing aus einem Zimmer am Ende des Flures und schießt auf Herber, ohne zu treffen; man schießt zurück und geht in Deckung; mehrere Schüsse fallen. Stauffenberg öffnet die Tür zum Flur, schaut nach links, hebt die Pistole und schießt auf Pridun, ohne ihn zu treffen, statt dessen wird er selber von einer Kugel an der linken Schulter getroffen. Eine Blutspur hinter sich zurücklassend, zieht er sich über die Treppe nach oben in Fromms Zimmer zurück, jetzt ist es nur eine Frage der Zeit, bis seine Widersacher ihn fassen. Am Vorzimmer angelangt, sieht er durch die Glastür Beck und Hoepner und Mertz mitten im Zimmer am Kartentisch,
Haeften ist dabei, in einer Schale auf dem Boden Papiere zu verbrennen. In einer letzten verzweifelten Hoffnung bittet er Fromms Sekretärin um eine Verbindung zu Hofacker in Paris. Statt seines Vetters hat er Oberst Linstow am Hörer, der sagt: - Die Verhaftung der SS- und Parteiführer ist im Gang, die Hinrichtungen sind vorbereitet, doch mit Kluge ist nichts anzufangen. Auf dem Flur, in einiger Entfernung von Fromms Zimmer, sind Lärm und Stimmen zu hören, einige Sekunden lang wird es Stauffenberg schwarz vor Augen. - Die Schergen lärmen schon auf dem Flur, sagt er und legt den Hörer auf. Einige Sekunden lang ist er mit Fromms Sekretärin allein im Vorzimmer. Er nimmt seine Augenklappe ab und legt sie neben das Telefon auf den Tisch. Er blutet, ist verraten und wund. Sein Blick sucht das Gesicht der Sekretärin. - Sie haben mich ja alle im Stich gelassen! sagt er. Sie nickt freundlich, ohne zu verstehen, was er meint.
Es ist ungefähr elf Uhr abends, Hitler hat Dr. Morell in seinen Bunker rufen lassen, damit er nach der Blutung in seinem Ohr sieht. Alle Meldungen aus Berlin haben ihn darin bestätigt, daß der Putschversuch so gut wie niedergeschlagen ist, Goebbels und Himmler sind auf ihrem Platz in Berlin, er hat nichts zu befürchten; seine Adjutanten haben ihn wiederholt an die Rede erinnert, die er bald halten wird, im Vortragssaal stellt man schon die Gerätschaften auf, aus Berlin macht Goebbels Druck und will die Rede per Fernschreiber verschicken; doch es ist ein seltsames Vakuum entstanden, er selber verspürt, gegen seine Gewohnheit, keine Lust, irgend etwas aufzuschreiben, geschweige denn zu reden.
Als Morell zu ihm hereinkommt, klagt er über den schlaffen rechten Arm und daß die Telefonverbindung zu Eva Braun auf dem Berghof unterbrochen ist. Morell stoppt die Blutung in seinem rechten Ohr und gibt ihm zwei Spritzen mit einer Extradosis Glukose, Belladonna und Koffein, kann aber nichts für den Arm tun. Hitler ist gereizt. - Denken Sie daran, mein Führer, es ist ein Wunder, daß Sie überhaupt hier sitzen, sagt Morell. Hitler schaut ihn lange mit seinem verschleierten Blick an und wendet dann die Augen von ihm ab. - Sie kennen mich nicht, sagt er endlich. Ich würde mir wünschen, daß es vorbei gewesen wäre, auf einen Schlag: vorbei. Vorbei diese Schlaflosigkeit, Müdigkeit, die ganzen Sorgen, der nervliche Druck. Das wäre am einfachsten gewesen. Morell bleibt stumm und weiß nicht, was er sagen soll.
Wie auf ein Signal strömen junge Offiziere aus ihren Zimmern im Bendlerblock auf den Flur, an dem Fromms Dienstzimmer liegt, und schließen sich rufend und mit erhobener Pistole der bewaffneten Gegenaktion des Gruppenleiters Herber an; einige laufen über den Flur die Treppen hinunter, um die Verräter aufzuspüren, andere dringen in die noch geschlossenen Dienstzimmer ein; wieder andere schließen sich mitten in diesem Lärm Herber und den Gruppenleitern aus Olbrichts Stab an. Überall im Gebäude hört man den Ruf: - Für oder gegen Hitler; Olbricht vor sich herschiebend, dringen Herber und seine Leute in Fromms Vorzimmer ein und reißen Stauffenberg mit hinein; berauscht von seiner plötzlichen Macht, ruft Herber, wobei er mit seiner Pistole auf Hoepner zielt: - Sind Sie sich nicht im klaren, daß die Front durch Ihre
Walküre-Befehle keine Ersatztruppen erhalten hat? Was wird hier gespielt? - Ich erwarte Befehle von Feldmarschall Witzleben, mehr kann ich nicht sagen, sagt Hoepner, ohne die Augen von der Pistolenmündung abwenden zu können. - Wir wollen mit keinem Ersatz reden, wir wollen mit Fromm selber reden! ruft Herber. - General Fromm ist in seinem Zimmer, sagt Hoepner. - Holt ihn! sagt Herber, und einer der Umstehenden läuft auf den Flur hinaus, um Fromm aufzusuchen. In demselben Augenblick betritt Fromm mit bewaffnetem Gefolge den Flur, schwer, scheinbar selbstsicher und mit frischgewienerten Stiefeln schreitet er über den schlecht erleuchteten schmalen Flur und ähnelt einem Riesen, der einen langen Schatten hinter sich wirft; über die Ereignisse im Haus ständig auf dem laufenden gehalten, hat er sorgfältig diesen Augenblick für sein Wiedererscheinen gewählt und ohnehin beschlossen, den nächsten und letzten Akt zu inszenieren. Ein Befehl zur Aufstellung eines Hinrichtungskommandos unter Führung von Leutnant Werner Schady ist schon vorbereitet. Die Zeit drängt, er muß seine Hände reinwaschen und Tatkraft beweisen, ehe Himmler und die SS übernehmen; alle Kronzeugen seines Schwankens und Fraternisierens mit den Aufrührern müssen aus dem Wege geräumt werden. Es geht ohnehin schon das Gerücht um, er sei ein Feind der Partei. Dies ist die Gelegenheit, das Gegenteil zu beweisen. Er schwitzt, seine Hände sind fahrig, aber hier, wo es um seinen eigenen Hals geht, handelt er unbewegt und ohne kameradschaftliche Rücksicht, wie eine Maschine. Als er das Vorzimmer erreicht und zu der versammelten Gruppe Offiziere in seinem Dienstzimmer tritt, macht man ihm sofort Platz, und um ihn herum wird es still, während er mit kurzem ernstem Nicken und angespanntem Kiefer den Aufzug
mustert: Vor sich hat er Herber und die übrigen Gruppenleiter aus Ulbrichts Stab, die mit erhobenen Pistolen die schon jetzt sechs identifizierten Führer der Verschwörung und des Aufstandes in Schach halten. Am Tisch mit den Karten von Berlin und dem Reich und den Markierungen der hoffnungslosen Positionen des Aufstandes lehnt ein bleicher und verbissener Olbricht; Stauffenberg, der irgendwo hinter ihm steht, tritt dicht an den Tisch, sein linker weißer Uniformärmel ist von der offenen Schußwunde mit Blut befleckt, und das Blut tropft auf den Boden, seine graue Gesichtsfarbe läßt seine Schmerzen erahnen; während er Fromm anstarrt, der einige Sekunden lang pompös dasteht und den Augenblick genießt, ist die Verachtung in seinem Gesicht deutlich zu erkennen; Beck sitzt allein an dem kleinen Tisch und gleicht dem, was er plötzlich ist: einem alten, müden Mann, der zuviel gesehen hat und sich dennoch an die Existenz klammert; etwas abseits stehen Mertz, Hoepner und der junge Haeften, wie eine Reihe bereits Angeklagter und Verurteilter. - So, meine Herren, sagt Fromm, jetzt mache ich es mit Ihnen so, wie Sie es heute mittag mit mir gemacht haben! Keiner sagt etwas. - Sie sind beim Hochverrat ergriffen worden, und Sie sind alle festgenommen, fährt Fromm fort, tritt mitten in den Raum und vermeidet es, Stauffenberg anzusehen. Sie müssen augenblicklich Ihre Waffen abliefern! Mertz, Haeften, Hoepner und Olbricht reichen ihnen ihre Pistolen, Stauffenberg hat seine nicht mehr. - Ich möchte meine zum privaten Gebrauch behalten, sagt Beck mit feierlicher Stimme und legt seine Pistole vor sich auf den Tisch. - Bitte sehr, sagt Fromm und wendet sich ihm zu, tun Sie das, aber dann sofort!
Alle Umstehenden sehen in Becks Richtung; einen Augenblick lang ist es totenstill, während Beck seine Pistole ergreift und die Mündung mit leicht zitternder Hand gegen seine rechte Schläfe hält. - Ich denke in diesem Augenblick an die Zeit von früher… sagt Beck mit gebrochener Stimme. - Darüber wollen wir jetzt nicht sprechen! unterbricht Fromm ihn. Jedenfalls bitte ich zu handeln. Mit gequältem Blick atmet Beck ein paarmal schwer und drückt ab, doch die Kugel fährt in die Decke und hinterläßt nur einen leichten Streifschuß an der Schläfe. - Nehmen Sie ihm die Waffe weg! befiehlt Fromm zwei Offizieren, die sofort zu seinem Tisch gehen. - Nein, ich behalte sie, sagt Beck. - Nun gut, sagt Fromm ärgerlich. Ich gebe Ihnen noch eine Chance. Stauffenberg anschauend, hebt Beck wieder langsam die Pistole gegen die Stirn und drückt ab. Sein Kopf schlägt nach hinten, sein Körper bricht zusammen, und er fällt vom Stuhl, wo er stöhnend liegenbleibt, noch lebend. Ohne von Beck und seinem Todeskampf Notiz zu nehmen, wendet Fromm sich den fünf anderen zu: - Wenn Sie noch irgend etwas zu sagen oder aufzuschreiben haben, steht Ihnen unterdessen noch ein Augenblick zur Verfügung, sagt er. Hoepner tritt einen Schritt vor: - Ich versichere Ihnen, daß ich die ganze Angelegenheit nicht gewollt habe. - Wollen Sie sich selbst erschießen oder in Arrest bleiben? antwortet Fromm trocken. - In Arrest bleiben. Ich fühle mich in diesem Sinne nicht schuldig und als ein solcher Schweinehund, daß ich mich nur selbst erschießen will. Ich bin meiner Familie gegenüber verantwortlich, was auch immer ich getan habe.
Olbricht bittet um die Möglichkeit, einige Zeilen aufzuschreiben, und Fromm sagt mit einem plötzlichen Vibrato in der Stimme: - Kommen Sie an den runden Tisch, an dem Sie mir immer gegenübergesessen haben. Als die vier zum Tode Verurteilten über den Treppenaufgang in den Innenhof hinaustreten, ist die Bühne schon für eine schnelle Exekution vorbereitet. Zwei Projektoren beleuchten den Hof und werfen einen grellen, gespenstischen Schein über alle Gesichter. Soldaten in Kampfkleidung aus Remers Wachbataillon, das in den Hof eingerückt ist, bewachen Tor und Eingänge; eine Gruppe neugieriger Offiziere und Feldwebel hat sich schon an den Außenkanten der Lichtfelder bereitgestellt, und weitere kommen, angelockt von dem Gerücht eines dramatischen Ereignisses, aus den Gebäuden gelaufen. Das Erschießungskommando, bestehend aus Unteroffizieren unter dem Befehl von Leutnant Werner Schady, hat, in Licht getaucht, zehn Meter von der Mauer Aufstellung genommen. Die Reihe steifer, anonymer Soldatengesichter trifft die Verurteilten wie ein Schlag, als sie beim Summen der gedämpften Stimmen und Rufen ihrer pistolendrohenden Begleiter einige Schritte nach links und vor einen kleinen Sandhaufen an der Mauer geführt werden. Man hält die drei anderen zurück und befiehlt als ersten Olbricht vor. Zögernd und den Blick auf den schwarzen, von Sternen übersäten Himmel gerichtet, der von dem blendenden Licht durchschnitten wird, tritt er einige Schritte vor und bleibt stehen. Seine Arme sind verkrampft, ein Kommando ertönt, die Soldaten legen mit einem scharfen unisonen Klicken an; ein neues Kommando ertönt, und die Schüsse gellen mit einem Echo von den Mauern wider und fällen Olbricht, der, einen Arm als Schutz vor sich haltend, hintenüberfällt. Im selben Augenblick gibt Haeften dem blutenden Stauffenberg einen
nervösen Klaps auf den Rücken. Stauffenberg dreht sich um und starrt Haeften und Mertz mit einem bleichen Lächeln an. Wir sehen uns wieder, sagt er. Er ist als nächster an der Reihe und geht, als sein Name aufgerufen wird, auch einige Schritte nach links und bleibt wie ein aufgescheuchtes Tier mitten in einem Lichtkreis stehen. Er ist weit weg und gleichzeitig ganz hier: Bilder von den Kindern unter den Apfelbäumen in Lautlingen und vom blitzblauen Himmel über dem Albfelsen brennen sich in seine Netzhaut ein; Ninas Lachen ist ihm ganz nahe; ein betrübtes Gesicht in der Menge vor ihm ähnelt plötzlich Berthold; ein Blutstropfen läuft über den Ringfinger der linken Hand. Alles in wenigen Sekunden. Und der Raum um ihn ist übergroß und unwirklich schön. Er will bleiben, nicht sterben, nein, er will schlafen, Frieden haben. Der Befehl ertönt, das Hinrichtungskommando legt an, mit erhobenen Armen wirft Haeften sich in die Schüsse und fällt vor seine Füße. Er will sich über ihn beugen, wird aber zurückgerissen und der tote Haeften weggezogen. Nun drängt man ihn nach vorn, er wankt einige Schritte vorwärts, das Licht blendet ihn, er sucht eine Tür, eine Welt. Der Befehl ertönt, das Klicken des Hinrichtungskommandos, und wieder der Befehl. - Feuer!
Er ruft: - Es lebe das geheime Deutschland!
Er wird getroffen, fällt blutend um, zuckt einige Sekunden
mit dem rechten Bein. Ist nicht mehr. Die Reihe ist an Mertz, der ruhig einige Schritte vorgeht, während er den Namen seiner Frau murmelt. In den Sekunden vor dem Kommando wirft er einen Blick auf seinen toten Freund, der ins Leere starrt. Er wendet die Augen dem schneidenden Licht und den schattenartigen Gesichtern des Hinrichtungskommandos zu. Verräter! ruft eine Stimme in der
Dunkelheit. Er richtet den Körper auf und führt die Hand ans Herz. Einen Augenblick später ist er tot. Es ist einige Minuten vor halb zwölf Uhr abends. Becks Leiche wird über die Treppen des Bendlerblocks hinuntergeschleift und hinterläßt auf den Stufen eine Blutspur. Zusammen mit den Leichen Stauffenbergs, Mertz’, Olbrichts und Haeftens wirft man sie auf die Ladefläche eines Lastautos und fährt sie eilends zu dem nahen Friedhof der MatthäiKirche in Schöneberg. In der nächtlichen Dunkelheit wird die Ladung in die Kapelle gebracht, deren Fenster verhängt sind und die nur von einigen Stearinkerzen erleuchtet ist. Hier stehen die Särge bereit. Totengräber legen die Leichen in die Särge und versenken sie in den bereits ausgehobenen Gräbern. Kein Laut ist vom Friedhof zu hören, als würde statt Erde Luft auf die Särge geworfen. Jede Spur der Toten soll getilgt werden.
In Goebbels’ Arbeitszimmer im Palais nahe am Brandenburger Tor ist es kurz nach Mitternacht. Goebbels ist in glänzender Laune. Standortkommandant General Hase wurde erst zu einem kleinen Nachtimbiß eingeladen und dann unter Arrest gestellt. General Fromm ist, nachdem er in Goebbels’ Arbeitsraum um ein persönliches Gespräch mit dem Führer gebeten hatte, mit dem Hinweis auf einen kleinen Nachtimbiß in ein Nebenzimmer geführt – und verhaftet worden. Himmler ist endlich aus seinem Versteck aufgetaucht und hat die totale Niederschlagung des Aufstandes bestätigt. Reichsführer Himmler hat die Stadt völlig unter Kontrolle, und er berichtet, weshalb er scheinbar verschwunden gewesen war.
- Eine alte Regel, sagt er mit trockner Diktion. Meide das Zentrum und beginne deine Gegenaktionen von außen. Goebbels, Himmler, Speer und ihre Adjutanten sitzen um den runden Tisch im Arbeitsraum beim Cognac, während sie auf die Rundfunkrede des Führers warten. - Da es Ihnen nun gefiel, verschwunden zu sein, sagt Goebbels mit einem kleinen Lachen zu Himmler, habe ich, praktisch gesagt, die Situation im Zentrum allein geklärt. Himmler sieht ihn schweigend an. - Daß diese Offiziere so ungeschickt sein konnten! fährt Goebbels fort. Sie hatten eine große Gelegenheit. Welche Trümpfe! Und welche Kinderei! Wenn ich daran denke, was ich angestellt hätte! Warum haben die nicht das Funkhaus besetzt und die wildesten Lügen verbreitet? Hier stellen sie vor meiner Tür Wachposten auf, aber lassen mich ganz ruhig mit dem Führer telefonieren und alle Streitkräfte gegen sie mobilisieren! Nicht mal mein Telefon haben sie unterbrochen! So viele Trümpfe in der Hand zu halten… Welche Dilettanten! Alle um den Tisch Versammelten nicken, und man trinkt auf den Sieg.
Es ist eine halbe Stunde nach Mitternacht. In der Wolfsschanze hält Hitler in einer niedrigen Baracke mit holzverkleideten Wänden und schweren Kronleuchtern – von Punktlampen angestrahlt und ein kleines Bild von einem Sonnenuntergang im Schwarzwald in seinem Rücken – seine kurze Radioansprache an das deutsche Volk. Vor einem Rednerpult mit Mikrophonen stehend, schaut er während der Rede gelegentlich über die kleine Versammlung seiner engsten Mitarbeiter, die ihn von ihren Stuhlreihen im Saal aus betrachten. Darunter befinden sich SS-Obergruppenführer Julius Schraub, Hitlers persönlicher Adjutant Hermann
Fegelein, der Generalleutnant der Waffen-SS Generaloberst Alfred Jodl, der Großadmiral Karl Dönitz und der Sekretär und Reichsleiter Martin Bormann, letzterer gemütlich in seinen Sessel zurückgelehnt. Gemeinsam mit ihm hat Hitler im letzten Augenblick die Formulierungen seiner Rede verschärft. Hitler hat die Rede damit begonnen, die beiden Gründe darzulegen, weshalb er sich an das deutsche Volk wendet: Es soll seine Stimme hören und wissen, daß er unversehrt und gesund ist; er will ihm von einem Verbrechen berichten, das in der deutschen Geschichte seinesgleichen sucht. Jetzt hebt er die Stimme und sagt: - Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und zugleich mit mir den Stab praktisch der deutschen Wehrmachtsführung auszurotten. Daß er überlebt habe, sei ein Zeichen der Vorsehung, ein Zeichen, daß er sein Lebensziel verfolgen solle. Gegen Ende seiner Rede sagt er erregt: - Diesmal wird nun so abgerechnet, wie wir das als Nationalsozialisten gewohnt sind. Nach der Rede lobt man den Führer von allen Seiten. Ganz ungewohnt für ihn, schläft er am 21. Juli durch, ohne plötzlich aufzuwachen oder Alpträume zu haben, von vier Uhr morgens bis halb zwölf desselben Tages.
Während Hitler einen traumlosen Schlaf schläft, werden die eilends verscharrten Särge mit den Leichen Stauffenbergs, Mertz’, Ulbrichts, Becks und Haeftens auf Himmlers ausdrücklichen Befehl aus der trocknen Erde des MatthäiFriedhofs ausgegraben. Man verbrennt die Leichen und fährt die Urne mit der noch warmen und schwach rauchenden Asche auf ein Brachfeld am Rande Berlins. Das Wetter war umgeschlagen, der Tag war
grau und windig – ein perfekter Tag für dieses Vorhaben. Ein Küster und ein SS-Offizier tragen abwechselnd die schwere Urne, bis man an eine geeignete Stelle kommt. Dann streut man die Asche in den Wind. Die schneeweiße Asche fährt in einem Wirbel hoch und fliegt überallhin.