Klappentext Zu viel Ehrlichkeit schafft Feinde, zumal im Rennsport, wo nicht jeder saubere Hände hat. Außer Jonah Dereh...
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Klappentext Zu viel Ehrlichkeit schafft Feinde, zumal im Rennsport, wo nicht jeder saubere Hände hat. Außer Jonah Dereham. Nachdem ein Sturz seine Jockey-Karriere jäh beendete, hat er sich als Agent für Vollblutpferde einen redlichen Namen gemacht. Sein stetig wachsender Erfolg weckt aber den Neid einiger Berufskollegen, die sich auf schmutzige Geschäfte spezialisiert haben. Als Dereham sich standhaft weigert, bei den korrupten Machenschaften mitzuziehen, wird es brenzlig ernst. Nur mit einiger Mühe gelingt es ihm, seinen Kopf noch rechtzeitig aus der Schlinge zu ziehen.
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Dick Francis
Zuschlag Roman Aus dem Englischen von Ruth Keen
Diogenes
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Titel der 1974 bei Michael Joseph Ltd., London, erschienenen Originalausgabe: ›Knock Down‹ Copyright © 1974 by Dick Francis Die deutsche Erstausgabe erschien 1975 unter dem Titel ›Voll Blut‹ im Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin Umschlagzeichnung von Tomi Ungerer
Neuübersetzung
Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 1998 Diogenes Verlag AG Zürich 250/98/43/1 ISBN 3 257 23.095 8
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1 Mrs. Kerry Sanders sah gar nicht wie ein Todesengel aus. Sie erinnerte vielmehr an eine reiche, zornige amerikanische Lady, die gerade ihren durchsichtigen Schirm aufspannte, um sich vor einem kalten Regenschauer zu schützen. »Das«, fragte sie ungläubig, »soll die gottverdammte Auktion von Ascot sein?« Sie war klein und äußerst elegant in Wildleder mit Nerzbesätzen gehüllt. Ihre zarte Haut konnte Pfirsiche beschämen, und ihr Parfüm hielt mühelos britischem Oktoberwetter und hundert Pferden in unmittelbarer Nähe stand. Mit ihren vierzig Jahren trug sie ihre Lebenserfahrung so selbstbewußt zur Schau wie Diamanten; und Diamanten trug sie an jedem einzelnen Finger wie einen groben Schlagring. »Ascot?« wiederholte sie mit einer Herablassung, die an Seidenhüte, Champagner und königliche Rasenanlagen denken ließ. »Dieser jämmerliche Verhau?« »Ich habe durchaus versucht, Sie vorzuwarnen«, entschuldigte ich mich sanft. Sie warf mir einen scharfen, unfreundlichen Blick zu. »Sie haben mir nicht gesagt, daß es hier wie in einem Roman von Dickens aussieht.« Ich schaute zu dem primitiven Auktionsring hinüber: acht Meter im Durchmesser, den Unbilden des Himmels schutzlos ausgesetzt. In der Mitte ein Flecken wilden Ackergrases, drum herum ein Asphaltweg, auf dem die Pferde auf und ab geführt werden konnten. Dem Komfort der Kunden diente eine schlichte hölzerne Überdachung rund um den Asphaltweg, die ebenso wie die Rückwand aus Planken zusammengezimmert worden war. Pläne für bessere Zeiten waren schon über das Reißbrettstadium hinaus gediehen, aber an jenem Tag 5
schlummerte der geplante freundliche Ziegelbau mit bequemen Sesseln offenbar noch in der Ideenkiste des Architekten. Die einzige verfügbare Sitzgelegenheit war ein fünfzehn Zentimeter breites Holzbrett, das in Hüfthöhe an der hinteren Wand des Verschlags verlief. Allerdings ließ man sich selten für länger darauf nieder, da dies an einer bestimmten Stelle Betäubungsgefühle hervorrief. Der Wind pfiff mit ganzer Kraft durch das hölzerne Rund des Auktionsrings, aber es war durchaus möglich, sich an Regentagen mit etwas Glück ein trockenes Plätzchen zu sichern, vorausgesetzt, man war als erster da. »Früher war es noch schlimmer«, sagte ich. »Unmöglich.« »Früher gab es überhaupt keinen Unterstand.« Sie registrierte den amüsierten Unterton, was sie endgültig gereizt stimmte. »Sie haben gut lachen. Sie sind ein rauhes Leben gewohnt.« »Ja... Also wie steht’s«, sagte ich. »Wollen Sie sich das Pferd ansehen?« »Wo ich schon mal da bin«, sagte sie widerwillig. Zur einen Seite des Auktionsrings befand sich eine herrliche Stallanlage aus der Jahrhundertwende mit gepflastertem Vorhof, ein Glanzstück verglichen mit der Bretterbude von einem Auktionsring. Die Boxen mit blitzsauberen Türen reihten sich in einem weiträumigen Viereck aneinander. Steinbögen mit feinziselierten Verzierungen überspannten die Eingänge zum Hof, entlang der Dächer saßen hübsche Entlüftungstürmchen, und Mrs. Kerry Sanders wurde dem ganzen Unternehmen gegenüber sichtlich gewogener. Die Pferde, die in dieser noblen Behausung untergebracht waren, wurden in der Regel erst zum Schluß der Auktion angeboten. Leider gehörte das Pferd, das sie sich unbedingt ansehen wollte, bevor ich es für sie kaufte, nicht dazu, und so
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führte ich sie mit einem kleinen Seufzer in die entgegengesetzte Richtung. Sofort zogen wieder Gewitterwolken in ihren blaugrünen Augen auf, und zwei scharfe senkrechte Linien wurden zwischen ihren Augenbrauen sichtbar. Vor uns erstreckte sich eine weite Fläche aus unkrautbewachsenem nassem Gras, an deren anderem Ende eine Reihe nüchterner, schwarzer Holzstallungen lag. Der Regen prasselte plötzlich mit vermehrter Kraft auf den glänzenden Schirm nieder, und das feinkörnige Ledermaterial ihrer Schuhe setzte an den Rändern dunkle, lehmige Flecken an. »Das können Sie nicht von mir verlangen«, sagte sie. Ich wartete ab. Sie war aus freien Stücken gekommen, ich hatte sie keineswegs dazu überredet. »Ich kann es mir ja noch im Ring anschauen«, sagte sie, was sicherlich nicht der richtige Weg war, ein Pferd zu kaufen. »Wie lange dauert es noch, bis es drankommt?« »Ungefähr eine Stunde.« »Dann lassen Sie uns aus diesem gottverdammten Regen ins Trockene gehen.« Wenn man nicht im Freien bleiben wollte, konnte man sich nur in einen relativ neuen Holzbau flüchten, der an einem Ende Kaffeemaschinen und an dem anderen eine Bar beherbergte. Mrs. Sanders rümpfte beim Eintreten angesichts der dampfenden Menschenmassen unwillkürlich die Nase, und auch mir schien, wie es einem immer geht, wenn man die Dinge durch die Augen seiner Gäste betrachtet, der Boden mehr noch als sonst mit weggeworfenen Plastikbechern und Sandwichfolien übersät. »Einen Gin«, verlangte Kerry Sanders angriffslustig, noch ehe sie nach ihren Wünschen gefragt wurde. Ich bedachte sie mit einem kleinen Lächeln, das sie hoffentlich als aufmunternd empfand, und mischte mich in das Gedränge an der Bar. Irgend jemand schüttete Bier über 7
meinen Ärmel, der Mann vor mir bestellte fünf verschiedene Drinks und stritt dann über das Wechselgeld: es gab sicher schönere Dinge, dachte ich resigniert, mit denen man einen Mittwochnachmittag verbringen konnte. »Jonah«, sagte eine Stimme dicht an meinem Ohr. »Seit wann machst du dir was aus Schnaps?« Ich wandte mich kurz zu Kerry Sanders um, die an einem kleinen Tisch saß und angewidert aussah. Das andere Augenpaar neben mir folgte meinem Blick in ihre Richtung, und die Stimme kicherte anzüglich: »Geile Puppe.« »Diese Puppe«, sagte ich, »ist eine Kundin.« »Oh, na klar. Na klar.« Die hastige Zurücknahme der Beleidigung, das versöhnliche Grinsen, der kumpelhafte Schlag auf die Schulter, das ganze Gehabe ging mir gegen den Strich, aber ich war mir bewußt, daß es nur der verzweifelte Versuch war, mangelndes Selbstbewußtsein zu überspielen. Ich kannte Jiminy Bell seit Jahren, wir waren Seite an Seite über so manche Hürden gesprungen: ein ehemaliger Hindernisjockey, der mittlerweile im Pferdemilieu nur noch herumhing und auf Almosen hoffte. Es hätte ja auch mich treffen können... »Einen Drink?« schlug ich vor und empfand Mitleid, als ich seine Augen aufleuchten sah. »Brandy«, sagte er. »Einen großen, wenn’s geht.« Ich spendierte ihm einen dreifachen und gab ihm fünf Pfund. Er nahm beides mit der für ihn typischen Mischung aus Scham und gezwungener Nonchalance an; wahrscheinlich tröstete er sich damit, daß ich es mir leisten konnte. »Was weißt du über das Ten-Trees-Gestüt?« fragte er, was ungefähr der Frage gleichkam, was man über die Bank of England wußte. »Man hat mir da einen Job angeboten.« Wenn es ein guter Job gewesen wäre, hätte er sicher nicht meine Meinung eingeholt. »Als was?« fragte ich.
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»Als Assistent.« Er nahm einen Schluck Brandy und verzog das Gesicht, nicht wegen des Geschmacks, sondern weil das Leben so hart war. »Pferdepflegerassistent.« Ich zögerte. Viel war das nicht gerade. »Besser als gar nichts, oder?« »Meinst du?« fragte er ernst. »Es zählt, was du bist«, sagte ich. »Nicht, was du tust.« Er nickte düster, und ich fragte mich, ob er dasselbe dachte wie ich: Wenn man mit der Zukunft konfrontiert wird, ist entscheidend, was man einmal gewesen ist. Hätte sein Name nicht zehn Jahre lang in den Sportseiten gestanden, hätte er sich gut mit dem zufriedengeben können, was ihm heute als Schande erschien. Durch eine Lücke in der Menge bemerkte ich, wie Kerry Sanders ungehalten in meine Richtung sah und mit den Fingern auf den Tisch trommelte. »Bis dann«, sagte ich zu Jiminy Bell. »Laß mich wissen, wie es dir ergeht.« »Ja doch...« Ich zwängte mich zu der Lady durch. Dank dem Gin und gutem Zureden verflüchtigte sich die erste Erschütterung über die Auktion, und nach und nach kehrte ein wenig von ihrem Elan zurück, mit dem sie in London in meinen Wagen gestiegen war. Wir waren hierhergekommen, um einen Steeplechaser als Geschenk für einen jungen Mann zu kaufen, und sie hatte zart durchblicken lassen, daß es ihr nicht so sehr um den jungen Mann ging, sondern um seinen Vater. Die ehelichen Vorverhandlungen befanden sich anscheinend schon im vorgerückten Stadium, aber über Namen hatte sie sich ausgeschwiegen. Sie war mir – und ich ihr– über einen gemeinsamen amerikanischen Bekannten empfohlen worden, einen Vollblutagenten namens Pauli Teksa, und bis vor zwei Tagen hatte ich noch nichts von ihrer Existenz gewußt. Doch
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seitdem war sie nicht mehr aus meiner Telefonleitung gewichen. »Es wird ihm doch gefallen, glauben Sie nicht auch?« fragte sie jetzt zum siebten oder achten Mal, weniger aus echter Sorge als vielmehr Beifall heischend. »Es ist ein phantastisches Geschenk«, sagte ich geflissentlich und fragte mich, ob der junge Mann es mit Zynismus oder Begeisterung entgegennehmen würde. Ich hoffte um ihretwillen, er würde verstehen, daß sie ihm eher eine Freude machen als ihn bestechen wollte, selbst wenn beides hineinspielte. »Ich sollte vielleicht einen kurzen Blick auf das Pferd werfen, bevor es in den Ring kommt«, sagte ich, »nur um mich zu vergewissern, daß es sich keine Sehnenentzündung zugezogen hat und ihm nicht womöglich Warzen gewachsen sind, seit ich es zum letztenmal gesehen habe.« Sie schaute in den Regen hinaus. »Ich bleibe hier.« »Gut.« Ich stiefelte durch den Matsch zu den wenig ansprechenden alten Ställen und fand in Box Nr. 126 erwartungsgemäß das Pferd mit der Katalognummer 126, das sich auf seinem Stroh nach mir umdrehte und gelangweilt wirkte. Katalognummer 126 war ein fünfjähriges Hürdenpferd, das jemand mit einem makaberen Sinn für Humor Hearse Puller, ›Leichenwagenzieher‹, genannt hatte, und irgendwie konnte man auch verstehen, warum. Mit seinem rundum glänzenden dunkelbraunen Fell wirkte es ein wenig protzig, und es hielt sein Haupt so stolz gereckt, als bilde es sich etwas auf sein Aussehen ein. Fehlte nur noch der schwarze Federbusch, und man hätte es bedenkenlos vor einen Leichenwagen spannen und zu einem Friedhof aus viktorianischen Zeiten losschicken können. Kerry Sanders hatte sich ausbedungen, daß ihr Geschenk ein junges, gut aussehendes Pferd mit ersten Meriten und den 10
allerbesten Aussichten auf eine kometengleiche Karriere sein mußte. Ferner, daß es in früheren Rennen noch nie gestürzt war. Zudem sollte es von seiner Anlage her dem Vater gefallen, obwohl es für den Sohn gedacht war. Überdies sollte es interessant, von guter Abstammung, klug und mutig sein, vor Gesundheit nur so strotzen und ganz versessen darauf sein, Rennen zu laufen: mit einem Wort, ein perfekter Steepler. Darüber hinaus sollte der Kauf bis zum Freitag getätigt sein, da dies der Geburtstag des jungen Mannes war. Und last but not least durfte das Ganze nicht mehr als sechs- bis siebentausend Dollar kosten. Das war im wesentlichen der Inhalt ihres ersten Anrufs am Montagnachmittag gewesen. Die Idee für das Geschenk war ihr um zwei Uhr gekommen, um zehn nach zwei hatte sie meinen Namen herausgefunden, und um zwanzig nach zwei hatte sie mich kontaktiert. Sie sah keine Veranlassung, warum ich nicht genauso eilig in die Startlöcher springen sollte wie sie, und war Feuer und Flamme, als ich die Auktion von Ascot vorschlug – bis wir tatsächlich dort waren. Niemand bekommt für siebentausend Dollar einen perfekten Steepler, der zu Saisonbeginn noch sieglos ist. Ich hatte die meiste Zeit seit Montag damit verbracht, sie einerseits davon zu überzeugen, daß sie ihre Ansprüche auf die Hälfte herunterschrauben mußte, und andererseits im Katalog von Ascot eine Perle ausfindig zu machen versucht, die zum Schleuderpreis zu haben war. Schließlich hatte ich ihr Hearse Puller vorgeschlagen, in der Gewißheit, daß ihr der Name nicht passen würde. Das Tier besaß keine nennenswerte Abstammung, aber ich hatte es laufen sehen und wußte, daß es Mumm besaß, was schon der halbe Sieg war, und daß es von einem nervösen Trainer ausgebildet wurde, was bedeuten konnte, daß es sich in einer entspannten Umgebung vielleicht noch steigerte.
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Ich befühlte Hearse Pullers Beine und schaute ihm tief ins Maul, dann ging ich wieder zurück und teilte Kerry Sanders mit, daß sie ihr Geld schon mal bereithalten könne. »Sie glauben also, daß wir ihn bekommen werden?« fragte sie. »Solange ihn nicht jemand anders unbedingt haben will.« »Könnte das passieren?« »Kann man nie wissen«, sagte ich und fragte mich, wie oft ich solche Unterhaltungen jahrein, jahraus wohl führte. Die Dinge schienen den gewohnten Lauf zu nehmen. Als wir dann zum Ring gingen, hatte der Regen nachgelassen und war in ein leichtes Nieseln übergegangen, dennoch war es schwierig, ein trockenes Fleckchen für Kerry Sanders zu finden. Kaum jemand in dieser Versammlung von Regenmänteln legte etwas anderes als schlechte Laune an den Tag. Die Menschen standen mit eingezogenen Schultern und hochgeschlagenen Kragen herum, die Hände in den Taschen vergraben – die übliche Ansammlung von Agenten, Trainern, Züchtern und hoffnungsvollen Käufern, die nichts als Sieger und die Beute im Kopf hatten, die diese eines Tages einfahren würden. Katalognummer 122, ein traurig aussehender Fuchs, trottete schwerfällig den Asphaltweg entlang und konnte trotz der Überredungskünste des Auktionators nicht einmal das Mindestgebot erzielen. Ich sagte Kerry Sanders, daß ich gleich wiederkommen würde, und ging mir Nummer 126 anschauen, die gerade im Wartering herumgeführt wurde, bevor sie aufgerufen werden sollte. Hearse Puller hielt sich eigentlich sehr gut, sah aber ein bißchen zu aufgeregt aus, und ich dachte, daß der Regen wahrscheinlich die Tatsache kaschierte, daß er schwitzte. »Interessiert dich der schwarze Pfau da?« fragte eine Stimme neben mir, und wieder war es Jiminy Bell, der meinem Blick
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gefolgt war und mich mit dem Geruch seines dreifachen Brandys aus nächster Nähe beehrte. »Nicht besonders«, sagte ich und wußte genau, daß er aus meinem Gesichtsausdruck keinerlei Schlüsse hatte ziehen können. Nichts ist besser als der Handel mit Vollblutpferden, um sich ein Mienenspiel anzueignen, gegen das selbst ein Pokerspieler indiskret wirkt. Hearse Puller stolzierte vorbei, und ich lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Nummer 127, die als nächstes kam. »Also in dem da«, sagte Jiminy Bell anerkennend, »steckt Klasse drin.« Ich brummte etwas Unverbindliches und wandte mich ihm zu. Er machte mir mit einem halb aggressiven, halb einschmeichelnden Lächeln Platz. Ein kleiner Mann mit ergrauendem Haar, von tiefen Falten zerfurchter Haut und Zähnen, die zu makellos waren, um echt zu sein. In den vier oder fünf Jahren, die er nicht mehr im Sattel gesessen war, hatte er Gewicht angesetzt, das ihn wie ein gefütterter Mantel umhüllte. Seine Körperhaltung und die Art, wie er den Kopf trug, ließen nichts mehr von dem einstigen Stolz auf sein Können und seine Erfolge ahnen. Doch so leid er mir auch tun mochte, ich hatte nicht im geringsten die Absicht, ihm im voraus zu erzählen, an welchem Pferd ich interessiert war; er war schon zu tief gesunken und hätte keine Sekunde gezögert, mit dieser Neuigkeit zum Verkäufer zu laufen und eine Provision dafür auszuhandeln, daß er durch Bieten den Preis in die Höhe trieb. »Ich warte auf Nummer eins-vier-zwo«, sagte ich, und sobald ich mich entfernte, schlug er das Pferd eifrig im Katalog nach. Als ich mich kurz umblickte, starrte er mir verblüfft hinterher, daher suchte ich aus Neugier die Nummer 142 heraus und stellte fest, daß es sich um ein Geländejagdpferd handelte, das im Alter von zehn Jahren noch sieglos war und als Krippenbeißer berüchtigt. 13
Schmunzelnd gesellte ich mich wieder zu Kerry Sanders und sah mit an, wie der entschlossene Auktionator aus der Britischen Vollblutagentur zwölfhundert Pfund für die Nummer 125, eine sehnige Fuchsmähre, herauspreßte. Dann wurde diese aus dem Ring hinausgeführt, und Kerry Sanders’ Unruhe steigerte sich merklich, womit sie aller Welt ihre Kaufabsicht wie mit einem Fanfarenstoß verkündete. Unerfahrene Kunden verhielten sich bei Auktionen immer so, was sie eine gute Stange Geld kostete. Hearse Puller wurde in den Ring geführt, und der Auktionator verglich die Nummer mit seinen Notizen. »Bißchen langbeinig«, sagte verächtlich ein Mann hinter uns. »Ist das denn schlecht?« fragte Kerry Sanders ängstlich, die mitgehört hatte. »Es bedeutet, daß die Beine im Verhältnis zum Körper eher lang sind. Es ist nicht gerade ideal, aber einige gute Hindernispferde sind durchaus so gebaut.« »Oh.« Hearse Puller schüttelte seine Mähne und betrachtete die Szene mit schreckerfüllten Augen, ein Zeichen von Widerspenstigkeit, was mich auf den Gedanken brachte, ob das nicht der eigentliche Grund für seinen Verkauf sei. Kerry Sanders’ Ängstlichkeit wuchs noch etwas mehr. »Glauben Sie, daß er mit ihm fertig wird?« »Wer?« »Sein neuer Besitzer natürlich. Er sieht verdammt wild aus.« Der Auktionator legte sich jetzt ins Zeug und rasselte die Abstammung und Geschichte des Wallachs herunter. »Wer bietet tausend zum Einsteigen? Tausend, irgend jemand? Kommt schon, Leute, ist doch fast geschenkt, oder? Tausend? Na schön, also fünfhundert. Wer bietet fünfhundert?...« Ich sagte zu Kerry Sanders: »Wollen Sie damit sagen, daß der junge Mann ihn selbst reiten will? Bei Rennen?« »Ja.« 14
»Das haben Sie mir nicht gesagt.« »Nicht?« Sie wußte ganz genau, daß sie es mir verschwiegen hatte. »Warum haben Sie mir das um Himmels willen nicht erzählt?« »Fünfhundert«, sagte der Auktionator. »Danke, Sir. Fünfhundert sind geboten. Das ist noch nicht annähernd das, was er wert ist. Macht schon, Leute. Fünfhundert. Sechs. Danke, Sir. Sechs... sieben... acht... achthundert dagegen, Sir.« »Ich dachte nur...« Sie zögerte und sagte dann: »Was macht das für einen Unterschied?« »Ist er ein Amateur?« Sie nickte. »Aber er hat die besten Voraussetzungen.« Hearse Puller war weiß Gott kein gemütlicher Schaukelhengst, und ich würde meinen Beruf nicht ernst nehmen, wenn ich ihn für einen jener Amateure erstand, die sich nur mit Mühe im Sattel hielten. Plötzlich dämmerte mir, warum meine Kundin darauf bestanden hatte, daß das Pferd noch nie gestürzt war. »Zwölfhundert. Vierzehn. Gegen Sie dort hinten, Sir. Vierzehn. Bieten Sie, sonst wird er Ihnen weggeschnappt...« »Sie müssen mir schon sagen, für wen er bestimmt ist«, sagte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Wenn Sie es nicht sagen, kaufe ich ihn nicht für Sie«, sagte ich und versuchte, die Unhöflichkeit meiner Worte mit einem Lächeln abzumildern. Sie starrte mich an. »Ich kann ihn selbst kaufen.« »Natürlich.« Der Auktionator war jetzt in seinem Element. »Achtzehn... darf ich zweitausend sagen? Zweitausend, danke Sir. Zum Verkauf freigegeben. Zweitausend sind gegen Sie hier vorn geboten, Sir... darf ich zweitausendzweihundert
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sagen? Zweitausendeinhundert... danke, Sir. Zweitausendeinhundert... zweihundert... dreihundert...« »Gleich ist es zu spät«, sagte ich. Sie rang sich zu einer Entscheidung durch. »Also schön, es ist Nicol Brevett.« »Herrje«, sagte ich. »Nun kaufen Sie schon. Stehen Sie nicht nur so herum.« »Bleibt’s dabei?« fragte der Auktionator. »Zweitausendachthundert stehen. Zum ersten... kein weiteres Gebot?« Ich atmete tief durch und winkte mit meinem Katalog. »Dreitausend... ein neuer Bieter. Danke, Sir. Gegen den Herrn hier vorn. Darf ich dreitausendzweihundert sagen?« Wie so häufig, wenn in letzter Minute ein neuer Bewerber einsteigt, gaben die beiden streitenden Parteien bald auf, und der Hammer ging bei dreitausendvierhundert herunter. »Verkauft an Jonah Dereham.« Jiminy Bell starrte mich aus zusammengekniffenen Augen von der anderen Seite des Rings aus an. »Wieviel ist das in Dollar?« fragte meine Kundin. »Ungefähr siebentausendfünfhundert.« Wir verließen den hölzernen Unterstand, und sie spannte wieder den Schirm auf, obwohl der Nieselregen fast gänzlich aufgehört hatte. »Das ist mehr, als ich Ihnen zugestanden habe«, sagte sie, ohne sonderlich vorwurfsvoll zu klingen. »Und Ihre Provision kommt noch dazu, schätze ich?« Ich nickte. »Fünf Prozent.« »Na schön... in den Staaten würden Sie für das Geld nicht mal ein dreibeiniges Polopony bekommen.« Sie schenkte mir ein kleines Lächeln, das sich wie ein großzügiges Trinkgeld ausnahm, und beschloß, vorauszugehen und in meinem Wagen auf mich zu warten, während ich den Papierkram erledigte und mich um den weiteren Transport von Hearse Puller kümmerte. 16
Er sollte über Nacht in meinem eigenen Hof untergebracht und am Geburtstagsmorgen seinem neuen Eigentümer überstellt werden. Nicol Brevett... So überraschend wie eine Wespe im Honig. Harmlos, solange man nicht versehentlich das Ende mit dem Stachel berührte. Er war ein halsstarriger, energiegeladener junger Mann, der beim Rennen offen seine Karten auf den Tisch legte und die Profis herausforderte. Sein zwanghafter Wunsch zu siegen hatte ihn rücksichtslos und ungehobelt gemacht, und häufig zettelte er Streitigkeiten an. Sein unberechenbares Temperament war feurig wie ein Flammenwerfer. Niemand konnte ihm sein Talent absprechen, aber während die meisten seiner Kollegen Freunde und Rennen gewannen, gewann Nicol Brevett nur Rennen. Als Reiter war er Hearse Puller gewachsen, und wenn ich Glück hatte, würden sie gemeinsam eine gute Aufsaison bei den Jagdrennen erleben: und Glück würde ich allein schon wegen Brevett senior nötig haben, dessen Einfluß überall auf dem Turf gegenwärtig war. Mein Respekt für Kerry Sanders wuchs erheblich. Eine Frau, die in der Lage war, das Interesse Constantine Brevetts bis hin zu Heiratsplänen zu wecken, mußte außerordentliche Qualitäten besitzen, die selbst die Fähigkeiten eines Fabergé übertrafen. Ich konnte daher nur zu gut verstehen, daß sie zögerte, seinen Namen ins Feld zu führen. Wenn irgendwelche Ankündigungen hinsichtlich seiner Person gemacht werden mußten, dann war er derjenige, der das tat. Bei Constantine war jener steinharte Kern, der bei seinem Sohn ungeschliffen zutage trat, mit Samt umhüllt. Von einigen flüchtigen Begegnungen während der letzten paar Jahre auf der Rennbahn wußte ich, daß er seine gesellschaftlichen Kontakte hauptsächlich den Seilschaften aus seiner alten Public School verdankte. Seine Geschäfte hatten bezeichnenderweise eine 17
ganze Reihe von Kleinunternehmern, die im nachhinein wehmütig wünschten, doch nie mit seiner Aufmerksamkeit beehrt worden zu sein, in den Ruin getrieben. Ich wußte nicht, was er genau machte, nur daß er mit Immobilien handelte, in der Größenordnung von Millionen dachte und im Moment versuchte, sich die beste Pferdekollektion im ganzen Land anzueignen. Meiner Ansicht nach interessierte ihn die Überlegenheit, die ihm dies verlieh, weit mehr als die Pferde. Als ich gerade die Auktion verlassen wollte, stand das Verkaufsereignis des Tages unmittelbar bevor, so daß die versammelte Menge zum Ring strömte, während ich mich in die andere Richtung zu den Autos begab. Ich sah Kerry Sanders im Auto warten, sie wandte mir hinter der regennassen Scheibe den Kopf zu. Zwei Männer lehnten an dem Wagen neben meinem und hielten schützend die Hände vor ihre Streichhölzer, um sich Zigaretten anzuzünden. Als ich an ihnen vorbeigehen wollte, griff sich einer von ihnen eine Art Stange, die auf der Motorhaube lag, und versetzte mir damit einen dröhnenden Schlag auf den Kopf. Betäubt und erstaunt strauchelte ich, sackte zusammen und sah all die vielen Sterne, die immer in den Comic-Heftchen abgebildet sind. Verschwommen nahm ich wahr, daß Kerry Sanders schrie und die Wagentür öffnete, aber als die Welt sich allmählich wieder langsamer drehte, sah ich, daß sie immer noch im Auto saß, bei geschlossener Tür und geöffnetem Fenster. Auf ihrem Gesicht zeigte sich ebensoviel Empörung wie Angst. Einer der Männer umklammerte meinen rechten Arm, was wahrscheinlich verhinderte, daß ich vornüber aufs Gesicht fiel. Der andere stand ruhig daneben und sah zu. Ich suchte Halt an dem Auto, das neben meinem parkte, und unternahm einen schwachen Versuch, mir einen Reim auf das Ganze zu machen. »Die sind auf Geld aus, diese Männer«, zischte Kerry Sanders abfällig. Ich dachte erst, sie hätte »Penner« gesagt, 18
wobei ich ihr nur zustimmen konnte, verstand aber schließlich doch, was sie meinte. »Vier Pfund«, sagte ich. »Ich hab nur vier Pfund dabei.« Es klang wie ein Murmeln. Fast unverständlich. »Wir wollen dein Geld nicht. Wir wollen euer Pferd.« Totenstille. Sie hätten mir nicht so heftig auf den Schädel hauen sollen, wenn sie etwas anderes als Begriffsstutzigkeit von mir erwarteten. Kerry Sanders trug nicht gerade dazu bei, die Lage zu entspannen. »Ich habe Ihnen schon mal gesagt«, entgegnete sie kühl, »daß ich die Absicht habe, es zu behalten.« »Das haben Sie gesagt, aber das glauben wir Ihnen nicht.« Der Mann, der das Gespräch führte, war ein großer jovialer Kerl mit dem Bizeps eines Rausschmeißers und gekräuseltem, blaßbraunem Haar, das seinen Kopf wie ein Heiligenschein umrahmte. »Ich hab Ihnen einen anständigen Gewinn angeboten«, sagte er zu Kerry. »Anständiger geht’s gar nicht, mein Schatz.« »Was zum Teufel«, sagte ich mit schwerer Zunge, »geht hier eigentlich vor?« »Hören Sie mal«, fuhr er fort und ignorierte mich. »Dreitausendsechshundert. Anständiger geht’s nicht.« Kerry Sanders lehnte ab. Kräuselhaar wandte sich mit seinem wohlwollenden Lächeln an mich. »Hör mal zu, mein Süßer, du und die Lady, ihr werdet uns das Pferd verkaufen. Wir können das genausogut friedlich regeln. Also gib ihr einen deiner teuren Ratschläge, und ihr seid uns los.« »Kauft euch ein anderes Pferd«, sagte ich, immer noch undeutlich. »Wir haben nicht den ganzen Nachmittag Zeit, Süßer. Dreitausendsechshundert. Mein allerletztes Angebot.« »Fein, es reicht auch langsam«, sagte ich automatisch. 19
Kerry Sanders sah aus, als sei sie dem Lachen nahe. Kräuselhaar kramte in seiner Jackentasche und zog mehrere Bündel Banknoten heraus. Er entfernte ein paar Scheine von einem Packen und warf den ganzen Rest durch das Autofenster auf Kerrys Schoß, gefolgt von drei weiteren intakten Bündeln samt Banderole, deren Inhalt er nicht nachzuzählen brauchte. Die Lady warf prompt die ganze Ladung wieder hinaus, wo sie im Schlamm des Parkplatzes liegenblieb, schmutziges Geld, genau dort, wo es hingehörte. Der Nebel in meinem Kopf begann sich zu lichten, und meine wackligen Knie fühlten sich wieder etwas stabiler an. Kräuselhaar, der diese Veränderung sofort registrierte, schaltete von der freundlichen Überredungstour auf Erpressung ersten Grades um. »Hören wir auf mit den Spielchen«, sagte er. »Ich will dieses Pferd, und ich werde es auch bekommen, klar?« Er zog den Reißverschluß meiner Regenjacke auf. Ich machte einen schwachen Versuch, mich aus der Umklammerung des anderen Mannes zu befreien, aber mein Koordinationsvermögen funktionierte bei weitem noch nicht. Das Ergebnis meiner Bemühungen war lediglich, daß mein Schädel erneut brummte, und ich war in der Vergangenheit schon zu oft k. o. geschlagen worden, um nicht zu wissen, daß die Zeit für aussichtsreiche Gegenwehr frühestens in einer Viertelstunde kommen würde. Unter meiner Jacke trug ich einen Pulli und darunter ein Hemd. Kräuselhaar ließ seine Hand unter diese beiden Schichten wandern, bis seine Finger mit der Bandage, die ich über der Brust trug, in Berührung kamen. Er feixte mit widerlicher Befriedigung, riß ruckartig den Pulli hoch, fand die Schnalle der Bandage und löste sie. »Jetzt siehst du hoffentlich ein, mein Süßer«, sagte er, »daß ich das Pferd bekommen werde?«
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2 Ich saß auf dem Fahrersitz meines Autos und lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Neben mir saß Kerry Sanders, die dreckverschmierten Geldpacken auf dem Schoß ihres kostbaren Wildledermantels, und war sichtlich verzweifelt. »Ich konnte doch nicht einfach dasitzen und zusehen, wie Sie durch die Mangel gedreht werden«, rechtfertigte sie sich ärgerlich. »Irgend jemand mußte Ihnen ja aus der Klemme helfen, oder?« Ich sagte nichts. Sie war aus dem Wagen gestiegen, hatte das Geld aufgehoben und den Gaunern erklärt, daß sie mich in Ruhe lassen sollten. Sie könnten das gottverdammte Pferd haben, sie würden schon sehen, wohin sie das führe. Sie hatte weder versucht, um Hilfe zu rufen, noch wegzulaufen oder sonst irgend etwas Konstruktives zu tun, sondern sich an die grandiose Maxime unserer modernen Zeit gehalten, angesichts physischer Bedrohung klein beizugeben, um nicht krankenhausreif geschlagen zu werden. »Sie waren weiß wie ein Laken«, sagte sie. »Was hätte ich denn tun sollen? Zuschauen und Beifall klatschen?« Ich antwortete nicht. »Was ist überhaupt mit Ihrem blöden Arm los?« »Er renkt sich aus. Die Schulter renkt sich aus.« »Andauernd?« »Aber nein. Nicht oft. Nur wenn sie in eine bestimmte Stellung gerät. Dann kugelt das Gelenk aus, was ausgesprochen lästig ist. Ich trage die Bandage, um das zu verhindern.« »Jetzt ist die Schulter aber nicht ausgerenkt, oder?« »Nein.« Ich mußte unwillkürlich lächeln. Normalerweise war ich nicht in der Lage, gemütlich in Autos herumzusitzen, wenn das geschah. »Was ich Ihnen verdanke«, fügte ich hinzu. 21
»Schön, daß Ihnen das klar ist.« »Mhm.« Sie hatten mir die Verkaufsbescheinigung aus der Tasche gezogen und Kerry Sanders gezwungen, ihnen eine Quittung für das erhaltene Bargeld auszustellen. Dann waren sie wie selbstverständlich zum Verkaufszentrum gegangen, um ihre Ware entgegenzunehmen. Kerry Sanders hatte sich nicht bemüßigt gefühlt, sie aufzuhalten, und ich war nicht imstande gewesen, einen Fuß auch nur halbwegs sicher vor den anderen zu setzen; das einzige, worauf man an diesem Ungewissen Nachmittag wetten konnte, war, daß Kräuselhaar und sein Kumpan keine Zeit verlieren und sich unverzüglich mit Hearse Puller aus dem Staub machen würden. Niemand konnte ihnen das Recht auf das Pferd streitig machen. Schnelle Verkäufe unmittelbar nach der Auktion waren an der Tagesordnung. »Warum?« fragte sie zum zwanzigsten Mal. »Warum wollten die das gottverdammte Pferd haben? Warum gerade dieses?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Sie rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. »Sie haben doch gesagt, daß Sie um vier wieder fahren könnten.« Ich warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Fünf nach. »Gut.« Ich entfernte meinen Kopf von der Fensterscheibe und versuchte, ihn vorsichtig zu schütteln. In diesem Bereich schien wieder einigermaßen Ordnung zu herrschen, darum startete ich den Wagen und lenkte ihn auf die Straße, die nach London führte. Sie vergewisserte sich flüchtig meiner Fahrtüchtigkeit und entspannte sich ein wenig, nachdem wir eine halbe Meile hinter uns gebracht hatten, ohne einen Unfall zu bauen. An diesem Punkt ließ bei ihr der Schock nach, und Groll trat an seine Stelle. »Ich werde mich beschweren«, sagte sie mit Nachdruck. »Gute Idee. Bei wem?« 22
»Bei wem?« Sie klang überrascht. »Bei den Veranstaltern natürlich.« »Sie werden Ihnen ihr Bedauern aussprechen und nichts unternehmen.« »Natürlich werden sie das. Sie müssen ja.« Ich wußte, daß dies nicht der Fall war. Ich sagte es ihr. Sie wandte sich mir zu und sah mich an. »Dann eben beim Jockey-Club. Dem Rennverein.« »Sie haben keinerlei Einfluß... keine rechtliche Handhabe... was die Auktionen betrifft.« »Und wer hat die?« »Niemand.« Die Enttäuschung ließ ihre Stimme schroffer klingen. »Dann gehen wir eben zur Polizei.« »Wenn Sie wollen.« »Zur Polizei von Ascot?« »Von mir aus.« Also hielt ich vor dem Polizeirevier in Ascot, wo wir unsere Geschichte erzählten. Die Aussagen wurden protokolliert und unterschrieben und zweifellos zu den Akten gelegt, sobald wir gegangen waren, weil wir, wie uns ein überarbeiteter Sergeant müde belehrte, nicht beraubt worden seien. Ein Schlag auf den Kopf, böse Sache, sehr verwerflich, wenn Sie wüßten, wie das zur Zeit grassiert. Aber meine Brieftasche hatten sie mir nicht gestohlen, nicht wahr? Nicht einmal meine Uhr? Und diese harten Burschen hatten Mrs. Sanders sogar einen Gewinn von zweihundert Pfund ausgezahlt. Was war daran so kriminell, wenn man mal fragen durfte? Wir fuhren davon, ich resigniert und Kerry Sanders schäumend vor Wut. »Das lasse ich mir nicht gefallen«, brach es aus ihr hervor. »Jemand... irgend jemand muß doch was unternehmen.« »Mr. Brevett?« schlug ich vor.
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Sie warf mir einen ihrer scharfen Blicke zu und kühlte merklich ab. »Ich möchte nicht, daß er mit dieser Sache behelligt wird.« »In Ordnung«, sagte ich. Die nächsten zehn Meilen vergingen in nachdenklichem Schweigen. Schließlich sagte sie: »Können Sie mir bis Freitag ein neues Pferd besorgen?« »Ich könnte es versuchen.« »Dann versuchen Sie es.« »Wenn es mir gelingt, können Sie mir auch garantieren, daß nicht wieder jemand daherkommt, mir einen Schlag versetzt und das Pferd klaut?« »Für einen Mann, der angeblich so zäh ist«, sagte sie, »sind Sie ganz schön zart besaitet.« Diese ernüchternde Äußerung führte zu weiteren fünf Meilen Schweigen. Dann fragte sie: »Sie haben die beiden Männer doch nicht gekannt, oder?« »Nein.« »Aber die kannten Sie. Sie wußten über Ihre Schulter Bescheid.« »Das kann man wohl sagen.« »Daran haben Sie auch schon gedacht, was?« Sie klang enttäuscht. »Mhm«, sagte ich. Ich lenkte den Wagen vorsichtig durch den Londoner Verkehr und hielt vor dem Berkeley Hotel, wo sie abgestiegen war. »Kommen Sie auf einen Drink mit rein«, sagte sie. »Sie sehen aus, als ob Sie einen gebrauchen könnten.« »Ähm...« »Ach, kommen Sie schon«, sagte sie. »Ich werde Sie nicht gleich auffressen.« Ich lächelte. »Na schön.«
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Von ihrer Suite aus hatte man einen Blick auf den Hyde Park, wo Gruppen von Reitschulponys die Promenade entlangtrabten und Formationen der berittenen Königlichen Leibgarde für Staatsempfänge probten. Die Sonnenstrahlen des Spätnachmittags fielen schräg in den lila und blau getönten Salon ein und verwandelten die Eiswürfel in unseren Gläsern in kleine Farbprismen. Sie mokierte sich über die Wahl meines Getränks. »Sind Sie sicher, daß Sie Perrier wollen?« fragte sie. »Ich mag es.« »Als ich Sie auf einen Drink einlud, meinte ich... einen richtigen Drink.« »Ich habe Durst«, sagte ich sachlich. »Und eine leichte Gehirnerschütterung. Außerdem muß ich noch fahren.« »Oh.« Sie wurde ernst. »Ich verstehe«, sagte sie. Ich nahm unaufgefordert Platz. Langjährige Erfahrungen mit Schlägen auf den Kopf waren zwar sicher von Vorteil, aber der letzte war drei Jahre her, und die lange Pause trug nicht gerade dazu bei, den aktuellen Heilungsprozeß zu beschleunigen. Sie sah mich enttäuscht an und legte ihren wunderschönen, schlammbespritzten Mantel ab. Darunter trug sie etwas, das sich in seiner Schlichtheit nur die ganz Reichen leisten können und das eine Figur kleidete, die nicht mit Geld zu bezahlen war. Kommentarlos genoß sie meine stille Bewunderung und nahm sie so selbstverständlich hin wie eine alltägliche Höflichkeitsfloskel. »Also«, sagte sie. »Sie haben nicht ein einziges gottverdammtes Wort darüber verloren, was heute nachmittag passiert ist. Vielleicht wären Sie so freundlich, mir zu verraten, was die Männer da vorhin Ihrer Meinung nach im Schilde führten?« Ich nahm einen Schluck von dem sprudelnden Wasser und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich weiß es nicht.« 25
»Aber Sie müssen doch wenigstens einen Verdacht haben«, protestierte sie. »Nein...« Ich hielt inne. »Haben Sie irgend jemandem erzählt, daß Sie zur Auktion nach Ascot fahren wollten? Haben Sie mich erwähnt? Haben Sie Hearse Puller erwähnt?« »Moment mal«, sagte sie, »die waren hinter Ihnen her, nicht hinter mir.« »Woher wissen wir das?« »Na ja... Ihre Schulter.« »Aber Ihr Pferd.« Sie durchquerte nervös den Raum, warf den Mantel über einen Stuhl und kam wieder zurück. An den Rändern des Oberleders ihrer schlanken Stiefel zeigten sich schmutzige Wasserflecken, was einen häßlichen Kontrast zu dem blaßvioletten Teppich abgab. »Ich habe es vielleicht drei Leuten erzählt«, sagte sie. »Pauli Teksa war der erste.« Ich nickte. Pauli Teksa war der Amerikaner, der Kerry Sanders meinen Namen genannt hatte. »Pauli sagte, Sie seien ein seriöser Vollblutagent und daher so schwer zu finden wie eine Stecknadel im Heuhaufen.« »Danke.« »Dann«, sagte sie nachdenklich, »hab ich es dem Typen erzählt, der mir die Haare macht.« »Der was?« »Dem Friseur«, sagte sie. »Gleich hier unten im Hotel.« »Oh.« »Und gestern war ich mit Madge zum Lunch aus... Lady Roscommon. Nur eine Freundin.« Sie ließ sich abrupt in einen Sessel gegenüber fallen, der mit blauem und weißem Chintz bezogen war. Ein großer Gin mit Vermouth hatte hektische Flecken auf ihre Wangen gezaubert und ihre leicht diktatorische Art ein wenig gemildert. Ich hatte den Eindruck, daß sie mich zum erstenmal als Mann und nicht 26
als einen Angestellten betrachtete, der fast buchstäblich bei seiner Aufgabe gestrauchelt war. »Möchten Sie Ihren Mantel ablegen?« fragte sie. »Ich kann nicht lange bleiben«, sagte ich. »Na gut... wollen Sie noch was von dem gottverdammten Wasser?« »Bitte.« Sie füllte mein Glas auf, brachte es mir und setzte sich wieder. »Trinken Sie nie?« fragte sie. »Nicht oft.« »Alkoholiker?« fragte sie mitfühlend. Ich fand es seltsam, daß sie mir eine derart persönliche Frage stellte, aber ich lächelte und antwortete: »Nein.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Fast alle Nichttrinker, die ich kenne, sind ehemalige Alkoholiker.« »Ich bewundere sie«, sagte ich. »Aber nein. Ich war schon als Sechsjähriger süchtig nach Cola. Und bin nie auf härtere Sachen umgestiegen.« »Oh.« Ihr Interesse an mir schien wieder zu schwinden. Sie sagte: »Ich bin Vorstandsmitglied einer Privatklinik drüben in den Staaten.« »Wo Trinker trockengelegt werden?« Meine ungeschliffene Frage schien ihr nichts auszumachen. »Wir behandeln Leute, die ein Problem haben. Ja.« »Erfolgreich?« Sie seufzte. »Manchmal.« Ich stand auf. »Man kann nicht bei allen erfolgreich sein.« Ich setzte mein leeres Glas auf einem Beistelltischchen ab und ging vor ihr zur Tür. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie ein anderes Pferd gefunden haben?« sagte sie. Ich nickte.
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»Und wenn Ihnen irgend etwas zu den beiden Männern einfällt?« »Ja.« Ich fuhr langsam nach Hause und stellte den Wagen in der Garage im Hof ab. Die drei Rennpferde, die sich dort in den Stallungen befanden, stampften unruhig in ihren Boxen hin und her, in dem stillen Vorwurf, daß ich mich um zwei Stunden für ihre abendliche Fütterung verspätet hatte. Sie waren Pferde auf der Durchreise, die darauf warteten, per Luftfracht an ausländische Käufer verladen zu werden; nicht meine Pferde, aber ganz bestimmt meine Verantwortung. Ich sprach mit ihnen und streichelte ihre Nüstern, mistete ihre Boxen aus und gab ihnen Futter, Wasser und Decken zum Schutz vor der kühlen Oktobernacht, und schließlich schleppte ich mich müde und mit einem pochenden Kopf ins Haus. Dort wartete keine Ehefrau mit einem lächelnden Gesicht und einem verlockenden heißen Abendessen auf mich. Statt dessen wartete dort mein Bruder. Sein Auto stand neben meinem in der Garage, aber nirgendwo im Haus brannte Licht. Ich ging in die Küche, knipste den Schalter an, wusch mir am Spülbecken unter heißem Wasser die Hände und wünschte von ganzem Herzen, ich könnte mein Alkoholproblem auf den Schultern von Kerry Sanders und ihrer barmherzigen Klinik abladen. Er war im dunklen Wohnzimmer und schnarchte. Als ich Licht gemacht hatte, sah ich, daß er mit dem Gesicht nach unten auf dem Sofa lag, neben sich auf dem Teppich, in der Nähe seiner baumelnden Hand, die geleerte Scotchflasche. Er trank nicht oft. Er gab sich große Mühe, die Finger davon zu lassen, was im wesentlichen der Grund dafür war, daß ich es auch tat, denn wenn ich mit einer leichten Alkoholfahne nach Hause käme, würde er sie durch das ganze Zimmer wittern, und es würde ihn unruhig machen. Es war kein großes Opfer 28
für mich, nur ein wenig lästig, wenn ich mich in Gesellschaft befand, denn Kerry Sanders stand durchaus nicht allein mit ihrer Schlußfolgerung, daß alle Nichttrinker ehemalige Alkoholiker seien. Man mußte trinken, um zu beweisen, daß man keiner war, so wie sich eingefleischte Junggesellen immer wieder Mühe geben, als Frauenhelden dazustehen. Wir waren keine Zwillinge, sahen einander aber sehr ähnlich. Er war ein Jahr älter als ich, drei Zentimeter kleiner, sah besser aus und hatte helleres Haar. Als wir noch klein waren, hatte man uns ständig verwechselt, doch jetzt, im Alter von vierunddreißig und fünfunddreißig, geschah das nicht mehr ganz so häufig. Ich hob die leere Flasche auf und trug sie zum Mülleimer hinaus. Dann machte ich mir ein paar Rühreier und setzte mich zum Essen an den Küchentisch, wo ich bei Kaffee und Aspirin und mit einem schmerzenden Kopf mehr oder minder tapfer gegen eine aufsteigende Depression ankämpfte. Es gab viel, wofür ich dankbar sein konnte. Mir gehörten zur Gänze das Haus und der Stallhof und zehn Morgen Koppelland, und nach zwei Jahren harter Knochenarbeit fing ich gerade an, mir als Agent einen Namen zu machen. Als Minusposten konnte ich eine gescheiterte Ehe anführen, einen Bruder, der von meinem Einkommen lebte, weil er unfähig war, auf Dauer einer Arbeit nachzugehen, sowie die dunkle Ahnung, daß Kräuselhaar nur die Spitze eines Eisbergs war. Ich holte mir einen Stift und ein Blatt Papier und schrieb drei Namen auf. Pauli Teksa. Friseur. Lady Roscommon (Madge). Keiner sah wie ein Gewinner im Schurkenrennen aus. Der Ordnung halber fügte ich Kerry Sanders, Nicol Brevett, Constantine Brevett und zwei fröhliche Halunken hinzu. Was kam heraus, wenn man die Mischung etwas schüttelte? Ein 29
hübscher kleiner Überfall von jemandem, der meinen wundesten Punkt kannte. Ich verbrachte den Abend am Telefon und versuchte, einen Ersatz für Hearse Puller zu finden. Was nicht einfach war. Die Trainer von Pferden, deren Besitzer eventuell bereit waren zu verkaufen, sahen es nicht sonderlich gern, wenn die Pferde zu einem anderen Stall wechselten, und ich konnte nicht garantieren, daß Nicol Brevett das Pferd weiterhin bei seinem jetzigen Trainer unterbringen würde. Da ich es Kerry Sanders versprochen hatte, durfte ich nicht einmal seinen Namen nennen. Ich las noch einmal den Verkaufskatalog von Ascot für den kommenden Tag durch, fand aber nach wie vor nichts Passendes, und schließlich bat ich seufzend einen Vollbluthändler namens Ronnie North um Hilfe, der sagte, er hätte ein geeignetes Pferd in petto, wenn ich mitspielte. »Wieviel?« fragte ich. »Fünfhundert.« Damit meinte er, daß er mir das Pferd für einen bestimmten Preis verkaufen würde. Dann würde ich Kerry Sanders fünfhundert Pfund mehr berechnen... und diese fünfhundert wieder an North abtreten. »Zuviel«, sagte ich. »Wenn du mir ein gutes für zweitausend besorgst, gebe ich dir hundert.« »Lächerlich.« »Hundertfünfzig.« Ich wußte, daß er das Pferd für vielleicht fünfzehnhundert Pfund erwerben und mir zum doppelten Preis verkaufen würde: Er empfand es grundsätzlich als Zeitverschwendung, wenn er weniger als hundert Prozent Profit machte. Zusätzlich einen fetten Brocken aus meiner Kundin herauszupressen war lediglich das Sahnehäubchen auf dem Kuchen.
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»Und außerdem«, sagte ich, »bevor wir überhaupt weitermachen, möchte ich erst einmal etwas über das Pferd erfahren.« »Auch das noch.« Er befürchtete, daß ich direkt zum Eigentümer gehen würde, wenn ich wußte, wer er war, und ihn von dem ganzen Handel ausschließen würde. Das wäre mir nie in den Sinn gekommen, ihm aber durchaus, und er beurteilte mich nach seinen eigenen Maßstäben. Ich sagte: »Wenn du es kaufst und es mir nicht gefällt, dann nehme ich es nicht.« »Es ist genau das, was du willst«, sagte er. »Du kannst mir vertrauen.« Ich konnte vielleicht seiner Beurteilung eines Pferdes vertrauen, aber das war auch wirklich alles. Wenn das Pferd nicht für Nicol Brevett bestimmt gewesen wäre, hätte ich mich möglicherweise auf das Risiko eingelassen und blind gekauft, aber in diesem Fall konnte ich mir das nicht leisten. »Ich muß erst mein Okay geben«, sagte ich. »Dann kommen wir nicht ins Geschäft«, sagte er barsch und hängte ein. Ich kaute an meinem Bleistift und dachte über den Dschungel des Vollbluthandels nach, den ich vor zwei Jahren so blauäugig betreten hatte. In meiner Naivität hatte ich mir eingebildet, daß zu einem Vollblutagenten nichts weiter gehörte als profunde Pferdekenntnis, ein inniges Verhältnis zum Gestütbuch, Hunderte von Bekanntschaften in der Welt des Rennsports und ein einigermaßen gesunder Geschäftssinn. Mein anfängliches Staunen und mein Abscheu angesichts der Betrügereien, die in meinem Beruf gang und gäbe waren, hatten längst einem nüchternen Zynismus Platz gemacht, und ich hatte mir aus purem Selbsterhaltungstrieb ein dickes Fell zugelegt. Ich fand es manchmal sehr schwer, einen ehrlichen Kurs zu verfolgen,
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und noch schwerer, ihn beizubehalten, wenn das, was ich als Unehrlichkeit ansah, so sehr das allgemeine Klima beherrschte. Ich verstand auch nach zwei Jahren, daß Unehrlichkeit in erster Linie eine Sache des jeweiligen Standpunkts war. Absolute Wahrheiten gab es nicht. Ein Geschäftsabschluß, den ich schlicht für skandalös hielt, mochte anderen ausgesprochen seriös erscheinen. Für Ronnie North war es keine Schande, dem Markt jeden verfügbaren Pfennig abzupressen: darüber hinaus war er ein umgänglicher Kerl. Das Telefon klingelte. Ich nahm den Hörer ab. »Jonah?« Er war wieder dran, wie ich fast vermutet hatte. »Das Pferd heißt River God. Für dreitausendfünfhundert gehört er dir, zuzüglich der fünfhundert.« »Ich ruf dich zurück.« Ich schlug River Gods Form nach und holte die Meinung eines Jockeys ein, der ihn ein paarmal geritten hatte, und wählte dann schließlich Ronnie Norths Nummer. »Ist gut«, sagte ich. »Vorbehaltlich der Gesundheitsbescheinigung eines Tierarztes bin ich mit River God einverstanden.« Er sagte mit gespielter Ergebenheit: »Hab ich dir doch gleich gesagt, du kannst mir vertrauen.« »Na klar. Ich geb dir zweitausendfünfhundert.« »Dreitausend«, sagte er. »Das ist absolute Unterkante. Und fünfhundert extra.« »Hundertfünfzig«, sagte ich bestimmt und ließ mich dann auf zweihundertfünfzig hinaufhandeln. River God, so hatte mir mein Jockeyfreund erzählt, gehörte einem Farmer in Devon, der ihn im Alter von drei Jahren noch unzugeritten gekauft hatte, mit der Absicht, ihn für seinen Sohn für die Jagdrennen zu trainieren. Die beiden hatten ihn so schlecht eingeritten, daß der Sohn mit dem Ergebnis nicht mehr zurechtkam. »Er muß von einem Profi geritten werden«, sagte 32
mein Informant, »aber er ist ziemlich schnell und ein geborener Hürdler, das haben sie wenigstens nicht vermasseln können.« Ich stand auf, streckte mich, und da es inzwischen halb elf geworden war, beschloß ich, Kerry Sanders erst am nächsten Morgen Meldung zu machen. Das Zimmer, das ich als Büro benutzte, war entlang der Wände wie ein Arbeitsraum mit Bücherregalen und Einbauschränken ausgestattet; gleichzeitig diente es mir als Wohnzimmer und war weitgehend das, was ich als mein Heim betrachtete. Den Fußboden bedeckte ein hellbrauner Teppich, auf dem Ledersessel standen, und rote Wollvorhänge säumten ein großes Fenster, das auf den Stallhof hinausging. Nachdem ich die Bücher und Unterlagen weggeräumt hatte, die ich eben benutzt hatte, knipste ich die starke Schreibtischlampe aus, stellte mich ans Fenster und schaute aus der Dunkelheit ins Mondlicht hinaus. Draußen war alles still. Meine drei Untermieter warteten geduldig auf ihr Flugzeug, das sie vom Flughafen in Gatwick – fünf Meilen weiter die Hauptstraße hinunter – zu ihren neuen Besitzern befördern sollte. Eigentlich hätten sie schon vor einer Woche fliegen müssen, und meine ausländischen Kunden bombardierten mich mit gereizten Telegrammen, aber die Spediteure brummten ständig etwas von unvermeidbaren Verspätungen und vertrösteten mich immer wieder auf »übermorgen«. »Übermorgen kommt nie«, sage ich, aber sie fanden es nicht komisch. Ich benutzte den Hof als Zwischenstation und behielt die Pferde selten länger als ein oder zwei Nächte bei mir. Sie behinderten mich in meiner Bewegungsfreiheit, weil ich mich selbst um sie kümmern mußte, und das auch nur, weil ich bis vor kurzem nicht genug verdient hatte, um die Ausgabe für eine Hilfskraft erwägen zu können. In meinem ersten Jahr als Agent hatte ich fünfzig Verkäufe vermittelt, in meinem zweiten dreiundneunzig, und während 33
der letzten drei Monate war ich fast ununterbrochen beschäftigt gewesen. Mit ein bißchen Glück, dachte ich, wenn es mir zum Beispiel gelang, einen Derbysieger für fünftausend Pfund als Jährling einzukaufen... mit einem so unverschämten Stückchen Glück... konnte ich sogar in die Kategorie derjenigen geraten, die Probleme mit dem Finanzamt bekamen. Ich verließ das Büro und ging ins Wohnzimmer. Mein Bruder Crispin lag immer noch so da, wie ich ihn verlassen hatte, Gesicht nach unten, schnarchend und im Koma. Ich holte eine Wolldecke und legte sie ihm über, da ich wußte, daß er in den nächsten Stunden nicht aufwachen würde und, wenn er es schließlich tat, eine seiner üblichen aggressiven Katerlaunen haben würde, in deren Verlauf er seinen bitteren Groll wie Auswurf ausspie. Ich war sechzehn und er siebzehn, als wir zu Waisen gemacht wurden, zuerst durch einen Reitunfall, bei dem unsere Mutter ums Leben kam, und dann drei Monate später durch ein Blutgerinnsel, dem Vater erlag. Aus heiterem Himmel, fast von einer Woche auf die andere, änderte sich unser Leben von Grund auf. Wir waren mit allen Bequemlichkeiten eines Hauses auf dem Lande aufgewachsen, mit Pferden, die wir reiten konnten, einer Köchin, einem Gärtner und Stallknechten, die die Arbeit machten. Wir besuchten teure Internate, was wir normal fanden, und verbrachten unsere Ferien bei der Schneehuhnjagd im schottischen Hochmoor. Leider war nicht alles Gold, was da glänzte. Anwälte teilten uns mit besorgter Miene mit, daß unser Vater alles, was er besaß, mit Hypotheken belastet hatte, daß er seine Lebensversicherung beliehen, die Wertgegenstände der Familie verkauft hatte und daß ihn zum Schluß nur noch eine DegasSkizze vom Bankrott trennte. Wie es schien, hatte er über viele Jahre hinweg am Rande des Abgrunds gelebt, jedoch immer wieder in letzter Minute einen kleinen Schatz ausgegraben, den er zu Sotheby’s zur Versteigerung schicken konnte. Nachdem 34
seine Schulden bezahlt waren und sich das Haus, die Pferde, die Köchin, der Gärtner und die Stallknechte in Luft aufgelöst hatten, standen Crispin und ich ohne nähere Verwandtschaft und ohne ein Zuhause da, mit genau einhundertunddreiundvierzig Pfund für jeden in der Tasche. Die Schule hatte Verständnis gezeigt, war aber nicht so weit gegangen, uns ohne Schulgeld dazubehalten. Wir durften noch das Ostertrimester bleiben, aber dann war Schluß. Crispin hatte der Schlag schwerer getroffen als mich. Er hatte ein Studium und eine juristische Laufbahn angestrebt und fand das großzügige Angebot eines der besorgten Anwälte, bei ihm als juristische Hilfskraft anzufangen, unter seiner Würde. Meine etwas praktischere Natur bewahrte mich vor derlei Seelenqual. Nüchtern sah ich der Tatsache ins Auge, daß ich von nun an arbeiten mußte, um essen zu können, ich zog Bilanz meiner Aktivposten, die sich auf einen schlanken Körperbau, gute Gesundheit und eine gewisse Reitbegabung beliefen, und besorgte mir einen Job als Stallbursche. Crispin war damals wütend auf mich gewesen, aber ich war glücklich. Ich war nicht der akademische Typ. Das Stalleben bescherte mir nach der Beengtheit der Schule eine herrliche Freiheit. Ich trauerte nie dem nach, was ich verloren hatte. Ich ließ ihn weiterschnarchen, begab mich nach oben ins Bett und dachte über unseren unterschiedlichen Werdegang nach. Crispin hatte sich als Börsenmakler und im Versicherungswesen versucht und gefunden, daß man ihm nicht die gebührende Anerkennung entgegenbrachte, während ich, indem ich Jockey geworden war, vollkommene Erfüllung gefunden hatte. Meine Einstellung war daher immer, daß ich es ungleich besser gehabt hatte als er, und ich bereute nichts, was ich unternahm, um diesen Verlust für ihn an anderer Stelle wiedergutzumachen. Mein Schlafzimmer lag wie das Wohnzimmer zur Hofseite hin, und wenn nicht gerade Minusgrade herrschten, schlief ich 35
bei offenem Fenster. Um halb eins wurde ich plötzlich von dem Eindruck, daß mein Unterbewußtsein Alarmsignale aussandte, aus dem Tiefschlaf gerissen. Mit prickelnder Nervosität lag ich hellwach da und lauschte angestrengt; ich wußte nicht, was ich gehört hatte, war mir aber sicher, daß etwas nicht in Ordnung war. Da war es wieder, unverwechselbar. Das Kratzen eines Hufs auf hartem Untergrund. Das Klappern von Hufeisen, wo sie zu dieser nachtschlafenden Zeit nichts zu suchen hatten. Ich warf die Daunendecke zurück und machte einen Satz zum Fenster. Keine Bewegung unten im mondbeschienenen Hof. Nur ein gähnendes schwarzes Rechteck, wo eine fest verschlossene Stalltür hätte sein müssen. Ich fluchte, und das Herz sank mir in die Hosen. Mein kostbarster Untermieter, ganze siebzigtausend Pfund wert, lief frei auf den gefährlichen Straßen Surreys herum.
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3 Das Pferd war nicht rundum versichert, weil sein neuer Eigentümer vor der hohen Prämie zurückschreckte. Es war auch, aufgrund eines komplizierten Devisentransfers, noch nicht vollständig bezahlt. Ich hatte dem Verkäufer eine Garantie über den Restbetrag geben müssen, ohne ihn überhaupt erhalten zu haben, und wenn ich diesen Zweijährigen nicht schnell und unversehrt zurückbekam, würde ein finanzielles Debakel über mich hereinbrechen. Der ausländische Käufer war ein unerbittlicher Mann, der sofort seinen Scheck sperren lassen würde, wenn das Pferd Schaden nähme, und meine eigene Versicherung würde für nichts außer den Todesfall aufkommen, und das nur höchst widerwillig. In rasender Geschwindigkeit zog ich Pulli, Jeans und Stiefel an, und während ich die Treppe hinunterstürzte, knipste ich mit flatternden Fingern die Schnallen meiner Bandage zu, die meine Schulter sicher verankerte. Crispin schnarchte noch immer im Wohnzimmer. Ich schüttelte ihn, rief seinen Namen. Keine Reaktion. Die Betäubung hielt an. Ich machte einen Abstecher in mein Büro, um die Dorfpolizei anzurufen. »Wenn irgend jemand ein Pferd in seinem Garten meldet, dann ist es meins.« »Sehr gut«, sagte eine Stimme. »Das spart uns Zeit.« Draußen im Hof war kein Laut zu hören. Der Zweijährige war schon auf der Straße gewesen, als ich aufwachte, denn ich hatte Metall auf Asphalt gehört, nicht das vertraute sanfte Knirschen auf unkrautbewachsenem Kies. Kein Laut auf der Straße. Wo ich sie überschauen konnte, lag sie einsam im Mondlicht. Er konnte friedlich auf dem Rasenstreifen ein paar Meter außerhalb meiner Sichtweite grasen. 37
Er konnte sich andererseits schon auf halbem Weg zu der Schnellstrecke für Fernzüge befinden, oder auf der Autobahn nach Brighton, oder auf der Hauptlandebahn von Gatwick. Er konnte in den gestrüppreichen Wäldern der Umgegend in ein Kaninchenloch stürzen. Ich schwitzte in der kalten Nachtluft. Siebzigtausend verdammte Pfund, die ich nicht besaß und die ich nicht aufbringen konnte. Nachts im Auto nach einem freilaufenden Pferd zu suchen barg eine ganze Anzahl hochgradiger Risikofaktoren. Man konnte die Bewegungen des Tiers nicht hören, und wegen seines dunklen Fells bestand die Gefahr, daß man es überfuhr, bevor man es gesehen hatte. Man konnte es so erschrecken, daß es panikartig die Flucht ergriff und in einen Zaun einbrach, sich an einem Stacheldraht Rißwunden zuzog, ausglitt, auf die Knie fiel und sich die schlanken Knochen und Sehnen seiner Beine irreparabel verletzte. Ich lief eilig in den Hof zurück, holte aus der Sattelkammer Zaumzeug und ein Halfter und rannte zu der nächstgelegenen Koppel hinaus. Irgendwo dort draußen, in dem gedämpften grauen Licht, mußte der pensionierte Steeplechaser sein, der mir als Reitpferd diente. Der im Stehen döste und von längst vergangenen Goldtrophäen träumte. Ich kletterte auf die Querstangen der Umzäunung und pfiff trillernd durch die Zähne, ein Laut, auf den er reagierte, wenn ihm danach war. »Komm, Junge«, rief ich. »Komm her, du alter Gauner, um Himmels willen.« Komm schon. Komm einfach. Aber das Feld sah leer aus. Ich pfiff noch einmal, verzweifelt. Da kam er angetrottet, mit der Gemächlichkeit eines Museumswärters. Er beschnupperte meine Finger. Ließ ergeben zu, daß ich ihm das Zaumzeug anlegte. Blieb sogar verhältnismäßig ruhig, als ich ihn zum Gatter führte, das ich 38
wie üblich nutzte, um aufzusitzen. Ich ritt schaukelnd auf seinem bloßen Rücken, ließ ihn durch den Hof traben und am Tor selbst die Richtung wählen. Zur Linken lagen die Hauptstraßen und zur Rechten erstreckten sich die Wälder. Er wählte rechts, aber während ich ihn vorantrieb, fragte ich mich, ob er diese Richtung nicht eingeschlagen hatte, weil ich es unbewußt so wollte. Pferde waren in hohem Grade telepathisch veranlagt und brauchten kaum gelenkt zu werden. Wenn der Zweijährige im Wald war, würde er nicht unter die Räder eines zwanzig Tonnen schweren Lasters geraten. Wenn er im Wald war, fraß er vielleicht seelenruhig Blätter von den Ästen, ohne seine Füße in Kaninchenlöcher zu stecken... Nach einer halben Meile, dort, wo die enge Straße anfing, sich aufwärts zu winden, und wo das Gestrüpp aus Buchenholzhecken, Brombeerbüschen und Immergrün dichter wurde, hielt ich meinen Steepler an und lauschte. Nichts. Nur das schwache Geräusch sirrender Luft, kaum ein Rascheln. Mein Pferd wartete, desinteressiert und ohne Anzeichen von Unruhe. Es hätte gespürt, wenn der Zweijährige in der Nähe gewesen wäre. Es teilte mir indirekt mit, daß dies nicht der Fall war. Ich ritt wieder zurück, ließ ihn zügig auf dem weicheren Straßensaum traben. Am Stalltor vorbei, in das er wieder einbiegen wollte. Die Straße entlang Richtung Dorf und über den mondbeschienenen Anger. Ich versuchte mich mit dem Gedanken zu trösten, daß Pferde sich meistens nicht weit entfernen, wenn sie aus ihrem Stall freikommen. Nur bis zur nächstbesten saftigen Wiese. Sie wandern umher und bleiben wieder stehen, wandern weiter, bleiben wieder stehen, und nur wenn sie etwas erschreckte, würden sie sich im Galopp aus dem Staub machen. Das Problem war nur, daß sie so schreckhaft waren.
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Auf dem Dorfanger wuchs genügend Gras, aber kein Zweijähriger weit und breit. Ich hielt am anderen Ende wieder an und horchte. Nichts. Voller Unruhe und mit trockenem Mund ritt ich weiter zur Kreuzung, von wo aus die Hauptstraße jäh auf die A 23 abzweigte, eine nach beiden Richtungen dreispurige Autobahn. Wie konnte ich nur, dachte ich, wie konnte ich nur so dumm gewesen sein und die Stalltür nicht verriegeln. Ich konnte mich nicht entsinnen, es unterlassen zu haben, aber wiederum auch nicht, daß ich es getan hatte. Es war eine dieser Routinehandlungen, die man automatisch ausführte. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich den Riegel nicht vorgeschoben hatte, als ich die Box verließ. Mein ganzes Arbeitsleben lang hatte ich es so gehalten. Gegen meine eigene Fahrlässigkeit war ich nicht versichert. Wie konnte ich nur... wie konnte ich um alles in der Welt... so dumm gewesen sein, die Tür nicht zu verriegeln? Selbst nach Mitternacht war noch viel zuviel Verkehr auf der Straße nach Brighton. Bestimmt kein geeigneter Ort für ein Pferd. Ich zog wieder die Zügel an, und fast sofort hob mein Steepler den Kopf, richtete die Ohren auf und wieherte. Er wandte sich nach rechts, den herannahenden Scheinwerfern zu, und wieherte abermals. Irgendwo außer Sichtweite hörte oder witterte er ein anderes Pferd, und nicht zum erstenmal verspürte ich Neid auf diese übermenschliche Wahrnehmung. In großer Eile schlug ich auf dem grünen Seitenstreifen den Weg nach Süden ein, in der verzweifelten Hoffnung, daß ich das richtige Pferd finden würde und nicht einen Rastplatz voller Zigeunerponys. Weiter vorn wurde plötzlich ein entsetzliches Reifenquietschen laut, Scheinwerfer schnitten wild durch die
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Dunkelheit, dann folgten ein abscheulicher Knall und das Geschepper von splitterndem Glas. Mein Pferd stieß ein Wiehern aus, das mehr wie ein Schrei klang. Seinem Reiter wurde übel. O Gott, dachte ich. O du lieber Gott. Ich verlangsamte zum Schritt und stellte fest, daß ich zitterte. Vor mir ertönten Rufe, und man hörte weitere Autos bremsen, ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht und wünschte, daß mir die Fortsetzung erspart bliebe. Und die nächste Stunde, der nächste Tag, das nächste Jahr. Und dann, wie ein Wunder, löste sich eine Gestalt aus dem Gewirr von Licht und Dunkelheit vor mir. Ein Wesen, das sich sehr schnell bewegte, direkt auf mich zukam und dabei klapperte. Hufe donnerten auf dem harten Untergrund, hysterisch und hemmungslos. Der Ausbüxer raste mit 65 Stundenkilometern im gestreckten Galopp an mir vorbei, als wollte er das Zweijährigenrennen für die Dreifache Krone gewinnen. Unendlich erleichtert, daß zumindest er nicht verletzt war, und Gewissensbisse hinsichtlich des verunglückten Wagens verdrängend, lenkte ich meinen Steepler herum und nahm die Verfolgung auf. Es war ein ungleicher Wettkampf: ein alternder Hürdler gegen einen heißblütigen Flieger. Aber meine Angst genügte, um mein Pferd anzuspornen. Es ließ sich von meiner Unruhe anstecken und erregen und legte ein Tempo vor, das auf diesem Untergrund der reine Wahnsinn war. Der Zweijährige, der uns hinter sich spürte, hätte die Herausforderung annehmen und sich noch mehr ins Zeug legen können, aber es schien ihn im Gegenteil zu beruhigen, nicht zu elektrisieren, daß sich ein anderes Pferd näherte, und obwohl er keine Anstalten machte, anzuhalten, erlaubte er mir allmählich, neben ihm herzureiten.
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Ich kam von außen an ihn heran, so daß er links von mir lief. In seiner Box hatte er kein Halfter getragen, und obwohl ich ein Stallhalfter mitgebracht hatte, hätte es eher einen Stuntman vom Zirkus gebraucht, um es ihm bei diesem Galopp anzulegen, als einen Ex-Jockey ohne Kondition mit drei angeknacksten Rückenwirbeln und einer Schulter, die sich bei jedem kräftigen Ruck auskugelte. Wir hatten fast schon wieder die Abzweigung, die zum Dorf führte, erreicht. Direkt vor uns lag ein stark befahrener Kreisverkehr, und die Vorstellung, einen weiteren Unfall zu verursachen, war einfach zu schrecklich. Was immer das für ein Risiko für den Zweijährigen bedeutete, er mußte ins Dorf gelenkt werden. Ich drückte meinen Steepler nach links, bis mein Bein die angespannte Seite des jüngeren Pferdes streifte, und stieß ihm sanft meinen Zeh in die Rippen. Das wiederholte ich drei- oder viermal, damit er mich auch genau verstand, und als wir dann an der Gabelung ankamen, stieß ich ihn noch einmal sehr nachdrücklich und drängte mein Pferd äußerst nah an ihn heran, wobei ich mein Gewicht nach links verlagerte. Der Zweijährige bog in die Gabelung ein, ohne die Balance zu verlieren, so zielsicher, als würde er geritten. Er trat wieder vor uns die Flucht ins Dorf an, zweifellos weil ich das Tempo unwillkürlich verlangsamt hatte, sobald wir die Hauptstraße verlassen hatten. Man konnte sich in den engen Kurven nicht so langmachen wie in der Zielgeraden. Der Zweijährige bekam diese Weisheit schmerzlich zu spüren. Er geriet an der Ecke, die zum Anger führte, ins Schleudern, kämpfte, um nicht zu stürzen, stob Funken mit seinen Halt suchenden Hufen, stolperte über die fünfzehn Zentimeter hohe Grasnarbe, und ging in einem Gewimmel von gespreizten Beinen zu Boden. Ich saß ab, griff die Zügel des Steeplers und rannte zu dem ausgestreckt liegenden Haufen hin. Meine Knie fühlten sich wacklig an. Ich flehte, daß er 42
keine Sehne gezerrt hatte, nicht hier auf dem weichen grünen Gras, nachdem er soviel entsetzliche Gefahren gemeistert hatte. Bitte nicht. Mein Wunsch ging in Erfüllung. Er war völlig außer Atem und lag noch eine Weile mit sich hebenden und senkenden Flanken da, aber dann stand er auf. Ich hatte ihm das Halfter angelegt, als er noch am Boden lag, und führte jetzt ihn und den Steepler, ein Pferd an jeder Hand, den Weg zu meinem Hof entlang. Sie dampften vor Schweiß und bliesen durch die Nüstern; und meinem Reitpferd, das aufgezäumt war, tropfte schäumender Speichel aus dem Maul; aber keines von beiden lahmte. Das Mondlicht war beruhigend, friedlich und kühl. Im Hof vertäute ich den Steepler an einem Zaun und führte den Zweijährigen wieder in seine Box, wo mir zum erstenmal auffiel, daß er seine Stalldecke nicht mehr trug. Irgendwo während seiner Odyssee hatte er sich ihrer anscheinend entledigt. Ich holte eine neue Decke und schnallte sie ihm um. Strenggenommen hätte ich ihn noch eine halbe Stunde herumführen sollen, damit er sich abkühlen konnte, aber ich hatte keine Zeit. Ich ging hinaus, machte seine Tür zu und schob mit aller Macht den Riegel vor. Ich konnte mir partout nicht vorstellen, wie ich ihn hatte auflassen können. Ich holte den Wagen aus der Garage, fuhr dann durchs Dorf und die Hauptstraße entlang. Eine größere Menschenmenge hatte sich inzwischen am Unfallort versammelt, und einige von ihnen schwenkten Taschenlampen, um den Verkehr umzuleiten. Als ich auf dem Seitenstreifen zum Halten kam, befahl mir einer der selbsternannten Verkehrspolizisten, weiterzufahren, es gebe schon genügend Schaulustige. Ich sagte ihm, daß ich in der Nähe wohnte und vielleicht helfen könne, und ließ ihn stehen, damit er seine Fahrer durchwinken konnte. 43
Auf der anderen Straßenseite floß der nordwärts gerichtete Verkehr stetig weiter, da sich der Unfall auf der diesseitigen Hälfte ereignet hatte. Mit einer bangen Vorahnung ging ich auf die andere Seite und gesellte mich zu der Gruppe im Zentrum des Geschehens. Autoscheinwerfer verwandelten die Menschen in scharfe Silhouetten, hell auf der einen, dunkel auf der anderen Seite. Alles Männer, alle auf den Beinen. Und eine junge Frau. Ihr Auto hatte es am schlimmsten erwischt. An der einen Seite war es offensichtlich in den Metallpfosten des Hinweisschildes am Dorfeingang hineingekracht und hinten von einem dunkelgrünen Rover gerammt worden, der schräg über dem Fahrdamm stand, wobei Wasser aus seinem verbeulten Kühler lief und frostige Glassplitter von seiner Windschutzscheibe bröckelten. Der Besitzer des Rovers machte gerade seiner Wut in einem eloquenten Redeschwall Luft, brüllte etwas von Frauen am Steuer und daß es nicht seine Schuld gewesen sei. Das Mädchen stand da und betrachtete nachdenklich die orangefarbenen Überreste des MGB/GT, der sich mit der Nase voran in den Straßengraben gebohrt hatte. Sie trug ein langes weißes Kleid aus weichem, fließendem Stoff, mit einem zarten schwarzen Muster und silbernen Fäden, die in der Dunkelheit glitzerten. Sie trug silberne Schuhe und hatte silberblondes Haar, das ihr glatt bis auf die Schultern fiel, und sie blutete. Zuerst war ich überrascht, daß sie allein dort stand, daß die männlichen Anwesenden sie nicht in Decken hüllten, ihre Wunden verarzteten und sich allgemein als Beschützer aufführten, aber als ich sie ansah, verstand ich, warum. Sie hatte sich unter eisiger Kontrolle, so kühl und silbern wie das Mondlicht. Trotz der Schnittwunde an der Stirn, aus der das Blut heraustropfte, und trotz der Spuren, die entstanden waren, als sie versucht hatte, es wegzuwischen, trotz des viel größeren Blutflecks an ihrem rechten Arm und der scharlachroten 44
Spritzer vorne auf ihrem schönen Kleid, schien in ihrer Haltung etwas zu liegen, das Hilfe zurückwies. Und sie war auch nicht so jung, wie sie auf den ersten Blick wirkte. »Sie ist direkt vor mir ausgeschert«, schrie der Roverfahrer. »Einfach schräg vor mir rübergeschwenkt. Ich hatte überhaupt keine Chance. Sie war eingeschlafen. So ist das nämlich. Und jetzt erzählt sie uns irgendein Märchen von einem Pferd. Ich bitte Sie. Ein Pferd! Vor einem Pferd ausgewichen. Eingeschlafen war sie. Von einem Pferd hat sie nur geträumt. Die blöde Schlampe.« Schock verursacht mitunter bei Leuten derartige Reaktionen, und fairerweise mußte man zugeben, daß er einen gewaltigen Schreck bekommen hatte. Ich sagte zu dem jungen Mädchen: »Da war auch ein Pferd.« Sie schaute mich an, als hätte ich einen Allgemeinplatz geäußert. »Natürlich«, sagte sie. »Ja... es hat sich aus meinem Stall losgemacht und sich hierher auf die Straße verlaufen.« Sofort hefteten sich unzählige vorwurfsvolle Augenpaare auf mich; außerdem wurde nun ich zur Zielscheibe eines erneuten Wutausbruchs des Roverfahrers. Im Vergleich dazu hatte er sich bei dem Mädchen noch zurückgehalten. Er verfügte über eine breite Palette von Ausdrücken, die man sogar auf der Rennbahn nicht alle Tagen zu hören bekam. Als er seine Haßtirade einen Augenblick unterbrach, erhob das Mädchen die Stimme. Sie preßte eine Hand gegen den Unterleib und sah gequält aus. »Ich muß auf die Toilette«, sagte sie deutlich. »Ich bringe Sie zu meinem Haus«, sagte ich. »Es ist nicht weit von hier.« Der Roverfahrer war dagegen. Sie solle bleiben, bis die Polizei eintreffe, was jetzt jede Sekunde der Fall sei, sagte er. Aber ein paar andere Männer zeigten Verständnis dafür, daß 45
ein solches Erlebnis an die Eingeweide ging, und bildeten still eine Gasse, damit sie mich auf die andere Straßenseite und zu meinem Auto begleiten konnte. »Wenn die Polizei sie sprechen will«, sagte ich, »sagen Sie ihnen, daß sie bei Jonah Dereham ist. Erste links, durchs Dorf, das Haus mit einem Stalltor dahinter, rechter Hand.« Sie nickten. Als ich noch einmal zurückschaute, sah ich, wie die meisten von ihnen zu ihren eigenen Wagen gingen und davonfuhren, und nur noch ein oder zwei Männer blieben, um dem Rovermann Unterstützung zu leisten. Während der kurzen Fahrt sprach sie nicht. Auf ihrem Gesicht waren außer Blut auch Schweißperlen zu sehen. Ich hielt vor der Küche und führte sie unverzüglich ins Haus. »Die Toilette ist dort entlang«, sagte ich und zeigte ihr die Tür. Sie nickte und ging hinein. Weiße Wände, eine grelle nackte Glühbirne, Gummistiefel, Regenmäntel, zwei gerahmte Zielfotos und eine uralte Schrotflinte. Ich überließ sie dieser ungemütlichen Einrichtung und ging wieder hinaus, wo mein Steepler immer noch am Geländer festgebunden stand und geduldig wartete. Ich tätschelte ihn und sagte ihm, daß er ein Pfundskerl sei. Holte ihm ein paar Äpfel aus der Sattelkammer und führte ihn wieder auf seine Koppel. Seit dem Tag, an dem ihm die Menge in Cheltenham den Hügel hinauf bis durchs Ziel zugejubelt hatte, war er nicht mehr so schnell galoppiert und hatte nie mehr diese Aufregung verspürt. Er schnaubte, zweifellos aus Stolz, als ich ihn laufen ließ, und trabte auf federnden Fesseln davon wie ein Einjähriger. Sie kam gerade aus der Toilette, als ich zurückkehrte. Sie hatte das verschmierte Blut von ihrem Gesicht gewaschen und drückte ein Handtuch gegen die immer noch nicht gerinnende Schnittwunde an der Stirn. Mit einer Handbewegung bat ich sie, wieder in die Küche zu kommen, und sie folgte der 46
Einladung mit derselben markanten und ungewöhnlichen Gelassenheit. »Was Sie mir jetzt geben können«, sagte sie, »ist ein großer Drink.« »Ähm... wie wär’s mit einem starken heißen Tee?« Sie starrte mich an. »Nein. Brandy.« »Ich habe keinen da.« Sie gestikulierte ungeduldig. »Dann eben Whisky. Gin. Irgendwas.« »Ich fürchte«, sagte ich bedauernd, »daß ich Ihnen nichts dergleichen anbieten kann.« »Wollen Sie sagen«, fragte sie ungläubig, »daß Sie keinerlei Alkohol im Haus haben?« »Ich fürchte, ja.« »Herrje«, sagte sie ausdruckslos. Sie setzte sich plötzlich auf den Küchenstuhl, als wären ihr die Beine weggesackt. Ich sagte: »Tee ist wirklich viel besser, wenn man verletzt ist. Ich mache Ihnen welchen.« Ich griff nach dem Kessel, um ihn aufzufüllen. »Sie verdammter Idiot«, sagte sie. In ihrer Stimme mischten sich Verachtung, Wut und überraschenderweise Verzweiflung. »Aber...« »Aber gar nichts«, sagte sie. »Erst lassen Sie das blöde Pferd frei, dann bringt es mich fast um, und jetzt können Sie mir nicht mal mit einem Scheißdrink aus der Patsche helfen.« »Aus der Patsche helfen?« wiederholte ich. Sie warf mir einen schneidenden Blick zu. Dieselbe Mischung: Verachtung, Wut, Verzweiflung. Die Verzweiflung erklärte sie mir. »Hören Sie... ich war auf einer Party. Ich fuhr gerade nach Hause. Und Ihretwegen und wegen Ihrem blöden Pferd hat es diesen Unfall gegeben, und obwohl es nicht meine Schuld war, wird hier irgendwann die Polizei mit ihren kleinen Pusteröhrchen antanzen.« 47
Ich sah sie an. »Ich bin nicht betrunken«, sagte sie überflüssigerweise. »Nicht mal annähernd. Aber ich komme bestimmt über die 0,8Promille-Grenze. Schon 0,81 reichen. Und ich kann es mir nicht leisten, meinen Führerschein zu verlieren.« Mein Pferd hatte sie in diesen Schlamassel gebracht. Ich mußte wohl oder übel mein Bestes tun, um sie da wieder herauszuholen. »Gut«, sagte ich. »Ich regle das schon.« »Wecken Sie einen Nachbarn«, sagte sie. »Aber machen Sie schnell, sonst ist die Polizei vorher da.« Ich schüttelte den Kopf. Ich ging zur Mülltonne und fischte die leere Flasche Scotch heraus. »Für Nachbarn haben wir jetzt keine Zeit«, sagte ich. »Und es würde auch zu auffällig wirken.« Ich holte ein Glas und gab es ihr. Dann hielt ich die leere Flasche unter den Hahn, ließ einen Fingerhut voll Wasser hineinlaufen, schüttelte das Wasser in der Flasche herum und goß ihr das Ergebnis ein. »Glauben Sie«, fragte sie zweifelnd, »daß das irgend jemanden täuschen kann?« »Warum nicht?« Ich stellte die leere Flasche auf den Küchentisch und widmete mich wieder dem Kessel. »Und wir sollten uns unbedingt um Ihre Schnittwunden kümmern.« Sie verschmierte wieder Blut an der Stirn und betrachtete teilnahmslos die scharlachrote Stelle an ihrem rechten Unterarm. »Ich schätze, ja«, sagte sie. Während das Wasser kochte, rief ich meinen Hausarzt an und erklärte ihm die Situation. »Bring sie zur Notaufnahme ins Krankenhaus«, sagte er. »Dafür sind die da.« »Sie ist hübsch«, sagte ich. »Und du kannst es bestimmt besser.«
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»Verdammt noch mal, Jonah, es ist halb zwei«, sagte er, erklärte sich aber bereit zu kommen. Der Tee war fertig, als die Polizisten mit ihren kleinen Pusteröhrchen eintrafen. Sie nahmen jeder eine große Tasse mit Milch und Zucker an und schnüffelten verdrießlich an der Whiskyflasche und dem Glas, das das Mädchen in der Hand hielt. Ob sie denn nicht wüßte, daß sie keine alkoholischen Getränke zu sich nehmen durfte, bevor sie ins Röhrchen gepustet hatte? Sie schüttelte müde den Kopf und ließ durchblicken, daß sie keinen Gedanken daran verschwendet hatte. Tests, die innerhalb einer Viertelstunde nach der Einnahme von Alkoholika durchgeführt wurden, waren nicht als Beweismittel verwendbar. Die Polizisten überbrückten die Wartezeit, indem sie ihre Aussage zu Protokoll nahmen. »Ihr Name, Miss?« »Sophie Randolph.« »Verheiratet?« »Nein.« »Alter?« »Zweiunddreißig.« Keine weibliche Ziererei. Nur eine Tatsache. »Adresse?« »Primrose Court, Scilly Isles Drive, Esher, Surrey.« »Beruf?« »Fluglotsin.« Der Stift des Polizisten blieb fünf Sekunden lang in der Luft hängen, bevor er es aufschrieb. Ich schaute das Mädchen an; Sophie Randolph, ledig, zweiunddreißig, Fluglotsin, eine Frau, die es gewohnt war, als Gleichberechtigte unter Männern zu arbeiten, und mir fiel wieder ein, wie sie instinktiv auf die Männer am Unfallort reagiert hatte: Selbst in einer Krisensituation lehnte sie überhebliches Schutzgehabe ab, weil sie es sich im Alltag nicht leisten konnte. 49
Sie machte freimütig ihre Aussage. Sie war in der Nähe von Brighton bei Freunden zum Abendessen eingeladen gewesen. Sie hatte sie um zwölf Uhr fünfzehn verlassen. Ungefähr um zwölf Uhr fünfundzwanzig fuhr sie bei guter Sicht und mit siebzig Stundenkilometern und hörte eine Sendung des Nachtprogramms im Autoradio. Ein Pferd kam plötzlich von den Büschen des Mittelstreifens her auf die Straße gelaufen. Sie bremste scharf, hatte aber keine Möglichkeit, anzuhalten. Sie riß das Lenkrad hart nach links, um dem Pferd auszuweichen. Sie hatte den Rover etwa eine Meile vorher überholt, ohne sich bewußt zu sein, daß er ihr immer noch so dicht folgte. Der Rover fuhr hinten auf ihren Wagen auf, der daraufhin herumgerissen wurde. Dann prallte ihr Wagen gegen ein Straßenschild neben der Straße und rutschte in einen Graben, wo er zum Stillstand kam. Sie war völlig erschüttert. Sie war angeschnallt gewesen. Sie hatte leichte Schnittwunden durch zerbrochenes Glas erlitten. Einer der Polizisten fragte sie, was sie während des Abends getrunken habe. Mit derselben ruhigen und sachlichen Stimme sagte sie: Sherry vor dem Abendessen und anschließend Wein. Schließlich war es soweit, daß sie ins Tütchen pusten konnte. Sie tat es ohne spürbare Aufregung. Der Polizist, der ihr die Tüte abnahm, betrachtete aufmerksam die Kristalle und ließ seine Augenbrauen nach oben wandern. »Also Miss«, sagte er. »Inoffiziell kann ich Ihnen schon mal mitteilen, wenn Sie nicht den Whisky getrunken hätten, hätten Sie die Grenze nicht überschritten. Aber auch so liegen Sie nicht weit darüber.« »Das überrascht mich eigentlich nicht«, sagte sie, und wenigstens das war wahr. »Sie würden sich ganz schön wundern, wie viele Leute versuchen, etwas zu trinken, bevor wir den Test mit ihnen machen.« 50
»Tatsächlich?« Sie klang müde und als würden ihr derartige Täuschungsmanöver nicht im Traum einfallen. Die Polizisten packten ihre Notizen und ihre Fläschchen zusammen, erteilten mir eine Lektion über Pferde, die man nicht frei herumlaufen lassen sollte, und machten sich dann endlich auf den Weg. Sophie Randolph schenkte mir die Andeutung eines Lächelns. »Danke«, sagte sie.
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4 Sie schlief in meinem Bett, ich schlief in Crispins, und Crispin schlief ahnungslos auf dem Sofa weiter. Sie war vom Arzt säuberlich vernäht worden, hatte aber mehr Sorge über ihr Kleid bekundet. Sie hatte darauf bestanden, daß er die Naht des Ärmels auftrennte, anstatt den Stoff aufzureißen, um an die Wunde heranzukommen, und ich mußte über die penible Art lächeln, mit der er die winzigen Fäden aufschnitt, um ihr den Gefallen zu tun. »Mein Arm heilt von selbst«, erklärte sie. »Aber mein Kleid nicht, und das war teuer.« Die Wunde entpuppte sich als ausgefranster, tiefer Schnitt, in dem Glassplitter staken. Sie sah interessiert zu, wie er ihr eine örtliche Betäubung gab und sich an die Reparaturarbeiten machte, und gegen Ende fragte ich mich, was wohl dazugehörte, eine derartig routinierte Selbstbeherrschung zu erschüttern. Am nächsten Morgen wirkte sie blaß und wacklig auf den Beinen, aber nach wie vor im wesentlichen gelassen. Ich hatte ihr eigentlich sagen wollen, daß sie im Bett bleiben sollte, aber als ich um halb neun ins Haus kam, nachdem ich meine Untermieter gefüttert und ihre Boxen ausgemistet hatte, war sie schon unten in der Küche. Sie trug meinen Morgenrock und meine Hausschuhe, saß am Tisch, rauchte eine Zigarette und las die Zeitung. Um ihre Augen zeigten sich dunkle Ringe, und wenn sich ihre zweiunddreißig Jahre irgendwo bemerkbar machten, dann auf ihrer Haut. Ich konnte mir denken, daß ihr verbundener Arm ziemlich schmerzte. Sie schaute ruhig auf, als ich eintrat. »Hallo«, sagte ich. »Möchten Sie Kaffee?« »Sehr gern.«
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Ich setzte einen Filterkaffee auf. »Ich wollte Ihnen eigentlich eine Tasse nach oben bringen«, sagte ich. »Ich hab nicht besonders gut geschlafen.« »Nicht wahnsinnig überraschend.« »Ich hab Sie draußen auf dem Hof gehört. Habe Sie vom Fenster aus gesehen und dachte, da könnte ich auch gleich herunterkommen.« »Wie wär’s mit Toast?« fragte ich. Sie hatte nichts gegen Toast, auch nichts gegen drei knusprige Scheiben Bacon dazu. Während ich sie briet, begutachtete sie die nüchterne Kücheneinrichtung und stellte schließlich die Frage, die in der Luft lag: »Sind Sie verheiratet?« »Geschieden.« »Seit einigen Jahren, rate ich mal.« Ich grinste. »Stimmt genau.« Geheiratet, bereut, geschieden, und keineswegs darauf bedacht, denselben Fehler so schnell noch einmal zu begehen. »Könnten Sie mir vielleicht ein paar Sachen leihen, in denen ich nicht allzu lächerlich aussehe?« »Oh... einen Pulli. Jeans. Reicht das?« »Paßt herrlich zu silbernen Schuhen«, sagte sie. Ich setzte mich neben sie, um meinen Kaffee zu trinken. Ihr Gesicht war eher angenehm als eindeutig schön zu nennen, wobei der Teint und der Ausdruck mehr als die Form ausschlaggebend waren. Ihre Augenbrauen und Wimpern waren dunkelblond, die Augen haselnußfarben, der Mund leicht rosa ohne Lippenstift. Ihre kühle Haltung, so verstand ich allmählich, war nicht aggressiver Natur. Es war nur, daß sie niemandem erlaubte, sie von oben herab zu behandeln oder herunterzuputzen, weil sie eine Frau war. Verständlich, daß das einigen Männern mißfiel. Aber ihre Kollegen, dachte ich, fanden das wahrscheinlich eher erholsam. 53
»Es tut mir sehr leid«, sagte ich, »das mit meinem Pferd.« »Das sollte es auch, verdammt noch mal.« Aber es schwang nicht die Verbitterung mit, die ihr zugestanden hätte. »Was kann ich tun, um es wiedergutzumachen?« »Bieten Sie mir einen Fahrservice an?« »Aber gewiß doch«, sagte ich. Sie kaute auf Toast und Bacon herum. »Also... ich muß erst mal dafür sorgen, daß mein Wagen abgeschleppt wird. Was davon noch übrig ist. Dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich zum Flughafen von Gatwick bringen könnten.« »Demnach arbeiten Sie dort?« fragte ich erstaunt. »Nein. In Heathrow. Aber ich kann in Gatwick einen Wagen mieten. Spezialrabatt... gehört zum Job.« Sie benutzte ihre rechte Hand, um den Toast zu schneiden, und ich sah, wie sie zusammenzuckte. »Müssen Sie heute arbeiten?« fragte ich. »Mit meiner Stimme ist ja alles in Ordnung«, sagte sie. »Aber wahrscheinlich nicht. Ab vier Uhr heute nachmittag habe ich zwölf Stunden lang Bereitschaftsdienst. Das heißt, daß ich nur zu Hause in meiner Wohnung sein muß, um innerhalb einer Stunde bei der Arbeit sein zu können, falls jemand krank ist oder nicht auftaucht.« »Und wie groß ist die Chance?« »Daß ich arbeiten muß? Nicht groß. Bereitschaftsdienst ist meistens nur ziemlich langweilig.« Sie hielt ihre Kaffeetasse in der linken Hand. »Und Sie?« fragte sie. »Was tun Sie?« »Ich bin Agent für Vollblutpferde.« Sie runzelte die Stirn. »Ich habe eine Tante, die behauptet, daß alle Vollblutagenten Gauner sind.« Ich lächelte. »Die großen Firmen würden sich bedanken, wenn sie das hörten.« »Arbeiten Sie für eine Firma?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin selbständig.« 54
Sie aß ihren Toast auf und angelte sich eine Packung Zigaretten aus der Tasche meines Morgenrocks. »Wenigstens rauchen Sie«, sagte sie und knipste mein Feuerzeug an. »Die habe ich in Ihrem Schlafzimmer gefunden... Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.« »Nehmen Sie, was Ihnen gefällt«, sagte ich. Sie sah mich unverwandt an, und ihre Augen flackerten amüsiert auf. »Ich werde Ihnen dafür etwas erzählen. Können Sie sich an den Mann in dem Rover erinnern?« »Wie könnte man den vergessen!« »Er fuhr ungefähr fünfundsechzig Stundenkilometer, bis ich versuchte, ihn zu überholen. Als ich mit ihm auf gleicher Höhe war, beschleunigte er.« »Einer von der Sorte.« Sie nickte. »Einer von der Sorte. Also gab ich Gas und überholte ihn, und das gefiel ihm gar nicht. Er fuhr andauernd dicht schlingernd hinter mir her, blendete mit der Lichthupe und benahm sich überhaupt wie der letzte Idiot. Wenn er mich nicht die ganze Zeit abgelenkt hätte, wäre mir Ihr Pferd vielleicht einen Bruchteil früher aufgefallen. Er war an dem Unfall genauso schuld wie Ihr Pferd.« »Aha«, sagte ich. »Also dann vielen Dank meinerseits.« Wir lächelten uns an, und plötzlich standen allerlei Möglichkeiten wie viele kleine Fragezeichen im Raum, dort in der Küche über den Toastkrümeln. In diesem entscheidenden Moment polterte Crispin mit der Feinfühligkeit eines Panzers herein. Die Küchentür flog krachend auf, und er trat ein, zerknittert, unrasiert, verkatert und fluchend. »Wo zum Teufel hast du den Whisky versteckt?« Sophie betrachtete ihn mit der üblichen Ruhe. Crispin schien ihre Anwesenheit nicht zu bemerken.
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»Jonah, du mieses Schwein, ich schneid dir die gottverdammte Kehle durch, wenn du ihn mir nicht auf der Stelle zurückgibst.« Das Tragische daran war, daß er es mehr als zur Hälfte ernst meinte. »Du hast ihn gestern abend ausgetrunken«, sagte ich. »Die leere Flasche ist in der Mülltonne.« »Das hab ich verdammt noch mal nicht gemacht. Wenn du sie in den Scheißausguß gekippt hast, erwürge ich dich, das kannst du mir glauben.« »Du hast sie in deine Kehle gekippt«, sagte ich. »Und du solltest lieber etwas Kaffee trinken.« »Schieb dir deinen Scheißkaffee sonstwohin.« Er stampfte wütend durch die Küche, riß die Schränke auf und spähte hinein. »Wo ist er?« fragte er. »Wo hast du ihn versteckt, du stinkiger kleiner Stallbursche?« Er nahm eine Tüte Zucker heraus und warf sie auf die Erde. Das Papier zerbarst, und die Kristalle stoben in frostig-weißen Schwaden umher. Er zog mehrere Büchsen hervor, um hinter sie zu schauen, und ließ sie fallen, anstatt sie zurückzustellen. »Jonah, ich bring dich um«, sagte er. Ich machte ihm etwas Kaffee heiß und stellte den Becher auf den Tisch. Eine Packung Reis und eine weitere, die Cornflakes enthielt, gesellten sich zum Durcheinander auf dem Fußboden. Mit einem wütenden Zuknallen der Schranktür gab er die Suche auf, setzte sich an den Tisch und langte nach dem Kaffee. Seine Hand zitterte wie die eines Neunzigjährigen. Er schien Sophie zum erstenmal wahrzunehmen. Sein erstaunter Blick begann bei ihrer Taille und wanderte dann langsam zu ihrem Gesicht aufwärts. »Wer sind denn Sie, verdammt noch mal?« »Sophie Randolph«, sagte sie höflich. Er schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Jonahs beschissenes kleines Flittchen.«
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Er drehte sich abrupt zu mir herum, eine Bewegung, die offensichtlich seine Innereien durcheinanderbrachte und eine Welle von Übelkeit in ihm hervorrief. Ich hoffte inständig, daß er sich nicht übergeben mußte, so wie das bereits zu anderen unerfreulichen Gelegenheiten geschehen war. »Du geiler Bock«, sagte er. »Du hättest mich nur bitten müssen, mich zu verziehen. Ich wäre gegangen. Du hättest mich nicht besoffen machen müssen, um mich loszuwerden.« Die locker sitzenden Tränen begannen ihm die Wangen herunterzulaufen. Und nach dem Selbstmitleid kommen die Versprechungen, dachte ich. Immer dieselbe Leier. »Du hast dich selbst besoffen gemacht«, sagte ich. »Du hättest mir den Scotch nicht geben dürfen«, sagte er. »Es war deine verdammte Schuld.« »Du weißt verdammt genau, daß ich dir keinen Scotch gegeben habe.« »Du hast ihn einfach hier auf den Tisch gestellt und darauf gewartet, daß ich ihn finde. Wenn das nicht bedeutet, daß du ihn mir gegeben hast, was dann?« »Du bist imstande, dir einzubilden, daß er auf einem Baum im Garten gewachsen ist. Du bist losgegangen und hast ihn dir gekauft.« »Ich sag dir doch, daß es nicht so war«, sagte er beleidigt. »Ich hab ihn einfach auf dem Tisch gefunden.« Es gelang ihm, den Kaffeebecher anzusetzen, ohne den Inhalt zu verschütten. Ich betrachtete ihn. Angenommen, er sagte – was unwahrscheinlich war – zufällig doch die Wahrheit, dann wollte ihm jemand ziemlich übel mitspielen. Aber soweit ich wußte, hatte er keine wirklichen Feinde, nur genervte Bekannte, die es vorzogen, auf die andere Straßenseite zu wechseln und in Hauseingängen zu verschwinden, wenn er auf sie zukam. Alles in allem hielt ich es für naheliegender, daß er die Flasche irgendwo gekauft hatte und die Schuld dafür 57
woanders abladen wollte. Die Zeiten, in denen ich ihm vorbehaltlos alles glaubte, lagen zehn Jahre zurück. »Gott ist mein Zeuge, Jonah, er stand hier auf dem Tisch.« Noch ein paar Tränen quollen aus seinen Augen. »Nie glaubst du mir ein einziges verdammtes Wort.« Er trank den Kaffee halb aus. »Ich würde nie Whisky kaufen«, sagte er. »Scheißsaures Zeugs.« Wenn ihn erst einmal das Verlangen packte, trank er alles, was er in die Finger bekam. Ich hatte schon erlebt, wie er sich mit Pfefferminzlikör besinnungslos besoffen hatte. In seinem Groll darüber, daß ich ihm nicht glaubte, steigerte er sich wieder in nackte Wut hinein. Er holte plötzlich aus und schleuderte in einer halbkoordinierten Bewegung seinen Kaffeebecher durch den Raum, bis er gegen die Wand schepperte. Braune Rinnsale tröpfelten zum Fußboden hinab. Er stand auf, warf dabei seinen Stuhl um und senkte drohend den Kopf. »Gib mir Geld, verdammt noch mal.« »Paß auf... leg dich ins Bett und schlaf den Rausch aus.« »Du blöde Sau. Ich brauch es. Du und dein wohltätiges Gehabe. Du hast ja keine verdammte Ahnung. Nicht mal ansatzweise. Du hast mir meinen Whisky geklaut. Jetzt gib mir verdammt noch mal ein bißchen Geld und leck mich am Arsch.« Sophie Randolph räusperte sich. Crispin drehte sich ruckartig zu ihr um, um jeden Einwand, den sie womöglich vorzubringen hatte, im Keim zu ersticken, und diesmal bewirkte die plötzliche Bewegung, daß er seiner Übelkeit nicht mehr Herr wurde. Zumindest besaß er genügend Selbstachtung, um sich nicht vor ihren Augen zu übergeben: er stürzte zur Hintertür, und wir konnten hören, wie sich sein Elend draußen im Hof entlud, was schlimm genug war. »Er ist mein Bruder«, sagte ich. 58
»Ja.« Sie schien keine weitere Erklärung zu benötigen. Sie schaute sich das Trümmerfeld auf dem Fußboden an. »Wird er das saubermachen?« »Bestimmt nicht«, sagte ich lächelnd. »Das erledige ich später, wenn er schläft. Wenn ich es gleich tue, macht ihn das rasend... er richtet dann nur noch eine größere Verwüstung an.« Sie schüttelte abfällig den Kopf. »Er ist nicht immer so«, sagte ich. »Manchmal kommt er wochenlang ohne Alkohol aus.« Crispin kam zurück und sah grüner aus denn je. »Geld«, sagte er angriffslustig. Ich stand auf, ging ins Büro, und kam mit fünf Pfund wieder zurück. Crispin riß mir den Schein aus der Hand. »Die Kneipe hat noch nicht auf«, bemerkte ich. »Arschgeige.« Crispins Blick wanderte weiter, um Sophie mit einzubeziehen. »Arschgeigen, alle beide.« Er stahl sich durch die Tür, und vom Fenster aus sahen wir ihm nach, wie er leicht wichtigtuerisch zum Tor ging und versuchte, wie ein Landgentleman zu wirken, wobei er vergaß, daß er immer noch Kleidung und Bartstoppeln des Vortags trug. »Warum haben Sie ihm Geld gegeben?« »Damit er nicht in die Verlegenheit kommt, es zu stehlen.« »Aber...« Sie hielt ungläubig inne. Ich erklärte es ihr. »Wenn ihn das Verlangen überkommt, macht er im wahrsten Sinne des Wortes alles, um an Alkohol heranzukommen. Es ist menschlicher, wenn man ihm seinen Wunsch erfüllt und ihm noch ein Fünkchen Würde läßt. Er wird heute den ganzen Tag lang und am Abend betrunken sein, aber vielleicht ist es morgen vorbei.« »Aber die Kneipe...« »Sie werden ihn einlassen«, sagte ich. »Sie wissen Bescheid. Sie werden ihm eine Flasche verkaufen und ihn wieder nach 59
Hause schicken, wenn er Anstalten macht, ins Koma zu fallen.« Obwohl sie meiner Meinung nach ins Bett gehörte, bestand Sophie darauf, daß sie sich um ihr Auto kümmern müsse. Sie ließ sich schließlich auf einen Kompromiß ein, indem sie mir wenigstens erlaubte, die Autowerkstatt im Dorf anzurufen, wo man mich kannte, und die Bergung zu organisieren. Dann verbrachte sie die meiste Zeit des Vormittags damit, in Jeans und Pulli, die ihr zwei Nummern zu groß waren, in dem weichen Ledersessel in meinem Büro zu sitzen und mir dabei zuzuhören, wie ich am Telefon meine Geschäfte führte. Kerry Sanders freute sich über River God und mäkelte auch nicht am Preis herum. »Das klingt schon besser«, sagte sie. »Dieser gottverdammte Name Hearse Puller hat mir sowieso von Anfang an nicht gefallen.« »Nun... ich kann ihn jederzeit von Devon herunterbringen lassen, wann und wohin möchten Sie ihn also geliefert haben?« »Ich besuche die Familie an diesem Wochenende.« Selbst jetzt, fiel mir auf, vermied sie es, den Namen zu nennen. »Ich werde zum Lunch hinunterfahren, und ich möchte gern, daß der Pferdetransporter nachmittags gegen halb fünf eintrifft.« »Selbstverständlich«, sagte ich. »Welche Adresse?« »Haben Sie sie nicht?« Ich sagte ihr, daß ich sie zweifellos herausfinden könnte. Zögerlich rückte sie mit der Information heraus, als gäbe sie ein Geheimnis preis. Ein Dorf in Gloucestershire, auf jeder Landkarte vermerkt. »Okay. Punkt halb fünf«, sagte ich. »Werden Sie selbst dabeisein?« »Nein. Üblicherweise nicht.« »Oh.« Sie klang enttäuscht. »Ähm... ließe sich das nicht arrangieren?« 60
»Sie brauchen mich nicht dabei.« »Ich würde mich aber sehr darüber freuen«, sagte sie, und ihre Stimme schwankte zwischen Schmeichelei und Befehlston, und mir wurde klar, daß sie sich bei all ihrem selbstbewußten Auftreten über dieses Geschenk immer noch nicht sicher war. »Sie meinen, damit ich die Vorstellungen übernehme?« fragte ich. »Na ja. Irgendwie schon.« Nicol Brevett, das ist River God. River God, darf ich vorstellen, das ist Nicol Brevett. Hallo Kumpel, laß uns die Hufe schütteln. »Na schön«, sagte ich. »Ich werde zusammen mit dem Pferd eintreffen.« »Danke.« Wieder diese Mischung in ihrer Stimme. Einerseits erwartete sie, daß ich umgehend springen müsse, wenn sie mich um etwas bat, andererseits war sie aufrichtig erleichtert, daß ich zugesagt hatte. Ich fand es wahnsinnig, daß sie in eine Familie einheiratete, die sie so nervös machte, und ich wunderte mich, warum sie diese Wirkung auf sie ausübte. »Haben Sie irgend etwas Neues über die beiden Männer erfahren?« fragte sie. »Nein.« Abgesehen von einer wunden Stelle, die ich spürte, wenn ich mir das Haar kämmte, hatte ich sie vergessen. Seitdem schien zu viel passiert zu sein. »Ich möchte gern, daß sie herausfinden, warum sie uns das Pferd abgenommen haben.« »Das würde ich natürlich auch gern wissen«, sagte ich. »Aber wie man das herausfinden soll... Wenn es Ihnen wirklich wichtig ist, könnten Sie die Radnor Halley Agentur anrufen. Die würden das übernehmen.« »Privatdetektive?« »Rennsportspezialisten«, sagte ich. »Nun, ja. Aber... ich weiß nicht so recht...« 61
Jedesmal, wenn die Brevetts ins Spiel kamen, trat diese Unsicherheit zutage. »Ich werde mein Bestes tun«, sagte ich, und sie schien zufrieden zu sein, aber ich war nicht im geringsten zuversichtlich. Als nächstes sprach ich mit einer Transportfirma in Devon und vereinbarte, daß sie River God früh am nächsten Morgen abholen und mich um drei Uhr hinter Stroud treffen sollten. Was denn der genaue Zielort sei, fragten sie, und aus einer plötzlichen Vorsicht heraus nannte ich ihn nicht. Zehn Meilen hinter unserem Treffpunkt, sagte ich, und ich würde ihnen den Weg zeigen. Ich legte auf und kam mir ein bißchen lächerlich vor, aber der Verlust von Hearse Puller war kein Scherz gewesen. Ich rief den Farmer in Devon an und bat ihn darum, River God von einem Pferdeführer begleiten zu lassen, und sagte auch, daß das Tier in gutem Zustand zu sein hatte, mit geputzten Füßen und anständigen Hufen. Der Farmer sagte, daß er nicht genügend Zeit habe, um große Umstände zu machen, worauf ich erwiderte, daß er sein Pferd umgehend zurückbekäme, wenn es zu ungepflegt aussähe. Er brummte, murrte, willigte ein und legte auf. »Sie sind ganz schön brüsk mit ihm umgesprungen«, sagte Sophie lächelnd. »Pferde, die unmittelbar von einer Farm kommen, sehen manchmal aus, als hätten sie gerade einen Pflug gezogen...« Sie zündete sich eine Zigarette an, wobei sie den verbundenen steifen Arm nur mühsam bewegen konnte. »Ich habe etwas Kodein«, sagte ich. Sie verzog den Mund. »Dann hätte ich gern welches.« Ich brachte ihr die Schmerztabletten und ein Glas Wasser. »Spielen Sie eigentlich für jeden die Krankenschwester?« »Hauptsächlich für mich selbst.«
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Während ich am Telefon war, hatte sie die Rennfotos an den Wänden bemerkt. »Die sind von Ihnen, oder?« fragte sie. »Die meisten.« »Ich hab von Ihnen gehört«, sagte sie. »Ich gehe zwar selbst nicht zu Rennen, aber meine Tante besitzt ein Gestüt, und ich nehme mal an, daß ich Ihren Namen manchmal in der Zeitung und im Fernsehen sehe.« »Jetzt nicht mehr. Ich habe vor fast drei Jahren aufgehört.« »Bedauern Sie das?« »Daß ich aufgehört habe?« Ich zuckte die Achseln. »Jeder muß irgendwann mal aufhören.« Vor allem, wenn man sechs Monate in einem Gipskorsett verbringt und ernsthafte Ermahnungen von Herren in weißen Kitteln über sich ergehen lassen muß. Sie fragte mich, ob ich sie zu der Stelle fahren könne, wo sie den Unfall gehabt hatte, damit sie sich die Sache bei Tageslicht ansehen könne. »Natürlich«, stimmte ich zu. »Und ich würde gern die Stalldecke suchen, die mein Pferd auf seinem Ausflug abgestreift hat. obwohl sie höchstwahrscheinlich zerrissen ist. Schade eigentlich, daß er sie verloren hat, weil sie beige ist... sie wäre in der Dunkelheit viel leichter zu erkennen gewesen als sein braunes Deckhaar.« Sie drückte ihre Zigarette aus, aber bevor wir uns auf den Weg machen konnten, klingelte das Telefon. »Hallo Jonah«, sagte eine fröhliche amerikanische Stimme. »Wie ist der Kauf gelaufen?« »Welcher?« fragte ich. »Na ja... na der Kauf für Kerry. Sie wissen schon. Kerry Sanders.« »Ja, natürlich«, sagte ich. »Nur, daß ich zwei für sie gekauft habe. Hat sie Ihnen das nicht erzählt?«
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»Nee. Nur, daß Sie beide wegen einem Gaul mit einem fürchterlichen Namen nach Ascot fahren wollten.« Pauli Teksa. Ich stellte ihn mir am anderen Ende der Leitung vor, ein untersetzter, robust gebauter Mann Anfang Vierzig, der vor körperlicher und geistiger Energie nur so strotzte und schamlos darauf aus war, Geld zu verdienen. Ich war ihm nur ein paarmal begegnet und fand, daß seine hervorstechende Eigenschaft die Schnelligkeit war, mit der er seine Entscheidungen traf. Nach einer Sitzung mit ihm kam man sich vor, als wäre man hilflos von einer starken Flutwelle mitgerissen worden, und nur hinterher fing man an sich zu fragen, ob sich wohl irgendeine seiner spontan getroffenen Einschätzungen als falsch herausstellen könnte. Er war wegen der Jährlingsauktion in Newmarket nach England gekommen, ein Vollblutagent, der in den Vereinigten Staaten auf großem Fuß operierte und weltweit in der Szene mitmischte. Vergangene Woche hatten wir in Newmarket mit ein paar anderen Leuten zusammen einen Drink genommen, und wahrscheinlich deswegen und wegen anderer gleichermaßen zufälliger Begegnungen hatte er, so nahm ich an, meinen Namen an Kerry Sanders weitergegeben. Ich erzählte ihm, was aus Hearse Puller geworden war. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie Sophie mit ungläubig aufgesperrtem Mund zuhörte. Pauli Teksa war nicht übermäßig erstaunt, sein Zynismus über jene Welt, in der wir beide verkehrten, war größer, aber selbst er zeigte sich empört über die Gewaltanwendung. »Druck«, sagte er aufgebracht. »Meinetwegen unfairer Druck. Okay. Aber Gewalt...« »Es wundert mich, daß sie es Ihnen nicht erzählt hat.« »Ich war seit Dienstag nicht in der Stadt. Bin gerade aus Irland zurück. Wahrscheinlich hat sie mich nicht erreicht.«
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»Wie dem auch sei«, sagte ich, »der Schaden hält sich ja in Grenzen. Sie hat mit Hearse Puller einen Gewinn gemacht, und ich habe ihr ein neues Pferd gekauft.« »Ja, aber Sie sollten verdammt noch mal einen Riesenskandal wegen der Sache veranstalten.« »Das überlasse ich Mrs. Sanders.« »Tut mir wirklich leid, daß ausgerechnet ich es war, der Ihnen diese Pleite aufgehalst hat.« »Macht doch nichts«, sagte ich. »Aber ich freue mich, daß Sie doch noch einen Kauf für sie abgeschlossen haben.« Er machte eine bedeutungsschwere Pause. Ich lächelte scheel ins Telefon. »Damit wollen Sie sagen, daß Sie einen Anteil von der Provision haben möchten?« »Jonah, mein Junge«, seine Stimme klang verletzt, »hab ich Sie darum gebeten?« »Nein«, sagte ich. »Aber ich habe schon viel gelernt.« »Zwei Prozent«, sagte er. »Eine Geste. Nichts weiter. Zwei Prozent, Jonah, okay?« »Okay«, sagte ich und seufzte. Zwei Prozent, was sich nach so wenig anhörte, waren genau gesehen zwei Fünftel meines Honorars. Ich hätte Kerry Sanders mehr als fünf Prozent berechnen sollen, dachte ich. Ich Idiot. Nur daß fünf Prozent eigentlich fair waren. Es hatte keinen Sinn, Pauli zu widersprechen. Die restlichen drei Prozent waren besser als gar nichts, selbst wenn ein Schlag auf den Kopf inbegriffen war, und guter Wille spielte auch mit. Pauli auf meiner Seite zu wissen war eine gute Investition für die Zukunft. Pauli gegen mich: eine lausige. Als ich endlich auflegte, hatte Sophie den Mund wieder zugemacht und ihre Fassung zurückerlangt. Sie hob die Augenbrauen. »Soviel zum friedlichen Leben auf dem Lande.« »Der Frieden liegt in uns selbst«, sagte ich. 65
Auf der Hauptstraße baumelte der orangefarbene MG wie ein zerdrücktes Spielzeug hinten am Abschleppwagen. Sophie schaute ihm wehmütig nach, als er davonfuhr, und hob eine verbeulte silberne Radkappe auf, die auf den ersten paar Metern abgefallen war. »Ich mochte dieses Auto«, sagte sie. Der Rover war bereits verschwunden. Alles was übrigblieb, nachdem der Horizont den Abschleppwagen verschluckt hatte, waren ein paar schwarze Bremsspuren auf dem Asphalt und ein kümmerlicher Haufen zusammengekehrter Glasscherben. Sophie warf die Radkappe in den Graben, tat mit einem Achselzucken ihre Traurigkeit ab und sagte, daß wir jetzt meine Decke suchen gehen sollten. Wir fanden sie nicht sehr weit entfernt auf der anderen Straßenseite, ein feuchtes, unauffälliges Bündel, das halb von den Büschen verdeckt wurde. Ich hob es auf und erwartete nur Fetzen, da Pferde meistens ihre Decken abschütteln, wenn sie die Nerven verlieren, und durch die unerwartete Behinderung so in Panik geraten, daß sie den Stoff in ihrer Aufregung zerreißen, um freizukommen. Pferde, die ruhig im Stall stehen, werfen ihre Decke fast nie ab, aber Pferde, die frei im Buschwerk herumlaufen, sind dafür prädestiniert. »Was ist los?« fragte sie. Ich schaute hoch. »Sie ist vollkommen in Ordnung.« »Na prima.« »Ja«, sagte ich zweifelnd. Weil ich nicht verstehen konnte, wie ein Pferd, um die Decke loszuwerden, die drei Befestigungsschnallen aufmachen konnte, eine über der Brust, die anderen unter dem Bauch; und an dieser Decke, die völlig unbeschädigt war, waren die Schnallen eindeutig geöffnet worden.
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5 Sophie war fest entschlossen, nach Hause zu gehen, und die Stacheln ihres Igelfells richteten sich kampflustig auf, als ich sie zu überreden versuchte, meine Telefonnummer bei den Leuten zu hinterlassen, für die sie eventuell einspringen mußte. Sie taute immerhin wieder soweit auf, mit mir in der immer noch unordentlichen Küche gegrilltes Hühnchen zu essen, und im Flughafen von Gatwick erlaubte sie mir sogar, die Anzahlung für ihren Mietwagen zu übernehmen, aber selbstverständlich nur, weil sie weder Scheckheft noch Ausweis zu ihrer Dinnerparty mitgenommen hatte und sich in meinen Kleidern nicht gerade so umwerfend fand, um sich aller Welt zu zeigen. Ich sagte, daß mir hellblaue Socken mit silbernen Sandalen gut gefielen. Sie sagte, daß ich ein verdammter Idiot sei. Ich hätte mir sehr gewünscht, sie wäre geblieben. Crispin kam zur gleichen Zeit aus der Kneipe zurück, als ich aus Gatwick eintraf. Gefühlsduselig und überschwenglich, mit getrübten Augen, weit ausholenden Armbewegungen und einer vollen Flasche Gin in der Hand. Er wisse einfach nicht, wie ich es mit ihm aushalte, verkündete er, ich sei das Salz der verdammten Erde, das könne ruhig jeder wissen. »Klar«, sagte ich. Er rülpste. Ich fragte mich, ob sich seine Ginfahne wie eine Gasflamme entzünden würde, wenn man ein brennendes Streichholz dagegenhielt. Sein Blick blieb an den Überresten des Hühnchens hängen, und er sagte, er wolle auch welches haben. »Du ißt es ja doch nicht«, sagte ich. »Werd ich wohl.« Er sah mich durch zusammengekniffene Augen an. »Für eine verdammte Mieze kannst du kochen, aber nicht für deinen eigenen Bruder.« 67
Ich legte ein neues Hühnerteil in den Ofengrill. Es roch gut, es sah gut aus, und er aß es nicht. Er setzte sich an den Tisch, nahm es in die Hand und biß ein paarmal halbherzig ab, bevor er den Teller wegschob. »Zu zäh«, sagte er. Er zündete sich eine Zigarette an. Das kostete ihn sechs Streichhölzer, mehrfaches Augenzusammenkneifen und eine ganze Palette von Flüchen. Wie viele Entziehungskuren hatten wir schon ausprobiert. Sechs Wochen Trockenlegen in einer Privatklinik, wo sich ein Psychiater täglich seine Nöte anhörte, bewirkten damals exakt einen Monat Nüchternheit. Dann, nachdem ihn die Polizei in der Londoner Park Lane aus der Gosse gezogen hatte, erwachte er im Mehrbettzimmer eines städtischen Krankenhauses, was ihm überhaupt nicht paßte. Ich sagte ihm, daß ich nicht Rennen reiten würde, nur um seine Klapsmühlen zu finanzieren. Er entgegnete, er sei mir offenbar gleichgültig. Das ganze hoffnungslose Karussell drehte sich nun schon seit Jahren so. Sophie rief am selben Abend um neun Uhr an. Ihre Stimme klang auf Anhieb so vertraut, daß ich kaum glauben konnte, sie erst vor weniger als vierundzwanzig Stunden kennengelernt zu haben. »... Nur um noch mal danke für alles zu sagen...« »Daß ich Verursacher Ihres Totalschadens war?« »Sie wissen, was ich meine«, sagte sie. »Wie geht’s dem Arm?« »Schon viel besser. Hören Sie... ich habe nicht viel Zeit. Ich muß leider doch zur Arbeit... ein bißchen lästig ist es schon, aber es läßt sich nun mal nicht ändern.« »Sagen Sie einfach, daß Sie sich noch nicht fit genug fühlen.« Sie machte eine Pause. »Nein. Das würde nicht ganz stimmen. Ich habe stundenlang geschlafen, als ich nach Hause kam, und ehrlich, es geht mir schon wieder gut.« 68
Ich widersprach ihr nicht. Ich hatte bereits gelernt, daß es zwecklos war, sie gegen ihren Willen zu irgend etwas überreden zu wollen. Sie sagte: »Wie steht’s mit Ihren Ritterinstinkten?« »Ziemlich eingerostet.« »Ich könnte sie wieder ölen.« Ich lächelte. »Was kann ich für Sie tun?« »Ja. Hhm. Also jetzt wo Sie fragen, weiß ich gar nicht, ob ich das Recht habe, Sie darum zu bitten.« »Wollen Sie mich heiraten?« fragte ich. »Was haben Sie gesagt?« »Ähm...«, sagte ich. »Schon gut. Was war das, was ich für Sie tun sollte?« »Ja«, sagte sie. »Ja was?« »Ja, will ich. Sie heiraten.« Ich starrte auf meinen Schreibtisch, als hätte ich ihn nie zuvor gesehen. Ich hatte sie gar nicht fragen wollen. Oder doch? Nicht so bald jedenfalls. Ich schluckte. Räusperte mich. »Dann... dann haben Sie das Recht, mich um alles zu bitten.« »Gut«, sagte sie munter. »Spitzen Sie die Ohren.« »Sie sind gespitzt.« »Meine Tante... die mit dem Gestüt...« »Ja«, sagte ich. »Ich habe mit ihr telefoniert. Sie hat sich fürchterlich aufgeregt.« »Worüber?« »Ehrlich gesagt, ich habe es nicht genau verstanden. Aber sie lebt in der Nähe von Cirencester, und ich weiß ja, daß Sie morgen mit Mrs. Sanders’ Pferd in diese Richtung fahren... und... na ja... also da habe ich ihr wohl so halbwegs Ihre Hilfe angeboten. Jedenfalls wäre sie Ihnen dankbar, wenn Sie Zeit hätten, bei ihr vorbeizuschauen.« »Ist gut«, sagte ich. »Wie heißt sie?« 69
»Mrs. Antonia Huntercombe. Gestüt Paley. Ihr Dorf heißt auch Paley. In der Nähe von Cirencester.« »Gut.« Ich schrieb es mir auf. »Arbeiten Sie morgen abend?« »Nein. Samstag früh.« »Dann... könnte ich bei Ihnen vorbeikommen... auf dem Nachhauseweg... und Ihnen erzählen, wie es mit ihr gelaufen ist.« »Ja.« Ihre Stimme klang unentschlossen, fast peinlich berührt. »Ich wohne...« »Ich weiß, wo Sie wohnen«, sagte ich. »Irgendwo hinter der Fünf-Furlong-Geraden der Sandown-Rennbahn.« Sie lachte. »Wenn ich mich weit genug aus dem Badezimmerfenster lehne, kann ich die Tribüne sehen.« »Ich werde kommen.« »Ich muß jetzt Schluß machen, sonst verspäte ich mich noch.« Sie hielt inne und fragte dann zweifelnd: »Haben Sie das ernst gemeint?« »Ja«, sagte ich. »Ich glaube schon. Sie auch?« »Nein«, sagte sie. »Das ist doch albern.« Mit dem Freitagmorgen kam auch die immer wieder verschobene Abreise des siebzigtausend Pfund teuren Zweijährigen, der offenbar an seiner nächtlichen Reißauspartie keinen Schaden genommen hatte. Ich wußte, als ich ihn mit seinen beiden etwas weniger wertvollen Gefährten auf die Reise schickte, daß ich mehr Glück als Verstand gehabt hatte, und ich bekam immer noch Schweißausbrüche, wenn ich an jenen Hals-über-Kopf-Galopp die Hauptstraße hinunter dachte. Crispin hingegen verbrachte diesen Freitagmorgen in seinem üblichen Koma auf dem Bett. Ich rief den Arzt an, der mir versprach, auf seiner Runde bei ihm vorbeizuschauen. »Wie geht’s dem Mädchen, das ich vernäht habe?« fragte er. »Sie ist wieder nach Hause gegangen. Zur Arbeit.« »In der steckt Mumm.« 70
»Ja.« Ich dachte ungefähr alle zehn Minuten an sie. An das unterkühlte Mädchen, das ich einmal geküßt hatte, und zwar auf die Wange, als wir nachmittags am Flughafen von Gatwick neben einem Mietwagen standen. Sie hatte als Antwort nur gelächelt. Liebe konnte man das nicht nennen. Anerkennung vielleicht. Später am Vormittag machte ich mich auf den Weg nach Gloucestershire und fand ohne große Probleme das Gestüt der Tante in Paley. Als kommerzielles Zuchtunternehmen wies es auf den ersten Blick alle Anzeichen der drohenden Pleite auf; Unkraut auf dem Kiesweg, ein nicht reparierter Zaun, fehlende Ziegel auf dem Stalldach und ein Anstrich, der zu alt war, um dem Regen standzuhalten. Das Haus selbst war ein hübsches Cottage aus CotswoldSteinen, an dessen Gemäuer zuviel unbeschnittenes Rankgewächs hochkletterte. Ich klopfte an der Vordertür, die offenstand, und eine volltönende Stimme forderte mich auf, einzutreten. In der Eingangshalle wurde ich von einer Meute Hunde empfangen, einem Whippet, einem Labrador, zwei Bassets und einem Dackel, die mich neugierig begrüßten, sich aber wohlerzogen zurückhielten. Ich ließ sie schnuppern und lecken; beim nächstenmal würden sie mich wiedererkennen, dachte ich. »Kommen Sie herein, kommen Sie herein«, rief die Stimme. Ich ging weiter, zur Tür eines langgestreckten Wohnzimmers, wo auf verschlissenen Perserteppichen altgedientes antikes Mobiliar stand. Schwere Vorhänge mit Schabracken, seidene Lampenschirme und Hundefiguren aus Staffordshire-Porzellan zeugten davon, daß hier in der Vergangenheit einmal genügend Geld vorhanden gewesen war, aber die Löcher in dem geblümten Chintzbezug des Sofas waren ein Indiz dafür, wie es um die Gegenwart stand. 71
Antonia Huntercombe saß in einem Sessel und tätschelte zärtlich einen weiteren Hund. Einen Yorkshire-Terrier, die Art des wandelnden Kaminvorlegers. Sie war eine Frau um die Sechzig, mit starken Gesichtsknochen und der stoischen Miene eines Erster-Klasse-Passagiers angesichts des drohenden Schiffuntergangs. »Sind Sie Jonah Dereham?« »Mrs. Huntercombe?« Sie nickte. »Kommen Sie herein und setzen Sie sich.« Aus der Nähe klang ihre Stimme in den tieferen Lagen etwas heiser, und sie artikulierte jedes Wort überdeutlich. Sie schien nicht gerade vor Freundlichkeit zu bersten, wenn man bedachte, daß ich schließlich gekommen war, um ihr meine Hilfe anzubieten. »Entschuldigen Sie, daß ich nicht aufstehe«, sagte sie. »Klein-Dougal hier fühlt sich nicht wohl, und ich möchte ihn nicht stören.« Besänftigend streichelte sie den Kaminvorleger. Man konnte nicht genau erkennen, welches Ende vorn und welches hinten war. »Sophie hat mich gebeten, Sie zu besuchen«, sagte ich. »Kann mir nicht vorstellen, was das nützen soll«, sagte sie abweisend. »Außerdem sind Sie einer von denen.« »Einer von welchen?« »Vollblutagenten.« »Oh«, sagte ich. Allmählich fielen mir so einige Schuppen von den Augen. Sie nickte verbittert. »Ich habe Sophie gleich gesagt, daß es keinen Sinn hat, Sie um Hilfe zu bitten, aber sie bestand darauf, daß ich Ihnen zumindest meine Beschwerden vortragen soll. Sie ist ein ziemlich resolutes Mädchen, unsere Sophie.« »Das ist sie in der Tat.« Antonia Huntercombe warf mir einen prüfenden Blick zu. »Sie scheint viel von Ihnen zu halten. Sie rief an, um sich zu 72
erkundigen, wie es mir geht, aber die meiste Zeit hat sie nur von Ihnen gesprochen.« »Tatsächlich?« Sie nickte. »Sophie braucht einen Mann. Aber keinen Gauner.« Ich dachte im stillen, daß es kaum junge Frauen gab, die einen Mann weniger brauchten als Sophie, bestritt aber nur den zweiten Teil der Aussage. »Ich bin kein Gauner.« »Das sagen Sie.« Ich sagte: »Ich habe Ihr Gestüt in den Büchern nachgeschlagen, bevor ich herfuhr. Sie haben einen sehr guten Deckhengst, Barroboy, aber er wird allmählich alt, und einen jungen, Bunjie, der vielleicht besser wäre, wenn er mehr Freude an seinem Job hätte. Sie haben acht Zuchtstuten, von denen die beste Winedark ist, die beim Preis der Diana dritte wurde. Sie wurde letztes Jahr von einem Spitzenhengst gedeckt, Winterfriend, und sie haben das Stutfohlen aus dieser Verbindung letzte Woche als Jährling zur Auktion von Newmarket geschickt. Sie brachte nur achtzehnhundert Guineen ein, wegen eines Herzfehlers, was bedeutet, daß Sie eine Menge Geld mit ihr verloren haben, weil die Decktaxe selbst schon fünftausend Pfund betragen hat, und dann kommen noch Haltung und Pflege und allgemeine Unkosten hinzu...« »Das war eine Lüge«, unterbrach sie mich wütend. »Was war eine Lüge?« »Daß das Stutfohlen einen Herzfehler hatte. Hatte sie nicht. Ihr Herz ist kerngesund.« »Aber ich war doch bei der Auktion dabei«, sagte ich. »Ich erinnere mich, gehört zu haben, daß das Fohlen von Winterfriend nie ein Rennen laufen würde und wahrscheinlich nicht einmal als Zuchtstute in Betracht käme. Darum hat niemand für sie geboten.« 73
»Darum, ja.« Sie klang bitter. »Aber es ist trotzdem nicht wahr.« »Dann sollten Sie mir vielleicht erzählen, wer ein solches Gerücht in Umlauf gebracht hat«, sagte ich. »Wer und warum.« »Wer ist einfach. Ihr verbrecherischen Haie, alle miteinander, die ihr euch Vollblutagenten nennt. Vollblutsauger trifft es wahrscheinlich besser. Und was das warum angeht... müssen Sie da noch fragen? Weil ich nicht die Absicht habe, an euch abzudrücken.« Damit meinte sie die Unsitte, die sich unter einigen Agenten breitgemacht hatte, vor der Auktion zum Züchter zu gehen und ihm ungefähr folgendes mitzuteilen: »Ich werde dein Pferd bis zu einem guten Preis hochsteigern, wenn du mir hinterher einen Anteil auszahlst.« Der Nachsatz war wesentlich beunruhigender: »Wenn du auf meinen Vorschlag nicht eingehst, dann werde ich dafür sorgen, daß niemand ein Gebot für dein Pferd macht, und wenn du es überhaupt noch verkaufen kannst, dann nur mit Verlust.« Dutzende von Züchtern drückten zähneknirschend den geforderten Anteil ab, nur um im Geschäft bleiben zu können. Die Schwierigkeiten, in die Mrs. Huntercombe geraten war, machten deutlich, was geschah, wenn sie sich weigerten. Mir war die Sache hinlänglich bekannt. Ich wußte, daß die großen, angesehenen Firmen niemals einen Anteil forderten, daß aber die Skala bei den allein operierenden Agenten von Null bis erpresserisch fast alle Varianten umfaßte. »Man hat mir achttausend Pfund für die Jungstute angeboten«, sagte Mrs. Huntercombe verbittert. »Ich sollte die Hälfte der Summe bezahlen, die sie über diesen Preis erzielt.« Sie funkelte mich wütend an. »Ich dachte gar nicht daran, mich darauf einzulassen. Warum auch? Es hat mich allein achttausend gekostet, sie zu züchten. Sie wollten die Hälfte meines Gewinns, egal wie hoch er sein würde. Und wofür? Für nichts und wieder nichts, nur dafür, daß sie bei einer Auktion 74
ein Gebot machen. Die Arbeit, die Belastung, die Betreuung und die Fürsorge, das war allein meine Leistung. Es ist hundsgemein, einfach hier aufzukreuzen und die Hälfte meines Gewinns einstecken zu wollen.« »Wer war es?« »Das werde ich Ihnen nicht erzählen. Sie gehören zu denen, und ich traue Ihnen nicht.« »Dann haben Sie die Stute also zur Auktion geschickt und es auf eigene Faust probiert.« »Sie hätte mindestens zehntausend einbringen müssen. Mindestens.« Sie warf mir einen bösen Blick zu. »Finden Sie nicht auch?« »Zwölf oder vierzehn, würde ich eher sagen.« »Genauso ist es.« »Haben Sie denn kein Mindestgebot angesetzt?« fragte ich. »Beim Mindestgebot fängt der Schwindel doch schon an«, sagte sie aufgebracht. »Aber nein, ich habe es nicht getan. Es gab keinen Grund, warum sie ihren Preis nicht aus eigener Kraft erzielen sollte. Ihre Abstammung, ihr Aussehen... es gab nichts an ihr auszusetzen.« »Und Sie haben sie nicht nach Newmarket begleitet?« »Es ist ein sehr weiter Weg. Und es gibt hier so viel zu tun. Ich habe ihr einen Pferdepfleger mitgegeben. Ich konnte es nicht fassen... ich konnte es einfach nicht fassen, daß sie für achtzehnhundert weggegangen ist. Die Geschichte von dem Herzrasseln habe ich erst zwei Tage später erfahren, als der Mann, der sie gekauft hat, anrief, um sich nach dem Bericht des Tierarztes zu erkundigen.« Ich dachte an den abgewirtschafteten Zustand ihres Gestüts. »Sie waren darauf angewiesen, daß sie einen guten Profit machte, nicht wahr?« fragte ich vorsichtig. »Natürlich. Sie war das beste Fohlen, das ich seit Jahren hatte.« »Aber nicht das erste, für das Sie abdrücken sollten?« 75
»Jedenfalls war es die bislang schlimmste Forderung«, sagte sie. »Ich hab denen allen gesagt – das sage ich ihnen jedesmal –, daß ihnen kein Anteil für etwas zusteht, wofür sie nicht gearbeitet haben... aber diesmal... war es fies.« Ich stimmte ihr zu. Laut sagte ich: »Und seit einiger Zeit haben Ihre Jährlinge nur niedrige Summen eingebracht?« »Seit zwei Jahren«, sagte sie verbittert. »Ihr steckt da alle drin. Ihr wißt genau, daß ich nicht abdrücke, darum bietet ihr bei den Auktionen einfach nicht für meine Pferde.« Sie irrte sich, wenn sie glaubte, daß wir uns alle an der Sache beteiligten. Ich hatte bei verschiedenen Auktionen diverse Schnäppchen gemacht, wenn die Hälfte meiner Konkurrenten gerade nicht zusah. Schnäppchen für mich und meine Klienten, Katastrophen für die Menschen, die die Pferde gezüchtet hatten. Es war ohnehin immer der kleine Züchter, der ehrliche oder naive Züchter, der am Ende der Dumme war, weil die großen Gestüte einen Verlust besser auffangen konnten, während andere Züchter genauso verdorben waren und sich mit ihren eigenen skandalösen Tricks über Wasser hielten. Das Abdrücken war wahrscheinlich auf den irischen Brauch des ›Glückspfennigs‹ zurückzuführen: Wenn man einem Iren ein Pferd abkaufte, bekam man von ihm einen Pfennig der gezahlten Summe zurück, das sollte wohl Glück bringen. Einen Pfennig! Die Zeiten hatten sich geändert. Es war durchaus nicht anrüchig, wenn ein Züchter einem Agenten einen Obolus gab, weil er ihm sein Pferd für einen guten Preis verkauft hatte. Schlimm war nur, wenn der Agent diesen Obolus von vornherein verlangte. Kriminell wurde es, wenn er versuchte, den Obolus mit Drohungen zu erzwingen, und diese dann auch in die Tat umsetzte, wenn der Züchter sich weigerte, mitzuspielen. Gerüchte rund um den Auktionsring pflegten sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Ich hatte zehn Minuten vor seinem Verkauf erfahren, daß das Stutfohlen von Winterfriend an 76
einem Herzfehler litt, und ich hatte es geglaubt wie alle anderen auch. Man hatte mir schon oft erzählt, daß das fröhliche Abdrücker-Spielchen immer mehr grassierte. Einige Züchter fanden sich damit ab, und andere begrüßten es geradezu, weil es ihnen im großen und ganzen einen guten Preis für ihre Pferde garantierte. Nur die Mrs. Huntercombes unter ihnen hatten das Nachsehen, weil sie das Spielchen nicht mitmachen wollten. »Nun?« fragte sie streitlustig. »Sophie hat gesagt, ich sollte Sie um Rat fragen. Worin besteht er?« Für Tante Antonias Begriffe war ich bestimmt ein zu großer Realist. Ich wußte, daß ihr das, was ich sagen wollte, nicht schmecken würde, aber ich sagte es trotzdem. »Sie können zwischen drei Möglichkeiten wählen. Die erste ist, abzudrücken. Auf die Dauer fahren Sie damit am besten.« »Kommt nicht in Frage.« Ihre Augen wurden zu zornigen kleinen Schlitzen. »Das ist genau der Vorschlag, den ich von einem Agenten erwartet habe.« »Zweitens«, sagte ich, »könnten Sie Ihr Gestüt verkaufen, eine Hypothek aufs Haus aufnehmen und von den Zinsen leben.« Ihr Zorn wuchs noch mehr. »Und wie, glauben Sie, bekomme ich jemals einen anständigen Preis für meine Deckhengste und Zuchtstuten? Und was die Hypothek betrifft... ich habe schon eine.« Die Art, wie sie es sagte, legte nahe, daß sie bereits die größte bekommen hatte, die man aus dem Haus herausholen konnte. »Drittens«, sagte ich, »können Sie jedesmal mitfahren, wenn eins Ihrer Pferde zur Auktion kommt. Setzen Sie ein akzeptables Mindestgebot, und besorgen Sie sich einen Freund, der beim Anfangsgebot mitsteigert. Nehmen Sie einen Tierarzt mit, der mit Gesundheitsattesten nur so um sich wirft. Teilen Sie den Agenten der großen Firmen mit, und allen anderen, die 77
Sie erreichen können, daß sich Ihr Pferd, was immer sie auch Gegenteiliges zu hören bekommen, in einem guten gesundheitlichen Zustand befindet, und bieten Sie an, das Geld sofort zurückzuerstatten, sollte sich das Gegenteil herausstellen.« Sie starrte mich an. »Dazu fehlt mir die Kraft. Es wäre sehr anstrengend.« »Sie verkaufen doch nur sechs oder sieben pro Jahr.« »Ich bin zu alt dafür. Ich habe einen hohen Blutdruck und Rheuma in den Gelenken.« Es war die erste wirklich menschliche Bemerkung, die sie von sich gab. Ich lächelte sie an. Sie lächelte nicht zurück. »Mehr kann ich nicht für Sie tun«, sagte ich und stand auf. »Lassen Sie die Eingangstür auf, wenn Sie hinausgehen«, sagte sie. »Sonst muß ich wieder aufstehen, wenn die Hunde hereinwollen.« Der Ort, an den ich River Gods Pferdetransporter aus Devon bestellt hatte, war knapp fünf Meilen von Paley entfernt. Ich hatte damit gerechnet, den vereinbarten Treffpunkt als erster zu erreichen, aber bereits aus einiger Entfernung sah ich, daß ein blauer Transporter schon dort parkte. Ich hatte einen dieser praktischen Halbmonde ausgewählt, die bei der Straßenbegradigung entstehen, wenn der Bogen der alten Überlandstraße zu einem belaubten Rastplatz umfunktioniert wird. Es stand noch ein anderes Auto da, ein alter grüner Zodiac-Kombi, der schon wochenlang nicht mehr gewaschen worden war. Ich fuhr an ihm und dem Pferdetransporter vorbei, parkte meinen Wagen vor ihnen und stieg aus, um mich mit dem Fahrer zu unterhalten. Das Gespräch mit ihm mußte wohl noch ein Weilchen warten, da er anderweitig beschäftigt war. Er lehnte mit dem Rücken gegen diejenige Seite des Transporters, die den Blicken der vorbeifahrenden Autos auf der Hauptstraße 78
verborgen blieb. Er stand mit dem Rücken zur Box, weil er nicht weiter zurückweichen konnte. Vor ihm, in klassischer Einschüchterungspose, standen zwei Männer. Es waren alte Bekannte. Ich war ihnen in Ascot begegnet. Kräuselhaar und sein Kumpel. Sie hatten mich genausowenig erwartet wie ich sie, was mir zumindest gleiche Ausgangschancen gab. Ich griff nach der nächstbesten Waffe, in diesem Fall einem schönen dicken Ast, der von einem der Alleebäume gefallen war, und raste förmlich zur Attacke. Wenn ich auch nur einen Moment nachgedacht hätte, hätte ich es mir wahrscheinlich anders überlegt, aber die Wut hat es so an sich, jedwede Vorsicht außer acht zu lassen. Mein Gesicht muß ein exaktes Spiegelbild meiner Gefühle gewesen sein. Kräuselhaar wirkte einen unentschiedenen Moment lang wie hypnotisiert, entsetzt, ja gelähmt beim Anblick des normalerweise sanftmütigen Mannes, der offenbar mit Mordabsichten auf ihn zurannte, und aus diesem Grund reagierte er viel zu langsam. Ich ließ den Ast mit einer Wucht auf ihn niedersausen, die mich genauso erschreckte wie ihn. Er schrie auf und umklammerte den oberen Teil seines linken Arms, während sein Kumpel meinen Zustand einigermaßen präzise erfaßte und in Richtung grüner Kombi fortstürzte. Kräuselhaar rannte ihm hinterher, und sein einziger Beitrag zum Kampfgeschehen war eine Verbalattacke zum Abschied: »Das wird dir gar nichts nützen.« Ich nahm die Verfolgung auf, immer noch mit meinem Ast in der Hand. Kräuselhaar ging ab wie ein Sprinter auf der Viertelmeile, während der Kumpel schon auf dem Fahrersitz saß und den Motor anließ. Kräuselhaar warf mir einen angewiderten Blick über die Schulter zu, kletterte auf den Beifahrersitz und knallte die Tür zu. Ich wußte nicht, wie ich sie noch aufhalten konnte, wenn ich nicht auf die Autobahn geschleift werden wollte; ich konnte 79
aber sehr wohl einen schnellen Blick auf das staubbedeckte Zulassungsschild werfen, als sie davonpreschten, und bevor ich die Nummer wieder vergessen konnte, kramte ich einen Stift und einen Zettel hervor und schrieb sie auf. Wesentlich langsamer ging ich dann zum Fahrer zurück, der mich anstarrte, als wäre ich ein kleines grünes Marsmännchen. »Echt«, sagte er. »Ich dachte, Sie bringen die um.« Der feurige Zorn der Hölle ist nichts gegen den des Besiegten, der endlich Rache übt. Ich sagte: »Was wollten die von Ihnen?« »Verdammt...« Er zog ein zerknülltes Taschentuch hervor und wischte sich das Gesicht ab. »Haben Sie das nicht mal gewußt?« »Nur so ungefähr«, sagte ich. »Worum ging’s genau?« »Hä?« Er war noch ganz benommen. »Was wollten sie?« »Haben Se mal ‘ne Lulle?« Ich gab ihm eine Zigarette und zündete uns beiden eine an. Er zog den Rauch ein, als wäre es Sauerstoff für einen Ertrinkenden. »Ich nehm mal an, Sie sind... Jonah Dereham?« fragte er. »Wer sonst?« »Na ja... ich dachte, Sie wären irgendwie kleiner, wissen Sie.« Einsfünfundsiebzig. Siebzig Kilo. Durchschnittlicher ging’s gar nicht. »Viele Hindernisjockeys sind größer«, sagte ich. Allmählich schien er sich etwas zu beruhigen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und spürte offenbar wieder einen frischen Speichelfluß in seinem ausgetrockneten Mund. »Was wollten sie?« fragte ich jetzt zum drittenmal. »Der, den Sie geschlagen haben... der mit dem vielen wuscheligen Haar... der hat das Reden besorgt.« »Was hat er gesagt?«
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»Komischer Typ. Hat immer nur gelächelt. Kam scheißfreundlich zu meinem Transporter rüber und wollte sich einen Schraubenschlüssel auspumpen, weil sein Wagen ‘ne Panne hätte.« Er machte eine Pause, um einen Blick auf die leere Straße zu werfen, auf der der Wagen mit der Panne in rasantem Tempo verschwunden war. »Ja, also... also ich lehn mich nach hinten zum Werkzeugkasten und frag ihn, welche Größe er braucht. Kommen Sie und gucken Sie selber, sagt er. Also springe ich von meinem Sitz runter. Und dann, ja, dann packt er mich irgendwie und schubst mich gegen die Wagenseite. Und hört die ganze Zeit nicht auf zu lächeln. Unheimlicher Scheißtyp. Dann sagt er, hör mal Kumpel, es gibt da jemanden, der braucht das Pferd nötiger als du.« »Ich nehme mal an, daß er den Namen nicht erwähnt hat?« »Hä? Nee. Er hat nur gesagt, es gibt da einen, der braucht das Pferd nötiger als du, darum sag ich, es gehört mir ja gar nicht, und da meint er, ich soll keine Witze machen... und dabei lacht er ja selbst die ganze Zeit wie ein Idiot.« »Was hat er noch gesagt?« »Sonst nichts. Da hatte er ja gar keine Zeit für. Also, er hat schon noch gesagt, ich soll ihm das Pferd lieber friedlich überlassen, wenn ich nicht will, daß er mir die Rippen bricht... Also ich frage Sie... wer will das schon?« Allerdings. »Und was dann?« »Dann sind Sie wie ein Berserker auf die losgerannt, als hätten die Ihre Schwester vergewaltigt.« »Sie haben nicht gesagt, wie sie sich vorstellten, das Pferd mitzunehmen?« Er starrte mich an. »Nein. Ich hab nicht gefragt. Wahrscheinlich wollten sie einfach mit dem ganzen Drum und Dran losfahren.« Die Vorstellung brachte ihn auf. »Verdammte Arschlöcher«, sagte er. »Haben sie Ihnen angeboten, für das Pferd zu bezahlen?« 81
»Mann, das meinen Sie doch nicht im Ernst?« Ich fragte mich, ob sie es nicht getan hätten, wenn ich ihnen Zeit dafür gelassen hätte. Ich fragte mich, ob ich nicht den Fahrer des Pferdetransporters dabei angetroffen hätte, wie er gerade das Bargeld plus zweihundert Pfund Gewinn zählte, und kein River God weit und breit. Ich seufzte und drückte meine Zigarette aus. »Gucken wir uns mal die Fracht an«, sagte ich und kletterte in den Transporter. Der Farmer hatte das Pferd oberflächlich herausgeputzt, in der Art, wie man rostige Stellen mit Farbe überstreicht. Um die Füße hatte er sich gekümmert: Die Eisen waren nagelneu, und die frisch berundeten Hufe hatte man mit Öl dunkel gefärbt. Mähne und Schwanz waren ausgebürstet worden, und das Fell wirkte sauber. Andererseits gab es überall viel zu viele Haare, woraus ersichtlich war, daß das Pferd zu selten oder nur unregelmäßig gepflegt wurde; zwischen den Ohren wuchs zuviel Mähne, zuviel Barthaar um die Nüsterngegend, das Haar auf der Brust war zu lang, und überall standen Härchen ab, anstatt fein säuberlich dicht anzuliegen. Der ganze Pfusch wurde von einer schäbigen Decke verhüllt, die zwei Löcher aufwies; und weit und breit war kein Pferdeführer in Sicht. »Ich hatte den Farmer gebeten, einen Stallknecht mitzuschicken«, sagte ich. »Jawoll. Er meinte, er könnte keinen Mann entbehren. Also wenn Sie mich fragen, ich finde, der ist nicht mal in der Lage, ein Grubenpony zu halten, geschweige denn ein Rennpferd. Als ich hinkam, das war unglaublich, da stand diese arme Kreatur im Hof, an der Stalltür festgebunden, und auf dem Boden rings um ihn rum war eine verfluchte Riesenpfütze. Er hat richtig gezittert. Wahrscheinlich haben sie ihn nur mal mit dem Schlauch abgespritzt, um den ganzen Dreck runterzuwaschen. Der Farmer sagte, er schwitzt, davon wär sein Fell so feucht. Also wenn der dachte, daß er ausgerechnet 82
mir was vormachen kann, dann hat er sich geschnitten. Ich hab ihm gesagt, er soll mir die Decke geben, damit ich sie dem armen Kerl umlegen kann. Er wollte sie zuerst nicht rausrücken, aus Angst, daß ich sie ihm nicht zurückbringe.« »Also schön«, sagte ich. »Holen wir ihn heraus.« Er war überrascht. »Wie, hier draußen auf der Straße?« »So ist es«, bestätigte ich. »Aber er ist jetzt wieder warm. Er ist trocken geworden, wissen Sie, auf der Fahrt hier hoch.« »Trotzdem...«, sagte ich und half dem Fahrer, der sagte, daß er Clem heiße, River God auszuladen. Deus ex machina, dachte ich unpassenderweise, und auch an diesem deus war im Moment nicht viel Göttliches zu erkennen. Ich nahm ihm die Decke ab, faltete sie zusammen und legte sie wieder in den Transporter. Während Clem das verdreckte Halfter vom Bauernhof hielt, ging ich zu meinem Wagen, zog mein Jackett aus und holte dann in Hemdsärmeln meine Gerätetasche aus dem Kofferraum. »Was haben Sie vor?« fragte Clem. »Ihn ein bißchen saubermachen.« »Aber ich sollte Sie doch um drei Uhr treffen... Sie waren zwar ein bißchen früher da, aber jetzt ist es schon Viertel nach.« »Ich habe genügend Zeit mitgebracht«, sagte ich. »Wir müssen nicht vor halb fünf da sein.« »Sie haben sich also schon gedacht, daß er so schlimm aussieht?« »So was Ähnliches.« Da ich mich nun einmal verpflichtet hatte, das Pferd abzuliefern, fühlte ich mich auch für sein Aussehen verantwortlich. Ich nahm eine Handschermaschine, zwei Scheren, einen schweren Stahlkamm und ein paar dünne Wachskerzen aus der Tasche und ging ans Werk.
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Clem hielt den Kopf des Pferdes und schaute zu, wie ich mich mit dem Kamm in der einen und einer brennenden Kerze in der anderen Hand an dem rauhen Fell entlangarbeitete, all die viel zu langen, vorstehenden Haare absengte, die in einem guten Stall durch tägliches Striegeln von selbst ausgefallen wären. Die winzige Flamme der Kerze war zu klein, um das Pferd zu stören, das weder Furcht noch Schmerz empfand, und als ich fertig war, glich es schon viel weniger einem Droschkengaul aus dem letzten Jahrhundert. Als nächstes schor ich ihm die Mähne zwischen den Ohren bis über den Widerrist, dann schnipselte ich den schlimmsten Teil des Barthaars um die Nüsterngegend ab, und mit einer großen Schere begradigte ich schließlich sein Schweifende. »Echt«, sagte Clem. »Er sieht aus wie neu.« Ich schüttelte den Kopf. Nur Pflege, gutes Futter und regelmäßiges Striegeln würden dieses Fell zum Glänzen bringen. Er sah aus wie ein armer Junge nach einem Haarschnitt, gepflegt, aber immer noch arm. Bevor wir ihn wieder einluden, wickelte ich hübsche dunkelblaue Bandagen um seine Vorderbeine und schnallte ihm eine saubere Decke um, die ich von meinem eigenen Hof mitgebracht hatte. Aschenputtel auf dem Weg zum Ball, dachte ich, aber mehr konnte ich beim besten Willen nicht für ihn tun.
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6 Kerry Sanders’ Augen wanderten mit sorgfältig kaschierter Nervosität zwischen Nicol und Constantine hin und her, während die beiden ihr Geschenk begutachteten. Einer von Brevetts eigenen Leuten führte River God vor, ließ ihn abwechselnd traben und mit graziöser Beinhaltung im Stand posieren, wie für einen Fototermin. River God konnte sich bewegen, das mußte man ihm lassen. Er hielt sich gut und kräftig im Schritt und lief einen ausgeglichenen versammelten Trab. Wenigstens gab es in dieser Hinsicht nichts, wessen er sich schämen mußte. Constantine sagte beschwichtigend: »Mein liebes Kind, mir ist klar, daß du ihn sehr kurzfristig erstanden hast. Ich bin sicher, daß er eines Tages hervorragende Leistungen erbringen wird. Schau dir diese Beine an... das Rennen liegt ihm in den Knochen.« »Ich hoffe für Nicol, daß er siegen wird«, sagte sie. »Natürlich wird er das. Nicol ist ein Glückspilz, ein so großzügiges Geschenk zu bekommen.« Der Glückspilz selbst zog mich beiseite und sagte undankbar: »Konntest du mir wirklich nichts Besseres besorgen?« Ich war oft genug Rennen gegen ihn geritten, am Ende meiner und am Anfang seiner Jockey-Karriere, und er kannte mich ebenso gut oder ebenso wenig wie jeder andere Jockey, den man im Umkleideraum traf. »Sie hat mir nur zwei Tage Zeit gegeben... und seine Form ist nicht schlecht.« »Hättest du ihn geritten?« »Auf jeden Fall. Und wenn er sich als Versager herausstellt, verkaufe ich ihn später für dich.« Er schnalzte skeptisch mit der Zunge.
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»Er hat sich in einem schlechten Stall ganz gut gemacht«, sagte ich. »In deinem müßte er sich eigentlich enorm steigern.« »Glaubst du?« »Gib ihm eine Chance.« Er lächelte säuerlich. »Und schau einem geschenkten Gaul nicht ins Maul, was?« »Sie wollte dir eine Freude machen«, sagte ich. »Ha! Mich kaufen, würde ich eher sagen.« »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte ich. Er drehte sich um und sah zu, wie Kerry Sanders mit seinem Vater sprach, die adrette, zierliche und feminine Gestalt im Schatten des großen männlichen Beschützers. Die Verpackung der Sanders war mal wieder so unaufdringlich wie ein Stapel Goldbarren, und die schwachen Strahlen der Herbstsonne schlugen Funken auf ihrem Schlagring aus Diamanten. »Wenigstens ist sie nicht hinter seinem Geld her«, sagte Nicol. »Ich hab sie überprüfen lassen. Sie liegt um Längen vorn.« Für einen, der im abgeschlagenen Feld lief, machte sich Constantine aber gar nicht übel. Clems Pferdetransporter stand in einer gigantischen Zufahrt, wo Clem selbst gerade unruhig auf ein Zeichen wartete, daß er sich auf den Heimweg machen durfte. Beide Seiten des Miniatur-Paradeplatzes waren von Gebäuden gesäumt, und ein moderner Garagen- und Stallkomplex an einem Ende schloß sich im rechten Winkel an ein viel älteres, etwas nüchternes Steinhaus an. Nicht gerade ein Herrensitz, aber mehr als genug für zwei Personen. Der Außenanstrich wurde gerade erneuert; zwei Drittel der Fläche präsentierten sich bereits in einem warmen cremefarbenen Ton über dem abweisenden Grau. Man ahnte, daß es viel einladender aussehen würde, wenn es einmal fertig war, aber der momentane Zustand wirkte auf eine unwürdige Art scheckig. Mir ging durch den Kopf, daß man sich nur nicht einbilden sollte, man könne auch den Herrn des Hauses dabei 86
überraschen, wie er sich in der Öffentlichkeit eine derartige Blöße gab. Nicol schlenderte zu dem Mann hinüber, der River God am Halfter hielt, und der Mann nickte und führte das Pferd zu den Ställen. Kerry Sanders wirkte eine Spur enttäuscht, bis Nicol sich wieder zu ihr gesellte und sagte: »Ich dachte, ich probier ihn mal aus. Kann’s gar nicht abwarten, weißt du.« River God wurde gesattelt und aufgezäumt zurückgebracht, und Nicol schwang sich elegant auf seinen Rücken. Er ließ ihn ein bißchen auf dem Kiesweg traben und lenkte ihn dann durch ein Gatter in ein angrenzendes umzäuntes Feld, wo er das Tempo zu einem Trainingsgalopp steigerte. Constantine Brevett sah ihm mit gezwungener guter Laune zu, Kerry Sanders mit banger Hoffnung, Clem voller Ungeduld und ich mit Erleichterung. Was immer ich auch von seinen Geschäftsmethoden halten mochte, Ronnie North hatte zweifellos einen Schatz an Land gezogen. Nicol kam wieder zurück, übergab die Zügel dem Stallknecht, schritt beherzt auf Kerry Sanders zu und küßte sie begeistert auf die Wange. »Er ist fantastisch«, sagte er. Seine Augen leuchteten. »Absolut fantastisch.« Ihr Gesicht spiegelte soviel Freude wider, daß es den härtesten Stein erweichen mußte. Nicol registrierte es, und als sie und sein Vater sich umwandten, um ins Haus zu gehen, lächelte er mich schief an und sagte: »Siehst du? Ich bin nicht immer ein Schwein.« »Und außerdem«, sagte ich, »ist das Pferd besser, als es aussieht.« »Du Zyniker. Sein Maul ist so breit wie der Hintern eines Nilpferds.« »Ein Pferd für einen Profi, habe ich gehört.«
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»Das ist das Netteste, das du je zu mir gesagt hast.« Er lachte. »Komm rein und trink was mit uns.« »Warte einen Moment...« Ich ließ ihn stehen und ging zu Clem, um ihm fünf Pfund zu geben und ihn nach Hause zu schicken, und stellte fest, daß Nicol mir nachkam und das Trinkgeld noch einmal verdoppelte. Clem nahm beide Geldscheine fröhlich an, stieg in sein Fahrerhäuschen und rollte Richtung Tor davon. Champagner stand schon in tulpenförmigen Gläsern im Wohnzimmer bereit, in das Nicol mich führte. Die letzten Sonnenstrahlen ließen die Bläschen wie Silber in flüssigem Gold glitzern. Constantine reichte jedem von uns ein Glas, und wir stießen alle etwas steif auf Nicols Wohl an. Er grinste mir heimlich und reichlich respektlos zu, und zu meiner großen Überraschung begann ich ihn zu mögen. Wir versanken in weichen Sesseln, und Constantine überschüttete Kerry Sanders mit kleinen Aufmerksamkeiten. Sie strahlte vor Glück und bekam Apfelbäckchen wie ein Kind. Ich fand es bemerkenswert, wie deutlich und schnell der Herzenszustand einer Frau auf ihrer Haut abzulesen war. »Beinahe hättest du gar kein Pferd bekommen«, sagte sie zu Nicol. »Mit dem ersten, das Jonah gekauft hat, ist eine unglaubliche Schweinerei passiert.« Sie hörten sich entgeistert die ganze Geschichte an, und anschließend fügte ich noch hinzu, daß dieselben beiden Gangster ihr Glück ein weiteres Mal bei River God versucht hatten. Constantine zeigte sich sofort mit natürlicher Autorität als Herr der Lage, was gut zu seinem weichen silbernen Haar und der dicken Hornbrille paßte. Er versicherte Kerry, er werde dafür sorgen, daß diese Leute ihrer gerechten Strafe zugeführt würden. Da ich Kräuselhaar sehr wahrscheinlich den Arm gebrochen hatte, war zumindest der seiner gerechten Strafe schon zugeführt worden, dachte ich, aber ich hatte durchaus 88
nichts gegen irgendwelche Pläne Constantines einzuwenden, die der Aufklärung dessen dienten, was eigentlich gespielt wurde. Er konnte seinen großen Einfluß in Kreisen spürbar machen, wo ich keinen hatte. »Was denkst du, Jonah?« fragte Nicol. »Nun... ich kann mir nicht vorstellen, daß Hearse Puller oder River God allein die Ursache für soviel kriminelle Energie sein können. Sie stammen aus weit auseinanderliegenden Gestüten, also kann es nicht daran liegen, daß irgend jemand in ihrer Nähe etwas gegen ihren Verkauf haben könnte. Die ganze Sache wird noch verrückter, wenn man bedenkt, daß wir sofort erfahren werden, wer der neue Besitzer von Hearse Puller ist, sobald er sein nächstes Rennen läuft. Selbst wenn er mehr als einmal den Stall gewechselt hat, dürfte es kein Problem sein, die einzelnen Transaktionen zurückzuverfolgen.« Constantine schüttelte düster den Kopf und sprach aus eigener Erfahrung: »Ein Kinderspiel, einen Verkauf zu vertuschen, wenn man weiß, wie es geht.« »Vielleicht wollte jemand einfach nur Kerry daran hindern, mir ein Pferd zu schenken«, sagte Nicol. »Aber warum?« fragte Kerry. »Was hätte er davon?« Keiner wußte eine Antwort. »Wem haben Sie von River God erzählt?« fragte ich. »Nach dem letzten Mal? Das meinen Sie wohl nicht ernst. Zumindest beim zweiten Mal war ich so schlau, es nicht in der Gegend herumzuposaunen.« »Sie haben es nicht Lady Roscommon oder Ihrem Friseur oder Pauli Teksa erzählt? Keinem der Leute vom letztenmal?« »Ganz bestimmt nicht. Ich habe weder Madge noch den Friseurtypen gesehen, und Pauli war gar nicht in der Stadt.« »Aber irgend jemand weiß es«, sagte Nicol. »Wem hast du es erzählt, Jonah?« »Niemandem. Ich habe dem Mann, von dem ich River God gekauft habe, nicht gesagt, für wen er bestimmt war, und der 89
Transportfirma habe ich nicht erzählt, wohin er gebracht werden soll.« »Aber irgend jemand hat es gewußt«, wiederholte Nicol trocken. »Kennst du irgendwelche Leute, die einen speziellen Haß auf dich haben?« fragte ich ihn. »Die Profi-Jockeys können mich alle nicht ausstehen.« »Und die Amateure?« Er grinste. »Die wahrscheinlich auch nicht, schätze ich.« Constantine sagte: »Ganz gleich, wie sehr ihm die anderen Jockeys seinen Erfolg neiden, ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, daß auch nur einer von ihnen den Aufwand betreibt, Pferde aufzukaufen oder zu stehlen, nur um Nicol daran zu hindern, einen Gewinner zu reiten.« »Da hätten sie auch ganz schön was zu tun«, sagte Nicol. Constantines Stimme klang selbstbewußt und tief durch den Raum und drang bis in die letzte Ecke. Nicol hatte dieselbe Grundausstattung, ihm fehlte jedoch die offensichtliche Bewunderung der eigenen Macht, so daß bei ihm die Stimme leiser und natürlicher wirkte und nicht wie die Ankündigung seines Status daherkam. »Was ist mit Wilton Young?« fragte er. Constantine war nur zu gern bereit, das Schlimmste von Wilton Young zu glauben. Für Constantine gab es nur einen Rivalen in seiner Anwartschaft auf den britischen Rennthron, und das war ein dickköpfiger Mann aus Yorkshire ohne die geringsten Umgangsformen, der ein riesiges Versandhaus betrieb – und ein unverschämtes Glück mit Pferden besaß. Wilton Young trampelte mit Vorliebe auf den Gefühlen anderer Leute herum, ohne diese wahrzunehmen, und er bewertete einen Mann ausschließlich nach seiner Fähigkeit, Geld zu scheffeln. Er und Constantine glichen sich auffallend in ihrer Rücksichtslosigkeit, und zweifellos war es ihren zermatschten 90
Opfern egal, ob sie von einer gut geölten oder von einer rauh scheppernden Dampfwalze plattgemacht worden waren. »Natürlich«, sagte Constantine, und Wut machte sich auf seinem Gesicht breit. »Wilton Young.« »Die beiden Männer hatten aber keinen Yorkshire-Akzent«, wandte ich ein. »Was hat das damit zu tun?« fragte Constantine barsch. »Wilton Young stellt aus Prinzip nur Yorkshire-Leute ein. Alle anderen verachtet er.« »So ein arroganter kleiner Wichtigtuer«, sagte Constantine. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß er sich soviel Mühe macht, Mrs. Sanders davon abzuhalten, Nicol etwas zum Geburtstag zu schenken.« »Können Sie nicht?« Constantine blickte mich von oben herab an, als fielen ihm problemlos noch ein Dutzend weiterer unvorstellbarer Gemeinheiten von Wilton Young ein. »Er würde alles tun, um mir eins auszuwischen, egal, wie trivial es ist.« »Aber woher sollte er wissen, daß ich das Pferd für Nicol kaufen wollte?« Er brauchte nicht einmal drei Sekunden, um die Antwort zu finden. »Er hat Sie zusammen mit Kerry auf der Auktion gesehen, und er hat sie mit mir beim Rennen gesehen.« »Er war nicht auf der Auktion«, sagte ich. Er zuckte ungeduldig die Achseln. »Damit sagen Sie nur, daß Sie ihn nicht gesehen haben.« Ich bezweifelte, daß es möglich war, an einem so kleinen Ort wie dem Auktionsring von Ascot einen Mann wie Wilton Young nicht zu bemerken. Seine Stimme war genauso laut wie die von Constantine, nur wesentlich durchdringender, und er war niemand, der gern übersehen wurde. »Jedenfalls wette ich«, sagte Nicol, »daß sein Agent da war. Der kleine Yorkshire-Mann mit dem Karottenhaar, der die Pferde für ihn kauft.« 91
Ich nickte. »Und Ihr Mann, Vic Vincent, war auch da.« Constantine war voll des Lobs für Vic Vincent. »Er hat mir diesmal ein paar fantastische Jährlinge gekauft. Zwei davon letzte Woche in Newmarket... klassische Hengstfohlen, alle beide. Da kann Wilton Young lange suchen, an solche kommt er nicht ran.« Er ließ sich eine Weile über ungefähr ein Dutzend neuer Jungtiere aus, die seiner Meinung nach drauf und dran waren, sämtliche Zweijährigen-Rennen mühelos zu gewinnen, wobei er sich symbolisch auf die Schulter klopfte, weil er sie erstanden hatte. Vic Vincent sei ein hervorragender Kenner von Einjährigen. Vic Vincent sei überhaupt ein famoser Kerl. Vic Vincent war ein famoser Kerl für seine Kunden, aber das war auch schon alles. Ich hörte mir Constantines Lobeshymnen auf ihn an, trank meinen Champagner und fragte mich, ob Vic Vincent mich als ausreichende Bedrohung für sein Monopol auf Constantine Brevett empfand, um mir jedes Pferd wegzuschnappen, das ich für die Familie kaufte. Alles in allem glaubte ich es eher nicht. Für Vic Vincent bedeutete ich soviel wie für Wilton Young einer, der nicht aus Yorkshire stammte: Nicht weiter beachtenswert. Ich trank meinen Champagner aus und sah, wie Kerry Sanders mich beobachtete. Wahrscheinlich lauerte sie auf erste Anzeichen meines Alkoholismus. Ich lächelte sie an, und sie lächelte etwas spröde zurück. »Kerry, meine Liebe, beim nächstenmal, weißt du, kannst du gar nichts falsch machen, wenn du gleich zu Vic Vincent gehst...« »Ja, Constantine«, sagte sie. Auf der Fahrt von Gloucester nach Esher dachte ich ein bißchen an Kräuselhaar und sehr viel an Sophie Randolph. Sie machte mir die Tür mit dem vertrauten Gleichmut auf und
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begrüßte mich mit einer Wiederholung des Gatwick-Kusses, Wange an Wange, viel zu keusch für meinen Geschmack. »Sie haben es also gefunden«, sagte sie. »Wie lange wohnen Sie schon hier?« »Etwas über ein Jahr.« »Dann haben Sie noch nicht hier gelebt, als ich nebenan Rennen geritten bin.« »Nein«, sagte sie. »Kommen Sie rein.« Sie sah anders aus. Sie trug wieder ein langes Kleid, diesmal nicht schwarzweiß mit Silber, sondern eine leuchtende Mischung aus Grün- und Blautönen. Die Schnittwunde auf ihrer Stirn hatte sich verkrustet, und offenbar hatte sie den Schockzustand überwunden. Ihr Haar schien in ein wärmeres Gold getaucht zu sein, ihre braunen Augen wirkten noch dunkler, und nur das innere Selbstvertrauen schien sich nicht sonderlich geändert zu haben. »Was macht der Arm?« fragte ich. »Es geht ihm viel besser. Er juckt.« »Schon? Dann heilt er aber schnell.« Sie machte die Tür hinter mir zu. Der kleine Flur ging von dem Wohnzimmer ab, das direkt vor uns lag, ein warmer, farbenfroher Raum voller reizender Dinge. »Es ist hübsch hier«, sagte ich und meinte es ehrlich. »Klingen Sie bloß nicht so überrascht.« »Na ja... ich dachte nur, daß Ihr Zimmer irgendwie kahler sein würde. Eine Menge glatter, leerer Oberflächen und viel Raum.« »Ich bin vielleicht glatt, aber leer bin ich nicht.« »Ich nehme alles zurück und schäme mich«, sagte ich. »Völlig zu Recht.« An ihren Wänden hingen keine Flugzeuge, aber sie trug ein kleines goldenes Flugzeug an einer Kette um den Hals. Ihre Finger wanderten im Verlauf des Abends immer wieder zu ihm
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hin, in einer Art unbewußter Geste, aus der sie offenbar Sicherheit und Kraft schöpfte. Eine Flasche Weißwein und zwei Gläser standen auf einem kleinen silbernen Tablett bereit. Sie deutete gleichgültig darauf und sagte: »Möchten Sie welchen? Oder trinken Sie nie?« »Wenn Crispin betrunken ist«, sagte ich, »trinke ich auch.« »Na Halleluja.« Sie schien erleichtert zu sein. »In dem Fall legen Sie Ihr Jackett ab, setzen Sie sich aufs Sofa und erzählen Sie mir, wie Sie mit meiner Tante klargekommen sind.« Sie erwähnte meinen Heiratsantrag mit keinem Wort. Vielleicht hatte sie beschlossen, ihn als Scherz abzutun, einen Scherz von gestern noch dazu. Vielleicht hatte sie Recht. »Ihre Tante«, sagte ich, »würde nicht mal meinen Rat annehmen, wenn ich ihr den Weg ins Paradies weisen würde.« »Warum nicht?« Sie reichte mir ein Glas und machte es sich mir gegenüber in einem Sessel gemütlich. Ich erklärte ihr den Grund, und sie wurde sofort wütend wegen der Dinge, die man ihrer Tante angetan hatte. »Man hat sie reingelegt.« »Ich fürchte, ja.« »Man muß etwas dagegen unternehmen.« Ich nahm einen Schluck Wein. Leicht, trocken, unerwartet blumig, und ganz bestimmt kein Fusel aus dem Supermarkt. »Das Problem ist«, sagte ich, »daß die Abdrückerei nicht illegal ist. Weit davon entfernt. Für viele ist es eine ganz normale Methode, ein Geschäft abzuwickeln, und sie halten jeden, der davon nicht profitiert, für einen Idioten.« »Aber die Hälfte ihres Gewinns zu verlangen...« »Das Argument lautet, daß ein Agent, dem ein hoher Anteil versprochen wurde, den Auktionspreis durch Bieten viel höher treiben wird, als was das Pferd sonst ersteigert hätte, darum profitiert der Züchter in jedem Fall. Einige Züchter machen das
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Abdrücken nicht nur mit, sie bieten es sogar freiwillig an. In so einem Fall ist jeder zufrieden.« »Mit Ausnahme der Person, die das Pferd kauft«, sagte sie ernst. »Die hat dabei das Nachsehen. Warum lassen sich die Käufer das bieten?« »Ah«, sagte ich. »Was die Käufer alles nicht wissen, könnte ganze Bibliotheken füllen.« Sie sah mich mißbilligend an. »Ihr Beruf klingt nicht gerade sympathisch.« Sie fügte die Untertreibung des Jahres hinzu: »Er ist nicht aufrichtig.« »Was für ein Agent man ist, hängt davon ab, wie man die Dinge sieht«, sagte ich. »Ehrlichkeit liegt im Auge des Beschauers.« »Das ist unmoralisch.« Ich schüttelte den Kopf. »Universell.« »Sie sagen nichts anderes, als daß im Vollbluthandel Ehrlichkeit nur eine Frage des eigenen Standpunkts ist.« »Wie in jedem anderen Geschäft auch, und in jedem Land und in jeder Epoche, solange die Welt existiert.« »Jonah, Sie reden Unsinn.« »Wie steht’s mit dem Heiraten?« »Was soll ich dafür abdrücken?« »Herrje«, sagte ich. »Sie lernen wirklich schnell.« Sie lachte und stand auf. »Ich bin eine lausige Köchin, aber wenn Sie bleiben wollen, bekommen Sie ein köstliches Abendessen.« Ich blieb. Das Essen bestand aus tiefgefrorenen Fertiggerichten, und Lukullus hätte sich die Finger danach geleckt; Hummer in Muschelsauce und Ente mit Mandeln und Honigkruste. Die Tiefkühltruhe war der größte Gegenstand in der kleinen weißen Küche. Sie stocke sie alle halbe Jahre auf, sagte sie, und gehe zwischendurch praktisch nie einkaufen. Anschließend beim Kaffee erzählte ich ihr, wie Kräuselhaar wieder aufgetaucht war, um sich River God unter den Nagel zu 95
reißen. Es trug nicht gerade dazu bei, ihre Ansichten über meinen Beruf zu verbessern. Ich erzählte ihr von der blühenden Fehde zwischen Constantine Brevett und Wilton Young und auch von Vic Vincent, dem Knaben mit der Unschuldsmiene, der keinem etwas zuleide tat. »Constantine ist der Meinung, daß die Jährlinge, die er für ihn gekauft hat, gut sein müssen, nur weil sie teuer waren.« »Das klingt doch einleuchtend.« »Ist es aber nicht.« »Warum nicht?« »Jahr für Jahr werden Spitzenpreise für die größten Nieten gezahlt.« »Aber warum?« »Weil Jährlinge noch nie ein Rennen gelaufen sind«, sagte ich, »und niemand kann mit Gewißheit sagen, ob sie sich überhaupt dafür eignen. Sie erzielen ihren Preis einzig über ihre Abstammung.« Und auch die konnte getürkt sein, aber das erzählte ich ihr lieber nicht. »Dieser Vic Vincent... Zahlt er hohe Preise für gute Abstammung?« »Hohe Preise für mittelmäßige Abstammung. Vic Vincent kostet Constantine eine Stange Geld. Er ist der größte Abdrücker von allen, und er wird von Minute zu Minute gieriger.« Sie sah eher angeekelt als entsetzt aus. »Meine Tante hatte recht, als sie sagte, Sie wären alle miteinander Gauner.« »Ihre Tante wollte mir nicht sagen, wer die Hälfte ihres Gewinns verlangt hat... Wenn Sie sie wieder einmal anrufen, fragen Sie doch mal, ob sie je von Vic Vincent gehört hat, und passen Sie auf, was sie dann sagt.« »Warum nicht gleich?« Sie wählte die Nummer ihrer Tante, stellte die Frage und hörte zu. Antonia Huntercombes Antwort war so vehement, daß ich sie vom anderen Ende des Zimmers hören konnte, und 96
ihre Wortwahl war deftig und unmißverständlich. Sophie schnitt mir eine Fratze und mußte fast laut herausprusten. »Na schön«, sagte sie, nachdem sie aufgelegt hatte. »Es war Vic Vincent. Damit hätten wir schon eines von den kleinen Geheimnissen des Lebens gelöst. Wie steht’s mit dem Rest?« »Vergessen wir sie.« »Auf gar keinen Fall. Man kann nicht einfach zwei körperliche Auseinandersetzungen vergessen, die innerhalb von drei Tagen stattfanden.« »Ganz abgesehen von einem frei herumlaufenden Pferd.« Sie starrte mich an. »Sie meinen doch nicht...« »Na ja«, sagte ich. »Es kann vielleicht sein, daß ich zum erstenmal seit achtzehn Jahren eine Stalltür nicht ordentlich verriegelt habe, aber nicht, daß sich ein Pferd von allein aus seiner Decke befreit, indem es die Schnallen löst.« »Sie haben gesagt... daß er ohne seine Decke schlechter zu sehen wäre.« »Ja.« »Sie meinen also... daß jemand ihm die Decke abgemacht und ihn vor mein Auto gescheucht hat... nur um einen Unfall zu verursachen?« »Um das Pferd zu verletzen«, sagte ich. »Oder sogar um es zu töten. Ich hätte sehr große Schwierigkeiten bekommen, wenn Sie nicht so schnell reagiert hätten und ihm ausgewichen wären.« »Weil man Sie dann angezeigt hätte, weil Ihr Pferd einen Unfall verursacht hat?« »Nein. Das Gesetz sieht es genau anders herum, wenn überhaupt. Für freilaufende Tiere wird niemand zur Verantwortung gezogen, genausowenig wie etwa für umgefallene Bäume. Nein... So wie die Versicherung für das Pferd festgelegt war, hätte ich siebzigtausend Pfund verlieren können, wenn es beschädigt, aber nicht tot gewesen wäre. Und
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das«, fügte ich mit Überzeugung hinzu, »ist eine Lage, in die ich nie wieder geraten werde.« »Haben Sie siebzigtausend Pfund?« »Na klar, und außerdem sechs Schlösser in Spanien.« »Aber...« Sie kräuselte die Stirn. »Dieses Pferd freizulassen bedeutet, daß wer immer es auch war, Ihnen persönlich schaden wollte. Nicht Kerry Sanders oder den Brevetts... sondern Ihnen.« »Mhm.« »Aber warum?« »Ich weiß es nicht.« »Sie müssen doch irgendeine Vermutung haben.« Ich schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, habe ich niemandem etwas zuleide getan. Ich habe die letzten zwei Tage an kaum etwas anderes gedacht, aber mir will niemand einfallen, der einen so großen Groll gegen mich hegen könnte, daß er sich soviel Mühe gibt.« »Wie steht’s mit einem kleinen Groll?« »Von denen gibt’s Dutzende, fürchte ich. Sie wachsen wie Unkraut.« Sie schaute mißbilligend drein. »Die gibt es überall«, sagte ich sanft. »In jedem Arbeitszusammenhang. In Schulen, Büros, Klöstern, auf Reitund Springturnieren... überall wimmelt es nur von Leuten, die einen kleinen Groll gegeneinander hegen.« »Nicht in Kontrolltürmen.« »Ach nein?« »Sie sind ein Zyniker.« »Realist. Wie steht’s mit Heiraten?« Sie schüttelte den Kopf, mit einem Lächeln, das den Vorschlag immer noch als einen Scherz abtat, und ihre Hand wanderte zum zwanzigsten Mal zu dem kleinen goldenen Flugzeug an der schmalen Kette. »Erzählen Sie mir von ihm«, sagte ich. 98
Sie riß schockiert die Augen auf. »Woher wissen Sie...« »Das Flugzeug. Sie tragen es für einen anderen Menschen.« Sie blickte auf ihre Hand hinunter und bemerkte, wie oft sie sie genau an diese Stelle geführt und den Talisman berührt hatte. »Er... er ist tot.« Sie stand abrupt auf und brachte die Kaffeekanne in die Küche. Ich erhob mich ebenfalls. Unmittelbar darauf kam sie mit ihrem ruhigen, freundlichen Gesicht wieder herein, auf dem sich keine Trauer, aber auch keine Ermutigung zeigte. Sie bedeutete mir, mich wieder zu setzen, und wir nahmen unsere alten Plätze ein, ich auf dem Sofa und sie auf dem angrenzenden Sessel. Neben mir auf dem Sofa war noch viel Platz, aber ich hatte nicht die geringste Hoffnung, daß sie sich zu mir setzte, bevor sie nicht dazu bereit war. »Wir haben zusammengelebt«, sagte sie. »Fast vier Jahre. Wir haben uns nie die Mühe gemacht, zu heiraten. Es schien keine Rolle zu spielen. Am Anfang hätte ich nie geglaubt, daß es halten würde... und dann wurde es einfach immer vertrauter und inniger. Wahrscheinlich wären wir am Ende doch noch zum Standesamt gegangen...« Ihre Augen blickten in die Vergangenheit zurück. »Er war Pilot. Erster Offizier an Bord von Jumbos, immer auf langen Flügen nach Australien unterwegs... wir waren daran gewöhnt, getrennt zu sein.« Ihre Stimme klang immer noch emotionslos. »Er ist nicht bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.« Sie machte eine Pause. »Er starb in einem Krankenhaus in Karatschi, gestern vor achtzehn Monaten. Er hatte dort zwei Tage Aufenthalt und bekam eine akute Virusinfektion... gegen die Antibiotika nichts ausrichten konnten.« Ich blickte sie schweigend an.
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»Ich war verrückt, als ich sagte, ich würde Sie heiraten«, sagte sie. Ein Lächeln blitzte in ihren Augenwinkeln auf. »Es war nur... ein sehr netter Unsinn.« »Ein Unsinn am Tag ist gut für die Verdauung«, sagte ich. »Dann werden Sie bestimmt nie unter Magengeschwüren leiden.« Wir sahen einander an. Ein Moment wie der in der Küche, aber diesmal ohne einen Crispin, der hereinplatzte. »Würden Sie erwägen«, sagte ich, »sich zu mir aufs Sofa zu setzen?« »Setzen ja. Nicht legen.« Das war deutlich. »Na schön.« Sie gesellte sich ohne viel Aufhebens zu mir aufs Sofa. »Eins muß ich Ihnen lassen«, sagte sie. »Wenn Sie eine Abmachung treffen, dann halten Sie sich daran.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Sie sind zu stolz, um sie zu brechen.« »Biest.« Sie lachte. Sie legte den Kopf an meine Schulter und schließlich ihren Mund an den meinen, aber es war mehr ein Austausch von freundschaftlicher Zuneigung als glühende Leidenschaft. Ich fühlte, wie der Rückzug auf der Lauer lag, nur den Bruchteil eines Millimeters unter der Oberfläche versteckt, eine Verspanntheit ihrer Muskeln, die mich warnte, wie leicht ich zu weit gehen konnte. »Hör auf, dir Sorgen zu machen«, sagte ich. »Eine Abmachung ist eine Abmachung, wie du gesagt hast.« »Reicht dir das hier?« »Ja.« Sie entspannte sich merklich. »Die meisten Männer glauben heutzutage, daß ein Abendessen schnurstracks ins Bett führt.« Die meisten Männer, dachte ich, hatten genau die richtige Einstellung. Ich legte den Arm um sie und befahl meinen 100
elementaren Bedürfnissen, sich wieder in ihre Neandertalerhöhle zu trollen. Ich hatte zu meiner Zeit eine Menge Rennen auf Warten gewonnen. Geduld war mir eine alte Bekannte. Sie hob den Kopf von meiner Brust und rieb sich die Wange. »Irgendwas kratzt da.« Ich erzählte ihr von meiner Schulter, die dazu neigte, sich auszukugeln, und dem Gurt, der bewirkte, daß sie im Gelenk verankert blieb. Sie zog die Linie des Gewebes über meiner Brust nach und rieb ihre Finger an der kratzenden Schnalle. »Wie funktioniert er?« »Ein kleines Band um meinen Arm ist mit der Bandage um meine Brust verbunden. Das bremst die Bewegung, wenn ich meinen Arm hebe.« »Trägst du sie immer?« Ich nickte. »Mhm.« »Auch im Bett?« »Nicht diese. Eine weichere.« »Ist das nicht lästig?« »Ich bin so daran gewöhnt, daß ich sie gar nicht mehr spüre.« Sie schaute zu meinem Gesicht hoch. »Könntest du die Schulter nicht in Ordnung bringen lassen? Es muß doch eine Operation dafür geben.« »Ich bin allergisch gegen Skalpelle.« »Das leuchtet ein.« Sie reckte sich nach einer Zigarette, die ich ihr anzündete, dann saßen wir nebeneinander und redeten über ihren Job und über meinen, über ihre und meine Kindheit, über ihre und meine Lieblingsbücher, über Orte und Leute. Entdeckungen, keine Feuersbrünste. Als die Zeit gekommen war, küßte ich sie wieder. Und ging nach Hause.
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7 Ich verbrachte den größten Teil der nächsten Woche bei den Auktionen und Rennen in Newmarket, wo ich bei einem befreundeten Trainer wohnte. Ein ernüchterter und niedergeschlagener Crispin hatte mir hoch und heilig versprochen, während meiner Abwesenheit die Finger vom Alkohol zu lassen und sich einen Job zu suchen, und wie immer versicherte ich ihm, daß er die Willenskraft besäße, beides zu schaffen. Die Erfahrung hatte mich jedesmal eines Besseren belehrt, aber auf ihn wirkten diese Märchen wie ein Aufputschmittel. Sophie hatte das ganze Wochenende und am Montag einen anstrengenden Schichtdienst gehabt, aber vorgeschlagen, am darauffolgenden Sonntag zum Mittagessen zu mir zu kommen, wenn ich es wollte. Ich würde es aushalten können, sagte ich. In Newmarket hatte sich die ganze Meute versammelt. Alle Agenten, die großen wie die kleinen. Die Trainer mit ihren Startern, die Jockeys mit ihren Pferden, die Eigentümer mit ihren Hoffnungen. Die Kunden mit gezücktem Scheckheft. Die Züchter, deren Arbeit eines ganzen Jahres auf dem Spiel stand. Die Buchmacher auf der Suche nach Tölpeln. Die Presseleute auf der Suche nach Exklusiv-Interviews. Ich hatte den Auftrag, insgesamt elf Jährlinge zu erstehen, vorausgesetzt, daß ich gute zum richtigen Preis fand, und in den meisten Fällen lag das Geld meiner Kunden schon so gut wie auf meinem Bankkonto. Ich hätte mich eigentlich über mein florierendes Geschäft freuen sollen, statt dessen erlag ich immer wieder der zwanghaften Versuchung, verstohlen nach Kräuselhaar Ausschau zu halten. Die Tatsache, daß sich am Wochenende nichts weiter ereignet hatte, bedeutete für mich noch lange nicht, daß es so bleiben würde. Die Überfälle entbehrten für mich immer noch 102
jeder Logik, aber irgend jemand mußte irgendeinen Grund dafür gehabt haben, und der Grund war aller Wahrscheinlichkeit noch nicht aus der Welt. Crispin hatte bei allem, was ihm heilig war, von der Bibel bis zu der alten Rugbymütze seiner Schulmannschaft, geschworen, daß er die Whiskyflasche geöffnet und einladend auf dem Küchentisch vorgefunden hatte und daß er den Whisky schon gerochen hatte, als er durch die Tür trat. Nach der zehnten leidenschaftlichen Beteuerung glaubte ich ihm. Irgend jemand wußte über meine Schulter Bescheid. Über meinen Bruder. Wußte, daß ich vorübergehend Pferde in meinem Hof einquartierte. Wußte, daß ich vorhatte, ein Pferd für Kerry Sanders zu kaufen, das sie Nicol Brevett schenken wollte. Irgend jemand wußte verdammt noch mal viel zu viel. Der Auktionsring von Newmarket wäre eher nach Kerry Sanders’ Geschmack gewesen: ein großes überdachtes Amphitheater, ansprechend, gut beleuchtet und mit Klappsesseln ausgestattet. Entlang dem Rund der Außenseite befanden sich unter den höher gelegenen Sitzreihen kleine ebenerdige Büros, die von verschiedenen Vollblutagenturen angemietet wurden. Jede der großen Firmen hatte ihr eigenes Büro, ebenso einige wenige Einmannunternehmen wie das von Vic Vincent. Man mußte schon gut im Geschäft sein, damit sich die Ausgabe rentierte, aber die Annehmlichkeiten waren fraglos außerordentlich. Ich würde es wirklich zu etwas gebracht haben, dachte ich, wenn an jedem großen Auktionsring mein eigenes Büro stünde. Statt dessen erledigte ich meinen Papierkram wie üblich auf der knappen Fläche des Katalogs und regelte meine Transaktionen an der Bar. Ich war bereits am ersten Tag, einem Dienstag, nach Newmarket gefahren, noch bevor das erste Pferd verkauft wurde, weil man häufig ein Schnäppchen machen konnte, ehe die Menschenmengen eintrafen. Gleich am Tor lief ich Ronnie North in die Arme. 103
»Ich habe deinen Scheck für River God bekommen«, sagte er. »Jetzt mal ehrlich, war er nicht genau das, was du wolltest?« »Du hättest ihn mal sehen sollen.« Er wirkte betroffen. »Ich hab ihn letztes Frühjahr rennen sehen.« »Ich glaube kaum, daß er seitdem geputzt wurde.« »Für den Preis kann man nicht alles haben.« Er war ein kleiner Windhund von einem Mann, schnell auf den Beinen und schnell mit einem Handel dabei. Er sah niemandem lange ins Gesicht. Seine Augen waren wie immer in Bewegung, blickten über meine Schulter, um zu schauen, wer gerade ankam, wer gerade ging und ob er womöglich gerade die Chance verpaßte, eine schnelle Mark zu machen. »Hat er ihm gefallen?« fragte er. »Wem?« »Nicol Brevett.« Mein Schweigen machte ihn hellhörig. Die schweifenden Augen hefteten sich rasch wieder auf mein Gesicht, aus dem er in Windeseile seine Indiskretion ablas. Ich sagte: »Wußtest du, daß er für Nicol bestimmt war, bevor du ihn mir verkauft hast?« »Nein«, sagte er, aber sein Zögern um den Bruchteil einer Sekunde bedeutete »ja«. »Wer hat es dir erzählt?« »Ist doch allgemein bekannt«, sagte er. »Nein, ist es nicht. Woher hast du es gewußt?« »Ich kann mich nicht erinnern.« Er zeigte alle Anzeichen, anderweitig dringende Termine zu haben, und rückte drei Schritte zur Seite. »Du hast soeben einen Kunden verloren«, sagte ich. Er blieb stehen. »Ehrlich, Jonah, ich kann es dir nicht sagen. Belaß es dabei, sei ein Kumpel. Es kostet mich mein Fell, wenn
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ich dir mehr erzähle, und wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann vergiß einfach, was ich gesagt habe...« »Einen Gefallen gegen einen Gefallen«, sagte ich. »Welchen?« »Mach ein Anfangsgebot für Nummer Vier.« »Willst du es kaufen?« »Ja«, sagte ich. Er schaute mich mißtrauisch an. Niemand, der kaufen wollte, legte gern seine Karten auf den Tisch, indem er das erste Gebot machte, andererseits verkündete selbst ein mit allen Wassern gewaschener Vollblutagent keinem anderen, hinter welchem Pferd er her war. Ich legte soviel ernsthafte Naivität an den Tag, wie ich aufbringen konnte, und er grinste süßlich und erklärte sich bereit, zu bieten. Als er wie ein Pfeil davonschoß, ging ich ihm gemächlich nach und beobachtete, wie er sich auf der anderen Seite des Auktionsrings aufgeregt mit Vic Vincent unterhielt. Gemeinsam blätterten sie die ersten paar Seiten des Katalogs durch und lasen das Kleingedruckte. Vic Vincent schüttelte den Kopf. Ronnie North sprach schnell und eindringlich auf ihn ein, aber Vic Vincent schüttelte seinen Kopf nur noch heftiger. Ich zuckte die Achseln. Ich hatte mir selbst nicht mehr bewiesen, als daß mir Ronnie keinen Gefallen tun würde, ohne sich vorher bei Vic Vincent abzusichern. Daraus folgte nicht unbedingt, daß Vic Vincent ihm erzählt hatte, daß River God für Nicol Brevett bestimmt gewesen war. Die ersten paar Pferde wurden gerade aus den Ställen zu den Warteringen geführt, und ich lehnte mich über den Zaun und schaute mir Nummer Vier genau an. Ein rotbrauner Junghengst von unregelmäßigem Wuchs, denn seine Hinterhand war im Verhältnis zur Vorderpartie zu hoch. Mit der Zeit würde sich das wahrscheinlich ausgleichen, aber der schmale Kopf würde bleiben. Seine Abstammung war einigermaßen in Ordnung, seine Schwester hatte ein anständiges Rennen gewonnen, und 105
er wurde von Mrs. Antonia Huntercombe vom Paley-Gestüt zum Verkauf angeboten. »Morgen, Jonah«, sagte eine Stimme schräg hinter mir. Ich drehte mich um. Jiminy Bell, halb einschmeichelnd, halb aggressiv, wie in Ascot. Man konnte sich darauf verlassen, daß er irgendwann geräuschlos direkt neben einem auftauchte. Er sah verfroren aus, sein dünner Mantel war dem schneidenden Wind nicht gewachsen. »Hallo«, sagte ich. »Hast du Lust, dir einen Zehner zu verdienen?« »Ich bin dabei.« Nicht das geringste Zögern. »Mach das Anfangsgebot für Nummer Vier.« »Was?« Vor Staunen vergaß er, seinen Mund wieder zuzumachen. »Geh bis zweitausend rauf.« »Aber du hast doch noch nie... noch nie...« »Nur dieses eine Mal«, sagte ich. Er schluckte, nickte und verschwand kurz darauf. Er machte es nicht ganz so offensichtlich wie Ronnie North, aber in bemerkenswert kurzer Zeit stand er neben Vic Vincent, und auch er bekam das nachdrückliche Kopfschütteln. Ich seufzte. Sophies Tante Antonia stand ein weiteres Verlustgeschäft bevor. Sophie zuliebe hatte ich versucht, ihr einen guten Preis zu garantieren, aber wenn Vic Vincent das Fohlen mit einem Bannfluch belegt hatte, dann würde ich es fast umsonst bekommen. Ich dachte, daß es wahrscheinlich das Beste sei, wenn ich es gar nicht kaufte. Ich hätte nicht gewußt, wie ich es Sophie oder ihrer Tante erklären sollte. Zu meiner großen Überraschung bemerkte ich, daß Vic selbst auf mich zukam. Er ließ seine Ellbogen neben mir auf dem Zaun ruhen und nickte zur Begrüßung. »Jonah.« »Vic.«
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Wir tauschten ein sparsames Lächeln aus, das mehr der Etikette Genüge leistete denn ein Ausdruck von Freundschaft war. Trotzdem hätte ich ihn mögen können, hatte es sogar einmal getan und würde es heute noch tun, wenn er mir nicht zweimal meine Kunden weggeschnappt hätte, indem er ihnen Lügen auftischte. Es war so leicht, Vic Vincent zu glauben. Er hatte ein großes, wettergegerbtes Gesicht mit einem gemütlichen Doppelkinn und einem vollen Mund, der gern lächelte und dessen Winkel sich selbst im Normalzustand nach oben kräuselten. Eine Tolle rötlichbraunen Haars, die über seine Stirn fiel, verlieh ihm ein jungenhaftes Aussehen, obwohl er bestimmt vierzig war, und selbst seine zwinkernden blauen Augen schienen aufrichtig zu sein. Die Gutmütigkeit war nichts als Makulatur. Als ich mich damals bei ihm über meine verlorene Kundschaft beschwert hatte, hatte er gelacht und gesagt, daß in der Liebe, im Krieg und im Vollbluthandel alles erlaubt sei, und wenn ich mir nicht die Finger verbrennen wolle, ich nicht mit dem Feuer spielen sollte, aber er würde immer wieder Feuer anfachen, sooft er Lust habe. Er klappte seinen Mantelkragen aus Lammfell bis über die Ohren hoch und schlug mit einer Faust im dicken Handschuh gegen die andere. »Ganz schön eisig heute früh.« »Ja.« »Ich hab gehört, daß Sie in Ascot ein bißchen Ärger hatten.« »Stimmt.« »Constantine Brevett hat’s mir erzählt.« »Verstehe.« »Jawoll.« Er machte eine Pause. »Wenn Mrs. Sanders wieder mal ein Pferd kaufen will, dann überlassen Sie das besser mir.« »Hat Constantine das gesagt?« »Hat er.« 107
Er sah zu, wie die ersten Pferde im Ring herumgeführt wurden. Nummer Vier sah von hinten ganz annehmbar aus, vorn aber unregelmäßig. »Ich habe schon mal genau so ein Hengstfohlen gekauft«, bemerkte Vic. »Ich dachte, daß seine Schultern sich noch entwickeln würden. Haben sie nie getan. Es ist immer ein Risiko, wenn sie ungleich wachsen.« »Kann schon sein«, sagte ich. Arme Tante Antonia. Er blieb noch ein paar Sekunden da, aber er hatte seine beiden Botschaften so kurz und bündig übermittelt, als hätte er gleich »Halt dich aus meinem Terrain heraus und laß die Finger von Nummer Vier« gesagt. Er nickte mir noch einmal aufmunternd zu, wie ein Boß seinen Untergebenen, und schlenderte behäbig davon. Die Lautsprecher husteten und räusperten sich und sagten: Guten Morgen allerseits, die Auktion wird in Kürze beginnen. Ich ging hinein. Abgesehen von vier oder fünf seriös gekleideten Auktionatoren auf ihrer weitläufigen Rednertribüne war der Ort völlig verlassen. Künstliche Beleuchtung verstärkte die Wirkung des Tageslichts und strahlte grell die Reihen leerer Sitzplätze an; der Sand auf der kreisförmigen Bahn, wo die Pferde herumgeführt werden sollten, war fein und flach geharkt. Die Auktionatoren schauten hoffnungsvoll zur Tür des Warterings hinüber, und Katalognummer Eins machte ihren halbherzigen Auftritt, begleitet von ein paar sorgenvoll dreinschauenden Leuten, die offensichtlich ihre Verkäufer waren. Es wurde kein Gebot gemacht. Niemand war da, um zu bieten. Katalognummer Eins wurde an der Hintertür wieder hinausgeführt, und die sorgenvollen Leute folgten. Es wurde kein Gebot für Nummer Zwei und ebensowenig für Nummer Drei gemacht. Die britischen Auktionatoren arrangieren ihre Kataloge in der Regel so, daß die lukrativen Pferde gegen Mitte der Veranstaltung an die Reihe kommen, 108
wodurch kleine Gestüte wie das von Tante Antonia an den kalten Außenrand bugsiert werden. Katalognummer Vier sah im hellen Licht besser aus. Das ist bei allen Pferden so, genau wie bei Schmuck, was auch der Grund ist, warum Auktionsfirmen und Juweliere nicht mit Elektrizität geizen. Der Auktionator fing pflichtgemäß mit der Versteigerung an, obwohl er sich eindeutig nichts davon erhoffte. Er dehnte den Preis bis auf tausend aus, ohne ein ernstgemeintes Gebot erhalten zu haben. An diesem Punkt winkte ich unentschlossen mit meinem Katalog. Antonia würde vor Wut blau anlaufen, wenn sie erfuhr, daß ich ihr Pferd für tausend Pfund bekommen hatte. »Danke, Sir«, sagte er überrascht und ließ sich geschickt von einem imaginären Interessenten auf den vollkommen leeren Rängen ein »Elfhundert« bieten. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Die Tante hatte doch noch soviel Grips gehabt, in letzter Minute ein Mindestgebot festzusetzen. Ich erhöhte auf zwölf, der Auktionator sagte dreizehn, und dann schaukelten wir uns bis auf sein eigenes Gebot von neunzehn herauf. »Sie verlieren ihn«, warnte mich der Auktionator. Drei oder vier Leute kamen von draußen herein und stellten sich in meine Nähe an den Rand der Bahn, wo Katalognummer Vier geduldig immer wieder im Kreis trottete. Jeder konnte draußen über die Lautsprecher mithören, wie der Verkauf lief, und einige waren hereingekommen, um zuzuschauen. Ich fragte mich, wie hoch Antonia wohl das Mindestgebot angesetzt hatte. Zweitausend und nicht mehr würde ich für das Pferd bezahlen. Wenn sie mehr verlangte, konnte sie es behalten. Ich nickte dem Auktionator zu. Er entspannte sich fast unmerklich und sagte zuckersüß: »Zweitausend... zum Verkauf freigegeben...« Sein Blick schwebte über mich hinweg und 109
suchte die Leute, die eben hereingekommen waren. »Darf ich zweitausendeinhundert sagen...?« Niemand sagte zweitausendeinhundert. Er machte noch ein paar vergebliche Anläufe, und Jonah Dereham bekam den Hengst. Ich drehte mich um. Hinter mir stand Vic Vincent mit einer Gewittermiene. »Jonah«, sagte er. »Ich möchte mit Ihnen reden.« »Gern, Vic, wie wär’s mit einem Kaffee?« Er fegte den Vorschlag beiseite. Er packte mich in einer scherzhaft-freundlichen Geste am Arm und trieb mich praktisch zur Tür hinaus. »Jetzt hören Sie mal«, sagte er. »Was ist los?« »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß das Hengstfohlen nicht in Ordnung ist.« »Ihr Interesse ehrt mich.« Er funkelte mich böse an. »Wieviel gibt Ihnen Mrs. Huntercombe?« »Es ist kalt hier draußen«, sagte ich. Er sah aus, als würde er gleich einen Wutanfall bekommen. »Sie gibt Ihnen gar nichts«, sagte er. »Ich habe sie nicht darum gebeten.« »Genau darum geht’s doch, Sie Blödmann. Wir müssen alle zusammenhalten. Wir müssen alle Züchter wissen lassen, daß wir zusammenhalten. Verstehen Sie, was ich meine? Es geht nicht, daß Sie für weniger arbeiten als wir anderen. Das ist uns gegenüber nicht fair. Auch Sie werden mehr verdienen, wenn wir alle zusammenhalten. Das ist doch klar. Können Sie mir folgen?« »Ja«, sagte ich. Nur allzu gut. »Mrs. Huntercombe und Leute von ihrem Schlag müssen begreifen, daß wir kein Interesse daran haben, ihre Pferde zu kaufen, solange sie uns nicht angemessen dafür belohnen.« 110
»Ich kann Ihnen folgen«, sagte ich. »Gut. Dann machen Sie in Zukunft bei uns mit.« Eine klare Aussage, keine Frage. »Nein«, sagte ich. Es mag effektivere Arten geben, ein Hornissennest anzustacheln, aber ich bezweifle es. Der Zorn schoß aus ihm heraus wie greifbare Energie. Er war so kurz davor, mich körperlich anzugreifen, daß seine Arme einen Ruck machten und sich sein Gewicht auf die Zehen verlagerte. Nur die allmählich anwachsende Menge von Käufern und Verkäufern hinderten ihn daran, zuzuschlagen. Er warf Blicke nach rechts und links, bemerkte, daß er Zuschauer hatte, brachte seine Gefühle mit einer mächtigen und sichtbaren Anstrengung wieder unter Kontrolle und ließ seinen im Keim erstickten Gewaltausbruch in Worte fließen. »Wenn Sie nicht mitmachen, ruinieren wir Sie.« Die Bosheit, die in seiner Stimme lag, war unmißverständlich, und es war durchaus keine leere Drohung. Es fiel einem leicht, Vic Vincent zu glauben. Die beiden Kunden, die er mir bereits abspenstig gemacht hatte, glaubten, daß ich sie übers Ohr gehauen hätte, und zwar weil Vic Vincent es ihnen gegenüber behauptet hatte. Er konnte den Verkauf eines guten Stutfohlens verhindern, nur indem er sagte, daß es einen Herzfehler hätte. Er war zweifellos in der Lage, mein wachsendes Unternehmen durch ein ebenso billiges und falsches Gerücht zu vernichten. Ein Vollblutagent war sich seiner Aufträge nur sicher, solange er das Vertrauen seiner Klienten besaß. Mir fiel keine passende Antwort ein. Ich sagte: »Früher waren Sie mal anders«, was wohl stimmte, mir aber auch nicht weiterhalf. »Ich sag’s Ihnen noch mal«, sagte er. »Entweder Sie spielen mit, oder wir sorgen dafür, daß Sie rausfliegen.«
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Er drehte sich auf dem Absatz um und ging zackig davon, wobei die hochgezogenen Schultern und die harten Schritte immer noch von seiner Wut kündeten. Ronnie North und Jiminy Bell umkreisten ihn wie ehrgeizige Satelliten, und dem scharfen Ton seiner tiefen und kräftigen Stimme konnte ich entnehmen, daß er ihnen alles erzählte. Innerhalb einer Stunde hatten die meisten Vollblutagenten von dem Streit gehört, und im Verlauf des Tages lernte ich, wer meine Freunde waren. Die Mitglieder der Bande, der ich mich nicht anschließen wollte, zogen sich spröde zurück und sprachen untereinander über mich, während sie mich aus den Augenwinkeln beobachteten. Die Kerle von den großen Firmen behandelten mich genau wie immer, einer oder zwei sogar mit Anerkennung, weil sie offiziell die exorbitanten Abdrückersummen natürlich mißbilligten. Die Unentschlossenen im Niemandsland dazwischen waren die aufschlußreichsten. Ich saß mit einem von ihnen bei einem Kaffee und einem Sandwich zusammen, einem Mann, der schon länger im Geschäft war als ich, aber ziemlich in derselben Situation: mehr oder weniger etabliert, aber auch bei ihm begann gerade erst der Aufschwung. Er war sichtlich besorgt und wurde nicht eben fröhlicher, als ich ihm bestätigte, womit Vic mir gedroht hatte. »Mich haben sie auch angesprochen«, sagte er. »Sie haben nicht gesagt, was passiert, wenn ich nicht mitmache. Nicht so wie bei Ihnen. Sie haben nur gesagt, es wäre besser für mich, wenn ich’s täte.« »Davon kann man ausgehen.« »Ja... aber... ich weiß nicht, was ich tun soll.« Er legte sein halbgegessenes Sandwich wieder auf den Tisch. »Sie werden einfach immer schlimmer.« Ich sagte, daß mir das auch aufgefallen sei.
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»Früher waren es nur ein paar«, sagte er. »Damals, als ich anfing, nur ganz wenige. Aber in letzter Zeit sind sie so mächtig geworden.« »Und so gierig«, sagte ich. »Genau das ist es«, stimmte er mir eifrig zu. »Ich hab auch nichts gegen einen kleinen Nebenverdienst. Hat doch niemand, oder? Es ist nur... sie setzen einen jetzt so gewaltig unter Druck. Ich weiß nicht, was ich tun soll... Ich mag ihre Methoden nicht, andererseits kann ich es mir nicht leisten...« Er hielt inne, schaute mich deprimiert an und fuhr dann langsam fort: »Vielleicht sollte ich einfach nicht bieten, wenn sie wieder mal erwarten, daß ein Pferd geschnitten wird. Damit richtet man keinen großen Schaden an.« Das ›Mach-das-Beste-draus‹-Syndrom. Die Pfeiler, auf die sich die Tyrannen jeder Epoche stützen können. Er ging mit seinen Sorgen davon, und später sah ich, wie er sich mit Vic unterhielt und ihn gequält anlächelte. An diesem Tag kaufte ich einen weiteren Jährling; ich bot gegen eine der großen Firmen und bekam ihn zu einem fairen Preis. Wie weit Vics Tentakeln auch reichen mochten, sie hatten nicht jeden Züchter im Land eingewickelt, oder jedenfalls noch nicht. Weder er noch seine Freunde hatten ein Interesse an meinem zweiten Kauf bekundet. Gegen Ende des Tages traf einer meiner regulären Kunden ein, mit einem aufgedonnerten Mädchen an der einen und einer Zigarre in der anderen Hand. Eddy Ingram, Mitglied im Klub der gutsituierten Arbeitslosen. »Wir bleiben die ganze Woche«, sagte er fröhlich und wedelte wichtigtuerisch mit seiner Zigarre. »Wie wär’s, haben Sie Lust, morgen abend mit Marji und mir essen zu gehen?« »Sehr gern.« »Wunderbar, wunderbar.« Er strahlte mich an, strahlte Marji an. Ein ewiger Schuljunge, dessen Herz so groß war wie seine Erbschaft. Ich hielt ihn für einen Trottel und konnte ihn sehr 113
gut leiden. »Haben Sie mir schon ein paar gute Pferdchen ausgesucht?« fragte er. »Morgen wird eins angeboten...« »Dann kaufen Sie’s. Erzählen Sie mir hinterher davon.« Er strahlte wieder. »Dieser Knabe«, sagte er zu Marji, »hat schon vier Pferde für mich gekauft, und jedes hat mir einen Profit eingebracht. Da kann man nicht klagen, was?« Marji lächelte süß und sagte: »Aber sicher, Eddy«, was wohl ihren Intelligenzquotienten angemessen widerspiegelte. »Also, nicht vergessen. Dinner morgen abend.« Er sagte mir noch, wo und wann, und ich erwiderte, daß ich ihn wahrscheinlich vorher noch beim Rennen oder auf der Auktion sehen würde, wenn nicht bei beiden Gelegenheiten. Er strahlte und führte Marji zur Bar, und ich wünschte, es gäbe mehr von seiner Sorte. Am nächsten Morgen erwarb ich für ihn eine Halbblutstute zum Preis von elftausend Pfund, wobei ich einen von Vics Spezis überbot. Da das niemanden aus seiner Bande sonderlich zu erschüttern schien, vermutete ich, daß einer von ihnen, wenn nicht alle miteinander, einen Anteil vom Züchter erhalten würde. Obgleich sie das Pferd nicht gekauft hatten, würden sie ihren Anteil erhalten, nur weil sie den Preis in die Höhe getrieben hatten. Am späten Vormittag war die Menge enorm angewachsen, und fast jeder Platz des Amphitheaters war besetzt. Zwei Vollbluthengste, die gegen Mittag zum Verkauf angeboten wurden, lockten die kleinen Zocker auf dem Weg zum Rennen und die Hausfrauen mit ihren Einkaufstaschen und die Angetrunkenen aus den Bars an. Keiner von ihnen hatte die geringste Absicht zu kaufen, aber mit anzusehen, wie riesige Summen den Besitzer wechselten, übte eine unwiderstehliche Faszination auf sie aus. Ich schaute mir die beiden Hauptattraktionen an, wie sie majestätisch im Wartering umherstolzierten, und ließ mich dann von der Menschenwoge 114
ins Innere tragen, um der Auktion beizuwohnen. Neben dem Eingang war kein Platz mehr frei. Ich lehnte mich gegen eine der Trennwände und stellte fest, daß ich neben Pauli Teksa stand. Klein, kräftig, amerikanisch. In einem breitschultrigen hellblauen Mantel. »Hallo«, sagte er. »Wie geht’s Ihnen?« »Gut. Und Ihnen?« »Hervorragend... Wie ich höre, hat Nicol Brevett das Pferd gefallen. Kerry hat mich angerufen.« »Hat sie Ihnen erzählt, daß wir dieses auch fast verloren hätten?« »Hat sie allerdings. Wirklich eine unheimliche Geschichte.« Er konzentrierte sich jedoch nicht auf Kerry oder mich oder das Geheimnis unserer verschwindenden Einkäufe, sondern auf die anstehende Auktion. Eine Menge hingekritzelter Notizen und Zahlenreihen umgaben die Eintragungen der beiden edlen Hengstfohlen in seinem Katalog, und es sah ganz so aus, als wolle sich zumindest ein amerikanischer Agent ein Stück vom Kuchen des britischen Vollbluts abschneiden. Die Doppeltür zum angrenzenden Wartering öffnete sich, und das erste der beiden Tiere wurde hereingeführt. Ein erwartungsvolles Raunen ging durch die Menge. Die Veranstalter hatten ihren besten Auktionator vorgeschickt. Pauli Teksa räusperte sich. Ich blickte kurz in sein Gesicht. Es war eine einzige Anspannung. Markante Züge, harte Muskeln unter der Haut, ein Gesicht voller Entschlossenheit und Willensstärke, weder Freundlichkeit noch Mitgefühl lagen darin. Er hatte dichtgelocktes schwarzes Haar, das sich an den Schläfen lichtete, und rauchgraue Augen, die sich schneller bewegten, als man denken konnte. »Das erste von zwei Hengstfohlen von Transporter.« Der Auktionator begann seine Leier. »Zum Kauf angeboten vom
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Baylight-Gestüt... Wer macht ein Anfangsgebot von zehntausend?« Jemand eröffnete mit fünftausend. Als der Preis bei zehntausend stand, fing Pauli Teksa an zu bieten. Ich dachte, daß ich ihm einen Gefallen schuldig sei, weil er mir Kerry Sanders vermittelt hatte, ganz gleich, wie merkwürdig sich der Kauf dann entwickelt hatte. »Ich an Ihrer Stelle würde das Hengstfohlen nicht kaufen«, sagte ich. »Warum nicht?« Er hob die Augenbrauen und ließ damit den Preis um weitere zweitausend hinaufklettern. »Wegen seiner Farbe.« »Mit der Farbe ist alles in Ordnung. Ein wunderbarer Fuchs.« Noch einmal zweitausend. Ich sagte: »Transporter hat ungefähr dreihundert Nachkommen gezeugt, und dieser hier ist der einzige Fuchs. Alle anderen sind dunkel- oder hellbraun.« »Na und?« Wieder zweitausend. »Also würde ich nicht auf die Vaterschaft wetten.« Pauli hörte jäh auf zu bieten und wandte sich mir mit einem aufmerksamen, konzentrierten Gesichtsausdruck zu. »Sie machen aber Ihre Hausarbeiten gründlich.« Ich sah zu, wie der Fuchs auf dem Sandweg im Kreis lief, während der Preis auf vierzigtausend hochging. »Ich habe eine Menge von Transporters Nachkommen gesehen«, sagte ich. »Und so sehen sie nicht aus.« Der Auktionator sah fragend zu Pauli herüber. »Vierzigtausend sind gegen Sie geboten, Sir.« Pauli schüttelte den Kopf, und die Versteigerung ging ohne ihn weiter. »Dieser Typ aus Neuseeland«, sagte er. »Als er drüben in den Staaten war, hat er mich gebeten, ein Transporter-Fohlen für ihn in Newmarket zu kaufen, wenn eins angeboten wird,
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und es ihm per Schiffsfracht zu schicken, damit er die Linie mit seinem Bestand mischen kann.« Ich lächelte und schüttelte den Kopf. »Wieviel wollen Sie haben?« fragte Pauli. »Wie meinen Sie das?« »Für die Information.« »Nun... gar nichts.« Pauli schaute mir direkt in die Augen. »Sie sind ein verdammter Idiot«, sagte er. »Es gibt noch andere Dinge außer Geld«, sagte ich sanft. »Kein Wunder, daß die anderen Typen gegen Sie sind!« »Was haben Sie über die Sache gehört?« erkundigte ich mich neugierig. »Warum machen Sie nicht mit bei denen?« »Es gefällt mir nicht, was sie machen.« Er warf mir einen weltmännischen Blick zu und sagte, daß mir noch etwas zustoßen würde, wenn ich nicht mit den Wölfen heulte. Ich sagte, ich würde es riskieren. Dann wäre ich ein dreifacher gottverdammter Idiot, meinte er. Das Hengstfohlen erzielte sechsundfünfzigtausend Pfund. Der zweite Verkaufshöhepunkt wurde in den Ring geführt und sah aus, wie ein Transporter aussehen sollte, dunkelbraun mit einem etwas schmalen Hals und scharfen Beckenknochen, die hoch an der Kruppe herausragten. »Was ist mit diesem hier?« fragte Pauli. »Das ist der wahre Jakob.« »Ich bin beeindruckt.« Er steigerte mit, stieg dann aber bei seinem Limit von fünfzigtausend, für das er bevollmächtigt war, aus. Ich mußte darüber nachdenken, wie schrecklich einfach es war, einen Verkauf zu beeinflussen. Pauli hatte mir zweimal geglaubt, zuerst zuungunsten des Fuchses und dann zugunsten des Braunen, und er war ohne zu zögern meinem Ratschlag gefolgt. Genauso hatten sich andere bei Vic Vincent verhalten. 117
Wem konnte man es verdenken, einen abschlägigen Rat zu beherzigen, wenn soviel Geld auf dem Spiel stand? Bei zweiundfünfzigtausend waren alle großen Firmen abgesprungen, und die Versteigerung hatte sich zu einem erbitterten Wettkampf zwischen Vic Vincent und Fynedale entwickelt, dem Yorkshire-Mann mit dem Karottenhaar, der für Wilton Young als Käufer agierte. Constantine Brevett, stellte ich plötzlich fest, hatte mitsamt seinem seidigen Silberhaar und der dunklen Hornbrille den Ring betreten. Er stand dicht neben Vic und redete eindringlich auf ihn ein. Wilton Youngs Mann nickte ununterbrochen, als habe er Unmengen von Geld zur Verfügung. Constantine schaute zugleich pikiert und entschlossen drein. Jährlinge, die mehr als sechzigtausend Pfund kosteten, versprachen keinen großen geschäftlichen Gewinn mehr, selbst wenn sie das Zuchtpotential eines Transporter mitbrachten, und ich schätzte, daß er gegen jeden anderen außer Wilton Young längst ausgestiegen wäre. Bei siebzigtausend runzelte er ärgerlich die Stirn. Bei fünfundsiebzig schüttelte er wütend den Kopf und stapfte aus dem Auktionsring. Der karottenhaarige Fynedale zwinkerte Vic Vincent zu. Pauli Teksa sagte: »Mann, das war ein ordentlicher Batzen.« »Zuviel«, stimmte ich ihm zu. »Ich schätze mal, Stolz kommt teuer zu stehen.« Allerdings, dachte ich. Jede Art von Stolz kam teuer zu stehen, so oder so. Er schlug vor, etwas trinken zu gehen, und da die größte Aufregung des Tages vorbei war, schlossen wir uns dem allgemeinen Exodus Richtung Bar an. »Im Ernst, Jonah«, sagte Pauli mit dem Glas in der Hand, und in seinem markigen Gesicht zeigten sich Anteilnahme und Überzeugung. »Für die Individualisten in diesem Spiel ist kein 118
Platz mehr. Entweder Sie schließen sich einer der großen Firmen an, oder Sie müssen einen Modus vivendi mit den kleinen Leuten wie Sie selbst finden und als Einheit auftreten. Sie können es nicht mit dem ganzen System aufnehmen... nicht, wenn Sie in dem Geschäft was verdienen wollen.« »Pauli, geben Sie es endlich auf«, sagte ich. »Ich möchte Sie nicht in der Tinte sitzen sehen, Freundchen.« »Mir passiert schon nichts«, sagte ich, aber er schüttelte den Kopf und sagte, daß er sich große Sorgen um mich mache, wirklich. Ich sei ehrlicher, als gut für mich sei.
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8 Constantine, Kerry und Nicol fanden sich am Nachmittag an der Rennbahn ein, um Constantines Hengst, der als Favorit startete, im großen Rennen laufen zu sehen. Constantine war so schlecht gelaunt, daß die anderen vermutlich im Wartezimmer eines Zahnarztes mehr Spaß gehabt hätten, und kurz nach ihrer Ankunft löste sich Nicol aus der vorherrschenden gedrückten Stimmung und gesellte sich, eine Grimasse schneidend, zu mir. »Dieser Hund von einem Wilton Young...« Wir schlenderten zum Führring hinüber, wo eben die Pferde für das Nachwuchsrennen herumgeführt wurden. »Sag deinem Vater, er kann sich damit trösten, daß Wilton Young wahrscheinlich sein Geld zum Fenster rausgeworfen hat.« »Glaubst du?« »Wieviel Pferde kennst du, die einen Einsatz von fünfundsiebzigtausend Pfund annähernd wieder eingespielt hätten?« »Er ist davon überzeugt, daß es das ›Arc de Triomphe‹ gewinnt.« »Eher ein Trostrennen in Redcar.« Nicol lachte. »Das wird ihn aufheitern.« Ich fragte ihn, wie River God sich mache, und er erzählte, daß er einen guten Appetit habe und schon besser aussehe. Er fragte, ob ich inzwischen herausgefunden hätte, warum es Kräuselhaar auf seine Pferde abgesehen hatte, und ich sagte, leider nicht. Wir begegneten uns an diesem Nachmittag noch zwei- oder dreimal und vertieften dabei eine unerwartete Freundschaft. Vic Vincent war dies nicht entgangen, und offensichtlich mißfiel ihm, was er vermutlich als Bedrohung seines Monopols
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über die Brevettfamilie empfand. Selbst Nicol fiel der Pesthauch auf, der in meine Richtung wehte. »Was hast du angestellt, daß Vic so sauer auf dich ist?« fragte er. »Nichts.« »Irgendwas mußt du doch getan haben.« Ich schüttelte den Kopf. »Es sind eher Dinge, die ich nicht tue«, sagte ich, »und frag bloß nicht, welche, weil ich dir das nicht erzählen kann.« Er rümpfte die Nase. »Berufsgeheimnis?« »So ungefähr.« Er grinste mich wieder strahlend von der Seite an. »Wie damals nach dem Rennen, als Protest eingelegt wurde und du genau wußtest, daß ich denen die Hucke vollüge, und du dichtgehalten hast.« »Ach...« »Doch, doch«, sagte er. »Ich weiß es noch genau, selbst wenn du dich nicht erinnerst. Du bist vierter geworden. Du hast mit angehört, wie ich meinem Besitzer einen Haufen Blödsinn aufgetischt habe, und hast kein Sterbenswörtchen dazu gesagt.« »Du hast das Rennen gewonnen.« »Ja... und sie hätten mich disqualifiziert, wenn du mich verraten hättest.« »Das ist schon lange her.« »Gerade mal drei Jahre.« Er grinste. »Ein Wolf bleibt ein Wolf, auch wenn er mal ins Lammfell schlüpft.« »Schafspelz.« »Lammfell.« Das Grinsen kam und ging wieder. »Du warst ein ganz schön gerissener Wolf, wenn man gegen dich antreten mußte.« »War ich nicht.« »Warst du wohl. Der reine Unschuldsengel auf zwei Beinen, aber als Gegner im Sattel ein harter Brocken.« Er hielt inne. »Ich werd dir was sagen. Ich habe einiges von dir gelernt. Ich 121
habe gelernt, nicht mehr in der Gegend herumzuwinseln, wenn etwas mal nicht fair war... Ich habe gelernt, über kleine Ungerechtigkeiten hinwegzusehen und mich der nächsten Sache zuzuwenden, und meine Energien auf das kommende Ereignis zu konzentrieren, anstatt das vergangene zu verfluchen. Ich habe gelernt, mich nicht jedesmal aufzuregen, wenn mir was gegen den Strich ging. Und ich glaube, dafür schulde ich dir eine Menge.« »Du hast gerade schon bezahlt«, sagte ich. Später stand ich allein auf dem Dach des Rennvereins und lehnte am Geländer des Balkons. Ich konnte von oben mit ansehen, wie Vic Vincent zwischen den einzelnen Grüppchen hin und her scharwenzelte. Er redete auf die Menschen ein, lachte, machte sich Notizen, klopfte den Leuten auf den Rücken. Er wirkte zuvorkommend, sachkundig und hilfsbereit. Er sah jungenhaft aus, harmlos und vertrauenswürdig. Er trug einen Anzug aus schwerem Tweed und ein leicht dandyhaftes dunkelrotes Hemd mit weißem Kragen und einem weißen Schlips, und kein Hut bedeckte sein rötlichbraunes Haar. Ich fragte mich, warum er in letzter Zeit auf so offen aggressive Weise habgierig geworden war. Als Geschäftsmann war er schon seit langem erfolgreich, und als Chef eines Spitzen-Einmannunternehmens gingen jährlich schätzungsweise um die zwei Millionen Pfund über seinen Schreibtisch. Bei niedrig angesetzten fünf Prozent hieß das, daß dabei immer noch hunderttausend in seine Tasche wanderten, und selbst bei hohen Nebenkosten und nach der Steuer mußte er noch als wohlhabend gelten. Er arbeitete schwer. Er war immer dabei, stand im schneidenden Winterwind an den Auktionsringen, rechnete, wertete aus, gab Tips, kaufte ein und ging mit seinem fachmännischen Rat hausieren. Und jetzt arbeitete er noch schwerer daran, die Züchter aus abgelegenen kleinen Gestüten 122
einzuschüchtern. Irgend etwas hatte vor kurzem seinen Appetit auf Geld so stark angestachelt, daß er millimeternah an den Rand der Kriminalität geraten war. Ich fragte mich, was. Pauli Teksa schwärmte von Newmarket; seiner Meinung nach schnitt es im Vergleich zu jeder amerikanischen Rennbahn von Saratoga bis Gulf Stream Park durchgehend besser ab. Meine skeptischen Einwände fegte er mit der Bemerkung beiseite, daß ihm Newmarket wahrscheinlich darum so gefalle, weil es so klein sei. Und so malerisch. Und so verdammt britisch. Die Tribünen in Newmarket waren tatsächlich relativ neu und bequem; aber mir kam der ironische Gedanke, daß klein, malerisch und britisch in den meisten Fällen hoffnungslos unzulängliche Sitzgelegenheiten bedeutete, Drängeleien an der Bar und zu wenig Schutz vor dem ewigen Regen. Er möge die Heide, sagte er. Er möge es, die Pferde auf der Grasnarbe laufen zu sehen. Er möge die lange, gerade Bahn. Er möge Rennen auf dem Rechtskurs. Er habe Newmarket schon immer gemocht, es sei so malerisch. »Waren Sie demnach schon früher hier?« »Klar. Vor vier Jahren. Nur mal um reinzuschauen.« Wir sahen zu, wie sich ein rücksichtsloser kleiner Jockey nach tausend Metern knapper durchs Ziel quetschte, als er durfte, und als wir von der Tribüne hinuntergingen, stießen wir mit Constantine und Kerry zusammen. Sie stellte die beiden Männer einander vor, den großen wohlhabenden Mann mit dem silbernen Haar und den gedrungenen, breitschultrigen Amerikaner. Es sah nicht so aus, als ob sie sich auf Anhieb mochten. Sie tauschten ein paar Höflichkeitsfloskeln aus, die Constantine leichter von den Lippen gingen als Pauli, aber schon nach zwei Minuten nickten sie einander zu und gingen in verschiedene Richtungen davon.
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»Dieser Typ ist ganz schön von sich eingenommen«, war Paulis Kommentar. Wilton Young traf eine Viertelstunde vor dem großen Rennen per Hubschrauber ein. Wilton Young hatte einen eigenen Piloten und besaß einen Bell Ranger, womit er dem RollsRoyce von Constantine Brevett um eine Nasenlänge voraus war, und es war ihm außerordentlich daran gelegen, daß seine Auftritte auch ja niemandem entgingen. Wenn Constantine von sich eingenommen war, dann stach ihn Wilton Young auch in dieser Hinsicht lässig aus. Er ging mit federnden Schritten durch das Tor der Landebahn und direkt über die Koppel in den Führring, wo sein viertbester Dreijähriger soeben vor dem Rennen zur Schau gestellt wurde. Die laute Yorkshire-Stimme schnitt durch die feuchte Oktoberluft wie eine Baumsäge. Obwohl man die Worte aus der Entfernung nicht deutlich verstehen konnte, war sein Timbre zu durchdringend, um überhört zu werden. Constantine stand auf der anderen Seite des Führrings und beugte sich schützend über seine kleine Gruppe, die aus Kerry, seinem Trainer und seinem Jockey bestand, und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, daß ihm sein eigener Auftritt durch das Ärgernis aus den Lüften versalzen worden war. Nicol flüsterte mir ins Ohr: »Was uns jetzt gerade noch fehlt, ist, daß Wilton Youngs Pferd das meines Vaters schlägt«, was unweigerlich geschah. Um zwei Längen. Lässig. »Er wird einen Schlaganfall bekommen«, sagte Nicol. Constantine jedoch zeigte selbst angesichts der Niederlage wunderbare Contenance und tröstete seinen Trainer im Absattelring, scheinbar ohne die unhöfliche Schadenfreude wahrzunehmen, die zwei Meter weiter von der Box Nr. 1 herübertönte. »So ist es immer«, sagte Nicol. »Das Pferd, von dem man am wenigsten will, daß es gewinnt, gewinnt auch.« 124
Ich lächelte. »Es ist genau dasjenige, das man beschlossen hat, nicht zu reiten...« »Sie lassen einen wie einen Idioten dastehen.« »Immer und immer wieder.« Gegen Ende des Nachmittags fuhr ich von der Rennbahn, die eine Meile die Straße hinunter Richtung London lag, wieder in die Stadt zurück und bog rechts zu den Auktionsringen ab. Nicol begleitete mich, da Constantine mit Kerry ins Hotel zurückfahren wollte, um dort in Ruhe seine Wunden zu lecken, und wir machten eine Runde durch die Ställe und schauten uns ungefähr ein Dutzend Jährlinge an, die ich mir als mögliche Kaufobjekte notiert hatte. Er sagte, er würde gern lernen, seine Pferde selbst einzukaufen, damit er sich nicht ein Leben lang auf einen Agenten verlassen müsse. »Noch mehr von deiner Sorte, und ich kann meinen Laden dichtmachen«, sagte ich. Es gab ein Stutfohlen von On Safari, das mir gefiel, eine große, braune Stute mit tiefer Brust und freundlichen Augen. Ihr Stammbaum versprach Schnelligkeit, und ihre Mutter hatte bereits drei zweijährige Sieger hervorgebracht, und ich dachte, wenn sie nicht astronomisch hoch geboten wurde, wäre sie genau das Richtige für Eddy Ingram. Sie sollte etwa eine Stunde nach Beginn der abendlichen Auktion aufgerufen werden, und ich vertrieb mir bis dahin die Zeit, indem ich zwei annehmbare Hengste, jeden zu tausend Pfund, für einen Trainer in Cheshire erstand. Nicol war immer noch bei mir, als ich nach draußen ging, um mir das Stutfohlen von On Safari anzusehen, das im Wartering herumgeführt wurde. Es lief so gut, wie es aussah, und ich fürchtete, daß Eddy Ingrams Limit bei fünfzehntausend Pfund vielleicht zu niedrig angesetzt war. Jiminy Bell tauchte wieder einmal wie von Zauberhand neben mir auf und schlüpfte aalglatt in die Lücke zwischen Nicol und mir, als wir am Zaun standen. 125
»Hab eine Nachricht für dich«, sagte er. Er drückte mir einen zusammengefalteten Zettel in die Hand und verschwand so schnell, daß ich ihm nicht einmal einen Drink anbieten konnte. Für seine Verhältnisse war das so ungewöhnlich wie ein ungeladener Gast, der die Party verläßt, bevor das Essen serviert wird. Ich faltete den Zettel auseinander. »Was ist los?« fragte Nicol. »Nichts.« Ich steckte den Zettel in meine Jackentasche und versuchte, mir meine grimmige Entschlossenheit nicht anmerken zu lassen. Die Nachricht war in Druckbuchstaben verfaßt und unmißverständlich. BIETE NICHT FÜR 182. »Jonah... du bist angespannt wie ein Leitungsdraht.« Ich sah Nicol ausdruckslos an. Er sagte wieder: »Herrgott noch mal, was ist denn los?« Ich entspannte ein paar Muskeln und sagte leichthin: »Was sein muß, muß sein.« »Was denn?« »Das werde ich wahrscheinlich noch herausfinden.« »Ich verstehe kein Wort.« »Macht nichts«, sagte ich. »Laß uns schauen, wie die Stute verkauft wird.« Wir gingen in das große kreisrunde Gebäude und setzten uns in einen Abschnitt von Sitzreihen, die der Tür am nächsten waren, wobei hier wie immer der größte Andrang von Züchtern, Agenten und einer bunten Mischung aus Rennbahnpublikum herrschte. Ronnie North saß in der Reihe hinter uns. Er beugte sich vor und sprach in den Zwischenraum unserer Köpfe hinein. »Es wird gemunkelt, daß das Stutfohlen von On Safari wahrscheinlich unfruchtbar ist. Irgendeine Infektion... Nicht besonders aussichtsreich als Zuchtstute. Wirklich schade.« 126
Nicol sah erstaunt und enttäuscht aus; es schien ihm für mich leid zu tun. Er stellte Ronnie ein oder zwei Fragen, aber Ronnie schüttelte traurig den Kopf und meinte, er wüßte keine Details, nur, daß er es aus zuverlässiger Quelle erfahren hätte. »In dem Fall wäre sie nicht sonderlich viel wert«, sagte Nicol, der sich wieder mir zugewandt hatte. »Nein, nicht, wenn es wahr ist.« »Aber... glaubst du es denn nicht?« »Ich weiß es nicht.« Katalognummer 180 wurde gerade verkauft. Es blieb mir kaum noch Zeit. »Ich muß noch was erledigen«, sagte ich zu Nicol. »Bis gleich.« Ich hetzte zum Telefon. Das Stutfohlen von On Safari kam von einem Gestüt in Irland, von dem ich bisher kaum etwas gehört hatte, und es vergingen wertvolle zwei Minuten, bis mir die irische Auskunft die Nummer herausgesucht hatte. Ob sie mich bitte gleich durchstellen würden, bat ich. »Das dauert eine halbe Stunde.« »Wenn es nicht sofort passiert, ist es zu spät.« »Einen Moment...« Es knisterte in der Leitung, fernes Stimmengewirr, und plötzlich sagte klar und deutlich eine sehr irische Stimme: »Hallo?« Ich fragte, ob das Stutfohlen von On Safari jemals eine Infektion gehabt oder eine Fruchtbarkeitsbescheinigung bekommen hätte. »Ja also«, sagte die Stimme, gnadenlos langsam. »Darüber kann ich Ihnen schwer etwas sagen. Von den Pferden versteh ich ja gar nichts, wissen Sie, weil ich nur hier bin und auf die Kinder aufpasse, bis Mr. und Mrs. O’Keary mit dem Zug aus Dublin zurückkommen... in einer Stunde sind sie wieder hier, in einer Stunde, ja. In einer Stunde können sie Ihnen Ihre Frage beantworten.«
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Als ich zurückkam, wurde die Stute bereits herumgeführt, und die Versteigerung, so zögerlich sie sich auch anließ, hatte begonnen. Der Platz neben Nicol war inzwischen besetzt. Ich stellte mich neben die Schleuse, durch die die Pferde in den Ring geführt wurden, und hörte, wie der Auktionator jedem versicherte, daß ihr ein tadelloses Gesundheitsattest ausgestellt worden sei. Ein Mann neben mir schüttelte skeptisch den Kopf. Ich warf ihm einen Blick zu. Ein Seniorchef einer der großen Agenturen. Er starrte das Pferd verdrießlich an und machte keine Anstalten, es zu kaufen. Ein paar Leute in der Menge hatten den Preis bis auf sechstausendfünfhundert hochgebracht, und dort blieb er stehen. Der letzte Bieter sah bereits äußerst besorgt aus, offensichtlich wollte er das Pferd nicht haben. Ich mutmaßte, daß er für den Züchter geboten hatte und das Stutfohlen zurückkaufen mußte, wenn es nicht einen besseren Preis erzielte. »Sechstausendfünfhundert... Wer bietet mehr? Es steht zum Verkauf frei...« Der Auktionator schaute über die von Agenten bevölkerten Sitzreihen und registrierte die verschlossenen, regungslosen Gesichter. »Dann also sechstausendfünfhundert zum ersten. Sechstausendfünfhundert zum zweiten... kein weiteres Gebot?« Er hob seinen Hammer und ich meine Hand. »Sechstausendsechshundert.« Das Gesicht des letzten Bieters entspannte sich in immenser Erleichterung. Mehrere Köpfe drehten sich in meine Richtung, um zu sehen, wer das Gebot gemacht hatte, und der Seniorchef neben mir rührte sich plötzlich und flüsterte mir aus dem Mundwinkel zu: »Man sagt, daß sie unfruchtbar ist.« »Danke«, sagte ich. Niemand wollte mehr bieten. Der Auktionator versuchte sein Bestes, noch mehr herauszuschlagen, aber ohne Erfolg, dann gab er mit einem Kopfschütteln den Zuschlag. 128
»Jonah Dereham«, verkündete er und notierte meinen Namen. Ein Schaudern fuhr wie eine Woge durch die kleine Gruppe um Vic Vincent. Ich war nicht unbedingt darauf erpicht zu erfahren, was sie mir zu sagen hatten, darum machte ich mich eilig zu den Ställen davon, um den Transport zu regeln. Auf dem Rückweg, eine Stunde und eine Tasse starken Kaffee später, stieß ich mit Eddy Ingram zusammen, der mich laut und ohne sein gewohntes Lächeln wissen ließ, daß er mich gesucht hätte. »Wenn Sie das Stutfohlen von On Safari für mich gekauft haben sollten«, sagte er bestimmt, »dann können Sie es vergessen.« Die hellen Scheinwerfer um den Wartering herum beleuchteten sein Gesicht, aus dem jede Spur von Jovialität gewichen war. Auch die ergötzliche Marji setzte eine Zornesmiene auf. »Bei ihrer Abstammung wird sie einmal sehr schnell sein«, sagte ich. »Ich habe gehört, daß sie infiziert und unfruchtbar ist.« Er ärgerte sich. Nichts von dem strahlenden Eddy war mehr zu spüren. »Sie haben kein Recht, mein Geld für einen solchen Schrott auszugeben.« »Ich habe Ihnen noch nie eine Niete gekauft, Eddy«, sagte ich. »Wenn Sie das Stutfohlen nicht wollen, bitte sehr, ich finde schon jemanden, der es haben will. Aber für den Preis ist sie ein Schnäppchen, und ich hätte mich gefreut, wenn Sie davon profitieren.« »Aber sie ist unfruchtbar. Und Sie haben das gewußt, bevor Sie für sie geboten haben. Sie haben nicht in meinem Interesse gehandelt.« »Ach«, sagte ich. »Was für eine schöne Formulierung. Nicht in Ihrem Interesse. Wer hat das gesagt?« Seine Augen flackerten. »Ich weiß nicht, was das...« 129
»Aber ich«, sagte ich trocken. »Jedenfalls...« Er schüttelte seine aufkeimenden Zweifel mit einem Achselzucken ab. »Jedenfalls nehme ich das Pferd, das Sie heute früh für mich gekauft haben, aber ich möchte nicht, daß Sie mir noch weitere besorgen.« Irgend jemand hatte sehr schnell und sehr überzeugend gehandelt, aber andererseits war Eddy auch ein Einfaltspinsel, der jedes Märchen glaubte. Ich fragte mich, ob meine anderen Kunden mich auch so rasant im Stich lassen würden. Schließlich rückte Eddy mit jener Idee heraus, die ihn am meisten gegen mich eingenommen hatte. »Sie haben nicht damit gerechnet, daß ich das mit der Unfruchtbarkeit herausbekommen würde. Sie dachten, Sie könnten Ihre fünf Prozent kassieren, obwohl Sie genau wußten, daß sie wahrscheinlich unbrauchbar ist.« »Und woher wissen Sie, daß sie unfruchtbar ist?« fragte ich. »Das hat Vic gesagt.« »Und wird Vic in Zukunft die Pferde für Sie kaufen?« Er nickte. »Viel Glück, Eddy«, sagte ich. Er zögerte, immer noch unentschlossen. »Sie haben es nicht abgestritten.« »Ich habe das Stutfohlen jedenfalls nicht nur wegen meiner fünf Prozent gekauft.« Er fing an, unglücklich auszusehen. »Vic hat gleich gesagt, daß Sie es abstreiten würden und daß ich ein Idiot wäre, Ihnen zu glauben...« »Vic ist ein sehr überzeugender Knabe«, sagte ich. »Aber Sie haben mir vier gute gekauft...« »Das müssen Sie auseinanderklamüsern, Eddy. Denken Sie drüber nach und sagen Sie mir Bescheid.« Ich ging davon und ließ ihn stehen. Eine Stunde später rief ich wieder in Irland an. 130
»Ob sie was ist?« Ich zuckte schmerzhaft zusammen und entfernte mein Trommelfell vom Hörer. »Selbstverständlich ist sie nicht unfruchtbar.« Die Stimme schrie so laut, als wollte sie die Irische See ohne Hilfe von Telefondrähten überqueren. »Sie ist noch nicht einen Tag krank gewesen seit ihrer Geburt. Wo zum Teufel haben Sie diesen Unsinn gehört?« »Auf der Auktion.« »Was?« Böse Vorahnung gesellte sich zu der Entrüstung. »Wieviel hat sie eingebracht?« Ich sagte es ihm. Ich hielt den Hörer gute zwanzig Zentimeter von meinem Ohr weg und hatte trotzdem keine Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Vic Vincents Opfer schienen alle mit ausgezeichneten Lungen ausgestattet zu sein. »Ich habe einem Nachbarn von mir aufgetragen, bis auf zehntausend hochzugehen, und ihm gesagt, daß ich ihm auf jeden Fall sein Geld zurückzahlen würde, wenn er sie kaufen müßte.« »Seine Nerven haben ihn bei sechstausendfünfhundert im Stich gelassen«, sagte ich. »Ich bring ihn um.« Er klang, als würde er es ernst meinen. »Ich hab diesem Typen, diesem Vic Vincent gesagt, daß ich auf seine Hilfe verzichten könne, ich könne sehr wohl allein gewährleisten, daß auf mein Pferd geboten wird, danke sehr, und jetzt das. Diese Pleite.« Er machte erregte Gurgelgeräusche. »Was hat Ihnen Vic Vincent angeboten?« fragte ich. »Er sagte, daß er die Stute bis auf zehntausend hochsteigern würde, und wenn sie mehr als das bekäme, wollte er davon die Hälfte haben. Die Hälfte! Ich bitte Sie. Ich habe ihm ein Fünftel angeboten, was auch schon eine verdammte Frechheit ist, selbst das. Er sagte, die Hälfte oder gar nicht, darum sagte ich, gar nicht, und fahren Sie zur Hölle.« 131
»Werden Sie beim nächstenmal tun, was er sagt?« »Beim nächstenmal!« Ich merkte, wie bei ihm die Vorstellung eines nächsten und wieder eines nächsten und eines weiteren nächsten Mals langsam einsickerte. »Na ja...« Das Feuer brannte nicht mehr ganz so lichterloh. Es entstand eine längere Pause, und als er schließlich etwas sagte, war klar, daß ihm die Vorzüge von Vics Hilfe bewußt geworden waren, und vor allem, was es ihn kosten würde, sie auszuschlagen. »Na ja, nun«, sagte er. »Vielleicht werde ich das.« Als ich Eddy Ingram wieder sah, war er sehr damit beschäftigt, Vic anzustrahlen, und Marji tat es ihm gleich. Alle drei in inniger Runde, ein Herz und eine Seele. Mir ging der etwas unbarmherzige Gedanke durch den Kopf, daß ich in keiner Weise verpflichtet war, Eddy zu erzählen, daß mit dem Stutfohlen alles in Ordnung war. Wenn sich herausstellte, daß sie die beste Zuchtstute des Jahrhunderts war, dann würde ihm das verdammt noch mal ganz recht geschehen. Am späteren Abend, nachdem sich Nicol zum Abendessen verabschiedet hatte, wurde ich von einem Mann am Arm gepackt, der brüsk zu mir sagte: »Ich möchte mit Ihnen reden.« Und so stark waren meine Fluchtreflexe, daß ich fast zugeschlagen hätte und davongelaufen wäre, bevor mir klar wurde, daß sich die Ressentiments des Mannes nicht gegen mich richteten. Er sagte, daß er der Züchter des TransporterFohlens sei, das Wilton Youngs Agent Fynedale für fünfundsiebzigtausend Pfund erworben hätte. Er spie die Worte förmlich aus und sah überhaupt nicht aus wie jemand, dessen Züchtung einen der Spitzenpreise auf der Auktion erreicht hatte. Er bestand darauf, mich zu einem Drink einzuladen und mir seine Geschichte zu erzählen. »Na schön«, sagte ich. 132
Wir standen in einer Ecke der Bar und tranken Brandy und Ginger Ale, während die Verbitterung wie Säure aus ihm herausströmte. »Ich habe gehört, daß Vic Vincent hinter Ihnen her ist. Darum erzähle ich Ihnen das. Er hat mich letzte Woche zu Hause aufgesucht und mir mein Fohlen für dreißigtausend Pfund abgekauft.« »Ach tatsächlich?« sagte ich. Privatverkäufe vor der Auktion waren eigentlich nicht statthaft. Jedes Pferd, das im Katalog aufgeführt war, mußte auch im Versteigerungsring erscheinen, es sei denn, daß es ein Attest eines Tierarztes besaß, weil sonst, wie die Veranstalter mit einigem Recht beklagten, die Käufer und Verkäufer ihren Katalog nur als kostenloses Informations- und Werbemittel mißbrauchen würden und ihre Pferde gar nicht erst zur Versteigerung schickten. Die Auktionsfirma veröffentlichte den Katalog und organisierte den Verkauf, und für ihre Mühen verlangte sie ihre zehn Prozent. Bei ein oder zwei Auktionen war der Katalog erst in allerletzter Minute erschienen, weil schon bei anderen Veranstaltungen zahlreiche Privatabschlüsse vor der Auktion stattgefunden hatten. Spät erscheinende Kataloge erschwerten meine Arbeit erheblich. Andererseits wußte ich, daß einige Züchter versuchten, die Kommission der Auktionatoren zu umgehen, indem sie vorher privat für eine gute Summe verkauften und dann alles versuchten, um den Auktionspreis auf der Talsohle zu halten. Man konnte es den Auktionsfirmen nicht verübeln, daß sie etwas dagegen unternahmen. »Vic hat mir zwei Dinge versprochen«, sagte der Züchter, und seine Lippen waren schmal vor Wut. »Er sagte, daß er und seine Leute den Preis nicht auf dreißigtausend hochtreiben würden, wenn niemand anders versuchte, einzusteigen.« »Damit Sie nicht die volle Kommission an die Auktionsfirma zahlen müßten?« 133
Er starrte mich an. »Ist doch nichts dabei, oder? Geschäft ist Geschäft.« »Erzählen Sie weiter«, sagte ich. »Er sagte, wenn der Preis bis auf fünfzigtausend hochginge, würde er mir die Hälfte all dessen zahlen, was über dreißig liegt.« Er nippte an seinem Brandy und verschluckte sich fast. Ich sah ihn abwartend an. »Und dann... dann...«, er geriet ins Stottern, konnte kaum die Worte herausbringen. »Wissen Sie, was er mir dann frech ins Gesicht gesagt hat? Er sagte, unsere Vereinbarung gelte nur bis fünfzigtausend. Alles, was darüber liegt, kassiert er, alles.« Irgendwie bewunderte ich die Chuzpe, die das Ganze hatte. »Hatten Sie eine schriftliche Vereinbarung?« »Ja«, sagte er wütend. »Pech für Sie.« »Pech! Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?« Ich seufzte. »Warum haben Sie dem Hengst nicht die Chance gegeben, aus eigener Kraft einen guten Preis zu erzielen, anstatt ihn vorher an Vic zu verkaufen?« »Weil er nicht glaubte, daß er auf der Auktion soviel wie dreißigtausend einbringen würde, aber er hätte einen Kunden, der ihm die Summe zahlen wollte, und er sagte, davon könnte ich ruhig profitieren.« »Haben Sie schon früher mit Vic zu tun gehabt?« fragte ich neugierig. »Nicht direkt. Nein. Und um ehrlich zu sein, ich fühlte mich zuerst geschmeichelt, als er sich extra die Mühe machte, mich zu Hause aufzusuchen... geschmeichelt.« Er ließ sein leeres Glas auf einen der kleinen Tische niederkrachen, die überall in der Bar herumstanden. Ein Mann, der an dem Tisch saß, blickte auf und winkte ihm einladend zu. »Willkommen im Klub«, sagte er.
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Ich kannte ihn flüchtig; er arbeitete in kleinem Maßstab als Pferdetrainer in einer der nördlichen Grafschaften und kam gelegentlich in den Süden, um für seine Eigentümer Pferde einzukaufen. Er verstand ebensoviel von Pferden wie jeder Agent, und ich fand, daß seine Eigentümer sich glücklich schätzen konnten, daß er persönlich für sie einkaufte, da sie auf diese Weise die Kommission des Agenten sparten. Er war leicht angetütert, wenn nicht betrunken. »Dieses Arschloch«, sagte er. »Vic Vincent. Willkommen im Anti-Vic-Vincent-Klub.« Der Züchter, der nur mit halbem Ohr zuhörte, sagte: »Wovon reden Sie eigentlich?« »Ist das denn zu fassen?« fragte der Trainer und meinte die Welt im allgemeinen. »Ich habe jahrelang für einen meiner Eigentümer Pferde gekauft. Verdammt gute Pferde. Und was passiert? Er lernt Vic Vincent kennen, und Vic überredet ihn, daß er ihm ein Pferd kaufen darf. Also kauft er es. Was passiert? Dann kaufe ich ihm ein Pferd, wie ich es immer getan habe. Und was passiert dann? Vic Vincent beschwert sich bei dem Eigentümer, sagt, ich soll keine Pferde mehr für ihn kaufen, weil das ihn, Vic, um die faire Kommission bringt, die er bekommen würde, wenn er für ihn einkauft. Ist denn das zu fassen? Also beschwere ich mich bei meinem Eigentümer, daß er Pferde über Vic Vincent kauft, weil ich nämlich gern Pferde meiner eigenen Wahl trainiere und nicht Pferde, die Vic Vincent ausgesucht hat, und was glauben Sie, was dann passiert?« Er warf theatralisch die Arme auseinander und wartete auf sein Stichwort. Ich war so nett, es ihm zu liefern. »Was passiert?« »Dann sagt mein Eigentümer, daß ich mich gegenüber Vic Vincent nicht fair verhalte, und er nimmt mir die Pferde weg und schickt sie zu einem anderen Trainer, den Vic Vincent für ihn ausgeguckt hat, und jetzt bescheißen die beiden meinen 135
Eigentümer gemeinsam, nur daß der es gar nicht merkt, weil er glaubt, daß die Pferde doppelt so gut sein müssen, weil er das Doppelte für sie bezahlt.« Der Züchter hörte ihm schweigend zu, weil er in Gedanken seiner eigenen Misere nachhing; und ich hörte schweigend zu, weil ich jedes unwahrscheinliche Wort dieser Geschichte glaubte. Leute, die Rennpferde kauften, konnte man leichter übers Ohr hauen als jede alte Dame, die ihre gesamten Ersparnisse einem freundlichen jungen Mann an der Haustür überreicht. Leute, die Rennpferde kauften, kauften Träume, und sie würden jedem folgen, der ihnen versicherte, daß er sie zum Ende des Regenbogens führen könne. Ein paar von ihnen hatten dort den Topf mit dem Gold gefunden; der Rest hörte nie auf zu suchen. Man müßte eine Gesellschaft zum Schutz der gutgläubigen Eigentümer gründen, dachte ich schmunzelnd, wobei man zuallererst Constantine und Wilton Young als besondere Härtefälle zum Eintritt bewegen sollte. Der Züchter und der Trainer ließen sich noch einmal ordentlich nachschenken und setzten sich zusammen, um sich gegenseitig ihre Narben zu zeigen. Ich überließ sie ihrem Kummer, begab mich wieder zum Ring und versuchte ohne Erfolg, ein gut gewachsenes Hengstfohlen zu ersteigern, das für fast das Zweifache meines gesetzten Limits an Vic Vincent ging. Der Unterbieter war Jiminy Bell. Ich sah, wie Vic ihm hinterher einen Zehner gab und ihm auf die Schulter klopfte. Irgendein anderer gutgläubiger Besitzer würde Vic bezahlen. Es war einfach zum Totlachen. Draußen auf dem Parkplatz lachte Vic aber nicht. Ich angelte gerade meine Schlüssel aus der Tasche, um die Wagentür auf zuschließen, als mir jemand mit einer Taschenlampe direkt ins Gesicht leuchtete. »Machen Sie das verdammte Ding aus«, sagte ich.
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Das Licht ging aus. Als sich die blendenden Pünktchen vor meinen Augen verzogen hatten, erblickte ich in einer Entfernung von zwei Metern sechs oder sieben Männer, die in einem Kreis um mich herumstanden. Ich schaute sie mir einzeln an. Vic Vincent und Fynedale, der Yorkshire-Mann mit dem Karottenhaar, Ronnie North und Jiminy Bell. Drei weitere, die ich jeden Tag auf der Auktion traf. Alle todernst. »Was haben wir denn hier?« fragte ich. »Eine Lynchmeute?« Niemand fand es komisch. Nicht einmal ich.
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9 Vic sagte: »Kapieren Sie endlich, Jonah.« »Was denn?« Es befanden sich Menschen in Hörweite, Leute, die zu ihren Autos gingen. Vielleicht würde ich um Hilfe rufen, dachte ich, aber nicht unbedingt sofort. Die sieben Männer machten einen kleinen Schritt nach vorn, fast als handelten sie auf Kommando. Ich stand mit dem Rücken zu meinem Wagen und fand es allmählich lästig, immer auf Parkplätzen überfallen zu werden. Man sollte viel mehr Bahn fahren. »Sie werden tun, was wir Ihnen sagen, ob Sie wollen oder nicht.« »Nein«, sagte ich. »Das werde ich nicht.« Sie traten noch einen Schritt vor und standen da wie eine feste Mauer, Schulter an Schulter. Wenn ich die Hand ausstreckte, konnte ich sie berühren. »Ihr werdet gleich alle übereinanderstolpern«, sagte ich. Es gefiel ihnen nicht, daß ich versuchte, mich über sie lustig zu machen. Die Wut, die Vic vorher unterdrücken mußte, breitete sich wieder über sein Gesicht, und keiner seiner Kunden hätte jetzt den freundlichen Blutsauger von nebenan wiedererkannt. Eine Ader auf seiner Stirn schwoll an und pochte. Der Yorkshire-Mann Fynedale schob sich mit der Schulter vor Vic, als wollte er ihn zurückhalten. »Sie machen uns mehr Ärger, als Sie wert sind«, sagte er zu mir, »und vielleicht kriegen Sie das mal in Ihren Kopf rein. Sie bieten nicht, wenn wir Ihnen sagen, daß Sie nicht bieten sollen, kapiert?«
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Vic drängte ihn mit dem Ellbogen zurück. Vic mochte es anscheinend nicht, wenn sein Leutnant ihm die Rolle des Obergauners abspenstig machte. »Wenn wir ungemütlich werden, dann haben Sie sich das selbst zuzuschreiben«, sagte er. »Was heißt werden?« entgegnete ich. »Wie würden Sie den Schlag über den Kopf in Ascot beschreiben? Als ein freundliches Tätscheln?« »Das waren wir nicht«, bellte er und bereute es auf der Stelle. Sein Gesicht verschloß sich wie eine zugeschlagene Tür. Ich warf einen Blick über die Runde der Gesichter. Einige von ihnen wußten nicht, was sich in Ascot abgespielt hatte. Aber Vic wußte es. Und Fynedale. Ronnie North und Jiminy Bell auch... »Wer war es dann?« »Das geht Sie nichts an. Betrachten Sie es als kleinen Vorgeschmack. Und in Zukunft tun Sie verdammt noch mal, was wir Ihnen sagen.« Sie sahen alle so wild entschlossen aus, daß ich beinahe gelacht hätte; aber als sie plötzlich kehrtmachten und zu ihren eigenen Wagen gingen, merkte ich, daß mir eigentlich doch nicht zum Lachen zumute war. Ich blieb dort stehen, wo sie mich zurückgelassen hatten, und atmete in tiefen Zügen die nächtliche Winterluft ein. Egal, wie witzig ich es finden mochte, daß ein paar völlig normale Bürger mir drohten, mich zusammenzuschlagen, wenn ich mich nicht ihrer Verbrechergewerkschaft anschloß, so war doch ihr kollektiver Einschüchterungsversuch real genug gewesen. Das einzige, was ich in diesem Moment plötzlich wollte, war eine Zigarette. Es standen nur noch wenige Autos auf dem Parkplatz, aber der Wagen neben meinem entpuppte sich als der von Pauli Teksa.
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»Jonah?« sagte er und blinzelte mich durch die trübe Beleuchtung an. »Hallo.« »Stehen Sie nur einfach da und rauchen?« »So sieht’s aus.« »Wollen Sie mitkommen und einen Happen bei mir essen?« In stillschweigendem Einverständnis war meine Verabredung zum Abendessen mit Eddy und Marji verfallen, aber meine Gastgeber für diese Woche erwarteten mich ebenfalls nicht zurück. Wenn ich überhaupt essen wollte, warum dann nicht in Gesellschaft. »Ich könnte mir nichts Besseres vorstellen«, sagte ich. Er war in einem Gasthaus außerhalb von Newmarket abgestiegen, das extra für die Auktionsbesucher noch ein spätes Abendessen servierte. Die gemütliche Bar mit angeschlossenem Speisesaal war voller vertrauter Gesichter, und das vorherrschende Gesprächsthema drehte sich gegebenermaßen um Pferde. Er schob seinen starken, stämmigen Körper mühelos durch das Gewühl, und irgendeine geheimnisvolle Ausstrahlung bewirkte, daß sich die Menge vor ihm teilte wie das Rote Meer vor Moses. Mir fiel auf, daß er an der Bar sofort bedient wurde, wo andere länger als er gewartet hatten, und daß diese anderen seine Vorzugsbehandlung eher anerkannten als mißbilligten. Ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlte, Pauli zu sein und so viel natürliche und unbewußte Macht auszustrahlen. Wir aßen Räucherlachs und dann gebratenen Fasan und tranken dazu einen Château Haut-Badon 1970, der meine Wahl war, nicht seine – Amerikaner verstünden rein gar nichts von französischen Weinen, und er sei keine Ausnahme, sagte er. Ihm sei Bourbon lieber. »All diese Typen hier«, sagte er beim Kaffee und machte eine ausholende Bewegung, die die anderen voll besetzten Tische einschloß. »Die mögen Sie irgendwie.« 140
»Das bilden Sie sich ein.« »Nix da.« Er bot mir eine Zigarre aus einem Krokodillederetui mit goldenen Beschlägen an. Eine Havanna. Er zog genüßlich den Rauch ein und seufzte und sagte dann, das einzig Gute, das Kuba jemals hervorgebracht habe, seien seine Zigarren, und das Leben in den Vereinigten Staaten mache keinen Spaß mehr, seitdem man sie vor kurzem mit einem Einfuhrverbot belegt habe. Er habe seinen Vorrat in England aufgestockt und wolle um die hundert Stück in seinem Gepäck nach Hause schmuggeln. »Vorhin, draußen auf dem Parkplatz, da sahen Sie ein bißchen durch den Wind aus«, sagte er. »Tatsächlich?« »Diese Typen, die um Sie herumstanden, als ich aus dem Tor kam. Waren das Freunde von Ihnen?« »Geschäftsbekanntschaften.« Er lächelte mitleidig. »Schließen sich gegen Sie zusammen, was? Ich hab Sie ja gewarnt.« »Das haben Sie allerdings«, sagte ich und lächelte zurück. Er blickte mich vorsichtig abschätzend an. »Sie scheinen nicht sehr weit bei Ihnen gekommen zu sein.« »Nein.« »Sie müssen sich vorsehen, Freundchen«, sagte er ernst. »Vergessen Sie nicht, wie man Sie in Ascot zugerichtet hat.« »Die Meute von heute abend behauptet, daß sie das nicht gewesen sind.« Er war überrascht. »Haben sie das gesagt...?« Ich nickte. »Aber sobald sie es gesagt hatten, machten sie den Mund zu. Vielleicht stimmt es auch irgendwie, weil die beiden Männer, die mir Hearse Puller abgenommen und versucht haben, mir River God wegzuschnappen, keine bekannten Gesichter auf der Rennbahn sind. Ich hatte sie vorher noch nie gesehen. Aber ich möchte fast wetten... die
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Truppe von heute hat ihnen die wichtigsten Hinweise geliefert.« »Wie meinen Sie das?« »Alles, was die beiden Fremden wußten, haben die Typen von vorhin auch wissen können.« »Was denn alles?« Sein markantes Gesicht war konzentriert, aufmerksam, teilnehmend. Ich erzählte ihm von dem Zweijährigen, der frei auf der Hauptstraße herumgelaufen war, und von Crispins Whisky. Er war erstaunt. Ich sagte: »Von den Männern, die heute abend anwesend waren, wußte Jiminy Bell über meinen heiklen Arm Bescheid, da er die Bandage oft genug im Umkleideraum gesehen hat, als wir beide noch Jockeys waren. Ronnie North wußte, daß ich River God gekauft hatte, weil er ihn mir verkauft hat. Vic Vincent wußte, daß ich vorübergehend Pferde in meinem Hof einquartiere. Jeder von ihnen konnte wissen, daß mein Bruder Alkoholiker ist, das ist kein Geheimnis. Alle waren sie an dem Tag in Ascot, als ich Hearse Puller kaufte. Es liegt auf der Hand, daß sie diese Informationen weitergegeben haben könnten, wenn sie gewollt hätten. Das Problem ist nur, daß ich einfach nicht verstehe, warum.« Er streifte vorsichtig einen Zentimeter Asche von der Spitze seiner Zigarre ab und ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ich werde Ihnen sagen, worauf die aus sind«, sagte er schließlich. »Worauf?« »Die wollen Sie weichklopfen.« »Was?« Ich lachte. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.« Er zuckte die Achseln. »Es ist eine Möglichkeit. Sie wollen Ihnen ein bißchen zusetzen. Nicht so sehr, daß Sie gleich Alarm schlagen. Ein bißchen herumschubsen. Dann verteilen
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sie rechts und links Drohungen... Machen Sie mit, sonst setzt es was.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es so einfach ist.« »Warum nicht?« »Weil ich keine große Bedrohung für sie darstelle. Warum sollten sie sich soviel Mühe mit mir machen?« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte milde durch den kubanischen Qualm. »Kennen Sie denn nicht das klassische Gesetz des Eroberers, Freundchen? Suchen Sie sich den stärksten Typen und zermatschen Sie ihn. Dann kommen die anderen scharenweise angelaufen, sanft wie die Lämmer.« »Vic hat seine Eroberungen im Stil der Mongolenhorden gemacht«, stimmte ich ihm zu, »aber ich bin bei weitem nicht der stärkste Typ weit und breit.« »Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel, mein Junge.« »Ach was, Unsinn.« Er schüttelte den Kopf. »Ich verlasse mich auf meine Menschenkenntnis. Ich treffe meine Entscheidungen. Kaufe meine Pferde. Schnell. Im Handumdrehen.« Er schnipste mit den Fingern. »Und ich mache keine Fehler.« Der Rummel in Newmarket brach seine Zelte nach dem Renntag am Sonnabend ab. Zu dem Zeitpunkt hatte sich das Verhältnis zwischen Vic und mir weiter verschlechtert, soweit das noch möglich war. Er hatte mir zu fünf Gelegenheiten untersagt, ein Gebot zu machen; drei von den betroffenen Jährlingen hatte ich ohnehin nicht haben wollen, und die anderen beiden kaufte ich. Die Stimmung seiner Bande gegen mich hatte sich so weit verhärtet, daß ich mich bemühte, einsame Parkplätze tunlichst zu meiden. Bis Sonnabend war es Vic gelungen, Constantine zu warnen, daß ich keine gute Gesellschaft für Nicol sei. Constantine hatte 143
Nicol gewarnt, und Nicol, der mich über einen Sandwich hinweg fröhlich angrinste, hatte mich gewarnt. Wilton Young hatte drei weitere Jährlinge zu exorbitanten Preisen erstanden, und Fynedales hämisches Grinsen erstreckte sich von einem Ohr zum anderen. Constantine hatte sich alle Mühe gegeben, sich seine Niederlage nicht anmerken zu lassen, und er lebte merklich auf, als sein Pferd das von Wilton Young im CesarewitchRennen besiegte. Eddy Ingram bat mich schließlich doch, ihm das Stutfohlen von On Safari zu überlassen, da er aufgrund eigener Nachforschungen festgestellt hatte, daß es ganz gesund war, aber ich hatte es schon einem anderen Kunden weiterverkauft und empfand bedauerlicherweise kein bißchen Mitleid, als ich ihm dies mitteilte. In geschäftlicher Hinsicht hatte ich eine ziemlich gute Woche erlebt, trotz aller Drohungen von Vic, aber als ich endlich wieder im Auto saß und die A 11 Richtung London nahm, atmete ich erleichtert auf. Die Erleichterung währte so lange, bis ich von der Hauptstraße in mein Heimatdorf abbog. Das Dorf war in hellem Aufruhr, die Einwohner hatten ihre Häuser verlassen und sich auf der Straße versammelt, die nun von Autos, Fahrrädern, Kinderwagen und herumlaufenden Kindern verstopft wurde. Es war zehn nach acht. Der Anlaß der Aufregung war ein grellrotes Leuchten am Nachthimmel, das von lodernden Flammen und herumfliegenden Funken verursacht wurde, und ich wußte sofort und ohne jede falsche Hoffnung, daß das brennende Haus mir gehörte. Es war unmöglich, mit dem Wagen vorzufahren. Ich stellte ihn ab und lief zu Fuß weiter, im Wettlauf, wie mir schien, mit allen Männern, Frauen und Rollstühlen der Gemeinde. Je näher ich kam, desto mehr mußte ich drängeln, und schließlich stieß 144
ich auf eine zwei Meter dicke Menge, die von einer vor meinem Tor aufgestellten Barriere am Weitergehen gehindert wurde. Ich quetschte mich auf einer Seite durch, um in den Hof zu gelangen, und wurde von einem geschäftigen Feuerwehrmann barsch belehrt, daß ich mich hinausscheren solle. »Das ist mein verdammtes Haus«, fuhr ich ihn an. »Ich bin eben erst heimgekommen.« »Oh.« Er zögerte den Bruchteil einer Sekunde. »Der Wind steht gegen uns, fürchte ich. Wir tun unser Bestes.« Ich schaute mich um und machte eine Bestandsaufnahme. Die Ställe standen in Flammen und waren nicht mehr zu retten. Hell leuchtendes Orange hatte sie von einem Ende zum anderen erfaßt. Feuer loderte wild an der Stelle empor, wo einst das Dach gewesen war, tosend und krachend wie Donner und Blitz, die in einem dämonischen Cocktail zusammengeschüttelt wurden. Die Hitze war unbeschreiblich. Überall wirbelte Rauch umher und biß in den Augen. Man kam sich vor wie auf der falschen Seite eines gigantischen Freudenfeuers, und jetzt verstand ich auch, was er mit dem Wind gemeint hatte. Er blies einen grellen Funkenregen auf den immer noch schwarzen Hauptteil des Wohnhauses. Die Hälfte der Feuerwehrleute war damit beschäftigt, den Brand in den Ställen einzudämmen. Der Rest, Rücken an Rücken auf engstem Raum zusammengedrängt, richtete den Schlauch auf das, was vielleicht noch zu retten war. Silberne Wasserfontänen fluteten über die Ziegel und den rückwärtigen Teil des Hauses und ergossen sich in mein zersplittertes Schlafzimmerfenster. Zwei Feuerwehrwagen waren vorgefahren, sie standen drüben auf der Koppel. Ich fragte mich naiv, was sie dort zu suchen hatten, bis mir klar wurde, daß sie das Wasser direkt aus dem Bach pumpten, der dort entlanglief. Kein besonders großer Bach, dachte ich besorgt. Der lange schmale Hof hatte 145
sich in ein wogendes Meer aus Pfützen, Schläuchen und Männern mit schwarzen Helmen verwandelt, die beherzt ihrer schweren Aufgabe nachgingen, freiwillige Feuerwehrmänner, die ihr Samstagabendbier in der Kneipe stehengelassen hatten und eifrig herbeigeeilt waren, um mein Haus zu retten. Es war verrückt, in so einem Moment ausgerechnet an das Bier dieser Männer zu denken, aber genau das tat ich. Der Feuerwehrmann, mit dem ich vorher gesprochen hatte, bemerkte mitfühlend, daß das ja eine schöne Heimkehr für mich sei. Er sagte außerdem, daß man sich bei Ställen und Bauernhöfen nie große Hoffnungen machen dürfe, wenn sie einmal Feuer gefangen hatten, nicht wenn dort Heu oder Stroh gelagert sei. Das Zeug brenne wie Zunder. »Wir haben noch einen weiteren Löschwagen bestellt«, sagte er. »Er müßte längst hier sein.« Er mußte fast schreien, um sich verständlich zu machen. »Die Straße ist bis zum Dorf hin blockiert«, sagte ich. Er schaute mich schicksalsergeben an, was mein Gefühl durchaus nicht war. »Tut mir leid wegen Ihres Autos«, rief er. »Welches Auto?« Er machte eine Armbewegung zur Garage am Ende des Stallgebäudes hin und zeigte darauf. Die Überreste von Crispins Wagen brannten dort aus wie ein Skelett. Ich packte den Feuerwehrmann am Arm. »Wo ist mein Bruder?« schrie ich. »Er muß irgendwo hier sein... wo ist er?« Er schüttelte den Kopf. »Das Haus war leer. Wir haben nachgeprüft. Das Feuer hatte noch nicht so weit um sich gegriffen, als wir ankamen, und es bestand keine Gefahr, hineinzugehen.« »Er könnte eingeschlafen sein.«
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»Kein Mensch kann bei diesem Lärm schlafen, Kumpel«, schrie er zurück, und das tosende Inferno unterstrich, was er meinte. »Ich muß mich selbst überzeugen.« »Kommen Sie zurück«, brüllte er. »Sie können jetzt nicht mehr ins Haus. Sie ersticken da drin.« Er versperrte mir gewaltsam den Weg, bevor ich durch die Küchentür eintreten konnte. Ich sagte, daß wir meinen Bruder finden müßten. Er fing wieder an, mich überzeugen zu wollen, daß er nicht da sei. »Vielleicht ist er sturzbetrunken.« Dies war nicht der Zeitpunkt, Crispins Gesicht zu wahren. »Ohnmächtig.« Und andererseits war er vielleicht nur in die Kneipe gegangen, wo er in seliger Unkenntnis der Ereignisse bei seinem sechsten doppelten Gin saß; aber ich durfte jetzt keine Sekunde zögern, um mich zu vergewissern. »Oh.« Der Feuerwehrmann zog mich durch das Gewirr von Männern und Schläuchen zum nächsten Feuerwehrwagen und drückte mir eine Sauerstoffmaske in die Arme. »Setzen Sie das auf«, sagte er. »Die Birnen werden inzwischen alle durchgeknallt sein, und Sie können ihn schneller finden als ich, falls er da ist.« Er gab mir einen Helm und Handschuhe, und wir rannten zum Haus, während ich im Laufen umständlich meine Ausrüstung anlegte. Das Haus war voller Rauch – unbeschreiblich verqualmt, dunkel, stechend, heiß und ölig. Die einzige Beleuchtung wurde von den brennenden Stallungen draußen erzeugt, was bedeutete, daß alle Zimmer auf der Rückseite in schwarzem Nebel verschwanden. Der Qualm biß jetzt stärker in meinen Augen, so daß sie zu tränen begannen. Ich rückte die Sauerstoffmaske darüber zurecht und versuchte zu sehen, wohin ich lief. »Wo könnte er sein?« schrie der Feuerwehrmann. 147
»Vielleicht im Wohnzimmer. Hier lang.« Wir stolperten durch den Flur, in den pechschwarzen Raum hinein. Unmöglich, etwas zu erkennen. Ich betastete das Sofa, die Sessel und den Fußboden drum herum, alles Stellen, wo er gewöhnlich in sein Koma fiel. Kein Crispin. »Hier ist niemand.« Wir gingen nach oben. Überall herrschte eine unerträgliche Hitze, und der Rauch war noch dichter, falls das überhaupt möglich war. Einzelne Teile der Türrahmen waren verkohlt, als hätten sie schon gebrannt, obwohl man keine Flammen sehen konnte. Ich fand ihn weder in seinem Schlafzimmer, das dunkel war, noch in meinem, in dem glühend orangene Flammen durch den Rauch loderten und wo wir pitschnaß wurden, als vom Fenster her ein Wasserschwall wie ein tropischer Regenguß auf uns niederging. »Hier ist er nicht«, rief der Feuerwehrmann. »Badezimmer...«, sagte ich. »Beeilen Sie sich. Das Dach schwelt schon.« Die Badezimmertür war zu, aber nicht verschlossen. Ich öffnete sie, setzte einen Schritt hinein und stieß gegen Crispins Füße. Es gab hier viel mehr Luft. Der Feuerwehrmann zwängte sich an mir vorbei, warf sich Crispin über die Schulter, als wäre er ein Kind, und lief mit seiner Last schneller aus dem Haus als ich ohne. Er legte Crispin auf einen nassen Rasenflecken, weil es sonst nichts gab, wo er hätte liegen können. Ich zog mir die Sauerstoffmaske vom Kopf und schaute besorgt auf ihn hinunter. »Ist er am Leben?« »Ich weiß nicht. Setzen Sie ihm Ihre Maske auf.«
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Er begann sofort, Crispin künstlich zu beatmen, indem er dessen Arme nach hinten über den Kopf zog, während ich ihm die Maske anlegte und die Sauerstoffzufuhr überprüfte. Ohne innezuhalten, blickte der Feuerwehrmann kurz zu der gaffenden Menge am Tor hinüber und auf die Reihen der Gesichter entlang der Hecke, die man so weit die Straße hinunter sehen konnte, wie die Flammen sie beleuchteten, und ich konnte seine Gedanken lesen, als hätte er sie laut ausgesprochen. Der dritte Löschwagen, ein Krankenwagen, ein Arzt, die Polizei... kein anderes Gefährt würde uns erreichen, solange die Dorfbewohner nicht nach Hause gegangen waren. Das Dach eines der Ställe, die uns am nächsten waren, brach mit großem Getöse und einem plötzlichen Ausbruch siedender Hitze in der Mitte zusammen. Der Feuerwehrmann wandte kurz seinen Blick von Crispin ab, den er immer noch bearbeitete, und sagte zuversichtlich: »Wenn jetzt auch der Rest des Dachs schnell einstürzt, dann hat das Haus eine größere Chance.« Ich schaute hoch. Der brandstiftende Funkenregen hatte sich verringert, aber das Haus sah mehr denn je aus, als würde es im nächsten Moment in einer explosiven Selbstentzündung überall in Flammen aufgehen. Trotz aller Anstrengungen der Feuerwehr begannen die Dachtraufen am anderen Ende bereits schwarz zu kokeln. Crispin zeigte nicht das geringste Lebenszeichen, aber als ich nach seinem Puls fühlte, konnte ich ihn spüren. Schwach und langsam, aber vorhanden. Ich nickte dem Feuerwehrmann erleichtert zu, und er hörte mit der Wiederbelebung auf. Er beobachtete Crispins Brust. Sie machte keine wahrnehmbare Bewegung. Der Feuerwehrmann ließ seine Hand unter Crispins Kleidung gleiten und fühlte nach seinen Rippen. Nichts. Er schüttelte den Kopf und fing wieder an zu pumpen. 149
»Ich kann das machen«, sagte ich. »Gut.« Ich nahm seinen Platz ein, und er ging wieder fort, um bei den Löscharbeiten zu helfen, und der heiße, donnernde und qualmende Alptraum ging scheinbar endlos weiter. Crispin überlebte, und mehr oder weniger gelang es den Männern, das Haus zu retten. Irgendwann, ich entsinne mich nicht mehr genau, wann es war, traf die Polizei ein, und kurz darauf fuhr ein Krankenwagen mit meinem immer noch ohnmächtigen Bruder davon, um eine gründlichere Entgiftung vorzunehmen. Das erste, was die Rettungsmannschaft der Polizei erzählte, war, daß es ihnen nach Brandstiftung aussehe, und das erste, was die Polizei mich fragte, war, ob ich das Feuer gelegt hätte. »Ich war nicht einmal hier.« »Haben Sie Geldsorgen?« Ich blickte sie fassungslos an. Sie standen in dem ganzen Tohuwabohu, wo immer noch dichter, heißer Rauch aus dem feuchten und schwarz verkohlten Holz herausschlug, und führten seelenruhig ihre Ermittlungen. »Ist das alles, was Ihnen Hilfreiches dazu einfällt?« fragte ich, aber ihr Verhalten machte deutlich, daß sie nicht gekommen waren, um zu helfen. Es schien mir das letzte in einer Reihe von irrealen Ereignissen in einer aus den Fugen geratenen Nacht zu sein, daß sie allen Ernstes annehmen konnten, ich hätte diese Zerstörung selbst herbeigeführt. Als es dämmerte, war einer der Löschwagen weggefahren, aber der andere stand immer noch da, weil man bei alten Häusern nie so recht wisse, wie mir die Feuerwehrmänner sagten. Manchmal schwele ein Balken stundenlang vor sich hin, gehe dann plötzlich in Flammen auf, und die ganze Sache beginne wieder von vorn. 150
Sie gähnten, rollten ihre Schläuche ein und rauchten Zigaretten, die sie vorsichtig in kleinen flachen Blechbüchsen ausdrückten. Stärkung in Form von Tee in Thermoskannen wurde vom Dorf vorbeigeschickt, und erste zaghafte Witze blühten wie kleine Knospen aus den Ruinen. Als ich um neun Uhr die Kneipe betrat, um das Telefon zu benutzen, sah ich zufällig mein Gesicht in einem Spiegel. Schwarz verschmiert, vom Rauch rotgefärbte Augen, ein Anblick elend wie die Sünde. Ich wollte Sophie absagen, weil es kein Mittagessen geben würde. Sie werde trotzdem kommen, sagte sie, und mir fehlte die Kraft, mit ihr zu streiten. Die Kneipe spendierte mir ein Bad und ein Frühstück. Meine Kleider rochen schrecklich, als ich sie wieder anzog, aber das war nichts im Vergleich zum Haus und dem Hof, als ich wieder dorthin zurückkam. Nasses, verbranntes Holz, nasses, verbranntes Stroh, schaler Rauch. Der Geruch war ätzend und deprimierend, aber die abziehenden Feuerwehrleute sagten, daß man nichts dagegen tun könne, nach einer Feuersbrunst stinke es immer so. Sophie kam, und sie trug nicht das goldene Flugzeug. Sie rümpfte angesichts des gräßlichen Durcheinanders die Nase, hakte sich wortlos bei mir ein und küßte mich. Ich war seit meiner Kindheit nie mehr so schön getröstet worden. »Was ist übriggeblieben?« fragte sie. »Ein paar nasse Möbelstücke und eine Büchse Erdnüsse.« »Fangen wir damit an.« Wir gingen durch das Haus, Zimmer für Zimmer. Überall nur wäßrige Asche und schaler Rauch. In einer Ecke meines Schlafzimmers gähnte ein klaffendes schwarzes Loch, das den Blick zum Himmel freigab, dort, wo das Dach bis in den Raum niedergebrannt war. Alles, was sich darin befand, gehörte der Vergangenheit an. Wahrscheinlich hatte ich noch Glück, daß 151
ich einen Teil meiner Kleidung nach Newmarket mitgenommen hatte. In Crispins Zimmer fanden wir eine leere Ginflasche und im Badezimmer noch eine. Im Büro war alles von einer dicken, körnigen Schicht bedeckt. Die Wände waren vom Rauch dunkel gefärbt und von Wasserstreifen überzogen. Die gesammelten Bände meiner wertvollen, teuren und praktisch unersetzbaren Rennberichte und Gestütsbücher würden für immer unbenutzbar sein. »Was wirst du jetzt tun?« fragte Sophie. Sie stand auf dem dreckigen Küchenfußboden und zog mit dem Finger eine Linie durch den Staub auf dem Tisch. »Auswandern«, sagte ich. »Ernsthaft?« »Nein... aber die Kneipe macht in fünf Minuten auf, da können wir uns genausogut ernsthaft betrinken gehen.«
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10 Als wir um zwei Uhr ein wenig angeheitert zu Hause eintrafen, fanden wir dort die Polizei vor. Genauer gesagt waren es zwei Beamte, ein Schutzmann und einer, den seine Schulterklappen als Chief Inspector auswiesen. »Amüsieren wir uns, Mr. Dereham?« fragte der Chief Inspector sarkastisch. »Feiern wir schon ein bißchen von dem Versicherungsgeld, ja?« Ich wertete seine Begrüßung eher als Routinebefragung denn als Drohung, schließlich waren sie nicht gekommen, um mich zu beschuldigen, sondern um Fragen zu stellen und sich zu informieren. »Frisch hier draußen, Sir«, meinte der Chief Inspector und blickte vielsagend in den trüben, winterlichen Himmel hinauf. »Drinnen ist es auch frisch«, sagte ich. »Der Öltank für die Zentralheizung befand sich in den Ställen.« »Ah«, sagte er. »Ja, genau.« Er zog es dennoch vor, hineinzugehen, darum führte ich sie in mein Büro und holte ein Staubtuch für die Stühle. Es bewirkte nichts weiter, als daß der Dreck verschmiert wurde. Ich mußte andere Tücher für meine Gäste heranschaffen, die sie dann über die Stühle breiteten, bevor sie sich setzten. »Erzählen Sie uns von Ihren Feinden, Mr. Dereham«, sagte der Chief Inspector. »Was für Feinde?« »Genau das meine ich, Sir. Was für Feinde haben Sie?« »Ich wußte nicht, daß ich Feinde habe, die so weit gehen, meine Ställe in Brand zu setzen.« »Vorher haben Sie es vielleicht nicht gewußt, Sir, aber jetzt wissen Sie es.« Ich nickte wortlos. »Nennen Sie uns einen Namen, Sir.« 153
»Ich glaube nicht, daß ich das kann. Aber es ist nicht das erste, was in der Art passiert ist.« Ich erzählte ihnen von Hearse Puller und meinem freigelassenen Zweijährigen, und er fragte sofort, warum ich diese Dinge nicht der Polizei gemeldet hätte. »Den Zwischenfall in Ascot habe ich gemeldet«, sagte ich und war im stillen dankbar für Kerrys Entrüstung. »Und was das Pferd betrifft... einige Ihrer Männer kamen nach dem Unfall bei mir vorbei, aber zu dem Zeitpunkt wußte ich noch nicht, daß das Pferd absichtlich freigelassen worden war, ich schrieb das meiner eigenen Fahrlässigkeit zu.« Da sie dasselbe geglaubt hatten, konnten sie sich schwerlich mit mir darüber streiten. Der Chief Inspector wußte überdies nur zu gut, daß sie nicht mit einer Sondereinheit angerückt wären, wenn ich ihnen die aufgeschnallte Pferdedecke gezeigt hätte. »Nun, Sir«, sagte er. »Es sieht so aus, als hätten Sie diesmal Glück gehabt. Wir haben einen Zeugen. Einen vierzehnjährigen Jungen, der oben im Wald war, am Ende Ihres Feldwegs. Er wollte gerade nach Hause gehen. Er behauptet, daß er das, was er sah, vom Feldweg aus gesehen hat, aber ich schätze mal, daß er hergekommen war, um sich mit Dingen einzudecken, die auf Ihrem Hof herumlagen. Er gab nämlich an zu wissen, daß Sie in Newmarket seien. Jedenfalls sagte er aus, er habe einen Mann beobachtet, der in den Lagerraum Ihres Stallgebäudes hineinging, und daß er gehört habe, wie dort kurz darauf ein Klappern und Scheppern laut wurde, und daß er es merkwürdig fand, daß dieser Mann, wer immer er auch war, nicht Licht gemacht hatte. Er scheint sich in Ihren Ställen ziemlich gut auszukennen. Er sah, wie der Mann ein Streichholz anzündete und sich niederbeugte. Dann kam der Mann wieder heraus und eilte auf dem Weg in Richtung Dorf davon. Der Junge versuchte nicht, ihn
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aufzuhalten, sondern ging in den Lagerraum und schaltete das Licht an.« Der Chief Inspector hielt dramatisch inne. Sein Publikum hing ungeduldig an seinen Lippen und wartete, daß er endlich weitermachen würde. »Er blickte sich einmal kurz um und machte dann unverzüglich kehrt. Er sagt, daß das Rohr hinter dem Öltank entzwei war und daß Öl herauslief und sich über den Boden ergoß. In der Ölpfütze stand ein Pappkarton, auf dem sich ein großer Feuerwerkskörper befand. Ein Goldregen, wie er sagt. Er stellte fest, daß das Zündpapier rot war und qualmte. Er unterließ es daraufhin, weiter in den Lagerraum hineinzugehen, weil seiner Meinung nach jeder, der das getan hätte, nicht ganz richtig im Kopf sei, falls sein Kopf nicht schon mit dem Rest seines Körpers ausgebrannt sei.« Sophie lachte bei der wörtlichen Wiedergabe dieses Teils der Zeugenaussage. Der Chief Inspector erlaubte sich ein winziges Lächeln. »Jedenfalls scheint es, Sir, als hätte er die Beine in die Hand genommen und wäre ins Dorf gerannt, wo er seiner Mutter auftrug, die Feuerwehr zu rufen, was sie dann auch tat, nachdem er sie schließlich von der Notwendigkeit überzeugt hatte. Als die Feuerwehrmänner hier eintrafen, war der Öltank explodiert, und die Ställe, die innen größtenteils aus Holz gebaut waren, standen hoffnungslos in Flammen. Die Feuerwehrleute sagen, wenn sie noch später gekommen wären, hätten sie auch das Haus nicht mehr retten können.« Er lächelte spöttisch. »Meistens ruinieren sie dann noch, was sie gerade erst gerettet haben.« »Das Haus ist in Ordnung«, sagte ich. »Gut. Was der junge Kenneth sah, ist aber noch kein Beweis dafür, daß Sie die ganze Sache nicht selbst angezettelt haben. Es gibt genug Leute, die eine Brandstiftung arrangieren, während sie selbst ein unumstößliches Alibi haben.« 155
Sophie wollte protestieren. Der Chief Inspector warf ihr einen amüsierten Blick zu, und sie bremste sich. »Schon gut, Miss. Diesmal ist es anders. Diesmal wissen wir ein bißchen mehr. Der junge Kenneth hat uns eine Beschreibung des Mannes gegeben.« »Es war doch dunkel«, sagte ich. »Etwas an dem Mann ist sehr auffällig. Abgesehen davon fanden wir den Wagen, in dem er herkam. Nachdem gestern abend die Menge auseinandergegangen war, standen nur noch zwei Autos auf der Dorfstraße. Das eine gehörte Ihnen. Das andere war ein Zodiac-Kombi, und der Mann, den Kenneth gesehen hatte, wurde dabei beobachtet, wie er vorgeblich versuchte, ihn zu starten, daraufhin wütend gegen die Reifen stieß und dann zu Fuß in Richtung Hauptstraße davonging, wahrscheinlich um per Anhalter das Weite zu suchen. Als wir den Kombi untersuchten, stellte sich zweierlei heraus. Erstens war der Anlasser verklemmt, was der Grund dafür war, daß der Wagen nicht anspringen wollte. Zweitens stimmte das Nummernschild nicht mit der Zulassung überein. Wir haben die Zulassung geprüft. Der Wagen gehört einem Mr. Leonard Williamson, der aussagte, daß ein junger Kerl ihn ihm geklaut habe. Er wurde gefragt, ob ihm zufällig der Name des jungen Mannes bekannt sei, und schließlich nannte er ihn uns. Der junge Kerl sei ein gewisser Frederick Smith. Wir begaben uns zur Wohnung von Mr. Frederick Smith und luden ihn ein, uns hierherzubegleiten und uns bei unseren Ermittlungen behilflich zu sein.« »Oder, anders ausgedrückt«, sagte ich lächelnd, »Leonard Williamson hat Fred Smith verpfiffen, der jetzt in einer Ihrer Zellen Zeter und Mordio schreit.« Der Chief Inspector lächelte spröde. »Wir hätten gern, daß Sie mitkommen und schauen, ob Sie ihn kennen.« Es war Kräuselhaar. 156
Er sah hart, arrogant und nicht die Spur reumütig aus. Das höhnische Lächeln, das er für seine Opfer bereithielt, war zu einem verächtlichen Grinsen für seine Häscher geworden, und die Art, wie er sich über seinen Stuhl fläzte und seine Beine weit auseinander von sich streckte, war eine selbstbewußte, trotzige Kampfansage. Es wurde auch sofort klar, warum der junge Kenneth eine genaue Beschreibung hatte abgeben können. An seinem linken Arm, von den Bizeps bis zum Handgelenk, trug er einen großen weißen Gipsverband. Er starrte mich frech an, ohne mich zu erkennen. »Hallo, Süßer«, sagte ich. Der Chief Inspector warf mir einen scharfen Blick zu. »Sie kennen ihn also.« »Ja. Er hat mich in Ascot überfallen.« »Hab ich nicht.« »Mrs. Kerry Sanders hat Sie auch gesehen.« Er blinzelte. Erinnerte sich. Kniff wütend die Augen zusammen und warf mir einen Blick zu, der einem Krokodil zur Ehre gereicht hätte. »Sie haben mir den verdammten Ellbogen gebrochen.« »Hab ich nicht«, sagte ich. »Ich hab gehört, daß Ihre Ställe abgebrannt sind«, sagte er gehässig. »Schade, daß Sie nicht drin waren.« Der Chief Inspector zog mich wieder in sein Büro. »Er hat ein Vorstrafenregister, so lang wie Ihr Arm«, sagte er fröhlich. »In seinem Jagdrevier ist er unseren Leuten bestens bekannt, dieser Fred Smith.« »Irgend jemand bezahlt ihn«, sagte ich. »Natürlich. Aber wir haben keine Chance, herauszubekommen, wer das ist. Er ist ein harter Bursche. Die Fred Smiths auf dieser Welt singen niemals.« Er klang, als würde er ihn dafür bewundern. »Er wird seine Strafe absitzen, aber erzählen wird er uns nichts.« 157
Sophie begleitete mich, als ich Crispin besuchte, der elend und voller Selbstmitleid im Krankenhaus der Gemeinde lag. Seine Haut war bläßlich und verschwitzt; wenn er hustete, preßte er eine Hand gegen die Brust, und seine Augen verrieten, daß der Ginpegel bis zur äußersten Schmerzgrenze abgeebbt war. Wie eine Axt, die seinen Schädel spaltet, so hatte er es einmal beschrieben. Das erste, was er sagte, als er uns sah, war: »Gib mir verdammt noch mal was zu trinken. Die wollen mir hier nichts geben.« Ich zog eine kleine Flasche Orangensaft hervor. Er starrte sie mißmutig an. »Du weißt verdammt noch mal genau, was ich meine.« »Ja«, sagte ich. »Vitamin C. Wirkt Wunder bei einem Kater.« Ich goß den Orangensaft in ein Glas und gab es ihm. Eine Krankenschwester sah mir von der anderen Seite des Raumes anerkennend zu. Crispin roch verärgert daran, kostete ihn und trank ihn dann ganz aus. Er lehnte sich wieder in sein Kissen zurück und schloß die trüben Augen. »Scheißorangensaft«, sagte er. Er lag ein oder zwei Minuten so da, als wäre er eingeschlafen, aber dann sagte er mit immer noch geschlossenen Augen: »Ich hab gehört, daß du mir mein verdammtes Leben gerettet hast.« »Nicht ganz.« »Na ja, aber ziemlich nah dran... erwarte bloß nicht, daß ich dir dafür dankbar bin.« »Nein.« Eine weitere lange Pause. »Hol mich morgen hier ab«, sagte er. »Gegen Mittag, haben die gesagt.« »In Ordnung.« »Und jetzt könnt ihr euch verpissen.«
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Sophie verließ mit mir das Zimmer, und als wir den Flur entlang zum Ausgang gingen, zischte sie voller Abscheu: »Warum um Himmels willen läßt du dir das von ihm gefallen?« »Er ist mein Bruder.« »Du könntest ihn rausschmeißen.« »Würdest du das tun?« Sie antwortete nicht. Wenn es hart auf hart kam, dann tat man es eben doch nicht. Ich dachte daran, wie er da in seinem akuten, selbstverschuldeten Elend lag, ein einsamer, geschlagener Mann in seiner Privathölle. Früher hatte er einmal Freundinnen gehabt, aber das war vorbei. Zwischen ihm und der Gosse stand nur noch ich, und ich wußte, daß er an mir Halt suchte wie an einer soliden Mauer. »Gibt es denn keine Kur?« fragte Sophie. »O ja. Eine unfehlbare Kur. Die einzige.« »Nämlich?« »Daß man kuriert werden will.« Sie blickte mich zweifelnd an. »Bist du sicher, daß das stimmt?« »Er ist in dem Augenblick geheilt, wenn sein Wunsch, geheilt zu werden, stärker ist als sein Wunsch zu trinken.« »Aber so ist es doch manchmal«, sagte sie. »Du hast doch gesagt, daß er manchmal wochenlang nicht trinkt.« Ich schüttelte den Kopf. »Er hat jedesmal vor, wieder zu trinken. Er zögert es nur hinaus, wie ein Kind, das sich seine Süßigkeiten aufhebt.« Wir stiegen in meinen Wagen und fuhren in Richtung der übelriechenden, verbrannten Holzbalken davon. »Ich dachte, es sei eine Krankheit«, sagte sie. »Eine Sucht. Wie Fußball.« »Du machst schon wieder Witze.«
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»Unter dem Einfluß von Fußball«, sagte ich, »können Leute Eisenbahnwaggons demolieren und andere Menschen zu Tode trampeln.« »Aber mehr Menschen sterben an den Folgen des Alkohols«, widersprach sie. »Wahrscheinlich hast du recht.« »Du nimmst mich nicht ernst.« Ich grinste. »Ich dachte, es gäbe ein Mittel dagegen«, sagte sie. »Meinst du Antabus?« »Was ist das?« »Irgendein Zeug, das Alkohol ekelhaft schmecken läßt. Klar, es hilft. Aber vorher muß man wirklich aufhören wollen, sonst nimmt man es nämlich nicht.« »Crispin auch nicht?« Ich nickte. »Wie recht du hast. Crispin auch nicht.« »Wie steht’s mit den Anonymen Alkoholikern?« fragte sie. »Genau dasselbe«, sagte ich. »Wenn du aufhören willst, sind sie fantastisch. Wenn nicht, dann macht man einen Bogen um sie.« »So habe ich das noch nie gesehen.« »Du Glückspilz.« »Du Mistkerl.« Wir fuhren ungefähr eine Meile in einträchtigem Schweigen weiter. »Trotzdem«, sagte sie. »Ich habe immer gehört, daß es eine Krankheit ist. Daß man nichts dafür kann. Daß ein einziger Drink eine Kettenreaktion auslöst.« »Es ist nicht der eine Drink. Es ist der Wunsch zu trinken. Alkoholismus spielt sich im Kopf ab.« »Und in den Beinen.« Ich lachte. »Okay, er ergreift auch vom Körper Besitz. Es ist sogar so, daß sich der Körper eines besonders abhängigen Alkoholikers chemisch so stark an die Berieselung anpaßt, daß 160
ein plötzliches Kappen der Flüssigkeitszufuhr epileptische Anfälle auslösen kann.« »Aber nicht... nicht bei Crispin?« »Nein. Nicht ganz so schlimm. Aber wenn er sagt, daß er einen verdammten Drink braucht... dann braucht er auch einen.« Weshalb das Getränk, das ich ihm mitgebracht hatte, nur zur Hälfte aus Orangensaft und zur anderen aus Gin bestand. Wir standen eine Weile im Hof und sahen zu, wie sich der Rest des Tageslichts über die abkühlende schwelende Asche der Stallungen neigte. »Was denkst du gerade?« fragte Sophie. »Och... daß ich Fred Smiths anderen Ellbogen auch noch brechen will. Und seine Knie, Zehen, Knöchel und seinen Hals.« »In dieser Reihenfolge«, sagte sie und nickte. Ich lachte, aber die Wut blieb. Diesmal war der Angriff zu weit gegangen. Aus einem kleinen Scharmützel war ein offener Kriegsakt geworden. Wenn Pauli Teksa zufällig recht gehabt hatte und Vic oder wer auch immer versuchte, mich einzuschüchtern, dann hatte er genau das Gegenteil erreicht. Anstatt mich davon zu überzeugen, lieber bei Vics Ränken mitzuspielen, hatten sie die Toleranz abgetötet, die ich ihnen stets entgegengebracht hatte. Wenn ich wollte, konnte ich durchaus so blutrünstig sein wie Fred Kräuselhaar Smith. Vic würde sich noch wünschen, daß er mich in Ruhe gelassen hätte. Ich wandte mich von den Ruinen ab. Ich würde das, was vernichtet worden war, wieder neu aufbauen. Bald, und besser, dachte ich. »Wo willst du heute schlafen?« fragte Sophie. Ich blickte sie in der Dämmerung an. Sanftes silberglänzendes Haar. Ruhige Augen, in denen sich der
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Himmel spiegelte. Nichts als freundliches Interesse konnte ich darin lesen. Sollte das eine Einladung sein, dann mußte sie schon etwas herzlicher daherkommen. »Könnte ich dein Sofa benutzen?« fragte ich. Pause. »Es ist nicht lang genug«, sagte sie. Noch eine Pause. Ich schaute sie an und wartete. Ein Lächeln schlich sich um ihre Augenwinkel. »Also schön. Du hast mir dein Bett gegeben, jetzt geb ich dir meins.« »Mit dir darin?« »Du hast doch hoffentlich nicht dein Schlafzimmer angezündet, nur um in mein Bett zu gelangen?« »Ich wünschte, es wäre so gewesen.« »Du siehst schon so ziemlich selbstgefällig aus«, sagte sie. Wir fuhren friedlich nach Esher, sie in ihrem Wagen und ich in meinem. Wir aßen ein friedliches Abendbrot aus ihrer Tiefkühltruhe und sahen uns einen friedlichen alten Film in ihrem Fernseher an. Auf eine bestimmte Art war sie auch im Bett friedlich. Die innere Beherrschung blieb. Als würde sie sich leicht darüber amüsieren, zu welchen Schrulligkelten die Menschheit so fähig war. Sie war still und passiv. Auf der anderen Seite ließ sie mich nicht im Zweifel darüber, daß ich ihr Wonne bereitete; und was ich gab, bekam ich von ihr zurück. Es war ein intensiver, zärtlicher Liebesakt. Der sich durch kleine Bewegungen und nicht durch Gymnastik auszeichnete. Durch ein wunderbares, anhaltendes Gefühl. Und der sich, auch von ihrer Seite, ohne Vorbehalte vollzog. Danach lehnte sie ihren Kopf an meine Schulter. Sie sagte: »Ich kann nicht bis zum Morgen bleiben.« »Warum nicht?« 162
»Muß morgen früh um sechs in Heathrow meinen Dienst antreten.« »Ein schöner Augenblick, mir das zu sagen.« Ich fühlte, wie sie lächelte. »Besser als vor zehn Minuten.« Ich lachte. »Der Runterzieher des Jahrhunderts.« Sie strich schläfrig mit ihrer Hand über meine Brust. »Ich werde an das hier denken, wenn ich oben im Tower bin.« »Das führt dann dazu, daß die Landeflüge durcheinandergeraten.« »Nein.« Sie küßte meine Haut. »Ich bin bei den Abflügen. Ich sage ihnen, wann sie abheben sollen.« »Wann?« »Und wo. Aber nicht, warum.« Ich lächelte. Schloß die Augen in der warmen Dunkelheit. »Du nimmst nicht einmal bei der Liebe deine Bandage ab«, sagte sie und verfolgte mit den Fingern die Innenseite der weichen Kreppbandage, in der ich schlief. »Gerade dann nicht«, sagte ich. »Eine Aktivität, die für auskugelnde Schultern hochgradig prädestiniert ist.« »Sprichst du aus Erfahrung?« »Kann man so sagen.« »Geschieht dir ganz recht.« Langsam, zufrieden, glitten wir in den Schlaf hinüber.
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11 Als ich am Mittwoch auf der Auktion von Ascot eintraf, schlossen Vic und seine Kumpel die Reihen und bewegten sich wie ein Mann auf mich zu. Ich traf sie auf halber Höhe. Wie der Showdown in High Noon, dachte ich ohne den gebotenen Ernst. Alles, was jetzt noch fehlte, waren mein Sheriffstern und Knarren auf beiden Seiten. »Ich habe Sie gewarnt«, sagte Vic. Sie starrten mich an. Ich hielt ihren Blicken stand und sah nacheinander jedem einzelnen direkt in die Augen. Vic wirkte offen aggressiv, der Rest befand sich in unterschiedlichen Stadien von hämischer Genugtuung bis hin zu einer Spur Unsicherheit. »Wer mit dem Feuer spielt, verbrennt sich die Finger«, sagte ich. Vic sagte: »Das waren wir nicht.« »Ganz recht. Es war ja auch Fred Smith. Und er will nicht sagen, wer ihn bezahlt hat. Aber Sie und ich, wir wissen, wer es war, nicht wahr, Vic?« Er sah ehrlich verblüfft aus. »Sie wissen es?« rief er. »Das glaube ich nicht.« Er dachte noch einmal darüber nach und schüttelte dann den Kopf. »Sie wissen es nicht.« »Aber Sie wissen es«, sagte ich langsam. »Und wenn Sie es nicht selbst gewesen sind... wer war es dann?« Vic vollführte eine grandiose Nachahmung einer Auster. »Tun Sie einfach nur, was wir Ihnen sagen, dann passiert so was nicht noch mal«, sagte er. »Sie verstehen nichts von Psychologie«, sagte ich. »Wenn Sie mich schlagen, schlage ich zurück.« Jiminy Bell sagte zu Vic: »Hab ich dir doch gleich gesagt.«
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Vic warf ihm einen angewiderten Blick zu. Jiminy besaß die einmalige Gabe, schnell Freunde zu verlieren, außerdem ließ sich von ihm niemand etwas sagen. Bataillonskommandeur Vic wurde von seinen Adjutanten Ronnie North und dem karottenhaarigen Fynedale flankiert. Keiner der beiden schien durch meine vage geäußerten Absichten sonderlich beeindruckt oder beunruhigt zu sein. »Wir wär’s mit einem Waffenstillstand?« schlug ich vor. »Sie lassen mich absolut in Ruhe und ich Sie auch.« Sechs Oberlippen kräuselten sich gleichzeitig. »Was können Sie verdammt noch mal schon machen«, sagte Vic. Ich kaufte vier Pferde für verschiedene Kunden, die noch nicht unter Vics Einfluß geraten waren, und fuhr wieder nach Hause. Ein verdrießlich nüchterner Crispin hatte den Tag damit verbracht, einer Abrißfirma dabei zuzusehen, wie sie die verkohlten Überreste der Stallungen auf Lastwagen verlud. Der schale Geruch lag nach wie vor in der Luft, die voller Staub und feiner Asche war, aber die harten Fundamente aus Zement waren freigeräumt und stellenweise gesäubert worden und sahen wie erste Vorboten einer neuen Zukunft aus. Er saß in meinem Büro, trank Sprudellimonade und sah sich eine Kindersendung im Fernsehen an. Zwei Tage lang hatten die Elektriker unermüdlich und effektiv alle durchgebrannten Kabel isoliert und den Stromkreislauf wiederhergestellt, ebenso wie die Leute von der Post, die mich wieder an die Außenwelt angeschlossen hatten. Mit Hilfe der Dorfbewohner hatte ich das Büro und die Küche wieder saubergemacht und mir zwei trockene Betten geliehen, und obwohl das Haus zum Teil von einer Plane überdacht und ungemütlich wie ein begossener Pudel wirkte, war es immer noch mein Zuhause. »Mindestens zwanzig Leute haben angerufen«, sagte Crispin. »Ich hab den ganzen verdammten Tag an der blöden Strippe gehangen.« 165
»Haben sie Nachrichten hinterlassen?« »Hatte keine Lust, was aufzuschreiben. Hab gesagt, sie sollen abends noch mal anrufen.« »Hast du was gegessen?« »Jemand vom Dorf hat einen Apfelstrudel für dich vorbeigebracht«, sagte er. »Den hab ich gegessen.« Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, um den ewigen Papierkram in Angriff zu nehmen. »Holst du mir ein bißchen Limonade?« bat ich ihn. »Hol sie dir selbst.« Was ich nicht tat, und kurz darauf seufzte er bedeutungsschwer, ging in die Küche und brachte mir ein Glas. Das dünne, synthetische Prickelwasser vertrieb wenigstens den Geschmack von Ziegelstaub und verschmortem Holz, obwohl ich wie immer wünschte, daß mal jemand eine Limonade erfinden würde, die nach trockenem Weißwein schmeckte. Ein Jammer, daß alle Limonaden süß waren. Im Laufe des Abends tätigte ich, abgesehen von den verschobenen Anfragen und der Abwicklung diverser Verkäufe, drei etwas persönlichere Anrufe., Ich führte ein Gespräch mit dem Züchter des Transporter-Fohlens, das Vic ihm für dreißigtausend abgekauft und Wilton Young für fünfundsiebzig überlassen hatte. Eins mit Nicol Brevett. Und eins mit Wilton Young selbst. Das Resultat dieser Telefonate war, daß sich der Züchter am nächsten Tag mit Nicol in Gloucester traf und daß ich sie beide am Freitagvormittag zum Versandhauskönig nach Yorkshire fuhr. Der Krach zwischen Wilton Young und seinem karottenhaarigen Agenten auf dem Samstagsrennen in Doncaster tönte noch bis nach Glasgow und London. Wie jeder andere hörte ich eifrig zu und empfand dabei mehr als nur oberflächliche Befriedigung. 166
Wilton Young hatte partout nicht glauben wollen, daß man ihn übertölpelt hatte. Wer hörte das schon gern? Ich irrte mich, beharrte er. Sein Agent Fynedale würde sich niemals mit Vic Vincent auf derartige Ränke einlassen, den Preis eines Hengstfohlens um Tausende hochzutreiben, damit er, Wilton Young, blechen könne, während die beiden, die das Ding gedeichselt hatten, sich seelenruhig die Beute teilten. Ich hatte nicht viel zur Unterhaltung beigesteuert, sondern alles dem Züchter überlassen. Die wütende Empörung, die in Newmarket aus ihm herausgeplatzt war, war inzwischen zu einem verzehrenden Groll angewachsen, und wie ein Aasgeier hatte er sich auf die Gelegenheit gestürzt, Vic kräftig eins auszuwischen. Nicol selbst hatte um seines Vaters willen erst mit Erstaunen und dann mit Wut reagiert. Er saß auf der langen Fahrt nach Yorkshire neben mir und beteuerte in regelmäßigen Abständen, daß er es nicht fassen könne. Ich war überzeugt, daß Nicols Überraschung echt war, aber im stillen bezweifelte ich, daß es bei Constantine ähnlich sein würde. Ich traute Nicols Vater durchaus soviel Finesse zu, Wilton Young wieder und wieder für das Privileg bluten zu lassen, einen Brevett ausgestochen zu haben. Vorausgesetzt natürlich, sein Stolz würde sich mit einem derart unspektakulären Triumph begnügen, und in dieser Hinsicht war ich mir nicht so sicher. Wilton Young und Fynedale standen auf der Rasenfläche vor dem Waageraum und schrien sich gegenseitig an; das faszinierte Publikum von fünftausend Menschen schien für sie überhaupt nicht zu existieren. Wilton Young griff an wie ein zäher kleiner Terrier, woraufhin Fynedales Zorn so furios aufflammte wie sein rotes Haar. Ein oder zwei Mitglieder der Rennleitung bewegten sich unruhig am Rand des Geschehens hin und her und verfolgten mit bangen Gesichtern den Ausgang der Geschichte, während die Jockeys, die auf dem Weg zum 167
ersten Rennen vorbeikamen, mit Mündern von den Ausmaßen angeschnittener Wassermelonen grinsten. »... Das ist unverfrorener, verdammter Betrug«, schrie Wilton Young gerade, und der breite, ungeschliffene Yorkshire-Akzent trat besonders deutlich zutage. »Das sag ich dir, keiner führt mich an der Nase herum und kommt auch noch damit durch. Du kaufst keine Pferde mehr für mich, das sag ich dir. Und ich will jeden einzelnen Penny von dir zurückhaben, den du mir in diesen letzten zwei Jahren abgeluchst hast.« »Da können Sie lange warten«, höhnte Fynedale und grub sich mit der Unüberlegtheit aller Hitzköpfe sein eigenes Grab. »Sie haben einen fairen Preis für diese Pferde gezahlt, und wenn’s Ihnen nicht paßt, dann müssen Sie eben in den verdammten sauren Apfel beißen.« »Du und dieser Scheiß Vic Vincent, ihr versteht doch unter einem fairen Preis nichts anderes, als jeden Penny aus Leuten herauszupressen, die euch vertrauen. Na schön, ich war ein verdammter Idiot, aber damit ist jetzt Schluß, das sag ich dir.« Sein Zeigefinger stach in die Luft und unterstrich jedes wütende Wort. »Ich werd dich wegen dieses Geldes verklagen, wirst schon sehen.« »Machen Sie sich nicht die Mühe. Kommen ja doch nicht damit durch.« »Du hast genug Dreck am Stecken; die anderen Trottel werden sich hüten, dir ihre Kohle anzuvertrauen. Ich sag dir, Bürschchen, wenn ich erst mal mit dir fertig bin, weiß jeder einzelne Mensch in diesem Land, daß er gewaltig draufzahlen muß, wenn er ein Pferd von dir kauft.« »Dann kriegen Sie von mir eine Klage wegen übler Nachrede an den Hals«, schrie Fynedale. »Das ist es mir allemal wert.« »Ich werd Ihnen Millionen abknöpfen«, zeterte Fynedale, der vor Wut fast auf und ab hüpfte. »Das machst du doch jetzt schon.« 168
Der Geräuschpegel der Streitenden schwoll an, während die Widerworte in grobe Beleidigungen abglitten, und als das Rennen begann, übertönten die nicht mehr druckreifen Schmähungen den Kommentar der Lautsprecher. Wie viele andere mußte ich derart kichern, daß ich mein Fernglas nicht stillhalten konnte, um die Starter auf der Gegengerade zu beobachten. Nicol, der neben mir stand, liefen die Lachtränen über die Wangen. »Oje, oje«, sagte er und schnappte nach Luft. »Kannst du mir bitte sagen, was ein fettarschiger, hyänengesichtiger, blutsaugender Schweinehund ist?« »Eine Promenadenmischung«, sagte ich. »Aua, hör auf. Das tut weh.« Er drückte eine Hand gegen die wogenden Rippen. »Ich kann nicht mehr.« Selbst nachdem der Hauptstreit vorbei war, brachen den ganzen Nachmittag lang immer wieder kleinere Gefechte aus, da sowohl Wilton Young als auch Fynedale darauf erpicht waren, lautstark bei jedem, der es hören wollte, ihren Unmut abzulassen. Wilton Youngs Zeigefinger stach durch die Luft, als wolle er Löcher hineinpiksen, und Fynedales Stimme erhob sich in einem selbstmitleidigen Nörgelton. Ich hielt mich die meiste Zeit von ihnen fern, aber bevor der Renntag vorbei war, hatten mich beide ausfindig gemacht. Wilton Young sagte: »Sie sind schlimmer als verdammtes Quecksilber. Ich seh Sie andauernd in einiger Entfernung, und wenn ich dann hingehe, sind Sie verschwunden.« »Tut mir leid«, sagte ich. »Sie hatten recht, und ich habe mich geirrt. Bitte schön.« Es war eine pompöse Geste des Edelmuts, mit der er mich wissen ließ, wie großzügig er es fand, ein derartiges Eingeständnis zu machen. »Der kleine Lümmel hat mich die ganze Zeit betrogen. Wie Sie gesagt haben. Alles ganz legal natürlich. Ich habe heute nachmittag erfahren, daß ich keinerlei Chancen habe, irgend etwas zurückzubekommen.« 169
»Nein«, sagte ich. »Verluste verhüten, das ist mein Motto. Jede Sparte in meinem Versandhaus, die sich nicht ins Zeug legt, wird ausrangiert. Mit den Angestellten ist es genauso, verstehen Sie?« »Ich verstehe.« »Sie finden das nicht richtig. Das sehe ich Ihnen an. Sie sind zu weich, mein Junge, damit kommen Sie nicht weit.« »Kommt drauf an, wohin man will«, sagte ich. Er starrte mich an und lachte dann. »Also schön. Gehen Sie nächste Woche zur Auktion und kaufen Sie mir ein Pferd. Irgendein Pferd, das gut ist. Dann sehen wir weiter.« »Gut wofür?« »Gut für eine angemessene Entschädigung meines Einsatzes.« »In finanzieller Hinsicht?« »Selbstverständlich. In welcher denn sonst?« Wenn er es nicht selbst wußte, konnte ich es ihm auch nicht erklären. »Ich bin aber nicht in Yorkshire geboren«, sagte ich. »Was hat denn das damit zu tun, verdammt noch mal?« »Sie stellen doch nur Yorkshire-Leute ein.« »Und schauen Sie, wohin das geführt hat. Nein, junger Mann, kaufen Sie mir ein gutes Pferd und ich bin bereit, darüber hinwegzusehen, daß Sie am falschen Ort auf die Welt kamen.« Nicol schlenderte in unsere Nähe, und Wilton Young warf ihm einen unfreundlichen Blick zu, wie es sich für den Sohn seines ärgsten Feindes gehörte, selbst wenn sie beide gerade die Opferrolle teilten. »Sie können noch etwas für mich tun«, sagte Wilton Young und stach wieder auf die unschuldige Luft ein. »Finden Sie einen Weg, wie ich diesen verdammten Fynedale für jeden
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Penny, den er aus mir herausgepreßt hat, drankriege. Ich werde nicht ruhen, bis mir das gelingt, das sage ich Ihnen.« Ich zögerte, aber ich hatte mich ohnehin schon sehr weit vorgewagt. Langsam sagte ich: »Ich wüßte schon was...« Er hakte begierig ein. »Was? Was wissen Sie?« »Nun ja...«, sagte ich. »Können Sie sich noch an die drei Pferde entsinnen, die Sie zum Rennen nach Südafrika geschickt haben?« »Verdammte Geldverschwendung. Bei uns hatten sie noch eine ganz passable Form, aber in Durban haben sie total versagt. Haben anscheinend das Klima nicht vertragen. Und natürlich konnten sie dann wegen der Quarantänevorschriften nicht zurückkommen.« »Eins starb gleich, als es in Südafrika ankam«, sagte ich. »Und die anderen beiden haben nie eine Rennbahn gesehen.« Er war überrascht. »Woher wissen Sie das, verdammt noch mal?« »Sie sind mit dem Schiff gefahren«, sagte ich. »Nein, das stimmt nicht«, unterbrach er mich im Brustton der Überzeugung. »Sie sind geflogen. Ist ihnen nicht bekommen, nach allem, was man hört.« »Sie sind mit dem Schiff gefahren«, wiederholte ich. »Ich habe damals zwei Pferde nach Südafrika verschifft, und Ihre befanden sich auch an Bord. Ich hatte meinen einen Stallburschen mitgegeben sowie ausreichend Verpflegung. Ihre Pferde sind drei Wochen lang allein gereist, und sie hatten niemanden dabei, der sich um sie kümmerte. Sie wurden mit insgesamt einer halben Tonne Heu verladen, und nicht einmal gutem Heu. Keine Haferflocken, keine Kleie, keine Futterwürfel. Nur eine Hungerration von schlechtem Heu, und niemand war da, der gewährleisten konnte, daß sie wenigstens das bekamen. Der Mann, den ich mitgeschickt hatte, hat sich, so gut er konnte, um die drei gekümmert und ihnen genügend von meinem Futter abgegeben, um sie am Leben zu erhalten, 171
aber als sie in Durban ankamen, waren sie in einem so schlechten Zustand, daß man sie fast nicht ins Land gelassen hätte.« Er hörte ungläubig zu. »Ich habe sie per Luftfracht geschickt«, wiederholte er. »Das hat man Ihnen weisgemacht. Ich habe in der Sporting Life auch gelesen, daß sie nach Durban geflogen worden sind. Aber als mein Pferdepfleger wieder zurückkam, erzählte er mir, wie es sich wirklich abgespielt hat.« »Aber ich habe die Luftfracht bezahlt... ich habe über viertausend Pfund bezahlt.« »Und wem haben Sie das Geld gegeben?« »Herrje.« Er sah aus, als wollte er einen Mord begehen. »Ich ramme ihm den Schädel in die Wand, das sage ich Ihnen.« »Überlassen Sie das besser einem Anwalt«, sagte ich. »Dem sage ich dann auch, welches Schiff es war, und nenne ihm den Namen und die Adresse des Mannes, der damals die Pferde betreut hat.« »Worauf Sie sich verlassen können«, sagte er. Er drehte sich auf dem Absatz um und eilte davon, als wollte er die Angelegenheit auf der Stelle erledigen. Nicol sagte: »Wenn du ein Feuer entfachen willst, dann leistest du ganze Arbeit.« »Sie hätten mir nicht meine Ställe anzünden sollen.« »Nein«, sagte er. »Das war ein gewaltiger Fehler.« Fynedales Zorn war von einem ganz anderen Kaliber. Vor dem Waageraum packte er mich heftig am Arm, und sein Gesichtsausdruck bewirkte bei mir den Entschluß, mich fortan an beleuchteten, gutbesuchten Plätzen aufzuhalten. »Ich bringe Sie um«, sagte er. »Sie hätten einen Waffenstillstand haben können«, entgegnete ich. »Vic wird Sie umbringen.«
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Es klang lächerlich. Fynedale wäre in der Not dazu imstande, aber Vic war kein Killertyp. »Seien Sie nicht albern«, sagte ich. »Ihr zwei seid ja nicht mal in der Lage, ein Feuer zu legen. Und Fred Smith kann mich auch nicht in eurem Auftrag umbringen, weil er im Loch sitzt.« »Dann macht es jemand anders.« »Jiminy Bell?« schlug ich vor. »Ronnie North? Ihr seid alle schnell mit der Drohung bei der Hand, aber ihr braucht einen Fred Smith, um sie in die Tat umzusetzen. Und die Fred Smiths wachsen nicht auf Bäumen.« »Wir sagen Ihnen doch schon die ganze Zeit«, beteuerte er wütend, »daß wir Fred Smith nicht bezahlt haben. Wir haben ihn nicht beauftragt, Ihren Hof anzuzünden. Wir nicht.« »Wer dann?« »Vic war’s. Nein... Vic doch nicht.« »Dann überlegen Sie mal.« »Vic hat gemeldet, daß Sie nicht mitmachen wollen. Er hat gesagt, man müsse Ihnen eine verdammte Lektion erteilen.« »Wem hat er das gemeldet?« »Woher soll ich das wissen?« »Dann sollten Sie es herausfinden. Sie sehen ja, was Ihnen das eingebracht hat. Sie haben einen angenehmen Job bei Wilton Young verloren und sich statt dessen eine lästige Klage wegen Unterschlagung eingehandelt. Sie sind ein verdammter Idiot, daß Sie jemandem, den Sie nicht kennen, erlauben, Sie in einen solchen Schlamassel zu bringen.« »Sie haben mich in diesen Schlamassel gebracht«, schrie er. »Wenn man mich schlägt, dann schlage ich zurück.« Die Botschaft sickerte endlich ein, und das Resultat war bei ihm das gleiche wie bei mir. Aggression erzeugt Gegenaggression. Genauso, wie große Kriege entstehen. Er zeigte keine Reue. Brachte keine Entschuldigungen vor. Machte kein Angebot für eine Wiedergutmachung. Statt dessen 173
sagte er noch einmal, nur wesentlich entschlossener: »Ich bringe Sie um.« Nicol sagte: »Was wirst du als nächstes tun?« »Fleischpastete und eine Cola holen.« »Nicht doch, du Esel. Ich meine... wegen Vic.« »Das Feuer bei ihm ein bißchen schüren.« Nicol schaute mich verständnislos an. Ich sagte: »Er hat mich einmal gewarnt, wenn ich mir nicht die Finger verbrennen will...« »Sollst du nicht mit dem Feuer spielen.« »So ist es. Aber das gilt auch für ihn.« Der kalte, feuchte Winternachmittag kroch unter meinen Anorak, und meine Füße fühlten sich eisig an. Nicols Gesicht war blaugefroren. Ein kleines Feuer wäre gar nicht so übel gewesen. »Und wie willst du es anstellen?« »Bin mir noch nicht sicher.« Es war relativ einfach gewesen, die Allianz zwischen Wilton Young und Fynedale aufzulösen, da die beiden hitzigen Yorkshire-Naturelle nur einen kleinen Schubser benötigt hatten, um vollends in die Luft zu gehen. Constantine von Vic zu entfremden würde vielleicht länger dauern. Constantine war nicht so unverblümt ehrlich wie Wilton Young, und in seinem Fall war die Wahrung der Würde eventuell wichtiger als alles andere. »Es ist noch ein anderer im Spiel«, sagte ich. »Wer?« »Ich weiß es nicht. Irgend jemand, der Vic hilft. Jemand, der Fred Smith angeheuert hat, um die Dreckarbeit zu erledigen. Ich weiß nicht, wer es ist... aber ich werde nicht lockerlassen, bis ich es herausgefunden habe.« Nicol sah mich prüfend an. »Wenn er deinen Gesichtsausdruck sehen könnte, würde er sich beeilen, seine Spuren zu verwischen.« 174
Das Problem war, daß er seine Spuren schon allzu gut verwischt hatte. Um ihn finden zu können, mußte ich ihn erst dazu verleiten, neue zu hinterlassen. Wir gingen in die Snackbar, mehr um uns aufzuwärmen als um zu essen, und sahen uns das fünfte Rennen in der Fernsehübertragung an. Nicol sagte: »Sind dir noch andere Gaunereien bekannt, die Vic und Fynedale in petto hatten?« Ich lächelte. »Ein oder zwei.« »Welche denn?« »Nun... zum Beispiel die Gaunerei mit der Versicherungsprämie.« »Und wie funktioniert die?« »Ich sollte dir das gar nicht erzählen.« »Die Dinge liegen jetzt anders. Du schuldest denen kein Quentchen Loyalität mehr.« Ich mußte ihm wohl oder übel zustimmen. »Also... Nimm an, du verkaufst einem Kunden in Übersee ein Pferd. Du sagst ihm, daß du dich um die Reiseversicherung kümmern wirst, wenn er die Prämien schickt. Dann schickt er die Prämien, und du heimst sie ein.« »Einfach so?« »Einfach so.« »Aber was passiert, wenn das Pferd unterwegs stirbt? Dann mußt du doch aus eigener Tasche zurückzahlen?« Ich schüttelte den Kopf. »Dann sagst du einfach, es täte dir sehr leid, aber du hättest die Versicherung nicht rechtzeitig arrangieren können, und schickst ihm die Prämien zurück.« »Donnerwetter.« »Bald weißt du besser Bescheid als dein Vater«, sagte ich amüsiert. »Das möchte ich verdammt noch mal auch hoffen. Vic hat ihn mächtig ausgenommen.« »Caveat emptor«, sagte ich. »Was heißt das schon wieder?« 175
»Käufer, halt die Augen auf.« »Ich kenne einen Käufer, der den Rest seines Lebens die Augen aufhalten wird, und das bin ich.« In der folgenden Woche kaufte ich auf der Gemischten Auktion von Newmarket einen zweijährigen Hengst für Wilton Young. Er selbst war auch angereist. »Warum gerade diesen?« wollte er wissen. »Ich habe ihn nachgeschlagen. Er ist drei Rennen gelaufen und nie besser als sechster geworden.« »Nächstes Jahr als Dreijähriger wird er gewinnen.« »Woher wissen Sie das?« »Die Nachkommen von Scorchmark brauchen Zeit, um zu wachsen. Es hat keinen Sinn, ungeduldig zu werden, wenn sie als Zweijährige nicht gewinnen. Ein ungeduldiger Eigentümer hat ihn verkauft, und er wurde bisher von jemandem trainiert, der sich auf Zweijährige spezialisiert hat. Beide wollten schnelle Resultate sehen, und Singeling fehlt die Anlage dafür. Im nächsten Sommer wird er gewinnen.« »Viel hat er nicht gekostet«, sagte er geringschätzig. »Um so besser. Beim ersten guten Preisgeld macht er schon einen Profit.« Er grunzte. »Ich hab gesagt, Sie sollen mir ein Pferd kaufen, und Sie haben es gekauft. Ich habe Ihnen mein Wort gegeben. Trotzdem glaube ich, daß Singeling eine Niete ist.« Dank seiner tragfähigen Stimme wurde die Bemerkung allseits vernommen, und kurz darauf verkaufte er Singeling an jemanden, der anderer Meinung war. Er nahm wie immer kein Blatt vor den Mund, als er mir davon erzählte. »Er hat mir eine ganze Stange mehr geboten, als Sie bezahlt haben. Also habe ich das Geld genommen. Denn ich glaube nicht, daß er viel taugt, dieser Singeling. Was haben Sie dazu zu sagen?« 176
»Nichts«, sagte ich sanft. »Sie hatten mich gebeten, ein Pferd für Sie zu kaufen, das sich in finanzieller Hinsicht auszahlt. Nun... das hat es ja wohl.« Er wirkte verdattert. Klatschte sich auf die Schenkel. Fing an zu lachen. Dann kam ihm ein neuer Gedanke, und plötzlich sah er mich mißtrauisch an. »Haben Sie etwa einen anderen Käufer gefunden und ihn zu mir geschickt, damit er mir einen Profit bietet?« »Nein«, sagte ich und sinnierte darüber, daß er zumindest allmählich lernte. »Ich werd Ihnen etwas sagen«, sagte er widerstrebend. »Dieser Typ, an den ich Singeling verkauft habe... nachdem wir die Sache mit Handschlag besiegelt hatten und es schon zu spät war, noch einen Rückzieher zu machen, der sagte... ich sag’s Ihnen klipp und klar... er sagte, jedes Pferd, dem Jonah Dereham in der Zukunft Gewinnchancen einräumt, ist für ihn gut genug.« »Sehr schmeichelhaft«, sagte ich. »Jawoll.« Er schürzte die Lippen und kniff die Augen zusammen. »Vielleicht war ich ein bißchen zu voreilig, Singeling so schnell loswerden zu wollen. Ich denke mal, Sie kaufen mir lieber noch eins, und das behalte ich dann, selbst wenn es nur drei Beine hat und schielt.« »Sie schreien richtig danach, übers Ohr gehauen zu werden«, sagte ich. »Sie hauen mich nicht übers Ohr.« »Woher wollen Sie das wissen?« Er blickte mich erstaunt an. Machte eine ausholende Armbewegung. »Das weiß doch jeder«, sagte er. Vics Selbstvertrauen und seine übliche gute Laune waren wie weggeblasen. Er verbrachte geraume Zeit damit, Leute in eine Ecke zu ziehen und energisch auf sie einzureden, und bald erfuhr ich, daß er herumerzählte, ich sei so scharf auf Kunden, 177
daß ich faustdicke Lügen über aufrechte Männer wie Fynedale verbreite und daß ich unter der zwanghaften Vorstellung litte, er, Vic Vincent, habe meine Stallungen angezündet, was ebenso verrückt wie bösartig sei, weil die Polizei den Mann, der die Tat begangen hatte, bereits verhaftet habe. Ich ging davon aus, daß seine Glaubwürdigkeit für die Leute gewohnheitsbedingt groß war: Seine Anhänger zweifelten nichts an, was er sagte, und wenn sie es doch taten, dann behielten sie es für sich. Vic und Pauli Teksa standen allein auf der anderen Seite des Warterings zusammen, und Vics Zunge machte Überstunden. Pauli schüttelte den Kopf. Vic sprach noch schneller. Pauli schüttelte abermals den Kopf. Vic sah sich um, als wolle er sich vergewissern, daß ihnen niemand zuhörte, und brachte dann seinen Kopf auf Zentimeternähe an Paulis Ohr heran, wobei sich sein vorstehender, rötlich-brauner Schopf fast mit Paulis gewelltem schwarzem Haar vermischte. Pauli hörte ihm eine Zeitlang zu. Dann wandte er sich ab und blieb mit nachdenklich geneigtem Kopf stehen, während Vic ihm weiter zuredete. Dann schüttelte er wieder den Kopf. Vic war darüber nicht erfreut. Die beiden Männer setzten sich in Richtung Auktionsgebäude in Bewegung; genauer gesagt ging Pauli los, und Vic, der erfolglos versuchte, ihn aufzuhalten, hatte nur die Wahl, ihn gehen zu lassen oder sich ihm anzuschließen. Er schloß sich an, wobei er unablässig weitersprach, all seine Überredungskünste aufbrachte und offen protestierte. Ich stand zwischen ihnen und dem Auktionsgebäude. Sie sahen mich erst, als sie nur noch vier Schritte von mir entfernt waren, und blieben dann stehen. Vic war so außer sich vor Wut, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, Pauli ausdruckslos wie ein Zementblock.
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Vic warf Pauli einen letzten wütenden Blick zu und marschierte davon. Pauli sagte: »Ich habe vor, morgen wieder nach Hause zu fliegen.« Nächste Woche fanden einige große amerikanische Auktionen statt. Ich sagte: »Sie waren ja immerhin einen ganzen Monat hier, nicht wahr?« »Fast fünf Wochen.« »Und hat sich die Reise für Sie gelohnt?« Er lächelte traurig. »Nicht besonders.« Wir gingen eine Tasse Kaffee trinken, aber er wirkte geistesabwesend. »Ich hätte zu gern ein Fohlen von Transporter gekauft«, sagte er. »Nächstes Jahr gibt es wieder eine neue Nachzucht.« »Jaaaa...« Er verlor kein Wort mehr darüber, daß ich lieber mit den Wölfen heulen und mitspielen solle, bevor mir etwas zustieß. Was er aber doch sagte, zweifellos in Hinblick auf seine gerade geführte Unterhaltung, war: »Bringen Sie diesen Vic Vincent nicht weiter in Rage, solange Sie es vermeiden können.« Ich lächelte. Er sah mein Lächeln und interpretierte es richtig. Er schüttelte den Kopf. »Er ist ein wütender Mann, und wütende Männer sind gefährlich.« »Da sind wir schon zu zweit«, sagte ich. Nüchtern durchforstete er sein Repertoire an inneren Weisheiten und brachte schließlich nur einen Gemeinplatz zustande: »Es ist einfacher, eine Sache in Gang zu setzen, als dann damit aufzuhören.«
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12 Wilton Young besuchte auch die nächste Veranstaltung, die Auktion von Doncaster, jedoch nicht als Käufer, sondern weil er einige seiner Pferde im Training zum Verkauf anbot. Um Verluste zu vermeiden, wie er sich ausdrückte. Um all diejenigen auszumustern, die während der eben zu Ende gegangenen Flachsaison mehr gefressen hatten, als sie einbrachten. Er klopfte mir jovial auf den Rücken und sagte mir klipp und klar, daß langsame Pferde genauso viel fraßen wie schnelle und daß er, Wilton Young, keine Pension für Versager betreibe. »Profit, mein Junge«, polterte er. »Darum dreht sich alles. Knete, Junge. Knete.« Ich erstand ein Exemplar aus seiner Ausschußware, einen dreijährigen Hengst mit kaum nennenswerter Form und dem Ruf, seine Besucher mit einem gezielten Tritt aus der Box zu befördern. Ich kaufte ihn sehr günstig für einen Farmer aus Sussex, der sich mehr nicht leisten konnte. Sein ehemaliger Eigentümer fragte verächtlich: »Wozu haben Sie den bloß genommen? Der taugt doch nichts. Wenn Sie schon solche Klepper kaufen, dann möchte ich nicht wissen, was Sie mir am Ende vorsetzen.« Ich berichtete von den bescheidenen Verhältnissen des Farmers. »Er wird ihn kastrieren und auf der Farm als Reitpferd benutzen. Ihm Springen beibringen. Bis zum Saisonbeginn der Sieglosen im April einen vierjährigen Hürdler aus ihm machen.« »Na ja.« Zweitrangige Hürdler waren für den neureichen Versandhauskönig, der sein Scheckbuch für Pferde mit DerbyAussichten stets bereitwillig zückte, nichts als Kinkerlitzchen. Ganz gleich, wie groß seine Wut auf Fynedale auch sein 180
mochte, offenbar glaubte er noch immer, daß er für ein gutes Pferd auch selbstverständlich hohe Summen zahlen mußte. Vielleicht brauchte er das. Vielleicht sonnte er sich in dem Ruhm, der auf ihn abstrahlte, wenn er bereit war, soviel Geld zu investieren. Vielleicht wollte er der Welt beweisen, wieviel Knete er gescheffelt hatte. Auffällige Verschwendung, darunter ging es bei ihm anscheinend nicht. Was bedeutete, daß ich ihm den größten Gefallen tun würde, wenn ich ihm ein offensichtlich gutes Pferd zu einem Preis kaufte, der nach meiner Einschätzung einen Deut über seinem tatsächlichen Wert lag. Bei einem Schnäppchen wie Singeling hatte er es geschafft, das Pferd innerhalb von einer Stunde abzustoßen, und trotz all seiner nachträglichen Gewissensbisse war ihm durchaus zuzutrauen, daß er dasselbe noch einmal tat. Dementsprechend suchte ich mir das Schmuckstück der Auktion heraus, einen Zweijährigen, der klassische Hoffnungen weckte, und fragte ihn, ob er an ihm interessiert sei. »Jawoll«, sagte er. »Wenn er der beste ist, dann will ich ihn haben.« »Er wird mindestens zwanzigtausend bringen«, sagte ich. »Wie weit soll ich gehen?« »Das ist Ihr Job. Entscheiden Sie.« Ich bekam ihn für sechsundzwanzig, und er war selig. Fynedale nicht. Seine Augen starrten von der anderen Seite des Auktionsrings zu mir herüber und sahen in seinem kalkweißen Gesicht wie pechschwarze Löcher aus. Das Karottenhaar darüber loderte wie ein brennender Busch. Seine innere Wut vibrierte so sichtlich, daß seine Aura, wäre sie denn zu erkennen gewesen, bestimmt grellrot ausgesehen hätte. Constantine hatte Kerry zur Auktion an diesem Freitag mitgebracht, obgleich der eigentliche Zweck ihrer Reise nach 181
Yorkshire darin lag, Nicol am Samstag beim Saisonauftakt der Sieglosen im Jagdrennen dabei zuzuschauen, wie er River God zum erstenmal ritt. Constantine erzählte jedem, der es hören wollte, sehr entschieden, daß der Unterhalt einer großen Schar von Rennpferden mittlerweile unerträglich kostspielig geworden sei und daß es ein günstiger Zeitpunkt sei, um Sparmaßnahmen einzuführen. Nur Dummköpfe, so ließ er durchblicken, seien immer noch bereit, zu den überzogenen Preisen der letzten Monate einzukaufen. Ich sah, wie ihnen Vic Vincent bei ihrer Ankunft entgegenging, um sie zu begrüßen. Freundliches Händeschütteln. Strahlendes Lächeln auf beiden Seiten. Viel schauspielerischer Aufwand, um zu zeigen: was immer auch gewisse Leute von ihren Agenten halten mochten, Constantine war mit seinem jedenfalls zufrieden. Nicol kam und lehnte sich neben mir an das Geländer des Warterings. »Ich hab’s ihm erzählt«, sagte er. »Ich hab ihm gesagt, daß ihn Vic um Tausende betrogen hat. Vic und Fynedale, die den Preis hochgetrieben und sich den Gewinn geteilt haben.« »Wie hat er reagiert?« Er sah mich nachdenklich an. »Gar nicht. Er hat kaum etwas gesagt. Ich hatte den Eindruck... ich weiß, daß es albern klingt... aber ich hatte den Eindruck, daß er es schon wußte.« »Er läßt sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen«, sagte ich. »Nein... aber wenn er es wußte, warum hat er dann nichts gegen ihn unternommen?« »Frag ihn selbst.« »Habe ich ja. Er hat mir keine klare Antwort gegeben. Ich meinte, dann sei es ja nur logisch, ihn jetzt rauszuschmeißen, und da sagte er, daß das überhaupt nicht logisch sei. Vic besäße einen besseren Riecher für Pferde als jeder andere Agent, und
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er hätte nicht die Absicht, künftig auf seinen Ratschlag zu verzichten.« Wir sahen zu, wie die Pferde im Wartering herumgeführt wurden. Keines von ihnen machte den Eindruck, als sei es einen Einsatz wert. Nicol sagte düster: »Sie halten mich für einen Verräter, weil ich dir überhaupt zuhöre. Für meinen Vater bist du absolut persona non grata.« Das war vorauszusehen. Wenn Constantine nicht bereit war zuzugeben, daß er übers Ohr gehauen worden war, würde er nicht gerade demjenigen um den Hals fallen, der öffentlich darauf hingewiesen hatte. »Will er wirklich seine Pferdeschar reduzieren?« »Keine Ahnung. Er nagt nicht gerade am Hungertuch, obwohl ihm neulich irgendein dickes Geschäft geplatzt ist, was ihn ganz schön mitgenommen hat.« Er warf mir einen kurzen verschmitzten Blick von der Seite zu. »Meine neue Stiefmama wird dafür sorgen, daß wir den Lebensstil beibehalten, den wir gewöhnt sind.« »Warum wirst du nicht Profi?« fragte ich mit sanftem Vorwurf. »Du bist gut genug.« Ich hatte offenbar einen wunden Punkt getroffen. Er sagte aufgebracht: »Willst du damit andeuten, daß ich mir meinen Lebensunterhalt selbst verdienen soll?« »Es geht mich eigentlich nichts an.« »Dann halt die Schnauze.« Er riß sich jäh vom Geländer fort und ließ mich stehen. Ich sah ihm nicht nach. Einen Augenblick später war er wieder da. »Du Mistkerl«, sagte er. »Ich versuch’s halt nur.« »Du hast verdammt noch mal Erfolg damit.« Er krümmte die Schultern unter seinem Schaffellmantel. »Professionelle Jockeys dürfen keine Pferde besitzen, die im Training stehen«, sagte er. 183
»Es hält dich nichts davon ab, sie unter dem Namen deines Vaters laufen zu lassen.« »Halt die Klappe«, sagte er. »Halt bloß die Klappe.« Was ich auch tat. Ich begegnete Vic per Zufall, als er aus dem Auktionsring trat und ich gerade hineinging. Er gab sich triumphierend. »Sie haben mit Ihrer Hetzkampagne überhaupt nichts erreicht«, sagte er. »Weil Sie bald einen anderen Strohmann finden werden, der Fynedale ersetzt?« Er preßte die Lippen zusammen. »Ich gebe gar nichts zu.« »Wie weise.« Er warf mir einen wütenden Blick zu und stiefelte davon. Diesmal hatte er kein Wort darüber verloren, daß ich mich gefälligst der Parteilinie unterwerfen solle, weil es sonst was setzen würde. Vielleicht gab es keine tragfähige Parteilinie mehr, der ich mich unterwerfen konnte, jetzt, da Fynedale kaltgestellt war. Vielleicht war die ›Mach-mit-oder-es-setztwas‹-Kampagne vorübergehend auf Eis gelegt. Nichts an seinem Verhalten konnte mich jedoch davon überzeugen, daß sie für immer vorbei war. Wilton Young als Kunden zu haben kurbelte mein Geschäft gewaltig an. An diesem einen Freitag erhielt ich mehr Anfragen und feste Aufträge als in jedem der vergangenen Monate, hauptsächlich von Trainern übereifriger MöchtegernBesitzer aus dem Norden, die es wie Wilton Young durch eigener Hände Arbeit zu einem Haufen Knete gebracht hatten. Wie ein Trainer, für den ich früher geritten war, es formulierte: »Die verstehen einen Scheißdreck von Pferden, aber es juckt sie in den Fingern, ihr Geld auszugeben. Sie wollen nur eins, sichergehen, daß sie das allerbeste kriegen. Daß sie nicht geneppt werden. Besorg mir zehn gute Zweijährige, abrechnen tun wir hinterher, so läuft das.« 184
Weder Vic noch Fynedale entgingen der ständige Zustrom neuer Kunden und mein immer voller werdendes Auftragsbuch: sie hätten auch blind sein müssen, es nicht zu bemerken. Die Wirkung, die das auf sie hatte, konnte man als das Gegenteil von Fröhlichkeit bezeichnen. Vics Gesicht wurde immer röter und Fynedales immer weißer, und mit der Zeit waren sie kaum noch imstande, eine normale, umgängliche Unterhaltung zu führen. Schließlich begann es mich zu beunruhigen. Es war ja schön und gut, vor ihren Augen einen schwunghaften Handel zu treiben, aber da Erfolg schon bei Freunden Neid hervorrief, konnte er bei Feinden Haßgefühle gigantischen Ausmaßes wecken. Eine Reihe meiner neuen Kunden war von Fynedale zu mir gewechselt und ein oder zwei von Vic, und wenn ich mir die totale Rache gewünscht hatte, dann hatte ich sie bekommen: Rache ist süß, aber man kann sich leicht den Magen daran verderben. Zwischen Vic und Fynedale lief es auch nicht besser. Aufgrund der Sicherheit, die ihm Constantines schützende Hand bot, hatte Vic seinen ehemaligen Leutnant einfach fallenlassen, und man hatte ihn verkünden hören, wenn er gewußt hätte, was für ein Spiel Fynedale treibe, dann hätte er selbstverständlich nichts damit zu tun haben wollen. Antonia Huntercombe und der Züchter des Transporter-Fohlens hätten diese Information sicherlich sehr interessant gefunden. Vermutlich weil sich Fynedales Haß auf zwei Feindbilder verteilte, versank er in einen Zustand erschöpfter Apathie. Er stand in der Gegend herum und blickte starr vor sich hin, als sei er in Trance, als habe ihn Vics Unverschämtheit wie ein Betäubungsschlag getroffen. Er hatte keinen Grund, so überrascht zu sein, dachte ich. Vic fiel es ausgesprochen leicht zu lügen. Von jeher. Und da er von jeher ein begabter Lügner gewesen war, glaubten die Menschen ihm auch.
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Am Samstagnachmittag gewann River God das Jagdrennen der Sieglosen um eine knappe Kopflänge, was ausschließlich Nicols Reitkünsten zu verdanken war. Ich sah der triumphalen Absattelparty im Anschluß daran zu und bemerkte, daß auch Vic daran teilnahm, der jede Menge Leutseligkeit in Nicols Richtung verströmte und sich gegenüber Constantine als überschwenglicher Mann von Welt gab. In seinem großen jungenhaften Gesicht zeigte sich wieder die übliche gute Laune, sein Auftreten war ungezwungen und selbstsicher wie eh und je. Kerry Sanders tätschelte seinen Arm, und Constantines dicke schwarze Brille wandte sich ihm ständig zu. Friede, Freude, Eierkuchen, dachte ich ungerührt. Vic landete immer wieder auf den Füßen. Aus alter Gewohnheit schaute ich mir das nächste Rennen von der Jockey-Tribüne an, und Nicol stieg die Stufen zu mir herauf. »Gut gemacht«, sagte ich. »Danke.« Die Starter kamen in die Bahn und liefen im flotten Paßgang unten vor der Tribüne auf und ab. Es waren acht oder neun Pferde, manche von ihnen hatte ich noch selbst geritten. Ich fühlte den üblichen Stich des Bedauerns, der Nostalgie. Solange noch keine vollkommen neue Generation von Pferden herangewachsen war, dachte ich, würde ich nie richtig darüber hinwegkommen. Solange meine alten Partner noch Rennen liefen, wollte ich aufsitzen und dabeisein. Nicol konnte meine Gedanken lesen. Er sagte erstaunt: »Du möchtest immer noch Rennen reiten!« Ich gab mir innerlich einen Ruck. Es hatte keinen Sinn, der Vergangenheit nachzutrauern. »Es ist vorbei«, sagte ich. »Keine Stürze und Knochenbrüche mehr. Keine Menge, die einen ausbuht. Keine blutrünstigen Trainer mehr, die dir sagen, daß du ein unsägliches Rennen geritten hast, und beim nächstenmal einen anderen Jockey engagieren.« 186
»So ist es.« Er warf mir sein schnelles Lächeln zu. »Ein Hundeleben.« Die Starter versammelten sich, das Band sprang weg, das Rennen nahm seinen Lauf. Es waren erfahrene Hürdler, geschickt und schnell, die elegant die niedrigen Hindernisse nahmen, ohne ihre Gangart zu verändern. Obwohl ich hauptsächlich mit der Nachzucht für Flachrennen zu tun hatte, sah ich immer noch am liebsten den Springern zu. »Wenn ich Vater den Vorschlag mache, daß ich Profi werden will, bekommt er einen Herzinfarkt.« »Besonders, wenn du mich in dem Zusammenhang erwähnst«, sagte ich. »Oje, bloß nicht.« Die Starter liefen auf der Gegengerade, und wir hoben unsere Ferngläser, um sie im Auge zu behalten. »Vic sieht heute richtig glücklich aus«, sagte ich. Nicol schnaubte. »Vater hat ihn beauftragt, nach Weihnachten in die Staaten zu fliegen und für Kerry ein Hengstfohlen namens Phoenix Fledgeling zu kaufen.« »Von ihrem Geld?« »Wieso?« »Er hat doch gestern noch verkündet, daß er sparen will. Und heute hat er hunderttausend Pfund lose rumliegen?« »Soviel?« Er sah mich überrascht an. »Wenn nicht noch mehr.« »Ob Vater das überhaupt weiß?« fragte Nicol zweifelnd. »Vic weiß es«, sagte ich. Nicol schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, was die beiden aushecken. Heute sind sie schon wieder ein Herz und eine Seele.« Die Pferde bogen in die Zielgerade ein. Positionen veränderten sich. Der Favorit löste sich heraus und gewann mühelos, mit einem beherrschten, gewandten und total professionellen Jockey. 187
Nicol wandte sich mir jäh zu. »Wenn ich so reiten könnte, würde ich eine Lizenz beantragen.« »Du kannst es.« Er starrte mich an. Schüttelte den Kopf. »Kannst du wohl«, wiederholte ich. Crispin war seit dem Brand nüchtern geblieben. Nüchtern und depressiv. »Mein Leben ist ein einziger Schlamassel«, sagte er. Wie immer während dieser Phasen saß er jeden Abend in meinem Büro, während ich den Papierkram erledigte und die unvermeidlichen Anrufe tätigte. »Ich besorg mir einen Job.« Wir wußten beide, daß er es nicht tun würde. Die Jobs, die er haben wollte, behielt er nie lange. Die er behalten konnte, verabscheute er. »Du könntest gleich hier anfangen«, sagte ich. »Wenn das so weitergeht, brauche ich jemanden, der mir mit dem Papierkram hilft. Ich werd nicht mehr damit fertig.« »Ich bin doch keine Scheißtippse«, sagte er beleidigt. »Du kannst nicht tippen.« »Wir wissen ja alle, daß ich zu absolut nichts tauge. Brauchst nicht auch noch drauf rumzuhacken.« »Du kannst aber die Buchhaltung machen. Mit Zahlen und Rechnungen kennst du dich aus.« Er dachte darüber nach. Er war vielleicht unzuverlässig, aber nicht unausgebildet. Wenn er nur wollte, konnte er die finanzielle Seite der Büroarbeit übernehmen und gute Arbeit leisten. »Mal sehen«, sagte er. Draußen im Hof gingen die Abrißarbeiten zu Ende. Pläne für die neuen Stallungen lagen auf meinem Schreibtisch; ein Architekt aus der Gegend hatte sie anhand meiner 188
hingekritzelten, vagen Vorstellungen in Windeseile entworfen. Wenn sich der Gemeinderat mit der Einwilligung nicht allzulang Zeit ließ, konnte ich im Sommer wieder meine Pforten öffnen. Das Dach des Wohnhauses sollte in der nächsten Woche neu gedeckt werden. Die Rundumerneuerung der Drahtversteifung sollte als nächstes folgen, und es gab diverse eingestürzte Decken, die neu verputzt werden mußten. Obwohl Tag und Nacht in jedem Zimmer Elektrospeicheröfen eingeschaltet waren, die meine Stromrechnung in astronomische Höhen jagten, war die Feuchtigkeit nicht aus den Räumen zu vertreiben, und der muffige Geruch hielt sich hartnäckig. Ein frischer Anstrich lag noch in weiter Ferne. Es würde fast ein Jahr dauern, dachte ich, bis all das wieder repariert war, was man mir kaputtgemacht hatte, um mich einzuschüchtern. Vic hatte den Schaden, den er angerichtet hatte, nicht mit eigenen Augen gesehen, darum konnte er ihn leicht verdrängen, aber ich mußte Abend für Abend nach Hause kommen und damit leben. Er konnte das Ganze vielleicht vergessen, aber er hatte dafür gesorgt, daß ich es bestimmt nicht tat. Sophie hatte zwei Wochen lang Nachtdienst gehabt und startenden Frachtmaschinen mitgeteilt, wo sie abheben sollten. »Was machst du morgen?« fragte sie mich am Telefon. »Tagsüber oder nachts?« »Am Tag.« »Mist.« Sie lachte. »Was hast du gegen tagsüber?« »Abgesehen von allem anderen... ich muß zur Auktion nach Ascot.« »Oh.« Pause. »Könnte ich nicht mitkommen?« »Wenn es dir nichts ausmacht, daß ich arbeite.«
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»Ich fände es toll. All die kleinen Gauner beobachten, wie sie ihr mieses Handwerk betreiben. Und Vic Vincent... bekomme ich den auch zu sehen?« »Ich nehme dich nicht mit«, sagte ich. »Ich werd ihn schon nicht beißen.« »Das kann ich nicht riskieren.« »Ich verspreche es.« Als ich sie um neun abholte, gähnte sie immer noch, nach fünf Stunden Schlaf und einem inneren Rhythmus, der sie erst zur Mittagszeit aufstehen ließ. Sie öffnete mir die Tür in Jeans und Pulli und hielt einen Toast mit Honig in der Hand. »Komm rein.« Sie gab mir einen leicht klebrigen, süß schmeckenden Kuß. »Kaffee?« Sie goß uns in ihrer winzigen Küche zwei Tassen ein. Helle Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster und täuschten über den eisigen Tag draußen hinweg, wo der Nordwestwind gerade sein Bestes tat, um arktische Zustände zu schaffen. »Du wirst warme Stiefel brauchen«, sagte ich. »Und sechzehn Lagen wollener Unterwäsche. Außerdem ein oder zwei Muffe für die Nase und eine Creme gegen Frostbeulen.« »Ich glaube, ich bleibe zu Hause und mach es mir mit einem schönen Fernsehfilm auf dem Sofa gemütlich.« Nachdem sie eingepackt war, sah sie aus, als sei sie für die Äußere, wenn nicht gar die Innere Mongolei gewappnet, und sie beschwerte sich, daß die Polsterung sie fett mache. »Hast du schon mal einen dünnen Eskimo gesehen?« Sie stopfte ihr silbernes Haar unter eine fellgefütterte Kapuze. »Mit einem Wort, wir haben alle unser Päckchen zu tragen.« Ich fuhr zum Auktionsring von Ascot. Obwohl ich sie vorgewarnt hatte, war Sophies Reaktion nicht viel anders als Kerrys. »Ascot«, sagte sie fassungslos. »Wenigstens regnet es heute nicht.« 190
Sie schauderte in ihren unvorteilhaften Schichten. »Gott sei Dank hast du auf der Iglu-Ausrüstung bestanden.« Ich nahm sie zu den Ställen mit, in denen sich mehrere Pferde befanden, die ich mir anschauen wollte, wobei der Bodenbelag an diesem Tag steinhart war und man nicht im Matsch einsackte. Sie steckte artig ihren Kopf in jede Box und warf einen Blick auf deren Bewohner, aber ihre Behauptung, von Pferden weniger zu verstehen als von der Quantenmechanik, bestätigte sich schnell. »Sehen sie zwei unterschiedliche Bilder, so wie bei ihnen die Augen an gegenüberliegenden Seiten des Kopfs sitzen?« »Ihr Gehirn sortiert das für sie aus«, sagte ich. »Sehr verwirrend.« »Die meisten Tiere haben die Augen an der Seite. Vögel. Und Fische.« »Und falsche Schlangen«, sagte sie. Ein paar von den Pferden hatten Pfleger bei sich. Ein paar nicht. Einige hatten Betreuer, die hin und wieder verschwanden, um sich am Büffet zu stärken. Überall herrschte das übliche Durcheinander von Ställen am Morgen: Eimer, Mistsäcke, Bürsten, Stallbandagen, Heunetze und Stallhalfter, die in der Regel kleine Haufen vor oder in jeder Box bildeten. Die Mehrzahl der ersten Katalognummern hatte schon die Nacht hier verbracht. Ich bat die Pfleger von drei oder vier Tieren, sie aus ihren Boxen zu führen, um mir eine Vorstellung davon zu machen, wie sie sich bewegten. Sie taten mir den Gefallen und ließen sie eine längere Strecke hin- und zurücktraben, während sie neben ihren Schützlingen herrannten, die sie an einem kurzen Seil führten. Ich sah sie mir von hinten an und direkt von vorn. »Worauf achtest du?« fragte Sophie. »Unter anderem, ob sie mit den Beinen schlenkern.« »Ist das gut?«
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Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Die schnellsten tun das in der Regel nicht.« Wir gingen zu dem kreisförmigen Auktionsring hinüber, wo der Wind mit Verve hindurchpfiff und die spärliche Menge mit den Füßen stampfte und die Hände unter die Achselhöhlen steckte. Ronnie North war da, blies Dampfwolken aus und wischte sich seine laufende Nase; und Vic war da, ganz der Dandy in einer weiß leuchtenden Jacke mit Gürtel und einem blauen Hemd darunter. Als er gerade mit einem Kunden ins Gespräch vertieft war, zeigte ich ihn Sophie. »Er sieht doch nett aus«, protestierte sie. »Natürlich. Hunderte von Leuten schwärmen für ihn.« Sie grinste. »Dieser Sarkasmus.« Ich kaufte zwei dreijährige Stuten für einen Kunden in Italien, und Vic sah mir brütend von direkt gegenüber zu. Da sagte Sophie: »Wenn er dich so anguckt, sieht er überhaupt nicht mehr nett aus.« Wir gingen zusammen in die Snackbar, um uns bei einer Tasse Kaffee aufzuwärmen. Etwas verspätet kam mir der beunruhigende Gedanke, daß es vielleicht nicht besonders klug gewesen war, sie nach Ascot mitzunehmen. Mir schien, als habe sich Vic ebenso für Sophie wie für die Pferde interessiert, die ich ersteigerte, und ich fragte mich, ob er nicht schon einen Plan ausheckte, wie er mir durch sie eins auswischen konnte. »Was ist los?« fragte Sophie. »Du bist plötzlich so still geworden.« »Möchtest du einen Doughnut?« »Ja bitte.« Wir kauten und tranken, und ich blätterte im Katalog und konzentrierte mich auf die bevorstehende Auktion, wobei ich mir als Gedächtnisstütze Notizen über die Pferde machte, die wir in den Boxen gesehen hatten. »Geht das den ganzen Tag so weiter?« fragte Sophie. 192
»Ein bißchen langweilig für dich, oder?« »Nein, gar nicht... Ist das deine Arbeit, tagein, tagaus?« »An Auktionstagen ja. An anderen Tagen tätige ich Privatverkäufe oder gehe auf die Rennbahn, oder ich kümmere mich um Dinge wie Transport und Versicherung. Seit letzter Woche hatte ich kaum noch Zeit zu husten.« Ich erzählte ihr von Wilton Young und dem daraus resultierenden geschäftlichen Boom. »Stehen denn viele Pferde zum Verkauf an?« fragte sie zweifelnd. »Man würde meinen, es gäbe gar nicht genug für so viele Leute, die alle damit zu tun haben, sie zu kaufen und zu verkaufen.« »Nun ja... Allein in Großbritannien gibt es im Augenblick ungefähr siebzehntausend Vollblut-Zuchtstuten. Eine Stute kann theoretisch pro Jahr einmal abfohlen, aber in manchen Jahren tragen sie nicht, und manche Fohlen sterben auch. Ich schätze, daß zu jeder Saison neuntausend Fohlen oder Jährlinge auf den Markt kommen. Dann werden ungefähr zwanzigtausend Pferde für das Flachrennen trainiert, und keiner weiß, wie viele Hürdler, aber jedenfalls mehr als für die Flachen. Pferde, die bis an ihr Lebensende demselben Stall angehören, sind die Ausnahme. Die meisten von ihnen wechseln mindestens zweimal den Besitzer.« »Und jedesmal bekommt der Agent seine Kommission?« Die Frage klang nicht eben wohlwollend. Ich lächelte. »Börsenmakler arbeiten auch auf Kommissionsbasis. Sind die respektabler?« »Ja.« »Warum?« »Ich weiß nicht. Hör auf mit deinen Haarspaltereien.« Ich sagte: »Frankreich, Italien und vor allem Amerika haben sich mit Haut und Haaren dem Vollbluthandel verschrieben. Es gibt ungefähr dreizehnhundert Gestüte auf den Britischen Inseln und Tausende von anderen auf der ganzen Welt.« 193
»Die alle am laufenden Band Pferde produzieren... und nur, damit die Leute wetten können.« Ich lächelte, weil sie mir immer noch Vorwürfe machte. »Jeder braucht irgendeinen Traum, an den er sich klammern kann.« Sie öffnete den Mund, machte ihn aber gleich wieder zu und schüttelte den Kopf. »Ich bin nie sicher, ob du nun besonders weise oder ein absoluter Idiot bist.« »Beides.« »Unmöglich.« »Puppenleicht, fürchte ich. Die meisten Leute sind so.« Wir gingen wieder zum Ring hinüber und sahen zu, wie Vic und Ronnie North den Preis für ein klappriges vierjähriges Hürdenpferd doppelt so hoch trieben, als dessen Wuchs und Form nahegelegt hätten. Vic würde zweifellos neben der Provision, die er von seinem Kunden bekam, eine ansehnliche Abdrücksumme von dem Verkäufer kassieren, und Ronnie North sah über die Maßen zufrieden darüber aus, bei diesem einen Pferd als Unterbieter fungiert zu haben, und schien sich überhaupt seines Lebens zu freuen. Fynedales Nachfolger, so schien es, war auserwählt worden. Mir fiel auf, daß Fynedale selbst rechtzeitig im Ring erschienen war, um Zeuge dieser neuen Entwicklung zu werden. Er schien sich immer noch in demselben Zustand zu befinden, mit seinem weißen Gesicht, halb in Trance und nach allen Seiten hin Haß ausstrahlend. Sophie sagte: »Er sieht aus wie ein Pulverfaß.« »Wenn wir Glück haben, explodiert es bei Vic.« »Du bist ganz schön herzlos... Er sieht krank aus.« »Dann geh ihn doch bemuttern, na los.« »Nein danke.« Wir sahen uns noch ein paar andere Pferde an, und ich kaufte ein weiteres; wir tranken wieder Kaffee, und der Wind blies noch kälter. Sophie wirkte trotzdem zufrieden. 194
»Ich muß mal für kleine Mädchen«, sagte sie. »Wo treffe ich dich?« Ich konsultierte meinen Katalog. »Ich schaue mir besser noch Nummer Siebenundachtzig und Nummer Zweiundneunzig an, in ihren Boxen.« »Okay, ich find dich schon.« Ich sah mir Nummer 87 an und entschied mich gegen einen Kauf. Schwach gebaut und zuviel Weiß um die Augen. Es war niemand bei ihm. Ich verließ seine Box, verriegelte beide Hälften der Tür und ging zur Nummer 92 hinüber. Dort öffnete ich die obere Hälfte der Tür und schaute hinein. Auch hier war kein Pfleger, nur die geduldige Katalognummer 92, die gleich wieder das Interesse an mir verlor. Ich machte die untere Hälfte der Boxtür auf, ging hinein und ließ sie von selbst hinter mir zuklappen. Nummer 92 war zwar mit dem Stallhalfter an einem Ring in der Wand fest vertäut, aber für offene Türen war es trotzdem zu kalt. Das Pferd war ein fünfjähriger Hürdler, dessen Eigentümer sich einen schnellen Erlös erhoffte, solange der Hengst den Eindruck machte, ein vielversprechender Sechsjähriger zu werden. Ich streichelte seine braune Flanke, ließ meine Hand an seinen Beinen entlanggleiten und schaute mir seine Zähne genau an. Als die Tür aufging und sich wieder schloß, schenkte ich dem, der hereingekommen war, keine größere Aufmerksamkeit. Es war vermutlich ein Pferdepfleger oder jemand, der wie ich die Ware aus nächster Nähe begutachten wollte. War es nicht. Keine Vorahnung ließ mich aufschauen, als ich das Maul des Hürdlers losließ, seine Nüstern streichelte und einen Schritt zurücktrat, um mir noch einmal einen letzten Gesamteindruck zu verschaffen.
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Ich sah nur, wie etwas in der Luft aufblitzte. Fühlte den heftigen Stoß auf meiner Brust. Und wußte noch im Fallen, daß das weiße Gesicht Fynedales auf mich zukam, um das begonnene Werk zu vollenden.
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13 Er hatte sich das mörderischste aller Stallwerkzeuge ausgesucht und es wie eine Lanze nach mir geschleudert. Eine Heugabel. Die geballte Wucht, die von seinem Arm ausging, brachte mich zu Fall. Ich landete im Stroh, hilflos auf der Seite; die zwei scharfen Zinken hatten sich in meine Brust eingegraben, und der lange Holzgriff stak vorn heraus. Er mußte feststellen, daß es ihm trotz seines lebensgefährlich akkuraten Wurfs und all des Hasses, der dahintersteckte, noch nicht gelungen war, mich zu töten. Ein kurzer Blick auf sein verzerrtes Gesicht überzeugte mich davon, daß er die Absicht hatte, dies zu ändern. Ich wußte, daß die Heugabel eingedrungen war, aber nicht, wie weit. Viel konnte ich nicht fühlen. Ich riß sie mit einem Ruck heraus, rollte mich auf den Bauch und begrub sie unter mir im Stroh. Er fiel über mich her, zerrte, klammerte und zog, versuchte, an die Heugabel heranzukommen, und ich machte mich einfach nur so schwer wie möglich und blieb darauf liegen, da mir nichts Besseres einfiel. Die Tür ging wieder auf, und Licht fiel von draußen herein. Dann schrie eine Stimme. Eine Frauenstimme. »Hilfe... Hilfe, schnell...« Unter Fynedales wütenden Anstrengungen erkannte ich vage, daß die Stimme Sophie gehörte. Das von ihr mobilisierte Rettungskommando mischte sich eher zurückhaltend ein. »Erlauben Sie mal...«, sagte eine wohlerzogene Stimme besorgt, und Fynedale scherte sich nicht darum. »Moment mal. Was ist denn hier los?« Diese Stimme klang schon energischer, und ihr Besitzer war es ebenfalls. Ein Händepaar begann, Fynedale von mir wegzuziehen, andere Hände gesellten sich bald dazu, und als 197
ich mit meiner Nase aus dem Stroh auftauchte, sah ich, wie drei Männer versuchten, Fynedale zu packen. Fynedale schüttelte sie ab wie ein paar Heubüschel. Er stolperte lärmend durch die Tür, meine Retter hefteten sich an seine Fersen, und als ich mich erst auf die Knie und dann auf die Füße rappelte, war Sophie mein einziges Publikum. »Danke«, sagte ich erleichtert. »Alles in Ordnung?« »Ja... Ich glaube schon.« Ich beugte mich hinunter und hob die Heugabel auf. »Was ist das?« »Die hat er nach mir geworfen«, sagte ich. Sie sah sich die stilettähnlichen Zinken an und schauderte. »Ein Glück, daß er dich verfehlt hat.« »Mhm.« Ich untersuchte die zwei kleinen Risse vorn an meinem Anorak. Dann machte ich langsam den Reißverschluß auf und ließ prüfend eine Hand darunter gleiten. »Oder hat er dich gar nicht verfehlt?« fragte Sophie, die plötzlich ängstlich klang. »Es war ein Volltreffer. Ich weiß nicht, warum ich nicht tot bin.« Es sollte scherzhaft klingen, und sie nahm die Bemerkung auch nicht ernst, aber es war die reine Wahrheit. Ich fühlte einen Schmerz und warmes klebriges Blut an der Stelle, wo meine Haut aufgeritzt war, aber die Zinken waren weder ins Herz noch in die Lunge vorgedrungen, obwohl die Wucht, mit der sie geschleudert worden waren, ausgereicht hätte, um ihr Ziel zu erreichen. Ich lächelte blöde. »Was ist los?« fragte Sophie. »Gedankt sei dem Herrn, daß ich ein vom Auskugeln bedrohtes Schultergelenk habe... Die Heugabel hat die Bandage getroffen.« 198
Fynedale hatte Pech: Zwei Polizeibeamte waren mit dem Streifenwagen in einer anderen Angelegenheit auf dem Auktionsgelände unterwegs, aber als sie drei Männer sahen, die hinter einem vierten herrannten, nahmen sie den Flüchtigen aus reiner Gewohnheit fest. Sophie und ich kamen dazu, als Fynedale schon mit einem Beamten im Polizeiwagen saß, während der andere den drei Verfolgern zuhörte, die aussagten, Jonah Dereham wäre reif fürs Krankenhaus, wenn sie ihn nicht gerettet hätten. Ich hatte keinen Grund, dem zu widersprechen. Sophie berichtete mit jener Gelassenheit, die nichts erschüttern konnte, von der Heugabel, und nachdem der Polizist einen kurzen Blick unter meinen Anorak geworfen hatte, trug er mir auf, einen Arzt aufzusuchen und anschließend beim Revier vorbeizukommen, um eine Aussage zu machen. Ich nahm an, daß es dieselbe muffige Polizeistation sein würde, die ich schon mit Kerry besucht hatte: Wahrscheinlich würden sie einen Mann, der sich innerhalb von sechs Wochen zweimal auf demselben kleinen Auktionsgelände überfallen ließ, mit einiger Skepsis beäugen. In der nächstgelegenen Arztpraxis wurde festgestellt, daß die Verletzung lediglich in einem langen Riß über einer Rippe bestand. Die Ärztin, eine junge Frau unter dreißig, tupfte ohne viel Federlesens das Blut ab und erzählte, wie sie vor zehn Tagen zu einem Farmarbeiter gerufen worden sei, der sich eine Heugabel mitten durch den Fuß gerammt hatte. Mit Stiefel und allem, fügte sie hinzu. Ich lachte. Sie sagte, daß sie es nicht komisch finde. Sie hatte hübsche Beine, aber keinen Sinn für Humor. Meine Heiterkeit legte sich ebenfalls, als sie mir den Zustand des Verschlusses von meiner Bandage zeigte, die sie mir abgenommen hatte, um die Wunde zu behandeln. Der Verschluß war verbogen. Der Abdruck der Zinken war deutlich zu sehen. 199
»Eine Zinke hat den Verschluß getroffen. Die andere schnitt ins Fleisch, ist aber an einer Rippe entlanggeschürft. Ich muß schon sagen, Sie hatten phänomenales Glück.« Ich sagte ernüchtert: »Das finde ich auch.« Sie klebte mir ein Pflaster auf den Schnitt, gab mir zwei Antibiotikaspritzen und lehnte mein Angebot eines Honorars ab. »Das übernimmt Ihre Krankenversicherung«, sagte sie streng, als wäre es unsittlich, eine Bezahlung anzubieten. Sie gab mir die Bandage zurück. »Warum lassen Sie Ihre Schulter nicht operieren?« »Hab keine Zeit dafür... außerdem bin ich allergisch gegen Krankenhäuser.« Sie warf einen flüchtigen Blick auf meine nackte Brust und meine Arme. »Ein paar haben Sie ja wohl schon von innen gesehen. Sie haben mehrere Knochenbrüche hinter sich.« »In der Tat«, stimmte ich zu. Sie erlaubte sich ein kleines Lächeln. »Jetzt erkenne ich Sie. Ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Als ich noch studierte, habe ich einmal auf Ihr Pferd im Grand National gesetzt. Ich habe sechs Pfund gewonnen, die ich in ein Buch über Blutkrankheiten investiert habe.« »Freut mich, daß ich Ihnen von Nutzen war«, sagte ich. »An Ihrer Stelle würde ich die Bandage etwa eine Woche lang nicht tragen«, sagte sie. »Sonst scheuert sie gegen die Wunde und verhindert den Heilungsprozeß.« »In Ordnung.« Ich dankte ihr für ihre fachkundige Hilfe, zog mich wieder an, holte Sophie aus dem Wartezimmer und begab mich mit ihr zum Polizeirevier. Wieder einmal wurde Sophie ein Stuhl angeboten. Ich hatte den Eindruck, daß ihre heroische Geduld bald erschöpft sein würde, besonders als sie fragte, ob es lange dauern würde.
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»Nimm mein Auto«, sagte ich schuldbewußt. »Geh ein bißchen einkaufen. Mach einen Spaziergang im Windsor Park.« Sie überlegte kurz und blühte auf. »In einer Stunde bin ich wieder da.« Die Polizei wollte meine Aussage zu Protokoll nehmen, aber ich bat sie, erst mit Fynedale sprechen zu dürfen. »Mit ihm sprechen wollen Sie? Na ja... ist eigentlich nicht verboten. Hat ja noch niemand Anzeige erstattet.« Sie schauten mich zweifelnd an. »Er ist aber in einem ziemlich handgreiflichen Zustand. Sind Sie sicher, daß Sie zu ihm wollen?« »Ganz sicher.« Sie zuckten die Achseln. »Dann hier entlang.« Fynedale befand sich in einem kleinen kahlen Verhörzimmer. Er saß nicht auf einem der beiden einfachen Holzstühle neben dem Tisch, sondern stand in der Mitte des größten freien Platzes, den der Raum bot. Er zitterte immer noch, angespannt wie ein Flitzbogen, und ein Muskel zuckte ständig unter seinem linken Auge. Das Zimmer, dessen Wände bis auf Hüfthöhe braun und darüber cremefarben gestrichen waren, hatte keine Fenster und war künstlich beleuchtet. Ein gleichgültiger junger Polizist saß auf einem Stuhl direkt neben der Tür. Ich bat ihn und die anderen, mich mit Fynedale unter vier Augen sprechen zu lassen. Fynedale sagte laut: »Ich hab verdammt noch mal nichts mit Ihnen zu besprechen.« Die Polizeibeamten hielten mich für töricht, aber schließlich zuckten sie abermals die Achseln und gingen. »Setzen Sie sich«, sagte ich, nahm auf einem der Stühle am Tisch Platz und zeigte gleichzeitig auf den anderen. »Nein.« »Gut, dann nicht.« Ich holte meine Zigaretten heraus und zündete mir eine an. Was immer man auch über Lungenkrebs 201
sagen mochte, dachte ich, es gab Zeiten, da war es das Risiko wert. Ich zog den Rauch ein und war dankbar für die beruhigende Wirkung. Fynedale fing an, mit abgehackten kleinen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich hab Ihnen ja gesagt, daß ich Sie umbringe«, sagte er. »Ein Glück für Sie, daß es Ihnen nicht gelungen ist.« Er blieb abrupt stehen. »Was haben Sie gesagt?« »Sonst hätten Sie zehn Jahre im Bau verbracht.« »Ist es verdammt noch mal wert.« Er setzte sein unruhiges Auf und Ab wieder fort. »Wie ich sehe, hat Vic einen neuen Partner«, sagte ich. Er griff sich einen Stuhl und warf ihn heftig gegen die Wand. Sofort ging die Tür auf, und der junge Polizist trat hastig ein. »Bitte warten Sie noch«, sagte ich. »Wir haben ja kaum angefangen.« Er blickte unentschlossen auf Fynedale, den am Boden liegenden Stuhl und auf mich, der ich ruhig rauchend dasaß, und beschloß, daß es letztendlich wahrscheinlich sicherer sei, wieder hinauszugehen. Die Tür schloß sich leise hinter ihm. »Ich denke mal, Vic hat Sie ganz schön ausgetrickst«, sagte ich. Er ging um mich herum. Die Härchen in meinem Nacken standen zu Berge. Ich füllte meine Lunge mit neuem Rauch und schaute mich nicht um. »Sie erst in den Schlamassel zu bringen und dann hängenzulassen.« »Sie waren derjenige, der mich in den Schlamassel gebracht hat.« Die Stimme war ein kehliges Knurren. Ich wußte, daß jedes Anzeichen von Nervosität an mir auf ihn abfärben und sich der Flitzbogen nur noch straffer spannen würde, trotzdem bedurfte es eines ziemlichen Aufwands an Konzentration, die einzelnen Muskeln meines Körpers zu entspannen, während er hinter mir stand, ohne daß ich ihn 202
sehen konnte. Ich versuchte, einen langsamen, bedächtigen und überzeugenden Tonfall anzuschlagen, aber mein Mund fühlte sich so trocken an wie ein Sonntag in Sah Lake City. »Vic hat die ganze Sache angefangen«, sagte ich. »Vic und Sie. Jetzt sind es Vic und Ronnie North. Sie und ich hingegen... Vic hat dafür gesorgt, daß wir beide als Verlierer aus der Sache hervorgehen...« Er tauchte plötzlich wieder in meinem Blickfeld auf. Das Karottenhaar wirkte unter der Glühbirne hellorange. In seinen Augen leuchtete ein irres Feuer, wenn das Licht auf sie fiel, und sie wurden zu geheimnisvollen Schatten, wenn er den Kopf senkte. Sophies Bemerkung über das Pulverfaß kam mir wieder in den Sinn; und sein unberechenbarer Zustand hatte sich nicht beruhigt, sondern eher verstärkt. »Zigarette?« schlug ich vor. »Stecken Sie sich die sonstwohin.« Es war besser, wenn ich ihn sehen konnte. Ich sagte: »Was haben Sie der Polizei erzählt?« »Nichts. Gar nichts, verdammt noch mal.« »Haben die Sie dazu gebracht, eine Aussage zu machen?« »Haben sie nicht, Scheiße noch mal.« »Gut«, sagte ich. »Das vereinfacht die Sache.« »Wovon reden Sie eigentlich?« Ich erkannte die Gewalttätigkeit und Erregung, die in jeder seiner Bewegungen lauerten. Es war, als funktionierten seine Muskeln und Nerven nur noch in Zuckungen, als erzeugte irgendeine innere Betriebsstörung permanent Kurzschlüsse. Ich sagte: »Was ärgert Sie am meisten?« »Am meisten?« brüllte er. »Am meisten? Die Tatsache, daß Sie seelenruhig hier reinspazieren, verdammt noch mal. Ich habe versucht, Sie zu töten. Zu töten.« Er hielt inne, als sei er nicht in der Lage, zu erklären, was er meinte, aber ich verstand ihn nur zu gut. Er hatte sich mit seinem unwiderstehlichen Drang, mir Schaden zuzufügen, an 203
den Rand des Wahnsinns gesteigert, und jetzt war ich hier, als lebender Beweis, daß alles umsonst gewesen war. Mir schien, was er jetzt am meisten brauchte, war ein Hinweis darauf, daß er nicht vollständig versagt hatte. Ich zog mein Jackett aus und erklärte ihm, wie die Bandage und der Verschluß mir das Leben gerettet hatten. Ich knöpfte mein Hemd auf, zeigte ihm das Pflaster und sagte ihm, was darunter war. »Es tut weh«, sagte ich wahrheitsgemäß. Er blieb stehen, beugte sich zu mir herunter und sah mir in die Augen. »Wirklich?« »Ja.« Er streckte seine Hand aus und berührte die Stelle. Ich zuckte zusammen. Er ging einen Schritt zurück und hob den Stuhl auf, den er umgeworfen hatte, stellte ihn auf der anderen Seite des Tisches hin und setzte sich mir gegenüber. Er langte nach der Zigarettenschachtel und dem Feuerzeug, die ich auf dem Tisch liegengelassen hatte, und zündete sich mit immer noch vor Anspannung zitternden Händen eine Zigarette an. Ich ließ mein Hemd aufgeknöpft. Er saß da und rauchte fahrig, während sein Blick alle paar Sekunden das Pflaster streifte. Es schien ihn zufriedenzustellen. Zu beruhigen. Schließlich zu besänftigen. Er rauchte die ganze Zigarette auf, ohne ein Wort zu sagen, aber die ruckartigen Bewegungen ebbten allmählich ab, und als er schließlich die Kippe auf den Boden warf und mit dem Fuß ausdrückte, war das Schlimmste überstanden. »Ich mache einen Handel mit Ihnen«, sagte ich. »Was für einen Handel?« »Ich werde aussagen, daß die Heugabel ein Unfall war.« »Sie wissen verdammt genau, daß es nicht so war.« »Ich weiß. Sie wissen es. Die Polizei weiß es auch. Aber es hat keine Zeugen gegeben... Wenn ich unter Eid aussage, daß es ein Unfall war, kann man Sie auch nicht wegen versuchten 204
Mordes anklagen, geschweige denn Ihnen den Prozeß machen und Sie verurteilen.« Er dachte darüber nach. Seine Gesichtsmuskeln zuckten unablässig, und die Haut spannte sich schauerlich über seinen Wangenknochen. »Sie wollen doch nicht im Ernst eingebuchtet werden, oder?« »Nein.« »Nehmen wir an, wir können Sie von allen Anklagen freikriegen... vorsätzliche Körperverletzung, Betrug, das ganze Drum und Dran.« »Schaffen Sie nicht.« »Auf jeden Fall kann ich Sie vor dem Gefängnis bewahren, soviel ist sicher.« Eine lange Pause. Dann sagte er: »Ein Handel. Das heißt, daß Sie eine Gegenleistung erwarten.« »Mhm.« »Also was?« Ich fuhr mit der Zunge über die Zähne und ließ mir mit meiner Antwort Zeit. »Ich möchte...«, sagte ich langsam, »ich möchte, daß Sie mir davon erzählen, wie Sie und Vic versucht haben, mich in Ihren Verein hineinzuziehen.« Er war überrascht. »Das ist alles?« »Für den Anfang genügt es.« »Aber das wissen Sie doch. Sie wissen selbst, was Vic zu Ihnen gesagt hat.« »Ich weiß aber nicht, was er zu Ihnen gesagt hat.« Er zuckte verständnislos die Achseln. »Er hat nur gesagt, wenn Sie nicht bei uns mitmachen wollen, würden wir Sie schon kleinkriegen.« »Hören Sie«, sagte ich. »Der Preis für Ihre Freiheit ist, daß Sie mir jedes Wort, jeden Gesprächsfetzen erzählen, an den Sie sich erinnern können. Besonders alles über diesen Verbündeten von Vic, der mir meine Stallungen hat anzünden lassen.« 205
»Das hab ich Ihnen doch schon gesagt... ich weiß es nicht.« »Wenn Sie hier raus wollen, dann müssen Sie sich schon ein bißchen anstrengen.« Er starrte mich über den Tisch hinweg an. Ich sah, wie die Tragweite meines Angebots allmählich einsickerte. Er ließ seinen Blick über die öden, beklemmenden Wände des kleinen Verhörraums schweifen und schauderte. Die letzten Überreste des erregten, mörderischen Zustands verpufften. Er sah kleiner und abgekühlter aus, und gar nicht mehr gefährlich. »Na schön«, sagte er. »Ich denke mal, ich bin Vic nichts mehr schuldig. Ich werd nicht ins Gefängnis wandern, bloß um seine gottverdammte Haut zu retten. Ich sag Ihnen alles, was ich weiß.« Er benötigte drei weitere Zigaretten und eine Menge Pausen, aber er tat sein Bestes. »Ich denke mal, es fing so vor sechs Wochen an. Ich meine, schon eine Weile vorher hat Vic ein paar Dinge über Sie fallenlassen, daß Sie die größte Gefahr am Horizont sind, daß Sie als Agent nicht übel wären, und grundehrlich, und daß er dachte, Sie ziehen ihm ein paar Geschäfte ab, die er sonst selbst einheimsen könnte.« »Platz genug für uns alle«, murmelte ich. »Vic war anderer Meinung. Jedenfalls, ungefähr vor sechs Wochen sagte er, es wäre an der Zeit, Ihnen ein für allemal einen Denkzettel zu verpassen.« Er überlegte eine Weile und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Es ist nämlich so, Vic und ich und ein paar von den anderen, wir zogen da eine ganz bestimmte Nummer ab...« »Die Abdrückerei«, sagte ich. »Jawoll. Von mir aus können so Klugscheißer wie Sie auf uns herabblicken und sich für was Besseres halten, aber illegal ist es nicht, und eine Menge Leute kommen ganz gut dabei weg.« »Einige Leute.« 206
»Na und, dann zahlt eben der Kunde die Differenz, ist das so schlimm? Außerdem, wie Vic immer sagt, je höher die Preise, desto höher die Provision für die Auktionatoren, und desto mehr gefällt denen das, darum sind die auch nicht besser, wenn sie die Gebote wie wahnsinnig in die Höhe treiben.« Sie hatten auch eine Verpflichtung gegenüber dem Verkäufer, dachte ich, aber dies war nicht der Zeitpunkt, ihm zu widersprechen. »Na ja, wir betrieben also diesen kleinen Verein und verdienten immer mehr dabei, bis dann eines Tages – ich glaube, das war kurz vor der ersten Jährlingsauktion in Newmarket –« Er unterbrach sich und blickte im Geiste zurück. Seine Stimme erstarb. »Was passierte?« trieb ich ihn an. »Vic war irgendwie... ich weiß nicht... aufgeregt und verängstigt... beides zugleich.« »Vic war verängstigt?« fragte ich skeptisch. »Jawoll, war er. Irgendwie. Aber auch irgendwie aufgeregt. Als hätte ihn irgend jemand zu was angestachelt, wozu er zwar große Lust hatte, aber wovon er auch wußte, daß es eigentlich nicht richtig war.« »Wie Äpfel klauen?« Er wischte den kindischen Vergleich mit einer Handbewegung beiseite. »Da ging’s nicht um Äpfel. Vic meinte, wir würden soviel Geld verdienen, dagegen wäre alles, was wir vorher gemacht hatten, nur Kleinkram gewesen. Er sagte, wir könnten einen Deal mit einem Züchter machen, der ein Hengstfohlen von Transporter besaß, das wäre ein echter Knüller...« »War das Vics Idee?« fragte ich. »Dachte ich zuerst... ich weiß nicht... Jedenfalls, es lief wie am Schnürchen. Er hat mir fünftausend Piepen nur fürs Bieten gegeben, und er selbst hat zwanzigtausend an dem Ding verdient.« 207
»Nach meiner Rechnung waren es dreißig.« »O nein...« Er hielt überrascht inne und fuhr dann etwas langsamer fort. »Nein... Ich erinnere mich noch, wie er sagte, daß zehntausend Pfund an den Kerl gegangen sind, der die Vereinbarung aufgesetzt hat, die der Züchter dann auf Zureden von Vic unterschrieben hat. Ich weiß noch, wie ich sagte, daß das ein ganz schöner Batzen wäre, aber Vic meinte, für den Rat eines Experten muß man nun mal bezahlen.« »Zahlt er öfter mal für die Ratschläge von Experten?« Er nickte. »Andauernd.« »Leichten Herzens?« »Was? Natürlich.« »Er wird nicht zufällig erpreßt?« Er schaute mich verächtlich an. »Kann ich mir nicht vorstellen. Kein lausiger kleiner Erpresser kann es mit Vic aufnehmen.« »Nein... aber es läuft doch darauf hinaus, daß Vic riesige Abdrücksummen von Züchtern und anderen Verkäufern kassiert und daß er aus diesem Topf für jemand anderen abdrückt, als Gegenleistung für dessen Expertenratschlag.« Er runzelte die Stirn. »Da könnte was dran sein.« »Aber Sie wissen nicht, wer das ist?« »Nein.« »Was würden Sie sagen, wie lange er diese Ratschläge schon bekommt?« »Woher soll ich das wissen, verdammt noch mal? Ein Jahr. Zwei. So ungefähr.« »Was war also in den letzten sechs Wochen anders?« »Sie. Plötzlich sagt Vic, daß es an der Zeit ist, Sie loszuwerden. Entweder das oder Sie so weit in die Knie zu zwingen, daß Sie genau wie wir Ihren Anteil kassieren. Wir haben alle geglaubt, daß Sie nach einem bißchen Druck mitmachen würden. Verstehen Sie, es wäre ja auch Quatsch, wenn Sie sich wehrten. Sie würden ja nur sich selbst dabei 208
schaden. Jiminy Bell, der behauptet jetzt, er hätte schon damals gesagt, daß Sie nie einwilligen werden, aber es ist verdammt noch mal genau andersrum. Der kleine Arschkriecher hat nämlich damals gemeint, daß Sie eigentlich leicht weichzuklopfen sind. Sie hätten eine sentimentale Ader, hat er immer gesagt. Wären immer für ‘ne kleine Rührgeschichte zu haben. Und jetzt erzählt er, daß Sie eine harte Nuß sind, der miese kleine Spinner.« »Sieht Vic diesen Freund jeden Tag?« »Keine Ahnung.« »Dann... denken Sie mal nach.« Er dachte nach. »Ich glaube schon, daß er ihn an den meisten Tagen sieht oder zumindest mit ihm telefoniert. Wissen Sie, Vic erledigt seine Sachen nämlich immer ziemlich schnell, wie zum Beispiel, als er Ihnen in Ascot das Pferd geklaut hat...« »Wie hat er das gemacht?« Er blinzelte. Rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Ich schob ihm die Zigaretten über den Tisch und versuchte so auszusehen, als hätte die ganze Angelegenheit nichts mit mir zu tun. »Ähm...«, sagte er. »Vic sagte, daß Sie ein Pferd für Mrs. Sanders kaufen wollten und daß er das nicht hinnehmen würde, sie wollte schließlich Constantine Brevett heiraten, und der fällt unter Vics Zuständigkeit.« »Wann hat er das gesagt?« »Auf der Auktion, an dem Tag, als Sie Hearse Puller gekauft haben.« »Hatte er zu dem Zeitpunkt schon etwas mit Fred Smith vereinbart?« Er zögerte. »Er wußte, daß Fred Smith Ihnen das Pferd wegnehmen würde, egal, welches Sie kaufen würden. Ja.« »Hat Vic die Sache mit Fred Smith persönlich ausgemacht?«
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»Also, das weiß ich nicht genau. Vic meinte nein, aber ich weiß nicht, Vic würde auch sagen, daß seine Großmutter ein Mannequin ist, wenn’s ihm gerade in den Kram paßt.« »Ronnie North«, sagte ich langsam. »Kannte er Fred Smith?« Fynedales Gesicht verzerrte sich zu einem sardonischen Grinsen. »Waren doch alte Kumpel, oder?« »Waren sie das?« »Na... Ronnie stammt doch aus der Gegend von Stepney, genau wie Fred Smith. Ronnie hat schon in den alten Zeiten im Pferdegeschäft mitgemischt, als Pferde noch in allen großen Städten auf dem Marktplatz verkauft wurden. Fing als kleiner Junge an, half seinem Vater. Alles eine Bande von Zigeunern, wenn Sie mich fragen. Ronnie kennt jeden Trick in dem Gewerbe, sage ich Ihnen. Aber schlau, wissen Sie? Der hat Grips, der Ronnie.« »Ronnie hat mir das nächste Pferd besorgt, das ich für Kerry Sanders gekauft habe.« »Jawoll. Er und Vic, die haben sich auch darüber krankgelacht. Dann sagte Ronnie hinterher, daß man Ihnen eine verdammte Lektion erteilen müßte, weil Sie Fred Smith den Arm gebrochen haben.« »Kennen Sie Fred Smith persönlich?« »Hab ihn mal gesehen. In Ascot, mit Ronnie. Ronnie hat von weitem auf Sie gezeigt, damit er Sie erkennt. Haben wir alle gemacht, verstehen Sie?« »Verstehe.« »Dann, na ja, mit River God, das war doch ein Kinderspiel, oder? Ronnie hat herausbekommen, welche Transportfirma Sie engagiert haben, und hat die dann dazu gebracht, ihm Ihre Instruktionen zu verraten, und da hat er einfach Fred Smith losgeschickt, damit er Sie sich auf dem Rastplatz vorknöpfen kann.« »Ronnie hat ihn geschickt?«
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»Ronnie... oder Vic.« Er zuckte die Achseln. »Einer von beiden war’s.« »Nicht Vics unbekannter Freund?« »Könnte auch sein.« Ihm war es anscheinend egal. »Wir wollten River God ja nicht klauen, wissen Sie? Fred Smith hatte das Geld für ihn dabei. Er wollte Sie zwingen, es anzunehmen, so wie in Ascot.« »Und River God sollte wieder an Ronnie North zurückgehen?« »Jawoll.« »Warum hat er sich dann überhaupt erst darauf eingelassen, ihn mir zu verkaufen?« Er sagte mit übertriebener Geduld, wie zu einem zurückgebliebenen Kind: »Also zuerst hatte er gar nicht die Absicht, nicht gleich am Anfang. Dann ruft er Vic an und erzählt ihm, daß Sie auf der Suche nach einem anderen Pferd sind, als Ersatz für Hearse Puller. Dann ruft Vic zurück und sagt, er soll Ihnen River God verkaufen, das wäre eine gute Gelegenheit, Sie noch ein bißchen mehr zu verprügeln.« »Haben Sie denn bei diesen Anrufen zugehört?« »Hä?« Er schüttelte den Kopf. »Ich wohn ja nicht in Vics Tasche, oder? Nein, Vic hat’s mir erzählt.« Ich überlegte einen Moment. »Na schön«, sagte ich. »Wer von euch hatte die Idee, meinen Hof abzufackeln?« Er verlagerte plötzlich sein Gewicht auf dem Stuhl, so daß er nicht mehr mich ansah, sondern zu den nackten Wänden sprach. »Wissen Sie... Vic sagte... ein richtiger Hammer, und Sie klappen zusammen. Wissen Sie... er hat gesehen, wie Sie mit diesem Züchter von Transporter geredet haben... und mit dem Trainer, dem er den Besitzer abgeluchst hat... in der Bar, wissen Sie noch?« »Ja.«
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»Jawoll. Also dann sagt Vic, diesmal wird nichts vermasselt, man müßte Sie richtig kaltstellen, weil sein Expertenfreund sich einen Coup ausgedacht hat, wonach die Sache mit dem Transporterfohlen wie ein Kaffeekränzchen aussieht, nur daß er Vic nicht sagen wollte, was für einen, solange Sie bei den Auktionen dabei sind. Vic sagte, dieser Experte hätte Angst, daß Sie öffentlich einen Skandal machen, was dazu führen würde, daß die Leute in Zukunft viel vorsichtiger würden, wenn sie Pferde kauften, und daß dies das letzte wäre, was man wollte. Darum sagte Vic, daß Sie entweder hätten mitmachen sollen oder man Sie loswerden müßte, und da Sie unmißverständlich klargemacht hätten, daß Sie nicht mitmachen wollten, wäre es Ihre verdammte eigene Schuld, wenn man Ihnen den Hof anzündet.« Ich brummte: »Und was passierte danach?« »Na ja, da kreuzen Sie verdammt noch mal auf der Auktion auf, als wär nichts gewesen. Die ganze Sache war ein Reinfall, Fred Smith saß im Knast, und Vic war wahnsinnig sauer, weil mit dem neuen Coup nun erst mal nichts war. Er meinte, dann müsse er halt mit der Abdrückerei weitermachen, und immerhin hätten wir ja die letzten beiden Jahre ganz gut abgesahnt, darum sähe es nicht so schlecht aus.« Er drehte sich brüsk zu mir um, in seinem Gesicht flackerte der Haß wieder auf. »Und dann mußten Sie die ganze Sache vermasseln, indem Sie bei Wilton Young petzen gingen.« »Immer mit der Ruhe«, sagte ich kühl, »Haben Sie im Ernst erwartet, daß ich mir schön brav jede Schweinerei bieten lasse, die ihr euch für mich ausdenkt?« Er sah unentschlossen aus. »Weiß nicht.« Jetzt weißt du’s, dachte ich. »Haben Vic und sein Expertenfreund immer noch die Absicht, diesen großen neuen Coup irgendwann durchzuziehen?« 212
»Jawoll. Haben sie. Heute... heute?« Er schien plötzlich erstaunt zu sein, daß er erst heute früh zur Auktion von Ascot gegangen war. »Heute... ich hätte Vic umbringen können... ich hab ihm gesagt, daß ich ihn umbringen könnte... und Sie auch... und er sagte... es wär doch eine gute Idee, wenn ich einfach nur Sie umbringe, dann könnte er in Ruhe sein Ding drehen... und er hat auch noch dabei gelacht... aber jetzt schätze ich mal, daß er mich nur anstacheln wollte.« »Das könnte man so sehen«, sagte ich. »Jawoll. Dann wäre er Sie und mich auf einen Schlag losgewesen. Dann hätte er die ganze verdammte Arena für sich allein gehabt.« Er stützte die Ellbogen auf den Tisch, nahm mein Feuerzeug und spielte damit herum. »Hier«, sagte er. »Ich werd Ihnen was erzählen. Sie können Vic genauso verschaukeln wie mich.« »Meinen Sie... wegen Betrugs?« »Jawoll... Dagegen ist Pferde auf Schiffen anstatt per Flugzeug zu verfrachten ein Dummejungenstreich.« »Dann erzählen Sie’s mir.« Er schaute auf. »Sie haben das ehrlich gemeint, oder, daß Sie mich hier rausholen wollen?« »Das habe ich.« Er seufzte. »Denke mal, ich kann Ihnen trauen. Und das ist schon mal saukomisch, wenn man’s bedenkt.« Er warf das Feuerzeug hin und lehnte sich zurück. »Also dann«, sagte er. »Vic hat die High-PowerVersicherungsgesellschaft um hundertfünfzehntausend Dinger geneppt.«
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14 »Sind Sie sicher?« fragte ich. »Ganz sicher.« »Können Sie es beweisen?« »Ich denke mal, Sie könnten es, wenn Sie wollten.« »Wie hat er es angestellt?« »Wissen Sie... das war vor ungefähr drei Jahren... da hat er einen vierjährigen Zuchthengst nach Japan transportieren lassen. Polyprint, so hieß er.« Ich sagte: »Ich kann mich an ihn erinnern. Er ist unterwegs gestorben.« »Jawoll. Ist er. Und Vic hatte ihn für hundertfünfzehntausend Pfund für die Überfahrt versichern lassen und sich selbst als denjenigen eingesetzt, der kassiert, wenn dem Pferd irgendwas zustößt.« »Das ist eigentlich die übliche Verfahrensweise.« »Genau. Und er hat ihn eine Woche vor der Abfahrt versichert. Darum hat die Versicherung auch das Geld ausgespuckt. Eine Woche bevor das Pferd verfrachtet wurde, konnte Vic ja noch nicht wissen, daß es sterben würde, weil ein Tierarzt es von der Nase bis zum Hintern durchgecheckt und sein Okay gegeben hatte, und zwar der hauseigene Tierarzt der High-Power-Versicherungsgesellschaft, was sie besonders geärgert hat.« »Ich weiß gar nicht mehr, woran er gestorben ist...« »An Tetanus«, sagte er. »Er sollte drei Tage per Luftfracht nach Japan reisen. Als sie ihn in Gatwick einluden, sah er noch kerngesund aus... Er ist ruhig wie nur was über die Rampe ins Flugzeug getrabt. Als sie dann über dem Nahen Osten waren, bekam er chronische Schweißausbrüche. Beim nächsten Zwischenstopp ließen sie ihn raus und führten ihn herum, aber da strauchelte er schon ein bißchen... Beim nächsten Halt wartete ein Tierarzt aus der Gegend auf ihn. Der hat dann 214
Tetanus festgestellt. Darum haben sie ein Telegramm an die Versicherungsgesellschaft geschickt, und die wollten ihren eigenen Mann vor Ort untersuchen lassen, was los war. Schließlich ging es um einen Haufen Kohle. Jedenfalls ist der Mann gar nicht erst losgeflogen, weil das Pferd schon starb, während er noch in England war und sich gegen Cholera oder sonstwas impfen ließ. Vic fordert also sein Geld, und die HighPower muß blechen.« »Hatte Vic das Pferd persönlich begleitet?« »Nein. Er ist schön brav in England geblieben.« »Wenn das so ist... wo war dann der Betrug?« »Na, ganz einfach: Das Pferd, das nach Japan gereist und unterwegs an Tetanus gestorben ist, das war gar nicht Polyprint.« Er zündete sich eine Zigarette an, ganz in seine Geschichte vertieft. »Es war ein Pferd, das Nestegg hieß.« Ich starrte ihn an. »Nestegg ist als Deckhengst in Irland eingestellt.« »Jawoll«, sagte er. »Und das ist Polyprint.« Ein gespenstisches Lächeln verzerrte sein hageres Gesicht. »Das war so: Vic hat Nestegg gekauft, weil er einen Interessenten für ihn hatte. Nestegg war sechs und hatte ein paar Langstreckenrennen gewonnen, und dieser Kunde besaß ein kleines Gestüt und wollte einen Zuchthengst haben, der nicht allzuviel Geld kostete. Also, Vic hat Nestegg für zehntausend gekauft und wollte ihn für fünfzehn an den Kunden weitergeben, und da fiel der Kunde eines Nachmittags einfach tot um, und seine Witwe sagte, aus dem Geschäft würde nichts, sie wolle nichts damit zu tun haben. Vic machte sich aber keine allzu großen Sorgen, weil Nestegg eigentlich kein schlechtes Pferd war.« Er nahm ein paar tiefe Züge und sortierte seine Gedanken. 215
»Eines Abends war ich bei Vic zu Hause, er wohnt in der Nähe von Epsom, und wir machten im Hof die Runde, wie man das so tut. Er zeigt mir Polyprint, der am nächsten Tag nach Japan verfrachtet werden soll. Großes braunes Pferd. Voller Energie. Dann, drei Boxen weiter, steht Nestegg. Auch ein Brauner, sehr ähnlich. Wir gingen zu ihm rein; er wand sich und schwitzte. Vic hat ihn sich noch einmal gründlich angeschaut und gemeint, er würde später noch mal nach ihm sehen, und wenn es ihm nicht besserging, würde er am nächsten Morgen den Tierarzt kommen lassen. Dann sind wir auf einen Drink zu Vic reingegangen, und danach bin ich nach Hause gefahren.« Er sah mich grübelnd an. »Am nächsten Tag also geht dieses Pferd nach Japan ab und stirbt zwei Tage später an Tetanus. Als ich Vic das nächstemal treffe, zwinkert er mir zu und gibt mir tausend Piepen in abgezählten Scheinchen, und ich hab gelacht und das Geld eingesteckt. Später dann hat er den Braunen verkauft, den er immer noch hatte und der eigentlich Nestegg sein sollte, aber in Wirklichkeit Polyprint war; ein Gestüt in Irland hat ihm siebzehntausend für ihn gezahlt. Wenn er Polyprint nach Japan geschickt und versucht hätte, Nestegg mit Hilfe eines Tierarztes zu retten, hätte er keinen Penny verdient. Nur weil er die beiden Pferde vertauscht hat, als sich die Gelegenheit bot, hat er mächtig absahnen können.« »Und dabei ist er auf den Geschmack gekommen, auf die leichte Tour riesige Summen an Land zu ziehen?« »Jawoll... Danach fing er dann an, sich im großen Stil in die Abdrückerei einzuklinken. Er hat mich gefragt, ob ich ihm dabei helfen wollte... Ehrlich gesagt, ich war überhaupt nicht abgeneigt.« »Und er hat diesen Experten gefunden«, sagte ich. »Jawoll...« Er zögerte. »Vielleicht war es auch umgekehrt. Vic hat mehr oder weniger gesagt, daß dieser Typ auf ihn 216
zugekommen ist und ihm ein paar Vorschläge gemacht hat, wie er noch mehr Geld verdienen kann.« »Allein ist er doch auch nicht so schlecht gefahren«, bemerkte ich. »Na ja... Polyprint, das war eine einmalige Sache, wissen Sie. So was kann man kein zweites Mal durchziehen. Er hat das Ganze auch nur gemacht, weil er wußte, daß Nestegg Tetanus hatte und ziemlich schnell eingehen würde, wenn er nicht behandelt würde, und vielleicht ja auch so. Tetanus kommt nicht besonders häufig vor, verstehen Sie. Man kann schlecht zweimal hintereinander ein Pferd auf Reisen an derselben Krankheit sterben lassen, wenn es hoch versichert ist, selbst wenn man es absichtlich infizieren würde, was aber gar nicht geht. Vic hat das Pferd die ganze Nacht herumgeführt und ihm einen Eimer voll Tranquilizern zu fressen gegeben, damit es einigermaßen gut aussieht, wenn es in Gatwick an Bord geht. Aber um noch eins unterwegs sterben zu lassen, da hätte man eine Art Unfall konstruieren müssen. Die Versicherungsfritzen wären wahnsinnig mißtrauisch geworden, und selbst wenn sie gezahlt hätten, würden sie sich danach vielleicht weigern, ihn noch weiter zu versichern, und das durfte man nicht riskieren. Aber das Besondere an diesem Expertentypen ist ja, daß fast alles, was er vorschlägt, legal ist. Vic sagte, das wäre wie Grundstückserschließung und Landspekulation. Man könnte einen Haufen Geld dabei verdienen, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen, wenn man es nur richtig anstellte.« Die Polizisten reagierten verständlicherweise ziemlich gereizt, als ich behauptete, versehentlich in die Heugabel gestürzt zu sein und daß Fynedale, was seine Attacke gegen mich betraf, unschuldig wie ein neugeborenes Baby sei. Sie versuchten hartnäckig, mich von der Notwendigkeit einer Anzeige zu überzeugen, aber ich beharrte auf meiner Aussage, und eine 217
halbe Stunde später stand Fynedale draußen auf dem Bürgersteig und schlotterte im Wind. »Danke«, sagte er knapp. Er wirkte zusammengeschrumpft und deprimiert. Er zog fröstelnd die Schultern ein, drehte sich auf dem Absatz um und machte sich auf den Weg in Richtung Bahnhof. Das Karottenhaar hob sich als orangefarbener Klecks gegen das dunkle Kupfer einer Buchenhecke ab. Sophie wartete auf dem Fahrersitz meines Wagens. Ich öffnete die Beifahrertür und setzte mich neben sie. »Fährst du?« fragte ich. »Wenn du möchtest.« Ich nickte. »Du siehst völlig fertig aus«, sagte sie. Sie ließ den Motor an, legte den Gang ein und fädelte sich in den Verkehr ein. »Im Moment könnte ich es nicht mit Cassius Clay aufnehmen.« Sie lächelte. »Wie ist es gelaufen?« »Er hat wie ein Wasserfall geredet, nachdem er erst mal losgelegt hat.« »Was hast du erfahren?« Ich dachte nach und versuchte, die Ereignisse richtig einzuordnen. Sophie fuhr vorsichtig, warf mir kurze Blicke zu, wartete auf eine Antwort. Ich sagte: »Vic hat eine Versicherungsgesellschaft ausgesprochen geschickt betrogen, vor ungefähr drei Jahren. Irgendwann darauf hat jemand, den Fynedale einen Experten nennt, Vic aufgesucht und ihm eine Art Bündnis vorgeschlagen, in dem Vic auf diverse, mehr oder weniger legale Weisen, Geld erpressen und dem Experten davon einen Anteil zahlen sollte. Ich denke mal, dieser Experte ahnte, daß Vic die Versicherung betrogen hatte, und fand ihn darum als Kandidaten für eine lebenslange Karriere in legalem Raub bestens geeignet.« 218
»So was wie legalen Raub gibt es gar nicht.« Ich lächelte. »Was ist mit der Vermögenssteuer?« »Das ist was anderes.« »Etwas per Gesetz einzuziehen ist legaler Raub.« »Schon gut... Erzähl weiter von Vic.« »Vic und der Experte fingen also damit an, das Vermögen anderer ziemlich drastisch umzuverteilen, vorzugsweise in ihre eigenen Taschen, ließen aber noch genug übrig, um sechs oder sieben Agenten in ihren kleinen Kreis zu locken.« »Fynedale?« sagte Sophie. »Ja. Speziell Fynedale, weil er von dem ursprünglichen Versicherungsbetrug wußte. Irgendwie hatte ich das Pech, daß ich in dem Moment als Agent anfing, als Vic und sein Experte gerade in Fahrt kamen. Pauli Teksa hatte die Theorie, daß Vic und seine Freunde mich aus dem Weg haben wollten, weil ich eine Bedrohung für ihr Monopol darstellte, und nach dem, was Fynedale sagt, glaube ich, daß er vielleicht recht hatte, obwohl ich es damals für Unsinn hielt.« Ich gähnte. Sophie fuhr sicher, am Steuer genauso kontrolliert wie in allen anderen Lebenslagen. Sie hatte die gefütterte Kapuze abgenommen, und das silberblonde Haar fiel weich über ihre Schultern. Ihr Profil strahlte Ruhe, Tüchtigkeit, Zufriedenheit aus. Ich dachte, daß ich sie wahrscheinlich liebte und daß ich sie noch lange lieben würde. Ich vermutete auch, daß, ganz gleich, wie oft ich sie noch bat, meine Frau zu werden, sie am Ende immer ablehnen würde. Je länger und besser ich sie kannte, desto mehr wurde mir klar, daß sie von Natur aus eine echte Einzelgängerin war. Sie würde sich Liebhaber nehmen, aber ein lebhaftes Familienleben war ihr fremd und würde sie zermürben. Ich verstand auch, warum ihre vier Jahre mit dem Piloten ein Erfolg gewesen waren: wegen seiner langen Abwesenheiten, nicht trotz dieser. Ich verstand auch, warum ihre Erinnerung nicht von unüberwindbarer Trauer überschattet wurde. Sein Tod hatte sie lediglich so 219
zurückgelassen, wie sie im Grunde am liebsten war, nämlich allein. »Erzähl weiter von Vic«, sagte sie. »Ach so... also... Dann haben sie mit ihrer Einschüchterungskampagne begonnen. Zuerst kam der erzwungene Verkauf von Hearse Puller in Ascot. Dann wurde Fred Smith zu mir nach Hause geschickt, um soviel Schaden wie möglich anzurichten, der, wie sich herausstellte, darin bestand, Crispin Whisky zu geben und den Zweijährigen freizulassen, der dann zum Schreck der Landstraße wurde. Ferner wurde arrangiert, daß ich River God kaufen und wieder verlieren sollte. Als das alles sowie ein paar Drohungen von Vic persönlich nichts bewirkten, rechneten sie sich aus, daß es klappen würde, wenn sie meine Stallungen in Brand setzten.« »Da haben sie sich geirrt.« »Ja... na ja... jedenfalls haben sie es getan.« Ich gähnte wieder. »Was Fred Smith angeht: Vic und sein Experte wollten eine härtere Gangart einlegen. Ronnie North kannte Fred Smith. Vic hat wahrscheinlich Ronnie gefragt, ob er einen geeigneten Mann für die Aufgabe wüßte, und Ronnie hat Fred Smith vorgeschlagen.« »Volltreffer.« »Mhm... Weißt du, was merkwürdig ist?« »Was denn?« »Die Versicherungsgesellschaft, die Vic betrogen hat, ist dieselbe, für die Crispin früher gearbeitet hat.« Sophie brühte uns Tee in ihrer Wohnung. Wir saßen nebeneinander auf dem Sofa, unsere Körper berührten sich gelegentlich in enger Vertrautheit, und wir tranken die heiße und belebende Flüssigkeit. »Ich sollte ein bißchen schlafen«, sagte sie. »Ich muß um acht im Dienst sein.«
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Ich schaute auf meine Armbanduhr. Halb fünf, und der Winterabend dunkelte schon heran. Aber der Tag war mir lang vorgekommen. »Soll ich gehen?« Sie lächelte. »Kommt drauf an, wie stark deine Schmerzen sind.« »Sex ist ein fantastisches Betäubungsmittel.« »Blödmann.« Wir gingen ins Bett und probierten meine Theorie vorsichtig aus, und was ich dabei am meisten fühlte, war jedenfalls nicht der Stich über meiner Rippe. Die gleiche Empfindung wie beim letztenmal: süß, intensiv, langanhaltend, eine Welle subtiler Wonne von Kopf bis Fuß. Sie atmete leicht und langsam, und in ihren Augen lag ein Lächeln, das zugleich innige Nähe und Distanz verriet. Schließlich sagte sie schläfrig: »Gibst du den Frauen immer das, was sie am liebsten haben?« Ich gähnte zufrieden. »Was sie am liebsten haben, ist auch für mich das Beste.« »Die Stimme der Erfahrung...« Sie lächelte träge und sank in den Schlaf. Keine zwei Stunden später erwachten wir vom Gerassel ihres Weckers. Sie streckte die Hand aus, um ihn zum Schweigen zu bringen, dann wandte sie mir ihren Kopf auf dem Kissen zu einem Kuß entgegen. »Besser als Schlaftabletten«, sagte sie. »Es kommt mir vor, als hätte ich die ganze Nacht durchgeschlafen.« Sie machte Kaffee und ein schnelles Gericht aus Eiern mit Schinken, weil es ihrem Gefühl nach Frühstückszeit war, und in geschäftiger Eile hielt sie mir auf dem Bürgersteig zum Abschied die Wange hin und fuhr zur Arbeit. Ich sah ihr hinterher, bis die Rücklichter ihres Wagens verschwunden waren. Mir fiel ein, was ich irgendwo gelesen 221
hatte: daß Fluglotsen die höchste Scheidungsrate auf der Welt hatten. Wilton Young kam am nächsten Tag nach Cheltenham, trotz seiner grundsätzlichen Verachtung für das Jagdrennen, das an chronischer Geldknappheit krankte. Er kam, weil der rivalisierende Industriemagnat, der das Hauptrennen des Tages sponserte, ihn darum gebeten hatte, und der erste, dem er auf dem vormittäglichen Empfang in die Arme lief, war ich. »Was machen Sie denn hier?« fragte er in seiner ungehobelten Art. »Ich bin eingeladen.« »Oh.« Er fragte mich nicht, warum, darum sagte ich es ihm. »Ich habe ein paar Gewinner für unseren Gastgeber geritten.« Er blickte im Geiste zurück und nickte dann, als er sich erinnerte. »Jawoll. Stimmt.« Ein Kellner bot uns Champagner auf einem silbernen Tablett an. Wilton Young nahm sich ein Glas und nippte, verzog das Gesicht und sagte, über ein anständiges Bier hätte er sich mehr gefreut. »Ich fürchte, daß ich vielleicht eine schlechte Nachricht für Sie habe«, sagte ich. Sofort sah er angriffslustig aus. »Worum geht’s genau?« »Um Fynedale.« »Den!« Seine Augen wurden zu Schlitzen. »Jede schlechte Nachricht über Fynedale ist eine gute Nachricht.« Ich sagte: »Der Mann, den ich damals nach Südafrika geschickt habe, behauptet, er könne nicht beschwören, daß die Pferde, um die er sich gekümmert hat, die Ihren waren.« »Sie waren sich doch ganz sicher, daß er sich genau erinnert.« »Jetzt sagt er, er hätte zwar den Eindruck gehabt, daß es Ihre waren, aber hundertprozentig wüßte er es nicht.« 222
»Damit kommen wir vor Gericht nicht durch.« »Nein.« Er grunzte. »Dann werde ich eben nicht Anklage erheben. Ich gebe keine Kohle aus, wenn nicht Aussicht auf Erfolg besteht. Im Zweifelsfall zu prozessieren ist nur was für Dummköpfe.« Seine unverblümte Ehrlichkeit bereitete mir Gewissensbisse angesichts der Lüge, die ich ihm gerade erzählt hatte. Der Pferdepfleger war sich vollkommen sicher gewesen, wer der Eigentümer der Pferde war; er hatte ihre Frachtpapiere gesehen. Ich fand, daß ich jetzt mein Versprechen, Fynedale vor dem Gefängnis zu bewahren, zur Genüge eingelöst hatte und daß er von jetzt an für sich selbst fechten mußte. »Was vorbei ist, ist vorbei«, sagte Wilton Young. »Verluste vermeiden. Nicht wahr, mein Junge?« »Wahrscheinlich«, sagte ich. »Glauben Sie mir ruhig. So, jetzt hören Sie mir mal gut zu. Ich habe die Absicht, ein amerikanisches Pferd zu kaufen. Zäh sind die. So zäh, als wären sie in Yorkshire geboren.« Er machte keine Scherze. »Ich hab da ein ganz bestimmtes im Auge, ich möchte, daß Sie hinfahren und es für mich kaufen. Er steht nach Weihnachten zum Verkauf an.« Ich starrte ihn an und hatte es schon erraten. »Phoenix Fledgeling. Ein Zweijähriger. Schon mal von ihm gehört?« »Wissen Sie eigentlich«, sagte ich, »daß Constantine Brevett auch hinter ihm her ist?« Er gluckste vor Vergnügen. »Warum glauben Sie wohl, daß ich ihn haben will, verdammt noch mal? Das wird ihm seine hochnäsige Visage schon zurechtbiegen. Oder, mein Junge?« Die hochnäsige Visage suchte sich just diesen Augenblick aus, um beim Empfang aufzutauchen, mitsamt dem energischen Mund, dem sanften grauen Haar, der dicken
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schwarzen Hornbrille und dem Anschein, direkt von einer wichtigen Vorstandssitzung aus der Stadt zu kommen. Während seine große Gestalt und die dröhnende Stimme sofort die ganze Versammlung dominierten, sinnierte ich darüber nach, daß anscheinend immer derjenige im Vorteil war, der später eintraf: Wenn Constantine und Wilton Young das beide einsehen würden, versuchten sie vielleicht so sehr, als letzter anzukommen, daß keiner von beiden mehr auftauchte, was vermutlich für alle Beteiligten das beste wäre. Constantines Blick schweifte gebieterisch über die anwesenden Gäste und blieb dann abrupt bei Wilton Young und mir hängen. Er runzelte nur leicht die Stirn. Sein Mund zog sich kaum merklich zusammen. Er widmete uns fünf Sekunden seiner ungeteilten Aufmerksamkeit und schaute dann wieder weg. »Ist Ihnen jemals in den Sinn gekommen«, sagte ich langsam, »daß es vielleicht Ihre Visage ist, die er zurechtbiegt?« »Seien Sie nicht albern.« »Wie oft mußten Sie ihn schon überbieten, um ein Pferd zu bekommen?« Er gluckste. »Kann ich gar nicht zählen. Ich hab ihn öfter überboten, als er Bürokomplexe verkauft hat.« »Er hat Sie eine Stange Geld gekostet.« Das Glucksen erstarb. »Das waren der Scheiß-Fynedale und Vic Vincent.« »Aber... was ist, wenn Constantine die Sache befürwortet... oder sogar geplant hat?« »Sie sind schwer auf dem Holzweg, das sage ich Ihnen.« Ich kaute an meiner Unterlippe. »Solange es Sie glücklich macht.« »Jawoll.« Nicol gewann das Amateurrennen durch ein paar haarsträubend aggressive Taktiken, die ihm von seiten seiner 224
Gegner derbe Flüche einbrachten und von der Rennleitung ein paar ziemlich scharfe Blicke. Er gesellte sich hinterher zu mir, und der Trotz stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Na, nicht übel, was?« sagte er, die Flucht nach vorn ergreifend. »Wenn du als Profi im Flachrennen gelaufen wärst, hätten sie dich gesperrt.« »Du sagst es überdeutlich.« »Ausgesprochen sportlich«, sagte ich trocken. »Ich tu’s nicht für den Sport.« »Warum dann?« »Um zu gewinnen.« »Genau wie Wilton Young«, sagte ich. »Wie meinst du das?« »Keiner von euch beiden schert sich darum, was es kostet, zu gewinnen.« Er funkelte mich wütend an. »Du hast zu deiner Zeit mit jeder Menge gebrochener Knochen bezahlt.« »Nun... Vielleicht zahlt jeder auf die Art, die ihm am wenigsten bedeutet.« »Es ist mir scheißegal, was die anderen von mir denken.« »Genau das meine ich.« Wir standen schweigend da und sahen zu, wie die Pferde vorbeiliefen. Mein ganzes Leben hatte ich dagestanden und zugesehen, wie die Pferde vorbeiliefen. Es gab wesentlich schlechtere Arten, sein Leben zu verbringen. »Wenn du mal erwachsen bist«, sagte ich, »wirst du ein verdammt guter Jockey sein.« »Du blödes Schwein.« Die Wut seiner zweiundzwanzig verhätschelten Jahre ballte sich in seinen Fäusten zusammen. Aber anstatt zuzuschlagen, warf er mir mit der Geschwindigkeit seiner plötzlichen Stimmungsschwankungen sein kurzes, strahlendes, sardonisches Lächeln zu. »Okay. Okay. Okay. Ich bin gerade um fünf Jahre gealtert.« 225
Er drehte sich auf dem Absatz um und schritt von dannen, und obwohl ich es erst später erfuhr, ging er direkt zum Büro des Rennvereinssekretärs und füllte einen Antrag für eine Jockeylizenz aus. Vic war nicht zu den Rennen nach Cheltenham gekommen. Ich hatte aber noch etwas mit ihm zu erledigen, darum fuhr ich, nachdem ich daheim gewisse Vorbereitungen getroffen hatte, am nächsten Morgen zu seinem Haus in der Nähe von Epsom. Er wohnte so, wie er sich kleidete, in einem Stil, der vornehme Tradition und protzige Modernität miteinander vereinte. Das Haus, am Ende einer gut gepflegten Zufahrt gelegen, die von einer kleinen Seitenstraße am Ortsrand von Oxshott Woods abging, war ursprünglich im klassisch einfachen Stil eines frühviktorianischen Steinbaus errichtet worden. Auf der Rückseite des Hauses lag eine Ansammlung von Küchen und Badezimmern, die Anfang des Jahrhunderts hinzugefügt worden waren, und an einer der Seiten befand sich ein großzügig angelegter Bungalow-Anbau, der, wie sich herausstellen sollte, einen Swimmingpool, ein Gartenzimmer und eine Gästesuite einschloß. Vic war in seinem Stall, einem quadratischen Ziegelbau, der sich abseits vom Haus befand. Er trat durch den Torbogen, sah mich neben meinem Wagen stehen und kam mir langsam entgegen, wobei sein grimmiges Gesicht keinerlei Anzeichen eines herzlichen Willkommens zeigte. »Was zum Teufel wollen Sie?« fragte er. »Mit Ihnen reden.« Der kalte Himmel hing voller dicker Wolken, und erste schwere Tropfen waren Vorboten eines unmittelbar bevorstehenden Platzregens. Vic sah verärgert aus und sagte, daß er mir nichts zu sagen habe. »Aber ich Ihnen«, sagte ich.
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Jetzt begann es kräftig zu regnen. Vic wandte sich um und lief eilig auf sein Haus zu, und ich folgte ihm dicht auf den Fersen. Er wurde noch gereizter, als er feststellen mußte, daß ich Anstalten machte, mit ihm zusammen sein Haus zu betreten. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen«, wiederholte er. »Dann hören Sie eben zu.« Wir standen in dem breiten Durchgang, der zwischen dem alten und dem neuen Teil des Hauses verlief. Die Wärme der Zentralheizung zog an uns vorbei und entwich in die frostige Luft Surreys. Vic preßte die Lippen zusammen, machte die Haustür zu und deutete mir mit einer ruckartigen Kopfbewegung an, daß ich ihm folgen solle. An Geld war hier nirgendwo gespart worden. Fahlblauer Teppichboden breitete sich großzügig nach allen Seiten hin aus. Riesige Plüschsofas standen da und dort herum. Grünpflanzen, groß wie junge Bäume, wucherten aus griechisch aussehenden Töpfen. Wahrscheinlich hatte er auch ein kreisrundes Bad mit goldenen Hähnen; und für die Nacht ein Wasserbett. Mir fielen die Löcher in Antonia Huntercombes abgewetzten Chintzbezügen ein. Vics legales Räuberdasein ging schon viel zu lange und viel zu weit. Er führte mich in den Raum am Ende des Flurs, zu seinem Äquivalent meines Büros. Das einzige Fenster darin ging auf den Pool hinaus, zu dessen Linken sich die Gästezimmer befanden und zur Rechten das Gartenzimmer. Die langen Reihen von Nachschlagewerken, die Form- und Gestütsbücher umfaßten, waren den meinen sehr ähnlich, doch dort endete schon der Vergleich. Sein Büro wirkte durch einen frischen Anstrich hell und freundlich, war mit fahlblauem Teppichboden ausgelegt, und an den Wänden hingen drei oder vier florentinische Spiegel; ferner gab es eine Stereoanlage von Bang und Olufsen und eine gut bestückte Bar. 227
»Also gut«, sagte Vic. »Schießen Sie los. Hab keine Zeit zu verschwenden.« »Haben Sie schon mal von einem Pferd namens Polyprint gehört?« fragte ich. Er erstarrte. Ein paar zähe Sekunden lang rührte sich kein Muskel in seinem Gesicht. Dann blinzelte er. »Natürlich.« »An Tetanus gestorben.« »Ja.« »Schon mal von Nestegg gehört?« Er sah mich an, als hätte ich ihm aus heiterem Himmel eine Stricknadel durch den Leib gejagt. Der Stoß ging ihm sichtlich durch und durch. Er antwortete nicht. »Als Nestegg geboren wurde«, sagte ich beiläufig, »tauchten einige Zweifel bezüglich der Vaterschaft auf. Zwei Hengste kamen in Frage, die Mutter gedeckt zu haben. Darum hat der Züchter Nesteggs Bluttyp bestimmen lassen.« Vic gab eine hervorragende Nachahmung von Frau Lot zum besten. »Wie sich herausstellte, stimmte Nesteggs Blut mit dem des einen Deckhengstes überein, aber nicht mit dem des anderen. Die Unterlagen wurden aufbewahrt. Es gibt sie immer noch.« Vic rührte sich nicht. »Ein rechter Bruder von Polyprint ist zur Zeit in Newmarket im Training.« Keine Reaktion. Ich sagte: »Ich habe einen Bluttest für das Pferd anberaumt, das heute unter dem Namen Nestegg geführt wird. Sie und ich wissen, daß sein Bluttyp sich vollkommen von dem unterscheiden wird, der bei Nestegg als Fohlen festgestellt wurde. Ich habe außerdem einen Bluttest für Polyprints rechten Bruder vereinbart. Und sein Bluttyp wird vollkommen mit dem des angeblichen Nestegg übereinstimmen.«
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»Sie Arschloch.« Das Wort brach explosionsartig aus ihm heraus; nach der langen unnatürlichen Starre wirkte es um so derber. »Allerdings«, sagte ich, »sind die Tests noch nicht gemacht worden, und unter bestimmten Umständen würde ich sie absagen.« Er atmete wieder. Lebte auf. »Unter welchen Umständen?« fragte er. »Ich möchte eine Empfehlung von Ihnen.« »Eine was?« »Eine Empfehlung für einen Ihrer Freunde. Und zwar für jenen Freund, der die Vereinbarung aufgesetzt hat, die der Züchter von Transporter unterschrieben hat. Den Freund, der beschlossen hat, meine Stallungen anzünden zu lassen.« Vic wurde unruhig. »Unmöglich.« Ich sagte nüchtern: »Entweder das, oder ich schreibe den Leuten von der High-Power-Versicherungsgesellschaft.« Er fummelte nervös an einigen Stiften herum, die auf seinem Schreibtisch lagen. »Was würden Sie tun, wenn Sie diesen... Freund träfen?« »Einen dauerhaften Frieden aushandeln.« Er griff nach einem Kalender, betrachtete ihn mit leerem Blick und legte ihn wieder hin. »Heute ist Samstag«, sagte ich. »Die Bluttests sind für Montag früh angeordnet. Wenn ich heute oder morgen Ihren Freund treffe, sage ich sie ab.« Er war eher wütend als verängstigt, aber er wußte ebensogut wie ich, daß diese Bluttests der erste Schritt auf seinem Weg ins Kittchen sein würden. Was ich nicht wußte, war, ob Vic wie Fred Smith die bittere Medizin quasi mit geschlossenem Mund schlucken würde. Vic sagte heftig: »Damit haben Sie immer diese Macht über mich. Das ist verdammte Erpressung.« 229
»Irgendwie schon«, stimmte ich ihm zu. Wellen des Hasses entstellten sein Gesicht. Ich sah, wie er nach einem Ausweg suchte. »Ein privates Treffen mit Ihrem Freund, von Mann zu Mann«, sagte ich. »Fünf Minuten genügen. Das ist nicht viel, wenn Sie bedenken, was dabei für Sie auf dem Spiel steht.« Ich zeigte auf den hellen Raum und hinaus auf den luxuriösen Swimmingpool. »Zweifellos von Polyprints Versicherung gebaut, nicht wahr?« Er ließ seine Faust auf den Schreibtisch niederkrachen, daß die Stifte tanzten. »Dieser Scheiß-Fynedale hat Ihnen das erzählt«, brüllte er. »Er muß es gewesen sein. Ich bring die kleine Ratte um.« Ich stritt es nicht gerade ab, erwähnte aber sachlich: »Sie haben eins außer acht gelassen... Mein Bruder Crispin hat früher einmal für die ›High-Power‹ gearbeitet.«
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15 Crispin stand wie ein Häufchen Elend im Hof und schien mit seinem Schicksal zu hadern, als ich von Vic nach Hause kam. Ich parkte den Wagen und stieg aus. »Was ist los?« fragte ich. »Och...« Er machte resigniert eine ausladende Armbewegung, die alles umfaßte: die plattgewalzte Erde, wo früher die Stallungen gestanden hatten, und ein neues Baugerüst, das zum verbrannten Teil des Dachs hinaufragte. »Guck doch mal... Wenn ich nicht betrunken gewesen wäre, wäre das alles nicht passiert.« Ich blickte ihn an. »Mach dir keine Sorgen.« »Aber ich mach mir Sorgen. Wenn ich aufgewesen wäre... wenn Licht im Haus gebrannt hätte... dann hätte dieser Mann kein Feuer legen können...« »Das kann man gar nicht wissen.« »Ist aber doch wahrscheinlich.« »Nein. Komm rein, es ist kalt hier draußen.« Wir gingen in die Küche, und ich machte Kaffee. Crispins Selbstvorwürfe flackerten immer wieder von neuem auf, während er mir dabei zusah, wie ich Wasser und gemahlenen Kaffee in die Kaffeemaschine tat. »Es wär besser gewesen, wenn du mich hättest sterben lassen.« »Gut, daß du im Badezimmer ohnmächtig geworden bist«, sagte ich. »Das war der einzige Raum, der durch einen Luftziegel natürliche Ventilation abbekam.« Es heiterte ihn nicht auf. »Wär besser gewesen, wenn ich ins Gras gebissen hätte.« »Möchtest du eine Scheibe Toast?« »Hör auf, ewig von dem blöden Essen zu reden. Ich versuche dir gerade zu sagen, daß du mich hättest sterben lassen sollen.« 231
»Das ist mir klar. Und es ist einfach schwachsinnig. Ich möchte nicht, daß du tot bist. Ich möchte, daß du am Leben bist und daß es dir gutgeht, und zwar hier in Surrey.« »Du nimmst mich nicht ernst.« Seine Stimme klang gekränkt und vorwurfsvoll. Ich dachte an all die Gespräche, die wir über dieses Thema geführt hatten. Ich hätte ihn ertrinken lassen sollen, damals, als er in der Badewanne eingeschlafen war. Ich hätte ihn gegen einen Baum fahren lassen sollen, damals, als ich ihm die Wagenschlüssel abgenommen hatte. Ich hätte ihn von der Klippe in Brighton herunterfallen lassen sollen, damals, als er benebelt an deren Rand getorkelt war. Mir vorzuwerfen, ihn nicht sterben zu lassen, war seine Art, mich für all seine Probleme verantwortlich zu machen. Es war meine Schuld, daß er am Leben war, so funktionierte seine Logik, darum war es auch meine Schuld, wenn er Trost im Suff suchte. Er kultivierte seinen Groll gegen mich, um sein Selbstmitleid zu rechtfertigen. Ich seufzte innerlich und machte den Toast. Noch heute oder spätestens morgen würde er wieder im Gin schwimmen. Von Vic kam keine Nachricht. Ich saß den ganzen Tag in meinem Büro und arbeitete, wenn ich nicht gerade den Renntag im Fernsehen verfolgte, während Crispin sein Bestes tat, sich auf meine Rechnungen zu konzentrieren. »Als du für ›High-Power‹ gearbeitet hast«, sagte ich, »hattest du da jemals mit einer Schadensersatzforderung für ein Pferd namens Polyprint zu tun?« Er schniefte verächtlich. »Du weißt verdammt genau, daß ich in der Rentenabteilung, nicht bei den Schadensansprüchen gearbeitet habe.« »Es hätte ja sein können, daß du von dem Fall gehört hast...« »Nein.«
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Wir tranken Cola, Sprudellimonade und Kaffee, ich briet uns ein paar Lammkoteletts zum Abendessen, und Vic rief immer noch nicht an. Auch nicht am nächsten Morgen. Zuviel Schweigen. Ich knabberte an meinen Fingernägeln und fragte mich, was ich tun sollte, wenn mein Druckmittel nicht funktionierte: wenn Vic nichts von meinem Anliegen erzählte und sein Freund gar keine Gelegenheit bekam, ihm aus der Patsche zu helfen. Dann hieß das grünes Licht für die Blutbestimmungstests, und aus Vic würde man Hackfleisch machen, sein Freund aber würde frei und unentdeckt bleiben; er konnte sich einen neuen Leutnant rekrutieren und wieder von vorn anfangen, wie ein Krebsgeschwür. Ich wanderte unruhig auf der Baustelle auf und ab, dort, wo einst die Ställe gestanden hatten, und kickte ziellos nach herumliegenden Steinchen. Ein Wagen bog in den Hof ein, einer, den ich nicht kannte, und heraus stieg ein völlig fremder Mann. Groß, jung, blond. Das konnte unmöglich Vics Freund sein, dachte ich. Und er war es auch nicht. Es saßen noch zwei weitere Personen in seinem Wagen, und vom Rücksitz stieg Sophie aus. »Hallo...« Sie grinste mir ins Gesicht. »Wen hast du erwartet? Den Gerichtsvollzieher?« Sie stellte mir ihre Freunde vor, Peter und Sue. Sie seien auf dem Weg zu einem Abendessen bei Sues Eltern, aber wenn ich wollte, würde sie bei mir bleiben und von ihren Freunden auf dem Rückweg wieder mitgenommen werden. Ich wollte. Die Freunde winkten und fuhren davon, und Sophie hakte sich bei mir unter. »Wie steht’s mit Heiraten?« fragte ich. »Nein.« »Warum nicht?« »Weil du Austern magst und ich nicht.«
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Ich lächelte und führte sie ins Haus. Die Antwort war auch nicht schlechter als jede andere. Crispin wurde sofort von einer starken Unruhe ergriffen; er freute sich nicht im geringsten, sie zu sehen. »Ich mache einen Spaziergang«, sagte er. »Wie ich sehe, bin ich hier überflüssig.« »Du bleibst schön da und gießt uns Cola ein«, sagte ich nachdrücklich. Wir sahen einander an; wir wußten beide, daß sein Spaziergang in die Kneipe führen würde. »Na gut«, sagte er abrupt. »Du oller Tyrann.« Ich kochte das Mittagessen: Steaks mit Grilltomaten. Crispin meinte, Sophie sollte eigentlich kochen, und Sophie sagte, daß man sich prinzipiell nicht in eine fremde Küche einmischen sollte. Sie musterten sich gegenseitig mit unfreundlichem Blick, als wünschten sich beide, der andere möge sich fortscheren. Nicht unbedingt das gemütlichste Sonntagsessen, dachte ich. Und zum Kaffee rief Vic an. »Mein Freund will Sie treffen«, sagte er. »Nur fünf Minuten. Wie Sie gesagt haben.« »Wo?« fragte ich. »Hier. Bei mir zu Hause. Um sechs Uhr.« »Ich werde kommen«, sagte ich. In seiner Stimme mischten sich Befehlston und Ängstlichkeit. »Sie werden diese Bluttests absagen?« »Ja«, sagte ich. »Nach dem Treffen.« Ich ging wieder in die Küche. Sophie rauchte, und Crispin starrte böse seinen Kaffee an, als wäre der sein ärgster Feind. Wenn wir allein waren, räumte er oft die Teller in die Spülmaschine, aber ich wußte, daß er es nicht tun würde, solange sie da war. Sobald sich eine Frau im Raum befand, war es für ihn selbstverständlich, daß sie die häuslichen Handgriffe zu übernehmen hatte, selbst wenn sie nur zu Gast war. Sophie wiederum sah sich nicht veranlaßt, Aufgaben zu erledigen, die ihr keinen Spaß machten, vor allem nicht die ihres Gastgebers, 234
nur weil sie weiblichen Geschlechts war. Ich betrachtete die beiden mit einer Art traurigen Belustigung, meinen oft zur Last werdenden Bruder und das Mädchen, das sich weigerte, meine Frau zu werden. Irgendwann am Nachmittag riefen Peter und Sue an, um Bescheid zu sagen, daß sie bei Sues Eltern übernachten wollten und infolgedessen Sophie nicht nach Hause fahren konnten. Ob es mir fürchterliche Umstände machen würde, sie selbst zu bringen? Ich erklärte Sophie, daß ich eine Verabredung in der Nähe von Epsom hätte. »Das macht nichts«, sagte sie. »Ich warte dort solange im Auto, und anschließend können wir zu mir fahren.« Ein unbehagliches Gefühl stieg in mir auf, eine Ahnung von Gefahr. »Ich besuche Vic Vincent«, sagte ich. »Meinst du, er könnte so blutrünstig werden wie Fynedale?« Ich lächelte. »Nein.« »Und vergiß nicht, es war gar nicht so schlecht, daß du mich in Ascot dabeihattest.« »Habe ich nicht vergessen.« »Na siehst du.« Also nahm ich sie mit. Crispin begleitete uns zum Wagen. »Ich kann wohl davon ausgehen, daß du erst morgen früh wiederkommst«, brummte er. »Ob heute oder morgen, du schaffst das.« Er schaute mich verzweifelt an. »Du weißt verdammt genau, daß ich es nicht schaffe.« »Du schaffst es, wenn du nur willst«, sagte ich eindringlich. »Vielen Dank, Jonah, du Arschloch.« Er stand da und sah zu, wie ich den Motor anließ und wir wegfuhren. Wie immer hatte er in mir ein nagendes Schuldgefühl zurückgelassen, weil ich ihn in seiner Not allein ließ. Wie immer sagte ich mir, wenn er dem Alkohol ein für 235
allemal abschwören wollte, würde er es nur schaffen, wenn ich nicht bei ihm war. Ich konnte ihm unmöglich jede Minute seines Lebens die Hand halten. Wir fuhren in Richtung Epsom. Wir kamen zu früh, wie ich es geplant hatte. Wir hatten zwar sechs Uhr vereinbart, aber ich dachte, daß vielleicht vorher eine kleine Erkundung des Terrains ganz nützlich sein konnte. Dieser Freund, wer immer er auch war, hatte mir schon eine Menge Probleme bereitet, und ich machte mir keine großen Hoffnungen, daß sich unser Rendezvous als harmloses Kaffeekränzchen entpuppen würde. Fünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo Vics Einfahrt von der Straße abzweigte, hielt ich auf dem grasbewachsenen Randstreifen, wobei Sophies Beifahrertür eng gegen eine Hecke gepreßt wurde. Ich schaltete die Scheinwerfer aus und wandte mich ihr zu. »Wenn ich gehe, verriegelst du die Tür hinter mir«, sagte ich. »Und steig nicht aus.« »Jonah... Du glaubst ja wirklich, daß Vic blutrünstig werden kann.« »Nicht Vic. Aber vielleicht ist noch jemand bei ihm... Ich weiß nicht. Jedenfalls fühle ich mich wohler, wenn ich weiß, daß du schön gemütlich und sicher im Auto sitzt.« »Aber...« »Kein Aber.« Ich küßte sie flüchtig. »Ich bin in ungefähr einer halben Stunde wieder da. Wenn ich bis halb sieben noch nicht zurückgekommen bin, dann fahr nach Epsom rein und organisiere einen Landsturm.« »Das gefällt mir nicht.« »Leg dir die Decke um, sonst wird dir kalt.« Ich schlüpfte aus dem Wagen und sah zu, wie sie hinter mir die Tür verriegelte. Ich winkte. Lächelte, als wäre ich auf dem Weg zum Zirkus. Ging davon. Die Nacht war nicht pechschwarz. Die wenigsten Nächte sind es. Meine Augen gewöhnten sich an das Halbdunkel, und 236
ich lief schnell durch das Tor und die Auffahrt entlang, wobei ich mich auf dem Rasenstreifen hielt. Ich hatte mir für den Anlaß einen schwarzen Pulli und dunkle Hosen angezogen sowie schwarze Schuhe mit Gummisohlen. Ich zog ein Paar Handschuhe aus der Tasche und streifte sie über. Ich habe günstigerweise dunkelbraunes Haar, und abgesehen von dem blassen Fleck, der mein Gesicht war, wirkte ich wahrscheinlich wie einer von vielen Schatten. Vor Vics Haus parkten zwei Autos, die ich beide noch nie gesehen hatte. Ein Ford Cortina und ein Jaguar XJ 12. Ich bewegte mich geschmeidig um das Haus herum zum Swimmingpool hin, in der Hoffnung und im Glauben, daß Vic genau wie ich sein Büro als den geeigneten Raum betrachtete, um seine Freunde zu empfangen. Das Haus war zum größten Teil in Dunkel getaucht. Vics Fenster war hell erleuchtet. Eins zu null, dachte ich. Vorsichtig machte ich einen Bogen um den Pool und näherte mich dem Fenster im Schatten des Dachvorsprungs über der Gästesuite; ich hielt mich dicht an der Hausmauer. Schwaches Licht vom Himmel her spiegelte sich schimmernd auf dem glatten Wasser des Pools. Es wehte kein Wind, und bis auf das gelegentliche Vorbeifahren eines Autos auf der Hauptstraße war alles still. Vorsichtig rückte ich näher heran. Vor Vics Fenster hingen dichte hellbraune Stores in zusammengebauschten Falten. Ich stellte fest, daß man einen gewissen Einblick bekam, wenn man direkt hindurchschaute, im schiefen Winkel aber nichts erkennen konnte. Außerdem war es möglich, da die Vorhänge nicht ganz undurchlässig waren, daß jeder, der sich im Zimmer befand, bemerken konnte, daß sich draußen jemand bewegte. Ziemlich schlechte Bedingungen für Voyeure. Ich kroch das letzte Stück am Boden entlang und kam mir wie ein Idiot vor. Der untere Fensterrand befand sich etwa
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fünfundvierzig Zentimeter über den Bodenplatten. Als ich bis zum Haus vorgerückt war, lag ich flach auf dem Bauch. Vic lief im Zimmer auf und ab und redete. Ich riskierte es, über den Rand des Fensterbretts zu schauen, aber es lohnte sich kaum. Das einzige, was ich deutlich erkennen konnte, war ein Teil des Tisches, der in der Nähe des Fensters stand, sowie ein Stück eines florentinischen Spiegels, der weiter entfernt an der Wand hing. Ich rutschte ein bißchen zur Seite und spähte noch mal. Erhaschte ein Bruchstückchen von einem Bücherregal und einem Stuhlbein. Rutschte weiter. Mehr von dem Bücherregal, und einen kurzen Moment lang der Eindruck des umhergehenden Vic. Seine Stimme drang durch das Glas, wenn er in die Nähe des Fensters kam. Ich senkte den Kopf und lauschte den unzusammenhängenden Wortfetzen. »... Polyprint und Nestegg... verdammter Zündstoff...« »... ist doch egal, wie er es rausgekriegt hat! Wie hast du es überhaupt rausgekriegt?...« »... hätte auch nichts genützt, ihn zusammenzuschlagen. Ich hab dir gleich gesagt... seinen Hof anzünden würde ihm mehr weh tun...« »... wir können schlecht Druck auf Frau und Kinder ausüben, wenn er keine hat...« »... Bruder... taugt nichts... alter Suffkopp...« Ich rutschte noch ein Stückchen auf dem Bauch weiter und spähte erneut hinein. Wieder nur ein wenig erhellender Ausschnitt von diversem Mobiliar. Ich konnte weder erkennen, mit wem Vic sprach, noch die Antworten des Mannes verstehen. Die Stimme drang nur wie ein dumpfes Grollen zu mir, wie eine gedämpft geschlagene Baßtrommel. Schließlich wurde mir klar, daß deren Besitzer mit dem Rücken zur Fensterwand saß, aber so weit links, daß ich ihn unmöglich sehen konnte, es sei denn, er entschied sich, aufzustehen. Macht nichts, dachte ich. Ich würde ihm früh 238
genug von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Bis dahin konnte ich versuchen, soviel wie möglich zu erfahren. Vielleicht wurde mir ja noch ein Trumpfas für die bevorstehende Verhandlungsrunde präsentiert. »... ich sehe keinen anderen Weg...«, sagte Vic. Die Antwort war ein knappes Grummeln. Vic trat plötzlich dicht ans Fenster heran. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und spitzte die Ohren. »Hör mal«, sagte er. »Ich hab ihm mehr oder weniger versprochen, daß du dich mit ihm triffst.« Grummel, grummel, scheinbar ungehalten. »Also, ich gehe verdammt noch mal nicht ins Loch, nur um zu verhindern, daß er erfährt, wer du bist.« Grummel, grummel. »Doch, ich werd es ihm sagen, allerdings.« Grummel, grummel, grummel. Vic hatte anscheinend nicht gerade mit offenen Karten gespielt. Er hatte seinem Freund mit der Grummelstimme nicht erzählt, daß er mich um sechs erwartete. Vic würde mir seinen Freund auf dem Tablett servieren, ob dieser das wollte oder nicht. Ich lächelte in der Dunkelheit. Zwei zu null. »Dein Ruf ist mir scheißegal«, sagte Vic. »Was ist so herrlich an deinem gottverdammten Ruf?« Ein langes Grummeln. Es machte mich rasend, daß ich nichts verstehen konnte. Als Vic antwortete, klang es zum erstenmal so, als bemühe er sich, aufkeimende Zweifel zu unterdrücken. »Natürlich stimme ich dir zu, daß Geschäfte auf Vertrauensbasis geführt werden müssen...« Grummel, grummel. »Tja, tut mir leid, ich habe nämlich nicht die Absicht, ins Gefängnis zu wandern, nur um deinen Ruf zu wahren, das ist mein letztes Wort.« Grummel. 239
Vic bewegte sich von rechts nach links am Fenster vorbei, aber ich konnte ihn immer noch deutlich hören. »Wo willst du hin?« Seine Stimme stieg plötzlich steil nach oben, angsterfüllt. »Was machst du da? Nein... nein... Mein Gott... Warte...« Seine Stimme wurde noch höher und lauter. »Warte...!« Beim letztenmal schrie er es. »Warte...« Irgendwo im Raum ertönte eine Art Husten, und etwas Schweres fiel gegen das Fenster. Ich hob meinen Kopf und erstarrte in blankem Entsetzen. Vic lehnte mit dem Rücken gegen die Scheibe. Der Netzvorhang um ihn herum war in helles Scharlachrot getaucht. Seine Beine sackten zusehends unter ihm weg. Während er niedersank, drehte er sich um und klammerte sich Halt suchend an die Vorhänge. Auf der Vorderseite seines fliederfarbenen Hemdes wurde ein scharlachroter Stern mit unregelmäßigen Zacken sichtbar. Er sprach nicht. Sein Griff um den Vorhang lockerte sich. Als er fiel, konnte ich eine Sekunde lang seine Augen sehen. Sie blickten ins Leere. Ohne klar zu denken, sprang ich auf die Beine und rannte um das Haus herum nach vorn. Im nachhinein kann man immer leicht sagen, daß es eine völlig verrückte Reaktion war. Als es passierte, dachte ich nur, daß Vics mörderischer Freund schadlos aus der Sache herauskommen würde, ohne daß ich gesehen hatte, wer er war. Ich dachte nur daran, daß ich Vic so weit gebracht hatte, die Identität seines Freundes preiszugeben, und wenn ich jetzt nicht sehen konnte, wer er war, war Vic umsonst gestorben. Was mir überhaupt nicht in den Sinn kam, war: Wenn der Freund mich sah, würde er mich einfach genauso abknallen. Es ging alles viel zu schnell, um sämtliche Möglichkeiten abzuwägen. 240
Als ich endlich um den Pool und das Gartenzimmer herumgelaufen war, hörte ich den Lärm eines hektisch startenden Anlassers. Es war nicht der große Jaguar. Es war der Cortina. Der Wagen setzte rasant in einem weiten Bogen zurück, bis er mit dem Kühler in Richtung Ausfahrt zeigte. Ich rannte. Ich kam von hinten an seine linke Seite heran. Im Wagen schaltete die dunkle massige Gestalt des Fahrers vom Rückwärts- in den ersten Gang. Ich legte meine Hand an den Griff der Hintertür, wollte sie öffnen, wollte, daß er sich zu mir umwandte, wollte sehen, wer er war, ihn aufhalten, mit ihm kämpfen, ihm seine Pistole abnehmen, ihn seiner gerechten Strafe zuführen... der Himmel weiß, was ich wollte. Der Cortina machte einen Satz nach vorn, als wäre die Startfahne in Le Mans heruntergegangen, und riß mir meinen Arm aus dem Gelenk.
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16 Ich kniete am Boden, verspürte den vertrauten höllischen Schmerz und dachte, daß eine ausgekugelte Schulter das letzte war, was man jemandem wünschen konnte. Und was noch schlimmer war, ich hörte, wie sich von der Einfahrt her Schritte näherten. Knirsch, knirsch, knirsch. Unerbittlich. Man mußte den Dingen ins Auge sehen. Ich stützte meinen linken Ellbogen mit der rechten Hand und wartete einfach ab, da ich mich ohnehin kaum bewegen konnte, geschweige denn wegrennen. Eine Gestalt löste sich aus der Dunkelheit. Kam auf zwei Meter heran. Blieb stehen. Eine Stimme sagte: »Bist du überfahren worden?« Fast hätte ich gelächelt. »Hab ich dir nicht gesagt, daß du im Auto bleiben sollst?« »Du klingst irgendwie komisch«, sagte Sophie. »Zum Totlachen.« Sie machte zwei Schritte auf mich zu und streckte die Hände nach mir aus. »Faß mich nicht an«, sagte ich hastig. »Was ist los?« Ich sagte es ihr. »O mein Gott«, sagte sie. »Und du kannst sie wieder einrenken.« »Was?« »Meine Schulter.« »Aber...« Sie klang bestürzt. »Das kann ich nicht.« »Nicht hier. Im Haus.« Sie hatte keine Ahnung, wie sie mir auf die Beine helfen sollte. Da waren die Frauen von Hindernisjockeys doch ganz 242
anders, dachte ich flüchtig, für die lädierte Ehemänner zum Alltag gehörten wie Einkaufen und Wäsche waschen. Ich rappelte mich auf und vergoß dabei kaum mehr als einen halben Liter Schweiß. Verschiedene Adjektive kamen mir in den Sinn. Wie etwa peinigend. Einen Fuß zaghaft vor den anderen setzend, begaben wir uns zur Haustür, die Vics Freund aufgelassen hatte, die Tür, die in den Flur und zu Vics Büro führte. Das Licht dort war noch an. Ich fragte mich, ob außer im Büro sonst noch irgendwo ein Telefon stand. Wir gingen vorsichtig ins Haus, ich vornübergebeugt wie der Glöckner von Notre-Dame. »Jonah!« sagte Sophie. »Was ist?« »Mir war nicht klar... Du siehst... du siehst aus wie...« »Ja«, sagte ich. »Ich brauche dich, damit du mir die Schulter wieder einrenkst.« »Wir müssen einen Arzt rufen.« »Nein... die Polizei. Vic Vincent ist erschossen worden.« »Erschossen.« Sie folgte meinem Blick zu Vics Büro und ging hinein, um nachzusehen. Sie kehrte um einiges blasser wieder zurück; damit waren wir schon zu zweit. »Es ist... entsetzlich.« »Schau nach, ob du ein anderes Telefon finden kannst.« Sie knipste mehrere Lichtschalter an. Es stand ein weiteres Telefon auf einem Tisch, der von einem Sofa und einer Topfpalme flankiert wurde. »Ruf die Polizei an«, sagte ich. Sie wählte dreimal die Neun. Meldete, daß ein Mann getötet worden sei. Sie würden sofort kommen, sagten sie. Sophie hängte ein und wandte sich mir entschlossen zu. »Ich werde jetzt einen Krankenwagen rufen.« »Nein. Mach du das. Es muß jetzt getan werden. Auf der Stelle.« 243
»Jonah... sei nicht töricht. Wie soll ich das machen? Du brauchst professionelle Hilfe. Einen Arzt.« »Ich brauche einen Arzt so dringend wie die Zeitung von gestern. Paß auf... Ärzte renken Schultern nicht wieder ein. Bis sie erst mal hier sind, haben sich alle Muskeln so weit verkrampft, daß es nicht mehr geht. Sie schicken einen ins Krankenhaus, in verdammt holperigen Krankenwagen. Im Krankenhaus sitzt man dann stundenlang in der Notaufnahme. Dann schicken sie einen zum Röntgen. Dann schieben sie dich in den Operationssaal, und mittlerweile müssen sie dir eine Vollnarkose geben. Das dauert ungefähr vier Stunden, wenn die Zeit günstig ist. Sonntagabend ist aber keine günstige Zeit. Wenn du es nicht machst, dann... dann...« Ich hielt inne. Die Vorstellung der langen Stunden, die vor mir lagen, genügte, mich in schlotternde Angst zu versetzen. »Ich kann das nicht«, sagte sie. »Ich sag dir, was du tun mußt...« Sie war entsetzt. »Du brauchst unbedingt einen Arzt.« Ich brummte etwas Unverständliches. »Was hast du gesagt?« wollte sie wissen. »Ich habe gesagt: Lieber Gott, gib mir eine Frau, die Kraft hat.« Sie sagte leise: »Das ist unfair.« Ich ging langsam an ihr vorbei, durch den Flur hinaus in das große offene Eßzimmer, und setzte mich vorsichtig auf einen der harten Stühle mit gerader Lehne. Was ich fühlte, war überhaupt nicht mehr witzig. Ich schloß die Augen und dachte über Vics Freund nach. Dachte an den kurzen Blick, den ich während eines Sekundenbruchteils von ihm erhaschen konnte, bevor er losgebraust war und mein Wohlbefinden mitgenommen hatte. Ein wenig Licht war durch die offenstehende Haustür nach draußen gedrungen. Genug, um mir die Form eines Kopfes zu zeigen. 244
Die Zeit war zu knapp gewesen, als daß ich ganz sicher sein konnte. Für einen kurzen Eindruck hatte sie gereicht. Dieser Eindruck spukte unauslöschlich in meinem Kopf herum. Sophie sagte: »Jonah...« Ich öffnete die Augen. Sie stand vor mir, mit weit aufgerissenen Augen und am ganzen Leibe zitternd. Ich hatte immer wissen wollen, was wohl diese übermenschliche Beherrschung erschüttern konnte. Jetzt wußte ich es. Ein Mann, der erschossen worden war, und ein anderer, der einen unglaublichen Dienst von ihr verlangte. »Was muß ich tun?« fragte sie. Ich schluckte. »Es dauert zehn Minuten.« Sie war schockiert. Bange Vorahnung ließ ihre Augen noch größer werden. »Wenn du es ernst meinst...«, sagte ich. »Ich meine es ernst.« »Erste Anweisung... lächeln.« »Aber...« »Sechsmal tief durchatmen, und ein strahlendes Lächeln.« »O Jonah.« Sie klang verzweifelt. »Paß auf«, sagte ich. »Ich habe keine Lust, daß du an meinem wertvollen Körper herumhantierst, bevor du nicht wieder die alte selbstbewußte, entspannte, zuverlässige, herzlose Sophie bist.« Sie starrte mich an. »Ich dachte, du könntest gar nicht mehr sprechen. Du falscher Fuffziger.« »Das klingt schon besser.« Sie gehorchte aufs Wort. Sie atmete sechsmal tief durch und lächelte. Nicht gerade strahlend, aber immerhin. »Okay«, sagte ich. »Leg deine linke Hand unter meinen Ellbogen und halt mein Handgelenk mit deiner rechten Hand fest.« Ich rutschte ein oder zwei Zentimeter auf meinem Stuhl nach hinten, bis sich mein Rückgrat fest an die Stuhllehne drückte. 245
Sie trat sehr unentschlossen dicht vor mich hin und legte ihre Hände an die benannten Stellen. Ganz gleich, wie sie sich überwunden haben mochte, ich sah ihr an, daß sie immer noch nicht davon überzeugt war, mir helfen zu können. »Paß auf... Laß dir Zeit. Du kannst den Arm nicht einfach mit einem heftigen Ruck wieder hineindrehen. Wenn du meinen Arm in der richtigen Position hast, wird der obere Teil des Knochens in das Gelenk zurückgleiten... Verstehst du?« »Ich glaube schon.« »Gut... Es sind drei Phasen. Zuerst mußt du meinen Arm ausstrecken, leicht seitwärts. Dann beuge mein Handgelenk zurück und zieh meinen Ellbogen quer über meine Brust... Das wird merkwürdig aussehen... aber es funktioniert. Wenn du kräftig genug ziehst, wird der obere Teil des Knochens wieder auf die Höhe des Gelenks geraten und langsam hineingleiten. Wenn er das tut, krümme mein Handgelenk zusammen und beuge meinen Ellbogen über meine rechte Schulter... und der Arm wird wieder dort einrasten, wo er hingehört.« Sie wirkte keineswegs beruhigt. »Sophie...« »Ja?« Ich zögerte. »Wenn du das tust, ersparst du mir stundenlange Schmerzen.« »Ja.« »Aber...« Ich verstummte. »Du versuchst mir zu sagen«, sagte sie, »daß ich dir noch mehr weh tun werde und daß mich das nicht daran hindern darf, weiterzumachen.« »So ist’s brav.« »Also gut.« Sie fing an. Streckte meinen Arm, langsam und vorsichtig. Ich fühlte, wie überrascht sie angesichts des Kraftaufwands war, den ihr diese Aktion abverlangte: Ein Arm ist wesentlich
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schwerer, als den meisten Leuten bewußt ist, und sie mußte sein ganzes Gewicht in ihren Händen halten. Es dauerte fünf Minuten. »Ist es so richtig?« fragte sie. »Mhm.« »Und jetzt ziehe ich den Ellbogen rüber?« »Mhm.« Das war immer der schlimmste Teil. Schon nach kurzer Zeit fühlte ich, wie sie zitterte. Die Finger unter meinem Ellbogen bebten vor Unentschlossenheit. Ich sagte: »Wenn du... jetzt... meinen Ellbogen losläßt... schreie ich.« »Oh...« Sie klang, als habe sie vollkommen die Kontrolle verloren, aber ihr Griff wurde zum Glück fester. Wir machten weiter, ohne ein Wort auf beiden Seiten, nur schweres Atmen. Es gab immer jenen Punkt, an dem es scheinbar nicht mehr weiterging, der Arm sich aber noch draußen befand. Jedesmal ein Punkt schierer Verzweiflung. Wir erreichten ihn. »Es hat keinen Sinn«, sagte sie. »Es funktioniert nicht.« »Mach weiter.« »Ich kann nicht.« »Nur noch... einen Zentimeter.« »O nein...« Aber sie nahm sich zusammen und versuchte es wieder. Der Ruck und das hörbare Knirschen, als der Knochen sich über den Gelenkrand zu schieben begann, erstaunten sie. »Jetzt...«, sagte ich. »Handgelenk nach oben über die Schulter... nicht zu schnell.« Zwei weitere schreckliche Knirschgeräusche, die schönste Melodie auf Erden. Der Eingang zur Hölle schloß sich wieder. Ich stand auf. Lächelte wie die Sonne, die nach einem Regen herauskommt. »Das war’s«, sagte ich. »Vielen herzlichen Dank.« 247
Sie war völlig verblüfft. »Willst du damit sagen... daß der Schmerz schlagartig verschwindet, einfach so?« »Einfach so.« Sie betrachtete die Verwandlung, die sie in mir ausgelöst hatte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich legte meinen rechten Arm um sie und drückte sie an mich. »Warum läßt du das verdammte Ding nicht reparieren?« fragte sie. »Soviel steht fest, ich lasse keine orthopädische Operation mehr über mich ergehen, wenn es nicht unbedingt sein muß.« Sie schniefte die Tränen weg. »Du bist ein Feigling.« »Absolut.« Ich ging mit ihr in Vics Büro. Wir standen am Türeingang und schauten hinein. Er lag neben dem Fenster, mit dem Gesicht nach unten, und das grelle Rot, das aus seinem Rücken trat, biß sich mit dem Lila seines Hemdes. Was immer er mir auch angetan hatte, ich hatte ihm Schlimmeres angetan. Weil ich ihn unter Druck gesetzt hatte, war er jetzt tot. Mir war bewußt, daß mich ein Leben lang ein nagendes Gefühl der Schuld und Reue verfolgen würde. »Ich habe so halb gesehen, wer ihn getötet hat«, sagte ich. »Nur halb?« »Es genügt.« Der unauslöschliche Eindruck hatte Kontur angenommen. Alles schien klarer geworden zu sein. Wir wandten uns ab. Das Geräusch eines heranfahrenden Wagens wurde laut, man hörte zuschlagende Türen und die schweren Schritte von drei oder vier Personen. »Die Polizei«, sagte Sophie erleichtert. Ich nickte. »Laß uns bloß nichts unnötig komplizieren, ja? Wenn sie erst einmal mit den Streitigkeiten zwischen mir und Vic anfangen, sitzen wir die ganze Nacht hier.« »Du bist unmoralisch.« 248
»Nein... faul.« »Ist mir auch schon aufgefallen.« Die Polizisten gingen mit ihren üblichen rüden Manieren ans Werk und hoben sich ihren Vorrat an Mitleid für edlere Fälle wie alte Damen und verlaufene Kinder auf. Sie warfen einen Blick ins Büro, forderten telefonisch Verstärkung an und baten uns ziemlich von oben herab, ihnen zu erklären, was wir hier eigentlich zu suchen hätten. Ich unterdrückte verärgert den Impuls, sie darauf hinzuweisen, daß wir uns ebensogut still und leise aus dem Staub hätten machen können, damit jemand anderer Vics Leiche fand. Der Tugend Lohn allein war meistens der Mühe nicht wert. Doch sowohl zu diesem Zeitpunkt wie auch später, als die höheren Chargen eintrafen, sagten wir nur das Nötigste und hielten uns im übrigen bedeckt. Meine Aussage lautete im wesentlichen: »Als ich ankam, war der vordere Teil des Hauses nicht beleuchtet. Ich kenne das Haus flüchtig. Daher bin ich außen herum gegangen, um zu sehen, ob Vic in seinem Büro ist. Wir hatten locker verabredet, daß ich gegen sechs Uhr auf ein paar Minuten bei ihm hineinschauen sollte. Ich war nach Esher unterwegs, weil ich Miss Randolph nach Hause fuhr, und machte kurz bei Vic Halt, wobei ich draußen meinen Wagen auf der Straße parkte und die Auffahrt zum Haus zu Fuß hochlief. Ich konnte ihn in seinem Büro sehen. Ich sah, wie er gegen das Fenster stürzte und dann zusammenbrach. Ich rannte wieder nach vorn, um ins Haus zu gelangen und ihm zu helfen. Da startete gerade ein heller Cortina. Er ist wie der Blitz davongefahren, aber ich konnte einen kurzen Blick auf den Fahrer werfen. Ich habe den Fahrer erkannt.« Sie hörten sich ungerührt meine Identifizierung des Täters an, weder erfreut noch skeptisch. Ob ich eine Waffe gesehen hätte, fragten sie. In Vics Büro war keine Waffe gefunden worden.
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»Nein«, sagte ich. »Ich habe nur den Kopf des Fahrers gesehen.« Sie brummten und wandten sich Sophie zu. »Jonah hat mich im Auto warten lassen«, sagte sie. »Dann kam dieser andere Wagen mit wahnwitziger Geschwindigkeit aus der Ausfahrt geschossen. Ich beschloß, nachzuschauen, ob auch alles in Ordnung war. Ich bin hierhergelaufen und fand Jonah vor dem Haus. Die Haustür stand offen, darum sind wir hineingegangen. Wir fanden Mr. Vincent in seinem Büro auf dem Boden liegen. Wir haben Sie sofort angerufen.« Wir saßen fast drei Stunden in Vics schönem Eßzimmer, wahrend die letzten Minuten seines Lebens von nüchternen Profis auseinandergenommen wurden, für die Mord zum Alltag gehörte. Sie schalteten jede verfügbare Lampe ein und ließen sich noch zusätzliche kommen, und unter dem gleißenden Licht wurde ihr Gastgeber noch mehr zum bloßen Objekt, bar aller menschlichen Züge. Vielleicht brauchten sie das, ihn wie ein Ding zu sehen, nicht wie eine Person. Mir wollte das einfach nicht gelingen. Schließlich durfte ich Sophie nach Hause fahren. Ich parkte vor ihrer Tür, und wir stiegen in gedämpfter und deprimierter Stimmung zu ihrer Wohnung hinauf. Sie kochte uns Kaffee, den wir in der Küche tranken. »Hungrig?« fragte sie. »Ich glaube, es ist noch Käse da.« Wir krümelten geistesabwesend kleine Käsebrocken ab, die wir mit den Fingern aßen. »Was wirst du tun?« fragte sie. »Darauf warten, daß sie ihn schnappen, glaube ich.« »Er wird nicht fliehen... Er weiß ja nicht, daß du ihn gesehen hast.« »Nein.« Sie sagte ängstlich: »Er weiß es doch nicht... oder?« »Wenn er mich gesehen hätte, wäre er zurückgekommen und hätte uns beide erschossen.«
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»Du hast immer die hübschesten Vorstellungen.« Der Abend hatte dunkle Ringe unter ihren Augen hinterlassen. Sie sah mehr als nur müde aus: überstrapaziert, überanstrengt. Ich gähnte und sagte, daß ich mich wohl auf den Weg machen müsse, und es gelang ihr nicht, ihre immense Erleichterung vor mir zu verbergen. Ich lächelte. »Kommst du allein zurecht?« »Aber ja.« Absolute Sicherheit lag in ihrer Stimme. Das Alleinsein bot ihr Trost, Heilung und Erholung. Ich konnte das nicht bieten. Ich hatte ihr einen Autounfall, einen Mann mit einer Heugabel, eine Knocheneinrenkung und einen Mord beschert, einen alkoholkranken Bruder, ein halb heruntergebranntes Heim und eine überstürzte Verlobung. Nichts von alledem war dazu angetan, das Wohlempfinden einer Frau zu fördern, die die Regelmäßigkeit und die Ruhe eines elfenbeinernen Kontrollturms brauchte. Sie begleitete mich zu meinem Wagen nach unten. »Kommst du wieder?« fragte sie. »Wenn du es willst.« »Eine Dosis Dereham einmal die Woche...« »Ist genug, um jede Frau abzuschrecken?« »Nein, das auch wieder nicht.« Sie lächelte. »Es ist vielleicht nicht so gut für die Nerven, aber wenigstens weiß ich dann, daß ich lebe.« Ich lachte und gab ihr einen brüderlichen Kuß, in dem keine Forderung lag. »Das paßt mir ganz gut.« »Wirklich?« »Wirklich und wahrhaftig.« »Ich bitte dich nicht darum«, sagte sie. »Das solltest du aber, verdammt noch mal.« Sie grinste. Ich setzte mich hinter das Steuer. Die Augen in ihrem erschöpften Gesicht blickten jetzt ruhiger. »Schlaf gut«, sagte ich. »Ich ruf dich morgen an.«
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Der Nachhauseweg kam mir lang vor. Meine Schulter tat weh: ein schwaches Echo, aber nachhaltig. Ich dachte sehnsüchtig an einen starken Brandy und unterdrückte einen Seufzer in Anbetracht der weniger belebenden Aussicht auf eine Cola. Als ich zurückkam, war das Haus dunkel. Kein Licht, kein Crispin. Mist, dachte ich. Er hatte kein Auto mehr; kein Fortbewegungsmittel außer seinen Füßen. Der einzige Ort, wohin ihn seine Füße unweigerlich trugen, war direkten Wegs zur Quelle des Gins. Ich parkte wie immer vor der Küche, machte die unverschlossene Hintertür auf, ging hinein, knipste das Licht an und rief durchs Haus. »Crispin?« Keine Antwort. »Crispin.« Absolute Stille. Ich fluchte in mich hinein und ging weiter in mein Büro, wo ich die Kneipe anrufen und fragen wollte, in welchem Zustand er sich befand. Wenn er schon allzu hinüber war, würde ich hinfahren und ihn abholen. Ich hatte gerade den Hörer von der Gabel genommen und zu wählen begonnen, als ich hörte, wie hinter mir die Tür in ihren Scharnieren knarrte. Also war er doch nicht fortgegangen. Ich drehte mich schon halb lächelnd um und wollte ihn beglückwünschen. Es war nicht Crispin, der hereingekommen war. Ich blickte auf die schwere Pistole mit der Schalldämpferverlängerung, und in meinem Kopf bildeten sich wie bei Vic die eindringlichen Worte Nein und Mein Gott und Warte.
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17 »Legen Sie auf«, sagte er. Ich betrachtete den Hörer in meiner Hand. Ich hatte die Nummer nur zur Hälfte gewählt. Schade. Ich tat, was er mir sagte. »Ich habe Sie bei Vic gesehen«, sagte ich. »Das habe ich auch der Polizei erzählt.« Die Pistole bebte nur ganz schwach. Das runde schwarze Loch zeigte nach wie vor auf mein Herz. Ich hatte gesehen, was es aus Vic gemacht hatte, und ich machte mir keine Illusionen. »Ich habe mir gedacht, daß Sie da waren«, sagte er. »Wie sind Sie darauf gekommen?« »Ein Wagen, der neben der Hecke parkte... Hab ihn gesehen, als ich fortfuhr. Nach ungefähr zwölf Meilen wurde mir klar, daß es Ihrer war. Ich fuhr zurück... aber da wimmelte es nur so von Polizisten.« Meine Zunge fühlte sich groß und schwer an. Ich blickte auf die Pistole, und mir fiel nichts Nützliches ein, was ich sagen konnte. »Sie und Vic«, sagte er. »Sie dachten, daß Sie mich in die Ecke gedrängt hätten. Tja. Ihr Fehler.« Ich schluckte mit Mühe. »Ich habe Sie gesehen«, wiederholte ich, »und die Polizei weiß Bescheid.« »Vielleicht. Aber die werden sich ganz schön anstrengen müssen, mir was anzulasten, wenn Sie nicht mehr am Leben sind, um es zu bezeugen.« Ich blickte mich verzweifelt um, auf der Suche nach irgend etwas, das ihn ablenken konnte. Nach einer Waffe, mit der ich ihn angreifen konnte. Er lächelte milde. »Es hat keinen Zweck, Jonah. Ende der Vorstellung.«
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Er streckte seinen Arm aus und brachte ihn in jene Schußposition, derer sich Leute bedienen, die genau wissen, was sie tun. »Sie werden nicht viel merken«, sagte er. Die Tür hinter ihm bewegte sich in den Angeln, während er schon dabei war, auf den Abzug zu drücken. Die plötzliche Verlagerung meiner Aufmerksamkeit von der morbiden Faszination des todbringenden runden Lochs auf einen Punkt hinter seinem Rücken genügte, seine Hand zucken zu lassen. Es genügte tatsächlich. Die Flamme schoß hervor, und die Kugel verfehlte mich. Crispin stand in der Tür und blickte entsetzt auf die Szene. Er schwenkte eine schwere, grüne Flasche Gin. »Und jetzt: Holt auf!« sagte er klar und deutlich. Er ist gar nicht betrunken, dachte ich ungläubig. Sondern er teilt mir mit, daß ich eine Angriffstaktik aus dem Rugby anwenden soll, die wir vor ewiger Zeit als kleine Jungen eingeübt hatten. Instinktiv, noch schneller als ich denken konnte, machte ich das Täuschungsmanöver und stürzte mich vor den Knien unseres Besuchers zu Boden. Die Kanone richtete sich nach unten auf mich, und Crispin schlug dem Mann mit der Ginflasche heftig auf den Kopf. Die Pistole wandte sich wieder von mir ab, es fiel ein Schuß, ich schnellte hoch und ergriff den einzigen schweren Gegenstand in Reichweite, was zufällig meine Schreibmaschine war. Ich schleuderte sie mit aller Kraft dorthin, wo schon die Ginflasche gelandet war, und der Besucher streckte auf dem Fußboden alle viere von sich, wobei ihm Blut aus dem Schädel schoß und sich das Farbband der Schreibmaschine über sein ohnmächtiges Gesicht hinweg bis zur Wand abrollte. »Du schwachsinniger alter Irrer«, sagte ich atemlos und wandte mich Crispin zu. »Du wunderbarer alter...«
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Meine Stimme erstarb. Crispin war halb sitzend, halb liegend zu Boden gegangen und preßte seine Hand gegen die Seite. »Crispin!« »Ich bin... nicht... betrunken«, sagte er. »Natürlich nicht.« »Ich glaube... er hat mich erschossen.« Sprachlos kniete ich neben ihm nieder. Er sagte: »War er derjenige... der den Hof abgefackelt hat?« »Ja.« »Hoffentlich... hast du ihn getötet.« Sein Körper sackte zusammen. Ich fing ihn auf. Ließ ihn mit einer Hand sanft auf den Boden gleiten und griff mir mit der anderen ein Kissen für seinen Kopf. Seine Finger entspannten sich und sanken schlaff zur Seite, und dort, an seinem Hosenbund, breitete sich ein großer Blutfleck aus. »Ich schwebe...«, sagte er. Er lächelte. »Besser... als... betrunken sein.« »Ich hole einen Arzt«, sagte ich. »Nein... Jonah... Laß mich nicht allein... du Mistkerl.« Ich ließ ihn nicht allein. Drei Minuten später, ohne noch einmal gesprochen zu haben, ließ er mich allein. Ich schloß ihm sanft die Augen und richtete mich steif auf, versuchte, mich von dem tauben Gefühl wie in einen Mantel hüllen zu lassen. Die Pistole lag dort, wo sie hingefallen war. Ich schob sie vorsichtig mit der Fußspitze unter den tiefhängenden Sessel, bis sie nicht mehr zu sehen war. Ich wollte nicht, daß mein Besucher aufwachte und sie erneut zu packen bekam. Der Besucher hatte sich nicht gerührt. Ich setzte mich auf die Ecke meines Schreibtischs und schaute auf die beiden hinunter, den Ohnmächtigen und den Toten. Es blieb noch genügend Zeit, meine mehr oder minder stetigen Begleiter, die eifrigen und ermittelnden Polizisten zu 255
rufen. Eine Viertelstunde früher oder später, was machte das für einen Unterschied. Es gab nichts mehr, was noch gewonnen werden konnte. Zuviel war unwiederbringlich verloren. Es war mir egal, wieviel Schaden ich mit der Schreibmaschine angerichtet hatte. Der Kopf, den ich eingeschlagen hatte, sah eher blutig denn eingedrückt aus, aber ich verspürte eine starke Abneigung dagegen, es genauer festzustellen. Nie im Leben hatte ich jemanden töten wollen, hatte nicht einmal im Traum daran gedacht, daß so etwas jemals und im entferntesten für mich in Betracht käme. Ich hatte nicht einmal beabsichtigt, mit der Schreibmaschine zu töten, sondern nur, zu betäuben. Ich saß reglos auf dem Schreibtisch, während mich innerlich die Wut schüttelte, und ich wünschte mir, diesen Schlag wiederholen zu dürfen, damit ich ihn wuchtiger ausführen konnte, als tödlichen Racheakt. Was immer mein Bruder auch gewesen war, er war mein Bruder. Niemand hatte das Recht, ihn zu töten. Ich glaube, in diesem Moment hatte ich so primitive Gelüste wie ein Sizilianer. Aus Gier hatte dieser Besucher sich daran gemacht, mich zu vernichten. Nicht, weil ich ihm irgendwie geschadet hatte. Sondern nur, weil ich ihm auf seinen Beutezügen im Weg stand. Er hatte mir eine Nachricht überbringen lassen: mach mit oder laß dich plattwalzen, ein Ultimatum, das so alt war wie die Tyrannei. Es war meine eigene Schuld, so hatte man mir unermüdlich eingetrichtert, wenn die Alternative, die ich wählte, bedeutete, plattgewalzt und verdammt zu werden. Kerry Sanders war nur ein bequemer Anlaß gewesen, der sich geboten hatte. Hätte sie nicht die Idee gehabt, jemandem ein Pferd zum Geburtstag zu schenken, wäre ein anderer Weg gefunden worden. In der Absicht lag die Antriebskraft. Die Mittel waren zufällig. 256
Mir fiel wieder ein, was Pauli Teksa während des Abendessens in Newmarket gesagt hatte. Ich konnte mich an seine genauen Worte erinnern. Das klassische Gesetz des Eroberers bestehe darin, sich den stärksten Typen herauszusuchen und ihn zu zermatschen, damit die Schwächeren sanft wie die Lämmer angelaufen kamen. Nacheinander hatte ich mir diesen Mann, der jetzt auf meinem Teppich lag, als den ›Jemand‹ vorgestellt, als ›den Experten‹, als ›Vics Freund‹ als den ›Autofahrer‹ und als den ›Besucher‹; Paulis Begriff – der ›Eroberer‹ – traf am besten auf ihn zu. Er hatte die Arena des Vollbluthandels mit der Moral eines Gangsters erobert. Vics Leben und seine Geschäfte als ein gefährlicher Verbündeter erobert. Meines als Zerstörer erobert. Die Tatsache, daß ich mich nicht in der Rolle sah, die er für mich ausgesucht hatte, war dabei unwesentlich. Auf den Blickwinkel des Eroberers, auf den kam es an. Pech für mich, daß er mich für den stärksten Kerl gehalten hatte. Gegen einen entschlossenen Eroberer hat man keine Chance. Wenn man gleich nachgibt, verliert man. Wenn man bis aufs Blut kämpft, verliert man auch, selbst wenn man gewinnt. Denn der Preis für den Sieg ist hoch. Kurz bevor er nach Amerika zurückfliegen wollte, hatte Pauli Teksa gesagt, es sei einfacher, die Dinge ins Rollen zu bringen, als sie aufzuhalten. Er hatte mich gewarnt: Wenn ich mich gegen Vic wehrte, würde ich hinterher in noch größere Schwierigkeiten geraten als vorher. Er hatte recht behalten. Aber er hatte auch sich selbst gemeint. Pauli Teksa, der Eroberer, lag mit dem Gesicht nach unten auf meinem Teppich, meine zertrümmerte Schreibmaschine neben seinem blutverschmierten Kopf. Der stämmige, zähe, breitschultrige Körper sah wie ein solides Muskelpaket aus. Das kräuslige schwarze Haar war 257
verfilzt und einzelne Strähnen rot getränkt. Ich konnte die Hälfte seines Gesichts sehen; das starke, klar geschnittene Profil mit dem entschlossenen Mund, der jetzt schlaff nach unten hing, das sonst so flinke Auge geschlossen. Seine Hände lagen locker am Boden, zu beiden Seiten seines Kopfes. Er trug zwei dicke Goldringe. Eine Armbanduhr aus Gold und Platin. Schwere goldene Manschettenknöpfe. Die Spitze des Goldbergs, den er mit Vics Hilfe abgetragen hatte. Es schien mir ziemlich wahrscheinlich, daß seine englische Eskapade eine Fortsetzung seiner Aktivitäten in der Heimat darstellte. Das äußerst aggressive Abdrückersystem war zu reibungslos betrieben worden, als daß es nur ein Probelauf gewesen sein konnte. Vielleicht tanzten auch in anderen Ländern Marionetten wie Vic an seinen Fäden. Vielleicht begaunerten andere Vics in Südamerika und Italien und Japan die einheimischen Constantines und Wilton Youngs für seine Zwecke und brachten die Antonia Huntercombes an den Rand der Verzweiflung. Vic und Fynedale waren, im Vergleich zu ihm, Amateure gewesen. Fynedale, der sich in eine rasende, mörderische Wut gesteigert hatte. Ein leicht aufbrausender Vic, der immer kurz vor dem Schlaganfall stand. Pauli blieb kühl, verließ sich auf seine Augen und traf seine Entscheidungen mit einem Fingerschnipsen, und wenn er mit der Notwendigkeit des Tötens konfrontiert wurde, tat er es, ohne mit der Wimper zu zucken. Das war für ihn dann eine tragische Notwendigkeit, die man am besten schnell hinter sich brachte. Er hatte mir sogar in einer Anwandlung makabrer Gnade gesagt, daß ich nicht viel merken würde, und ich glaubte ihm. Ich hatte irgendwo gehört, daß angeschossene Leute erzählten, sie hätten lediglich einen dumpfen Aufprall verspürt und erst danach festgestellt, daß sie verletzt worden seien. Wenn einem jedoch ins Herz geschossen wurde, gab es kein Danach mehr, das war’s dann. 258
Er hatte mich persönlich mehrmals gedrängt, mich mit Vic zusammenzuschließen, mit dem Strom zu schwimmen. Er hatte mich vor den Gefahren gewarnt, die mir blühten, wenn ich mich widersetzte. Er hatte mir den Rat als Freund erteilt, und hinter dem Lächeln hatte ein Feind gelauert, der so kalt war wie ein bürokratischer Verwaltungsakt. Langsam wurde mir bewußt, daß er vielleicht irgendwann tatsächlich alles versucht hatte, um das zu beenden, was er ins Rollen gebracht hatte. Er hatte sich einer Forderung von Vic widersetzt, und er war nach Amerika zurückgefahren. Aber da war es schon zu spät gewesen, denn durch die Brandlegung an meinen Stallungen hatte er bewirkt, daß meine Toleranz in Rache umschlug. Schlag mich, und ich schlage zurück. So wie Kriege beginnen, die großen wie die kleinen. Pauli, auf dem Boden, rührte sich. Er war keineswegs tot. Auf der anderen Seite des Zimmers lag die Ginflasche, dort, wo Crispin sie fallen gelassen hatte. Ich rutschte von der Schreibtischkante hinunter und ging, um sie aufzuheben. Wenn Pauli wieder aus seiner Ohnmacht erwachte, groggy oder nicht, traute ich ihm genausowenig, wie ich in der Lage war, das Empire State Building von mir zu werfen. Ein beherzter Schlag mit dem grünen Glas auf den Schädel würde nichts weiter sein als eine weise Vorsichtsmaßnahme. Ich schaute mir die Flasche näher an. Sie war voll. Abgesehen davon war das Siegel noch intakt. Ich ging wieder zu meinem Schreibtisch zurück, stellte die Flasche darauf und schaute mit unbändiger Trauer auf meinen Bruder hinunter. Ich wußte, daß ich ihn ebenso brauchte, wie er mich gebraucht hatte. Er gehörte zu den Wurzeln meines Lebens. Pauli rührte sich aufs neue. Der Drang, das zu vollenden, was ich begonnen hatte, war fast überwältigend. Niemand würde es 259
jemals erfahren. Niemand würde wissen, ob er zwei oder drei Schläge über den Schädel bekommen hatte. Jemanden zu töten, der versuchte, einen selbst zu töten, war vor dem Gesetz zu rechtfertigen, und wer würde jemals ahnen, daß ich ihn erst zehn Minuten später getötet hatte. Der Augenblick kam und verging wieder. Plötzlich war mir kalt, und ich fühlte mich alt und einsam und hundemüde. Ich streckte die Hand nach dem Telefon aus, um die Bullen zu rufen. Es klingelte, bevor ich es berührt hatte. Ich nahm den Hörer ab und sagte tonlos: »Hallo?« »Mr. Crispin Dereham?« Eine höfliche Männerstimme. »Ich bin sein Bruder«, sagte ich. »Könnte ich ihn sprechen?« »Ich fürchte...«, sagte ich, »er ist... unabkömmlich.« »Herrje.« Die Stimme klang warm und voller Mitgefühl. »Ja... also ich bin von den Anonymen Alkoholikern. Ihr Bruder hat vorhin bei uns angerufen und um Hilfe gebeten, und wir haben ihm versprochen, zurückzurufen, um noch ein bißchen länger mit ihm zu plaudern...« Er sprach noch eine Zeitlang weiter, aber ich hörte kein Wort von dem, was er sagte.
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