Menzoberranzan, die prachtvolle, grausame Stadt, Heimat todbringender Schwertkämpfer und diabolischer Nekroman ten, da...
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Menzoberranzan, die prachtvolle, grausame Stadt, Heimat todbringender Schwertkämpfer und diabolischer Nekroman ten, das strahlendste Juwel in der weiten unterirdischen Welt des Unterreichs, die stolzeste Errungenschaft jener finsteren Rasse namens Drow. Menzoberranzan, ein Ort, der ein Geheimnis in sich birgt, eine Schwäche, die seine eigene Vernichtung bewirken kann. Als die Mächte versiegen, die die Stadt am Leben erhalten, strömen Feinde aus allen Winkeln der Finsternis ringsum her bei und überschwemmen Menzoberranzan. Und welcher Feind könnte für einen Drow schlimmer sein als ... ein anderer Drow?
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Vergessene Reiche R.A. Salvatores
DER KRIEG DER SPINNENKÖNIGIN BAND 1
Zersetzung
RICHARD LEE BYERS
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Autor: Deutsch von: Lektorat: Korrektorat: Art Director, Satz und Layout: Umschlagillustration:
Richard Lee Byers Ralph Sander Oliver Hoffmann Angela Voelkel / Thomas Russow Oliver Graute Brom
ISBN 978-3-935282-84-0 Originaltitel: Dissolution
© der deutschen Ausgabe Feder&Schwert, Mannheim, 2003.
4. Auflage 2006
Gedruckt in Deutschland, C. H. Beck, Nördlingen
Zersetzung ist ein Produkt von Feder&Schwert.
© 2002 Wizards of the Coast, Inc. All rights reserved.
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Für Ann
Danksagung
Danke an meinen Lektor Phil Athans und an Bob Salvatore
für die Leitung dieses Projekts.
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Es war ein Aufflackern von Klarheit in den nebligen Reichen des schattenhaften Chaos. Nichts war dort so, wie es schien, alles war unweigerlich viel heimtückischer und gefährlicher. Doch dies hier, dieses kristalline Glitzern eines einzelnen seidenen Fadens, leuchtete so hell, daß es sie aufmerksam werden ließ. Es zeigte ihr alles, was war und was schon bald sein würde – und was sie selbst war und sein würde. Der Lichtschimmer im finsteren Abgrund versprach Erneuerung und größeren Ruhm, und dieses Versprechen wurde dadurch ver süßt, daß Gefahren angedeutet wurden, Todesgefahren für ein Wesen, das von Natur aus unsterblich war. Auch das war Verlo ckung, war eigentlich die größte Freude des Werdens. Die Furcht, nicht das Böse war die Mutter des Chaos, und das Unterhaltsame am Chaos war die beständige Angst vor dem Unbekannten, waren die sich verändernden Grundlagen für alles, das Wissen, daß jede Wendung in die Katastrophe führen konnte. Es war etwas, das die Drow nie völlig verstanden und zu schät zen gewußt hatten, und sie bevorzugte diese Unwissenheit. Für die Drow war das Chaos ein Mittel zur persönlichen Bereicherung. Im hektischen Leben der Drow gab es keine geraden Karriereleitern. Doch sie wußte auch, daß die Schönheit nicht im Aufstieg lag. Schönheit lag im Augenblick, in jedem Augenblick des Daseins im Wirbel des Unbekannten, im Strudel des wahren Chaos. Dies war also eine Vorwärtsbewegung, doch in ihr gab es eine unbekannte Größe, ein Risiko, daß das Chaos ihrer Welt zu größe ren Höhen aufsteigen und zu nicht abschätzbaren Überraschungen führen könnte. Sie wünschte sich, voller bei Bewußtsein bleiben zu können, um alles mitzuerleben, alles in sich aufzunehmen.
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Doch das war nicht so wichtig. Selbst im Inneren würde sie sich an deren Angst, am Verlangen deren Ehrgeizes ergötzen können. Das Glitzern eines seidenen Saums, das den ewigen, grauen Ne bel der wirbelnden Ebene durchschnitt, erfüllte diese launenhafte Kreatur mit einem einzigen Ziel und erinnerte sie daran, daß es Zeit war, höchste Zeit sogar. Die Kreatur wandte ihren Blick kein einziges Mal von diesem Glitzern ab, während sie sich langsam drehte und sich in den einzel nen Faden wickelte – den ersten von Millionen von Fäden. Der Beginn der Metamorphose, des Versprechens.
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Gromph Baenre, Erzmagier von Menzoberranzan, schnippte mit langen, obsidianfarbenen Fingern. Die Tür zu seinem Ar beitszimmer, ein schwarzes, marmornes Rechteck, das mit winzigen Runen übersät war, fiel lautlos zu und verriegelte sich von selbst. Nachdem der Drow-Magier sicher war, daß niemand ihn se hen konnte, erhob er sich von seinem Schreibtisch aus weißen Knochen, stellte sich vor die schwarze Wand und beschrieb mit seinen Händen ein komplexes Muster. In der gepunkteten Kalkspat-Oberfläche öffnete sich ein zweiter Durchgang. Gromph, dessen Dunkelelfensicht durch mangelnde Be leuchtung nicht beeinträchtigt wurde, trat in die Dunkelheit hinter dem neu entstandenen Durchgang. Es gab keinen Bo den, der seinen Schritt hätte abfangen können, und so fiel er einen Moment lang in die Tiefe, ehe er die Macht der Levita
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tion wirken ließ, die ihm die Brosche mit dem Emblem des Hauses Baenre verlieh, ohne die er nirgendwohin ging. Prompt begann er in dem Schacht, der keine erkennbaren Merkmale oder Strukturen aufzuweisen schien, nach oben zu schweben. Die kühle Luft kribbelte und prickelte wie üblich auf seiner Haut, und diesmal brachte sie einen ranzigen, unangenehmen Geruch mit sich. Offenbar hatte sich eine der Kreaturen, die in dieser Pseudoexistenzebene heimisch waren, in dem Durch gang umgesehen. Über ihm bewegte sich etwas. Der widerwärtige Gestank war mit einem Mal intensiver und so stechend, daß er ihm in der Nase brannte und seine scharlachroten Augen tränen ließ. Gromph sah nach oben. Zuerst sah er nichts, doch dann nahm er in der Finsternis eine undeutliche, annähernd eiför mige Gestalt wahr. Der Erzmagier fragte sich, wie es das Tier in den Schacht ge schafft hatte. Das war nie zuvor geschehen. Hatte es ein Loch in die Wand gerissen und sich wie ein Geist hindurchsickern lassen? Oder hatte es möglicherweise etwas noch Seltsameres getan? Vielleicht ... Plötzlich ließ sich die Kreatur herabsinken und setzte Gromphs Überlegungen ein abruptes Ende. Gromph hätte das Geschöpf mühelos mit einem seiner Stä be vernichten können, doch er zog es vor, diese für echte Be drohungen aufzusparen. Stattdessen hob er die Wirkung der Levitationskraft auf und ließ sich durch den Schacht nach unten fallen. Der Sturz würde ihn lange genug von der Bestie fernhalten, um einen Zauber zu wirken. Außerdem mußte er nicht befürchten, auf dem Boden aufzuschlagen, da es hier gar keinen Boden gab. Die mit Juwelen besetzten und mit Sigeln verzierten Ge wänder des Erzmagiers flatterten um ihn herum, während er
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aus seiner Tasche eine Phiole mit Gift zog, sie mit einer klei nen Flamme aus seiner Fingerspitze entzündete und eine Be schwörungsformel sprach. Mit der letzten Silbe streckte er seinen Arm der Kreatur entgegen, und aus seinen Fingerspit zen schoß eine Blase schwarzer, brennender Flüssigkeit. Von Magie getrieben schoß die flammende Flüssigkeit durch den Schacht nach oben, dem herabsinkenden Verfolger entge gen. Die Kreatur stieß ein durchdringendes Summen aus, das wahrscheinlich einen Schmerzensschrei darstellte. Sie taumel te durch die Luft und prallte von einer Wand des Schachts an die andere, während sie tiefer stürzte. Der Leib zischte und warf Blasen, als er von der verspritzten Säure zerfressen wurde, den noch hielt sich das Geschöpf im kontrollierten Steilflug. Gromph mußte zugeben, daß dieses Verhalten etwas Beein druckendes hatte. Eine Giftblase war für die meisten Wesen tödlich, vor allem für die kleinen Schädlinge, denen man an den leeren Orten zwischen den Welten begegnete. Er wirkte einen weiteren Zauber, der einen leeren Kokon entstehen ließ. Der Leib der Bestie schrumpfte und fiel in sich zusammen, und für die Dauer eines Herzschlags glich sie einer hilflos durch die Luft wirbelnden Maus. Dann schwoll sie an und erlangte ihr natürliches Erscheinungsbild zurück. Nun gut, dachte Gromph, dann schneide ich dich eben in Stücke. Er machte sich bereit, einen Hagel aus Klingen heraufzu beschwören, doch genau in diesem Augenblick wurde das Wesen schneller. Gromph hatte nicht erwartet, daß es schneller herabsinken könnte als zuvor, und war auf diesen plötzlichen Ansturm nicht vorbereitet. Im Bruchteil einer Sekunde überwand es die Distanz zwischen ihnen und schwebte genau vor seinem Ge sicht.
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Das Ding hatte ein geschmolzenes, unfertiges Aussehen, das für viele derartige Wesen typisch war. Eine ganze Reihe leer dreinblickender, kleiner Augen und ein sich windender Rüssel saßen schief in dem unförmigen Kopf, der sich kaum von dem gummiartigen Klumpen unterschied, der den Rumpf darstellte. Das Monster besaß keine Flügel, und doch flog es – die Göttin allein wußte, wie. Die Beine waren das ausgeprägteste an dem Wesen. Zehn dürre Beine endeten in Widerhaken, die immer wieder nach Gromph schlugen. Wie erwartet konnte das wilde Gezappel ihm nichts anha ben. Die Zauber, die in Gromphs Piwafwi eingewebt waren – von einem Ring und einem Amulett ganz zu schweigen –, schützten ihn so gut wie ein Rüstung aus Metall. Dennoch ärgerte es ihn, zugelassen zu haben, daß das Geschöpf ihm so nahe kam. Noch gereizter reagierte er allerdings, als er bemerk te, daß die Bemühungen der Kreatur zur Folge hatten, daß ihm winzige rauchende Tropfen seiner eigenen heraufbeschwore nen Säure entgegenflogen. Mit einem Knurren sprach er den letzten Zauber und packte seinen übelriechenden Verfolger. Seine Finger gruben sich in die weiche Masse des Torsos. Sofort entfaltete die Magie ihre Wirkung. Kraft und Vitalität strömten auf so lustvolle Weise in seinen Körper, daß er aufschreien mußte. Wie ein Vampir trank er das Leben seines Gegners. Die flie gende Kreatur summte, schlug aus und wurde schließlich ruhig. Sie wand sich, barst und verweste. Erst als er sicher war, daß er den letzten Rest Leben aus ihr herausgeholt hatte, ließ er sie los. Seine Gedanken kehrten zurück zu dem anhaltenden Fall, in dem er sich befand; er fing sich und stieg wieder auf. Nach einigen Minuten sah er am Kopf des Schachts die Öffnung. Er schwebte hindurch, bekam das Geländer zu fassen und zog sich
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auf den Boden der Werkstatt, dann ließ er sein Gewicht wieder zum Tragen kommen. Seine Gewänder legten sich raschelnd um ihn. Der große, kreisrunde Raum war in fast jeder Hinsicht ein Teil des Turms von Sorcere – jener Schule der Magie, der der Erzmagier vorstand. Doch Gromph hatte Grund zu der An nahme, daß keiner der Meister von Sorcere etwas von seiner Existenz ahnte, auch wenn sie noch so sehr an geheime und magische Architektur gewöhnt waren. Der Raum, der wie das Arbeitszimmer ein Stück tiefer von ewigen Kerzen beleuchtet wurde, war nahezu unauffindbar. Man konnte sein Vorhanden sein nicht einmal erahnen, weil sein Bewohner ihn ein wenig aus dem normalen Raum und dem konventionellen Zeitgefüge verschoben hatte. Zu einem Teil existierte er in der fernen Vergangenheit, in den Tagen Menzoberras des Vaterlosen, des Gründers der Stadt, und zum Teil befand er sich in der fernen, unbekannten Zukunft. Doch auf der Ebene der sterblichen Existenz war die Gegenwart sein Zuhause, und Gromph konn te dort seine höchst geheime Magie in dem sicheren Wissen wirken, daß sie sich auf das Menzoberranzan von heute aus wirkte. Es war ein netter Trick, und manchmal bedauerte er fast, die sieben Gefangenen, allesamt meisterhafte Magier, getötet zu haben, die ihm bei der Errichtung dieses Ortes ge holfen hatten, da sie geglaubt hatten, im Gegenzug die Freiheit wiederzuerlangen. Sie hatten sich als wahre Künstler entpuppt, doch es wäre sinnlos gewesen, eine geheime Zuflucht zu schaf fen, wenn man nicht auch dafür sorgte, daß sie geheim blieb. Gromph wischte sich ein paar Überreste des fliegenden Schädlings von den flinken Händen, während er sich in den Bereich des Raums begab, der eine umfassende Sammlung von magischen Werkzeugen beherbergte. Er summte leise vor sich hin, als er einen spiralförmig geschnitzten Ebenholzstab aus
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seiner aus einem Lindwurm geschaffenen Halterung nahm, dazu ein mit Onyx besetztes eisernes Amulett aus einer mit Samt ausgelegten Schachtel, und eine bösartig geschwungene Athame aus einem Regal wählte, in dem sich zahlreiche ähnli che rituelle Messer befanden. Er roch an diversen Weihrauch töpfen aus Keramik, ehe er sich wie so oft für schwarzen Lotos entschied. Noch während er eine kleine Beschwörung an die dämoni schen Mächte des Abgrunds richtete und ein bronzenes Weih rauchfaß mit einer zahmen kleinen Flamme entzündete, die er nach Belieben beschwören konnte, zögerte er. Zu seiner Über raschung überlegte er tatsächlich, ob er weitermachen wollte. Menzoberranzan befand sich in einer kritischen Lage, auch wenn die meisten Bürger das noch nicht erkannt hatten. An Gromphs Stelle hätte manch anderer Magier diese Situation als einzigartige Gelegenheit gesehen, die eigene Macht zu vergrößern, doch der Erzmagier sah das anders. Die Stadt hatte in den letzten Jahren zu viele Schocks und Rückschläge er leiden müssen. Jeder weitere Umbruch war dazu angetan, ihr ernsthaft zu schaden oder sie gar zu vernichten. Ihm gefiel der Gedanke nicht, in einem Menzoberranzan zu leben, das nur noch ein Zerrbild seines einstigen Glanzes war. Auch wollte er sich nicht als heimatlosen Wanderer sehen, der bei einem gleichgültigen Herrscher irgendeines fremden Reiches um Zuflucht und Beschäftigung bettelte. Er hatte beschlossen, das gegenwärtige Problem zu lösen, nicht, es für seine Zwecke auszunutzen. Der Vorsatz wäre ja schön und gut, wenn ich nicht trotzdem im Begriff wäre, zumindest auf sehr eingeschränkte Weise einen Nut zen daraus zu ziehen, dachte er. Erliege der Versuchung und nutze den sich bietenden Vorteil, auch wenn dadurch der ohnehin schon gefährdete Status Quo weiter destabilisiert wird.
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Gromph schnaubte verächtlich, um diese vorübergehenden, untypischen Befürchtungen aus seinem Kopf zu verjagen. Die Drow waren Kinder des Chaos – des Paradox, des Wider spruchs, vielleicht gar der Verderbtheit. Das war der Quell ihrer Kraft. Warum also nicht gleichzeitig in zwei entgegenge setzte Richtungen gehen? Wann würde er je wieder Gelegen heit bekommen, seine Lebensumstände zu verändern? Er begab sich zu einem der komplexen Pentagramme, die in Gold in den marmornen Boden eingelegt waren, und zeichnete mit der Spitze des schwarzen Stabs die Kurven und Winkel nach, bis er es versiegelt hatte. Dann vollführte er mit der Athame rituelle Bewegungen und sang einen Reim, der zu seinem eigenen Anfang zurückkehrte wie eine Schlange, die sich selbst auffraß. Die erstickende Süße des schwarzen Lotos hing in der Luft. Er spürte, wie die narkotischen Dämpfe sein Bewußtsein in einen Zustand fast schon schmerzhafter Kon zentration und Klarheit erhoben. Er verlor jegliches Zeitgefühl und wußte nicht, ob zehn Mi nuten oder eine Stunde vergangen waren, doch dann kam der Augenblick, an dem er lange genug rezitiert hatte. Der Nie derweltgeist Beradax erschien im Zentrum des Pentagramms und sprang aus dem Boden, als sei er ein Fisch, der von einer Angel aus dem Wasser gerissen wurde. Jahrhunderte der Magie hatten Gromph für das Häßliche und Groteske so sehr abstumpfen lassen, wie das einem Ange hörigen seiner fühllosen Rasse nur möglich war, und doch empfand er Beradax als einen höchst unerfreulichen Anblick. Die Kreatur hatte in etwa die Gestalt einer Drow oder einer Menschenfrau, doch der Körper bestand aus weichen, feucht glänzenden Augäpfeln, die aneinander klebten. Gut die Hälfte von ihnen wies die karmesinrote Iris auf, die für Drow charak teristisch war, während die übrigen blau, braun, grün und grau
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waren – eine Sammlung der Farben, die man für gewöhnlich bei niederen Rassen vorfand. Ihr Körper war in ständigem Fluß, die Form verzerrte sich unablässig, als sich Beradax dem entgegenwarf, der sie hergeru fen hatte. Zum Glück konnte sie den Rand des Pentagramms nicht überschreiten. Mit einem nassen, klatschenden Ge räusch kollidierte sie mit der unsichtbaren Barriere und wurde zurückgeworfen. Unbeeindruckt sprang sie ein zweites Mal, was genauso er folglos verlief. Ihre Abneigung und ihre Boshaftigkeit waren endlos, so daß sie noch eine Million weiterer Versuche unter nommen hätte, hätte Gromph sie gewähren lassen. Er hatte sie gefangen und eingekerkert, doch es war noch mehr nötig, wenn er mit ihr reden wollte. Er stieß sich den Ritualdolch in den Bauch. Beradax wirbelte herum. Die Augäpfel, aus denen sich ihr Magen zusammensetzte, bewegten sich hin und her und erbeb ten. Einige lösten sich aus der Masse, wurden blasser und lös ten sich auf. »Töte dich!« schrie sie, und ihre schrille Stimme war dabei unnatürlich laut. Ihr weit aufgerissener Mund erlaubte einen flüchtigen Blick auf die Augäpfel, die das Innere säumten. »Ich töte dich, Magier!« »Nein, Sklavin, das wirst du nicht«, entgegnete Gromph. Ihm wurde bewußt, daß seine Kehle durch den Gesang und den Weihrauch rauh geworden war und schluckte mehrfach, um dagegen anzugehen. »Du wirst mir dienen. Du wirst dich beruhigen und dich unterwerfen, wenn du die Klinge nicht noch einmal spüren willst.« »Töte dich!« Beradax sprang ihn immer wieder an, während Gromph sich die Athame immer wieder in den Bauch stieß. Schließlich
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brach sie in die Knie. »Ich unterwerfe mich«, grollte sie. »Gut.« Gromph zog die Athame heraus. Weder sein Ge wand noch sein Fleisch hatten Schaden genommen, was ihm zeigte, daß der Zauber, der auf dem Messer lag, genau so ge wirkt hatte wie erwartet und nur den Dämon, aber nicht ihn verletzt hatte. »Was willst du, Dunkelelf?« fragte das abscheuliche Wesen. »Informationen? Sag es mir, damit ich meinen Auftrag erledi gen und ich mich wieder auf meinen Weg machen kann.« »Keine Informationen«, erwiderte der Drow. Er hatte den ganzen Monat einen Niederweltgeist nach dem anderen geru fen, doch keiner hatte ihm das sagen können, was er in Erfah rung bringen wollte. Er war sicher, daß Beradax ihm auch nicht helfen konnte. »Ich möchte, daß du meine Schwester Quenthel tötest.« Gromph haßte Quenthel schon lange. Sie behandelte ihn wie einen Untergebenen, obwohl auch er ein Baenre war, ein Adliger aus dem Ersten Haus Menzoberranzans – und ganz nebenbei noch einer der größten Magier der Stadt. Ihrer An sicht nach, dachte er, haben nur Hohepriesterinnen es ver dient, mit Respekt behandelt zu werden. Seine Antipathie hatte sich noch verstärkt, als sie beide versucht hatten, sich als Berater ihrer Mutter, der Muttermat rone der Baenre, zu betätigen, der ungekrönten Königin Men zoberranzans. Wie nicht anders zu erwarten, waren sie in jeder Angelegenheit gegensätzlicher Ansicht gewesen, ganz gleich, ob es Handel, Krieg oder Bergbau betraf. Sie hatten einander das Leben zur Hölle gemacht. Gromphs Abneigung hatte einen neuen Höhepunkt er reicht, als Quenthel zur Herrin Arach-Tiniliths bestimmt wor den war, der Priesterinnenschule. Die Herrin leitete die gesam
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te Akademie, Sorcere eingeschlossen, und damit war Gromph in die Situation geraten, sich auch an diesem einstigen Ort der Zuflucht mit ihr auseinandersetzen zu müssen und – mehr noch – unter ihrer Überwachung zu leiden. Er hätte Quenthels Arroganz und ständige Einmischung vielleicht ertragen können, wäre nicht völlig unerwartet ihre Mutter gestorben. Die ehemalige Muttermatrone zu beraten war mehr eine Ehre als eine Freude gewesen. Im Allgemeinen ignorierte sie jeden Ratschlag, und ihre Stellvertreter konnten sich glücklich schätzen, wenn sie es dabei beließ. Mehr als einmal reagierte sie auf Vorschläge mit brutalen Wutausbrüchen. Doch Triel, Gromphs andere Schwester und die neue Führe rin des Hauses Baenre, hatte sich mit der Zeit als Herrscherin von einem grundlegend anderen Schlag erwiesen. Sie war unentschlossen und fühlte sich von der Verantwortung er drückt, die ihr neuer Posten mit sich brachte, weshalb sie in hohem Maße auf die Meinung ihrer Geschwister angewiesen war. Das bedeutete, daß der Erzmagier, auch wenn er »nur ein Mann« war, theoretisch durch sie über Menzoberranzan herr schen konnte und sie mit seinem Ratschlag alles beschließen ließ, was ihm von Nutzen war. Doch praktisch war das nur möglich, wenn er die andere Beraterin der Matrone, die so verdammt überzeugende Quenthel, aus dem Weg räumte, die nach wie vor in fast jeder Angelegenheit auf Gegenkurs zu ihm ging. Schon lange spielte er mit dem Gedanken an ein Atten tat auf sie, doch die gegenwärtige Situation war eine Gelegen heit, der er nicht widerstehen konnte. »Du schickst mich in den Tod!« protestierte Beradax. »Dein Überleben oder dein Tod sind nicht wichtig«, erwi derte Gromph. »Mein Überleben zählt. Außerdem kann es
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sein, daß du nicht sterben mußt. Arach-Tinilith hat sich ver ändert, wie du zweifellos weißt.« »Die Akademie wird immer noch von den alten Zaubern geschützt.« »Ich werde die Hindernisse für dich aus dem Weg räumen.« »Ich werde das nicht tun!« »Unsinn. Natürlich wirst du es tun. Du hast dich unterwor fen und mußt gehorchen. Hör auf zu plappern, bevor ich meine Geduld verliere.« Er griff nach der Athame, und augenblicklich schien Bera dax jeden Mut zu verlieren. »Also gut, Magier. Schick mich los und sei verdammt. Ich werde sie töten, so wie ich dich eines Tages abschlachten wer de.« »Du kannst jetzt noch nicht gehen. Ganz gleich, wieviel du auch tobst, du gehörst zur untersten Sorte von Niederweltgeis tern, eine Made, die über den Grund der Hölle kriecht. Doch heute Nacht wirst du die Gestalt eines wahren Dämons an nehmen, um bei den Bewohnern des Tempels einen angemes senen Eindruck zu hinterlassen.« »Nein!« Gromph nahm den Stab in beide Hände, hob ihn hoch und rief die Worte der Macht. Beradax heulte vor Schmerz auf, als sich die Augäpfel verschoben, um ein entschieden anderes Aussehen anzunehmen. Anschließend begab sich Gromph wieder in sein Arbeits zimmer. Er hatte eine Verabredung mit einer anderen Art von Agent.
Während Pharaun Mizzrym und Ryld Argith in der kühlen
Luft spazierengingen, die frischer war als jene in Melee
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Magthere, sah letzterer auf Tier Breche und bemerkte, daß er seit Tagen keinen Fuß mehr vor die Tür gesetzt hatte. Er fragte sich, warum er sich eigentlich diesen atemberaubenden An blick entgehen ließ. Tier Breche, die Heimat der Akademie seit Gründung dieser Institution, war eine riesige Höhle, in der die Arbeit zahlloser Zauberwirker, Kunsthandwerker und Sklaven gigantische Sta lagmiten und andere Gesteinsblöcke in drei ganz außerge wöhnliche Zitadellen verwandelt hatte. Im Osten erhob sich das pyramidenförmige Melee-Magthere, wo Ryld und andere wie er aus unerfahrenen jungen Drow Krieger machten. An der westlichen Mauer stand der mit zahllosen Spitzen bewehrte Turm Sorceres, wo Pharaun und seine Kollegen Magie lehrten, während im Norden die größte und beeindruckendste aller Schulen stand, Arach-Tinilith, ein Tempel, der der achtbeini gen Form einer Spinne nachempfunden war. In ihm bildeten die Priesterinnen Lolths, der Göttin der Spinnen, des Chaos, der Mörder und des Volks der Drow, junge weibliche Dunkelel fen aus, damit sie ihrer Gottheit dienten. So prachtvoll Tier Breche aber anzusehen war, in einem größeren Rahmen betrachtet handelte es sich nur um ein klei nes Detail einer noch viel grandioseren Szene. Die Akademie war in einer Seitenhöhle untergebracht, einer versteckten Öffnung in halber Höhe der Wand eines wahrhaft prachtvol len Gewölbes. Die Hauptkammer war über drei Kilometer breit und 300 Meter hoch, und all das füllte Menzoberranzan aus. Auf dem Höhlenboden leuchteten inmitten der Finsternis Burgen in blau, grün und violett, die wie die Akademie aus natürlichen Auswüchsen von Kalkspat gehauen waren. Die phosphoreszierenden Gebäude dienten dazu, das Plateau von Qu’ellarz’orl, wo Baenre und annähernd so mächtige Häuser beheimatet waren, sowie den Bezirk Westwand – in dem unbe
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deutendere, aber immer noch gut situierte Adelsfamilien ihre Pläne schmiedeten, wie sie die, die auf Qu’ellarz’orl lebten, ersetzen konnten – und Narbondellyn, wo Emporkömmlinge alles daran setzten, um den Platz der Bewohner von Westwand einzunehmen, zu umschließen. Weitere Paläste, die aus Stalak titen gehauen waren, hingen von der hohen Decke herab. Die Adligen Menzoberranzans ließen ihre Heimstätten leuchten, um ihre Gewaltigkeit ebenso zu betonen wie die eleganten Linien und die in die Mauern gehauenen Verzierun gen. Die meisten Schnitzereien zeigten Spinnen und Spinnen netze, was Ryld nicht wirklich erstaunlich fand. Immerhin war Lolth die einzige Gottheit, die in diesem Reich verehrt wurde, und ihre Geistlichkeit herrschte im faktischen ebenso wie im spirituellen Sinne. Aus irgendeinem Grund empfand Ryld die Vorherrschaft dieses Motivs als etwas erdrückend, also lenkte er seine Auf merksamkeit auf andere Details. Wenn ein Drow gute Augen hatte, konnte er am schmalen östlichen Ende des Gewölbes die frostigen Tiefen des Donigarten-Sees ausmachen. Vieh, das Rothé genannt wurde, und Goblin-Sklaven, die es hüteten, lebten auf einer Insel in der Mitte des Sees. Dann war da natürlich auch noch Narbondel selbst. Es handelte sich um das einzige Stück unbearbeiteten Steins auf dem Höhlenboden, eine dicke, unregelmäßig geformte Säule, die sich bis zur Decke erstreckte. Zu Beginn eines jeden Tages wirkte der Erzmagier von Menzoberranzan einen Zauber an deren Fuß, durch den er sie erhitzte, bis der Stein zu glühen begann. Da die Strahlen sich mit gleichmäßiger Geschwindig keit ausbreiteten, konnten die Bewohner der Stadt auf diese Weise sehen, wie spät es war. Auf ihre Weise, so überlegte der Meister Melee-Magtheres, boten er und Pharaun allein aufgrund des Kontrastes zwischen
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ihnen beiden auch einen ungewöhnlichen Anblick, wenn gleich der in keiner Weise mit der Aussicht vergleichbar war, die sie vor sich hatten. Mit seiner schlanken Statur, seinem eleganten Auftreten, der gezierten, eleganten Kleidung und der komplizierten Frisur verkörperte der Mizzrym-Magier alles, was man von einem gebildeten Adligen und Magier erwarten durfte. Ryld dagegen war eine Kuriosität. Für einen Angehöri gen seines Geschlechts war er groß, größer als viele Frauen, stämmig und breitschultrig, so daß er mehr wie ein unzivilisier ter Mensch wirkte, weniger wie ein Drow. Er unterstrich seine Fremdartigkeit weiter, indem er anstelle eines leichten, ge schmeidigen Kettenhemds lieber einen Zwergen-Brustpanzer und Armschienen trug. Die Rüstung veranlaßte andere manchmal, ihn mißtrauisch zu betrachten, aber er hatte festge stellt, daß sie seine Effizienz als Krieger förderte, und es war seine feste Überzeugung, dies sei wichtiger als alles andere. Ryld und Pharaun gingen zum Rand Tier Breches und setz ten sich so hin, daß ihre Beine über die steil abfallende Klippe baumelten. Sie waren nur ein paar Schritte vom Kopf der Treppe entfernt, die die Akademie mit der darunterliegenden Stadt verband. Vor der obersten Stufe standen neben den Zwillingssäulen zwei Wächter, Schüler, die im letzten Jahr Melee-Magthere besuchten. Ryld fand, er und Pharaun seien weit genug von ihnen entfernt, um sich unter vier Augen unterhalten zu können, wenn sie mit gedämpfter Stimme spra chen. Mit gedämpfter Stimme, aber nicht tonlos, verflucht noch mal. Der stets für Sinneseindrücke empfängliche Magier saß da, genoß das Panorama unter ihm und ließ seine Gedanken weit über den Moment hinaus schweifen, während Ryld seinen Mund bereits vor Ungeduld zusammengekniffen hatte, ohne zu berücksichtigen, daß er auf dem Weg hierher selbst auch die
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Aussicht bewundert hatte. »Wir Drow lieben einander nicht, nur im fleischlichen Sin ne«, bemerkte Pharaun schließlich. »Aber man könnte sich in Menzoberranzan selbst verlieben, nicht wahr? Oder zumindest von sehr großem Stolz darauf erfüllt sein.« Ryld zuckte die Achseln. »Wenn du meinst.« »Du klingst nicht eben überschwänglich. Bist du wieder verdrießlich?« »Mir geht es gut. Auf jeden Fall besser, seit ich weiß, daß du lebst.« »Du nahmst an, ich sei von Gromph hingerichtet worden? Erschien mein Verstoß so gravierend? Hast du noch nie einen einzigen unserer zarten jungen Kadetten ausgelöscht?« »Kommt darauf an, wie man es betrachtet«, erwiderte Ryld. »Die Gefechtsübungen bergen natürlich Gefahren. Unfälle geschehen. Aber es hat noch nie jemand in Frage gestellt, daß es wirklich Unfälle sind, die sich in den normalen Abläufen Melee-Magtheres ereignen. Bei Lolth! Ich habe noch nie sie ben in einer Stunde verloren, von denen zwei zudem aus Häu sern kommen, die im Rat sitzen. Wie kann so etwas gesche hen?« »Ich brauchte sieben Assistenten mit einem gewissen Maß an magischen Fertigkeiten, damit sie mir beim Beschwörungs ritual halfen. Hätte ich vollwertige Magier darum gebeten, hätten sie sich als gleichberechtigte Partner an diesem Expe riment beteiligt. Sie hätten durch das Ritual dieselben Ge heimnisse in Erfahrung gebracht und wären so wie ich in die Lage versetzt worden, den Sarthos-Dämon zu rufen und zu kontrollieren. Natürlich wollte ich solche Anteilnahme ver meiden, also entschied ich mich für Lehrlinge.« Pharaun grinste und fuhr fort: »Rückblickend muß ich al lerdings sagen, das war vielleicht keine so gute Idee. Der Geg
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ner brauchte nicht einmal sieben Herzschläge, um sie alle zu vernichten.« Ein leichter Aufwind zog an Rylds Gesicht vorüber und trug das unablässige Gemurmel aus der Metropole mit nach oben. Er nahm auch den Geruch der Stadt wahr, eine komplexe Mischung aus Küchendüften, Weihrauch, Parfüm, dem Ge stank ungewaschener Knechte und tausend anderen Dingen. »Warum wolltest du überhaupt ein so gefährliches Ritual durchführen?« fragte er. Pharaun lächelte, als sei das eine dumme Frage. Vielleicht war sie das auch. »Um mehr Macht zu erlangen natürlich«, antwortete der Magier. »Gegenwärtig bin ich einer der dreißig mächtigsten Magi der Stadt. Wenn ich den Sarthos-Dämon beherrschen könnte, wäre ich unter den ersten fünf. Vielleicht sogar an erster Stelle und damit noch mächtiger als der langweilige alte Gromph selbst.« »Ich verstehe.« Ehrgeiz war ein wesentlicher Bestandteil des Charakters je des Drow. Manchmal beneidete Ryld Pharaun sogar um dessen immer noch leidenschaftliches Ringen um Status. Der Krieger ging davon aus, den Höhepunkt seines Ehrgeizes erreicht zu haben, als er einer der im eher unteren Bereich angesiedelten Meister Melee-Magtheres geworden war. Immerhin war er ein Bürgerlicher, und schon deshalb konnte er nicht noch weiter aufsteigen. Seit jenem Tag hatte er aufgehört, gierig nach oben zu blicken. Stattdessen hatte er begonnen, den Blick nach unten zu richten und sich vor jenen in Acht zu nehmen, die ihn zu töten versuchten, weil sie auf seinen Posten nachrücken wollten. Pharaun war ein Meister Sorceres, während Ryld ein Meis ter Melee-Magtheres war, doch vielleicht strebte Pharaun als
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Adliger tatsächlich danach, den formidablen Gromph Baenre zu töten und dessen Posten einzunehmen. Selbst wenn das nicht der Fall war, wahrten Magier wegen ihrer schwierigen, heimlichtuerischen Art eine Rivalität untereinander, bei der es um mehr ging als nur darum, wer ein Meister, wer der wichtigs te Magier in einem bedeutenden Haus und wer keines von beiden war. Ihnen ging es neben vielen anderen Dingen auch darum, wer die meisten esoterischen Geheimnisse kannte, wer die tödlichste Erscheinung heraufbeschwören oder am klarsten in die Zukunft sehen konnte. All das war ihnen so wichtig, daß sie gelegentlich versuchten, einander umzubringen und die Zauberbücher des jeweils anderen zu plündern, selbst wenn solche Feindseligkeiten den Interessen ihrer Häuser zuwiderlie fen und Allianzen sprengten oder Verhandlungen jäh beende ten. »Jetzt«, sagte Pharaun, während er in die eleganten Falten seines Piwafwi griff und eine kleine silberne Flasche hervorhol te, »muß ich den Sarthos-Dämon eine Weile in Ruhe lassen. Ich hoffe nur, daß sich der arme Behemoth ohne mich nicht einsam fühlt.« Er schraubte den Deckel auf, nahm einen Schluck und gab Ryld das Behältnis. Der hoffte nur, daß die Flasche weder Wein noch exoti schen Likör enthielt. Pharaun versuchte immer wieder, ihm solche Getränke aufzudrängen, und beharrte darauf, er solle sie probieren, um zu versuchen, all die Zutaten herauszufinden, die angeblich miteinander kombiniert worden waren, um den speziellen Geschmack zu erzielen. Immer wieder hatte Ryld ihm erklärt, daß seine Geschmacksnerven nicht in der Lage waren, eine solche Analyse vorzunehmen. Er trank einen Schluck und war erleichtert, daß die Flasche zur Abwechslung einmal einfachen Branntwein enthielt, der
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vermutlich für einen angemessenen Preis aus der ungastlichen Welt importiert worden war, die wie eine Rinde auf dem Un terreich lag und in der unerbittlichen Sonne schmorte. Der Likör brannte ihm im Mund und verbreitete in seinem Magen wohlige Wärme. Er gab Pharaun die Flasche zurück und sagte: »Ich nehme an, Gromph hat dir befohlen, das Wesen in Ruhe zu lassen.« »Praktisch schon. Er wies mir eine andere Aufgabe zu, da mit ich mir die Zeit damit vertreibe. Wenn ich erfolgreich bin, wird der Erzmagier mir mein Vergehen verzeihen. Wenn ich scheitere ... nun, dann hoffe ich auf eine saubere Enthauptung oder einen schnellen Tod durch die Garotte. Aber ich bin nicht so unrealistisch, irgend etwas so rasches zu erwarten.« »Was für eine Aufgabe ist das?« »Eine Reihe von Männern sind aus ihren Familien davon gelaufen, allerdings weder zu einem Händlerclan noch nach Bregan D’aerthe, sondern sie sind mit unbekanntem Ziel auf gebrochen. Ich soll sie finden.« Pharaun nahm noch einen Schluck, dann hielt er Ryld er neut die Flasche hin, doch der winkte ab. »Was haben sie geraubt?« »Gut geraten, aber du irrst. Soweit ich weiß, ist keiner mit etwas Bedeutsamem verschwunden. Weißt du, es sind aber nicht einfach nur ein paar Kerle aus einem bestimmten Haus, sondern viele, und zwar aus einer Reihe von Häusern – adlige und bürgerliche gleichermaßen.« »Schön und gut, aber was soll das? Warum kümmert sich der Erzmagier Menzoberranzans darum?« »Ich weiß nicht. Er hat einen vagen Vorwand als Erklärung geliefert, aber irgendetwas – ich glaube, es sind sogar mehrere Dinge – verschweigt er mir.« »Das macht deine Aufgabe nicht einfacher.«
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»Stimmt. Der alte Tyrann war so gnädig, mir zu sagen, daß er nicht der einzige ist, der sich für den Aufenthaltsort der Flüchtigen interessiert. Auch die Priesterinnen sind besorgt, doch nicht genug, um sich mit Gromph zusammenzutun. Die Muttermatrone persönlich hat ihn angewiesen, die Angele genheit auf sich beruhen zu lassen.« »Die Muttermatrone«, sagte Ryld. »Mit jedem weiteren Wort, das ich höre, gefällt mir die Sache weniger.« »Oh, ich weiß nicht. Nur weil Triel Baenre ganz Menzober ranzan beherrscht und ich im Begriff bin, ihren ausdrücklichen Wünschen zuwiderzuhandeln ... jedenfalls sagt der Erzmagier, er könne das Verschwinden dieser Männer nicht länger selbst untersuchen. Scheint, als ließen die Damen ihn nicht aus den Augen. Aber zum Glück ruht auf mir keine solche Last.« »Das heißt nicht, daß du die Verschwundenen finden wirst. Wenn sie aus der Stadt geflohen sind, können sie sich inzwi schen längst irgendwo im Unterreich aufhalten.« »Ach komm«, sagte Pharaun und grinste breit. »Du mußt mir wirklich nicht noch Mut machen. Ich werde in Ostmyr und Braeryn mit der Suche anfangen. Offenbar wurden einige der Vermißten in diesen gesellschaftlich geächteten Gegenden zuletzt gesehen, vielleicht halten sie sich ja immer noch dort auf. Selbst wenn sie vorhaben, Menzoberranzan zu verlassen, könnten sie nach wie vor dort Reisevorbereitungen treffen.« »Wenn sie sich schon auf den Weg gemacht haben«, stimm te Ryld ihm zu, »könntest du einen Zeugen finden, der dir sagen kann, welchen Tunnel sie genommen haben. Guter Plan, doch ich wüßte noch einen anderen. Es ist leichtsinnig, dein Leben aufs Spiel zu setzen, solange du nicht weißt, um welches Spiel es sich überhaupt handelt. Du könntest selbst fliehen. Mit deiner Magierkunst wärst du einer der wenigen, die eine solch gefähr liche Reise allein in Angriff nehmen könnten.«
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»Ich könnte es versuchen«, sagte Pharaun. »Aber ich ver mute, daß Gromph mich aufspüren könnte. Selbst wenn nicht, würde ich mein Zuhause verlieren und den Rang einbüßen, den zu erreichen ich mich mein ganzes Leben lang bemüht habe. Würdest du deinen Titel als Meister aufgeben, um eine gefährliche Situation zu meiden?« »Nein.« »Dann verstehst du mein Problem. Ich kann mir vorstellen, daß du dir längst denken kannst, warum ich dich gerufen ha be.« »Ich denke schon.« »Natürlich. Was immer sich hinter der Aufgabe wirklich verbergen mag, meine Überlebenschancen würden sich deut lich erhöhen, wenn ich einen Kameraden hätte, der mir zur Seite steht.« Ryld warf ihm einen finsteren Blick zu. »Du meinst einen Kameraden, der auch bereit ist, sich über den ausdrücklichen Wunsch der Muttermatrone der Baenre hinwegzusetzen und das Risiko eingeht, es sich zudem mit dem Erzmagier von Men zoberranzan zu verscherzen.« »Genau. Wie es der Zufall will, siehst du aus wie ein Drow, der dringend Abwechslung von seiner täglichen Routine braucht. Du weißt selbst, daß du dich zu Tode langweilst. Es tut weh, dir zuzusehen, wie du dich jeden Tag quälst.« Ryld dachte kurz nach, dann sagte er: »Nun gut. Vielleicht finden wir etwas heraus, das wir zu unserem Vorteil nutzen können.« »Danke. Du hast etwas bei mir gut.« Er nahm noch einen Schluck, dann hielt er Ryld wieder die Flasche hin. »Trink aus. Es ist nur noch ein Schluck. Sieht aus, als hätten wir den Schoppen innerhalb weniger Minuten gelehrt, auch wenn das kaum zu glauben ist, wo wir doch so kultivierte, wohlerzogene
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Kerle sind, die ...« Etwas knisterte und zischte über ihren Köpfen. Druckwellen fuhren auf sie herab. Ryld sah auf, fluchte und sprang auf, dann warf er seinen Dolch, während er sich wünschte, er hätte sich seine Waffen umgeschnallt, ehe er Melee-Magthere verlassen hatte. Pharaun stand deutlich gelassener auf. »Das ist ja interessant«, sagte er.
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Quenthel Baenre, die Herrin Arach-Tiniliths, ging auf und ab, die Peitsche mit den sich windenden Vipern in der Hand. Der zarte, dünne Stoff ihres Kleides schien bei jeder Bewegung zu flüstern. Sie betrachtete streng die jüngeren Frauen, die in der Mitte des von Kerzen erhellten und mit Marmor verkleideten Raums standen. Sie hatte schon immer dazu geneigt, denen Angst zu machen, die sich ihren Unmut zugezogen hatten, und diese Schülerinnen stellten keine Ausnahme dar. Einige zitter ten, andere schienen sich zu zwingen, ihre Tränen zurückzuhal ten, und sogar die, die finster und verdrießlich dreinblickten, mieden es, ihr in die Augen zu sehen. Quenthel ergötzte sich an der Sorge der Gruppe und zögerte ihre wortlose Inaugenscheinnahme hinaus, bis sie schier uner träglich war. Dann ließ sie die Peitsche knallen. Einige der verstörten Schülerinnen hielten stockend die Luft an oder
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zuckten zusammen. Während die fünf langen, schwarz und karmesinrot gerin gelten Vipern, aus denen die Peitsche bestand, sich zuckend und forschend aus dem Diamantspat-Griff erhoben, sagte Quenthel: »Euer Leben lang haben eure Mütter euch gesagt, daß eine Schülerin, die nach Tier Breche aufsteigt, hier zehn Jahre bleiben wird, abgeschieden von der Stadt tief unten. Als ihr in die Akademie aufgenommen wurdet, sagte ich euch dasselbe.« Sie schritt auf eine der Schülerinnen zu, die das Pech hatte, in der ersten Reihe zu stehen. Gaussra Kenafin war ein wenig dicklich und hatte ein rundliches Gesicht, ihre Zähne waren so schwarz wie ihre Haut. Die Peitschenschlangen, die Quenthels unausgesprochenem Befehl gehorchten, begannen züngelnd den Leib der Novizin zu erkunden und über dessen Konturen zu gleiten. Die Herrin Arach-Tiniliths sah, wie sehr sich Gaussra zwang, nicht aus Angst zurückzuschrecken, da sie wußte, daß sie dann die Reptilien zum Angriff provozieren würde. »Du hast es gewußt«, schnurrte Quenthel. »Nicht wahr?« »Ja«, keuchte Gaussra Kenafin. »Es tut mir leid. Bitte, nehmt die Schlangen fort!« »Wie impertinent von dir. Ihr habt jedes Recht verwirkt, mich um etwas zu bitten. Ihr dürft sie küssen.« Die letzte Äußerung galt den Schlangen, die augenblicklich reagierten und ihre langen Eckzähne in Gaussras Wange, Keh le, Schulter und Brust bohrten. Gaussra brach zusammen, da sie fest damit rechnete, einen Anfall mit Schaum vor dem Mund zu erleiden und mit ihren geschwärzten Schneidezähnen auf ihrer purpurnen Zunge zu kauen. Gaussra saß auf dem Boden und zitterte wegen der stechen den Schmerzen durch die Bisse ... doch sie lebte. Ihr Entsetzen
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war ihr anzusehen, ihre Demütigung war allumfassend. »Du wirst nach Hause zurückkehren«, sagte Quenthel und genoß Gaussras Gesichtsausdruck, als ihr die Bedeutung dieser Worte in vollem Umfang klar wurde. »Wenn du meiner Peit sche noch einmal nahekommst, werde ich den Vipern gestat ten, ihr Gift fließen zu lassen.« Quenthel trat zurück, woraufhin Gaussra in aller Eile auf sprang und aus dem Raum rannte. »Ihr wußtet, was man von euch erwartet«, wandte sich Quenthel an die verbliebene Gruppe. »Trotzdem habt ihr versucht, euch nach Hause zu schleichen. Damit habt ihr euch einen Affront gegen die Akademie, gegen eure Familien, gegen Menzoberranzan und gegen Lolth persönlich geleistet!« »Wir wollten nur für kurze Zeit weggehen«, sagte Halavin Symryvvin, die die Hälfte des jämmerlichen Reichtums ihres unbedeutenden Hauses in Form protziger goldener Ornamente mit sich herumzutragen schien. »Wir wären zurückgekehrt.« »Lügnerin!« schrie Quenthel und ließ Halavin damit vor Schreck zusammenzucken. Die Peitschenvipern bäumten sich auf und wiederholten den Schrei. »Lügnerin!« »Lügnerin!« »Lügnerin!« Unter anderen Umständen hätte Quenthel vielleicht gelä chelt, da sie auf ihre Waffe besonders stolz war. Viele Prieste rinnen besaßen eine Fangzahnpeitsche, doch ihre Waffe war außergewöhnlich, denn es handelte sich um Giftschlangen, die zudem dämonische Intelligenz besaßen und in der Lage waren, zu sprechen. Es war das letzte magische Werkzeug, das sie ge schaffen hatte, ehe die Magie versiegt war. »Natürlich wärt ihr zurückgekommen«, fuhr sie fort. »Aber
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nur, weil eure Mütter euch zurückgeschickt hätten, da sie euch anderenfalls wegen der Schande, die ihr über sie gebracht hättet, hätten töten müssen. Eure Mütter sind klug genug, sich an die heiligen Traditionen Menzoberranzans zu halten, auch wenn ihre degenerierten Nachkommen das nicht mehr für nötig halten. Euren Müttern würde es auch nichts ausmachen, wenn ich euch das Leben nähme, Sie würden mir danken, weil ich die Ehre ihrer Häuser wiederhergestellt hätte. Doch Lolth begehrt neue Priesterinnen, und auch wenn der Anschein für das Gegenteil spricht, besteht die geringe Möglichkeit, daß sich ein oder zwei von euch als würdig erweisen, ihr zu dienen. Nur deshalb werde ich euch eine Chance geben. Ihr werdet nicht sterben. Stattdessen werdet ihr euch von jeder Hand einen Finger abtrennen und auf dem Altar der Göttin verbrennen, um sie um Vergebung zu bitten. Ich lasse ein Mes ser und einen Hackklotz bringen.« Quenthel betrachtete ihre betroffenen Gesichter und genoß die Furcht, die bei den Novizinnen offenbar Übelkeit auf kommen ließ. Es würde ihr genauso viel Spaß machen, der eigentlichen Verstümmelung zuzusehen. Am amüsantesten würde es werden, wenn sie sich bereits einen Finger abgehackt hatten und das Hackmesser mit der anderen, blutenden Hand festhalten mußten ... »Nein!« Der plötzliche Ausruf ließ Quenthel aufhorchen und sich umsehen, da sie feststellen wollte, wer diesen Widerspruch gewagt hatte. Die Beinahe-Schwänzerinnen gehorchten sofort, indem sie zur Seite gingen und den Blick freigaben auf die gertenschlanke Frau, die im Hintergrund gestanden hatte. Es war Drisinil Barrison Del’Armgo, die mit der scharf geschnit tenen Nase und den grünen Augen, die Quenthel von Anfang an als Anstifterin der Massenflucht im Verdacht gehabt hatte.
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Irgendwie hatte die langbeinige Novizin einen bemerkenswert großen Dolch, fast schon ein Kurzschwert, in die der Diszipli nierung dienende Zusammenkunft geschmuggelt. Sie hielt ihn in Abwehrstellung. Quenthel reagierte wie jede Drow in einer solchen Situati on. Sie sehnte sich danach, die Herausforderung anzunehmen und die andere Frau zu töten. Sie fühlte dieses Verlangen, als sei es eine körperliche Anspannung, die daraufdrängte, freige setzt zu werden. Auch die Peitschenvipern reagierten und zischelten, möglicherweise, weil sie auf das Anschwellen der Emotionen reagierten, vielleicht aber auch, weil sie über Dri sinils Verwegenheit selbst erzürnt waren. Das Problem bestand darin, daß die Schülerinnen keines wegs so unbedeutend waren, wie Quenthel ihnen einzureden versuchte. Sie waren rohes, aber wertvolles Erz, das zur Aka demie gesandt wurde, um veredelt und zu nützlichen Werkzeu gen geformt zu werden. Niemand würde sich über ein paar abgetrennte kleine Finger aufregen, doch die Muttermatronen erwarteten, daß ihre Kinder die Ausbildung auch überlebten – eine Annahme, die der idiotische Mizzrym-Renegat bereits in Frage gestellt hatte. Zwar hatte Pharaun nur männliche Schü ler verloren, doch hatte er die vertretbare Todesrate der Schule auf Jahre hinaus aufgebraucht. Es war derzeit einfach keine gute Idee, wenn Quenthel eine ihrer Schülerinnen tötete, erst recht keinen Sproß der mächti gen Barrison Del’Armgo. Quenthel wollte keine Unruhe in die Beziehungen zwischen der Akademie und den Adelshäusern bringen, zumal sich Menzoberranzan ohnehin schon am Rande des Zerfalls befand. Außerdem verspürte sie Sorge, die anderen entlarvten Schwänzerinnen könnten auf die Idee kommen, sich auf der Seite ihrer Anführerin in einen Kampf einzumischen.
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Quenthel Baenre beruhigte die Vipern mit einem Gedan ken, fixierte Drisinil mit ihrem frostigsten Blick und sagte: »Denk nach.« »Das habe ich«, erwiderte Drisinil. »Warum sollen wir zehn Jahre in Tier Breche eingepfercht verbringen, wenn es hier für uns nichts gibt?« »Es gibt hier alles für euch«, sagte Quenthel und starrte sie weiter an. »Hier lernt ihr, alles zu sein, was eine Dame aus Menzoberranzan sein muß.« »Was denn? Was lerne ich hier?« »Momentan Geduld und Unterwürfigkeit.« »Dafür bin ich nicht gekommen.« »Offenbar nicht. Dann denke über etwas anderes nach. Alle Priesterinnen Menzoberranzans spielen derzeit ein Spiel, des sen Ziel es ist, andere davon zu überzeugen, daß alles in Ord nung ist. Wenn eine Schülerin Arach-Tinilith vorzeitig ver läßt, was seit der Gründung der Stadt noch nie vorkam, wird das sonderbar wirken und darauf hindeuten, daß nicht alles ist, wie es sein sollte.« »Vielleicht interessiert mich dieses Spiel auch gar nicht.« »Aber deine Mutter. Sie spielt es so gründlich wie wir alle. Glaubst du, sie wird dich zu Hause willkommen heißen, wenn du ihre Anstrengungen untergräbst?« Drisinil blinzelte mit ihren smaragdfarbenen Augen, das ers te Zeichen dafür, daß Quenthels starrer Blick sie aus der Ruhe brachte. »Ich ... ja, das würde sie ganz sicher.« »Sie würde eine Verräterin willkommen heißen, eine Verrä terin an deinem Haus, deiner Stadt, deinem Geschlecht und der Göttin?« »Die Göttin ...« »Sprich es nicht aus«, herrschte Quenthel sie an. »Sonst wird dein Leben beendet, und deine Seele wird für alle Zeit
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gequält werden. Ich spreche nicht nur als die Herrin ArachTiniliths, sondern auch als eine Baenre. Du erinnerst dich an die Baenre, nicht, Barrison Del’Armgo? Wir sind das Erste Haus, ihr dagegen seid bloß das Zweite. Selbst wenn es dir gelingen sollte, Arach-Tinilith zu verlassen, und selbst dann, wenn deine plumpe, ungehobelte Alte so dumm wäre, dich wieder in ihre Hütte aufzunehmen, die die Del’Armgo als Heim bezeichnen, wirst du den Monat nicht überleben. Meine Schwester Triel, Muttermatronin der Baenre, wird sich persön lich deiner Vernichtung annehmen.« Das entsprach der Wahrheit. Die beiden Baenre-Schwestern konnten einander zwar nicht ausstehen, doch wenn es darum ging, die Vorherrschaft ihres Hauses zu wahren, gaben sie ein ander jeden erdenklichen Rückhalt. Drisinil schluckte und senkte den Blick ein wenig. »Herrin, ich will nicht respektlos erscheinen. Ich will mich nur nicht verstümmeln.« »Das wirst du aber, Novizin, und zwar ohne jede Verzöge rung. Du hast einfach keine andere Wahl ... und praktischer weise hast du ja eine Klinge in der Hand.« Drisinil schluckte abermals, die Hand, die den Dolch hielt, zitterte leicht, während sie die Klinge über ihrem kleinen Fin ger in Position brachte, um ihn abzuschneiden. Quenthel war zwar der Ansicht, daß dies leichter zu erledigen war, wenn die Novizin ein paar Schritte weit ging, um den Finger auf den dort stehenden Tisch zu legen, doch ganz offensichtlich nahm sie »ohne jede Verzögerung« wörtlich. Die Hohepriesterin hatte nichts dagegen. Sie stellte sich bereits vor, wie sehr sie den ersten Schnitt genießen würde, als ein gellender Ton die Stille zerriß, der klang wie eine falsche Note aus hundert Glaur-Hörnern gleichzeitig. Einen Moment lang zögerte Quenthel, doch nicht, weil sie
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verängstigt, sondern weil sie irritiert war. Man hatte ihr gesagt, was dieser unangenehme Lärm zu bedeuten hatte, jedoch hatte sie nie erwartet, ihn je zu hören. Soweit sie wußte, hatte nie mand ihn je gehört. Die Priesterinnen Menzoberranzans unterhielten eine kom plexe Beziehung zu den Bewohnern des Abgrunds. Einige in fernalische Wesen waren die Ritter oder Dienerinnen Lolths und wurden bei der Anbetung als solche verehrt. Doch bei anderen Gelegenheiten hatten die Kleriker keine Skrupel, mit ihren Zaubern Geister zu fangen und sie in den Dienst zu zwin gen. Manchmal bewegten sich diese Wesen aus eigenem Wil len auf der stofflichen Ebene und metzelten jeden Sterblichen nieder, der in ihren Weg geriet. Dabei machten sie auch keine Ausnahme, wenn sie auf Dunkelelfen trafen, obwohl sie mit ihnen in gewisser Weise verwandt waren. Die Gründer der Akademie hatten Tier Breche insgesamt und Arach-Tinilith im Besonderen mit Zaubern abgeschirmt, die alle Geister fernhielten, die den Bewohnern nicht will kommen waren. Zahllose Generationen hatten diese Schutz vorkehrungen für undurchdringlich erachtet, doch wenn der ohrenbetäubende Alarm nicht auf einen Irrtum zurückging, dann fiel eine Barriere nach der anderen. Das dröhnende Signal schien aus dem Süden zu kommen. Quenthel vergaß die Freuden der Bestrafung und lief in diese Richtung, vorbei an zahllosen Kapellen, Altären und Ikonen Lolths, die sie in ihrer Gestalt als Dunkelelfe und als Spinne zeigten, vorbei an den Klassenzimmern, in denen die Fakultät Dogmen, Rituale, göttliche Magie, Folter, Aufopferung und all die anderen Künste unterrichtete, die die Novizinnen lernen mußten. Manche Lehrer und Schüler vergaßen ihre Bücher, Schiefertafeln und halb sezierten Sklavenopfer, so brannten sie darauf, die Ursache für den Alarm in Erfahrung zu bringen,
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während andere erschrocken und verwirrt aussahen. Das Signal verstummte. Entweder hatte der Dämon aufge geben oder er hatte alle Schutzvorkehrungen überwunden. Quenthel vermutete, daß letzteres der Fall war, und als sie die ersten Schreie hörte, wußte sie, daß sie recht hatte. »Wißt ihr, was da durchbricht?« fragte sie keuchend. »Nein«, zischte Yngoth, die womöglich weiseste der Peit schenvipern. »Der Eindringling hat sich abgeschirmt und ist unsichtbar.« »Na wunderbar.« Die gellenden Schreie führten Quenthel in eine weitläufige, von Kerzen erhellte Halle mit hochaufragenden Spinnenskulp turen aus schwarzem Marmor, die den Eingang zum Tempel so beeindruckend wie nur möglich wirken lassen sollten. Die beiden arg mitgenommenen Flügel der großen, aus Diamant spat geschaffenen Tür in der geschwungen verlaufenden Süd wand hingen schief in den Angeln und gaben den Blick auf das Plateau davor frei. Mehrere Priesterinnen lagen zusam mengeschlagen und bewußtlos auf dem Boden. Einen Moment lang konnte Quenthel nicht erkennen, wodurch die Verwüs tung ausgelöst worden war. Doch dann huschte der Schuldige durch ihr Blickfeld auf eine weitere glücklose Dienerin Lolths zu. Der Eindringling war eine Riesenspinne, die eine frappie rende Ähnlichkeit mit den glänzenden Statuen ringsum auf wies. Als Quenthel sie sah, runzelte sie in einem ungewohnten und unerwünschten Anflug von Zweifel die Stirn. Auf der einen Seite griff der Dämon, sofern es sich um ei nen solchen handelte, ihre Schülerinnen und Untergebenen an, auf der anderen Seite stellte er eine Spinne dar, die Lolth heilig war. Vielleicht handelte es sich um einen Gesandten, der geschickt worden war, um die Schwachen und die Ketzer
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zu bestrafen. Vielleicht war es besser, wenn Quenthel einfach beiseite trat und ihn seinen Amoklauf fortsetzen ließ. Die Spinne jedoch nahm ihre Anwesenheit irgendwie wahr, wandte sich um und eilte auf Quenthel zu, als hätte sie über haupt nur nach ihr gesucht. Während es viele Spinnen gab, die über eine ganze Reihe von Augen verfügten, mußte sie erkennen, daß diese, über die bloße Tatsache einer Deformierung hinaus, eine extreme Aus nahme darstellte. Der Kopf hinter den gezackten Beißzangen war praktisch nichts weiter als eine Ansammlung von Augen, die auch an anderen Stellen des glänzenden schwarzen Leibs zum Vorschein kamen. Trotz dieser Besonderheit sorgte die eindeutig feindselige Absicht der Spinne dafür, daß Quenthels Unentschlossenheit augenblicklich wie weggewischt war. Sie würde das kuriose Ding töten. Die Frage war, wie? Sie fühlte sich nicht schwach – das hat te sie noch nie und das würde sie auch nie –, aber sie wußte, daß dies alles andere als der ideale Zeitpunkt war, um einen solchen Kampf zu führen. Abgesehen von allen anderen Nachteilen trug sie nicht einmal ihre Kettentunika oder ihren Piwafwi. Das tat sie nur selten, wenn sie sich innerhalb der Mauern Arach-Tiniliths aufhielt. Normalerweise hatten ihre Untergebenen zuviel Angst vor ihr, um einen Anschlag auf ihr Leben zu unternehmen, außerdem war sie sich immer sicher, daß sie keinerlei Rüstung benötigte, um die Hoffnungen derer zu zerschmettern, die es doch versuchen könnten. Während sie vor der heraneilenden Spinne zurückwich, öffnete sie mit den schmalen, wie Obsidian glänzenden Hän den die Gürteltasche und holte eine Pergamentrolle heraus, die sie ausrollte, um sie genau zu studieren, und zwar mit geüb ter Leichtigkeit und einem gewissen Maß an Verärgerung,
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denn die magische Schriftrolle war ein Schatz, den aufzubrau chen sie im Begriff war. Doch es war notwendig, und letztlich war die Schriftrolle beileibe nicht das einzige magische Werk zeug, das sich innerhalb dieser Mauern finden ließ. Schnell, doch im exakten Rhythmus und mit präziser Aus sprache las sie die Verse. Die goldenen Buchstaben verschwan den von der Seite, sobald sie die Worte sprach. Dunkle Flam men, die keine Hitze ausstrahlten, sprangen vom Pergament auf den Boden über und jagten in einer Bahn, die direkt von Quenthel zu dem Eindringling führte, schneller über die po lierte Oberfläche, als sich ein Waldbrand auf einer Fläche aus totem, getrocknetem Schwamm ausbreiten konnte. Die schwarze Feuersbrunst umspülte die zierlichen dop pelklingigen Füße des Dämons. Sie hätte die vieläugige Krea tur gleichzeitig hilflos zurückdrängen müssen, doch das ge schah nicht. Die Spinne kam so rasch wie zuvor auf sie zu, deutlich schneller, als es jeder Drow hätte schaffen können. »Der Geist kann sich gegen Magie verteidigen!« schrie K’Sothra, vermutlich die Peitschenviper, die von allen dreien die geringste Intelligenz besaß und die ganz sicher dazu neigte, das Offensichtliche kundzutun. Quenthel blieb keine Zeit, einen weiteren Zauber zu versu chen, ehe die Spinne sie erreicht hatte, und sie konnte ihr auch nicht davonlaufen. Sie würde sie überlisten müssen. Sie ließ das nutzlos gewordene Stück Pergament fallen, wandte sich ab und tauchte unter den Bauch einer der Statuen weg. Wenn der Eindringling nicht die Fähigkeit besaß, zu schrump fen oder seine Gestalt auf andere Weise zu verändern, würde er nicht in der Lage sein, ihr zu folgen. Sie rutschte über den Boden, ihre Ellbogen wurden durch die Reibung heiß. Eine der Schlangen stieß einen wüsten Fluch aus, als ihr schuppiger, keilförmiger Kopf gegen den
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Stein schlug. Quenthel rollte sich herum und sah, daß ihr Manöver ihr nur einen winzigen Augenblick verschafft hatte. Der Dämon konnte sich tatsächlich nicht unter die Statue begeben, doch er konnte extrem schnell darüber hinwegklet tern. Auf kurze Entfernung verbreitete er einen üblen Aasge ruch. Quenthel wußte, daß das Monster sie zu Boden drücken und mit den Beißzangen in Stücke schneiden würde, wenn sie ihm Gelegenheit gab, sich auf sie zu stürzen. Sie sprang auf und holte mit der Peitsche aus. Die Vipern zuckten im Flug umher, um ihre Fangzähne aus zurichten. Die giftigen Dornen bohrten sich tief in den Leib des Dämons und rissen klaffende Löcher in einige der Augen, als sie sich wieder lösten. Die Organe verspritzten Flüssigkeit und kollabierten, und die Schlangen warfen sich vor Freude hin und her. Quenthel konnte ihre Begeisterung fühlen, da sie psionisch mit ihnen verbunden war, doch sie wußte, daß die Freude zu früh kam. Die Spinne hatte noch etliche Augen, und der Tref fer hatte sie nur kurz zurückgehalten. Sie war immer noch im Begriff, Quenthel anzuspringen. Auch wenn sie überrascht worden war und auf bestimmte Schutzmaßnahmen nicht zurückgreifen konnte, trug Quenthel zumindest die Halskette aus mattschwarzen Perlen. Sie griff danach und zog aus der speziell nach ihren Anforderungen angefertigten feinen Goldkette eine der verzauberten Perlen, die sie nach der Spinne warf. Weißes Licht flammte rings um sie auf und schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Lolth sei Dank zeigte ihre Magie diesmal Wirkung. Die Spinne rutschte und zappelte. Sie warf sich in Panik hin und her, als sie merkte, daß sie von einer unsichtbaren Kugel aus magischer Kraft eingeschlossen
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worden war. Die Explosion hatte gräßliche Wunden gerissen, die den Leib der Kreatur überzogen. Leider war das Geschöpf aber offenbar in der Lage, diese Wunden zu ignorieren, da es ungerührt weiter an der Kugel kratzte, die ihr Vorankommen behinderte. Bläulich-weiße Funken sprühten an den Stellen, an denen die Füße die Kugel berührten. Quenthel wußte, daß das Wesen mehr als nur rohe Gewalt und Panik einsetzte, um sich zu befreien. Sprich zu mir, dachte Quenthel. Sie war sicher, daß die Spinne die Worte in ihrem Geist hören würde. Sie fühlte eine Verbindung, aber eine sehr schwache, die vielleicht von der Energiesphäre gedämpft wurde. Die Sphäre verschwand, als Quenthel erneut mit der Peit sche ausholte und versuchte, sich durch das abscheuliche Ge sicht des Dings bis ins Gehirn vorzukämpfen, das vermutlich dahinter lag. Die Spinne sprang so abrupt davon, wie es einer ihrer winzi gen Vettern vermochte, und landete in hohem Bogen hinter einer Reihe von Skulpturen am anderen Ende des Raums. Der Geist eilte durch die Schatten, und obwohl Quenthel genau hinsah, hatte sie ihn in der nächsten Sekunde aus den Augen verloren. Wo bist du? sendete sie. Die Erwiderung war ein Wutausbruch der Kreatur, der sich nicht in Worte fassen ließe. Quenthel gab es auf, mit ihr zu kommunizieren. Auch wenn es sich um eine Dienerin Lolths handelte, sollte das Geschöpf auf sie reagieren. »Ihr könntet jetzt entkommen, Meisterin«, schlug Hsiv vor, der erste Kobold, den Quenthel in eine Peitschenviper ge bannt hatte. »Von da drüben könnte es Euch nicht erreichen, ehe Ihr durch die Tür entkommt.« »Unsinn!« herrschte Quenthel ihn an. »Dieses Ding hat
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Unruhe in meine Akademie gebracht und mich bedroht. Ich werde mich an ihm rächen.« Von ihrem Zorn angesteckt, begannen die Vipern sich auf zurichten und zu zischen, bis sie sie mit einem geistigen Befehl zum Schweigen brachte. Eine der Priesterinnen, die auf dem Boden lag, stöhnte vor Schmerz. Quenthel ging zu der Frau, die der Spinne zum Opfer gefallen war, trat ihr hart gegen den Kopf und ließ sie so auf der Stelle verstummen. Die Drow-Hohepriesterin hatte alle vermeidbaren Geräu sche ausgeschaltet, doch das half ihr nicht, die Spinne zu fin den. Vom leisen Zischen ihres Atems abgesehen war alles völlig ruhig. Ihr Herz schlug lauter, als sie sich langsam umdrehte und die Spinnenstatuen betrachtete, von denen sie umgeben war. Hatte sich dort gerade ein dürres Bein bewegt? Besaß jener Kopf, der gerade weit genug von ihr abgewandt war, um ihn nicht richtig sehen zu können, zu viele Augen? Hatte sich die Gestalt dort rechts etwas genähert, als sie nicht hingesehen hatte? Nein, nein, nein. Es war ihre Phantasie, die ihr geben woll te, was die reine Beobachtung nicht erbrachte. Sie schnupperte wiederholt, doch auch das half nicht. Der Gestank der Spinne hing in der Luft, doch aus keiner Rich tung schien er intensiver wahrnehmbar zu sein. Verflucht, der Dämon mußte sich doch irgendwo aufhalten! Ja, erkannte sie, doch er mußte nicht mehr auf dem Boden zu finden sein, nicht, wenn er sich wie seine kleineren Artge nossen auch in vertikaler Richtung bewegen konnte. Angenommen, der Dämon hing an einer der Wände oder an der Decke ... dann mußte er einen Moment gebraucht ha ben, um den Schock des Feuers und der gräßlichen Wunden
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abzuschütteln, doch es war so gut wie sicher, daß er sich in eine Position begab, die ideal war, um sich auf sie zu stürzen. Quenthel sah nach oben. Die Künstler hatten sich auch den höchsten, im Schatten liegenden Bereichen des Raums ge widmet und die Decke mit einem achteckigen Netz verziert, in das sie Spinnen gemalt hatten. Die boten eine hervorragende Tarnung für den Dämon, den Quenthel nicht hätte erkennen können, wenn er sich wirklich dort aufhielt. Sie studierte weiter die Decke, und auch die Peitschenvi pern hielten Ausschau, während sie sich zu einem der Wandfa ckelhalter zurückzog und den auslösenden Satz einer Schrift rolle ablas, woraufhin die Flamme nach oben schoß und sich in aufgewühltes Schwarz verwandelte. Sie hielt ihren Arm in das Dunkelfeuer, der flatternde Ärmel aus Gaze fing sofort Feuer. Obwohl sie sich am Ende des bislang nicht brennenden Arms befanden, zischten und zuckten die Schlangen vor Auf regung. Quenthel ließ sie mit einem brutalen Vorstoß ihres Willens verstummen. Sie spürte nur eine angenehme Wärme, während sie dem Dunkelfeuer einen stummen Befehl gab. Ein Teil der magischen Substanz bewegte sich an ihrem Arm ent lang nach unten und formte sich in ihrer Hand zu einer wei chen, halb soliden Kugel. Sie warf sie hoch und ließ sie mit ihrer Magie wie von einer Schleuder getragen gegen das De ckenfresko prallen, wo sie sich in einem großen Klumpen düs terer Flammen ausbreitete. Quenthel ließ diesem ersten Geschoß eine Salve nach der anderen folgen. Wo das Dunkelfeuer es küßte, begann das Fresko in einem gewöhnlichen gelben Feuer zu brennen. Die Luft wurde von dichtem, übelriechendem Rauch erfüllt, der in den Augen brannte und am Gaumen haftete, so daß er ihr die Kehle zuschnürte. Sie feuerte blindlings, doch angesichts der sich immer wei
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ter ausbreitenden Flammen war das egal. Die Spinne würde nicht reglos verharren und Gefahr laufen, verbrannt zu wer den. Das Feuer würde sie dazu bringen, sich zu bewegen und damit zu verraten. Es sei denn, die Spinne hielt sich gar nicht an der Decke auf, was durchaus im Bereich des Möglichen lag. Vielleicht versteckte sie sich woanders. Sie konnte sich in diesem Au genblick gar nähern, während sie selbst das brennende De ckengemälde anstarrte und die Vipern sich mehr über die Nä he zu einem Dunkelfeuer sorgten, als daß sie die Umgebung betrachteten. Nein, ihre Intuition hatte sie nicht getrogen. Sie entdeckte die Spinne in dem Moment, als sie auf sie herabspringen woll te. Da sie sie nun ausfindig gemacht hatte, mußte Quenthel nur den neuerlichen Angriff überleben. Sie tauchte unter der von der Decke kommenden Gestalt weg und rollte sich zur Seite, wobei sie auf dem Boden eine Spur schwarzer, brennender Stoffetzen hinterließ. Die Kreatur mit den zerfetzten, triefenden Augen landete mit einem satten Geräusch, die acht Beine drückten sich durch, um den Auf prall zu lindern. Quenthel sprang auf und wich zurück. Ihr gesamtes Kleid stand in Flammen, fast ihr gesamter Körper war von dem Dun kelfeuer erfaßt. Sie schleuderte eine weitere Kugel von sich, die den Dämon am Rücken traf und an den Flanken hinunter glitt. Zu ihrer Freude wirkte ihre Magie nun wieder auf ihn. Auch die Spinne trug nun eine Hülle aus schattenhaften Flammen, die Hitze ließ die Luft darüber flimmern. Das bedeutete doch, daß der Dämon zusammenbrechen o der zumindest vor Schmerzen wie wild umherrasen mußte, oder? Das Feuer mußte ihm auf jeden Fall schaden, denn
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Quenthel konnte trotz des allgegenwärtigen Gestanks bren nender Farbe riechen, wie sein Fleisch verkohlte. Dennoch drehte sich der Dämon um und eilte ihr nach. Das nächste brennende Geschoß feuerte sie auf die An sammlung von Augen ab, die auf unerklärliche Weise das We sen des ganzen Dings auszumachen schien. Die Spinne machte einen Satz und zögerte, als sich die brennende Finsternis auf einmal über die Augäpfel ausbreitete, doch das währte nur eine Sekunde lang, dann bewegte sie sich weiter. Entkommen konnte sie der Kreatur nicht, sie konnte nur hoffen, daß sie sie ein wenig geschwächt hatte. Quenthel stieß den Namen der Göttin aus und sprang auf den Dämon zu. In Dunkelfeuer gehüllt, war ihr ganzer Körper eine Waffe und würde die Spinne an jeder Stelle verbrennen, an der sie sie berührte. Wo die schwarze Flamme an den Gliedmaßen des Monsters sich in gelbes Feuer veränderte, konnte sie sich selbst auch verbrennen, wenn sie nicht aufpaßte. Die natürliche Wildheit der Peitschenvipern war stärker als ihre Angst vor dem Feuer, und so begannen sie, in einem beginnenden Blut rausch umherzuzucken und zu schnappen. Quenthel hielt sich zunächst von den Beißzangen der Spin ne fern, während sie mit der Peitsche nach der Kreatur aushol te. Doch dann machte sie einen Schritt nach links, obwohl sie sich nach rechts hätte begeben sollen. Im nächsten Moment schlossen sich die rasiermesserscharfen Beißzangen um sie. Kurz bevor sie sich in ihren Körper bohren konnten, hielten sie inne, da sie den brennenden Leib nicht berühren wollten, der sie unweigerlich versengt hätte. Die Spinne zögerte einen Moment lang, doch bevor sie sich überwinden konnte, ihren Angriff zu Ende zu führen, reagierte Quenthel mit einem ent scheidenden Schlag. Die Obsidianpeitschenschnüre brachen durch die verkohlte
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und zerfetzte Visage des Dämons und verbissen sich in das, was sich dahinter befand. Die Spinne zuckte, erstarrte, und zwei ihrer Beine zappelten sinnlos, während der brennende Rest langsam zu Boden sank. Da endete Quenthels Zauber, und alles Dunkelfeuer, das eben noch im gesamten Raum gebrannt hat te, verschwand schlagartig. Sie schrie vor Freude. Gleichermaßen ekstatisch tänzelten die kaum versengten Vipern am Ende der Peitsche. Die gute Laune hielt nur so lange an, bis die Baenre-Priesterin, die fast völlig in Rauch und Asche gehüllt war, sich zur Tür wandte. Auch wenn sie viel zu beschäftigt gewesen war, um es bis dahin wahrzunehmen, waren eine Reihe von Lehrerinnen und Schülerinnen in den Raum gekommen und hatten den Kampf beobachtet. Sie beobachteten Quenthel stumm, die Augen weit aufgerissen, die Mienen verunsichert. »Es war eine Schändung«, sagte Quenthel. »Eine Farce.« Sie starrte sie überheblich und erwartungsvoll an. Die Lehrerinnen und Schülerinnen erwiderten einen Mo ment lang ihren Blick, dann falteten sie die Hände und senk ten unterwürfig den Kopf.
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Greyanna Mizzrym war von großer, schlanker Statur. Ihr an sonsten makelloses Gesicht wurde auf der linken Hälfte von einer Narbe verunstaltet, die sie sich vor langer Zeit bei einem Kampf zugezogen hatte und die sie mit einem recht albernen Stolz erfüllte. Sie begab sich in die Gegenwart ihrer Mutter, obwohl sie verschmutzt und verschwitzt war und noch ihr Kettenhemd trug. Greyanna wußte, daß Mutter es nicht moch te, wenn ihre Töchter und andere Leibeigene in voller Montur und bewaffnet zu ihr kamen, doch sie hatte einen guten Grund. Sie war soeben von einer Inspektionsreise zu den Mizz rym-Unternehmungen in Bauthwaf zurückgekehrt – im »Man tel«, wie das gefährliche Netzwerk aus Tunneln genannt wur de, das Menzoberranzan unmittelbar umgab – und hatte gleich nach ihrer Ankunft von einer aufgelösten Bediensteten, die frische Schlangenbisse aufwies, erfahren müssen, daß die Mut
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termatronin sie schnellstmöglich sehen wollte. Auch wenn sie wußte, daß ihre Waffen und ihre Panzerung sie kaum schützen würden, wenn etwas völlig katastrophal verlief, hatte Greyanna lieber einen nachvollziehbaren Grund, warum sie mit einem Streitkolben in der Hand und dem Schild am Arm vor ihre Mutter trat. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum ihre Mutter sich gerade jetzt entschlossen haben sollte, sie zu töten. Doch auf der anderen Seite konnte man sich sei nes Lebens nie völlig sicher sein – vor allem nicht bei Miz’ri Mizzrym, einer Frau, die sogar bei anderen Dunkelelfen als extrem und grundlos grausam galt. Sie saß in ihrem Tempel, umgeben von all ihren Waffen und Schutzvorkehrungen, die sechsköpfige Peitsche und den purpurnen Tentakelstab griffbe reit, die Finger besetzt mit glitzernden, verzauberten Ringen. Selbst nach den strengen Maßstäben ihrer edlen Rasse hätte man sie als hübsch bezeichnen können, wäre da nicht der Mund gewesen, den sie ständig abschätzig verzog. Sie studierte die martialische Aufmachung ihrer Tochter kühl, kommentier te sie aber nicht. Greyanna senkte den Kopf und spreizte angemessen gehor sam die Hände, dann sagte sie: »Muttermatronin, Ihr wollt mich sprechen?« »Ich wollte dich gestern sprechen.« »Ich war in Familienangelegenheiten unterwegs.« Natürlich wußte ihre Mutter das genauso gut wie sie. »Wir müssen auch jetzt unseren Pflichten nachkommen. Vor allem jetzt, wie Ihr selbst bei mehr als einer Gelegenheit bemerktet.« »Hüte deine anmaßende Zunge!« Greyanna seufzte. »Ja, Mutter, ich entschuldige mich. Ich wollte nicht unangemessen sprechen.« »Sorge dafür, daß es nicht wieder vorkommt.« Miz’ri verstummte, vielleicht, um ihre Gedanken zu sam
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meln, vielleicht aber auch nur, um die Nerven ihrer Tochter zu strapazieren. Solch kleine, sinnlose Einschüchterungsversuche waren bei ihr fast schon ein natürlicher Reflex. Greyanna fragte sich, ob ein Diener angewiesen worden war, ihr für den Rest des Gesprächs einen Stuhl zu bringen. Es sah nicht so aus. Auch das war typisch. »Dein Bruder Pharaun ...«, begann Miz’ri schließlich. Greyanna riß die Augen auf. »Ja?« »Ich glaube, es ist an der Zeit, daß ihr zwei euch wieder ver tragt.« Die jüngere Frau bemühte sich, ihre vernarbte Miene ruhig und gefaßt zu halten. Es war selten ratsam, starke Gefühlsre gungen sehen zu lassen, vor allem, wenn man ihrer Mutter gegenüberstand. Wenn sie ihr zeigte, daß eine Sache für sie bedeutsam war, würde sie Mittel und Wege finden, sie genau damit zu verletzen. Dennoch konnte Greyanna einen erwar tungsvollen Schauder nicht völlig unterdrücken. Sie und ihre Zwillingsschwester Sabal haßten einander seit Kindesbeinen. Natürlich wurde in den Adelshäusern Menzo berranzans Rivalität zwischen Geschwistern erwartet und auch gefördert. Zumindest war das bei Miz’ri der Fall, die das mögli cherweise nur zu ihrer eigenen Unterhaltung tat. Doch aus irgendeinem Grund – vielleicht hatte es etwas mit der Tatsa che zu tun, daß sie äußerlich identisch waren – übertraf die Feindseligkeit zwischen ihren Töchtern sogar ihre hochge steckten Erwartungen. Es war ein viel erbitterterer, weitaus persönlicherer Zwist. Beide strebten unablässig danach, die andere zu verletzen und zu unterdrücken – sowohl um der Sache selbst willen als auch als ein Beweis für den eigenen, relativen Status innerhalb der Familie. Auch wenn die Verachtung so groß war, daß sie fast daran erstickten, trugen sie ein Duell aus, das sich über Jahrzehnte
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erstreckte und jede Facette ihrer Existenz umfaßte. Nach und nach hatte Greyanna begonnen, auf den zahlreichen Schlacht feldern die Oberhand zu gewinnen. Sie hatte etliche von Sa bals Plänen sabotiert, die den Reichtum des Hauses Mizzrym mehren sollten, und fand Wege, für die erfolgreich verlaufen den Unternehmungen das Lob für sich einzustreichen. Indem sie heimlich einige der heiligen Gegenstände in diesem Schrein befleckte, sorgte sie dafür, daß die öffentlichen Rituale ihrer Zwillingsschwester auch nicht den mindesten Hinweis darauf lieferten, die Spinnenkönigin empfinde ihre Verehrung als annehmbar. Sie säte bei jedem, der ihr zuhörte, Zweifel an Sabals Befähigung und Loyalität. Im Lauf der Zeit entwickelte sich Greyanna zur geschätztes ten Beraterin ihrer Mutter, während Sabal als Närrin galt, der man nur die allereinfachsten Aufgaben übertragen konnte. Es war ihr verboten, die mächtigsten magischen Artefakte der Familie zu benutzen, da zu befürchten war, daß sie sie zerbrach oder für einen ruchlosen Zweck einsetzte. Von jedem, der einst hinter ihr gestanden hatte, von Blutsverwandten bis hin zu den Sklavenkriegern, wurde sie wie eine Aussätzige gemieden. An dieser Stelle hätte Greyanna sie mühelos töten können, und sie ging auch davon aus, daß sie das früher oder später tun würde. Doch Sabals Elend stellte für sie eine so große Befriedi gung dar, daß sie ihre Tötung zurückstellte. Bis Pharaun von Sorcere zurückkehrte. Ehe ihr kleiner Bruder nach Tier Breche aufgebrochen war, hatte Greyanna von ihm kaum Notiz genommen. Natürlich achtete man nicht auf junge Männer, es sei denn, man hatte Pech und sollte auf sie aufpassen. Sie waren die stummen klei nen Schatten, die durch das Haus schlichen und immer nur putzten, während sie sich bemühten, ihre magischen Fertigkei
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ten in den Griff zu bekommen und den ihnen zugewiesenen untergeordneten Platz in der Welt einzunehmen. Das alles geschah unter den ungeduldigen Blicken – und Peitschenhie ben – derer, die auf sie aufpaßten. Soweit sie sich erinnern konnte, war Pharaun so feige und jämmerlich gewesen wie der ganze Rest. Die Akademie hatte aus ihm etwas deutlich Interessanteres, um nicht zu sagen Gefährlicheres gemacht. Vielleicht lag es daran, daß er seine hervorragenden magischen Kräfte unter Kontrolle gebracht hatte, vielleicht war es auch das Eintau chen in eine reine Männerenklave. Jedenfalls war er aus dieser Schule geschliffen, klug und mutig hervorgegangen, er besaß einen scharfen Verstand und eine lockere Zunge, die ihn häu fig an den Rand der Bestrafung und sicher von dort zurück brachte. Erstaunlicherweise schlug er sich auf die Seite Sabals, die längst jede Hoffnung aufgegeben hatte, je über ihre gegenwär tige niedrige Position hinauszuwachsen. Bis heute konnte sich Greyanna seine Entscheidung nur damit erklären, daß eine perverse, unnatürliche Verbindung zwischen ihnen bestand. Doch ganz gleich, welches seine Gründe sein mochten – mit der Hilfe von Pharauns Ideen, Empfehlungen und Magie be gann Sabal, wieder Dinge zu wagen und in Angriff zu nehmen, war dabei auf brillante Weise erfolgreich und gewann allmäh lich wieder an Status. Das gelang ihr schneller, als Greyanna es sich hätte träumen lassen, und nach kurzer Zeit betrachtete die Familie die Zwillinge wieder als ebenbürtig, was ihre Verdiens te und ihre Erwartungen anging. Infolgedessen flammte ihr Privatkrieg noch heftiger und mörderischer als zuvor wieder auf, doch diesmal war Sabal – oder besser gesagt: Pharaun – ihr gewachsen. Greyanna versuchte, das Patt zu beenden, indem sie Pha
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raun zu überreden versuchte, die Seiten zu wechseln. Sie er wartete, daß es funktionieren würde, denn schließlich sahen sie und Sabal genau gleich aus und teilten exakt die gleichen Zukunftsaussichten. Warum sollte sich der Magier nicht hinter die stärkere, verschlagenere Schwester stellen, die es auch ohne seine Hilfe bis ganz nach oben im Haus Mizzrym ge schafft hatte? Welche grandiosen Siege würden sie gemeinsam erringen können! Auch wenn der Gedanke sie innerlich krankmachte, lächelte sie ihn sogar lasziv an und bot ihm den Anreiz, von dem sie glaubte, daß er ihn von Sabal bekommen hatte. Pharaun lachte sie aus. In diesem Augenblick wurde ihr Haß auf ihn genauso brennend wie der auf Sabal. Vielleicht war sie ihm für seinen verletzenden Spott etwas schuldig. Möglicherweise trieb er sie zu neuen Höchstleistun gen in ihrem Erfindungsreichtum an, denn nur wenig später fand sie genau die richtige Strategie, um Sabal zu vernichten. Eine Bande von Grauzwergen hatte in den Tunneln im Südosten der Stadt ihr Unwesen getrieben, und Sabal führte den Trupp an, der sie aufspüren sollte. Greyanna griff zu außer gewöhnlichen Maßnahmen und peitschte ihre Agenten – sterbliche, elementare und auch dämonische – unerbittlich an, bis sie die Duergar vor ihrer Zwillingsschwester entdeckt hatte. Dann kam der schwierige Teil des Plans. Sie und ihre Helfer mußten einen der schieferfarbenen kleinen Männer entführen, ohne daß dessen Gefährten etwas mitbekamen. Dann mußte man ihn mit einem Platinamulett ausstatten, das die ihr unter stehenden Kleriker, Magi und ihr persönlicher Goldschmied in erstaunlich kurzer Zeit angefertigt hatten, den Plünderer mit Zaubern des Vergessen und der Überzeugung belegen und zu seinen Freunden zurückbringen. Sabal stieß zwei Tage später auf die Duergar. Nachdem ihre
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Truppen die Verbrecher ausgelöscht hatten, wurden ihre Lei chen auf Wertgegenstände durchsucht, und dabei fand man die Brosche, die wertvoll und schön war. Die anwesenden Magier berieten sich und stellten eine Reihe nützlicher magischer Eigenschaften fest. Es kam Sabal nie in den Sinn, daß ein Schatz, dem man einem toten Zwerg abgenommen hatte, in Wahrheit eine Falle sein könnte, die ihre eigene Schwester ihr gestellt hatte. Also nahm sie die Beute an sich. Von dem Tag an wurde Sabal krank – ein Zustand, der sich langsam und schleichend verschlimmerte und Körper, Geist und Seele erfaßte. Sabal spürte das, versuchte aber auf eine bemitleidenswerte Art, jegliche Schwäche zu überspielen, damit niemand davon Kenntnis nahm und beschloß, ihren Zustand zu nutzen und sie zu töten oder zu quälen oder sie ihres Ranges zu berauben – was in Menzoberranzan praktisch jeder getan hätte, wenn ihm die Gelegenheit dazu gegeben würde. Pharaun nahm ihren allmählichen Verfall zur Kenntnis, doch er war nicht in der Lage, ihn aufzuhalten. Vielleicht wußte er nicht einmal, daß sie ständig einen ungewöhnlichen neuen magischen Gegenstand mit sich herumtrug. Der Fluch, der sie vergiftete und zwischen all den nützlichen Zaubern verborgen lag, ließ sie mit an Besessenheit grenzender Faszina tion an dem Amulett festhalten, das ihr auch die Furcht sugge rierte, andere könnten es ihr stehlen wollen, wenn sie es nicht vor allen versteckte. In den Monaten von Sabals Krankheit überlegte Greyanna hin und wieder, ob sich Pharaun nicht doch endlich auf ihre Seite stellte, wenn sie ihn noch einmal fragen würde. Doch sie tat es nicht, stattdessen sah sie einfach zu und wartete auf die Gelegenheit, Sabals Leben ein Ende zu setzen. Sie hatte ihre Lektion gelernt. Es war egal, wie gering die Wahrscheinlich keit sein mochte – sie würde nicht zulassen, daß ihre Zwillings
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schwester lange genug lebte, um wieder vom Glück gesegnet zu werden. Eines Nachts verließ Pharaun die Burg, vielleicht, um einen Auftrag zu erledigen, vielleicht auch nur, weil er die Situation als unerträglich empfand. Eine Weile später konnte sich die mißtrauische und schlaflose Sabal unbemerkt an Wachen und Dienern vorbeischleichen und begann, ziellos und allein durch die Zitadelle zu wandern. Greyanna und ein halbes Dutzend ihrer Untergebenen stell ten sich Sabal im Pilzgarten in den Weg, wo die Landschafts gärtner die phosphoreszierenden Gewächse in verspielte For men gebracht und einige von ihnen mit den herangereiften, gewürfelten Überresten nutzlos gewordener Sklaven gedüngt hatten. Sabals letzte Augenblicke hätten Mitleid erregen kön nen wenn Greyanna für dieses hinderliche Gefühl empfänglich gewesen wäre. Ihre kranke, verzweifelte Zwillingsschwester versuchte, das Platinamulett gegen diejenige anzuwenden, die es in Wahrheit geschaffen hatte. Greyanna benötigte nur ei nen Gedanken, um die Kräfte unwirksam zu machen. Dann versuchte Sabal, einen Zauber zu sprechen, doch es gelang ihr weder, den Worten den richtigen Rhythmus zu geben, noch, die Gesten mit der nötigen Genauigkeit zu beschreiben. Lachend näherten sich Greyanna und die anderen Angrei fer ihrem Opfer, und sie mußten nicht einmal etwas tun. Ihre Nähe genügte, daß sich Sabal klagend an die Brust griff und tot zusammenbrach. Sie hatte nicht die Kraft aufbringen können, um sich zu wehren. Schwach bis zum letzten Augenblick. Einen Moment fühlte sich Greyanna um den Sieg betrogen, doch diese Empfindung schüttelte sie rasch ab wie ein lästiges Insekt. Sabal war tot, und nur das zählte. Vielleicht hatte sie ja Glück und konnte später Pharaun foltern. Sie leierte mit monotoner Stimme die Worte herunter, die
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eine kalte, nach Tod riechende Brise durch den Garten wehen ließen, die wie ein gequältes Stöhnen klang und Sabals Leich nam wiederbelebte. Greyanna hatte Verwendung für die Tote, zunächst als Lockvogel, dann als Instrument der Erniedrigung. Sie hoffte, ihr Bruder werde sich vor seinem Ende dazu verlei ten lassen, noch einmal einen zärtlichen Augenblick mit Sabal zu erleben. Als Pharaun eine Stunde später zurückkehrte, waren Frisur und Kleidung makellos wie immer, doch er stank nach Wein, und sein Gang war leicht schwankend, während er mit über triebener Vorsicht einen Fuß vor den anderen setzte. Offenbar hatte er seinen Kummer ertränken wollen. Perfekt. Wie befohlen trat der Zombie durch eine Tür am anderen Ende des Flurs und streckte verlangend die Arme aus. Pharaun ging einige Schritte vorwärts, dann blieb er stehen. Es machte nichts aus, daß er betrunken war, denn ihm fiel auf, daß sich Sabal – allen Bemühungen Greyannas, die den Leichnam warmzuhalten versucht hatte, zum Trotz – steif und ungelenk bewegte, was sie selbst in den schlimmsten Momen ten ihrer Krankheit nie gemacht hatte. Es fiel ihm jedoch zu spät auf, denn da war er bereits in die Falle gelaufen. Greyanna flüsterte einen Lähmungszauber, und Pharaun ge riet ins Taumeln, als sich alle seine Muskeln gleichzeitig ver steiften. Gleichzeitig schwärmten die Kämpfer aus ihren Ver stecken, umstellten ihn und schlugen immer wieder auf ihn ein, bis er zu Boden ging und sie sich gemeinsam auf ihn stürz ten. Sie lachte erfreut, bis auf einmal ihre Handlanger, die auf dem Boden übereinandergetürmt lagen, überrascht und ratlos aufschrien. Sie standen auf, und dann sah Greyanna, daß Pha raun nicht zermalmt, blutüberströmt und hilflos unter ihnen auf dem Boden lag. So unmöglich es auch schien, er hatte sich
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irgendwie der Lähmung widersetzen können und dann seine Magie benutzt, um sich seinen Angreifern zu entziehen. Da er wußte, daß Sabal tot war, mußte Pharaun davon aus gehen, daß er ohne den Schutz einer Hohepriesterin im Haus Mizzrym seines Lebens nicht mehr sicher war. Auf seine gehäs sige Mutter konnte er dabei nicht zählen, immerhin hatte die sich nicht die Mühe gemacht, eine Schwester vor der anderen zu schützen. Warum sollte sie sich dann um einen unbedeu tenden Sohn kümmern? Sicher rannte er in diesem Moment zum Ausgang. »Dort entlang! Schnell!« rief Greyanna und wies in die Richtung, in der ihre Kämpfer eilen sollten. Als sie um eine Ecke kamen, sahen sie Pharaun in einiger Entfernung vor sich. Sein Piwafwi wehte hinter ihm her. We der wankte noch taumelte er – die Verzweiflung hatte ihn wohl auf der Stelle nüchtern werden lassen –, doch er hielt sich den Kopf und hinterließ auf dem polierten Fußboden eine Blutspur. Offenbar hatten all die Prügel immerhin ein wenig genutzt. Greyannas Lakaien feuerten ihre Armbrüste ab, doch die Pfeile prallten vom Umhang des Magiers ab, der allem An schein nach so verzaubert worden war, daß er wie ein Panzer wirkte. Sie blieb lange genug stehen, um unter Pharauns Füßen ein Feuer aufflammen zu lassen. Ihre Helfer schrien auf und schirmten ihre Augen gegen den hellen Schein ab. Auch wenn sie ihm die Füße verbrannt haben mußte, lief er unge rührt weiter. Die Flammen erloschen so rasch, wie sie entstan den waren. Die Jagd ging um die nächste Ecke. Vor Pharaun befand sich eine zweiflügelige Diamantspat-Tür, die sich wie von selbst für ihn öffnete. Greyanna wußte jedoch, daß der Magier sein sil berschwarzes Zeichen des Hauses Mizzrym benutzt hatte, um
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sie aufzumachen. Sie versuchte, sie mit ihrem eigenen Emblem wieder zu schließen, war aber noch zu weit entfernt. Pharaun sprang durch den Ausgang. Er stand auf der Gale rie, einer Art Balkon, von dem aus die Bewohner der Stalakti tenburg, die das Haus Mizzrym eigentlich war, auf die Stadt hinabblicken konnten. Wie üblich standen dort Wachen. Greyanna rief ihnen zu, sie sollten den Magier aufhalten. Zweifellos wollten sie gehorchen. Schließlich war sie die Hohepriesterin, während er nur ein Mann war, der zudem noch im Begriff war, zu entfliehen. Doch da ihre vorrangige Aufgabe darin bestand, Schurken daran zu hindern, die Burg zu betreten, waren sie von Pharaun überrascht worden. Er hatte Zeit genug gehabt, einen Zauber zu wirken, der sie daran hin derte, ihn zu ergreifen, und dann war er sofort weitergestürmt. Als Greyanna die Tür erreichte, sah sie, welche Form der Behinderung der Fliehende gewählt hatte. Die Wachen waren verwirrt, einige standen wie benommen da oder drehten sich ziellos im Kreis, während ein paar von ihnen sich gegenseitig bekämpften. Ein lautes Scheppern, dem einen Sekundenbruchteil später Aufstöhnen und Schmerzensschreie folgten, ließ Greyanna den Kopf nach rechts herumreißen. Am anderen Ende der Galerie war ein zweites Kontingent an Wachleuten ebenfalls vorübergehend außer Gefecht gesetzt worden, da Pharaun sie mit einem beschworenen Sperrfeuer aus Eis bombardiert hatte. Er verschwand durch den Ausgang, den sie hatten bewachen sollen, und eilte über die kristallene Wendeltreppe, die magi sches Licht ausstrahlte und Haus Mizzrym mit der Höhlenebe ne darunter verband, nach unten. Greyanna war wütend, mehr aber auch nicht. Wie es aus sah, würde sie nicht die Gelegenheit dazu bekommen, Pharaun zu foltern, doch daß er sterben würde, stand außer Frage. Er
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konnte nirgends hin, und wenn der Narr nicht in blinde Panik verfallen wäre, dann wäre ihm das klar gewesen. Wenigstens konnte sie den Schlag führen, der sein Schick sal besiegeln würde. Sie eilte zum Rand der Galerie und sah, daß der verbrannte, blutende Narr etwas mehr als die Hälfte der leuchtenden diamantenen Stufen zurückgelegt hatte. Rasch sprach sie das lange, umständliche Zauberwort aus, das die Treppe verschwinden lassen würde. Das würde ihn zwar nicht umbringen, wenn er nicht völlig den Kopf verloren hat te. Die Kraft der Levitation, die ihm die Brosche verlieh, mit der sich ihm die Türen im Haus öffneten, würde ihn vor einem tödlichen Sturz bewahren. Doch da er sich ausschließlich in vertikaler Richtung würde bewegen können, war er ein leich tes Ziel für Zauber und Pfeile. Sie sprach die letzte Silbe. Just als die Stufen wie eine plat zende Seifenblase zu verschwinden schienen, machte Pharaun jedoch einen Satz, der seine langen Beine wie eine bis zum äußersten geöffnete Schere aussehen ließ. In letzter Sekunde schaffte er es auf die abgeflachte Spitze des riesigen Stalagmi ten, der als Fuß der Treppe diente. Greyanna war beeindruckt. Der Sprung war eine bemer kenswerte Zurschaustellung von Sportlichkeit für einen arg mitgenommenen Studierten, der einer hedonistischen Le bensweise frönte. Natürlich würde er ihn nicht retten. Er hatte das Ende seiner Flucht erreicht. Sie beugte sich vor und befahl den Flugscheusalen, ihn zu töten. Pharaun, der noch immer bemüht war, nach dem weiten Sprung durch die Leere sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, würde nicht in der Lage sein, sie beide gleichzeitig abzuwehren. Die Flugscheusale, groteske geflügelte Raubtiere, die übli cherweise nach ihrem ätzenden Ammoniak-Odem rochen, zeugten von der Macht und magischen Finesse der Mizzrym.
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Sie verliehen dem ersten Schritt auf dem Weg zur Zitadelle einen bestimmten Stil, dem ein gewöhnlicher Soldat nichts entgegenzusetzen hatte. Sie eigneten sich außerdem hervorra gend als Wachtiere. Sie schlugen mit den klauenbewehrten, fledermausartigen Flügeln, in keiner Weise vom Fehlen jedwe der Beine behindert, und rissen die langhalsigen Körper her um, um über Pharaun ihre Kreise zu ziehen. Gegabelte Schnauzen, deren Kiefer mit Reißzähnen besetzt waren, schnappten gierig nach ihrer Beute. Von ihrer erhabenen Posi tion aus sah Greyanna mit einer Gier zu, die nicht weniger loderte als die der Flugscheusale, auch wenn es bei ihr eine seelische war. Pharaun rief etwas, doch Greyanna konnte ihn nicht ver stehen. Es klang nicht nach einem Zauberwort, eher nach einem Angstschrei oder einer verzweifelten Bitte um Gnade – eine Bitte, um die sich die riesigen Bestien nicht kümmern würden. Nur daß sie genau das taten. Sie zögerten, und er hob die Hände. Ihre tödlichen Kiefer umspielten behutsam seine Fin ger und nahmen ihren Geruch auf. Wieder schrie sie die Tiere an, ihn zu töten. Sie wandten den Kopf, um sie anzusehen, doch Pharaun sprach weiter, wor aufhin sie Greyannas Befehl ignorierten. Sie konnte das nur mit größtem Erstaunen betrachten. Pha raun mußte irgendwie mit den Flugscheusalen in Berührung gekommen sein, da er in der gleichen Burg wie sie gelebt hatte. Doch sie wußte, daß er nie auf einem dieser Wesen geritten war. Dieses Privileg war nur den Frauen des Hauses Mizzrym vorbehalten, und nur wenn man diese Wesen ritt, konnte man sie beherrschen. Wie war es dann möglich, daß er mit ihnen vertrauter zu sein schien als sie? Pharaun kletterte auf den Rücken eines Flugscheusals, das
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sich wie sein Begleiter in die Lüfte erhob. Allem Anschein nach hatte ihr Bruder den Zauber brechen können, der die Bestien dazu veranlaßte, genügsam auf ihrem Posten zu sitzen, bis sie losgeschickt wurden. Der Magier beherrschte sein Flugtier deutlich besser, als es Greyanna gekonnt hätte, wenn sie wie er auf Sattel, Zaumzeug und Zügel hätte verzichten müssen. Das andere, reiterlose Flugscheusal segelte ziellos umher und erfreute sich seiner plötzlichen Freiheit. Greyanna schüttelte den lähmenden Unglauben ab. Nach wie vor wollte sie zu gerne wissen, wie Pharaun es gelernt hat te, diese Tiere zu reiten – vielleicht hatte Sabal es ihm gezeigt, doch das warf die Frage auf, wieso niemand sonst davon etwas mitbekommen haben sollte –, aber sie würde nicht dastehen und darüber nachdenken. Die Antwort darauf war nicht so wichtig wie ihre Absicht, ihn zu töten. Sie sah sich um und stellte fest, daß die Wachen, die Pha raun überrumpelt hatte, noch desorientiert waren. Doch einige der Soldaten, die er mit Hagelkörnern bombardiert hatte, schienen sich wieder gefangen zu haben. »Tötet ihn!« schrie sie und wies auf das schnell kleiner wer dende Ziel. »Na los!« Mit löblicher Eile gehorchten sie, legten die Armbrüste an, zielten und jagten die todbringenden Bolzen durch die Luft. Pharauns Flugscheusal geriet ins Trudeln und stürzte dann immer schneller werdend ab, bis es schließlich irgendwo inmit ten der ausgehöhlten Stalagmitenbauwerke der Stadt nieder ging. »Erwischt«, sagte der Hauptmann der Wache. Greyanna war größer und kräftiger als er und hatte keine Probleme damit, ihn niederzuschlagen. »Du hast nur das Flugscheusal erwischt«, fuhr sie ihn an.
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»Wir wissen nicht, ob du Pharaun getroffen hast. Wir können nicht sagen, ob er seine Magie oder seine Levitation eingesetzt hat, um den Sturz abzufedern. Wir wissen nicht, ob er irgend wo da unten steht und über uns lacht. Ich muß seine Leiche sehen, und du wirst sie mir holen, ganz egal, wie du das an stellst. Schick jede verfügbare Priesterin los, jeden Magier und jeden Krieger – ob Drow oder Sklave. Spring!« Das tat er auch. Es war das letzte bißchen Befriedigung, das ihr zuteil werden sollte. Ihre sterblichen Agenten schwärmten aus und über schwemmten die Straßen, während sie selbst in ihrem persön lichen Arbeitszimmer im Haus Mizzrym blieb, wo sie Geister rief und Erkenntniszauber wirkte, um die Suche zu unterstüt zen. Zu ihrem Erstaunen und ihrem Ärger erfolgte alles, ohne daß es zu einem Ergebnis führte. Als das Licht am Fuße Nar bondels aufflackerte und den Anbruch eines neuen Tages ver kündete, mußte sie widerwillig zugeben, daß Pharaun ihr zu mindest für den Moment entwischt war. Einen Monat später erfuhr sie, daß ihr Bruder es bis nach Tier Breche geschafft und den Erzmagier Menzoberranzans bekniet hatte, ihm einen Platz in Sorcere zu geben. Gromph Baenre, der sich daran erinnerte, welches magische Talent der junge Mann während seiner Ausbildung unter Beweis gestellt hatte, sorgte dafür, daß er aufgenommen wurde. Diese Nachricht nahm Greyanna mit großer Erleichterung auf. Sie hatte schon befürchtet, ihr Bruder könne aus Menzo berranzan geflohen sein, womit er sich auf Dauer ihrem Zugriff entzogen hätte. Stattdessen war er einfach auf ein Sims ober halb der Stadt gehüpft. Früher oder später würde er wieder herunterkommen, und dann würde sie ihn erwarten. Jedenfalls hatte sie das gedacht, bis ihre Mutter sie gerufen hatte. Miz’ri, die die gleichen Informationen über den Aufent
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halt ihres flüchtigen Sohnes besaß, war zu einer ganz anderen Auffassung gelangt, wie weiter verfahren werden sollte – näm lich gar nicht. Auch wenn sie nur Männer waren, besaßen die Meister von Sorcere ein gewisses Maß an praktischer Autonomie und be trächtliche mystische Kraft. Da ihre Mutter unablässig Pläne schmiedete, um den Status des Hauses Mizzrym weiter zu stei gern, hatte sie beschlossen, die Magier nicht unnötig zu provo zieren. Pharaun hatte in dem klosterartigen, mit unzähligen Spitzen besetzten Turm einen Platz erhalten und entpuppte sich im Exil als bedeutungsvoller, als er es je zu Hause gewesen war. Greyanna würde ihn leben lassen müssen. Sie hatte das erreicht, was ihr vorrangiges Ziel hätte sein sollen, nämlich Vorherrschaft vor ihren Schwestern und Basen, doch ihre Rache würde unerfüllt bleiben müssen. In all den folgenden Jahrzehnten machte ihr dieser Punkt immer wieder zu schaffen. Hunderte von Malen hatte sie ge plant, sich über die Anweisung ihrer Mutter hinwegzusetzen und Pharaun trotzdem zu töten, doch jedesmal hatte sie ihre Strategien kurz vor deren Umsetzung aufgegeben. So sehr sie Pharaun auch haßte, fürchtete sie sich doch viel mehr vor dem Mißfallen Miz’ris. War es möglich, daß die Muttermatronin endlich doch noch ihre Meinung geändert hatte? Oder erwartete sie irgend eine neue Grausamkeit, weil Miz’ri einen Weg gefunden hatte, um Greyanna zu zwingen, sich in einer abscheulichen Nähe zu ihrem Bruder aufhalten zu müssen, der für sie nach wie vor tabu war? »Es könnte nett sein, Pharaun wiederzusehen«, sagte die jüngere Frau im neutralsten Tonfall, den sie aufbringen konn te. Miz’ri lachte. »Oh, das kann mir vorstellen – ihn wiederzu
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sehen und zu töten. Wolltest du das nicht sagen?« »Wenn Ihr es sagt. Ihr kennt unsere Geschichte. Wir haben das ganze Sava-Spiel direkt vor Euren Augen gespielt.« Ich kann mir vorstellen, daß dir jede Minute gefallen hat, dachte sie. »Ja, und deshalb weiß ich, daß dich dies interessieren wird. Leider hat sich ein Problem ergeben, das noch meinen Wunsch übertrifft, mich mit den Magiern der Akademie zu vertragen. Während du unterwegs warst, sind weitere Männer desertiert ...« »Pharaun ist aus Sorcere weggelaufen?« unterbrach Grey anna und kniff die Augen zusammen. »Wollte man ihn end lich dafür bestrafen, daß unter seiner Anleitung diese Novizen umgekommen sind?« »Nein! Schweig und laß mich ausreden. Wir kommen noch früh genug zu deiner kleinen Zwangsneurose.« »Ja.« »Es sind weitere Männer weggelaufen, und obwohl wir ihn davor gewarnt haben, will Gromph die Angelegenheit den noch weiter untersuchen. In der Hoffnung, daß es unserer Aufmerksamkeit und unserem Mißfallen entgeht, hat er einen indirekten Weg gewählt und einen fähigen Agenten in sein Büro bestellt, um die Angelegenheit zu besprechen. Zum Glück verfügen wir Ratsmitglieder über einen Kristall der Ausspähung, mit dem es uns vor kurzem gelang, einen Weg durch die Zauber zu finden, die diesen Raum umgeben – jeden falls einige davon. Wir können ihn noch immer nicht sehen, doch wir können hören, was vorgeht, und das reichte, um sowohl den Plan des Erzmagiers aufzudecken als auch die Iden tität seines Dieners zu ermitteln. Jetzt darfst du, wenn es unbe dingt sein muß, den Namen deines Bruder voller Begeisterung ins Spiel bringen.«
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»Ich nehme an, Gromph hat ihm gesagt, das sei seine große Gelegenheit zur Wiedergutmachung?« »Genau. Die Frage ist nur, wie wir darauf reagieren sollen.« »Ich nehme an, Ihr habt einen guten Grund, warum Ihr Gromph nicht sagt, daß Ihr von seinem Plan wißt.« »Nicht nur einen, mehrere. Zum einen verlief unsere erste Auseinandersetzung höflich und friedlich, aber wer weiß, ob es beim zweiten Mal noch genauso zugeht. So wie die Dinge sich derzeit gestalten, wollen wir ihn nur sehr ungern härter anpa cken. Zum anderen wollen wir ihn nicht wissen lassen, daß wir ihn belauscht haben. Er würde uns entweder wieder abblocken oder seine Pläne anderswo aushecken. Es ist viel besser, wenn wir einfach seine Schachfigur aus dem Verkehr ziehen. Da Pharaun in geheimer Mission unterwegs ist, kann ihm zustoßen, was will, ohne daß der Erzmagier etwas unternehmen kann. Der Haken an der Sache ist, daß eine Auseinandersetzung mit deinem Bruder immer ein schwieriges Unterfangen ist, ganz besonders jetzt.« Greyanna nickte. »Weil er ein Magier ist und wir sind ... was wir sind.« »Wo, hat sich also der Rat gefragt, finden wir eine Prieste rin, die so mutig und so motiviert ist, daß sie sogar jetzt bereit ist, den Mann zu jagen, sobald er sich in die Stadt begibt. Ich sagte, ich wüßte jemanden.« »Ihr habt recht.« »Das Schöne daran ist, daß du mit ihm eine Rechnung of fen hast. Wenn die Leute sehen, daß du mit Pharaun etwas Unangenehmes machst, werden sie nicht nach dem Grund fragen.« »Ich verstehe. Kann ich auf alle Ressourcen unseres Hauses zurückgreifen?« »Ich kann dir nur wenige Helfer geben. Wenn jemand sieht,
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wie du mit der gesamten Armee des Hauses Mizzrym in die Stadt hinabsteigst, würde niemand annehmen, daß es sich nur um eine persönliche Angelegenheit handelt. Du kannst dir magische Waffen aus dem Arsenal nehmen, aber vergeude sie nicht. Setze nur ein, was nötig ist.« Greyanna verneigte sich. »Ich werde sofort mit den Vorbe reitungen anfangen.« Schließlich lächelte Miz’ri, doch entgegen jeglicher Ver nunft ließ es ihr Gesicht nur noch gefährlicher aussehen.
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Die Seidene Folterbank war nicht, wie mancher Besucher in Menzoberranzan annahm, ein Geschäft für edle Stoffe. Es war ein Massagesalon, doch nur ein vulgärer Geist hätte es als solches bezeichnet. Eigentlich handelte es sich mehr um einen Palast der Freude, in dem die geschicktesten Massagesklaven des Unterreiches das leisteten, was viele Drow als herrlichste aller Freuden betrachteten. Auch Waerva Baenre war dieser Meinung. Sie hatte ihren verwöhnten, sinnlichen Leib bereits in warmes, aromatisiertes Ö1 getaucht, und nichts wäre ihr lieber gewesen, als sich völlig in den Berührungen ihres Masseurs zu verlieren. Doch leider war das unmöglich. Sie war in einer geschäftli chen Angelegenheit in diesen Tempel der Sinne gekommen, einer Angelegenheit, die dort viel sicherer und diskreter be handelt werden konnte als in der Baenre-Zitadelle oder in der
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Residenz der Botschafterin in Westwand. Deshalb hatte sie, obwohl sie von Natur aus gesellig war, einen gemütlichen kleinen Privatraum reservieren lassen, in dem nur zwei Massa gebänke standen und ein Paar taubstummer Masseure auf ihren Einsatz warteten, die sie anstelle der äußerst begabten Tluth ausgewählt hatte. Zu ihrem Glück war der stumme Sklave, den sie für sich gewählt hatte, ähnlich fähig. Er knetete ihre Nackenmuskeln auf eine Weise, die schmerzhaft und lustvoll zugleich war und die ihr ein Stöhnen wohliger Entspannung entlockte. Natür lich trat in diesem etwas würdelosen Augenblick Umrae durch die Tür. Umrae rang sich trotz Waervas momentaner Fassungslosig keit kein Lächeln ab. Die Baenre fragte sich einmal mehr, ob es überhaupt etwas gab, was sie lächeln ließ. Umrae war eine hagere, reizlose Frau, deren Haut eine ungesunde matte grau schwarze Färbung wie Holzkohle aufwies. Der Schnitt ihrer unscheinbaren Kleidung wich nur geringfügig von den Stilen ab, die in Menzoberranzan üblich waren. Bei heimlichen Treffen war sie anfangs immer etwas steif, ängstlich und angespannt. Waerva vermutete, daß sich darin der Unterschied zwischen Bürgerlichen und Adligen zeigte. Ganz gleich, wie gefährlich eine Situation auch sein mochte, eine Adlige wahrte stets eine gewisse Würde. »Sie sieht sich Karten an!« erklärte Umrae. Ihre Stimme entsprach ihrem Erscheinungsbild. Sie war farblos. »Das überrascht mich nicht«, erwiderte Waerva. »Deine Herrin ist recht clever. Ich hatte nie glauben wollen, daß sie für alle Zeit selbstzufrieden bleiben würde.« Der Masseur bohr te seine Fingerspitzen in Waervas obere Rückenpartien, wor aufhin sie erschauderte. »Wir reden darüber, aber laß mich zuerst entspannen. Sag mir, daß niemand von Bedeutung dich
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hat kommen sehen.« Umrae warf ihr einen finsteren Blick zu und war angesichts der Unterstellung offenbar verärgert. »Natürlich nicht.« »Dann leg jetzt um Himmels willen deine Kleidung ab. Du bist hier, weil du angeblich eine Tiefenmassage haben wolltest, und wenn du wieder gehst, solltest du auch so aussehen, als hättest du sie bekommen. Außerdem sind diese Burschen ihr Geld wert.« Umrae, die immer noch den Verdacht hegte, Waerva wolle sich auf ihre Kosten lustig machen, winkte den Menschen, der etwas kleiner und nicht ganz so muskulös war wie sein Kollege, den die Baenre für sich ausgesucht hatte, heran. Der achtete darauf, keinen Blickkontakt herzustellen, als er begann, sie auszuziehen und ihre Kleidung an einen der Wandhaken zu hängen. »Was machen wir nun?« fragte die Bürgerliche. »Sie ist ge schützt. Selbst mit den Ressourcen, mit denen du mich ausges tattet hast, bin ich nicht sicher, daß ich sie töten und dann entkommen kann. Du hast doch bestimmt erfahrene Assassi nen zur Hand.« »Ja.« Waerva mußte die schrägen, rubinroten Augen schlie ßen, als ihr Diener einen weiteren verhärteten Muskel drückte und knetete, bis er unter seinen Fingern endlich nachgab. Es war bemerkenswert, daß sie nicht einmal gemerkt hatte, daß sie verspannt war, bis der Masseur Hand an sie gelegt hatte. »Mord hätte seine Vorteile. Auf diese Weise verschwände sie ein für allemal vom Sava-Brett.« »Dann sind wir uns einig?« fragte Umrae, während sie sich auf ihre Bank legte. Ihr Diener teilte behutsam die Mähne aus struppigem weißem Haar, um die Haut darunter freizulegen. Waerva grinste. »Du klingst so begierig.« »Ich halte nicht viel von ihr.« Der Mensch, der Umrae
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massieren sollte, öffnete einen weißen Porzellantiegel, der eine Salbe enthielt. Ein süßlicher Geruch breitete sich im Raum aus. »Darum geht es aber nicht. Es geht darum, uns solange zu beschützen, wie es nötig ist.« »Da bin ich ganz deiner Meinung«, sagte Waerva, »und meine Sorge ist, daß ein Attentat kontraproduktiv sein könn te. Würde so etwas nicht das ohnehin vorhandene Mißtrauen deiner Herrin noch verstärken? Würde es ihrem Argwohn nicht noch Nahrung geben? Hat sie keine gleichgesinnte Stellvertreterin, die ihren Platz einnehmen kann, wenn sie stirbt?« Umrae runzelte die Stirn und dachte über die Fragen nach, die ihr offensichtlich nicht gefielen. Ihr Sklave verteilte eine dünne Schicht bernsteinfarbenen Öls auf ihrem Rücken. Aus irgendeinem Winkel des Hauses war leises Rufen, La chen und Planschen zu hören. Waerva vermutete, daß es von Männern kam, die sich in einem der Becken vergnügten. Die Frauen der Stadt waren kaum in der Stimmung für Scherze. »Nun gut«, sagte Umrae schließlich. »Was willst du tun?« »Der Gefahr auf subtilere Weise begegnen. Sie kann uns nichts anhaben, wenn ihr Verdacht nicht bestätigt wird.« »Wie willst du das sicherstellen?« Umraes Stimme vibrierte, als ihr Sklave begann, ihren glänzenden Rücken mit den Handballen zu bearbeiten. Viel Spaß damit, diese vor Angst starren Gliedmaßen zu ent spannen, dachte Waerva. »Ich bin eine Priesterin aus dem Hause Baenre, nicht?« »Die Unterste von allen.« »Wie anmaßend von dir.« Waerva spannte sich vor Verär gerung an, bis die Hände ihres Masseurs sie zurechtwiesen. »Ich meinte nur –« »Ich weiß, was du meintest, und ich leugne es nicht.
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Schließlich bin ich deswegen hier. Denk aber daran, meine Tante hat sich immer auf den Rat zweier Personen verlassen: Gromph und Quenthel. Mit Gromph kann sie kaum noch reden, weil sie ihn wie die anderen Männer im Ungewissen lassen will, und ich habe auch Zweifel, daß sie Quenthel oft zu Gesicht bekommt. Die kleine Dämonin hat mit ihren eigenen Problemen genug zu tun. Ihr ist in Tier Breche ein Mißge schick widerfahren.« Umrae wandte den Kopf und sah ihre Mitverschwörerin an. »Ich habe Gerüchte darüber gehört. Was ist geschehen?« »Ich weiß nicht ...« Obwohl ich bei der Göttin wünschte, ich wüßte es, dachte sie, »... aber was immer es war, es hilft uns. Wir wollen, daß Triel an einem Mangel von Beratern leidet.« »Was ist mit ihrem magisch begabten neuen Sohn? Man sagt, er begleitet sie überall hin.« Waerva lächelte. »Jeggred ist unbedeutend. Er ist ein Prachtexemplar, aber alles andere als ein Quell weiser Ratsch läge. Ich sage dir, die arme, unsichere Triel wird voller Panik um plausible Erklärungen anderer Baenre-Priesterinnen ersu chen, selbst von jemandem, der so weit unten steht wie ich. Ich werde unseren Freunden die Zeit erkaufen, die sie brau chen, um ungestört arbeiten zu können.« »Falls Triel dir vertraut.« »Diesmal wird sie es. Wir Baenre sind stolz. Es wäre für Triel unvorstellbar, daß eine von uns Frauen den Wunsch hegen könnte, das Erste Haus zu verlassen, um anderswo ein neues Leben zu beginnen. Natürlich ist sie nicht am Fuß der Hierar chie geboren worden, aber sie hatte Dutzende älterer Schwes tern und Basen, die bevorzugt behandelt wurden und alle wichtigen Posten innehatten. Selbst wenn ich so dreist wäre und versuchte, jede einzelne von ihnen aus dem Weg zu räu men, sobald sich jemand eine Unachtsamkeit leistet, würde es
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immer noch Jahrhunderte dauern, um eine Position in der Familie einzunehmen, die mit wirklicher Macht verbunden ist.« »Das ergibt Sinn. Was wirst du ihr sagen?« »Das Offensichtliche.« Waerva seufzte, als ihr Mensch an ihrem Kreuzbein arbeitete. »Wer weiß, vielleicht ist es sogar die Wahrheit.« »Ich denke schon.« Umrae verfiel in düsteres Schweigen. Die Hände ihres Mas seurs verursachten klatschende, saugende Geräusche, während sie sich über den öligen, feuchten und knochigen Rücken bewegten. »Bei den sechshundertsechsundsechzig Ebenen des Ab grunds«, sagte Waerva, »was ist los? Wenn du Zweifel hast, dann kommen sie viel zu spät.« »Ich habe keine Zweifel. Ich will etwas besseres sein als die Sekretärin der Herrin. Ich will einen Nachnamen haben. Ich will eine Hohepriesterin und eine Adlige sein.« »Das wirst du auch. Wenn deine Intrige die bestehende Ordnung zerschlagen hat, werden sie mich für meine Mithilfe belohnen, indem sie mich zur neuen Muttermatronin über ein neues, aber erhabenes Haus machen, und dann werde ich dich adoptieren. Warum schaust du so verdrießlich?« »Ich bin nur nicht sicher. Diese Stille ... ist sie für uns wirk lich ein Segen oder vielleicht doch ein Unglück? Nehmen wir eine großartige Gelegenheit wahr oder stürzen wir uns blind lings ins Verderben?« Wieviel besser könnte ich schlafen, wenn ich das nur wüßte, ü berlegte Waerva. »Laß mich dir eine Frage stellen«, sagte die BaenrePriesterin dann. »Tief im Innersten deines Herzens – hast du aus Ehrfurcht oder aus Furcht gedient?«
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»Ich diente um der Macht willen.« »Wenn ich darüber nachdenke«, meinte Waerva, »ist es mir nicht anders ergangen. Dann laß uns diese Macht ergreifen, die sich in unserer Reichweite befindet.« »Ich ...« Umrae stöhnte und machte ihre Zehen krumm, als der Mensch es schließlich schaffte, ihr ein Wonnegefühl zu bescheren, das sich über alle ihre Nervenbahnen ausbreitete. Waerva hielt das für ein gutes Zeichen.
Pharaun nahm das Treiben im Basar in sich auf. Er war als Menzoberranzanyr geboren und aufgewachsen, und natürlich hatte er diesen belebten Ort schon oft besucht, doch nachdem er mehrere Zehntage unter Hausarrest gestanden und er sich gefragt hatte, ob sein Leben vorüber sei, erschien ihm der An blick wie ein kleines Wunder. Viele Stände waren hell erleuchtet, mal durch die phospho reszierenden Pilze, die so aufgehängt waren, daß sie die ange botenen Waren ins beste Licht rückten, mal durch magische Beleuchtungen, die dem gleichen Zweck dienten, in einigen Fällen aber auch lediglich durch eine zufällige Nebenwirkung irgendeines Zaubers. Das Leuchten war jedoch nie so intensiv, daß es dem Drow in den Augen hätte wehtun können. Die Bürger der Stadt bahnten sich in der wohltuenden Finsternis, die ihr natürliches Umfeld darstellte, ihren Weg durch die Gänge. Pharaun hielt diese Bürger für eine interessante An sammlung. Eine Hohepriesterin, die nach der Livree ihrer Gefolgschaft aus dem Hause Fey-Branche zu stammen schien, kam aus ihrer mit Vorhängen versehenen Sänfte hervor, um mit dem auf merksamen Blick und dem sicheren Handgriff eines Experten Reitechsen zu inspizieren. Ein leicht verkommen wirkender
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Junge, möglicherweise aus einem der niederen Häuser, verwi ckelte einen Schuster in eine Unterhaltung, während ein Komplize seinen weiten Mantel öffnete, um ein Paar Stiefel aus Schlangenhaut darin verschwinden zu lassen. Männliche Bürgerliche, die verpflichtet waren, ihren Blick vor jeder Frau zu senken und jedem Adligen gleich welchen Geschlechts aus dem Weg zu gehen, glichen diese abfällige Behandlung da durch aus, daß sie sich spöttisch und prahlerisch gegenüber jenen Kreaturen verhielten, die weniger erhaben waren als irgendein Drow. Bei ihnen handelte es sich um eine bunte Mischung unterschiedlichster Gestalten – Grauzwerge, glubschäugige Fischmänner namens Kuo-toas und sogar ein riesiger gehörnter Oger-Magier aus der Welt an der Oberfläche –, die mutig genug waren, in einer Stadt der Dunkelelfen Han del zu treiben oder zu leben. Die Niedersten von allen waren die Sklaven, die mindestens so zahlreich waren wie die Freien, die aber wegen ihrer Bedeutungslosigkeit viel schneller über sehen wurden. Ork-, Gnoll- und Grottenschrat-Krieger be wachten ihre Meister und Meisterinnen, unterdrückte, ausge hungerte Goblins erledigten für die Händler Lieferungen und Besorgungen, und kleine reptilienartige Kobolde sammelten die Abfälle auf und schafften sie fort. Pharaun wußte durch gelegentliche Botengänge, daß, wenn dieser Mittelpunkt des Handels in einem der Länder existiert hätte, die den Himmel sehen konnten, es dort außergewöhn lich laut zugegangen wäre. Doch die Menzoberranzanyr, die verhindern wollten, daß ein nicht endenwollendes Echo durch die Höhlen geworfen wurde, hatten den glatten Steinboden mit dezenten Zaubern belegt. Geräusche in unmittelbarer Nähe erklangen in ihrer natürlichen Lautstärke, doch alles, was weiter entfernt war, hörte man deutlich leiser, so daß es zu der gedämpften Geräuschkulisse kam, die er und Ryld hatten
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hören können, als sie am Rand Tier Breches gesessen hatten. Im Basar waren mehrere dieser magischen Dämmfelder ein gerichtet, die alle dicht beieinander lagen. Für Besucher, die zum ersten Mal herkamen, konnte das ein wenig irritierend sein, da ein einziger Schritt genügte, um von fast völliger Stille zu ohrenbetäubendem Lärm zu wechseln, wenn ein Versteige rer seine Ware feilbot oder ein Dudelsackspieler seinem In strument schrille, durchdringende Töne entlockte. Zum Glück gab es keine derartigen Zauber, die die Gerüche des Marktes an der Ausbreitung hinderten, einen prächtigen Geruchsteppich aus Gewürzen, exotischen Produkten, die von der Welt an der Oberfläche importiert worden waren und leider zum Teil ihre Haltbarkeitsdauer überschritten hatten, Glühweinen, Leder, heißem Bratfett, Rothé-Dung, frisch ver gossenem Blut und tausend anderen Dingen. Pharaun schloß die Augen und atmete den Duft ein. »Das ist immer wieder großartig, nicht wahr?« »Ich glaube schon«, antwortete Ryld. Für seinen Ausflug, der ihn von Tier Breche wegführte, hat te Ryld einen Piwafwi über die breiten Schultern geworfen. Der Umhang verdeckte seine von Zwergen hergestellte Rüstung und das Kurzschwert, während die Kapuze sein Gesicht tarnte. Kein Stoff der Welt hätte jedoch das riesige Schwert verde cken können, das er auf dem Rücken trug. Ryld nannte die Waffe Splitter. Pharaun hielt diesen Namen zwar für häßlich und prosaisch zugleich, doch er mußte zugeben, daß er sehr zutreffend war. In den geschickten Händen seines Freundes konnte das Schwert praktisch alles spalten. Ryld wirkte ganz entspannt, doch der Magier wußte, daß dieser Eindruck täuschte. Der Meister Melee-Magtheres suchte reflexartig die Umgebung nach Gefahren ab und war dabei so aufmerksam, daß nicht einmal Pharaun es mit ihm aufnehmen
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konnte, obwohl er seine Beobachtungsgabe als außerordentlich gut einschätzte. »Du glaubst schon?« wiederholte Pharaun. »Spricht da nur dein üblicher Trübsinn oder findest du, es mangelt an etwas?« »Ja, das finde ich«, sagte Ryld. Er machte eine ausholende Geste, die die Besuchermengen, die Stände und das Wirrwarr der Gänge ringsum einbezog. »Ich finde, der Basar könnte etwas Ordnung gebrauchen.« Pharaun grinste und sagte: »Vorsicht, sonst muß ich dich wegen Blasphemie melden. Es ist das Chaos, das uns schuf und uns zu dem machte, was wir sind.« »Richtig. Chaos ist Leben. Chaos ist Kreativität. Chaos macht uns stark. Ich erinnere mich an das Glaubensbekennt nis, aber wenn man es praktisch betrachtet, dann könnte all diese Verwirrung nur dem Zweck dienen, die Feinde der Stadt zu tarnen. Sie könnten in diesem Chaos Spione und Assassi nen hereinschmuggeln und geraubte Geheimnisse und Schätze herausschaffen.« »Ich bin sicher, das geschieht. Auf jeden Fall ist das die Art und Weise, wie unsere Agenten auf anderen Märkten im Un terreich arbeiten.« Eine Orkin eilte durch die Menge, den Kopf gesenkt, ein Stück Pergament in der Hand. Vielleicht hatte ihr Meister ihr eine Auspeitschung angedroht, wenn sie eine Nachricht nicht schnell genug überbrachte. Sie versuchte, sich durch den schmalen Spalt zwischen Pharaun und einem anderen Fußgän ger hindurchzuzwängen, machte jedoch einen falschen Schritt und stieß den Magier an. Die Sklavin mit dem Schweinsgesicht sah auf und erkannte, daß sie soeben einen elegant und teuer gekleideten Dunkelel fen angerempelt hatte. Ihr Mund mit den vorstehenden unte ren Eckzähnen blieb vor Schreck offenstehen, doch Pharaun
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schnippte mit den Fingern und bedeutete ihr, sie solle ver schwinden. Sofort wandte sie sich ab und eilte davon. »Dann sollte der Rat den Basar gründlich überwachen«, sagte Ryld. »Es reicht nicht, hin und wieder eine Patrouille loszuschicken, um Diebe zu entmutigen. Die Händler müssen eine Lizenz beantragen. Ihre Lasttiere, Zelte und Stände müs sen regelmäßig durchsucht werden.« »Soweit ich weiß«, sagte Pharaun, »wurde das versucht, a ber jedesmal wurde der Basar weniger gewinnträchtig, und der Anteil für die Muttermatronen fiel entsprechend niedriger aus. Eine Regulierung ist auch bei den Häusern keine gern gesehe ne Idee, da sie selbst Operationen betreiben, die sich am Ran de der Legalität oder auch jenseits davon bewegen. Ich versi chere dir, daß viele Häuser so arbeiten.« Pharaun mußte es wissen. Ehe er vor seiner Familie geflo hen und ins Exil gegangen war, hatten er und Sabal eine wich tige Rolle bei den heimlichen und völlig ungesetzlichen Ge schäften des Hauses Mizzrym mit den Tiefengnomen – den Svirfneblin – gespielt, die von den vielen Feinden der Dunkel elfen ohne jeden Zweifel die tödlichsten waren. »Wenn du es sagst«, sagte Ryld. »Ich bin kein Adliger, ich kann derlei nicht wissen.« Pharaun seufzte. Es stimmte. Sein Freund war unter so be scheidenen Umständen zur Welt gekommen, wie es einem Drow nur möglich war. Doch während seines Aufstiegs in seinen gegenwärtigen Rang war er notgedrungen mit der Art der Aristokratie bestens vertraut gemacht worden. Es war nur einer von diesen seltsamen Augenblicken, in denen er eine merkwürdige Befriedigung daraus gewann, so ignorant zu tun, als sei er ein Bauer. »Ich bin erfreut, daß du deinen Wurzeln so nah bleibst«, sagte Pharaun. »Ich zähle auf deine Vertrautheit mit den E
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lendsvierteln, damit meine Treffen mit den niederen Orden sicher über die Bühne gehen.« »Ich habe mich schon gefragt, wann es soweit sein wird. Hätten wir uns sofort auf den Weg nach Ostmyr oder den Braeryn machen sollen?« »Es bringt nichts, sich blindlings dorthin zu begeben, wenn wir zuvor noch Informationen sammeln können.« Pharaun ging davon aus, daß sie diese Information tatsäch lich besser schnell einholten, auch wenn es eine Schande war. Er hätte ein wenig Muße noch gut gebrauchen können, um sich von einem Laden zum nächsten treiben zu lassen, bei spielsweise Daeilein Dunkelschimmers Dekanter mit seiner erstaunlichen Auswahl an Weinen, Likören und – für diejeni gen, die wußten, wie man danach fragte – Tränken sowie Gif ten aus aller Welt. Vielleicht würde er dort einen klaren Kopf bekommen. Oder vielleicht würde es ihm nur ein weiteres Rätsel aufge ben, über das er nachdenken mußte, denn obwohl einiges feilgeboten wurde, schien das Angebot auf dem Basar kleiner als üblich zu sein. Wie kam das? Konnte es etwas mit den Flüchtigen zu tun haben? Und was hatte es mit dieser dämonischen Spinne auf sich, die auf dem Plateau über ihm und Ryld Gestalt angenommen hatte und nach Arach-Tinilith vorgestoßen war? Gab es einen direkten Zusammenhang oder war das nur ein Schachzug in einer der unzähligen geheimen Fehden Menzoberranzans, der mit seinen Problemen rein gar nichts zu tun hatte? Er mußte grinsen. Er wußte so wenig, und das Wenige war kaum geeignet, ihn zuversichtlich zu stimmen. »Da ist es«, sagte Ryld. »In der Tat.« Das Schmuckkästchen, eine aus einem langen, relativ nied
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rigen Vorsprung des Gesteins geschnittene Schenke, war nur wenige Zentimeter von dem entfernt, was allgemein als die Grenze des Basars angesehen wurde, wo von allen Händlern verlangt wurde, alle Sechsundsechzig Tage ihre Stände an einer anderen Stelle aufzubauen. Obwohl es weder ein Schild noch irgendeine andere Form der Werbung gab, hatte das Lokal schon immer einen beständigen Strom aus Kunden und Händlern angezogen. Als die beiden Meister die Treppe hinun tergingen, die vom Straßenniveau nach unten zur Kalksteintür führte, hörte Pharaun deutlich mehr Lärm als üblich, der von einem wüsten Gelage zu stammen schien. Es wurde gelacht, man unterhielt sich angeregt, und ein Trio aus Langhorn, Yar ting und Handtrommel spielte eine erfrischende Melodie. Die dritte Saite der Yarting war ein wenig verstimmt. Ryld benutzte den Türklopfer aus Messing, worauf in der Mitte der Tür eine kleine Klappe zur Seite geschoben wurde. Ein Augenpaar spähte heraus und verschwand. Das Portal öffnete sich. Pharaun grinste. So oft er hergekommen war, hatte er noch nie beobachtet, daß jemand nicht eingelassen wurde. Er ver mutete, daß der Spion nur ein harmloser Spaß war, der einem Besuch im Schmuckkästchen einen kriminelleren, verruchte ren Hauch verleihen sollte. Vielleicht hätte der Türsteher tatsächlich versucht, einer Frau den Besuch auszureden, wenn je eine versucht hätte, eingelassen zu werden. Der Raum hinter der Schwelle mit seiner niedrigen Decke roch nach süßem und leicht berauschendem Weihrauch. Drei Musiker standen dicht gedrängt auf einer kleinen Bühne an der Westwand. Einige Gäste interessierten sich tatsächlich für die musikalische Darbietung, doch die meisten waren anderen Vergnügen zugetan. An einem Tisch war ein halbes Dutzend zerzauster Männer damit befaßt, gleichzeitig ihre Liköre zu
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kippen, was den Eindruck vermittelte, daß sie sich einem Wettrinken widmeten. Andere Männer warfen mit Dolchen auf ein Ziel an der Wand, ohne sich dabei um die Sicherheit derer zu kümmern, die in der Nähe standen und saßen. Würfel rollten, Spielkarten wurden auf einen Tisch gedonnert und Münzen klimpernd umhergeschoben, sobald ein glücklicher Spieler seinen Gewinn einstrich. Ryld beobachtete die Umgebung mit der für ihn typischen unauffälligen Aufmerksamkeit und merkte sich jede der mögli chen Gefahren, die hier lauern konnten. Dennoch war Pha raun amüsiert, als er sah, daß der Blick des Freundes einen Moment lang auf dem spinnennetzförmigen Sava-Brett ver harrte. Dieser Moment schien zu genügen, um die vier laufen den Wettbewerbe zu analysieren. Sava war ein komplexes Spiel, das einen Krieg zwischen zwei Adelshäusern simulierte – zumindest stellte es das gegen wärtig dar. Pharaun hatte einmal eine antike Version gesehen, in der es um den ewigen Kampf der Dunkelelfen mit einer anderen Rasse ging, doch diese Spiele waren schon lange vor seiner Geburt aus der Mode gekommen. Vermutlich hatte sich nie ein Spieler gefunden, der in die Rolle der Zwerge hatte schlüpfen wollen. Das einem Gitternetz gleichende Spielbrett bestimmte, wel che Züge möglich waren, und die Spielfiguren waren mit un terschiedlichen Eigenschaften ausgestattet. Auf seine Art erinnerte Sava an Spiele, wie man sie auch bei anderen Kultu ren fand, doch da Drow immer an das Chaos in ihrem Blut erinnern wollten, hatten sie einen Weg gefunden, ein Zufalls element in das Spiel einzuführen, das wiederum mit mechani scher Präzision ablief. Einmal pro Spiel konnte jeder Spieler anstelle eines normalen Zugs die Sava-Würfel zum Einsatz bringen. Wenn auf beiden eine Spinne erschien, konnte er mit
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einer Spielfigur seines Gegners eine von dessen Figuren elimi nieren, die sich in Reichweite befand. Es war eine Regel, die die Neigung der Dunkelelfen anerkannte, ihresgleichen auch im Angesicht einer ernsten Bedrohung von außen übers Ohr zu hauen. Pharaun, der sich insgeheim für klüger als Ryld hielt, war immer etwas verärgert darüber gewesen, daß er den Waffen meister im Sava nicht schlagen konnte. Er mußte eingestehen, daß sein Freund Mutter, Priesterin, Magier, Krieger, OrkSklavensoldat und den Würfel mit dem gleichen Geschick handhabte, wie er ein Schwert führte. Er hatte gar behauptet, Sava und Kämpfen seien die gleiche Sache, auch wenn Pha raun nie ganz verstanden hatte, was diese Aussage bedeutete. Er klopfte Ryld auf die Schulter und sagte: »Spiel nur. Amü sier dich. Gewinne ihr Gold. Aber denk daran, dich während des Spiels zu unterhaken. Versuch, etwas herauszufinden. Ich versuche mein Glück im Keller.« Ryld nickte. Pharaun bahnte sich einen Weg durch den gut gefüllten Raum in Richtung Theke. Dahinter saß auf einem Hocker der schrumplige, einbeinige Nym, ein älterer Mann, dessen griesg rämige, unerschütterliche Feindseligkeit gegenüber anderen Wesen es mit der eines jeden Dämons aufnehmen konnte, den der Meister von Sorcere je beschworen hatte. Der alte, im Ruhestand lebende Kampfmagier war voller Begeisterung da mit beschäftigt, den Goblin-Knechten Drohungen, Obszönitä ten und Befehle an den Kopf zu werfen, die unablässig Geträn ke einschenkten, unterbrach seine Tiraden aber widerwillig gerade so lange, wie es nötig war, um eine Handvoll Gold anzunehmen. Im Gegenzug händigte er eine abgenutzte, numerierte Le derschlaufe aus, an der sich mehrere Schlüssel fanden.
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So ausgerüstet durchschritt Pharaun den Torbogen gleich neben der Bar und ging wieder eine kleine Treppe hinunter. Dort unten erwartete ihn das, was sich im Schmuckkästchen wirklich abspielte. Das war auch der Grund dafür, warum Nym auf jedes Schild an seinem Geschäft verzichtet hatte. Da in Menzoberranzan eine Göttin und ihre Priesterinnen das Sagen hatten, war es nur für die wenigsten weiblichen Dunkelelfen notwendig, ihren Körper zu verkaufen. Nur eine Handvoll jener, die krank und gebrechlich waren und es wirk lich nötig hatten, hatten sich je zu etwas derart Entwürdigen dem herabgelassen. Folglich mußte man annehmen, daß ein Mann, der sich intime Gesellschaft erkaufen wollte, nur unter jenen wenigen höchst unattraktiven Dunkelelfen oder den Frauen anderer, minderwertiger Spezies wählen konnte. Ganz stimmte das aber nicht, jedenfalls nicht, wenn ein Mann eine gut gefüllte Geldbörse vorweisen konnte. Der Grund dafür war, daß es zwar nur selten, aber eben doch zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Drow-Städten kam, auch wenn die Drow normalerweise ihre militärischen Mittel dafür einsetzten, um gegen Mantler, Svirfneblin und andere mit ihnen im Wettstreit stehende Zivilisationen des Unterreichs zu kämpfen. Wenn es doch zu diesen Konflikten kam, konnte es vorkommen, daß weibliche Gefangene ge macht wurden. Der kluge, legitime Umgang mit diesen potentiell gefährli chen Gefangenen bestand in der Befragung, der Folter und schließlich der Hinrichtung. Nym war es aber in einigen Fällen gelungen, zuständige Offiziere zu bestechen, damit sie ihm Gefangene überließen, die er dann nach Menzoberranzan und in den Keller des Schmuckkästchens schmuggelte. Nym hatte sich diese Mühe gemacht, weil er auf den schlau en und richtigen Gedanken gekommen war, daß eine nicht
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gerade kleine Anzahl männlicher Menzoberranzanyr gut dafür zahlen würden, das Privileg zu bekommen, über eine Frau bestimmen zu können. In seinem Etablissement konnte ein Kunde mit einer Gefangenen machen, was er wollte. Nym stellte sogar einen Prügel, einen Kohlenrost und Daumen schrauben zur Verfügung ... die einzige Einschränkung war, daß der Kunde einen Zuschlag zahlen mußte, wenn er der Gefan genen einen bleibenden Makel zufügte. Die Existenz des Bordells war ein offenes Geheimnis, und Pharaun war nicht sicher, warum die Muttermatronen nicht längst für dessen Schließung gesorgt hatten. Auf den ersten Blick schien dieses Etablissement Mißachtung des herrschen den Geschlechts zu fördern. Vielleicht meinten die Mutter matronen aber auch, daß ein Mann sich den Frauen in seinem Haus eher unterwarf, wenn man ihm die Möglichkeit gab, anderswo seinen Haß auszuleben. Es war aber viel eher anzu nehmen, daß Nym sie an den Einnahmen beteiligte. Jedenfalls machte das Schmuckkästchen den Eindruck, ein geeigneter Platz zu sein, um Informationen über abtrünnige Männer zu bekommen – vor allem, wenn man hier einen Spi on sitzen hatte. Pharaun war nicht sicher, ob er das noch hatte, doch man konnte nie wissen. Die Treppe führte in einen Gang mit numerierten Türen. Stöhnen und gedämpfte Schmerzensschreie waren dahinter zu hören. Es war mehr los als sonst. Der Magier spazierte durch den Gang, bis er Nummer 14 er reicht hatte. Er zögerte einen Moment, dann runzelte er die Stirn und steckte den größten der Schlüssel in das Schloß. Er drehte ihn, dann ging die Tür auf. Auf dem Bett saß Pellanistra, Hand- und Fußgelenke waren in Fesseln gelegt. Sie sah noch ganz so aus, wie er sie in Erin nerung hatte, die gleichen kraftvollen, wohlgeformten Glied
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maßen, das herzförmige Gesicht, das einige Narben mehr auf wies, weil offenbar der eine oder andere Besucher zu grob ge wesen war. Eine Lippe war aufgeplatzt, ein Auge war geschwol len, eindeutig das Werk einen Besuchers, der sie gerade erst verlassen hatte. Sie hob das Gesicht, sah ihn und sprang ihn an, die Hände mit den langen Fingernägeln nach ihm ausgestreckt. Dann begann sie zu taumeln, als einer der Zauber einsetzte, der sie in Schach halten sollte und Schmerzen durch ihren ganzen Kör per jagte. Im nächsten Moment war die Kette so gespannt, daß Pellanistra den Halt verlor und zu Boden fiel. »Hallo«, sagte Pharaun. Sie spie ihn an, dann verzog sie das Gesicht, als die nächste Bestrafung sie ereilte. Der Speichel traf knapp vor den wei chen, hohen Stiefeln des Magiers auf dem Boden auf. »So sehr es mir zuwider ist, das Offensichtliche auszuspre chen«, fuhr er fort, »muß ich dir doch sagen, daß du nur dir selbst wehtust.« Er trat vor und streckte die Hand aus. »Komm, setzen wir uns hin und unterhalten uns, wie früher. Ich nehme dir sogar die Fesseln ab, wenn du willst.« »Wir hatten eine Abmachung!« warf sie ihm vor. »Ich weigere mich, eine längere Unterhaltung mit jeman dem zu führen, der auf dem Boden sitzt. Das ist ebenso unter meiner Würde wie unter deiner. Komm, sei vernünftig und nimm meine Hand.« Das tat sie zwar nicht, doch sie erhob sich ohne seine Hilfe. Er nahm den Hauch eines blumigen Aromas wahr, das sie auf Nyms Verlangen hin hatte auflegen müssen. »Das ist doch schon besser, nicht wahr?« fragte er. »Soll ich dir die Fesseln abnehmen?« »Wir hatten eine Vereinbarung, und ich habe meinen Teil erfüllt.«
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»Ich wünschte, du würdest mir einen Platz anbieten.« »Du hast mich im Stich gelassen!« Pharaun spreizte die schlanken, langen Finger und sagte: »Nun gut, Priesterin. Wenn du es für nötig hältst, werden wir noch ein wenig über das Selbstverständliche elaborieren. Ja, ich habe dich in meine Dienste gestellt. Ja, du hast hervorra gende Arbeit geleistet – du warst auf dem besten Weg, deine Befreiung zu verdienen –, aber dann änderten sich die Bedin gungen. Du wirst sicher davon gehört haben.« »Ja. Du hast auf die falsche Schwester gesetzt, und Greyan na hat aus dir einen Narren gemacht. Sie hat ihre Zwillings schwester umgebracht, und du konntest sie nicht davon abhal ten. Wenn du nicht den Schwanz eingezogen hättest und nach Sorcere geflohen wärst, hätte sie dich auch getötet.« Pharaun lächelte schief. »Ich glaube nicht, daß ich die Bar den dazu ermutigen werde, es so zu formulieren, wenn man die Geschichte meines Lebens in einem Lied beschreiben soll.« »Aber nachdem du dich in Tier Breche niedergelassen hat test, nachdem du kommen und gehen konntest, wie du woll test, hättest du auch hierher zurückkehren können.« »Ich bin von Zeit zu Zeit hiergewesen, nur nicht bei dir. Ich fand es zu seltsam.« »Ich hätte dir wie zuvor helfen können.« »Leider nicht. Nachdem ich mich aus dem Haus Mizzrym hatte zurückziehen müssen, hatte ich mit den Machtkämpfen in meiner Familie oder den anderen Häusern nichts mehr zu tun. Ich benötigte keine Informationen über die dortigen Vor gänge mehr. Die einzige Rivalität, die mich beschäftigte, war die zwischen Magiern, und auch wenn du die wichtigsten An wender meiner Kunst zu deinen Gästen zählst, bezweifle ich, daß sie dir die Esoterik ihrer neuesten Zaubererfindungen ins Ohr flüstern. Wenn es um unsere Entdeckungen geht, sind wir
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Magier ein verschlossenes Völkchen.« »Du weißt nicht, wie es für mich war ... wie es für mich ist, von denen, die unter mir stehen, mißbraucht und gedemütigt zu werden, gefesselt in Körper, Geist und Seele, unfähig, mit Lolth zu kommunizieren ...« Pharaun hob die Hand. »Du bringst dich nur selbst in Ver legenheit. Du klingst wie ein jämmerlicher Mensch oder wie einer unserer widerwärtigen Vettern von der Welt da oben. Setze dieser Triade ein Ende, atme durch, und dann denk nach. Du wirst erkennen, Feindin Menzoberranzans, daß mei ne Sorge um dein Wohlergehen im besten Falle begrenzt war. Wie sollte es auch anders sein? Das Mitgefühl war nicht groß genug, um ein Vermögen herzugeben, damit ich dich freikau fen konnte, oder um dich mit Gewalt zu befreien, sollten Nym und ich uns nicht einigen können. Zumal du die Bedingungen unserer Vereinbarung nicht eingehalten hast. Wie du sicher weißt, solltest du mich volle 20 Jahre mit nützlichen Informa tionen versorgen. Ich gebe zu, es war nicht dein Fehler, daß du das nicht konntest, doch das war nun mal der Lauf der Dinge.« »Na gut«, sagte sie mürrisch. »Du hast recht. Ich benehme mich lächerlich. Indem du mich aufgabst, hast du dich nur so verhalten, wie es jeder vernünftige Dunkelelf täte. Nun sag mir, was im Namen der Dämonennetze du von mir willst.« Er deutete mit einer Kopfbewegung zum anderen Ende des Raums. »Können wir ...?« Sie nickte knapp, dann setzten sie sich, sie auf der Matratze auf dem großen achteckigen Bett, er auf einem gepolsterten Granitstuhl. »Schon besser«, sagte er. »Soll ich Wein kommen lassen?« »Sag, was du willst.« »Nun gut. Ich kann mir vorstellen, daß dich meine kleine Notlage amüsieren wird. Die Göttin allein kennt die Anzahl
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der Jahre, die ich damit beschäftigt war, die dünne, leiden schaftslose Luft des Studiums einzuatmen, mein Wissen mit wißbegierigen jungen Geistern zu teilen, die Grenzen der mys tischen Kunst voranzutreiben ...« »Nicht zu vergessen die Ermordung anderer Magier, um de ren Talismane und Folianten an dich nehmen zu können.« Er grinste. »Das hatte ich damit natürlich andeuten wollen. Jedenfalls finde ich mich mit einem Mal wieder mit den eher weltlichen Aspekten des Lebens in unserer Adelsmetropole konfrontiert. Es gibt ein Rätsel, das ich lösen muß, um den Erzmagier gütlich zu stimmen. Ich wäre dir bis zum Tod und darüber hinaus dankbar, wenn du mir dabei helfen könntest.« »Wie sollte ich?« »Sei nicht so einfallslos. Das paßt nicht zu dir. Wie immer! Ich nehme an, dumme Jungs prahlen immer noch von Zeit zu Zeit gegenüber den Frauen, für die sie bezahlt haben, auch wenn sie sich nach kurzem Nachdenken daran erinnern wür den, daß ihr sie verabscheut und ihnen alles erdenklich Schlechte wünscht. Ich kann mir auch vorstellen, daß du hin und wieder verpflichtet bist, bei Treffen derartiger Idioten für Unterhaltung zu sorgen, die sich deiner gar nicht wirklich bewußt sind und sich über höchst vertrauliche Angelegenhei ten unterhalten.« »Mit anderen Worten: Du willst zu unserer alten Vereinba rung zurückkehren, die noch vier Jahre lang läuft. Wenn ich dir bei diesem aktuellen Problem helfe, wirst du dich auch weiter mit ›weltlichen‹ Angelegenheiten befassen oder wirst du dich wieder in deinen Turm einschließen?« Er spielte mit dem Gedanken zu lügen, doch seine Instinkte sagten ihm, daß sie ihn durchschauen würde. »Ich bin nicht ganz sicher, was aus mir werden wird«, ant wortete er. »Wenn ich Erfolg habe, werde ich – soweit ich
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weiß – wieder in Sorcere aufgenommen, und meine Vergehen werden mir vergeben. Allerdings bin ich mir dessen keines wegs sicher, auch wenn ich nicht sagen kann, warum. Ich bin in etwas hineingeraten, das ich nicht begreife, und nur die dunklen Mächte wissen, wohin es führen wird.« »Wenn du meine Hilfe willst, dann mußt du mich befreien ... heute noch.« »Unmöglich. Ich habe weder die dafür notwendigen Mittel bei mir, noch habe ich Zeit, um mit Nym zu feilschen. Du weißt, er zieht jede Verhandlung auf Tage hinaus, nur um ei nen zu ärgern. Auch habe ich nicht die Zeit, um deine Flucht zu arrangieren.« Sie starrte ihn nur an, und er begriff. »Ah«, sagte er. »Sind wir uns einig?« »Wenn du mir tatsächlich helfen kannst. Mein Problem ist folgendes: Eine ungewöhnlich große Zahl von Männern ist in jüngster Zeit von zu Hause fortgelaufen.« »Das ist dein Auftrag? Flüchtlinge aufspüren? Was macht die Sache wichtig genug, daß man dafür einen Meister Sorce res entsendet?« Er lächelte. »Ich habe keine Ahnung. Weißt du etwas dar über?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht viel.« »Ehrlich gesagt wird mir jede noch so kleine echte Informa tion weiterhelfen.« »Nun, ich habe nur vagste Andeutungen gehört, aber die lassen die Vermutung zu, daß es nicht darum geht, daß viele Männer aus freien Stücken entscheiden, von zu Hause wegzu laufen. Sie haben sich aus irgendeinem Grund, den ich nicht kenne, alle zum selben Ort begeben.« »Das hatte ich mir bereits gedacht«, überlegte Pharaun.
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»Warum sollte sich Gromph sonst dafür interessieren? Aber es ist ermutigend zu hören, daß dein flinker Geist zum gleichen Schluß gekommen ist.« Sie grinste. Pharaun strich gedankenverloren über eine der wirbelnden Linien im Stoff seines Gewands. »Ich bezweifle, daß eine Drohung so viele Jungs von zu Hause vertreiben könnte«, sagte er schließlich. »Einige von ihnen hätten sicher den Mut, dem zu trotzen, der sie bedroht, oder würden sich um Schutz an ihre Verwandten wenden. Ein Hypnosezauber ist ebenfalls auszuschließen. Abgesehen von der natürlichen Resistenz gegen solche Methoden, die uns Drow allen gemeinsam ist, hätten einige der jungen Männer sicherlich Schutzzeichen in Form von Amuletten oder ähnli ches bei sich getragen. Nein, ich glaube, wir müssen anneh men, daß sie aus eigenem Antrieb fortgelaufen sind, um etwas zu tun, was sie für eine gute Sache halten. Aber was?« »Organisieren sie einen neuen Händler-Clan?« »Daran dachte ich schon, aber Gromph glaubt es nicht, und ich bin sicher, daß er recht hat. Wenn das der Fall wäre, wa rum die Geheimniskrämerei? Handel ist in Menzoberranzan wichtig, und normalerweise hat niemand etwas dagegen, wenn ein Mann Händler wird. Das ist eine von zwei oder drei legiti men Möglichkeiten, um sich von der Mutter brutaler, bestim mender Hand zu befreien.« Er grinste. »Nimm’s nicht persön lich. Ich bin sicher, daß die Männer in glücklicheren Zeiten unter deiner Autorität keinen Grund hatten, sich über dich zu beklagen.« »Du kannst darauf wetten, daß ich ihnen jetzt Grund dazu liefern würde.« »Angesichts deiner Erfahrungen in jüngster Zeit ist das ver ständlich. Wenn die Flüchtigen also keine Karawane zusam
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menstellen, was tun sie dann? Wollen sie aus Menzoberranzan fliehen? Oder – die Göttin möge es verhindert haben – sind sie das längst?« »Ich glaube nicht. Ich kann dir nicht sagen, wo sie sich ge nau aufhalten, aber ich glaube, sie sind immer noch in der Stadt, im Mantel oder vielleicht draußen im Bauthwaf.« »Das ist mal eine wirklich gute Neuigkeit. Ich war nicht scharf auf eine Jagd durch die Wildnis des Unterreichs. Nicht nur, daß es dort insgesamt an Annehmlichkeiten mangelt – die Winzer entkorken im übernächsten Zehntag den neuen Jahr gang.« Pellanistra schüttelte den Kopf. »Du hast dich nicht verän dert.« »Danke, das nehme ich als Kompliment. Kommen wir zum wichtigsten Punkt. Ich brauche Namen. Welche deiner Besu cher haben diese ›vagen Andeutungen‹ gemacht, die du so klug ausgelegt hast?« Sie schenkte ihm ein vor Boshaftigkeit strahlendes Lächeln. »Alton Vandree und Vuzlyn Freth.« »Die beide auch verschwanden und somit nicht befragt werden können. Ich vermute, das ergibt einen Sinn, aber es ist trotzdem unerfreulich.« »Ich habe dir alles gegeben, was ich habe«, sagte sie. »Nun erfülle deinen Teil der Abmachung.« Der Magier runzelte die Stirn und erwiderte: »Meine liebe Kollaborateurin, ich wäre untröstlich, wenn ich dich enttäu schen müßte. Doch ich ging davon aus, daß du mir bedeutsame Informationen geben würdest. Um ehrlich zu sein, ich bin nicht sicher, ob ich die bekommen habe. Ich weiß kaum mehr als zuvor.« »Tu es, sonst sage ich jedem, der mich in dieser Zelle auf sucht, daß du nach den Flüchtigen suchst. Vielleicht wird das
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für deine Mission ›bedeutsam‹ sein. Ich nehme an, daß es sich um ein Geheimnis handelt. Das ist meist der Fall, wenn du darin verstrickt bist, und du hast auch kein Wort von Heer scharen von Assistenten fallen lassen, die dich begleiten sol len.« Pharaun lachte. »Gut gespielt. Ich gebe auf. Wie sollen wir es anstellen?« »Egal. Verbrenne mich mit deiner Magie. Jage mir deinen Dolch in den Leib. Brich mir mit deinen langen, geschickten Fingern das Genick.« »Interessante Vorschläge, aber ich will nicht, daß Nym we gen deines Ablebens von mir eine Entschädigung fordert. Wenn wir es so aussehen lassen, als sei dein Herz stehengeblie ben, als ich längst gegangen war, dann habe ich eine Chance, von Nym in Ruhe gelassen zu werden.« Er sah sich um, entdeckte das dicke, flauschige Kissen auf dem Bett, nahm und packte es versuchsweise an zwei Enden. Es fühlte sich gut an. »Das sollte klappen«, sagte er. »Wenn du so nett sein könn test und dich hinlegen würdest?«
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Ryld trank mit einem Gefühl der Zufriedenheit einen Schluck von seinem gekühlten Obstwein, im sicheren Wissen, daß das Spiel bereits gewonnen war, auch wenn es noch in vollem Gang war. Noch drei Züge, dann würden sein Magier und sein Ork aus Onyx die Karneol-Mutter seines Gegenspielers in die Falle gelockt und mattgesetzt haben. Wie üblich hatte er gewonnen, ohne auf die Würfel zurück greifen zu müssen. Wenn er ehrlich sein sollte, waren die klap pernden Elfenbeinwürfel mit den magisch erwärmten, eingra vierten Abbildungen der Aspekt beim Sava, der ihm nicht gefiel. Sie brachten ein Zufallselement in ein Spiel, das eigent lich ein Wettstreit des reinen Kalküls sein sollte. Rylds Gegner, ein dürrer junger Mann aus einem Händler clan mit der unangenehmen Angewohnheit, den Likör trop fenweise aus seinen Mundwinkeln rinnen zu lassen, wenn er
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trank, hatte früh gewürfelt und gestrahlt, als der Zufall es ihm erlaubte, eine der Priesterinnen des älteren Mannes zu elimi nieren. Mit eingezogenem Kopf und Schweißperlen auf der Stirn saß er nun da und betrachtete das Spielbrett, als hinge das Schicksal seiner Seele davon ab. Ein wirklich guter Spieler hätte sofort erkannt, daß er nur einen einzigen Zug machen konnte, vorausgesehen, daß das unvermeidbare Matt nur noch drei Züge entfernt war, und aufgegeben. Ryld, der nicht vergessen hatte, weshalb er wirklich im Schmuckkästchen war, tat sein bestes, völlig beiläufig zu klin gen, als er die Unterhaltung wieder aufnahm, die er und der leicht beschwipste Händler mit zahlreichen Unterbrechungen führten. »Hat dein Vetter denn verlauten lassen, daß er weglaufen würde?« »Nein«, erwiderte der Clansangehörige knapp. »Warum auch? Wir haben einander sowieso gehaßt. Jetzt halt den Mund, du versuchst nur, mich in meiner Konzentration zu stören.« Ryld seufzte und ließ sich auf seinem spindeldürren, zer brechlich wirkenden Stuhl aus Kalkstein nach hinten sinken. Aus dem Augenwinkel heraus nahm er etwas wahr, was ihn veranlaßte, sich gerader hinzusetzen und noch einmal die ge naue Position zu überprüfen, in der Splitter gegen die Wand gelehnt war, während er gleichzeitig sein Kurzschwert ein Stück weit aus der gut geölten Scheide zog. Er konnte nicht sagen, was ihn so beunruhigt hatte. Dies war nicht die erste Gruppe von Feiernden gewesen, die er hatte aufstehen und nach den Waffen greifen sehen, um spiele risch zu kämpfen oder um einen Streit zu klären, der rein gar nichts mit dem Mann unter der Kapuze zu tun hatte, der alle
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Gegner im Sava schlug. Im Schmuckkästchen war mit einer gewissen Regelmäßigkeit das Geräusch von Klingen zu hören, die gezückt wurden. Auf den ersten Blick war das bei diesem Quartett nicht anders, doch etwas sagte Ryld, daß sie eine andere Absicht verfolgten. Sie gingen geradewegs auf ihn und seinen ganz ins Spiel versunkenen Gegner zu. Andere Gäste, die offensichtlich auch die Absicht der Schwertträger erkann ten, bemühten sich, ihnen den Weg freizumachen. Eine Klinge, deren Diamantspat von einem leuchtenden Rot erfüllt war – vielleicht ein gefangener Geist –, schoß in einer horizontalen Bewegung auf den Tisch zu. Ryld bekam die Waffe zu fassen und konnte sie wegschieben, bevor sie Unord nung in die Sava-Spielfiguren oder in seine säuberlich aufge türmten Gewinne bringen konnte. Das Langschwert war so scharf, wie eine verzauberte Waffe nur sein konnte, doch es gelang ihm, sie so zu halten, daß sie ihm nicht in die Hand schnitt. Der hagere Junge wurde endlich aus seinen Gedan kengängen gerissen und sah sich erschrocken um. »Können wir euch helfen?« fragte Ryld. »Wir haben euch belauscht«, sagte der mit dem Lang schwert. Er war zwar nicht so groß wie Ryld, doch für einen männli chen Drow recht stämmig und hochgewachsen. Die Spitzen seiner auffallend großen Ohren schienen wie bei einer Fleder maus über den Kopf hinauszuragen. Er war von der Vierergrup pe am besten angezogen und offenbar ihr Anführer, auch wenn sein breites, mürrisches Gesicht Verletzungen wie von einer Schlägerei aufwies. Der Waffenmeister vermutete, eine adlige Frau hatte dafür gesorgt, daß dieser Mann eine Abreibung erhielt. Seine Gefährten würden deswegen nicht schlechter über ihn denken. Besonders zumal, wie Ryld sah, zwei weitere aus der Gruppe
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ebenfalls Schmerzen haben mußten, da einer sich etwas steif bewegte und der andere versuchte, ein Bein zu entlasten. Viel leicht waren sie alle miteinander verwandt, und eine der Pries terinnen in ihrem Haus hatte sich in einem regelmäßigen auftretenden Wutanfall ergangen. »Du hast viele Fragen über Flüchtlinge gestellt«, fuhr der Schwertträger in einem gefährlichen Tonfall fort. »Habe ich das?« erwiderte Ryld. Er dachte bei sich, daß es zu schade war, daß die drei Musi ker einige Minuten zuvor die Bühne verlassen hatten. Er be zweifelte, daß jemand sie hätte belauschen können, wenn das Langhorn seine schrillen Töne verbreitet hätte. Der andere sah ihn finster an und fragte: »Warum?« »Ich unterhalte mich nur. Weißt du etwas über die Flüchti gen?« »Nein, aber ich weiß, daß es uns hier nicht gefällt, wenn Leute zu neugierig sind. Wir mögen keine Leute; die Flüchtlin ge jagen. Wir mögen es nicht, wenn sie jedes private Wort belauschen, das wir sprechen, und dann den Müttern Bericht erstatten.« »Ich bin kein Spion.« Vielleicht war er das doch, aber er hatte nicht die Absicht, es diesem Narren zu gestehen. »Ha!« schnaubte der Schwertträger. »Wenn du einer wärst, würdest du es nicht zugeben.« »Wie dem auch sei, ich schlage vor, du und deine Freunde, ihr kehrt an euren Tisch zurück, damit dieser Junge und ich unser Spiel fortsetzen können.« Der Mann mit dem rötlichen Schwert ereiferte sich so sehr, daß er wie eine prall gefüllte Blase wirkte, die jeden Augen blick zu platzen drohte. »Willst du mich wie einen Diener wegschicken? Hast du eine Ahnung, wer ich bin?«
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»Natürlich, Tathlyn Tiefengang. Ich habe dich ausgebildet. Erinnerst du dich an mich?« Ryld schob seine Kapuze zurück und ließ seine bis dahin im Schatten liegenden Züge sehen. Tathlyn und seine Freunde starrten ihren ehemaligen Leh rer an, als hätte sich ihnen gerade ein uralter, legendärer Dra che offenbart. »Ich sehe, du erinnerst dich. Dann wünsche ich dir einen guten Tag.« Tathlyn wirkte, als suche er krampfhaft nach einer Erwide rung, die es ihm erlaubte, die Unterhaltung mit unversehrter Würde zu beenden, doch die ersten Schaulustigen begannen bereits zu lachen. Seine Angst war nicht so stark wie sein Stolz, und so schaffte er es, wieder sein Grinsen aufzusetzen. »Ja«, sagte er laut, um das Gelächter zu übertönen. »Ich kenne dich, Meister Argith, doch du kennst mich nicht ... die Person, zu der ich geworden bin. Heute bin ich Waffenmeister des Hauses Tiefengang.« Tiefengang war eines der kleineren Häuser Narbondellyns, deren ständige Rivalitäten auf den untersten Sprossen der Statusleiter so unbedeutend waren, daß die Adligen weiter oben davon kaum Notiz nahmen. Ryld bezweifelte, daß die Tiefengangs je weiter aufsteigen würden, solange Tathlyn die Krieger dieses Hauses anführte. Während seiner Ausbildung hatte der Junge gelernt, ein Schwert mit einigem Geschick zu führen, doch wenn er eine Schwadron befehligte, erwies er sich immer wieder als ausgesprochen unerbittlich und als je mand mit einer schlechten Urteilsfähigkeit. »Gratuliere«, sagte Ryld. »Wenn du gewußt hättest, daß ich einmal zu solcher Größe aufsteigen würde, hätte es dir vielleicht nicht soviel Vergnügen bereitet, meine Knöchel zu zerschlagen und meine Schultern
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zu Brei zu prügeln.« »Ich habe das nicht zum Spaß getan. Es sollte dich lehren, auf deine Deckung zu achten und aufrecht zu stehen. Ich habe nur versucht, dir zu sagen, welche Korrekturen notwendig sind, doch du hast nicht auf mich gehört.« Er sah Tathlyn einen Moment lang an, dann fuhr er fort: »So. Ich habe dir nun erklärt, daß ich nicht die Absicht habe, den Matronen etwas von dem zu berichten, was ich hier mit bekommen könnte. Genügt dir mein Wort? Wenn ja, dann können wir eine Auseinandersetzung vermeiden.« »Das sagst du.« »Junge, entschuldige mich noch für einen Moment ... Waf fenmeister! Halt inne, atme durch und denke nach. Ich spüre, daß du wegen deinen Verletzungen und blauen Flecken wü tend bist. Vielleicht willst du diese Wut an jemandem ausle ben, doch ich bin nicht derjenige, der dir diese Schmerzen zugefügt hat.« Tathlyn stand einen Augenblick lang schweigend da. »Nein, das bist du nicht, und ich nehme an, daß all die Bestra fungen während meiner Ausbildung nur zu meinem Wohl erfolgten. Ich nehme es dir nicht übel, Waffenmeister. Viel Spaß bei der Partie.« Er wollte sich eben abwenden, als er plötzlich wieder her umwirbelte. Die Spitze seines roten Langschwerts zielte auf Rylds Hals. Noch bevor die vier Gefährten den Sava-Tisch erreichen konnten, hatte Ryld unauffällig sein Gewicht verlagert und seinen Fuß so aufgesetzt, daß er rasch von seinem Stuhl aufste hen konnte. Er sprang auf und schlug mit einer Armbewegung das Schwert weg, traf es jedoch nicht im richtigen Winkel, da die Klinge der rötlich leuchtenden Waffe seine Haut anritzte. Ryld erkannte, daß dies sein erster richtiger Kampf seit fast
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einem Jahr werden würde. Er hatte vorgehabt, einen der Trupps zu begleiten, die in Bauthwaf patrouillierten, und einige der Jäger zu töten, die sich immer wieder aus den entlegeneren Höhlen vorwagten. Doch irgendwie hatte er sich doch nie dazu durchringen können. Aber das war kein Problem. Er hatte keine Angst, er könnte eingerostet sein. Es war nur so, daß ihn rückblickend seine mangelnde Motivation erstaunte. All diese Gedanken huschten ihm im Bruchteil einer Se kunde durch den Kopf, ohne daß sich seine Reaktion auch nur im geringsten verlangsamte. Tathlyn sprang außer Reichweite, aber einer der anderen schlug nach Ryld. So wie es aussah, wollten sie alle kämpfen, was vermutlich hieß, daß sie allesamt Verwandte oder Unter gebene des Waffenmeisters waren. Sonst hätte sich mindestens einer von ihnen herausgehalten. Ryld brachte sich vor dem wilden Hieb nach seinem Kopf in Sicherheit, zog sein Kurzschwert und parierte. Die Vor wärtsbewegung des heranstürmenden Tiefengang, Rylds eigene Stärke und sein Geschick und die magische Schärfe seiner Waffe trugen dazu bei, daß er die Klinge tief in die Beuge des Kampfarms seines Widersachers jagte. Auch wenn das Kurz schwert, das verzaubert war, um auch körperlose Geister ver wunden zu können, nicht unbedingt seine Lieblingswaffe war, leistete es doch hervorragende Arbeit. Blut spritzte aus der tiefen Wunde, und der zurücktaumelnde Tiefengang ließ sein Krummschwert fallen. Es wäre wesentlich einfacher gewesen, diesen Tölpel zu töten, anstatt ihn nur kampfunfähig zu ma chen. Doch Ryld war in geheimer Mission unterwegs, und eine Tötung hätte weitaus mehr Aufmerksamkeit erregt als eine gewöhnliche Kneipenschlägerei. Tathlyn und seine beiden anderen Freunde sahen ihre Ge
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legenheit und stürmten vor. Ryld wußte, daß ihm keine Zeit blieb, um das Kurzschwert aus dem Leib seines Opfers zu zie hen. Hätte er es versucht, dann wären die anderen längst bei ihm gewesen. Stattdessen hüllte er den verwundeten Tiefen gang in eine Blase aus Finsternis und stieß ihn den anderen entgegen. Durch das die Sicht nehmende Feld konnte Ryld genauso wenig erkennen wie seine Gegner, doch an den Rändern konnte er sehen, wie der verwundete Tiefengang mit seinen Gefährten kollidierte und taumelte und sie auch mit dem un erwarteten Hindernis vor sich in Verwirrung stürzte. Das ver schaffte dem Waffenmeister die nötige Zeit, um herumzuwir beln, mit einem Blick die im Weg stehenden Sitzmöbel und die ihn anstarrenden Sava-Spieler wahrzunehmen, und dann auf den Tisch zu springen, auf dem sein eigenes Spielbrett aufgebaut war. Mit seinen Füßen machte er die Falle zunichte, die er für den Kaufmann aufgebaut hatte, die Spielfiguren rutschten über das Brett und fielen zu Boden. Er sprang auf der anderen Seite wieder zu Boden, griff nach Splitter und wirbelte herum, um sich seinen Gegnern zu stel len. In einer einzigen schnellen Bewegung, die es nicht zuließ, irgendwelche Einzelheiten zu erkennen, riß er seine zuverläs sigste aller Waffen aus der Scheide und ging in Abwehrstel lung. Trotz seiner gewaltigen Größe war das Langschwert so perfekt ausgewogen, daß es sich anfühlte, als hielte man einen Dolch in der Hand. Er bemerkte, daß die nicht am Kampf Beteiligten im Schankraum begonnen hatten, die Kämpfer anzufeuern oder zu beleidigen. Einige Denker mit schneller Auffassungsgabe nah men Wetten an. Rylds verbliebenen Widersacher schoben ihren in einen Schatten gehüllten Verwandten aus dem Weg und rückten vor,
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offenbar in der Hoffnung, den einstigen Lehrer in Richtung der Wand drängen zu können. Der Kämpfer zur Linken hielt sich etwas zurück und wirkte nicht so kampfversessen, doch er machte auch nicht den Eindruck, als wollte er kehrtmachen und davonlaufen, solange Tathlyn ihm das nicht gestattete oder er nicht der Klinge Splitters zum Opfer gefallen war. Ryld hatte nicht die Absicht, sich in eine Falle zu manövrie ren. Er entfernte sich so von der Wand, wie er sich ihr genähert hatte: über den Tisch, auf dem das Spielbrett aufgebaut war. Als er die Tischkante erreichte, entdeckte er ein Rapier, der sich in seine Eingeweide bohren sollte, sobald er hinunter sprang. Der Tiefengang am anderen Ende der Klinge – der mutigere von Tathlyns bislang unverletzt gebliebenen Beglei tern – war schnell, und er hatte sich eine recht gute Taktik zurechtgelegt. Ryld war so schnell, daß er sich vermutlich nicht mehr hätte stoppen und daran hindern können, nicht in die Spitze der Klinge des Tiefengang zu stürzen. Er konnte aber Splitter in einem flachen Hieb herumwir beln. Das Schwert traf mit voller Wucht die Klinge des ande ren und machte sie um mindestens fünfzehn Zentimeter kürzer. Ryld landete fast auf dem Kämpfer mit dem Rapier und war ihm so nah, daß er einen Moment brauchte, um Splitters Klin ge in Position zu bringen – ein Augenblick, den die beiden anderen Tiefengangs sofort auszunutzen versuchten. Stattdes sen rammte der Waffenmeister den schweren, runden Stahl knauf seines Zweihänders gegen die Stirn des Rapierfechters. Es gab einen dumpfen Aufprall, dann fiel der Mann um. Etwas schlug fest, aber harmlos gegen Rylds Brustpanzer. Er sah nach unten und erkannte, daß einer der Zuschauer – wohl jemand, der gegen ihn gewettet hatte – eine Armbrust auf ihn abgefeuert hatte. Der Waffenmeister hatte allerdings keine Zeit, um sich nach dem Täter umzusehen, da er die beiden
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Schwertkämpfer abwehren mußte. Wie zu erwarten, hatte Tathlyn die Führung. Ryld hieb nach dem Kopf des Waffenmeisters, woraufhin sein einstiger Schüler sich rasch außer Reichweite zurückzog. Seine Fußarbeit war besser, als Ryld sie in Erinnerung hatte. Tathlyn fintete immer wieder und begab sich unablässig in Rylds Reichweite, um ihn zu einem unüberlegten Schlag zu verleiten. Mittlerweile bewegte sich der vorsichtigere Tiefen gang zur Seite und beschrieb einen Kreis, um hinter Ryld zu gelangen. Der Waffenmeister ließ zu, daß sich der Junge in seine Flan ke schlich, dann sprang er auf Tathlyn zu und fuchtelte wild mit dem Schwert, so daß es so aussah, als würde er dabei das Gleichgewicht verlieren. Der andere Tiefengang befand sich hinter Ryld und hielt den Lehrer für völlig wehrlos, da er sich nie rechtzeitig würde umdrehen können. Ganz gleich, ob der Junge einen zögerli chen Eindruck machte, diese Gelegenheit durfte er sich nicht entgehen lassen. Er lief auf Ryld zu. Der drehte sich aber um und holte mit Splitter zu einem weiten, horizontalen Schlag aus. Das große Schwert mit seiner überlegenen Länge schlug in dem Moment zu, in dem der Tiefengang zum Angriff hatte übergehen wollen. Dank Rylds Geschick fügte die gewaltige, übernatürlich scharfe Klinge dem Jungen nur eine klaffende Schnittwunde am Handgelenk zu, obwohl sie ihm mühelos die Hand hätte abschlagen können. Der unbedeutende Adlige ließ sein Breitschwert fallen und machte den Fehler, nach seinem Dolch greifen zu wollen. Der Waffenmeister schlitzte ihm das Bein auf und brachte ihn zu Fall. Ryld wußte, daß er durch seine Drehung, die den Angriff auf den einen Tiefengang eingeleitet hatte, Tathlyn den Rücken
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zugekehrt hatte, der ohne Zweifel die Gelegenheit würde nut zen wollen, um ihn zu töten. Der Lehrer drehte sich um und sah, daß Tathlyn fast bei ihm war und nach seinem Kopf zu schlagen versuchte. Ryld parierte mit Splitter und hoffte, das Langschwert des Waffenmeisters der Tiefengangs ebenso zer schmettern zu können, wie es ihm zuvor bei dem Rapier gelun gen war. Die karmesinrote Klinge traf den Zweihänder auf der Breitseite gleich oberhalb der Parierstange und federte klin gend, aber unversehrt zurück. Sie besteht aus gutem Metall, dachte Ryld, gut geschmiedet und mit verstärkenden Zaubern versehen. Doch diese Eigenschaften konnten den Träger der Waffe nicht retten. Ryld täuschte flach an, um das karmesinrote Schwert nach unten zu bringen, dann riß er seines hoch. Die Spitze schlitzte Tathlyns Stirn gleich oberhalb der Braue auf und ließ Blut ins Auge des Waffenmeisters der Tiefengangs laufen. Er taumelte zurück. Ryld wußte, daß keiner seiner Gegner an einer Fortführung des Kampfs interessiert war. Er sah sich um und betrachtete die Anwesenden. Wer immer die Armbrust auf ihn abgefeuert hatte, war klug genug gewesen, sie nun zu verstecken. »Gut gemacht«, sagte Pharaun, der mit einem Kelch in der Hand an der Theke lehnte. »Wie lange bist du schon da?« erwiderte Ryld und ging hin über zum Tisch, um sein Kurzschwert aufzuheben. Sein Opfer hatte es aus seinem Arm gezogen und am Boden liegengelas sen. »Du hättest mir helfen können.« »Ich hatte zuviel damit zu tun, auf dich zu wetten.« Der Magier streckte seinen Geldbeutel aus und ließ die mürrischen Verlierer ihren Einsatz hineinwerfen. »Außerdem wußte ich, daß du meine Hilfe nicht brauchst, um ein paar Trunkenbolde abzuwehren.«
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Ryld murrte, wischte seine Waffen mit einem Lappen ab, der auf der Theke gelegen hatte, und fragte: »Willst du dieses rote Schwert haben? Es ist eine gute Waffe. Möglicherweise ein Erbstück der Familie Tiefengang.« Pharaun grinste. »Was soviel heißt wie, daß sie es wann – im letzten Zehntag irgendwo gekauft haben? Nein, was soll ein Magier damit schon anfangen? Aber trotzdem danke. Außer dem will ich nicht, daß meine Kleidung durch das Gewicht die Form verliert.« »Wie du willst.« Der Meister Sorceres schlenderte zu Ryld, dann sprach er deutlich leiser weiter: »Bist du soweit? Ich würde gern gehen, ehe Nym nach unten geht.« Ryld fragte sich, was sein Freund wohl angestellt hatte. »So gut wie«, sagte er. »Gib Nym etwas für die entstandene Un ordnung.« Der Krieger ging zurück zu den Sava-Tischen, um Splitters Scheide zu holen und um seine Gewinne einzustecken, dann sah er sich nach dem Händler um. Der Junge hatte sich hastig zurückgezogen, als der Kampf losgegangen war, doch weit hatte er sich nicht entfernt. Es gab kaum einen Dunkelelfen, der sich für einen blutigen Kampf nicht begeistern konnte. Ryld warf ihm eine Goldmünze zu, die das Emblem der Baenre trug. »Hier, dein Gewinn.« Der junge Kaufmann machte einen verwirrten Eindruck. Es lag vielleicht daran, daß er zuviel getrunken hatte. »Wenn ein Spieler die Figuren durcheinanderbringt, hat er verloren«, erklärte Ryld. »So steht es in den Regeln.«
»Es war sehr schön, aus dem Keller heraufzukommen und zu sehen, wie du deine verdeckten Ermittlungen mit der gewohn
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ten Leichtigkeit durchgeführt hast«, bemerkte Pharaun. Er blieb stehen, um eine Schwebetruhe passieren zu lassen, die von einem Drow-Händler und sechs hünenhaften Grotten schrat-Sklaven bewacht wurde. Die steinerne Kiste, die träge über die Straße schwebte, sah aus wie ein Sarkophag, und vielleicht war sie das auch. Auf dem Basar konnte man nahezu alles erwerben, einschließlich Kadaver und mit fremden Ge würzen einbalsamierte Mumien, die man mit mystischen Riten zur Ruhe gebettet hatte. Solche Waren gab es am Stück ebenso zu kaufen wie fein zerlegt. »Es war nicht meine Schuld«, erwiderte Ryld. »Ich habe nicht angefangen.« Er zögerte. »Na ja, vielleicht war ich etwas schroff, als sich die Tiefengangs meinem Tisch näherten.« »Du und schroff? Niemals.« »Verschon mich mit deinen Spitzen. Wieso müssen wir über haupt Leute befragen?« Der Meister Melee-Magtheres duckte sich unter dem Rand einer tiefhängenden Persenning aus Rothé-Fell hindurch und fügte an: »Du solltest in ein Becken der Ausspähung schauen und die Flüchtigen finden können.« Pharaun lächelte. »Das würde doch keinen Spaß machen. Nein, ernsthaft, warum haben die Tiefengangs so seltsam auf deine anfangs zweifellos behutsamen Fragen reagiert? Stecken sie mit den Abtrünnigen unter einer Decke?« »Ich glaube nicht. Ich schätze, ihnen gefiel der Gedanke, einfach fortzulaufen. Außerdem waren sie schlecht gelaunt. Es sah aus, als hätte eine der Frauen im Hause Tiefengang sie mit Fäusten oder einer Keule traktiert und sie brauchten nur einen Vorwand, um ihre Aggressionen an jemandem auszulassen.« »Diese hypothetische Priesterin soll den Waffenmeister ih res Hauses schlagen, als wäre er ein Sklave oder bestenfalls der unnützeste ihrer männlichen Verwandten? Kommt dir das nicht etwas seltsam vor?«
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»Ja, jetzt, wo du es sagst.« »Im Schmuckkästchen war heute auch ungewöhnlich viel los.« Pharaun bemerkte einen Ork, der eine Augenbinde trug und zur Belustigung der Menge mit Dolchen jonglierte. Er blieb stehen, um sich das Schauspiel anzusehen, während Ryld unüberhörbar seufzte, um seine Ungeduld angesichts der Un terbrechung ihrer Überlegungen kundzutun. Der Magier zählte fünf scharfe Messer, die die narbigen Hände des Sklaven mit absoluter Präzision auffingen und hochwarfen. Eine löbliche Darbietung, auch wenn ihr etwas Schwung fehlte. Pharaun warf dem Eigentümer des Orks eine Münze zu, dann ging er weiter, während Ryld neben ihm her trottete. »Also«, sagte der. »Tathlyn wird zusammengeschlagen, das Bordell ist überlaufen, und du siehst eine Verbindung? Wel che?« »Was ist, wenn alle Flüchtigen von ihren weiblichen Ver wandten geschlagen oder anderweitig gedemütigt wurden? Was, wenn das der Grund dafür ist, daß sie in ihrer bemitlei denswerten kleinen Zuflucht zusammenkommen, um sich zu verstecken, ihre Wunden zu lecken und eine von Nyms Ge fangenen ausbaden zu lassen, was man ihnen angetan hat?« Ryld legte die Stirn in Falten und dachte über diese Worte nach. »Du nimmst an, die Priesterinnen gleich mehrerer Häu ser seien brutaler und härter geworden? Das könnte bewirken, daß so viele Männer davonlaufen. Aber warum sollten die Priesterinnen praktisch gleichzeitig ein grausames Verhalten an den Tag legen?« »Ich habe das Gefühl, daß wir ein Stück weiterkommen, wenn wir das herausfinden.« Die beiden Meister gingen um eine riesige Schnecke herum,
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die einen Karren mit einem Dutzend Rädern zog. Das Maul der Kreatur öffnete sich zu einem »O«, und Pharaun – der in der Wildnis nur knapp eine Begegnung mit einer solch riesigen Molluske überlebt hatte – opferte beinahe seine Würde, indem er zuckte, obwohl er wußte, daß dieses spezielle Exemplar ganz sicher seiner Fähigkeit beraubt worden war, ätzenden Schleim zu speien. Tatsächlich kamen aus dem Maul des Zugtiers nur ein paar klare, harmlose Tröpfchen. Der Wagenlenker schlug die feindselige Schnecke mit seiner langen Peitsche. »Was hast du im Keller herausgefunden?« fragte Ryld. »Nichts«, antwortete Pharaun. »Jedenfalls nichts, was wir nicht schon selbst geahnt hätten. Trotzdem war es in gewisser Weise sehr angenehm, weil ich einer alten Kameradin einen Gefallen tun konnte.« »Wenn keiner von uns beiden etwas Nützliches herausge funden hat, dann war der Besuch im Schmuckkästchen Zeit verschwendung.« »Keineswegs. Das Blutvergießen hat dich aufgemuntert, nicht wahr? Seitdem lächelst du.« »Sei nicht albern. Ich gebe zu, es war ein interessanter klei ner Kampf ...« Ryld begann, den Kampf Zug um Zug durchzugehen, und analysierte dabei alle möglichen alternativen Aktionen und die Strategie, die dahintersteckte. Pharaun nickte und gab sich Mühe, interessiert auszusehen.
Triel, die Muttermatronin des Hauses Baenre und eine Dun kelelfe, die man für eine zierliche ebenholzfarbene Puppe hal ten konnte, ging zügig durch den Korridor und kam schnell voran, obwohl sie nur kleine Schritte machte. Mit einer Größe von zwei Metern vierzig und zwei ziegenähnlichen Beinen, die
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flinker waren als die fast jeder Drow, fiel es Jeggred nicht schwer, mit seiner Mutter mitzuhalten. Der trippelnde, er schöpfte Drow-Sekretär sah jedoch so aus, als würde er jeden Augenblick die Pergamente fallenlassen, die er sich aufgeladen hatte. Als Triel einige Schritte entfernt Stimmen hörte, wollte sie noch schneller gehen. Nur der Gedanke, daß eine Frau in ihrer erhabenen Stellung nicht ihre Würde aufs Spiel setzen sollte, indem sie rannte, ließ sie den Impuls bezwingen. »Ich glaube, es ist eine Prüfung«, sagte eine sanfte weibliche Stimme. »Ich fürchte, es ist ein Zeichen für Ungnade«, erwiderte ei ne andere, die etwas tiefer und leicht nasal klang. »Vielleicht haben wir etwas angestellt und ...« Triel und ihre Begleiter kamen um die Ecke. Vor ihnen trie ben sich ein paar ihrer Basen herum, die den Mund aufrissen, als sie sie sahen. Triel sah zum Gesicht ihres Sohnes auf, das durch den leicht zugespitzten Mund, die langen, spitzen Reißzähne, die schrägen Augen und die spitzen Ohren wie eine Mischung aus Dunkel elf und Wolf aussah. Der wortlose Blick genügte, um ihren Willen mitzuteilen. Jeggred stürzte sich auf sie, seine lange, struppige Mähne wallte herab. Mit jeder seiner großen, klauenartigen Kampf hände packte er eine seiner Basen an der Kehle und drückte sie gegen die Kalkspatwand. Die beiden kleineren, eher an die eines Drow erinnernden Hände spannten sich, als wollten sie sich auch in die Gewaltanwendung einmischen. Vielleicht war dem auch so. Triel hatte bei einer rituellen Paarung mit dem GlabrezuDämon Belshazu ein Kind empfangen. Das Ergebnis war Jeggred, ein Halbwesen, das man als Draegloth bezeichnete,
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ein kostbares Geschenk der Spinnenkönigin. Seine Mutter war durchaus bereit zu glauben, daß in jeder Faser seines Körpers Grausamkeit und Blutdurst brannten. Nur seine reflexive Un terwürfigkeit, die er aber nicht zum Ausdruck brachte, weil Triel ihn zur Welt gebracht hatte, sondern weil sie die Ho hepriesterin Lolths war, hielt ihn davon ab, seine Gefangenen – und eigentlich auch jeden anderen, mit dem er in Kontakt kam – auf der Stelle zu töten. Manchmal erwies sich Triels geringe Körpergröße als vorteil haft. Es war kein unangenehmes oder klaustrophobisches Ge fühl, zwischen Jeggreds lange Arme zu treten und sich vor ihre Basen zu stellen. Aus nächster Nähe konnte sie deren Angst riechen, während sie leise, erstickte Laute von sich gaben und mit den Absätzen gegen die Mauer hinter ihnen schlugen. »Ich habe euch doch verboten, in der Öffentlichkeit über diese Sache zu sprechen«, fauchte sie sie an. Die Base zur linken gab ein gequältes Röcheln von sich. Möglicherweise wollte sie erklären, daß sie doch allein gewe sen waren. »Dies ist ein öffentlicher Teil der Burg«, sagte Triel. »Jeder, auch jeder Mann hätte hier entlangkommen und euch reden hören können.« Sie holte mit der Fangzahnpeitsche aus und zielte tief ge nug, um nicht versehentlich Jeggreds Hände oder Arme zu treffen. Die fünf zuckenden Vipern bohrten sich in ihr Ziel, doch es genügte nicht, um ihre Herrin zufriedenzustellen. Sie schlug immer wieder zu. Ihr Zorn wurde dabei ständig größer, bis er sich zu einer Art Verzückung wandelte, eine angenehme Schlichtheit, in der nichts anderes existierte als die Prügel für die Basen, der Geruch von Blut und die Blutspritzer im Ge sicht sowie die wohltuende Anstrengung ihres auspeitschen den Arms.
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Sie wußte nicht, was sie aus diesem Zustand der Freude zu rückholte. Vielleicht lag es daran, daß sie angespannt war. Als sie wieder zu sich kam, hingen die beiden Plappermäuler schlaff und stumm in Jeggreds Griff. Der Draegloth und der Sekretär lächelten, da sie in glei chem Maß die brutale Folterung ihrer Basen genossen hatten. Doch es gab viel zu tun, und sie hatte Zeit vergeudet, weil sie es sich gestattet hatte, die Beherrschung zu verlieren. Das war schlecht. Die Muttermatronin der Baenre, de facto Herrscherin über die Stadt Menzoberranzan, sollte sich besser im Griff haben. Triels Gefühl der Gereiztheit war erst vor relativ kurzer Zeit aufgetreten. Sie war stets ruhig und gelassen gewesen, solange sie als Herrin Arach-Tiniliths gedient hatte. Diese Rolle, deren Prestige sie zur Nummer zwei gleich nach ihrer Mutter ge macht hatte, war ihr angemessen gewesen, und sie hatte nie nach Höherem gestrebt. Auch hatte sie nicht wirklich geglaubt, daß mehr überhaupt möglich war. Ihre Mutter war ihr immer unsterblich erschie nen. Unzerstörbar. Doch dann war sie auf einmal nicht mehr gewesen, und der Ehrgeiz, von dem jede Elfe irgendwann ein mal erfaßt wurde, erwachte in Triels Brust. Wie konnte sie nicht danach streben, die Nachfolge ihrer Mutter auf dem Thron anzutreten? Wie konnte sie Quenthel oder irgendeine andere Verwandte an sich vorbeiziehen lassen, um dann für alle Zeit deren Befehle ausführen zu müssen? Sie schaffte es, den Titel der Muttermatronin für sich zu be anspruchen, und auch wenn sie schon bald vom Ausmaß und den Anforderungen dieser Position überwältigt wurde, war es anfangs gar nicht schlecht. Die Dinge verliefen relativ normal, und es war keine Intervention von weiter oben nötig, um ir gendetwas zu korrigieren.
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Darüber hinaus hatte sie Quenthel und Gromph, die sie be rieten. Zugegeben, ihre Schwester und ihr Bruder waren grund sätzlich verschiedener Meinung, doch Triel konnte sich ihre gegensätzlichen Vorschläge in Ruhe anhören und sich für den entscheiden, der ihr zusagte. Das war einfacher, als wenn sie selbst nach Lösungen hätte suchen müssen. Doch es galt, eine Krise zu bewältigen, die möglicherweise die größte in der langen Geschichte der Dunkelelfen war, und wie es aussah, mußte sie das ganz allein lösen. Sie konnte sich Gromph nicht anvertrauen, und die überhebliche Quenthel behauptete, sie müsse sich um die Sicherheit Tier Breches kümmern, ehe sie sich auf etwas anderes konzentrieren konnte. Triel schüttelte den Kopf und versuchte, sich von ihren Zweifeln und Sorgen zu befreien. »Laß sie los.« Jeggred gehorchte, und sie wandte sich dem Sekretär zu. »Wenn du Gelegenheit dazu hast«, sagte sie mit erhobener Stimme, um das erstickte Japsen der beiden Basen zu übertö nen, »dann schick jemanden mit ihnen nach Arach-Tinilith, damit sie dort zusammengeflickt werden, und laß jemanden kommen, der das Blut wegwischt. Aber jetzt müssen wir weiter. Ich glaube, wir sind zu spät.« Das Trio ging weiter. Nach einer weiteren Kurve erreichte es die Tür. Dahinter befand sich das Podest, von dem aus man den größten Hörsaal im Haus Baenre überblicken konnte. Wachen hüteten den Eingang, um sicherzustellen, daß sich niemand hineinschleichen konnte, der die Muttermatronin hinterrücks erstechen wollte. Sie nahmen Haltung an, als sie sie kommen sahen. Triel eilte mit Jeggred und dem Sekretär im Schlepptau oh ne innezuhalten durch den Eingang. Der Saal auf der anderen Seite war in sanftes magisches Licht getaucht, damit man Do
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kumente begutachten konnte. Ein süßlicher Duft lag in der Luft, die Decke zierte ein Fresko, das Lolth zeigte. Die Wachen an den Wänden – Drow in unmittelbarer Nähe des Podestes, Oger- und Minotaurus-Sklaven in größerer Entfernung – salu tierten, während die Bittsteller entsprechend ihres Status ihren Gehorsam bekundeten, was von einem würdevollen Kopfni cken über das Spreizen der Hände bis hin zum Hinlegen flach auf dem Boden reichte. Triel, die von dem erhöhten Podest auf sie alle hinabsah, fand es erstaunlich, daß sich jeden Zehntag immer wieder so viele Personen einfanden. Sie hatte schon gedacht, die Leute würden ständig um ihre Aufmerksamkeit bitten, als sie noch die Akademie geführt hatte. Doch sie hatte nicht geahnt, welche Heerscharen von Idioten permanent bei der Matronin der Baenre Gehör finden wollten, um oft genug triviale, wenn nicht gar unsinnige Anliegen vorzutragen. Sie setzte sich auf den Thron ihrer Mutter, einen Herrscher sitz in Gold mit einem protzigen Rückenteil, das wie ein Seg ment eines Spinnennetzes geformt war. Ihre Vorgängerin war eine große Frau gewesen, und sie als Nachfolgerin kam sich in dem Sessel stets ein wenig kindisch und verloren vor. Sie hatte aber einen guten Sinn für Ironie, um diese ungewollte Symbo lik zu verstehen. Sie beobachtete die wartende Menge und entdeckte Faeryl Zauvirr in der ersten Reihe. Sie hatte eine Fülle langer, dicker Papierrollen unter den Arm geklemmt. Die Muttermatronin lächelte, da sie wenigstens wußte, wie sie mit dieser Bittstelle rin umzugehen hatte. Zur Abwechslung hatte sich Waerva, eine der niederen Frauen in ihrem Haus, nützlich gemacht, Informationen zusammengetragen und einen Vorschlag unter breitet, wie sie vorgehen sollte. Triel beschloß, gleich von Anfang an dominant und scharf
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sinnig aufzutreten. Vielleicht würde das die Atmosphäre der restlichen Sitzung festlegen. Sie wartete, bis der Herold die Zeremonie zum Abschluß gebracht hatte und die Menge sich erhob. Sie war nach wie vor mit Blutspritzern übersät, und Jeggred hielt sich hinter dem Thron auf, um ermutigend auf sie zu wirken. Dann bedeutete sie Faeryl vorzutreten.
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Faeryl war erfreut, als erste ausgewählt zu werden. Rückbli ckend war sie der Ansicht, daß dies auch der Fall gewesen wäre, wenn sie nicht unmittelbar vor dem Podest gestanden hätte. Die hochmütigen Menzoberranzanyr täuschten oft Des interesse an ihrer Stadt vor, doch sie wußte, daß ihnen die Bedeutung Ched Nasads bewußt war. Es fiel ihr schwer, sich nicht zu beeilen, doch sie zwang sich, mit bedächtigen Schritten, die der Würde ihrer Position, der Bedeutung ihres Hauses und der Herrlichkeit ihres Heimatlan des angemessen waren, zum Thron zu schreiten. Es erwies sich auch als schwierig, eine elegante Gehorsamsbezeugung zu voll ziehen, ohne dabei die aufgerollten Karten fallenzulassen, doch das Kunststück gelang ihr. »Botschafterin«, sagte Triel ohne besondere Wärme. Viel leicht erachtete sie Faeryls Anwesenheit als unangemessen.
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»Muttermatronin«, erwiderte Faeryl. Mit ihren gemessen am Standard ihres eher schlanken Volks breiten Schultern, ihrem hohen Wuchs und ihren breiten Hüften hätte sie die Baenre winzig wirken lassen, wenn sie beide Seite an Seite gestanden hätten. »Ich weiß, daß wir uns manchmal privat treffen, doch nach Zehntagen des Nachdenkens bin ich zu einem Schluß gekommen, der mich zwingt, mich bei der frü hestmöglichen Gelegenheit mit Euch zu beraten.« »Was für ein Schluß?« fragte Trieb Sie klang noch immer distanziert, wenn auch nicht unter kühlt. Vielleicht war sie mit ihrem Kummer beschäftigt. Faeryl war der gleichen Misere zum Opfer gefallen, doch zu ihrer eigenen Verwunderung hatte sie festgestellt, daß sie we gen einer anderen Sache mindestens genauso besorgt war: wegen des Wohlergehens des Hauses Zauvirr und der großarti gen Stadt, in der es seinen Reichtum anhäufte, seine heimli chen Schlachten schlug und seine Magie wirkte. »Ich behalte im Auge, welche Karawanen aus Ched Nasad eintreffen«, sagte die Botschafterin. »In den letzten sechs Zehntagen kam keine. Wie der Muttermatronin zweifellos bewußt ist, laufen mehrere große Handelsrouten in der Stadt der schimmernden Netze zusammen, die dann die Kaufleute nach Menzoberranzan weiterleitet. Mindestens die Hälfte aller Waren, die Eure Höhle erreichen, nehmen ihren Weg über uns. Doch nun werden sie Euch nicht erreichen. Der ständige Fluß ist versiegt. Von Kriegszeiten abgesehen hat es so etwas noch nie gegeben.« »Es ist gewiß ein seltsamer Zufall, daß alle Händlerclans gleichzeitig andere Ziele auswählen, doch ich bin sicher, daß sie auf ihrer nächsten oder übernächsten Reise wieder Menzo berranzan ansteuern werden.« Faeryl mußte sich sehr bemühen, eine gelassene Miene zur
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Schau zu stellen, da sie ihrem Gegenüber sonst einen finsteren Blick zugeworfen hätte. Wenn sie es nicht besser gewußt hätte, wäre sie auf den Gedanken gekommen, Triel sei absichtlich desinteressiert. »Ich vermute, daß es mehr als nur Zufall ist«, erklärte die Botschafterin. »Tausendmal tausend Gefahren lauern im Un terreich, und die Philosophen sagen uns, daß ständig neue geschaffen werden. Was, wenn die Route zwischen Menzober ranzan und Ched Nasad durch etwas unterbrochen worden ist? Was, wenn jeder getötet wird, der durchzukommen versucht?« »Mehr als ein Tunnel verbindet die Städte«, polterte der Draegloth überraschend. Trotz des Parfüms, das in der Luft lag, bekam Faeryl einen Hauch des faulen Atems der Kreatur ab. »Ist es nicht so?« »Genau!« Triel streckte den Arm aus und griff um die Leh ne des goldenen Sessels herum, um dem Halbwesen belobigend das Bein zu tätscheln. »Eure Theorie hat keine Grundlage.« Es war nicht das erste Mal, daß Faeryl sich wünschte, Triels Mutter würde das Haus Baenre noch führen. Die habgierige, gehässige alte Autokratin war zwar manchmal nur schwer zu ertragen gewesen, aber auch wenn sie einen Draegloth als Zeichen von Lolths Zustimmung sehr geschätzt und sich an dem Geschick des Halbdämons fürs Töten erfreut hätte, wäre es ihm bei ihr nicht möglich gewesen, während einer förmli chen Konferenz ungefragt einen Kommentar von sich zu ge ben. Etwas so Respektloses hätte sie von niemandem geduldet. »Wenn die Bedrohung aus mehr als nur einem Tier«, sagte die Gesandte, »oder mehr als einer Manifestation oder einem Phänomen besteht, dann könnte mehr als ein Durchgang versperrt sein.« Triel zuckte die Achseln. »Wenn Ihr meint.« »Ich spreche es nur ungern aus«, sagte Faeryl daraufhin,
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»und ich will auch keine Unruhe stiften, doch es ist sogar möglich, daß Ched Nasad von einem Unglück heimgesucht wurde.« »Ein Unglück, das so plötzlich und allumfassend ist, daß Eu er Volk nicht einmal Gelegenheit hatte, einen Boten nach Menzoberranzan zu schicken?« gab Triel zurück. »Unsinn. Nicht einmal Golothaer, das Heim unserer Vorfahren, ging in nur einer Stunde unter. Außerdem weiß ich, daß mich in den letzten Tagen einige Mitteilungen aus Ched Nasad erreich ten.« »Ich erhielt selbst einige dieser Mitteilungen, Muttermatro nin, und ich finde die Ausreden gelinde gesagt dürftig. Jeden falls rechtfertigt der Mangel an Handelsverkehr von Ched Nasad eine Untersuchung. Als Repräsentantin meiner Stadt in Menzoberranzan fällt diese Aufgabe in meinen Verantwor tungsbereich.« »Niemand hat Euch damit beauftragt.« »Dann tue ich das eben selbst. Doch es widerstrebt mir, durch das Unterreich zu reisen und dabei nur auf den Schutz meines Gefolges angewiesen zu sein. Händler bewachen ihre Karawanen sehr gut. Wenn etwas all diese Transporte vernich ten kann, dann wird es mir erst recht ein jähes Ende setzen. In dem Fall, Muttermatronin, würden die Priesterinnen Menzo berranzans nicht mehr über diese neue Bedrohung jenseits ihrer Grenzen wissen, als es derzeit der Fall ist. Deshalb bitte ich Euch, mir eine angemessene Eskorte zu stellen. Ich werde mit ihr nach Ched Nasad und zurück marschieren, um zu se hen, ob mich unterwegs etwas Ungewohntes erwartet.« »Ihr habt Unternehmungsgeist«, sagte Triel. »Das spricht für Euch. Leider kann Menzoberranzan keine Truppen erübri gen. Nicht jetzt. Derzeit sind unsere Streitkräfte mit umfang reichen Manövern befaßt.«
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Faeryl war sicher, daß sie den wahren Grund kannte, warum die Baenre gegenwärtig so dagegen war, sich auch nur von einem kleinen Teil ihrer militärischen Macht zu trennen. Ihre Vorsicht ergab durchaus Sinn, doch sie mußte sicherlich die Tragweite der Sorgen erkennen, von denen die Gesandte er füllt war! »Muttermatronin, wenn der Handel mit Ched Nasad nicht wieder auflebt, werden die Bewohner Menzoberranzans zahllo ser Annehmlichkeiten beraubt sein. Einigen Eurer Handwer ker wird es an den Materialien fehlen, die sie für ihre Arbeit benötigen. Eure eigenen Händlerclans werden Karawanen in meine Stadt entsenden, die vermutlich nie zurückkehren wer den.« »Ich bin überzeugt, daß ein kluger Mann einen Weg findet, diese Waren zu importieren, wenn für ihn ein Gewinn dabei herausspringt.« Faeryl hatte allmählich das Gefühl, in einem Alptraum ge fangen zu sein. »Matronin, das kann nicht Euer Ernst sein. Ched Nasad ist die größte Quelle für den Reichtum Eures Volkes.« Bei den Dämonen der Netze, es war halb so dicht bevölkert wie Menzoberranzan selbst. Die beiden Reiche waren lange Zeit gleichwertig gewesen, und es war nur ein Ereignis in rela tiv junger Vergangenheit, das die einst unabhängige Stadt der schimmernden Netze ins Vasallendasein hatte absteigen lassen. Triel spreizte ihre zierlichen obsidianfarbenen Hände in ei ner Geste hilfloser Resignation und erwiderte: »Reichtum, der genauso unser ist, ob er nun bei unseren Händlern in Ched Nasad oder in unseren eigenen Gewölben hier gelagert wird.« Faeryl wußte nicht, was sie noch sagen sollte. Kein noch so zwingendes Argument schien Triels Schild aus ausdrucksloser, fast schon spöttischer Gelassenheit durchdringen zu können.
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»Nun gut«, gab die Botschafterin mit verbissener Miene zu rück, während sie darum rang, ihr Temperament zu zügeln. »Wenn es sein muß, werde ich ohne Eure Hilfe zurechtkom men, Es wird meine finanziellen Mittel aufbrauchen, aber vielleicht kann ich einige der Söldner von Bregan D’aerthe anheuern.« Triel lächelte. »Nein, meine Liebe, das wird nicht nötig sein.« »Ich verstehe nicht.« »Ich kann Euch nicht überstürzt abreisen lassen. Wer sollte für Euer Volk sprechen? Wichtiger noch: Ich glaube, Ihr könn tet recht haben. Im Unterreich könnte eine neue Gefahr lau ern und Dunkelelfen am laufenden Band morden. Ich will nicht, daß es Euch auch tötet. Dafür habe ich zuviel Achtung für Euch, und ich will nicht, daß die anderen Adligen Ched Nasads glauben, ich würde Euch mit Freuden in Euren Unter gang schicken. Sie könnten unterstellen, mich interessierten nicht einmal die höchstgestellten Vertreter Eurer wundervol len Stadt in ausreichendem Maße, wo doch das völlige Gegen teil der Fall ist.« »Ihr ehrt mich. Doch in Anbetracht dessen, was auf dem Spiel steht ...« »Nichts ist wichtiger als Eure Sicherheit. Bei der Durchque rung der Tunnels könnte Euch in diesen unsicheren Zeiten alles mögliche zustoßen. Vielleicht schafft Ihr es nicht einmal bis hinter Bauthwaf. Eine Patrouille von Menzoberranzan, die von zu langen Dienstschichten völlig übermüdet ist und hinter jedem Stalagmiten einen Zwerg zu sehen glaubt, könnte Euch für ein feindliches Heer halten und einen Regen aus Giftpfei len auf Euch niederprasseln lassen. Eure eigenen Freunde könnten Euch unabsichtlich ein qualvolles Ende bereiten, und das könnte ich mir nie verzeihen.«
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Ein Schauder lief Faeryl über den Rücken, denn sie hatte genau verstanden, was Triel gesagt hatte. Die Muttermatronin hatte ihr soeben verboten, die Stadt zu verlassen – unter An drohung der Todesstrafe. Warum? Wie ließ sich die plötzliche Feindseligkeit der Mut termatronin erklären? Faeryl wußte es nicht, bis sie ins Gesicht des Draegloth sah. Irgendwie schien der gehässige Blick des Halbwesens eine Erklärung zu liefern. Triel hatte entschieden, daß Faeryl weniger Diplomatin als Spionin war, eine Agentin für irgendeine Menzoberranzan gegenüber feindselig eingestellte Macht, eine Agentin, die die vermißten Händler vorgeschoben hatte, um eine Ausrede zu haben, damit sie die Stadt verlassen und ihren Vorgesetzten Bericht erstatten konnte. Die Matronin der Baenre konnte das nicht zulassen, konnte einer Spionin nicht erlauben, die Geschichte von der neuent deckten Schwäche Menzoberranzans weiterzugeben. Sie konn te es nicht wagen, weil durchaus möglich war, daß nicht alle Enklaven der Drow das gleiche Schicksal erlitten hatten, und selbst wenn doch, waren die Zwerge, die Duergar, die Tiefen gnome und die Illithiden verschont geblieben. Unklar war nur, warum Triel das glaubte. Wer hatte ihr die se Idee in den Kopf gesetzt und welchen Nutzen hatte diese Person davon, Faeryl in der Stadt festzuhalten? Die Gesandte kniff die Lippen zusammen, um sich davon abzuhalten, Triel mit diesen Bedenken zu konfrontieren. Sie wußte, es würde ihr nicht gelingen, die Baenre zu einer ernst haften Erwägung der Unterstellungen gegen sie zu bewegen. Triel, für die es ein boshaftes Vergnügen war zu schauspielern, würde einfach Entsetzen darüber vortäuschen, daß Faeryl an ihrem Vertrauen und ihrem guten Willen zweifelte. Wenn Faeryl eine weitergehende Demütigung vermeiden
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wollte, mußte sie mitspielen. Sie lächelte und sagte: »Wie gesagt, Muttermatronin, Eure Sorge ehrt mich. Natürlich werde ich Eurem Wunsch entspre chen. Ich werde in der Stadt der Spinnen bleiben und mich an ihren vielen Freuden laben.« »Gut«, erwiderte die Muttermatronin. Faeryl hatte eine gu te Vorstellung davon, was unausgesprochen geblieben waren: Wir wissen, wo wir dich finden, wenn es Zeit wird, dich festzunehmen. »Erlaubt Ihr mir, daß ich mich zurückziehe? Ich sehe, daß noch viele andere von Eurer Weisheit profitieren wollen.« »Geht mit meinem Segen.« Faeryl bekundete Gehorsam, verließ den Saal und durch schritt den großen Hügel, der die Zitadelle der Baenre war. Als sie in einem kurzen Verbindungsgang allein und unbeobachtet war, nahm sie die aufgerollten Karten des Unterreichs zur Hand, von denen sie geglaubt hatte, sie und Triel würden sie gemeinsam studieren. Die Zähne gefletscht, schlug sie sie im mer wieder gegen die Wand, bis der Zylinder aus steifem Per gament, in dem sie sie aufbewahrte, so ramponiert war, daß er schlaff herunterhing.
Gromph und Quenthel spazierten über das Plateau und sahen den Schülern und Meistern Sorceres bei deren Ritualen zu. Ihre Lieder und der stechende Geruch von Weihrauch erfüll ten die Luft, begleitet von einer Fülle beschworener Phäno mene – Lichtblitze, tanzende Schatten, dämonische Gesichter, die auftauchten und wieder verschwanden, die stöhnten und knisterten, und das alles geschah, um neue Schutzzeichen über Tier Breche zu legen. Gromph war beeindruckt. Insgesamt leisteten seine Unter
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gebenen gute Arbeit, auch wenn sie keinen einzigen Zauber schufen, der für ihn eine undurchdringliche Barriere dargestellt hätte. Da er sie auch noch überwachte, würde es umso leichter sein, jede der Schutzmaßnahmen zu überwinden. »Ich frage mich, ob all das uns tatsächlich schützen wird«, sagte Quenthel und blickte finster drein. Ihr langer Rock ra schelte in der kräftigen Brise, die von irgendwem beschworen worden war. Gromph war erstaunt, daß sie auch nach Beradax’ Angriff kein Kettenhemd trug. Vielleicht wollte sie ihren erschreckten Novizinnen und Priesterinnen ein Zeichen der Zuversicht geben. »Es hat uns auch zuvor nicht geschützt«, zischte eine der nervtötend geschwätzigen Schlangen, aus denen die Peitsche an ihrem Gürtel bestand. Vier von ihnen sahen mal hierhin, mal dorthin, um nach möglichen Gefahren Ausschau zu halten. Die fünfte starrte mit kaltem Blick Gromph an, doch der Erzmagus war überzeugt, daß der Grund nicht der war, daß seine Schwester ihn im Ver dacht hatte, er wolle sie ermorden. Im Prinzip hatte sie ihn wohl im Visier, aber er war nicht ihr Hauptverdächtiger. Es gab zu viele, die als Täter in Frage kamen – von den Untergebe nen, die danach strebten, Herrin von Arach-Tinilith zu wer den, bis hin zu den Myriaden von Feinden des Hauses Baenre. Vielleicht war es sogar Triel, die versuchte, den unvermeidba ren Tag zu verhindern, an dem Quenthel sie um die Herrschaft über das Haus herausfordern würde. »Zauber können mit der Zeit schwächer werden«, sagte Gromph ehrlich. »Die neuen werden stärker sein. Sicher stark genug, damit du in Arach-Tinilith wieder sicher bist.« »Nicht nur der Tempel ist in Gefahr«, gab Quenthel zurück. »Beim nächsten Mal könnte ein Dämon Sorcere oder Melee
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Magthere angreifen.« Verlaß dich nicht darauf, dachte Gromph, sagte aber: »Ich verstehe.« »Ich habe für den Moment genug gesehen«, sagte die Her rin, deren Blick immer finsterer wurde. »Laß deine Männer nicht nachlässig werden. Ich will, daß die Verteidigungsmaß nahmen lückenlos sind, ehe du aufbrichst, um deinen Zauber in Narbondel zu wirken.« »Betrachte es als erledigt.« Quenthel wandte sich ab und ging in Richtung ArachTinilith. Der Haupteingang des beeindruckenden Tempels in Form einer Spinne sah aus wie ein sonderbar geformtes Loch in einer Mauer. Die Kunsthandwerker waren noch nicht fertig mit der Reparatur der zerdrückten Blätter aus Diamantspat am Tor. Gromph lächelte, als er daran dachte, wie sehr sich seine Schwester darüber ärgerte. So wie er sie kannte, war er ziem lich sicher, daß die unglücklichen Arbeiter, die das Metall in Form brachten, die volle Gewalt ihres Mißfallens schon zu spüren bekommen hatten. Nun, vielleicht würden sie es nicht mehr lange aushalten müssen. Er betastete ein kleines Ornament über seinem Her zen, einen schwarzen Stein, der von einer silbernen Klaue umfaßt wurde. Quenthel hatte nicht gefragt, was es mit dem Medaillon auf sich hatte, und Gromph hatte das auch nicht erwartet. Er trug immer sein Amulett der Ewigen Jugend und die Broschen, die ihm halfen, Narbondel mit strahlender Wärme zu versorgen. Er neigte dazu, seine Robe des Erzmagiers neben diesen beiden festen Größen mit einer ständig wechselnden Auswahl an Amuletten und Talismanen zu schmücken, je nach Laune und je nach magischer Aufgabe, die er an jenem Tag zu erledigen erwartete. Seine Schwester hatte keinen Grund zu der An
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nahme, daß dieses spezielle Medaillon von Bedeutung war, zumindest nicht im Hinblick auf ihre eigene Person. Wenn sie es überhaupt bemerkt hatte, nahm sie wahr scheinlich an, der Stein sei aus Onyx, Ebenholz oder schwar zem Marmor. Tatsächlich handelte es sich um poliertes Elfen bein, das Gromph aus dem Horn eines Einhorns geschnitten hatte, nachdem er das magische Pferd – das den verachtens werten Elfen der Welt an der Oberfläche heilig war – in einem nekromantischen Ritual getötet hatte. Die Kugel war nur we gen des Wesens schwarz, das er zwei Stunden zuvor dort einge schlossen hatte. »Das war sie«, murmelte er so leise, daß keiner der Magier um ihn herum es hören konnte. »Hast du ihre Witterung auf genommen?« Ja, antwortete der Dämon, dessen tonlose Stimme wie ein Nagel im Inneren von Gromphs Kopf kratzte. Es war aber unnötig. Ich bin zwar blind, aber das hat mich auf der Suche nach meiner Beute noch nie behindert. »Ich wollte nur sichergehen. Kannst du nun da weiterma chen, wo Beradax scheiterte?« Natürlich. Niemand aus deiner Welt konnte mir je entkommen. Anschließend werde ich mich an Quenthels Seele laben, Stück für Stück. Der Niederweltgeist würde höchstwahrscheinlich genau das tun, und wenn er versagte, hatte Gromph noch sechs weitere seiner Art in Reserve, die dort ansetzen konnten, wo er schei terte. Vielleicht würde es aber nicht so weit kommen müssen. Immerhin hatte er die Ereignisse so manipuliert, daß sich auch viel weltlichere Assassinen angesprochen fühlen konnten. Ein Schüler im dritten Jahr kam mit einem gesprenkelten Stab aus Sardonyx in der Hand zu ihm geeilt. Gromph wurde durch ihn an drängendere Dinge erinnert, seufzte und machte
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sich bereit, dem Jungen beizubringen, wie das Werkzeug funk tionierte.
Indem Ryld vortäuschte, an dem Regal billig imitierter und schlecht ausgewogener Dolche eines Händlers interessiert zu sein, konnte er sich umdrehen und verstohlen die Kreuzung beobachten. Ein Kerl mit – wie der Waffenmeister argwöhnte – selbst zugefügten Wunden an den Beinen bat um Almosen und streckte eine Keramikschüssel aus. Da es schon eines untypi schen, wenn nicht geistesschwachen Drow bedurfte, damit der überhaupt einen Anflug von Mitgefühl verspürte, hatte sich der Bettler einen Platz gleich neben dem Eingang zu einem schäbigen Gasthaus ausgesucht, in dem Nicht-Drow einkehr ten. Eine Frau eilte vorbei, die einen Stab mit Haken und Spitze – praktisch eine Pike, wenn man genauer hinsah – über die Schulter gelegt hatte und an einer Leine ein riesiges Wiesel mit sich führte. Sie war eindeutig eine Kammerjägerin auf dem Weg, um einen Haushalt von irgendeinem beträchtlichen Ungezieferbefall zu befreien. Ein murrender Adliger aus dem Hause Hunzrin zog sein Ra pier und holte mit der Breitseite nach einem Bürgerlichen aus, da der offensichtlich nicht schnell genug Platz gemacht hatte. Die Hunzrins waren für ihre extreme Arroganz berüchtigt. Vielleicht hing das mit der Tatsache zusammen, daß sie den größten Teil der Agrikultur Menzoberranzans kontrollierten, oder vielleicht glichen sie damit aus, daß sie – allem Reichtum zum Trotz – doch »bloß im Osten« lebten. Eine Vielzahl farblos und hungrig aussehender Seelen eilte hin und her, jede mit irgendetwas beschäftigt.
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»Ergehst du dich in Kindheitserinnerungen?« fragte der Magier. »Du vergißt«, erwiderte Ryld, »daß ich im Braeryn geboren wurde. Ich mußte mich nach Ostmyr hocharbeiten.« »Ich wage zu behaupten, du hast dich nur einmal umgese hen und bist dann direkt weitergeklettert.« »Stimmt. Gerade eben noch habe ich überprüft, ob uns je mand folgt. Aber es ist niemand da.« »So eine Schande. Ich hatte gehofft, wenn wir in genügend Männerrunden noch weitere Fragen stellen, würden weitere Freunde der Geflohenen versuchen, uns zu ermorden oder wenigstens zu erfahren, was wir vorhaben. Vielleicht sind die Flüchtigen dafür auch zu klug.« »Was machen wir nun?« »Ich würde sagen, wir suchen die nächste heruntergekom mene Taverne auf.« Sie gingen los, und Pharaun fuhr fort: »Habe ich dir jemals erzählt, wie ich bei meiner ersten Mission zur Welt an der Oberfläche bereits nach zwei Tagen einen menschlichen Ma gier verfolgen mußte, während die Sonne hoch am Himmel stand? Die Helligkeit blendete mich, meine Augen ...« »Das reicht«, unterbrach Ryld. »Das hast du mir schon tau sendmal erzählt.« »Es ist auch eine gute Geschichte. Ich weiß, daß du sie gern hörst. Wie gesagt, ich war wie geblendet ...« Während die beiden weitergingen, passierten sie eine Tür, die mit einer Wand aus Spinnweben verschlossen war. Da es durch heilige Gesetze verboten war, diese seidene Falle zu zerstören, bis ihre Erbauerin sich entschloß, sie aufzugeben, hatte der glücklose Bewohner des Hauses unter das Fenster eine Kiste gestellt, die als Behelfsstufe diente. Gegenüber ging ein zerlumptes Kind, dem Aussehen nach
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zum Teil Drow, zum Teil Mensch, auffallend dicht an einem betrunkenen Arbeiter vorbei und beschleunigte dann seinen Schritt deutlich. Ryld hatte nicht gesehen, wie das Kind dem Säufer die Geldbörse gestohlen hatte, doch er war sicher, daß genau das passiert war. Pharaun blieb stehen. »Sieh dir das an«, sagte er. Ryld wandte sich um. Die lange, aber angenehm leichte Waffe auf seinem Rücken rutschte bei der Bewegung umher. Auf eine Wand an der Mündung der Gasse hatte jemand mit wenig künstlerischer Begabung ein grobschlächtiges Bild einer von Flammen umgebenen Klauenhand hingeschmiert. Obwohl die Zeichnung klein und in einer Farbe aufgetragen war, die sich von der der Wand kaum unterschied, ärgerte sich Ryld ein wenig darüber, daß Pharaun sie gesehen hatte, er aber nicht – Magier mußten wohl einen Riecher für Glyphen haben. »Weißt du, was das ist?« fragte Pharaun. »Ein Emblem der Horde der Brandklaue. Einer der größeren Orkstämme. Ich war selbst ein paarmal in den Reichen, die die Sonne sehen, weißt du?« »Gut. Ich bin froh, daß du bestätigen kannst, was ich iden tifiziert habe. Aber was macht es hier?« Ryld sah sich reflexartig um, da er nach möglichen Gefah ren Ausschau hielt, dann sagte er: »Ich nehme an, ein Ork hat es dort hingemalt.« »Das denke ich auch. Aber hast du je davon gehört, daß ein Knecht so etwas gemacht hat?« »Nein.« »Natürlich nicht. Welcher Sklave würde es auch wagen, die Stadt zu verunzieren, wenn er weiß, daß jeder Dunkelelf auf ihre Vollkommenheit stolz ist?« »Ein verrückter. Wir haben alle schon gesehen, wie die Peitsche sie in den Wahnsinn treibt.«
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»Woraufhin sie ihre Halter angreifen. Sie schleichen nicht durch die Stadt, um Wände zu beschmieren. Ich würde gern die Bewohner in den Häusern zu beiden Seiten befragen. Viel leicht kann einer von ihnen Licht in diese Sache bringen.« »Du kannst dich für die sonderbarsten Dinge interessieren«, sagte Ryld kopfschüttelnd. »Manchmal glaube ich fast, du bist auch verrückt.« »Genie wird oft verkannt.« »Schau, ich weiß, dieses Rätsel wird an dir nagen, aber wir sind im Moment damit beschäftigt, die Flüchtigen zu finden und dein Leben zu retten. Wir sollten uns darauf konzentrie ren.« Der große, schmale Magier lächelte und erwiderte: »Natür lich.« Sie gingen weiter. »Aber«, fuhr Pharaun einen Moment später fort, »wenn wir die Flüchtigen entdeckt haben und mit Ruhm überschüttet worden sind – oder wenigstens Gromph überzeugt ist, daß er mich weiter atmen läßt –, werde ich der Sache nachgehen.« Sie legten den nächsten Häuserblock zurück, dann senkte sich eine Säule aus tosendem gelbem Feuer vom Himmel und umgab Pharauns Körper. Flügelschlag erklang, und auf Ryld schoß ein Pfeil zu.
Der Niederweltgeist konnte die neuen Zauber nicht sehen, die Tier Breche umgaben, doch als die extrem abgeschwächte Projektion seiner Substanz über sie hinwegspülte, konnte er sie fühlen. Metaphorisch gesprochen waren die Schutzzeichen mit ei ner Burg vergleichbar. Es gab die Motte, deren steile Hänge einen nahenden Feind am Vorankommen hinderten, während
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die Verteidiger Geschosse aller Art abfeuerten. Über den Hän gen befanden sich die dicken, hohen Mauern, die praktisch unzerstörbar und unbezwingbar waren. In ihrer Mitte war das zurückversetzte Tor, das aus drei Richtungen mit Speeren und Pfeilen verteidigt werden konnte. Im Durchgang selbst waren in der Decke Löcher, um bren nendes Öl auf die Eindringlinge herabregnen zu lassen. Dahin ter erhob sich ein Wachhaus mit Zinnen darauf, eine weitere Barriere, die den ersten Abschnitt des Burghofs umschloß und zu einer tödlichen Grube machte. Gromphs erster Gegenzauber, der den dahingeschiedenen und von niemandem betrauerten Beradax in den Tempel ein gelassen hatte, war wie eine rasende, mit Katapulten, Ramm böcken und Belagerungstürmen ausgerüstete Armee in die Festung gestürmt. Der zweite Anlauf des Erzmagus, der unauf fällig unter den Mauern hindurchgeführt hatte, erinnerte an einen von Minenarbeitern ausgehöhlten Gang. Allerdings verlief dieses Loch durch den extradimensionalen Raum. Soweit der Niederweltgeist verstand, war diese Vorgehens weise von dem männlichen Angehörigen der Baenre arrangiert worden, damit die Bewohner Arach-Tiniliths eine andere Art von Entsetzen erfahren sollten. Sie hatten bereits den Schre cken eines gellenden Alarms erlebt, nun würden sie die Furcht kennenlernen, die entstand, wenn sich der Tod ohne jede Vorwarnung in ihre Mitte schlich. Das Wesen – es selbst und seine Art hatten keinen Namen, was von Vorteil war, da es den meisten Magiern damit unmög lich war, sie zu beschwören – zog die längeren Ranken seiner ektoplasmischen Substanz ein und ergoß seine formlose Ges talt durch den Tunnel, wenn auch mit einem gewissen Maß an Vorsicht. Wenn Gromphs Magie die Zauber seiner Untergebe nen nicht neutralisieren konnte, dann war nun der Punkt
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gekommen, an dem der Geist das auf unangenehme Weise spüren würde. Während er sich durch den Gang bewegte, nahm er die Schutzzeichen wahr, die sich rings um ihn befanden, Zauber, die wie Äxte dort hingen, sorgfältig ausbalanciert und jederzeit bereit, herunterzustürzen, oder straff gespannte Drähte, die mit Armbrüsten verbunden waren, und Fußangeln, die großzügig dicht unter der Erdschicht verteilt waren. Diese Konstrukte aus magischer Energie zuckten wie lebende Wesen, da sie den Trieb fühlten zu töten, doch keines von ihnen entdeckte den Eindringling. Am anderen Ende des Tunnels, der für sterbliche Augen nur wahrnehmbar war, wenn sie darauf eingestellt waren, wartete ein Gang. Der Niederweltgeist kletterte hinaus und orientierte sich. Er befand sich in einem der spinnenbeinartigen Flügel Arach-Tiniliths, ein Stück weit von Quenthels Suite entfernt. Das war kein Problem. Er war zuversichtlich, daß sich ihm nichts in den Weg zu seinem Ziel stellen würde. Der Eindringling zog sich zusammen und ließ sich um eine Ecke treiben, wo er eine Novizin auf Wache sah. Erfreulicher weise bemerkte die Drow ihn nicht, auch wenn das nicht wirk lich erstaunlich war. Aus irgendeinem Grund, den er nicht verstand, hatte Gromph ihm das Aussehen eines Dämonen aus Finsternis verliehen, so daß er von der normalen Dunkelheit praktisch nicht zu unterscheiden war. Der Niederweltgeist sehnte sich danach, die Sterbliche zu töten, doch Gromph hatte ihm verboten, irgendwem außer Quenthel Schaden zuzufügen, es sei denn, jemand stellte sich zwischen ihn und seine Beute. Mit einem Gefühl des Bedau erns glitt er an der Wache vorbei weiter durch den Gang. Nach einer Weile gelangte er zu einer Reihe von Zellen. In den kleinen, quadratischen Räumen rezitierten Schülerinnen
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ihre Gebete. Das Verlangen, Blut zu vergießen, war für das Wesen so ü bermächtig, daß der Gang kein Ende zu nehmen schien. Schon bald erreichte der Geist das Kopfbruststück der Spinne. Dies war das runde, von Feuern erhellte Herz des Tempels, Heimat der großartigsten Kapellen, der heiligsten Altäre und der Quar tiere der höherrangigen Priesterinnen des Tempels. Der Eindringling trieb in eine geräumige, weitestgehend leere Kammer, in der die Luft deutlich kühler war als in den umgebenden Räumen und Gängen. Lolth-Statuen standen zwischen den acht offenen, rechteckigen Durchgängen, und geschwungene Linien aus Gold beschrieben auf dem Boden eine komplexe magische Sigel, ein Pentagramm, das auf einen Energiewirbel genau in der Mitte des Raums ausgerichtet schien. Die gleiche Figur wiederholte sich an der hohen Decke und verstärkte so den Zauber. Der Niederweltgeist verspürte kein Verlangen, mehr über diesen Zauber herauszufinden. Daher kroch er an den Wänden entlang, um auf keinen Fall mit den Rändern des Zeichens in Berührung zu kommen. Energiewellen kamen ihm vom Zentrum des Musters entge gen, als würde dort etwas erwachen oder wirklicher werden. Etwas Stechendes bohrte sich in den oberen Teil des dunstarti gen Körpers des Geistes und lähmte ihn einen Moment lang mit einem Ausbruch völlig unerwarteter Schmerzen. Etwas riß die lebende Finsternis in die Mitte der Kammer. Das Wesen erkannte, daß es trotz fehlender Stofflichkeit von einer Art Haken an einer Leine erfaßt worden war. Es verstand auch, daß es nicht genügt hatte, lediglich das Pentagramm zu umgehen. Offenbar mußte man bei Betreten des Raums ein Paßwort sagen oder etwas ähnliches. Der Zug endete, der Schmerz ließ nach. Die Finsternis
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schüttelte den Schock und das Gefühl der Desorientierung ab, sah sich um und nahm das Wesen wahr, das über ihm hing. Der Angreifer war fast so formlos wie das Wesen selbst, doch die Essenz war fest und hart, eine Ansammlung von Verdi ckungen und Kanten. Der Angreifer bildete lange Ableger seiner selbst, um die Finsternis festzuhalten. Die Stellen, an denen er ihn berührte, brannten und ließen den Geist unkontrolliert zittern, da die Berührung seine Kraft abzusaugen schien. Das – so erkannte Gromphs Agent mit einer gewissen Ver wunderung – war die Kälte, die ein sterbliches Leben inner halb eines Herzschlags auslöschen konnte. Der Eindringling hatte so etwas noch nie gefühlt – jedenfalls nicht auf eine schmerzhafte Weise –, und er hätte es auch gar nicht fühlen dürfen. Doch der Gefangene des Pentagramms war nicht nur kalt, sondern er war die Essenz der Kälte, der reine Gedanke von zum Leben erweckter Kälte, so wie der Niederweltgeist in gewisser Weise das Konzept der Finsternis verkörperte. Teile des Eindringlings begannen zäh zu werden und sich so zu verhärten, daß sie abbrachen. Er war zwar noch nicht ver wundet, doch wenn sich das nicht ändern sollte, dann sollte er besser einen Gegenschlag führen. Er breitete sich über dem Geist der Kälte aus und entdeckte Ansatzpunkte: Haarrisse, unvollkommene Übergänge. Natür lich! Die Struktur des Wesens erinnerte an einen Eisblock. Gromphs Agent bildete Gliedmaßen aus, die an Hämmer erinnerten und auf diese Schwachstellen einschlugen. Er ließ dünne Schichten seiner selbst in die Risse dringen und ver dickte sie dann, um den Spalt zu erweitern. Der Kältegeist schlug mit frostigen Klauen nach seinem Widersacher. Sein Verstand brabbelte eine psionische Kapitu lation, doch die Wolke aus Finsternis ignorierte dies und setzte
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den Angriff fort. Dann zerplatzte der eisige Gefangene der Sigel in frostige Bruchstücke. Eine Sekunde lang trafen sie auch den Geist aus Finsternis, dann waren sie verschwunden. Zufrieden über seine Leistung wandte sich der Sieger ab und begann, jeden der Durchgänge zu inspizieren, um festzustellen, ob jemand auf den Kampf aufmerksam geworden war. Offenbar war dem nicht so, und es ergab auch einen Sinn. Der Kampf war recht leise gewesen, da er sich größtenteils auf einer ande ren Existenzebene abgespielt hatte. Die Finsternis erreichte ohne weitere Aufenthalte Quenthels Suite, vor der sich eine weitere Wache aufhielt. In der Hand hielt sie einen dornenbesetzten Streitkolben, der vor mystischer Energie knisterte. Wenn er sie sich selbst überließ, würde sie irgendwelche Laute ihrer Vorgesetzten hören und womöglich eingreifen wollen, doch der Geist beschloß, eine solche Entwicklung von vornherein zu vermeiden. Er umgab die Priesterin, nahm ihr die Sicht, ließ einen Teil seiner selbst sich verfestigen und schlang ihn um ihren Hals. Die Frau schlug um sich, dann verlor sie mangels Luft das Bewußtsein. Ihr Angreifer ließ sie zu Boden sinken und schob sich unter der Tür durch. Unzählige kostbare Ikonen schmückten Quenthels Privat gemächer, die so zahlreich waren, daß sie den Raum wie einen Lolth-Tempel aussehen ließen. Davon abgesehen war die Suite allerdings spärlich, wenn auch erlesen eingerichtet, als prakti ziere die Herrin von Arach-Tinilith eine Askese, die den Ge wohnheiten der normalerweise genußsüchtigen Menzoberran zanyr widersprach. Die Finsternis schickte eine körperlose Welle ihrer selbst forschend voraus. Sofort entdeckte sie ein Element von Quenthels persönlichen Schutzmaßnahmen. Es handelte sich
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wider Erwarten nicht um eine verborgene Falle aus starker göttlicher Magie, sondern um einen simplen Satz Kristalle, die ein Windspiel bildeten. Es war unsichtbar gemacht und so aufgehängt worden, daß jeder nichtsahnende Eindringling sich daran den Kopfstoßen würde. Offenbar war die BaenrePriesterin überzeugt, eine Vorwarnzeit von einer Sekunde genüge ihr, um einen Angreifer aus eigener Kraft abzuwehren. Vielleicht konnte sie das wirklich. Der Niederweltgeist würde es nicht herausfinden, da er nicht die Absicht hatte, sie von seiner Ankunft in Kenntnis zu setzen. Er gönnte sich den ironisch anmutenden Spaß, seine rauchgleiche Form mitten durch die baumelnden Kristalle zu bewegen, ohne sie zu berüh ren. Mit geschlossenen Augen, zweifellos in Träumerei versun ken, saß Quenthel mit geradem Rücken im Schneidersitz auf einem Teppich. Entlang der Rückwand breiteten sich Impulse mystischer Kraft aus, die in einem Paar eiserner Truhen und hinter einer theoretisch geheimen Tür ihren Ursprung hatten. Die Hohepriesterin hatte hervorragende Magie eingesetzt, um ihre Schätze zu hüten. Schade, daß sie ihr Leben nicht mit der gleichen Sorgfalt schützte. Gromphs Agent trieb weiter, etwas bewegte sich zischend auf einem runden kleinen Tisch. Es waren die fünf Vipern, die gemeinsam eine magische Peitsche bildeten. Die magische Energie, die im hinteren Teil der Kammer loderte, hatte den Niederweltgeist so sehr abgelenkt, daß er es versäumt hatte, die geringfügigere Ausstrahlung der Vipern wahrzunehmen. Zum Glück war das egal. Die belebte Finsternis war ihrer Beute längst zu nah, als daß sie noch irgendetwas hätten ver hindern können. Sie verfestigte einen zuckenden Strang ihrer selbst und warf den Tisch um, so daß die Peitsche durch den Raum flog. Gleichzeitig schoß sie vor und dehnte sich aus, um
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nach Quenthel zu schlagen. Die riß ihre schrägen Augen auf, sah aber nur Finsternis. Sie öffnete den Mund, um zu rufen, doch in diesem Moment schob der Dämon eine Ranke purer Finsternis zwischen ihren Lippen hindurch.
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Einen Moment lang war die Welt grell und so heiß, daß sie Pharauns Haut versengte. Doch als die Flammen verschwun den waren, blieb von ihnen kaum mehr übrig als die Erinne rung an Schmerz. Keuchend inspizierte der Magier seinen Körper. Von ein oder zwei Brandblasen abgesehen war er un versehrt. Die Kombination aus Schutzzaubern, die in seine Weste und seinen Piwafwi eingewebt waren, sowie die ihm angeborene Widerstandsfähigkeit der Drow gegen feindliche Magie und der Silberring, der das Emblem Sorceres trug, hat ten ihn vor tödlichen Verbrennungen behütet. Ryld hatte Splitter gezogen. Ein Pfeil schoß von einem Dach auf der gegenüberliegenden Seite der Straße heran, doch der Schwertkämpfer wehrte ihn im Flug ab. Ein riesiges Flug tier jagte über sie hinweg, verschwand jedoch außer Sichtwei te, ehe Pharaun es genauer hatte betrachten können.
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»Bist du verletzt?« fragte Ryld. »Nur leicht angesengt«, erwiderte Pharaun. »Da sind deine Abtrünnigen, die doch gar nicht so schlau sind. Entweder müssen wir uns in die Lüfte erheben oder sie zu uns herunterholen.« »Weder noch. Komm.« »Wir laufen weg?« fragte der Waffenmeister und schlug nach einem weiteren Pfeil. »Ich dachte, wir wollten einen davon fangen.« »Komm einfach.« Pharaun lief auf der Straße weiter, während er nach oben spähte und versuchte, die Angreifer ausfindig zu machen. Ryld warf ihm einen finsteren Blick zu, folgte ihm aber dann doch. Der Meister Sorceres registrierte aus dem Augenwinkel eine wirbelnde Bewegung. Er drehte sich abrupt um. Auf der Ecke eines Dachs hockte ein Magier und wirbelte seine Hände in fließenden magischen Bewegung umher. Gestikulierend ratterte Pharaun in aller Eile eine eigene Be schwörung herunter. Er lieferte sich ein Wettrennen mit dem anderen Magier und beendete seinen Zauber als erster. Fünf Pfeile aus azurnem Licht schossen aus seinen Fingerspitzen, jagten auf den Magier zu und bohrten sich in seine Brust. Auf diese Entfernung konnte er nicht ausmachen, wie schwer er seinen Kollegen getroffen hatte, doch sein Widersacher fuch telte vor Schmerz mit den Armen. Der Angriff des Akademi kers hatte seinen Zauber unterbrochen. Ryld wehrte einen weiteren Pfeil ab, erst dann wurde Pha raun klar, daß der Schaft diesmal auf ihn gerichtet gewesen war. Im nächsten Moment schien ein aus Schatten geschaffe ner, beschlagener Streitkolben aus dem Nichts aufzutauchen und nach seinem Kopf auszuholen. Splitter zuckte herüber und schlug nach der Manifestation. Doch wie das bei beschwore
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nen Gegenständen oft der Fall war, verschwand der Kolben in dem Moment, in dem die Klinge des Schwerts ihn berührte. »Hier herein«, sagte Pharaun. Die beiden Meister liefen zu dem Türbogen aus Sandstein, der zu einem der bescheidenen Häuser in der Straße gehörte. Pharaun vermutete, die Bewohner hatten die Tür beim ers ten Anzeichen für Arger verriegelt, und ganz offensichtlich war Ryld der gleichen Meinung, da er sich gar nicht erst die Mühe machte, den Türgriff zu probieren. Er trat einfach gegen die Tür und zerbrach den Riegel, dann eilte er hinein. Im vorderen Raum herrschte reges Treiben. Pharaun hätte damit rechnen können. Die Anzahl der Einwohner der Stadt war stetig gewachsen, während die Zahl der Stalagmitenhäuser zwangsläufig festgelegt war. Die Armen mußten sich zusam menquetschen, wo Platz war. Damit lebte eine Fülle von Armen in dieser Bruchbude, und ein Gutteil von ihnen hatte sich im Gemeinschaftsraum einge funden, entweder um sich zu entspannen oder um RothéEintopf aus dem großen eisernen Kessel auf dem Tisch zu fi schen. Überraschenderweise roch das einfache Mahl tatsäch lich appetitlich. Das Aroma ließ Pharaun das Wasser im Mund zusammenlaufen und erinnerte ihn daran, daß er seit Stunden nichts mehr gegessen hatte. Ryld hielt den Bewohnern des Hauses Splitter mit beein druckender Leichtigkeit entgegen, die darauf ausgelegt war, jeglichen aggressiven Impuls im Keim zu ersticken. »Entschuldigt unser Eindringen«, sagte Pharaun. Ryld sah ihn ernst an. »Warum laufen wir weg?« »Die Feuersäule war göttliche Magie, keine arkane.« Pha raun hob die Hand und zeigte ihm den silbernen Sorcere-Ring, um seinen Freund daran zu erinnern, daß dessen Macht ihn nicht nur vor Magie beschützte, sondern sie auch identifizieren
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konnte. »Wir werden von Priesterinnen angegriffen. Wenn wir sie töten, machen wir unnötig auf uns aufmerksam, und der Rat wird noch mehr darauf aus sein, unsere Untersuchung zu stoppen. Es könnte ihn sogar veranlassen, uns töten zu lassen, ungeachtet der Frage, wie unsere Mission ausgeht oder was Gromph entscheidet.« Pharaun grinste und fügte an: »Ich weiß, ich habe dir glor reiche Schlachten versprochen, doch das wird noch warten müssen.« »Es ist nicht leicht«, erwiderte Ryld, »sich vor Gegnern da vonzuschleichen, die von oben angreifen.« »Ist dir noch nie aufgefallen, daß ich ein unerschöpflicher Quell für Tricks bin?« Pharaun strahlte die versammelten Ar men an und sagte: »Wie würde es euch gefallen, zwei Meistern der Akademie zu assistieren, die sich auf einer lebenswichtigen Mission befinden? Ich versichere euch, Erzmagus Baenre per sönlich wird vor Freude ganz aus dem Häuschen sein, wenn ich ihm von eurer Hilfe berichte.« Sein Publikum sah ihn angsterfüllt an. Eine der Gemeinen zog einen Hammer mit einem Griff aus Knochen und einem Kopf aus Granit und warf ihn nach ihnen. Ryld schnappte ihn und warf ihn zurück. Die behelfsmäßige Waffe traf die Frau mit einem dumpfen Laut an der Stirn, woraufhin sie umfiel. »Möchte sonst noch jemand Vorbehalte äußern?« fragte Pharaun und wartete einen Moment lang. »Prima, dann bleibt einfach ruhig stehen. Ich versichere euch, daß es nicht wehtun wird.« Der Meister Sorceres zog ein hauchdünnes Stück Fell aus der Tasche und rezitierte eine Beschwörung. Leise zischend breite te sich eine Welle magischer Energie im Raum aus. Als sie die Armen berührte, verwandelten sich diese in Abbilder Rylds oder Pharauns. Nur ein kleines Kind behielt sein Aussehen.
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»Prima«, sagte Pharaun erneut. »Jetzt müßt ihr euch nur nach draußen begeben und in alle Winde verstreuen. Mit etwas Glück werden viele von euch, vielleicht sogar alle über leben.« »Nein!« schrie einer von Rylds Doppelgängern mit schriller, erregter Stimme. »Ihr könnt uns nicht so ...« »Doch, können wir«, gab Pharaun zurück. »Ich kann das Haus mit Giftgas füllen, oder mein Freund schlägt euch in kleine Stücke ... also seid bitte vernünftig und geht jetzt. Wenn der Feind hier eindringt, stehen eure Chancen deutlich schlechter.« Sie sahen ihn mürrisch an, woraufhin er nur lächelte und die Achseln zuckte, während Ryld Splitter hochnahm. Sofort begannen die Gemeinen zur Tür zu eilen. Die beiden Meister folgten der Gruppe, um sicher zu sein, daß keiner von ihnen im Haus zurückblieb. »Schatten der Grube«, murmelte Pharaun, »ich war ganz und gar nicht sicher, ob sie es wirklich tun würden. Ich bin schon ein überzeugender Schuft, nicht wahr? Das muß mein ehrliches Gesicht sein.« »Eine Tarnung ist keine schlechte Idee«, sagte Ryld. »Aber jetzt, da ich darüber nachdenke ... warum hast du uns nicht einfach unsichtbar gemacht?« Pharaun schnaubte. »Sage ich dir, welches Ende deines Schwertes du greifen sollst? Unsichtbarkeit ist ein zu oft ange wandter Trick. Ich bin sicher, unsere Feinde sind fähig, ihn aufzuheben. Die Illusion dagegen könnte funktionieren. Sie ist einer meiner persönlichen, privaten Zauber, und wir Mizzrym sind berühmt für unseren geschickten Umgang mit Phanto men. Wenn wir jetzt gehen, solltest du mich nicht aus den Augen verlieren. Du wirst sicher nicht mit dem falschen Pha raun weglaufen wollen.«
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Die meisten Gemeinen hatten das Haus bereits verlassen. Pharaun atmete tief durch, wappnete sich, und dann liefen er und Ryld wieder nach draußen. Die Gemeinen stoben in alle Richtungen davon, wie es ih nen aufgetragen worden war. Soweit Pharaun sehen konnte, war noch keiner von ihnen angegriffen worden. Vielleicht, so hoffte er, war der Gegner perplex. Die Meister, die wie die anderen flohen, liefen um eine E cke, dann um eine weitere. Pharaun begann, die Überheblich keit zu fühlen, die aufkam, wenn man einen Gegner überlistet hatte, als auf einmal etwas über ihm raschelte. Er sah nach oben, und just in diesem Moment traf ihn etwas ins Gesicht und riß ihn zu Boden. Aus einiger Höhe abgeworfen hatten die dicken, rauhen Seile des Netzes die gleiche Schlagkraft wie eine Keule. Ryld, der auch gefangen war, fluchte so vulgär, daß es den Braeryn mit Stolz erfüllte. Pharaun brauchte einen Moment, um den Schock des Auf pralls zu verarbeiten, dann wurde ihm bewußt, daß seine ge genwärtige Situation noch viel unerfreulicher war, als er bis dahin angenommen hatte. Das Netz, das das Muster eines Spinnennetzes aufwies, bewegte sich aus eigenem Antrieb. Es kratzte über seine Haut und zog sich so fest um ihn, daß er schließlich bewegungsunfähig war. Ein Flugscheusal landete auf der Straße. Im Sattel saß eine Priesterin, die von einem vernarbten Gesicht abgesehen hübsch war – es war das Gesicht einer Mizzrym, schmal, intel ligent und höhnisch. Seltsamerweise trug sie eine Domino maske, und er begann zu ahnen, welchen Grund das hatte. Grinsend sprach die Frau ihn an: »Ich wußte, daß du versu chen würdest, mich mit Illusionen zu täuschen. Darum habe ich einen Talisman des wahren Blicks mitgebracht.«
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Er war zwar nicht sicher, daß sie ihn im Netz sehen konnte, dennoch legte Pharaun Wert darauf, daß er sie anlächelte, als er erwiderte: »Da hast du recht getan. Hallo, Greyanna.«
Quenthel war immun gegen Angst. Sie geriet nicht in Panik, sie konnte es überhaupt nicht. Zumindest hatte sie das immer geglaubt, und in der Tat war sie wirklich nicht in einer pani schen Verfassung. Aber sie war so verzweifelt und bestürzt, wie es ihr jemand nur hätte wünschen können. Sie war nicht sicher, glaubte jedoch, daß das Zischen der Vipern und ein lautes Poltern sie aus ihrer Trance geholt hat ten. Sie hatte die Augen geöffnet, aber nichts gesehen. Offen bar hatte jemand um sie herum Finsternis entstehen lassen oder – was viel schlimmer sein würde – einen Blindheitszauber gewirkt. Sie öffnete den Mund, um zu den Peitschenvipern zu sprechen, doch in dem Moment hatte sich etwas zwischen ihre Lippen geschoben. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie erstickte. Gleichzeitig spürte sie, daß sich etwas, das sich wie die kühle, bebende Spitze eines Dämonententakels anfühlte, um ihr Handgelenk legte. Sie riß die Hand weg, kurz bevor der unsichtbare Greifarm sie packen konnte, und schlug um sich, um die anderen Ran ken von sich fernzuhalten, die nach ihr greifen wollten. Nichts davon half ihr aber, wieder zu atmen. Sie schlug wie wild um sich. Die Logik sagte ihr, daß der Angreifer irgendwo sein mußte, und doch glitten ihre Fäuste nur durch leeren Raum, ohne einen Widerstand zu finden. Ihre Brust schmerzte, da sie nicht atmen konnte, und sie fühlte, wie ihr Bewußtsein allmählich zu schwinden begann. Dann tat sie das einzige, was noch ging. Sie biß zu.
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Zuerst konnte sie die Masse nicht durchdringen, doch sie strengte sich mit aller Macht an, und dann fraßen sich ihre Zähne durch etwas Ledernes, Öliges. Im nächsten Moment war es fort. Es hatte sich nicht losge rissen, es schmolz dahin. Quenthels Kiefer schlugen mit lautem Krachen aufeinander. Sie kam auf die Knie, holte ein paarmal tief Luft und rief dann: »Peitsche!« »Hier!« schrie Yngoth von irgendwo auf dem Boden. »Wir sahen den Dämon erst in letzter Sekunde. Er ist die Finster nis!« »Ich verstehe.« Wenigstens war sie nicht blind. Sie hatte von Dämonen ge hört, die nur aus Finsternis bestanden, doch sie hatte nie Gele genheit gehabt, einen davon zu rufen. Es hieß, sie seien schwer zu fangen und noch schwerer zu bändigen. »Wache!« rief sie. Diesmal kam keine Antwort, was sie nicht überraschte. Die Anwesenheit des Eindringlings bedeutete, daß die Wache entweder mit ihm unter einer Decke steckte und ihm Einlaß gewährt hatte oder tot war. Quenthel spürte, wie etwas auf sie zuschoß. Sie warf sich zur Seile, und im nächsten Moment prallte etwas an der Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte, an die Wand. Ihr schauder te, als sie auf dem Steinboden stand, dessen Kälte in ihre Soh len drang. Wie vorgesehen stieß sie gegen das Tischchen, wo sie be stimmte kleine magische Gegenstände aufbewahrte. Sie sprang auf und tastete auf der rechteckigen Tischplatte umher, wobei zu ihrer Verärgerung einzelne Stücke zu Boden fielen. Dann schlossen sich ihre Finger um ein Medaillon aus wunderschön geschnittenem Glas.
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Sie blinzelte und rief die Kraft des Anhängers. Gleißendes Licht breitete sich im Raum aus und wurde so grell, daß Quenthel ihre Augen abschirmen mußte, während sie hoffte, daß die lebende Finsternis durch diese schier unerträgliche Helligkeit vernichtet würde. Das magische Licht und die ebenso übernatürliche Finster nis ließen die Helligkeit einen Sekundenbruchteil lang so erscheinen, wie sie sich vor dem Eindringen der Kreatur darge stellt hatte. Wenigstens konnte Quenthel die Augen öffnen. Ihr Angreifer, der von dem Licht nicht beeindruckt zu sein schien, war ein ungleichmäßiger Klecks mit langen, zerfaserten Armen, die sich durch den Raum schlängelten und dabei so allgegenwärtig wie Rauch waren. Die Kreatur, die sämtliches Leuchten in sich aufnahm, ohne auch nur etwas davon zu reflektieren, war vollkommen schwarz und vermittelte den trügerischen Eindruck, völlig flach zu sein. Sie streckte einen langen, dünnen Arm nach dem Medaillon aus, das Quenthel sofort wegriß. Die schwarze Ranke drehte sich stattdessen fort und traf den Anhänger hart genug, daß er ihr aus der Hand flog. Als das Glasmedaillon auf dem Boden zerbarst, erlosch das Licht. Zum Glück war der Raum lange genug erhellt worden, um zu sehen, wo sich einige der anderen Objekte auf dem Tisch befanden. Instinktiv duckte sie sich, als ein Tentakel über ihren Kopf hinwegzuckte und ihr Haar streifte. Sie griff nach einer Schriftrolle; Wie üblich würde sie es bedauern, einen der enthaltenen Zauber aufbrauchen zu müssen, doch sie wußte, daß sie es noch mehr bedauern würde, wenn sie jetzt starb. Da sie mit dem Inhalt des Pergaments vertraut war, mußte sie den auslösenden Satz nicht sehen, um ihn »lesen« zu kön nen. Sie sprach die Worte, und dann schoß ein Schaft aus gelben Flammen von der Decke auf die Stelle herab, an der der
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Kern des Dämons zuletzt geschwebt hatte. Das Feuer zeigte, daß er noch dort war. Die Feuersbrunst ging mitten durch das Wesen hindurch, dessen Arme und Schwaden zuckten. Einen Moment lang hielt sich die Flammensäule, dann er starb sie. So sehr sich die Drow auch bemüht hatte, ihre Au gen abzuschirmen, hielt sich auf ihrer Netzhaut ein dunkles Restbild des Feuers. Sie brauchte eine Sekunde, um zu erken nen, daß dieser matte, leicht schwankende Streifen das einzige war, was sie eigentlich sehen konnte. Die Finsternis hatte überlebt und war im Begriff, sich wieder um sie zu legen, um ihr abermals die Sicht zu nehmen. Du bist zäh, dachte sie und sandte die unausgesprochenen Worte zum Geist des Dämonen, was ihr als göttliche Gesandte Lolths keine, Schwierigkeiten bereitete. Es kam keine Reaktion, und Quenthel spürte keine Verbin dung zwischen ihrem Geist und dem Bewußtsein des Dämons. Dies war kein Diener Lolths. Er lebte und ließ sich keine Befehle erteilen, und er würde sicher jeden Augenblick versuchen, zuzuschlagen oder sie zu packen, und diesmal versagte ihre Intuition. Sie hatte keine Ahnung, woher der Angriff kommen würde, daher wußte sie nicht, wohin sie sich wegducken sollte, um ihm aus dem Weg zu gehen. Sie mußte schlicht raten, irgendwo hinspringen und sich weder von Blindheit noch von Unentschlossenheit zum Zögern hinreißen lassen. Sie wirbelte herum, und dann traf sie etwas an der Schulter. Zuerst war es nur ein überraschender Schlag, doch dann ging brennender Schmerz von der Stelle aus, gefolgt von der Wärme frischen Bluts. Entweder konnte sich die Finsternis so sehr verfestigen, daß sich Krallen bildeten, oder aber sie hatte irgendwo im Raum ein Messer gepackt. Quenthel war froh, daß ihre Lehrer sie gelehrt hatten, wie
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man eine Wunde ertrug, ohne sich vom Schock lähmen zu lassen, unfähig, den nächsten Angriff des Gegners abzuwehren. Sie bewegte sich weiter und hoffte, so ein schwierigeres Ziel abzugeben. Etwas zischte. Das Geräusch kam fast genau von der Stelle, an der sie stand. Offenbar hatten sich die Vipern daran ge macht, sie in der Finsternis ausfindig zu machen, und damit begonnen, sich durch den Raum zu schlängeln und dabei den Griff der Peitsche hinter sich herzuziehen. Sie bückte sich, tastete einen Moment lang über die kühlen, sehnigen Kreatu ren, dann fand sie den Griff und hob die Waffe. Die Schlangen richteten sich auf, zischten und spähten um her, jede von ihnen in eine andere Richtung. Quenthel er kannte, daß sie sehen konnten, was ihr verwehrt blieb. Die Finsternis war im Begriff, erneut anzugreifen. Die Priesterin verstärkte die psionische Verbindung mit ih ren Schlangendienern. Sie sah noch immer nicht, welche Haltung die Tentakel ihres Widersachers eingenommen hat ten, doch sie hatte ein ungefähres Gefühl. Das würde reichen müssen. Die Finsternis griff nach ihr, während sie wie wild mit der Peitsche ausholte. Ihr Ziel war ungenau, doch die Vipern streckten sich, um das zu korrigieren. Nach einer Weile atmete sie schwer, ihre Bewegungen wur den fahriger, langsamer und unbeherrschter. Es war wie bei jedem Kämpfer, der zu lange ohne Verschnaufpause auskom men mußte. Dann bohrte sich von hinten etwas Langes, Spit zes in ihren Oberschenkel. Quenthel spürte, daß das Aufflammen des Schmerzes hefti ger war und das Blut stärker floß. Die Wunde war schlimmer als die an ihrer Schulter. Sie machte einen Schritt, und sofort knickte das Bein weg. Die Peitschenvipern zischten unruhig.
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Sie stieß einen Schrei aus, um ihre Gedanken zu kontrollie ren und den Schmerz zu unterdrücken, damit sie das Bein dazu zwingen konnte, ihr zu gehorchen. Jeder Millimeter, den sie das Bein streckte, ließ ein heftiges Pochen durch ihre Glied maße jagen. Sie wirbelte herum und hieb nach dem Tentakel, der sie verletzt hatte, um ihn zu zerfetzen, damit er seine Aktion nicht wiederholen konnte. Im gleichen Augenblick sahen ihre Schlangen, daß sich Hände Quenthels Hals näherten. Sie drehte sich und konnte auch sie zerstören, und dann endlich beendete der Schatten seine Attacke. Quenthels Gedanken überschlugen sich, während sie über ihre Situation nachdachte und fühlte, wie das Blut an ihrem Bein entlanglief und sich auf dem Boden zu einer Lache sam melte. Es mußte ihr gelungen sein, dem Dämon Schmerz zuzu fügen, da er ansonsten unaufhörlich weiter gegen sie ange stürmt wäre, bis sie sich nicht länger gegen ihn zur Wehr hätte setzen können. Doch das hieß noch nicht, daß sie auf dem richtigen Weg war, um ihren Angreifer zu töten. Nach allem, was sie über solche Wesen wußte, war es durchaus möglich, daß sie den Kern treffen mußte, von dem die Ranken ausgin gen, wenn sie ihm wirklich schaden wollte. Vorausgesetzt, sie fand überhaupt heraus, wo in dieser allgegenwärtigen Finster nis dieser Kern lag. Es war vielleicht besser, den Versuch gar nicht erst zu wa gen, sondern die Gunst des Augenblicks zu nutzen und die Flucht zu ergreifen. Doch sie wußte, daß sich der Dämon mit ihr bewegen würde, womit sie nach wie vor blindlings umher laufen würde. In ihrer Suite war das kein so großes Problem – hier kannte sie jeden Winkel wie ihre Westentasche –, doch außerhalb konnte sie schnell stürzen und vielleicht bewe gungsunfähig werden. Wenn das geschah oder wenn ihr Bein
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ihr den Dienst versagte, ehe sie Hilfe gefunden hatte, würde es für ihren Gegner eine Leichtigkeit sein, sie zu vernichten. Nein, sie würde das verdammte Ding persönlich töten, und zwar schnell, solange sie sich noch auf den Beinen halten konnte. Die Frage war nur, wie. Eine der Waffen in ihrem versteckten Schrank hätte hilf reich sein können, doch bis dorthin würde sie es nicht schaf fen. Der Dämon würde sie töten, während sie in der Finsternis damit beschäftigt war, das verborgene Schloß zu öffnen. Sie würde es ohne jene Ressourcen schaffen müssen, was bedeute te, daß sie eine weitere Schriftrolle würde aufbrauchen und ein Risiko eingehen müssen. Wieder griff der Dämon an. Quenthel schlug zu und wehrte einen Tentakel ab, der mit Sägezähnen besetzt war. Als nächs tes kam ein Arm, der in einem Stumpf wie der Kopf eines Streitkolbens mündete. Er wollte ihr den Schädel einschlagen, verfehlte aber auch sein Ziel. Sie wich dem Schlag aus, wäh rend die Vipern sich in die Gliedmaße verbissen, die von der Finsternis abrupt zurückgerissen wurde. Ein einfacher Tentakel, aus dem keine Waffe wuchs, schlich sich langsam an sie heran. Es schien, als wollte er versuchen, ihren Schlagarm zu packen und festzuhalten. Sie tat, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Der schattenhafte Strang schob sich über den Boden und legte sich wie ein Haken um Quenthels Knöchel, um ihr das gesunde Bein wegzureißen. Der Zielwechsel überraschte sie, und sie fiel hart auf den Rücken, prellte sich den Kopf und spürte den Schmerz durch ihre verwundeten Gliedmaßen ja gen. Sie brauchte einen Moment, um den Schock zu überwin den. Als es ihr gelungen war, spürte sie, daß die anderen Aus leger ihres Gegners im Begriff waren, auf sie einzuschlagen. Sie
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hatte fast keine Zeit mehr, um den auslösenden Satz zu spre chen. Aber nur fast. Sie ratterte die drei Worte herunter, woraufhin Kraft ihr Fleisch durchdrang und es kribbeln ließ. Sie ließ diese Energie sich in die lebende Finsternis entladen, was kein Problem war, da der Dämon sich an ihr festklammerte. Sie hielt den Atem an und wartete, was geschehen würde. So wie sie ihrem Gegner Gelegenheit gegeben hatte, sie zu fassen zu bekommen, war auch dies ein Teil des Spiels. Die Magie, die sie soeben entfesselt hatte, würde einen Dunkelelf und so gut wie jedes andere sterbliche Wesen so sehr schwä chen, daß es dem Tod nahe war. Doch je nachdem, welcher Art dieser Dämon – oder um was immer es sich handeln moch te – war, konnte es sein, daß er die Magie einfach abschüttelte. Er konnte sich sogar an dem Energieschub laben und noch stärker werden. Der Plan klappte. Ihr Widersacher war wenigstens bis zu ei nem gewissen Maß empfänglich. Das wußte sie, als die Glieder des Wesens zu zucken begannen, wobei sich der Griff um ihren Knöchel löste und der Tentakel wild umhersprang. Die alles erfassende Finsternis hörte für eine Sekunde auf zu existieren, als sich der Halt der Kreatur an seine Umgebung löste. Ein kurzer Augenblick ungehinderter Sicht war alles, was Quenthel brauchte, um zu bestimmen, wo sich der Kern ihres Gegners befand. Sie kam auf die Beine, lief los und merkte, daß sie humpelte, da jeder Schritt unerträgliche Schmerzen verursachte. Sie ließ sich davon nicht aufhalten. Das Wesen aus Finsternis begann, sich zu erholen. Zwei Ranken kehrten zu Quenthel zurück, die der einen auswich und nach der anderen schlug, woraufhin die zurückzuckte. Sie schätzte und hoffte, daß nur noch zwei weitere Schritte
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nötig waren, um in Reichweite des formlosen Herzens der Kreatur zu gelangen. Sie holte mit der Peitsche aus und stieß einen Schrei der Befriedigung aus, als sie merkte, daß die Reiß zähne der Vipern etwas zu fassen bekamen, das mehr Wider stand bot als die leere Luft. Sie schlug so hart und schnell wie möglich zu und stöhnte bei jedem Schlag. Ihre Schlangen warnten sie vor Ranken, die um sie herum zuckten, doch sie ignorierte diese Warnung. Wenn sie aufhörte, das Zentrum der Finsternis zu attackieren, würde sie vielleicht keine zweite Chance bekommen. Die Finsternis, die den Raum erfüllte, wechselte immer ra scher zwischen Präsenz und Abwesenheit. Quenthels Bewe gungen wirkten in den kurzen Augenblicken, in denen Licht genug war, um zu sehen, merkwürdig ruckartig und ungelenk. Tentakel ergriffen sie und zerrten sie zurück, woraufhin sie vor Wut und Frustration laut aufschrie. Als würden sie auf den Schrei reagieren, lösten sich diese Arme auf und ließen sie fallen. Quenthel hob den Kopf und sah sich um. Ihr Blickfeld war nicht mehr verdunkelt. Die mörderische Finsternis war fort. Ihr letzter Schlag mußte tödlich gewesen sein. Das Wesen hatte nur noch ein oder zwei Sekunden zu leben gehabt, ehe es unterlag. »Es ist tot«, zischte Hsiv. »Was nun, Herrin?« »Als erstes ... werde ich mich hinsetzen ... und meine Wun den versorgen ..., dann ... werden wir nach meiner Wache suchen«, keuchte Quenthel und ging geistig auf Abstand zu den Vipern. Wenn sie zu eindringlich und zu lang mit ihnen kommunizierte, konnten Teile der Identität aufeinander abfär ben. »Wenn sie Glück hat, ist sie bereits tot.« Sie wünschte, sie wäre von dem ganzen so unbeeindruckt, wie sie zu klingen versuchte, doch wie es aussah, war der An
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sturm dämonischer Assassinen auf ihr Leben noch längst nicht vorüber. Sie hatte gehofft, der Spinnendämon sei ein isolierter Zwischenfall gewesen. Sie hatte auch erwartet, daß weitere Widersacher von den erneuerten Schutzmaßnahmen ringsum abgehalten würden. Offenbar war sie zu optimistisch gewesen. Zumindest aber war Arach-Tinilith das Zentrum ihrer Macht. Hier konnte sie eine kleine Armee aufstellen und so viele magische Gegenstände aufbieten, wie sie wollte, um sich zu verteidigen. Doch all diese Ressourcen hatten ihr nicht gegen die Finsternis geholfen, und sie mußte sich unwillkürlich fragen, wie viele derart feindselige Besuche eine Priesterin in ihrer derzeitigen Verfassung würde überleben können.
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Greyannas Gefolgsleute schwebten um sie herum zu Boden. Zwei waren Krieger, einer ein Magier und die vierte eine wei tere Priesterin. Sie alle trugen die Halbmasken des wahren Blicks, die ihnen das trügerisch närrische Aussehen von Pan tomimendarstellern verliehen. Pharaun versuchte zu levitieren, doch das Netz war zu schwer. Er ließ sein belebtes Rapier Gestalt annehmen. Der stählerne Ring an seinem Finger verschwand, stattdessen ma terialisierte sich die lange, schmale Klinge außerhalb des Net zes. Sie begann, die dicken Seile zu durchtrennen, erzielte aber so gut wie keine Wirkung. Ein Rapier war in erster Linie eine Stichwaffe, die sich keineswegs dafür eignete, etwas zu zer schneiden. Er spannte die Muskeln an, um gegen den unerbitt lichen Druck des Netzes auf seinen Körper anzugehen, gleich zeitig ließ er das schwebende Schwert sich so drehen, daß es
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gegen die versammelten Vertreter des Hauses Mizzrym gewandt war. Greyanna lachte. »Soll diese kleine Ahle uns zurückhal ten?« »Wohl kaum«, erwiderte Pharaun und wandte alle Kraft auf, um seine Finger näher an eine seiner Taschen zu bringen. »Darum habe ich sie angewiesen, zuerst dich zu töten.« »Wirklich?« Seine Schwester gab ihren Kriegern ein Zeichen vorzurü cken. Die Zwillingsbrüder, die beide das gleiche blonde, fast schon gelbe Haar und ein tief eingekerbtes Kinn hatten, tru gen anstelle der gebräuchlicheren Armbrüste Bögen aus fahlen Knochen, die sie über den Rücken gelegt hatten. Greyanna selbst blieb auf ihrem Flugtier sitzen und zog eine Schriftrolle aus ihrem Piwafwi hervor. Dank seines verbliebe nen Rings konnte Pharaun anhand der komplexen Korona aus magischer Energie, die das aufgerollte Stück Pergament umgab, erkennen, daß sich darauf unter anderem ein Zauber fand, mit dem die Magie eines anderen gestört werden konnte. Viel leicht wollte sie ihn anwenden, um das tänzelnde Rapier lange genug festzuhalten, damit ihre Untergebenen es zerbrechen oder anderweitig unbrauchbar machen konnten. Die verfluchten Seile schnitten wie Messer ins Fleisch des Magiers. Es hätte ihn kaum überrascht, wenn er über kurz oder lang zu bluten begonnen hätte. Auf jeden Fall behinderten sie seinen Blutkreislauf und sorgten dafür, daß Arme und Beine allmählich einschliefen. Vor Anstrengung zitternd schob er seine Finger einen Zentimeter weiter vor. »Mein Gefährte ist Ryld Argith«, sagte er. »Er ist ein Meis ter Melee-Magtheres. Er hat dir nichts getan. Du wirst dich gegen die Krieger der Pyramide versündigen, wenn du ihn tötest.«
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Gefesselt wie er war, konnte Pharaun den Kopf nicht ein mal weit genug drehen, um seinen Freund zu sehen. Doch er hörte Ryld schnaufen und fluchen und merkte, wie der an dem Netz zu zerren versuchte. Der Schwertkämpfer war offensicht lich darum bemüht, sich zu befreien, doch es war kaum anzu nehmen, daß er – auch wenn er außergewöhnlich stark war – das Netz würde durchtrennen können, wenn er nicht eine seiner Klingen ins Spiel bringen konnte, und danach sah es nicht aus. »Ich habe dich beobachtet«, sagte Greyanna. »Ich weiß, daß Meister Argith dein am meisten geschätzter Kamerad ist. Ich kann darauf verzichten, daß er versucht, dich zu befreien oder zu rächen. Unsere Mutter wird sich um Melee-Magthere kümmern.« Bei einem weiteren aufmerksamen Blick merkte er, daß auch die untergebene Priesterin eine Schriftrolle gezückt hatte. Das erschien ihm sehr seltsam, doch das war jetzt kaum der geeignete Zeitpunkt, um über die mögliche Bedeutung seiner Beobachtung nachzudenken. Die Krieger näherten sich mit gleichbleibenden, aber zag haften Schritten, was wohl nicht nur mit dem schwebenden Dolch zu tun haben konnte. Greyanna konnte die Waffe neut ralisieren, doch die Männer fürchteten, Pharaun könnte auf einen schrecklichen Zauber zurückgreifen, der nur Sprache, erforderte, keine Gesten und keinen Fokus. Es tat ihm leid, sie enttäuschen zu müssen. Ihm waren nur zwei derartige Zauber in Erinnerung, doch keiner davon hätte alle Widersacher mit einem Schlag aus dem Weg räumen können. Außerdem wußte er, wenn er einen derart verheerenden Angriff versuchte, wür den sie jede Absicht aufgeben, ihn lebend gefangenzunehmen, damit sie ihn zu Tode foltern konnten. Sie würden so schnell und tödlich wie nur möglich zurückschlagen, und da er in dem
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Netz bewegungsunfähig war, konnte er kaum darauf hoffen, sich gegen sie zur Wehr setzen zu können. »Du solltest es dir besser noch einmal überlegen, ehe du ei nem von uns etwas antust«, sagte er in der Hoffnung, eine Fortsetzung der Unterhaltung würde die Kämpfer wenigstens für ein paar Sekunden langsamer werden lassen. Greyanna kicherte. »Keine Sorge, ich habe es mir tausend mal überlegt.« »Dem Erzmagier wird das nicht gefallen.« »Ich handle im Namen des Rates. Ich bezweifle, daß er eine Vergeltung für angemessen halten wird ... und das gilt auch für Melee-Magthere.« »Gewiß, Gromph wird sich nicht als für deinen Kadaver verantwortlich erklären, aber eines Tages ...« Pharauns Finger hatten endlich die Tasche erreicht und schlossen sich um einen kleinen, robusten Lederhandschuh. Da sich das Netz immer enger zusammenzog, war es mindestens so schwierig, das Objekt herauszuziehen, wie es ihn Mühe gekostet hatte, es überhaupt erst zu erreichen. Er probierte, ob er mit winzigen Bewegungen die erforderlichen mystischen Gesten würde vollführen können. Eine so beengte und minimale Bewegung fiel ihm weder leicht, noch war sie natürlich. Er war daran gewöhnt, mit einer gewissen Dramatik zu beschwören und dabei ausholende, be deutungsvolle Gesten zu machen. Doch gelegentlich hatte er geübt, mit minimalen Gesten auszukommen. Es kam seiner Kontrolle zugute und hatte ihm einige Male erlaubt, einen Zauber zu wirken, ohne seinen Gegner erkennen zu lassen, was tatsächlich ablief. Dadurch konnte er darauf hoffen, den Handschuh richtig einsetzen zu können. Wäre nur das Netz nicht so eng und seine Hand praktisch abgestorben gewesen. »Entschuldige«, sagte Greyanna und unterbrach die Unter
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haltung, um sich wieder ihrer Schriftrolle zu widmen. Es war natürlich göttliche, keine arkane Magie, und Pha raun erkannte nicht alle Worte, die sie sprach. Was sie bewirk ten, war jedoch nicht zu übersehen. Das Rapier zuckte kurz, dann fiel es scheppernd zu Boden. Der maskierte Magier trat vor und hob es auf. Pharaun beruhigte zumindest die Tatsache, daß der besondere Zauber auf dem Rapier es Greyannas Ge folgsleuten unmöglich machte, die Waffe gegen ihren Eigen tümer zu richten – zumindest für etwa eine Stunde. Pharaun erkannte den Magier, dessen hohe, breite Stirn und schmales, spitzes Kinn ihn so markant aussehen ließen. Pharaun fand immer, der Kopf des Mannes sähe aus wie ein Ei. Es handelte sich um Relonor Vrinn, einen fähigen Magier und langjährigen Mizzrym-Gefolgsmann. Er trug noch immer seine seidene Schärpe, in die er seine Zauberfoki gesteckt hatte, und eine achtzackige goldene Brosche, die die Schärpe zusammen hielt. Mit gezückten Krummsäbeln näherten sich die Krieger dem Netz. Nach ihrem Lächeln zu urteilen, waren sie zu dem Schluß gekommen, es gäbe keinen Grund zur Furcht und freu ten sich darauf, die beiden Gefangenen bewußtlos zu schlagen. Pharaun war mit dem Einsatz des Handschuhs noch nicht ganz zufrieden, doch ihm blieb schlicht keine Zeit mehr. Er würde die Geste einfach versuchen müssen, um zu sehen, ob es klappte. Er verschob den Fokus noch einmal, während er fast tonlos eine Beschwörung aussprach. Eine riesige, strahlende, durchscheinende Hand tauchte un terhalb von ihnen auf. Dadurch, daß mit einem Mal ein weite rer Gegenstand im Inneren des Netzes entstanden war, spannte sich das Geflecht noch enger um die beiden Männer. Pharaun hatte gewußt, daß das geschehen würde, dennoch schrie er auf. Der Schmerz wurde nur noch intensiver, als die Hand den
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unausgesprochenen Befehl des Magiers befolgte und sieben Meter fünfzig hoch in die Luft schoß, wobei sie das Netz und die in ihm Gefangenen mitzog. Einen Augenblick lang be fürchtete Pharaun, ihm würde schwarz vor Augen, doch dann ließ der Druck nach. Es war, wie er erhofft hatte: Sein eigenes Gewicht war im Begriff, ihn aus dem Netz zu befreien, das vergeblich versuchte, sich wieder um die Gefangenen zu zie hen. Er trat und preßte, um den Prozeß zu beschleunigen. Sobald er konnte, sah er hinüber zu Ryld. Der stämmige Krieger befreite sich auch aus dem Netz, allerdings verlor er bei seinen Bemühungen den sonst so sicheren Griff um Splitter. Das Schwert fiel mit der Spitze voran zu Boden und verfehlte nur knapp einen der Mizzrym-Krieger, dann blieb es im stei nernen Straßenbelag stecken. »Wir müssen uns fallen lassen«, sagte Ryld. »Wenn wir ein fach so hier schweben, sind wir ihren Waffen und ihrer Magie hilflos ausgeliefert.« »Dann los«, erwiderte Pharaun. Die Meister ließen los und stürzten dem Boden entgegen. Einer der Soldaten traf Ryld mit einem Pfeil, doch das Ge schoß durchdrang seine Rüstung nicht. Ein Feuerball explo dierte in der Luft, doch Relonor hatte zu hoch gezielt, so daß der Knall seine eigentlichen Ziele nur zusammenzucken ließ. Pharaun nutzte das Emblem seines Hauses, um seinen Fall ein wenig zu bremsen, da er fürchtete, sich andernfalls die Beine zu brechen. Dadurch sah er, wie Ryld – der einen ähnlichen Levitati onstalisman besaß, der in seinem Fall die Sigel MeleeMagtheres trug – die Erde einen Augenblick früher erreichte. Der Meister Melee-Magtheres rollte sich zusammen und lande te sicher, sprang mit gezücktem Kurzschwert auf und hieb nach dem Soldaten, der den Pfeil auf ihn abgeschossen hatte. Der
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Maskierte machte einen Satz nach hinten, ließ den Bogen fallen und zog wieder seinen Krummsäbel. Währenddessen zog Ryld Splitter aus dem Straßenbelag. Pharaun landete auch. Trotz seines Versuchs, die Landung abzufedern, ging ihm der Aufprall so durch und durch, daß er einen Moment lang taumelte. Während er darum rang, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, sah er, daß Relonor seine Hände in einem sternförmigen Muster bewegte. Als sich der Meister Sorceres aufrichtete, hatte der andere Magier seine Beschwörung abgeschlossen. Ein langes, kantiges Reptil sprang aus den ausgestreckten Handflächen des älteren Drow, als seien sie der Durchgang zu einer anderen Welt. Von einer wallenden blauen Flamme umhüllt stürzte sich das Mons ter auf Pharaun. Relonor war ein begabter Magier, aber kein großer Taktiker. In der Hitze des Gefechts hatte er reflexartig seinen Lieblings zauber gewirkt, der – und das war charakteristisch für einen Gefolgsmann – eine Illusion war. Er hatte vergessen, daß sein Gegner, der im gleichen Haus geboren war, die Reihenfolge mystischer Gesten sehr wohl kannte. Selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, hätte Pharauns silberner Ring ihm gezeigt, welche Art von Magie der andere Mann erzeugte. Er ignorierte das Phantom und griff in eine Tasche, um ei nen winzigen Kristall hervorzuholen und zu einem Zauber anzusetzen. Er ignorierte die Erscheinung, auch als sie ihm so nahe kam, daß er die imaginäre, aber sengende Hitze ihres Feuerschweifs fühlen konnte. Eine intensive Kälte, die als Wirbel treibender Eiskristalle sichtbar wurde, die augenblicklich entstanden, breitete sich explosionsartig von seiner Hand aus. Sie schnitt sich förmlich durch das Reptil, ließ im gleichen Atemzug die Illusion ver schwinden und ergoß sich über Relonor. Der wurde von einer
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Rauhreifschicht überzogen und fiel nach hinten. Pharaun grinste. Es war dumm von Greyanna gewesen, sich ihm mit einer zahlenmäßig so kleinen Gefolgschaft entgegen zustellen. War ihr nicht klar, daß zwei Meister Tier Breches dem schlimmsten, was sie und ihre vier Trottel zustande brin gen konnten, mehr als gewachsen waren? Das Flugscheusal flatterte mit seinen Fledermausflügeln und hüpfte näher an das Kampfgeschehen heran. Während es mit seinem beinlosen Leib die Erde erzittern ließ, öffnete Greyan na einen Lederbeutel, griff hinein und warf eine Handvoll des Inhalts in die Luft. Die Staubteilchen flammten in einem grünlichen Licht auf, als sie den Boden berührten. Jedes der Teile wurde größer und stieg funkelnd empor wie eine Spore, die augenblicklich zu einem Pilz heranwuchs. Einen Moment später stand eine Rei he belebter Skelette auf der Straße, die eine Vielzahl unter schiedlichster Waffen und Schilde trugen, die dennoch eines gemeinsam hatten: Sie alle richteten ihre Konzentration auf die beiden Meister und begannen, sich ihnen zu nähern. Ryld sprang hin und her, um die untoten Kreaturen nieder zuringen. Pharaun suchte kurz Schutz hinter seinem Freund, als der plötzlich aufschrie, schwankte und die Waffe sinken ließ. Die Skelette schoben sich vor, und auch die Zwillinge, die sich bislang am Rand des Schlachtfelds aufgehalten hatten, kamen nun näher. Dem völlig verblüfften Pharaun blieb nur ein Minimum an Zeit, um einen blendenden, gleißenden Lichtblitz zu zaubern, dessen Gewalt die Feinde einen Moment lang zurückhielt, während Ryld sich wieder in den Griff bekam. »Alles klar?« fragte der Meister Sorceres. »Ja.« Ryld hackte einem Skelett, das mit einem Speer auf ihn zielte, die Beine weg. »Etwas wollte meinen Verstand be
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einflussen, doch es ist jetzt verschwunden.« »Es wird aber nicht verschwunden bleiben, solange ich nicht den stoppe, der den Zauber gewirkt hat.« Pharaun stieg in die Luft auf, wo die Skelette ihn nicht er reichen konnten und von wo aus er einen ungehinderten Blick auf Greyanna und die anderen hatte. Während seiner Abwe senheit würden die Kreaturen Ryld einkreisen, doch das ließ sich nicht verhindern. Er nahm die Szene in Augenschein und sah, daß Relonor noch reglos auf dem Rücken lag. Hinter dem Kampfgetümmel lasen Greyanna und ihre Priesterkollegin von Schriftrollen. Für einen kurzen Augenblick explodierten Pharauns Ge danken in erschreckendem Wahnsinn, doch die Vernunft ergriff rasch wieder von ihm Besitz. Er atmete tief ein und versuchte, die verbliebene Angst auszumerzen, als sein Körper von einem zweiten Ansturm getroffen wurde. Er schrie auf, und der Schmerz verging. Irgendwie hatte er die Zauber über wunden. Er schleuderte Greyanna einen sengenden Kugelblitz entge gen, doch auf halber Strecke erlosch er durch die Abwehrzau ber der Priesterin. Sie und die andere Klerikerin griffen wieder nach den Schriftrollen. Aus Greyannas Hand schoß ein gleißender Lichtstrahl, der über Pharauns Gesicht wanderte. Er konnte die Augen gerade noch rechtzeitig schließen, um nicht zu erblinden. Es tat trotz dem weh, doch seine eigenen Abwehrzauber sorgten dafür, daß ihm nicht das Gesicht weggebrannt wurde. Die andere Priesterin warf einen zuckenden Blitz nach ihm. Da dies eine der Kräfte war, die er am liebsten befehligte, er schien es ihm nicht besonders fair. Er versteifte sich einen Moment lang wegen des Schocks, dann verlor die Magie ihren Einfluß auf ihn.
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Er fürchtete, dieses eine Zucken habe ihn wertvolle Zeit ge kostet. Danach nahm er an, die Priesterinnen wirkten sicher bereits den nächsten Zauber. Doch als er die schwächere der beiden ansah, war sie nicht mit einem Zauber beschäftigt. Sie hatte ihre aufgebrauchte Schriftrolle zu Boden geworfen und kramte in ihrer Tasche, wahrscheinlich um nach anderen Mit teln zu suchen, mit denen sie angreifen konnte. Pharaun. umklammerte ein Stück Kohle und einen winzi gen getrockneten Augapfel, den er in einer kleinen Phiole aufbewahrte, und schuf einen Effekt. Energie seufzte und wogte durch die Luft, und rund um den Kopf der Frau bildete sich pure Finsternis und nahm ihr die Sicht. Die Gedanken des Magiers wurden ein weiteres Mal in alle Winde verstreut, doch wieder konnte er sich sammeln. Er näherte sich Greyanna. Die hielt immer noch krampfhaft die Schriftrolle fest, offenbar nach wie vor mit einem Zauber be schäftigt. Er begann zu beschwören, woraufhin sie ihre Tasche aufriß, da sie allem Anschein nach nicht sicher war, ob die Wirkung der Rolle genügte, um sie zu schützen. Es war Pharaun in den Sinn gekommen, die Tasche könnte weitere Sporen enthalten, doch war er davon ausgegangen, daß sie dem Zweck dienten, weitere Skelette entstehen zu lassen. Diesmal jedoch zerbarsten die glitzernden Teilchen mitten in der Luft und schwollen zu häßlichen kleinen Bestien an, die an eine Kreuzung zwischen einer Fledermaus und einem Moskito erinnerten. Die Blutmücken umschwirrten ihn und stachen mit ihren Rüsseln nach ihm, da sie nach seinem Blut lechzten. Sie zwan gen ihn, die Hände anders als geplant zu bewegen, und störten so seine Beschwörung. Er ließ sein Gewicht wieder zu voller Entfaltung kommen und fiel zurück auf die Erde, wo Ryld mit einem heftigen Schlag eines der Skelette köpfte, die von allen
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Seiten auf ihn anstürmten. Einer der Zwillinge näherte sich ein Stück, hielt aber gleich wieder inne, als der große Kämpfer in seine Richtung sah. Pharaun schlug hart auf. Von surrenden Blutmücken ver folgt sprintete er hinüber zu dem nach wie vor am Boden lie genden Relonor. Einige der Skelette drehten sich nach ihm um und versuchten, ihn zu treffen, doch die meisten von ihnen waren viel zu sehr damit beschäftigt, Ryld zu töten, als daß sie von dem Magier Notiz genommen hätten. Aus der Nähe roch er, daß die Kreaturen erbärmlich stanken. Pharaun vermutete, daß irgendwo an ihren Knochen noch Reste verwesenden Fleisches hängen mußten. Gerade hatte er den reglosen Magier erreicht, als Greyannas Flugscheusal auf der anderen Seite des Bewußtlosen landete und der Boden unter dem Aufprall erzitterte. Pharaun stieß einen schmerzhaft lauten, magischen Schrei aus, worauf die Bestie sich aufbäumte und ihre Reiterin mit nach hinten riß. Pharaun beugte sich vor, riß von Relonors Schärpe die Bro sche ab, wandte sich ab und rannte los. Greyanna schrie auf. Das Flugscheusal stieß seinen merkwürdigen Doppelschrei aus, und zwei Paar Zahnreihen schnappten hinter dem fliehenden Mann zu. Der Rüssel einer Blutmücke stach ihn in den Rücken und ließ ihn taumeln, konnte aber seinen Piwafwi nicht durchdrin gen. Ein weiterer Zauber ging ihm durch den Kopf, der aber keine dauerhaften negativen Wirkungen gehabt hätte. An seiner Seite tauchte ein Skelett auf und schlug mit einer rosti gen, mit Kerben übersäten Axt nach seinem Kopf. Splitter zuckte hoch und stoppte die Bewegung der Waffe, um dann den Untoten in winzige Stück zu zerschmettern. Pharaun bekam den Saum von Rylds Piwafwi zu fassen und sah sich nach Greyanna um.
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Ihr Gesicht war eine von Zorn entstellte Fratze, sie warf die Schriftrolle achtlos weg, die vermutlich aufgebraucht war, und streckte die Hände nach oben, um nach dem langen Stab zu greifen, der aus irgendeinem außerdimensionalen Lager über ihr auftauchte. Er erkannte, warum sie den Gegenstand haben wollte. Er glühte vor mystischer Macht, doch er nahm zugleich nur langsam faßbare Gestalt an. Ein zufälliges Zusammenwir ken der magischen Energien, die auf dem Schlachtfeld wirk ten, verzögerten das Überwechseln des Stabes auf die stoffliche Ebene. Warum gab sie es nicht auf und griff stattdessen auf eine an dere Weise an? Warum ...? Die Inspiration kam wie ein Blitz und lieferte ihm die völlig erstaunliche Antwort. Doch er war wohl kaum in einer geeigneten Position, um über seine Entdeckung nachzudenken, und es wurde höchste Zeit, dagegen etwas zu unternehmen. Er betrachtete die Bro sche, die er Relonor abgenommen hatte, entdeckte in ihrem kaleidoskopartigen Muster das auslösende Wort und sprach es. Greyanna betrachtete die leere Fläche inmitten des Kreises aus ziellos um sich schlagenden Skeletten, während die Blut mücken irritiert umherschwirrten. Noch einen Augenblick zuvor hatten sich Pharaun und sein plumper Komplize dort aufgehalten, jetzt waren sie fort. Wenn ihre Augen ihr keinen Streich gespielt hatten, hatte ihr Bruder sie noch im Ver schwinden auf seine allzu vertraute, spöttische Weise ange grinst. Wie konnte er es wagen, sich über sie lustig zu machen, wo sie es doch war, die ihn aus dem Haus Mizzrym gejagt hat te! Sie betrachtete den eisernen Stab, der größer war als sie selbst, im Profil quadratisch und mit Hunderten von winzigen Runen überzogen, der sich so warm anfühlte wie Blut, wenn
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man ihn anfaßte. Ihre Waffe hatte sie im Stich gelassen. Sie bebte, als sie den Impuls verspürte, den Stab hoch über ihren Kopf zu erheben und wieder und wieder auf den Boden zu schlagen, bis er deformiert und unbrauchbar war. Sie tat es nicht, weil sie wußte, daß Pharauns Entkommen ihr eigener Fehler war, nicht der des Stabes. Sie hätte die Waf fe früher rufen sollen. Sie hätte mit dem Inhalt ihres Beutels aggressiver umgehen sollen. Verdammt sei diese erniedrigende, unerklärliche Zeit! Wegen deren Unbeständigkeit und Unsi cherheit hatte ihre Mutter sie angewiesen, mit ihren persönli chen Ressourcen extrem geizig umzugehen, auch wenn sie für das Wohlergehen des Hauses Mizzrym und ganz Menzoberran zans kämpfte. Nun, diesen Fehler würde sie nicht noch einmal machen. Es lag in ihrer Verantwortung, sich um die Truppen zu kümmern und sie zurück zur Burg zu bringen. Sie stieg ab, straffte sich, setzte eine gelassene, gebieterische Miene auf und kümmerte sich um das, was nun vorrangig zu erledigen war. Keiner der Zwillinge war verletzt, und bei ihrer Base Aunrae mußte lediglich die Kugel aus Finsternis rund um ihren Kopf fortgezaubert werden. Es war Relonor, der Greyanna Sorgen machte, doch zum Glück lebte der Magus. Ein Heiltrank half ihm soweit, daß er stehen und seine Schärpe festhalten konn te, damit sie nicht rutschte; er streifte seinen eisüberzogenen Umhang ab. Während die Zwillinge Relonor halfen, umherzugehen, da mit sein Kreislauf wieder in Gang kam, kam Aunrae zu Grey anna. In den zugegeben voreingenommenen Augen ihrer Base hatte bei Aunrae die übliche Neigung der Mizzrym zu einem schlanken Körperbau sich zu einem grotesken Extrem entwi ckelt, denn die jüngere Frau erinnerte eher an ein Stabinsekt. »Mein Beileid zu deinem Versagen«, sagte Aunrae.
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Ihre Miene spiegelte Betroffenheit wider, doch sie gab sich keine große Mühe, das darunter lauernde Lächeln zu verber gen. »Mir war nicht klar, wie mächtig Pharaun geworden ist«, gestand Greyanna. »Vor seinem Exil war er recht gut, aber alles andere als außergewöhnlich. Es war sein Geschick, das ihn so gefährlich machte. Ich erkenne, daß die Dekaden in Tier Breche aus ihm einen der herausragendsten Magier der Stadt gemacht haben. Das macht die Sache nur unnötig schwierig, aber ich werde mit ihm klarkommen.« »Ich hoffe, die Matronin wird dir deine Ahnungslosigkeit nachsehen«, gab Aunrae zurück. »Du hast viel Magie ver schwendet und nichts erzielt.« Die beschworenen Skelette und Blutmücken hörten auf zu existieren, zurück blieb noch ein Rest magischer Energie. Die Luft schien zu klingen und zu summen, doch wenn man inne gehalten und intensiv gelauscht hätte, wäre gar nichts zu hö ren gewesen. »Siehst du das so?« fragte Greyanna. Aunrae zuckte die Achseln. »Ich bin nur besorgt, daß sie glauben könnte, du hättest alles verpfuscht und dein Haß auf Pharaun könnte dich blind und unachtsam werden lassen. Sie mag sogar zu dem Schluß kommen, daß eine andere die Über legenheit, die du derzeit besitzt, mehr verdient haben könnte. Natürlich will ich das nicht hoffen! Ich wünsche dir nur das Beste. Mein Zukunftsplan hat schon immer so ausgesehen, daß ich dich unterstütze und an deiner Seite als deine Adjutantin aufblühe.« »Deine Worte rühren mich zutiefst«, sagte Greyanna, wäh rend sie den Stab hob. Niemand konnte eine so lange, schwere Waffe in eine Kampfhaltung bringen, ohne den Gegner augenblicklich vor
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zuwarnen. Aunrae konnte daher eine Abwehrhaltung ein nehmen. Es war egal. Greyanna machte sich nicht die Mühe, einen der im Stab enthaltenen Zauber freizusetzen, statt dessen führte sie ihn wie einen gewöhnlichen Kampfstab und schlug der jüngeren Priesterin den Streitkolben aus den Händen. Mit einem donnernden Treffer gegen den Panzer auf ihrer Schulter wirbelte sie sie zu Boden und drückte ihr dann die Spitze des eisernen Stabs gegen die Kehle. »Ich möchte über ein paar Dinge sprechen«, sagte Greyan na. »Hast du einen Augenblick?« Aunrae stieß einen erstickten Laut aus. »Prima. Dann hör zu und lerne etwas daraus. Das kleine Spektakel eben war keineswegs vergebens. Es hat bewiesen, daß Relonor mit seinen Erkenntniszaubern feststellen kann, wo Pharaun ist. Wichtiger noch: Der Kampf ermöglichte mir, die Kräfte und Fähigkeiten meines Bruders einzuschätzen. Sobald wir ihn aufgespürt haben, werden wir ihn vernichten. Erkennst du nun, daß ich dieses Unternehmen sehr wohl im Griff habe?« Ihrer Stimme beraubt nickte Aunrae nachdrücklich. Dabei stieß sie mit dem Kinn gegen die Spitze des Stabs. »Was bist du doch für ein kluges Kind. Du solltest dir au ßerdem vor Augen halten, daß wir Pharaun nicht meinetwe gen jagen. Es geschieht zum Wohl aller, dich eingeschlossen. Daher ist dies nicht der beste Zeitpunkt, um zu versuchen, eine deiner Vorgesetzten in Mißkredit zu bringen und ihren Platz einzunehmen. Dies ist eine Zeit, in der wir unsere gegenseitige Abneigung schlucken und zusammenarbeiten müssen, bis die Bedrohung besiegt ist. Glaubst du, du kannst dir das merken?« Wieder nickte Aunrae. Sie zitterte und hatte die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Es war auch kein Wunder, denn allmählich mußte ihr die Luft ausgehen. Dennoch war sie klug
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genug, nicht zu versuchen, den Stab zu packen und fortzusto ßen. Sie wußte, was geschehen würde, wenn sie das versuchte. Greyanna fühlte sich versucht, sie doch dazu zu bringen. Aunraes Unterwürfigkeit war nur ein kleiner Trost, verglichen mit der Befriedigung, die sie empfinden würde, wenn sie das Metall in die Luftröhre der hilflosen Frau drückte. Der Wunsch brannte heiß in ihr, ließ sie den Stab krampfhaft umklammern und die Narbe pulsieren, die sich über ihr Gesicht zog. Doch sie brauchte ihre Gefolgsleute, um den Verwandten zu fangen, den sie so abgrundtief haßte. So lästig Aunrae auch sein mochte, war sie doch mutig und beherrschte die Magie mit einer gewissen Leichtigkeit. Es war besser, sie nicht heute zu töten, sondern an einem anderen Tag. Greyanna war sicher, daß sie das tun konnte, wann immer ihr danach war. Aunrae mochte noch so ehrgeizig sein, eine Bedrohung stellte sie nicht dar, weil ihr dafür die nötige Intelligenz fehlte. Von einem sonderbaren Gefühl der Nostalgie für Sabal er füllt, die wenigstens eine Rivalin gewesen war, die es würdig war, vernichtet zu werden, nahm Greyanna den Stab von der Kehle ihrer Base. »Du wirst keine giftigen Worte in Mutters Ohr flüstern«, sagte die Erste Tochter des Hauses Mizzrym. »Für den Augen blick wirst du aufhören, gegen mich oder irgendwen sonst zu arbeiten. Du wirst jeden einzelnen Gedanken darauf richten, unseren Bruder zu finden. Sonst werde ich dir ein Ende berei ten.«
Ryld hatte noch nie zuvor eine Reise ohne Zeitverzug erlebt. Zu seinem Erstaunen war er sich des Sekundenbruchteils, den der Transport an einen anderen Ort dauerte, völlig bewußt, und er empfand es als eine recht unangenehme Erfahrung. Es
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kam ihm nicht vor, als bewege er sich mit rasendem Tempo, sondern als würde die Welt auf ihn einstürzen und durch ihn hindurchrasen, wenngleich es schmerzlos geschah. Dann war es auch schon wieder vorüber. Er hatte sich un terbewußt darauf eingestellt, mit einem heftigen Ruck zum Stillstand zu kommen, doch als genau dieser Moment nicht eintraf, wurde er fast von den Beinen gerissen. Als er das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, wußte er in etwa, wohin Pharaun sie gebracht hatte. Der leichte Hauch von Dung verriet es ihm, und als er sich umsah, wurde seine Vermutung bestätigt. Der Magier hatte sie auf einen nicht mehr unterhaltenen Wachposten auf einem natürlichen Balkon gebracht. Das Sims ragte über Donigarten mit seinen Moosfeldern und den Hai nen aus riesigen Pilz- und Schwammfarmen, die mit Nachterde aus der Stadt gedüngt wurden, hinaus. Heerscharen von Ork und Goblin-Sklaven kümmerten sich entweder um die übel riechenden Getreidefelder oder fingen mit Speeren Fische im See, während Rothé von der Insel in dessen Mitte muhten. Aufseher und eine bewaffnete Patrouille gingen über die Fel der, um die Knechte bei der Arbeit zu halten. Weitere Wachen hielten von anderen Beobachtungsposten weit oben an der Höhlenwand Ausschau. Ryld wußte, daß Pharaun sie so weit wie möglich fortge bracht hatte. In den Reichen, die die Sonne sehen, konnte man sich mittels Teleportation auf der ganzen Welt bewegen. Doch hier im Unterreich begrenzte die störende Strahlung bestimmter Elemente im Gestein die Reichweite auf etwa 800 Meter – weit genug entfernt, um Greyanna und ihre Meute von ihrer Fährte abzubringen. Pharaun hielt das geraubte goldene Schmuckstück hoch und inspizierte es.
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»Es reicht immer nur für eine Teleportation«, sagte er nach einem Augenblick. Selbst nach all den Anstrengungen war er nicht annähernd so sehr außer Atem, wie er hätte sein sollen. Nicht schlecht für solch einen Sybariten, dachte Ryld, wäh rend er sich auf sein blutverschmiertes Schwert stützte. »Jetzt ist es nutzlos, und ich habe auch noch mein tanzendes Rapier verloren, verdammt. Aber ich bin nicht zu verzweif...« Ryld packte Pharaun am Arm und gab ihm einen Stoß, so daß er hart auf den Boden knallte. Der Magier blinzelte verwirrt, setzte sich auf und strich eine Strähne seines makellos frisierten Haars dorthin zurück, wo sie hingehörte. »Wenn du mir gesagt hättest, daß dir der Sinn nach weite ren Kämpfen steht«, sagte Pharaun, »hätte ich dich einfach bei meinen Verwandten zurückgelassen.« »Du meinst die Jäger«, brummte Ryld, »die uns so schnell gefunden haben.« »Nun ja, wir haben auch an etlichen Orten viele Fragen ge stellt. Wir wollten, daß uns jemand findet, auch wenn es nicht so viele hätten sein müssen.« Pharaun stand wieder auf und klopfte seine Kleidung ab, während er anfügte: »Weißt du, es gibt etwas Außergewöhnliches, was ich dir erzählen möchte.« »Erspar es dir«, konterte Ryld. »Als wir in dem Netz hingen und du dich so angeregt mit Greyanna unterhalten hast, ge langte ich zu der Ansicht, daß die Priesterinnen nicht einen gesichtslosen Agenten jagten. Sie wußten von Anfang an, daß du ihr Ziel warst, und du wußtest, daß sie es wußten.« Pharaun seufzte. »Ich wußte nicht, daß die Matronen Grey anna auswählen würden, um unsere Bemühungen zu sabotie ren. Das war eine etwas unschöne Überraschung. Aber was den Rest angeht, das wußte ich.« »Woher?«
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»Gromph hat die Wände seines Büros mit unsichtbaren Glyphen beschrieben. Jedenfalls für die meisten Leute un sichtbar. Sie schützen ihn auf vielfältige Weise. Eine davon, eine schwarze Sigel in Form einer Fledermaus, sollte Seher und Magier davon abhalten, seine privaten Unterhaltungen zu belauschen. Doch als wir uns unterhielten, war es nicht perfekt gezeichnet. Es hätte immer noch sehr viele Spione gestoppt, doch nicht jemanden, der über die Ressourcen und die Exper tise seiner ... na, sagen wir, seiner Schwestern ... oder des Rates verfügt.« Ryld runzelte die Stirn. »Gromph hat es nicht ordentlich gezeichnet?« »Natürlich nicht«, schnaubte Pharaun. »Wo denkst du hin? Hältst du den Erzmagier Menzoberranzans etwa für inkompe tent? Er hatte es genau so gezeichnet, wie er es haben wollte. Er wußte, daß die Hohepriesterinnen versuchen würden, ihn zu belauschen – das haben sie ohne jeden Zweifel schon immer getan und werden es auch weiterhin tun –, und er wollte, daß sie es tun.« »Er hat dich getäuscht.« »Jetzt begreifst du. Während die Kleriker damit beschäftigt sind, nach mir zu suchen, mir, der Ablenkung, kann mein hervorragender Vorgesetzter ungestört eine andere und viel diskretere Untersuchung anstellen und vermutlich Erkenntnis zauber wirken und Dämonen befragen.« »Du wußtest es und hast dich trotzdem zu dieser Mission be reiterklärt?« »Daß ich es weiß ändert nichts an meinen momentanen Umständen. Wenn ich meinen Rang und wohl auch mein Leben behalten möchte, muß ich die Aufgabe erledigen, die der Erzmagier mir aufgetragen hat – selbst wenn er mich zum Narren gehalten hat und selbst wenn Greyanna alles daran
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setzt, mich daran zu hindern.« Pharaun grinste und fügte an: »Abgesehen davon: Wohin sind diese Flüchtigen geflohen und warum interessiert sich die oberste Schicht Menzoberranzans dafür? Es ist ein faszinierendes Rätsel, umso mehr, da ich einen Teil der Antwort gefolgert habe. Ließe ich es ungelöst, dann würde es mich für alle Zeit verfolgen.« »Du hast mich getäuscht«, sagte Ryld. »Zugegeben, du hast mich davor gewarnt, daß die Priesterinnen versuchen könnten, sich einzumischen. Aber du hast untertrieben, was die Gefahr angeht. Du hast mir kein Wort davon gesagt, daß sie dich im Visier hatten, noch bevor wir von Tier Breche aufbrachen. Warum nicht? Hast du geglaubt, ich würde dich dann nicht begleiten?« Es war höchst untypisch für den schlagfertigen Magier, daß er. zögerte. Irgendwo tief unter ihnen knallte eine Peitsche, fast gleichzeitig schrie ein Goblin. »Nein«, sagte er schließlich. »Nicht wirklich. Ich glaube, es liegt daran, daß Drow ihre Geheimnisse fast schon eifersüchtig hüten. Das tun auch die Adligen und die Magier, und ich zähle zu allen dreien! Wirst du mir verzeihen? Es ist schließlich nicht so, als hättest du noch nie etwas vor mir verschwiegen.« »Wann?« »Während der ersten drei Jahre unserer Bekanntschaft hast du bei jeder unserer Begegnungen stets einen Dolch mitge führt, der so verzaubert war, daß man mit ihm einen Magus töten konnte. Du glaubtest immer, ich suche nur deine Gesell schaft, weil einer deiner Rivalen in Melee-Magthere mich beauftragt hat, dich bei der erstbesten Gelegenheit umzubrin gen.« »Wie hast du das herausgefunden? Vergiß es, ich nehme an, dein Silberring hat es dir verraten. Damals wußte ich nicht, welchen Zweck er erfüllt. Aber das ist nicht die gleiche Art
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von Geheimnis.« »Da hast du recht, das ist es nicht. Ich bedauere mein Zö gern, dich einzuweihen, aber ich verspreche, es wiedergutzu machen, indem ich mit dir das erstaunlichste Geheimnis teile, das du je gehört hast.« Ryld sah Pharaun an. »Ich verzeihe dir. Aber unter der Be dingung, daß ich dich bewußtlos schlage und höchstpersönlich zu deinem Miststück von Schwester bringe, wenn du mir noch eine wichtige Information vorenthältst.« »Verstanden. Sollen wir uns setzen?« Pharaun wies auf eine Bank am hinteren Teil des Vorsprungs, der aus dem Kalkstein gehauen worden war. »Mein Vortrag könnte etwas dauern, und ich liege wohl nicht falsch, wenn ich sage, daß wir nach unse ren Anstrengungen ein wenig Ruhe gut gebrauchen können.« Als er sich von dem aus Fels geformten Wall abwandte, be merkte Ryld, daß das Knallen der Peitsche aufgehört hatte. Er warf einen Blick nach unten und sah, daß zwei Goblins den Körper eines dritten forttrugen, um ihn irgendwo hinzuschaf fen, wo man ihn zerlegen und die Teile einem nützlichen Ver wendungszweck zuführen würde. Möglicherweise als Nahrung für andere Knechte. Der Lehrer für Kampftechniken setzte sich hin und zog ein Stück Stoff, einen Schleifstein und eine Phiole Öl aus den Taschen seiner Kleidung. Er löste sein Kurzschwert vom Gür tel, zog am Heft und gab ein unerfreutes Murren von sich, als die Klinge, die er blutverschmiert hatte wegstecken müssen, in der Scheide steckenblieb. Er wandte etwas mehr Kraft auf, dann löste sich das Schwert. Er sah hinüber zu Pharaun, der ihn mit spöttischer Verärge rung betrachtete. »Rede«, forderte Ryld Pharaun auf. »Ich kann mich um meine Ausrüstung kümmern und dir gleichzeitig zuhören.«
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»Willst du so Enthüllungen zur Kenntnis nehmen, die dein Weltbild auf den Kopf stellen könnten? Ich nehme an, ich kann mich glücklich schätzen, daß du nicht nebenher pinkeln gehst. Also gut, ich fange an ... Lolth ist weg. Na ja, vielleicht nicht richtig weg, aber zumindest auf eine Weise unerreichbar, daß es ihren Klerikern in Menzoberranzan nicht mehr möglich ist, von ihr Zauber zu empfangen.« Einen Moment lang überlegte Ryld, ob er richtig gehört hatte. »Ich nehme an, das ist ein Scherz?« fragte er. »Ich bin froh, daß du ihn nicht erzählt hast, als wir uns irgendwo auf hielten, wo viel los war. Es ist nicht nötig, unseren Verbrechen auch noch den Tatbestand der Blasphemie hinzuzufügen.« »Blasphemie oder nicht, es stimmt.« Mit dem Lappen rieb Ryld klebriges Blut vom Kurzschwert. »Was willst du damit sagen?« fragte der Waffenmeister. »Ei ne weitere Zeit der Avatare? Sollte es zwei derartige Unruhen geben?« Pharaun grinste schief und erwiderte: »Vielleicht, aber ich glaube es eher nicht. Als die Götter gezwungen wurden, sich in der Welt der Sterblichen niederzulassen, fluktuierten die arka nen Kräfte, über die wir Magier bestimmen, völlig unbere chenbar. An einem Tag konnten wir die Welt wie einen Ton klumpen formen, am nächsten Tag konnten wir nicht mal Eis zu Wasser werden lassen. Das ist jetzt nicht so. Meine Kräfte sind so konstant wie immer, woraus ich vorsichtig schließe, daß dies nicht die Wiederkehr der Zeit der Avatare ist, sondern eine andere Art von Vorkommnis.« »Welche Art?« »Nanu? Erwartest du von mir, daß ich das bereits weiß? Ich dachte, ich würde schon etwas Gutes leisten, wenn ich diese Vorfälle feststelle.« »Nur, wenn sie wirklich eintreten.«
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Ryld studierte die Spitze der kurzen Klinge, dann begann er, sie mit dem Schleifstein zu bearbeiten. Verwirrt von Pharauns Behauptung fragte er sich, wie sein sonst so kluger Freund überhaupt eine so absurde Idee erwägen konnte. »Ich will, daß du an die Konfrontation zurückdenkst, die wir gerade hinter uns gebracht haben«, sagte der Meister Sorceres. »Hast du nur einmal gesehen, daß Greyanna oder die andere Priesterin göttliche Magie aus dem Gedächtnis und aus der inneren Kraft wirkte, ohne sich auf eine Schriftrolle oder ein anderes Objekt zu verlassen?« »Ich habe gegen die Skelette gekämpft.« »Du achtest auf jeden Gegner auf dem Schlachtfeld. Ich weiß das. Also: Hast du gesehen, daß sie aus eigener Kraft auch nur einen Zauber gewirkt haben?« Ryld dachte, er hätte das natürlich gesehen ... bis ihm be wußt wurde, daß dem nicht so war. »Was sagt uns das?« fragte Pharaun. »Sie haben keinen Zau ber mehr in ihrem Gedächtnis, oder bestenfalls noch ein paar, und die hüten sie verzweifelt, weil sie von ihrer Göttin keine neuen Zauber nachgeliefert bekommen. Lolth hat Men zoberranzan ihre Gunst entzogen ... oder es ist etwas anderes geschehen.« »Warum sollte sie?« »Braucht sie einen Grund – oder zumindest einen, den ei nes ihrer sterblichen Kinder verstehen könnte? Sie ist die Göttin des Chaos. Vielleicht will sie uns auf die Probe stellen, oder sie ist wütend und erachtet uns als nicht schützenswert. Oder – wie ich ja bereits andeutete – der Grund für ihr Schweigen ist ein ganz anderer, vorausgesetzt, sie ist stumm, wenn ihre Kleriker sie anbeten, aber nicht einfach nur unko operativ. Vielleicht ist es sogar ein Ereignis, das alle Götter betrifft. Da wir in Menzoberranzan nur einen Glauben und
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eine Geistlichkeit haben, ist das schwierig zu beurteilen.« »Warte«, warf Ryld ein. Er zog den Stöpsel aus der kleinen Ölflasche. Der stechende Geruch war eine willkommene Ab wechslung von dem feuchten Gestank der Dungfelder. »Ich gebe zu, ich sah weder Greyanna noch die andere Priesterin Magie wirken, aber hast du nicht selbst einmal gesagt, daß es in einem Schlachtengetümmel oftmals einfacher und zuverläs siger ist, sich bei einem Zauber auf einen Stab oder ein Stück Pergament zu verlassen?« »Das ist möglich. Doch würdest du unter ganz normalen Umständen von zwei Magiern erwarten, daß sie jeden einzel nen Zauber so Gestalt annehmen lassen? Kurz bevor wir ver schwanden, sah ich, wie Greyanna in die Luft griff, um eine Waffe zu ergreifen, die sich nur langsam herabsenkte. Die Schwester, die ich kenne, hätte diese Waffe zum Teufel ge wünscht und uns mit anderer Magie bombardiert. Es sei denn, sie war durch irgendwelche Umstände in ihren Wahlmöglich keiten stark eingeschränkt.« »Ich verstehe, was du meinst«, räumte Ryld ein. »Aber als die Kleriker in der Zeit der Avatare ihre Kräfte verloren, sorgte das für eine Destabilisierung des Machtgleichgewichts der Adelshäuser untereinander. Die, die glaubten, der Wandel mache sie relativ stärker, schlugen unerbittlich zu, um den Platz ihrer Rivalen einzunehmen. Soweit ich das beurteilen kann, ist das jetzt nicht der Fall. Es herrscht nur das normale Maß an beherrschter Feindseligkeit.« Er legte das Kurzschwert weg und nahm sich Splitter vor. Pharaun nickte und sagte: »Du erinnerst dich auch, daß keines der Häuser, das die Zeit der Avatare für sich zu nutzen versucht hat, am Ende davon irgend etwas profitiert hat. Im Gegenteil, die Baenre und einige andere straften sie für ihre Verwegenheit. Vielleicht haben sich die Muttermatronen diese
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Lektion zu Herzen genommen.« »Anstatt also Pläne zu schmieden, wie sie sich gegenseitig vom Thron stürzen können, tun sie ... was? Haben sie stattdes sen jede einzelne Priesterin in eine große Verschwörung einbe zogen, um zu verheimlichen, daß sie in Ungnade gefallen sind? Wenn deine verrückte Idee wahr ist, dann müssen sie genau das getan haben.« »Warum ist das so unwahrscheinlich? Stell dir den Tag vor, an dem sie ihre Fähigkeit verloren, von ihrer Göttin Kraft zu erhalten. Es ist vielleicht nur ein paar Zehntage her, wer weiß? Die Klerikerinnen Lolths arbeiten routinemäßig gemeinsam an ihren magischen Ritualen, also dürften sie ziemlich schnell erkannt haben, daß sie alle in gleichem Maß betroffen sind. Ausgehend vom Ausmaß der Situation könnte Triel Baenre – vielleicht nach einer eilig einberufenen Konsultation mit un serer verehrten Meisterin Quenthel und den Matronen des Rates – durchaus entschieden haben, die Schwäche der Pries terschaft geheimzuhalten, und rechtzeitig alle Betroffenen anzuweisen, über das Geschehene zu schweigen.« »Das müßte sich dann aber verdammt schnell herumgespro chen haben«, erklärte Ryld und inspizierte Splitter. Wie erwar tet war die Klinge trotz all der Knochen, durch die sich ge schnitten hatte, übernatürlich scharf und frei von jedweder Kerbe. »Ach, ich weiß nicht«, sagte der Magier. »Wenn du mit ei nem Mal nicht mehr die Kraft hättest, deine Waffen zu führen, würdest du das jeden wissen lassen? Würdest du wollen, daß letztlich jeder davon erfährt, der dich nicht ausstehen kann? Da dies aber das erste Mal ist, daß wir von dem Problem erfah ren haben, wurde das große Totschweigen aber offenbar noch rechtzeitig in die Tat umgesetzt.« »Oder aber alles andere ist so, wie es immer war, und diese
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Sache existiert nur in deiner Phantasie.« »O nein, sie ist real. Ich bin sicher, Triel hielt diese Täu schung für erforderlich, um dafür zu sorgen, daß kein Besucher merkt, wie geschwächt Menzoberranzan in Wahrheit ist.« Er grinste breit und fügte an: »Um das Problem aus der Welt zu schaffen, damit wir bemitleidenswerten Männer nicht vor Entsetzen ohnmächtig werden, wenn wir erfahren, daß unsere Gebieter die Fähigkeit verloren haben, uns zu führen und zu beschützen.« »Nun, es ist ein amüsantes Gedankenspiel.« »Bei Feuer und Flamme, du bist ja wirklich schwer zu über zeugen, und ich will verdammt sein, wenn ich den Grund dafür kenne. Du hast die Zeit der Avatare miterlebt, den Tod der letzten Muttermatronin der Baenre und den Sieg einer Schar Zwerge über Menzoberranzan. Warum glaubst du, unsere Welt könnte sich nicht auf eine so grundlegende Weise verändert haben, wenn du es doch so viele Male mit eigenen Augen gesehen hast? Öffne deinen Geist, und du wirst sehen, daß meine Hypothese allem einen Sinn gibt, was uns so verwun derte.« »Wie meinst du das?« »Was auch immer sie vorhaben mögen, wie kann es sein, daß seit einem Monat eine ungewöhnlich große Zahl Männer es wagt, von ihren Familien davonzulaufen? Weil sie irgendwie darauf gestoßen sind, daß der Zorn einer Priesterin mittlerweile keine so große Bedrohung mehr darstellt.« »Während die Klerikerinnen«, griff Ryld den Gedanken auf, »darauf versessen sind, sie zu fassen zu bekommen, weil sie wissen wollen, wie es den Männern gelingen konnte, etwas über das Schweigen zu erfahren, wenn wir den Zustand einmal so nennen wollen. Bei den Höllen, wenn all diese Männer den Mut aufbrachten, die Flucht zu ergreifen, wissen sie vielleicht
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sogar mehr über das Problem als die Frauen selbst.« »Denkbar«, sagte Pharaun. »Die Priesterinnen können es nicht ausschließen, bis sie ein paar von ihnen auf die Streck bank geschnallt haben, nicht? Warum wollen sie nicht, daß Gromph in die Ergreifung der Flüchtigen einbezogen wird?« »Sie wollen nicht, daß er erfährt, was die Flüchtigen wissen.« »Sehr gut, Lehrling. Wir machen aus dir noch einen Logi ker.« »Glaubst du, der Erzmagus weiß bereits, daß die Begnadeten ihre Magie verloren haben?« »Ich würde dein linkes Auge darauf verwetten, aber er sitzt genauso in der Klemme wie die Hohepriesterinnen. Er geht davon aus, daß die Flüchtigen mehr wissen könnten.« Ryld nickte. »In einem Krieg oder einer anderen Krise muß man alle Möglichkeiten in Erwägung ziehen.« »Die Idee des Schweigens erklärt sogar, warum es im Schmuckkästchen so voll war und warum einige der Gäste so streitlustig oder sogar lädiert waren. Frauen, die ihrer Magie beraubt wurden, könnten sich schwach und verwundbar füh len. Bewußt oder unbewußt würden sie befürchten, die Kon trolle über ihren Haushalt zu verlieren. Dementsprechend würden sie das mit einer härteren Disziplinierung als üblich ausgleichen.« »Ich verstehe«, sagte Ryld. »Natürlich. Wie ich sagte, erklärt diese Hypothese jede Anomalie. Darum können wir davon ausgehen, daß sie zutref fend ist.« »Wie erklärt das den relativen Mangel an Waren auf dem Basar?« Pharaun blinzelte, kniff nachdenklich die Augen zusammen und lachte schließlich. »Weißt du, es ist angesichts dieser nichtigen kleinen Nebensächlichkeiten für Genies schwierig,
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in höhere Sphären aufzusteigen. Doch du hast recht. Auf den ersten Blick erklärt das Schweigen nicht die Zustände auf dem Markt, doch es erklärt so vieles anderes, daß ich immer noch glaube, der Gedanke ist zutreffend. Habe ich dich überzeugt?« »Ich ... vielleicht. Auf verschrobene Weise ergibt es Sinn, was du sagst. Die Idee an sich ist nur schwer vorstellbar. Die eine Wahrheit, die unser Volk nie in Frage gestellt hat, ist die, daß Menzoberranzan Lolth gehört. Alles in dieser Höhle ist so, wie es ist, weil sie es so wollte, und die Macht ihrer Priesterin nen ist die vorrangige Kraft, die alles bewahrt, was wir haben und was wir sind. Wenn sie sich von der Stadt abgewendet hat oder für uns auf eine andere Weise verloren ist ...« Ryld spreiz te die Hände. »Ein beunruhigender Gedanke, aber vielleicht – und nur vielleicht – eröffnet sich damit für uns auch eine Chance.« Ryld nahm einen ausfahrbaren Stab, machte am hakenför migen Ende ein Stück Stoff fest und begann, die blutver schmierte Scheide auszuwischen. »Was soll das heißen?« fragte der Krieger dann. »Laß uns doch mal – nur zum Spaß – den gleichen Gedan kensprung machen, den Gromph und der Rat gemacht haben. Angenommen, die Flüchtigen können erklären, warum Lolths Gönnerschaft ein Ende genommen hat. Angenommen, wir finden sie und gelangen an eben diese Information und ange nommen, wir können mit dieser Information irgendwie die alten Zustände wiederherstellen.« »Das sind sehr viele Annahmen.« »Ja. Offenbar lasse ich meiner blühenden Phantasie freien Lauf. Dennoch habe ich die Vermutung – nur eine Vermutung, aber immerhin –, daß, wenn zwei Meistern der Akademie ein solcher Triumph gelingen würde, sie dabei eine solche Macht erringen könnten, daß mein Freund, der Sarthos-Dämon,
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daneben wie der Streich eines Kleinkinds wirkt. Du wolltest doch etwas finden, das uns zum Vorteil gereicht, wenn ich mich recht erinnere.« »Deine Schwester könnte uns vorher finden. Sie hat uns schon einmal aufgespürt. Denkst du immer noch, wir sollten sie und ihre Vasallen nicht töten?« »Gute Frage«, erwiderte Pharaun seufzend. »Sie greifen uns mit mächtiger Magie an. Ich vermute, daß sich in ihrem Le derbeutel neun verschiedene Sorten dienstbarer Kreaturen befinden, eine tödlicher als die andere.« »Wenn dem so ist, warum hat sie dann nicht alle auf uns gehetzt?« »Vielleicht hat sie versucht, ihre anderen Ressourcen zu schonen, solange die ihr eigenen Kräfte verschwunden sind. Leider kann ich nicht sagen, ob sie beim nächsten Versuch wieder so viel Zurückhaltung üben wird.« »Was tun wir also?« »Wie du weißt, wollte ich Greyanna schon immer töten. Trotzdem nehme ich an, die geschicktere Vorgehensweise ist die, unseren Verfolgern nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Wenn das nicht gelingt, müssen wir überleben. Ich könnte meinen Standpunkt klarmachen, indem ich zumindest Relonor ausschalte. Ich nehme an, daß er uns mit Erkenntnis magie fand. Darin war er schon immer gut.« »Kannst du uns abschirmen?« »Vielleicht. Ich habe vor, es zu versuchen. Bleib, wo du bist, und sprich nicht.« Pharaun stand auf und griff in eine seiner Taschen. Auf dem See sprang etwas Großes aus dem Wasser. Ein Ork auf einem Floß, der das Platschen hörte, brummte seinen Gefährten et was zu, woraufhin diese ihre Lanzen mit den Widerhaken be reitmachten.
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Als Drisinil den Türgriff faßte, pochte unter dem Verband der Stumpf ihres kleinen Fingers. Es fiel der Novizin immer noch schwer zu glauben, daß die Meisterin Quenthel nach dem Überlebenskampf gegen den Spinnendämon sich sofort wieder der Angelegenheit der Beinahe-Schwänzerinnen und deren sich selbst zuzufügender Bestrafung gewidmet hatte. Es sprach für ihre ruhige, präzise Art – Eigenschaften, die Drisinil be wunderte, was aber nichts daran änderte, daß sie ihr Vorbild haßte. Sie sah sich ein letztes Mal in dem verlassenen Gang um. Niemand war zu sehen, und niemand sollte sich auch hier aufhalten, jedenfalls nicht zu dieser späten nächtlichen Stunde in diesem Abschnitt dieses speziellen Flügels Arach-Tiniliths. Sie glitt durch die Sandsteintür und zog sie hinter sich zu. Anders als in den meisten Bereichen des Tempels brannten in
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dem Raum hinter der Tür keine Lampen, Fackeln oder Kerzen. Das geschah in voller Absicht, damit unter der Tür kein verrä terischer Lichtschein durchschimmerte. Drisinils Mitverschwörerinnen warteten schon auf sie. Eini ge von ihnen waren Novizinnen, die wie sie selbst einen Ver band an der Hand trugen. Andere waren Lehrerinnen. Diese hatten, durch ihre Würde gehemmt, leichte Schwierigkeiten, es sich zwischen willkürlich gestapelten Kisten und dem Durcheinander aus Möbelstücken bequem zu machen, die in dem halb vergessenen Lagerraum standen. Dabei erwies es sich als zusätzliches Hindernis, daß sie davor zurückschreckten, die allgegenwärtigen verstaubten Spinnweben wegzuwischen, da sie fürchteten, sie könnten noch bewohnt sein. Drisinil fragte sich, ob dieses spezielle Verbot überhaupt noch sinnvoll war. Vielleicht waren Spinnen nicht mehr hei lig. Dann verdrängte sie diesen blasphemischen Gedanken und war auf sich selbst wütend. Lolth lebte, daran bestand kein Zweifel, und es war anzunehmen, daß sie die bestrafen würde, die auch nur einen Augenblick lang etwas anderes für möglich hielten. Nachdem sie sich gezwungen hatte, sich auf die momentane Situation zu konzentrieren, war Drisinil einen Moment lang verblüfft, daß alle Anwesenden sie erwartungsvoll ansahen. Gingen sie davon aus, daß sie das Treffen leitete? Warum auch nicht? Sie war zwar nur eine Novizin, aber sie war auch eine Barrison Del’Armgo, und Herkunft war von Bedeutung, vielleicht sogar mehr als je zuvor, wenn nun sogar die Mächtigsten der Priesterinnen ihre Magie verloren. Au ßerdem war das geheime Treffen ihre Idee gewesen. »Guten Abend«, sagte sie. »Ich danke euch allen, daß ihr gekommen seid und ...« Sie lächelte sarkastisch: »Daß ihr
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mich nicht Quenthel Baenre gemeldet habt.« »Das können wir immer noch«, sagte Vlondril Tuin’Tarl, auf deren faltigem Gesicht sich ein schiefes Grinsen abzeich nete. »Deine Aufgabe ist es, uns davon zu überzeugen, daß wir dich nicht melden.« Die Lehrerin war so alt, daß sie begonnen hatte, wie ein al tes Menschenweib zu verwelken. Die meisten glaubten, ihre mystischen Gedanken über das absolute Chaos hätten ihr ein wenig den Verstand geraubt. Niemand, nicht einmal die ande ren Lehrerinnen, hatten sich dazu durchringen können, in ihrer Nähe Platz zu nehmen. »Bei allem Respekt, Heilige Mutter«, erwiderte Drisinil, »ist das nicht offensichtlich? Die Göttin, die unsere Stadt seit ihrer Gründung gehegt und gepriesen hat, hat sich von uns abge wandt.« Wieder konnte Drisinil nicht umhin, über andere Möglich keiten nachzudenken, doch selbst wenn sie einen Sinn darin gesellen hätte, wäre sie nicht so töricht gewesen, darauf hin zuweisen. Niemand, der sich mit ihr in diesem Raum aufhielt, hätte das gewagt. »Die Schuld trägt Quenthel«, fügte Molvayas Barrison Del’Armgo hinzu. Drisinils Tante war kleiner und stämmiger als sie, doch sie hatte die gleiche scharf geschnittene Nase und die gleichen ungewöhnlich grünen Augen. Die vornehm gekleidete, ältere Ahnin des Hauses trug einen Jadering, in dem die Seele eines Feindes gefangen war, die man klagen und um Freilassung flehen hören konnte, wenn es totenstill war. Sie stand unter Quenthel, so wie Barrison Del’Armgo immer unter Baenre stand. Sie hatte ihrer Nichte geholfen, die Nachricht von dem Geheimtreffen zu verbreiten, und durch ihre Unterstützung verlieh sie dem Anliegen Drisinils ein gewisses Maß an
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Glaubwürdigkeit. »Woher weißt du das?« fragte T’risstree T’orgh. Die Frau, deren schlanker Körperbau erfolgreich darüber hinwegtäuschte, daß sie nicht nur Priesterin, sondern auch eine vollwertige Kriegerin war, war berüchtigt dafür, daß sie anstelle des üblichen Streitkolbens oder der Fangzahnpeitsche ein Krummschwert ohne Scheide mit sich herumtrug. Jeder Studentin, die ihr Mißfallen bereitete, fügte sie mit einem raschen, aber exakt geführten Schnitt klaffende Wunden im Gesicht zu. Die kurze, gekrümmte Klinge lag quer über ihren Knien. Drisinil wartete einen Augenblick, um sicherzugehen, daß Molvayas von ihr die Antwort auf diese Frage erwartete. Of fenbar war das der Fall, und das mit Recht, da es die jüngere Frau war, die diesen Punkt überhaupt erst ins Gespräch ge bracht hatte. »Als Triel hier herrschte«, begann die Novizin, »war alles gut. Kurz nachdem Quenthel das Amt übernommen hatte, verstieß Lolth uns.« »›Kurz‹ ist relativ«, meinte eine ironische Stimme von ir gendwo aus dem Hintergrund. »Es ist aber kurz genug«, gab Drisinil zurück. »Vielleicht hatte die Göttin uns Zeit eingeräumt, um den Fehler zu korri gieren. Das haben wir nicht, und nun bestraft sie uns.« »Ganz Menzoberranzan ist betroffen«, konterte T’risstree. »Nicht nur Tier Breche.« »Du wirst doch nicht erwarten«, sagte Drisinil, »daß sie sich gerecht verhält. Ich hoffe doch, eine Priesterin kennt Lolth besser. Ihr Zorn ist so grenzenlos wie ihre Macht. Abgesehen davon ist Arach-Tinilith das Zentrum der tiefsten Geheimnisse und damit das mystische Herz Menzoberranzans. Es ist nur logisch, daß alles, was uns ereilt, sich auf die Stadt auswirkt.
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Jedenfalls«, fuhr die Novizin fort, »hat Lolth uns ihre Ab sicht gezeigt. Trotz all unserer Schutzmaßnahmen sind zwei Geister in den Tempel eingedrungen, der erste in der Tarnung einer Spinne, der zweite in der Form lebender Finsternis. Spinne und Finsternis spiegeln die Essenz der Göttin wider. Die Dämonen verletzten die, die ihnen im Weg standen. Sie fügten ihnen Prellungen und Knochenbrüche zu, doch sie versuchten nicht, jemanden aus unseren Reihen zu töten, nicht wahr? Sie haben zielstrebig nach Quenthel gesucht, weil sie sie und nur sie töten wollten.« Einige der Priesterinnen runzelten die Stirn oder nickten nachdenklich. »So schien es«, sagte Vlondril. »Aber was an Quenthel hältst du für inakzeptabel? Tut sie nicht genau das, was Triel auch tat?« »Wir wissen nicht über alles Bescheid, was sie tut«, antwor tete Drisinil. »Wir wissen auch nicht, was sie denkt. Aber Lolth weiß es.« »Aber du weißt nicht, daß sie wirklich die Dämonen ge schickt hat«, warf T’risstree ein. Sie war als Bürgerliche gebo ren worden, dann aber zu Macht und Prestige gekommen, und es war klar, daß sie die Gewohnheit der Unterwürfigkeit ge genüber der Aristokratie abgelegt hatte. »Vielleicht wurden sie auch von einem ihrer sterblichen Todfeinde geschickt.« »Welcher Sterbliche besitzt die erforderliche Magie, um die Schutzmaßnahmen des Tempels zu überwinden?« gab Drisinil zurück. »Der Erzmagier?« warf Vlondril ein und zupfte an der Haut auf ihrem Handrücken. Ihr Tonfall war unbeschwert, als habe sie einen Scherz gemacht. »Selbst wenn«, erwiderte Drisinil, »ist Gromph ein Baenre. Quenthel stärkt durch ihre Position als Herrin sein Haus. Er
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hat keinen Grund, sie umzubringen, und wenn nicht er, wer dann? Wer anders als Lolth?« »Quenthel lebt aber noch«, gab eine Priesterin des Hauses Xorlarrin zu bedenken. Sie hatte einen langen Schleier über geworfen, ehe sie sich auf den Weg zu dem Treffen gemacht hatte. Offensichtlich sollte er für jeden, der sie auf ihrem Weg durch die Flure sah, den Eindruck erwecken, sie sei in irgend eine nekromantische Meditation versunken. »Sollen wir glau ben, Lolth habe versucht, sie zu töten, und sei dabei geschei tert?« »Vielleicht«, sagte Drisinil. Einige der Anwesenden warfen ihr finstere Blicke zu oder versteiften sich, als sie ihre Antwort hörten, die mühelos als Blasphemie ausgelegt werden konnte. »Sie ist allmächtig, nicht aber ihre Diener. Ich glaube sogar, daß es ihre Absicht war, die ersten beiden Attentate fehlschla gen zu lassen. Sie gibt ihren Priesterinnen Gelegenheit, über die Geschehnisse nachzudenken, ihren Willen zu begreifen, die uns aufgetragene Aufgabe zu erledigen und uns ihre Gunst wieder zu erarbeiten.« Vlondril lächelte. »Das tun wir, indem wir Quenthel töten? Oh, das ist gut, Kind, sehr gut sogar.« »Ja«, bestätigte Drisinil. »Wenn das nicht machbar ist, dann helfen wir nach Kräften dem nächsten dämonischen Angreifer.« T’risstree schüttelte den Kopf. »Das ist doch reine Spekula tion. Du weißt überhaupt nicht, ob der Tod der Herrin Lolth zurückkehren läßt.« »Es ist einen Versuch wert«, sagte Drisinil. »Zumindest wer den die Dämonen aufhören, in Arach-Tinilith einzufallen, wenn wir ihnen geben, was sie wollen. Sie haben bisher nie manden von uns getötet, doch wenn wir ihnen nicht helfen und Quenthel weiterlebt, könnten sie sich dazu entschließen,
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auch uns aus dem Weg räumen zu wollen. Immerhin liegt das Töten in der Natur der Dämonen.« »Die Dämonen könnten harmloser sein als das Haus Baen re«, erwiderte T’risstree. »Die Baenre werden nicht erfahren, wer Quenthels Ende in die Wege geleitet hat«, gab Drisinil zurück. »Was also sollen sie tun? Sich an jeder Priesterin Arach-Tiniliths rächen? Das können sie nicht, denn sie brauchen uns, damit wir ihre Töch ter ausbilden und die geheimen Rituale vollführen.« »Wenn Quenthel stirbt«, sagte eine Priesterin, die an der Wand lehnte, »hat Molvayas eine gute Chance, die nächste Herrin Arach-Tiniliths zu werden. Was aber haben wir da von?« »Meine Nichte hat erklärt«, begann Molvayas, »daß wir al le unsere Verbindung zur Göttin erneuern und unsere Magie zurückerhalten werden. Darüber hinaus verspreche ich, sollte ich Herrin werden, daß ich nicht die vergessen werde, denen ich diesen Aufstieg zu verdanken habe. Hohepriesterinnen, ihr werdet meine Stellvertreterinnen sein, euer Dienstgrad wird über dem jeder anderen Lehrerin stehen. Novizinnen, ihr wer det in Arach-Tinilith eine angenehmere Zeit verbringen als normal. Auch ihr werdet Autorität über euresgleichen haben. Ihr werdet im Luxus leben. Ich werde euch nicht die Drecksar beit machen lassen, sondern euch stattdessen Geheimnisse lehren, die kaum eine Schülerin je lernt.« »Wir werden dich daran erinnern«, kam eine weitere Stim me aus dem Hintergrund, »und dich verraten, wenn du deine Versprechen nicht erfüllst.« »Genau«, sagte Molvayas. »Ihr werdet immer damit drohen können, das Haus Baenre von meiner Schuld in Kenntnis zu setzen. Ihr seid viel zu viele, als daß ich euch alle töten könnte, um euer Schweigen zu garantieren. Daher könnt ihr darauf
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vertrauen, daß ich Wort halten werde. Selbst wenn es anders wäre, müßte ich schon sehr dumm sein, wenn ich mit euch ein falsches Spiel triebe. Schließlich werde ich immer eine treue Anhängerschaft brauchen.« »Das ist verlockend«, sagte die verschleierte Xorlarrin. »Ich würde fast jedes Risiko eingehen, um meine Magie zurückzuer langen. Dennoch reden wir über die Baenre.« »Die Baenre seien verdammt!« spie Drisinil. »Vielleicht ist der Mord an Quenthel das erste Poltern des Höhleneinsturzes, der den Clan unter sich begraben wird.« »Was für ein Höhleneinsturz?« fragte T’risstree. »Ich weiß nicht genau«, räumte Drisinil ein. »Doch ihr müßt eines bedenken: Häuser steigen auf und gehen unter. So ist das in Menzoberranzan, und es ist Lolths Wille. Bis heute bildet das Haus Baenre die Ausnahme und steht Jahrhundert um Jahrhundert an der Spitze. Vielleicht hat die Familie mit dem Tod der alten Muttermatronin die Achtung Lolths verlo ren. Wieso auch nicht? Jeder weiß, daß Triel in Wirklichkeit hoffnungslos überfordert ist. Vielleicht ist es an der Zeit, daß das Haus Baenre sich dem Gesetz des Universums beugt. Wenn dem so ist, wäre es dann nicht glorreich, den Niedergang ihrer Vorherrschaft jetzt und hier einzuläuten?« »Das wäre es«, erklärte T’risstree. Drisinil wandte sich um und sah sie überrascht an. »Du bist meiner Meinung?« Die Angesprochene legte ihr rasiermesserscharfes Krumm schwert weg, erhob sich und sagte: »Ich hatte Zweifel, doch du hast mich überzeugt.« Einen Moment lang grinste sie. »Ich kann Quenthel nicht ausstehen. Darum werden wir sie in ihr Grab stoßen, die Unterstützung Lolths zurückerlangen und die Akademie so führen, wie wir es für richtig halten.« Sie streckte die Hände aus, und Drisinil ergriff sie lächelnd,
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obwohl durch den festen Druck rasende Schmerzen durch beide Arme nach oben bis in ihren Kopf schossen. Dann wandte sie sich den anderen Priesterinnen zu und fragte: »Was ist mit euch anderen? Macht ihr mir?« Es erhob sich ein vielstimmiger Chor der Zustimmung. Sie schätzte, daß die, die daran gezweifelt hatten, daß sie einen Weg gefunden hatte, um Lolth versöhnlich zu stimmen, den noch darauf brannten, in der Hierarchie im Tempel weiter aufzusteigen, oder daß sie Quenthel zumindest auch nicht mochten. Vielleicht ließen sie sich einfach von der den Drow innewohnenden Lust auf Blutvergießen und Verrat mitreißen. Drisinil selbst war unverrückbar davon überzeugt, den rich tigen metaphysischen Weg gefunden zu haben, um ihrem Leid ein Ende zu setzen. Doch tief in ihrem Inneren war sie noch viel begeisterter von der Vorstellung, sich an der Frau zu rä chen, die sie so gequält hatte. Wie hätte es auch anders sein sollen? Für den Rest ihres Lebens würden die von ihr selbst verstümmelten Hände jedem sofort zeigen, daß man jemanden vor sich hatte, der von einem anderen besiegt und gedemütigt worden war. »Ich danke euch«, sagte sie zu den anderen Klerikerinnen. »Nun sollten wir die Köpfe zusammenstecken. Wir haben noch viel zu planen, aber nur noch sehr wenig Zeit, bevor andere darauf aufmerksam werden, daß wir nicht dort sind, wo wir sein sollten.« Und sie planten. Sie flüsterten, haderten, und manchmal mußten sie grinsen, wenn eine von ihnen einen besonders phantasievollen, gehässigen Vorschlag machte. Drisinil wußte, daß ein Großteil der Pläne, vielleicht sogar alle, sich als nutz los erweisen würden, weil zuviel davon abhing, daß Quenthel zu einem bestimmten Zeitpunkt sich an einem bestimmten Ort aufhielt und etwas ganz bestimmtes tat, damit der Plan funkti
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onieren konnte. Doch die Überlegungen bewirkten, daß sie ihre Beteiligung an der Verschwörung ernst nahmen und daß zumindest die groben Strukturen einer Strategie Gestalt an nahmen. Schließlich war es geschafft. Die Priesterinnen zogen sich zurück, wie sie gekommen waren, mal allein, mal zu zweit. Die Rastloseren von ihnen standen in einem Grüppchen am Aus gang und warten ungeduldig darauf, gehen zu können. T’risstree gehörte zu ihnen. Drisinil durchquerte den Raum so gelassen und beiläufig wie möglich. Sie wollte nicht, daß jemand ihre wahre Absicht erkannte und überrascht reagierte. Niemand wollte das. Alle Drow waren insofern Schauspie ler, als sie Lügner waren, und vielleicht war sie eine bessere Heuchlerin als die meisten anderen. Sie schlenderte bis zu T’risstree, griff nach dem Dolch, der von ihrem langen, fransi gen Tuch verdeckt wurde, und trieb die Klinge tief in das Rückgrat der Hohepriesterin. Warum auch immer schmerzten die Stümpfe ihrer abgetrennten kleinen Finger diesmal über haupt nicht. T’risstree drückte vor Schmerz den Rücken durch, dann versuchte Drisinils Lehrerin zu deren Überraschung, sich zu ihr umzudrehen. Mit zitterndem Arm versuchte T’risstree, das Krummschwert zu heben. Drisinil vollzog die Drehung der Hohepriesterin mit, um hinter ihr zu bleiben. Sie bekam ihr Haar zu fassen, riß den Kopf nach hinten und schlitzte ihr die Kehle auf. Die Lehrerin brach zusammen, das Schwert glitt ihr aus den Fingern und fiel zu Boden. Die Umstehenden sahen sie fassungslos an. »T’risstree T’orgh wollte uns verraten«, erklärte Drisinil. »Ich sah es in ihren Augen, als ich ihr die Hände gab. Wir
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können die Leiche erst einmal hier liegenlassen. Mit etwas Glück wird man sie erst nach Quenthels Tod entdecken.« Entweder hatten die anderen Verschwörerinnen ihr die Er klärung abgenommen, oder aber – und das war eher anzuneh men – es interessierte sie nicht, daß Drisinil die Lehrerin er mordet hatte. Einige gratulierten ihr zu ihrem Geschick und machten sich dann daran, den Raum zu verlassen, ohne von dem Leichnam Notiz zu nehmen, der zwischen ihnen auf dem Boden ausgestreckt lag. Drisinil nahm das Krummschwert auf und untersuchte es. Es würde sich gut an ihrer Wand machen, wenn Quenthel erst einmal tot war.
Faeryl schlich über die abgerundeten und heimtückischen Flächen auf dem höchsten Punkt der Botschaftsresidenz. Sie versuchte, alle vier Seiten ihres Heims im Auge zu behalten, was zur Folge hatte, daß sie mit einer gewissen Schnelligkeit klettern mußte. Doch sie versuchte auch, sich vor jedem zu verstecken, der aus einem Fenster eines der Nachbargebäude blickte oder der sich auf einem der ruhigen Boulevards des wohlhabenden Westwand aufhalten mochte. Je schneller sie sich bewegte, desto schwieriger wurde es, unentdeckt zu blei ben. Sie hatte sich zwei Stunden zuvor hierher geschlichen, als alle anderen glaubten, sie würde Dokumente zusammenpacken oder verbrennen. Sie war sich noch immer nicht im Klaren darüber, ob sie zwischen beiden Erfordernissen das richtige Verhältnis gefunden hatte. Sie wünschte, einen oder zwei ihrer Bediensteten rufen zu können, der ihr half, ringsum Ausschau zu halten. Doch damit wäre sie schlecht beraten gewesen, da die Möglichkeit bestand, daß einer ihrer Untergebenen das Objekt ihrer Jagd war.
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Sie wünschte sich auch, sie hätte bessere Deckung. Außer ein paar Gängen und Zinnen, die so klein waren, daß sie im Grunde nur Zierrat waren, mangelte es dem Gipfel der Stalag mitenfeste an Befestigungen und ebenen Flächen, auf denen man stehen konnte, ohne um sein Gleichgewicht zu ringen. Wenn Faeryl genau hinsah, konnte sie vereinzelt Anzeichen dafür erkennen, daß die Feste früher einmal einem anderen Zweck gedient und über Verteidigungseinrichtungen im Ü bermaß verfügt hatte. Doch dann hatte ein Magier die Wälle wieder mit dem restlichen Kalkspat verschmelzen lassen, was durchaus verständlich war. Die Menzoberranzanyr sahen keine Veranlassung, Außenstehenden die Möglichkeit zu bieten, sich erfolgreich gegen eine Belagerung zur Wehr zu setzen. Faeryl kauerte auf der Nordostseite des Dachs. Blau, Grün oder Violett umrissen leuchteten ringsum die Häuser ihrer reicheren Nachbarn. Hätte sie ihre eigene Residenz aus einiger Entfernung betrachten können, wäre ihr aufgefallen, daß sie ein ganz ähnliches Licht ausstrahlte. Zum Glück ließ das Leuchten nur den Umriß des Turms sowie einige Spinnenre liefs in der Mauer erkennen. Solange sie sich von den Bildern fernhielt, keinen Laut von sich gab und mit einer großen Por tion Glück gesegnet war, würde ihre Anwesenheit nicht ent deckt werden. Ein leises, undefinierbares Geräusch erklang von Nordwes ten her. Sie war dankbar, daß sie immer noch die Brosche hatte, die sie schwerelos werden ließ. So eilte sie auf dem steil abfallenden Dach weiter, während ihr das Wissen, daß sie das Gleichgewicht verlieren konnte, aber nicht abstürzen würde, jede Furcht nahm. Nach wenigen Sekunden hatte sie den Nordwestteil er reicht und spähte in die Tiefe, als sie auf dem Platz darunter die Ursache für das Geräusch entdeckte.
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Mit freiem Oberkörper, in der einen Hand ein Rapier, in der anderen einen Dolch, umkreisten einander dort unten zwei Männer. Sie hatten den Körper gerade aufgerichtet und beweg ten sich leichtfüßig wie gut ausgebildete Kämpfer. Die abgeleg ten Piwafwis, die Kettenhemden und Hemden waren genauso achtlos zu Boden geworfen worden wie ein paar leere Wein häute. Ein dritter Mann stand unter einem weit in den Platz ragenden Balkon und betrachtete das Schauspiel von dort. Vermutlich hatten die Kämpfer von ihm bisher noch gar keine Notiz genommen. Faeryl seufzte. Diese kleine Darbietung war etwas irritie rend, doch was sie da sah, hatte eindeutig nichts mit ihrer eigenen Situation zu tun. Nach ihrem enttäuschenden Gespräch mit der Mutter matronin war ihr klargeworden, daß sie einen Widersacher hatte. Jemanden, der sie verleumdet hatte, möglicherweise, um sie daran zu hindern, Menzoberranzan zu verlassen, auch wenn sie sich keinen Grund dafür denken konnte. Von dieser Er kenntnis war es nur ein kleiner Schritt zu dem Verdacht, daß der Feind einen Spitzel in ihren Haushalt eingeschleust hatte. Es war genau das, was jeder intelligente Widersacher versu chen würde, und es erklärte überzeugend, wieso Faeryls Ab sicht, nach Hause zu reisen, erkannt und durch ein geschickt platziertes Wort bei Triel zunichte gemacht worden war. Von dem Bedürfnis beseelt, jene zu überlisten, die sie wie eine Närrin hatten dastehen lassen, entwickelte Faeryl eine Falle, um die Spionin zu entlarven. Sie überraschte ihre Ge folgschaft mit dem Befehl zu packen. Sie würden noch in die ser Nacht Menzoberranzan verlassen. Sie erwartete, daß ihre treuen Vasallen ihr ohne Widerwort gehorchten, während die Verräterin versuchen würde, sich davonzustehlen und von der bevorstehenden Flucht des gesamten Personals zu berichten.
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Vom Dach aus würde Faeryl sie entdecken, wenn sie das tat. Zumindest war das ihr Plan. Die Botschafterin konnte sich eine ganze Reihe von Gründen vorstellen, warum er scheitern könnte. Das Anwesen verfügte auf allen vier Seiten über Aus gänge, doch sie konnte nicht alle Seiten gleichzeitig im Auge behalten, es sei denn, sie hätte hoch über dem Dach ge schwebt. Doch diese Möglichkeit brachte andere Probleme mit sich. Die meisten Stiefel der Dunkelelfen besaßen die Gabe der Stille und ihre Mäntel die der Tarnung. Die Verräterin mochte aber über weit überlegenere Fluchtmittel wie beispielsweise einen Unsichtbarkeitstalisman verfügen. Befand sie sich höher über dem Boden, konnte Faeryl nicht darauf hoffen, den heim lichen Aufbruch der Spionin zu bemerken. Natürlich war es auch möglich, daß die Verräterin über die Möglichkeit verfügte, mit ihren Verbündeten via Hellhören zu kommunizieren, vielleicht sogar über einen Zauber, der das Reisen ohne Zeitverzug ermöglichte. Dann war der Plan der Abgesandten so oder so zum Scheitern verurteilt. Sie würde hier oben auf dem Dach bleiben, bis eine Autoritätsperson – möglicherweise sogar in Begleitung von Baenre-Wachen – zu ihr kam, um sie und ihr Gefolge festzunehmen, doch sie mußte irgendetwas versuchen. Sie kroch weiter. Ein Stück hinter ihr stöhnte einer der Du ellanten auf, als sich die Klinge seines Gegners in seinen Torso bohrte. Magie flackerte und zischte, dann ging auch der Sieger zu Boden. Der Magier, der die beiden aus der Ferne beobachtet hatte, schlenderte herbei, um die beiden qualmenden Körper zu begutachten. Faeryl überlegte, ob es sich bei den dreien um Geschwister handelte und ob der Magier der klügste von ihnen war. Sie hatte einmal einen solchen Bruder gehabt, bis ihn ein noch gerissenere Mann zu Staub verwandelt hatte und mit seinen
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Stäben und Folianten entkommen war. Es war ein kleiner Rückschlag für ihr Haus gewesen, doch es war interessant ge wesen, es mit anzusehen. Über ihr knackte etwas. Sie sah auf und entdeckte vier oder fünf Lindwurmreiter, die ostwärts flogen. Über ihnen an der Höhlendecke erstrahlten die Stalaktiten-Burgen in ihren eige nen Zaubern, die ihrer Ansicht nach einen viel lieblicheren Anblick boten als die winzigen einfarbigen Sterne, die den nächtlichen Himmel über den sogenannten Ländern des Lichts überzogen. Dann rieb etwas an etwas anderem, so leise, daß sie fast glaubte, sie hätte es sich nur eingebildet. Es war wie ein Ra scheln gewesen und schien aus südwestlicher Richtung zu kommen. Faeryl eilte zu jenem Teil des Dachs und sah hinab. Auf den ersten Blick hatte sich nichts verändert, seit sie diese Seite zum letzten Mal inspiziert hatte. Vielleicht spielten ihre Ner ven ihr auch nur einen Streich, doch sie beobachtete weiter den Bereich unter sich. Achteckige Stahlgitter schützten die runden Fenster, die man in die Wand geschnitten hatte, doch jeder Drow, der den Trick kannte, konnte eines der Gitter lösen und zur Seite kip pen, um dann per Levitation nach drinnen oder draußen zu gelangen. Offenbar hatte jemand genau das getan, denn nach einigen Augenblicken fiel Faeryl auf, daß das netzartige Gitter ein wenig schief hing. Nachdem sie diesen Hinweis entdeckt hatte, richtete sie ihren Blick auf die nähere Umgebung des Hauses und sah die verhüllte Gestalt, die sich auf die Einmün dung einer Gasse zu bewegte. Die Adlige aus Ched Nasad konnte gut mit der Armbrust umgehen. Sie wäre wohl in der Lage gewesen, die Verräterin in den Rücken zu treffen. Doch das hätte ihr kaum die Antwor
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ten gebracht, die sie suchte. Sie trug keine Schriftrolle mit dem Zauber bei sich, der für ein Verhör der Toten nötig gewe sen wäre. Sie mußte die Spionin einholen und lebend dingfest machen. Sie las von der Schriftrolle, die sie eingesteckt hatte, dann trat sie in die Luft. Für sie war die Luft unter ihren Sohlen so fest wie Stein. Zwei Schritte weit bewegte sie sich auf einer ebenen Oberflä che, dann folgte die Plattform Faeryls Willen und ging in eine sanft abfallende Rampe über, die auch unsichtbar war. Sie eilte voran, ohne fürchten zu müssen, daß sie von ihrem Weg ab kam. Egal, wohin sie ihren Fuß auch setzte, immer war die sanfte Schräge da, die sie durch die Luft gehen ließ. So wirkte die Magie. Ohne auch nur das leiseste Geräusch zu verursachen lief sie unbemerkt so weit, daß sie sich unmittelbar über der Verräte rin befand. Mit einem einzigen Gedanken ließ sie den festen Halt unter ihren Stiefeln verschwinden, um mit angelegter Armbrust direkt vor der Spionin zu landen. Die Verräterin machte vor Schreck einen Satz, und auch Faeryl war völlig überrascht, denn auch wenn sie glauben woll te, daß sie jedem gegenüber genügend Mißtrauen walten ließ, um nicht dem Falschen zu vertrauen, hätte sie niemals damit gerechnet, dieses griesgrämige Gesicht, das zum Teil von der zugezogenen Kapuze verdeckt war, könnte das der Spionin in den eigenen Reihen sein. »Umrae«, sagte die Botschafterin und zielte mit der Arm brust auf ihr Gegenüber. »Herrin«, erwiderte die Sekretärin und verbeugte sich ge horsam, aber mit der ihr eigenen Steifheit. »Ich weiß alles, Verräterin. Ich habe nicht vor, heute aufzu brechen. Es war nur ein Trick, um herauszufinden, wer sich als
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Informantin entpuppen würde, die das Haus verläßt, um diese scheinbare Erkenntnis weiterzugeben.« »Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht. Ich wollte nur noch ei niges für die Reise besorgen. Ich dachte, wenn ich zum Basar eile, könnte ich dort einen der Händler finden, die lange ge öffnet haben, und wieder im Haus sein, bevor jemand mein Verschwinden bemerkt.« »Glaubst du, mir ist nicht längst klar, daß ich hier in Men zoberranzan einen Feind habe, jemanden, der direkten Kon takt zur Matronin der Baenre hat? Vor zwei Zehntagen sah Triel mich noch als loyal. Sie schätzte mich, sie gewährte mir einen großen Teil dessen, worum ich sie bat, und nun zweifelt sie an mir, weil sie jemand davon überzeugen konnte, an mei nen ehrlichen Absichten zu zweifeln. Was bot meine Gegnerin dir, das dich dazu brachte, dich auf ihre Seite zu stellen? Ist dir nicht klar, daß du nicht nur mich, sondern ganz Ched Nasad verrätst?« Die Schreiberin zögerte, dann sagte sie: »Die Matronin der Baenre läßt die Residenz beobachten. Jemand beobachtet uns beide in diesem Augenblick.« »Vielleicht«, erwiderte Faeryl. Umrae schluckte. »Also könnt Ihr mir nichts tun, weil sie sonst Euch etwas tut.« Faeryl lachte. »Unsinn. Triels Agenten werden sich nicht offen zu erkennen geben, nur um mich davon abzuhalten, eine meiner Gefolgsfrauen zu disziplinieren. Das wird ihnen weder komisch vorkommen, noch würde das den Interessen Menzo berranzans zuwiderlaufen. Nun sei vernünftig und kapituliere.« Nach einer weiteren Pause sagte Umrae: »Gebt mir Euer Wort, daß ihr mich nicht verletzen werdet. Daß Ihr mich frei lassen und mir helfen werdet, aus der Stadt zu fliehen.« »Ich verspreche dir nur, daß deine Arroganz mich mit jeder
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Sekunde wütender macht und daß eine rasche Kapitulation deine einzige Hoffnung ist. Sag mir, wer dich umgedreht hat und wie. Was hat hier irgendjemand zu gewinnen, indem er eine Abgesandte verfolgt, die in keiner Verbindung zu den Streitigkeiten und Rivalitäten der Häuser Menzoberranzans untereinander steht?« »Ihr müßt wissen, daß ich Angst habe, sie zu hintergehen und hierzubleiben. Sie werden mich töten, wenn ich das tue.« »Dazu bekommen sie gar keine Gelegenheit. Ich bin es, die einen Giftpfeil auf dich gerichtet hält. Wer ist dein Auftragge ber?« »Ich werde es nicht sagen, nicht ohne Eure Zusicherung.« »Dein Freund hat mich erst bei Triel verleumdet, als ich an fing, über eine Rückkehr nach Ched Nasad nachzudenken. War das der Zweck der Lüge? Mich an einem Ausflug ins Un terreich zu hindern? Warum?« Umrae schüttelte den Kopf. »Du bist verrückt«, sagte Faeryl. »Warum solltest du dich opfern, um die Existenz eines anderen zu retten? Na ja, du bist offenbar lebensuntauglich, daher schätze ich, daß es zum Bes ten aller ist.« Betont langsam betrachtete sie ihre Armbrust. »Nein!« rief Umrae. »Nicht! Ihr habt recht, warum sollte ich sterben?« »Wenn du meine Fragen beantwortest, wirst du das viel leicht nicht.« »Ja.« Leicht zitternd, weil ihre Nerven sie letztlich doch im Stich gelassen hatten, hob die Angestellte eine Hand, so als wollte sie sich über die Stirn streichen. Nein! Sie hob eine winzige Phiole im die Lippen! Faeryl betätigte den Abzug und traf ins Ziel, doch als das
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Geschoß sich in Umraes Magen bohrte, begann sich ihre Ges talt bereits zu verändern. Sie wurde noch dünner, als würde sie zusammenschrumpfen, doch gleichzeitig wuchs sie auch. Ihr Fleisch wurde kühler und stank nach Zerfall, lederne Flügel wuchsen aus ihren Schultern, und die Augen sanken tief in ihre Höhlen ein. Sogar ihre Kleidung veränderte sich, ver wischte und wurde in Fetzen gerissen. Aus der Wunde, die der Giftpfeil verursacht hatte, floß kein Blut, und weder die Wun de noch der Pfeil schienen sie wirklich zu stören. Sie machte sich nicht die Mühe, das Geschoß herauszuziehen. Faeryl war wütend auf sich selbst, weil sie es zugelassen hat te, daß Umrae sie hereinlegte. Beim nächsten Mal würde sie sich vor Augen halten müssen, daß selbst eine Drow, der es an Schönheit, Eleganz und Scharfsinn mangelte und die vor Angst wie aufgelöst zu sein schien, trotz allem eine Drow war, der List und Täuschung im Blut lagen. Der Trank hatte Umrae zumindest vorübergehend in etwas Untotes verwandelt, in eine Gestalt, in der sie wohl nicht unter ihrer üblichen Tollpatschigkeit leiden würde. Hätte Lolth nicht ihre Priesterinnen im Stich gelassen, wäre es Fae ryl wohl möglich gewesen, das kadavergleiche Ding mit ihren klerikalen Kräften unter Kontrolle zu bekommen. Doch diese Möglichkeit bestand nicht mehr. Auch war nicht anzuneh men, daß jemand aus ihrer Gefolgschaft etwas von ihrer mißli chen Lage mitbekommen und ihr zu Hilfe eilen würde. Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt zu packen. Das war höchst bedauerlich, denn wie bei den meisten Un toten – abgesehen lediglich von den niederen Leichnamen und den Skeletten, die man wiederbelebte, um sie als geistlose Knechte zu benutzen – würde es auch Umrae in ihrer Gestalt eines geflügelten Ghuls genügen, Faeryls Haut lediglich zu ritzen, um eine verheerende Wirkung zu erzielen, und Faeryl
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verfügte nicht über den geringsten Schild, um sie abzuwehren. Wie hätte sie auch wissen sollen, daß die Spionin zu solchen Mitteln greifen würde, um sich zur Wehr zu setzen? Umrae machte einen torkelnden Schritt nach vorn und schlug einmal mit den Flügeln. Faeryl zog sich hastig zurück, ließ die nutzlos gewordene Armbrust fallen und öffnete den Verschluß ihres Umhangs. Mit einer Hand riß sie den Stoff von ihren Schultern, dann zog sie mit der anderen einen klei nen Stab aus Diamantspat. Auf eine kurze Bewegung ihres Handgelenks hin wuchs das harmlos aussehende Objekt zum Kuß der Mutter heran, einem Streithammer mit langem Heft und einem Kopf aus Basalt, den die Frauen des Hauses Zauvirr trugen, seit ihre Linie gegründet worden war. Vielleicht würde eine magische Waffe Umrae vernichten können, nachdem der vergiftete Pfeil fehlgeschlagen war. Faeryl konnte es nur hoffen. Selbst wenn sie bereit gewesen wäre, aus dem Weg zu gehen und die Verräterin entkommen zu lassen, war Umrae – deren Denkweise möglicherweise von der räuberischen Gestalt geprägt war, die sie angenommen hatte – eindeutig auf einen Kampf aus, und die Gesandte sah keine Möglichkeit, dem zu entgehen. Es war allerdings auch nicht ratsam, Dunkelheit heraufzubeschwören und die Flucht zu ergreifen. In ihrer untoten Gestalt würde sich Umrae in dieser Finsternis vermutlich wesentlich besser zurechtfinden als deren Erzeugerin. Genauso sinnlos wäre es gewesen, sich einer Levi tation zu bedienen oder mit Hilfe eines Amuletts des Luftwan delns aufzusteigen, wenn die Gestaltwandlerin einfach nur ihre gezackten Flügel ausbreiten und ihr folgen mußte. Faeryl ließ den Piwafwi am ausgestreckten Arm hin- und herbaumeln, um Umrae zu verwirren und ihn gleichzeitig wie eine Art Schild zu benutzen. Niemand hatte Faeryl je beige bracht, wie man richtig kämpfte, aber sie hatte Krieger bei
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deren Übungen zugesehen, also versuchte sie, sich zu sagen, wenn Männer so etwas beherrschten, dann könnte es für eine Hohepriesterin nicht weiter schwierig sein. Umrae machte einen Satz, und Faeryl zog den Umhang waagrecht in einem weit ausholenden Bogen fort. Vielleicht war genausoviel Glück wie Geschick im Spiel, als der Stoff sich um Umraes Hände legte und sie in ihrer Bewegungsfrei heit einschränkte. Ihre Klauen bohrten sich in den Stoff. Völlig überrascht brach Umrae ihre Attacke ab und ver suchte, ihre Hände zu befreien. Faeryl trat vor und donnerte den spitz zulaufenden Kopf ihres Hammers mitten in die ange fressene Stirn der Dienerin. Knochen brachen, Umraes Kopf flog nach hinten. Ein beträchtlicher Teil ihrer linken Ge sichtshälfte löste sich vom Schädel. Der Kampf war offenbar vorüber, und Faeryl entspannte sich, was für sie fast das Ende bedeutet hätte. Allem Anschein nach konnte Umrae in ihrer verwandelten Gestalt weitaus Schlimmeres einstecken als jedes Wesen mit warmem Fleisch und schlagendem Herzen. Sie riß das Maul auf und zeigte lan ge, dünne Reißzähne. Was von ihrem Kopf übrig war, schoß über den Umhang hinweg. Die Botschafterin schaffte es noch im letzten Augenblick, nach hinten zurückzuweichen. Der Piwafwi war zwischen den beiden Kämpferinnen so straff gespannt, als würden sie ein Tauziehen veranstalten. Beide zerrten gleichzeitig daran, und Faeryl hatte mehr Glück. Der Umhang löste sich aus Umraes Griff, doch trotz der Zau ber, die den Stoff verstärkten, hatten die Klauen der Ghulin lange Risse hinterlassen. Noch ein paar Attacken, und der Umhang wäre völlig nutzlos gewesen. Dadurch, daß sich der Stoff so plötzlich von Umraes Klauen löste, taumelte Faeryl zurück. Umrae schlug wieder mit den fauligen Flügeln und hüpfte näher heran, bis die Entfernung so
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gering war, daß sie ihre Klauenhände nach vorn schießen las sen konnte. Mit einem verzweifelten Aufschrei schaffte Faeryl es, ihre Füße so zu setzen, daß ihre Rückwärtsbewegung gebremst wur de. Sie holte mit dem Hammer aus und traf Umraes Hand. Die falsche Ghulin zuckte zurück und stoppte ihren Angriff. Statt dessen begann die Dienerin, Faeryl zu umkreisen. Wie jedes Lebewesen schüttelte sie das getroffene Glied wieder und wie der, um den Schmerz zu lindern, dann hob sie es wieder, zum Angriff bereit. Faeryl drehte sich mit, um die Gegnerin mit dem zermalm ten Kopf nicht aus den Augen zu verlieren. Was ist nötig, um dieses Ding aufzuhalten? fragte sich die Botschafterin. Kann ich es aufhalten? Ja! Als sie ein Kind gewesen war, hatte ihr Vetter Merinid – Waffenmeister des Hauses Zauvirr, der seit so vielen Jahren tot war, seit ihre Mutter seiner überdrüssig geworden war – ihr gesagt, daß jeder Gegner vernichtend geschlagen werden kann. Es ging nur darum, dessen Schwachstelle zu finden. Umrae machte einen Satz nach vorn, und abermals hielt die Botschafterin ihr den zerfetzten, flatternden Schild in Gestalt ihres Umhangs entgegen. Der wickelte sich um eine Hand der Dienerin, während sie mit der anderen auf Faeryls Kettenhemd aus feinen Diamantspat-Gliedern einschlug. Die Berührung der geflügelten Ghulin zog ein durchdringendes Gefühl der Übelkeit nach sich, doch die Klauen hatten sich nicht ganz durch das robuste Kettenhemd bohren können, so daß die unangenehme Empfindung nur einen Augenblick lang andau erte. Faeryl schlug nach Umraes welker Brust in ihrer Hülle aus schmutzigen Stoffresten. Wenn sie das Ding nicht mit einem
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Schlag auf den Kopf vernichten konnte, dann mußte das Herz die empfindlichere Stelle sein, wie bei einem Vampir. Zumin dest hoffte sie das. Zu ihrer Überraschung verwehrte Umrae ihr die Möglich keit, herauszufinden, ob sie richtig gelegen hatte. Es sah aus, als sei die Verräterin so sehr auf ihren Angriff ausgerichtet, daß es für sie unmöglich war, sich gegen einen Nachstoß zu weh ren. Dennoch brachte sie ihren ausgedörrten Arm dazwischen, um den Treffer des Streithammers einzustecken, dann beugte sie sich vor, um nach Faeryls ungeschütztem Knie zu schlagen. Die Botschafterin vereitelte den Angriff, der sie vermutlich wehrlos gemacht hätte, indem sie sich zurückzog und erneut den Umhang von dem übelriechenden Widersacher zerrte. Der Stoff sah mehr und mehr nur noch nach einer Ansammlung von Fetzen aus. Abermals umkreisten sich die Duellantinnen und suchten nach einer Lücke in der Verteidigung der jeweils anderen. Hin und wieder ließ Faeryl den ramponierten Piwafwi sinken, um Umrae zum Angriff zu provozieren, doch die erwies sich als zu klug, als daß sie attackiert hätte, wenn ihre Gegnerin das woll te. Faeryl merkte, daß sie nach Luft rang und bemühte sich, ih re Atmung zu kontrollieren. Sie hatte wirklich keine Angst. Aber sie war erstaunt, welches kämpferische Geschick der Trank bei ihrer Dienerin hervorgerufen hatte. Sie hatte sich schon als sehr beweglich erwiesen, als sie die Flüssigkeit ge schluckt hatte, doch mit Fortschreiten des Kampfes bekam sie die geborgten Fähigkeiten immer besser in den Griff. Während Faeryl weiter um Umrae herumging und sie unab lässig im Auge behielt, gelang es ihr, sich in leichte Trance zu versetzen. Mit einem Sinn, der weder Sehen noch Hören oder ein andere Form der Wahrnehmung betraf und der unverständ
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lich war für jemanden, der sich nie in den Dienst einer Gott heit gestellt hatte, griff sie nach jenem formlosen, aber irgend wie zerklüfteten Ort, an dem sie es einst gewohnt gewesen war, den Schatten der Göttin zu berühren. Lolths Präsenz war an diesem Treffpunkt nicht länger zu fühlen, stattdessen herrschte dort eine Leere, die so ähnlich pochte wie ein entzündeter Zahn. Dennoch erschien es ihr wie ein angemessener Ort, um zu beten. Gefürchtete Königin der Spinnen, begann Faeryl stumm. Ich bitte dich, gib dich mir zu erkennen. Stelle meine Kräfte wieder her, wenn auch nur für einen Augenblick. Hat Menzo berranzan dich verärgert? So sei es, doch ich bin keine seiner Töchter. Ich bin aus Ched Nasad. Mach mich zu dem, was ich war, und ich werde dir viele Leben geben – ein Jahr lang jeden Tag einen Sklaven. Nichts geschah. Umrae sprang auf sie zu und schlug nach ihr. Faeryl holte den Teil ihres Geistes zurück in ihren Körper, der sich in die Leere begeben hatte. Während sie sich zurückzog, blockte sie mit dem Umhang die Klauen der Kreatur ab und landete meh rere Treffer mit dem Streithammer. Sie wich aber nicht schnell genug aus, um sich ganz in Sicherheit zu bringen, und es ge lang ihr auch nicht, einen sicheren Stand zu finden, damit sie mit aller Kraft zuschlagen konnte, über die sie verfügte. Sie wollte dem Ghul das Gefühl vermitteln, er sei im Begriff, sie zu überwältigen, damit er sich weiter vorwagte. Wenn Umrae zuviel Eifer zeigte, konnte es sein, daß sie ihre Deckung ver nachlässigte und einen wirkungsvollen Gegenangriff ermög lichte. Umraes Krallen zerschnitten die Luft und rissen immer mehr Stücke aus dem schützenden Umhang, bis er nur noch die Größe eines zerfetzten Handtuchs hatte. Völlig unerwartet
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schlug die Spionin mit den Flügeln, hüpfte heran und schlug nach Faeryls Gesicht. Die Adlige zuckte zurück, doch die Kral len kamen ihr so nahe, daß sie nur den Bruchteil eines Zenti meters entfernt ihre Augen passierten. Sie waren so nah, daß sie die Boshaftigkeit spüren konnte, die wie ein Kopfschmerz in ihnen pulsierte. Es war aber gut so, da sie glaubte, daß Umrae endlich ihre Vorsicht zurückgestellt hatte. Sie machte einen Schritt zur Seite und ließ den Steinhammer in den Brustkasten der Ghu lin krachen – aber ohne Erfolg, auch wenn Faeryl die Situation richtig eingeschätzt hatte und Umrae sich nicht mehr rechtzei tig zurückziehen konnte, um den Schlag abzuwehren. Der zeigte aber keine Wirkung, und als sie einen weiteren Schritt nach vorn trat und mit den Flügeln schlug, wurde die Bot schafterin von ihnen getroffen und durch die Luft gewirbelt. Faeryls Kopf dröhnte, und die Welt wurde vor ihren Augen unscharf. Während sie sich bemühte, den betäubenden Effekt des Treffers abzuschütteln, mußte sie einen Moment lang daran denken, wie ungerecht es war, daß ausgerechnet Umrae – die vor langer Zeit jedes Kampftraining aufgegeben hatte, da sie es als nutzlos und entwürdigend betrachtet hatte – nun die Frau zugrunde richtete, die sich nach wie vor verbissen einmal alle Zehntage bei ihrem Hauptmann der Wache für ihre Übungen meldete. Nach scheinbar sehr langer Zeit wurde ihr Kopf wieder klar. Sie wirbelte herum, überzeugt, daß Umrae sie gleich von hin ten angreifen würde. Doch dem war nicht so. Tatsächlich war die animierte Leiche nirgends zu sehen. Offenbar war Umrae abgehoben. War sie letztlich doch noch zu Sinnen gekommen und geflohen? Faeryl wollte das nicht glauben. Umrae haßte sie. Die Botschafterin kannte nicht den Grund dafür, aber sie hatte es in den Augen der
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Verräterin gesehen, und da dies der Fall war, würde Umrae den Kampf nicht ausgerechnet in dem Moment beenden, wenn sie allen Grund zu der Annahme hatte, daß sie im Begriff war, zu siegen und sie zu töten. Keine Drow würde so etwas tun, also mußte sie sich noch immer irgendwo über ihr befinden, bereit, sich fallenzulassen und – wie sie ohne Zweifel hoffte – ihre Herrin zu überraschen, wenn sie sie zu Boden riß. Mit klopfendem Herzen blickte Faeryl nach oben, sah aber nichts. Sie lauschte auf den Flügelschlag der Kreatur, hörte aber nur das ewige gedämpfte Flüstern der Stadt insgesamt. Es überraschte sie nicht. Die Untoten waren dafür berüchtigt, besonders heimlich vorzugehen, wenn sie ihrer Beute nach stellten. Eine schwarze Spur schnitt für einen kurzen Moment durch das violette Leuchten, das eine der Spitzen der Burg des Hau ses Vandree umgab. Es mußte sich um das Ende eines von Umraes Flügeln gehandelt haben! Faeryl starrte weiter in die Finsternis, dann machte sie ei nen Satz, als sie endlich Umrae entdeckte. Ihr zerfetzter Um hang flatterte im Wind zwischen den Flügeln, und die verwan delte Sekretärin schoß wie ein Greifvogel von der Welt an der Oberfläche herab, der bereit war, seine Klauen in ein Nagetier zu schlagen. Faeryl hoffte, daß Umrae ihre Reaktion auf ihren Anblick nicht beobachtet hatte, und sah sich immer wieder um. Als sie den Wirbel in der Luft spürte – vielleicht waren es auch ein fach ihre Instinkte, die sie zu einer Reaktion drängten –, sprang sie zur Seite, drehte sich um und holte mit dem Streit hammer in einer Aufwärtsbewegung aus. Unter den gegebenen Umständen standen die Chancen schlecht, das Herz der Kreatur zu zerstören, doch sie hatte gesehen, daß Umrae Schmerzen verspürte. Vielleicht würde
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der erste Treffer sie für einen Moment handlungsunfähig ma chen und so Faeryl die Möglichkeit geben, den entscheiden den Treffer zu landen. Die Botschafterin hatte die Bewegung gut abgepaßt, und der Basaltkopf der Waffe traf Umrae mit voller Wucht in die Flan ke. Die Ghulin war nicht nur wider Erwarten ihrer Beute be raubt worden, sondern hatte auch einen Schlag abbekommen, mit dem sie nicht gerechnet hatte, so daß sie unkontrolliert auf die glatte steinerne Straßendecke aufschlug. Das Geräusch des Aufpralls war Musik in Faeryls Ohren. Einzelne Fleischfetzen lösten sich von dem geschundenen Körper und verströmten einen erbärmlichen Gestank. Faeryl nahm Maß und zielte auf die Stelle an Umraes Brust, wo sich ihr Herz befinden mußte. Dann holte sie mit dem Kuß der Mutter aus, um den nächsten Schlag folgen zu lassen. Doch die Verräterin rollte sich herum und zog sich hoch. Faeryl ließ den Hammer niederfahren, aber Umrae streckte eine Klauen hand aus und bekam die Waffe mitten in der Abwärtsbewe gung zu fassen, wand sie aus dem Griff der Botschafterin und wirbelte sie fort, so daß sie drei Meter entfernt auf der Straße landete. Faeryl verspürte einen verrückten Impuls, sich umzudrehen und das Ding zu holen, doch sie wußte, daß Umrae sie in Stü cke reißen würde, wenn sie es auch nur versuchte. Stattdessen trat sie einen Schritt zurück. Die unfaßbar hagere Spionin – die eher nach einer Ansammlung von Stöcken aussah, die sich spontan zu einer grobschlächtigen Imitation einer Person for miert hatten – sprang auf und folgte ihr. Auf ihrem Rückzug setzte Faeryl zu einer weitläufigen Schleife an, die sie letztlich zu dem Punkt bringen würde, an dem ihr Hammer lag. Lüstern dreinblickend bewegte sich Umrae mit ihr auf eine Weise weiter, die erkennen ließ, daß sie
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genau wußte, was ihre Herrin vorhatte, und daß sie es ihr nie mals gestatten würde. Nun, die Adlige hatte noch eine Waffe – ein Messer, ver borgen in dem Gürtel, der ihr leichtes, geschmeidiges Ketten hemd an der Taille festhielt, das aber leider für die Situation entsetzlich ungeeignet war. Die goldene Gürtelschnalle war zugleich das Heft, und wenn sie daran zog, würde die kurze Diamantspat-Klinge zum Vorschein kommen. Sie wollte da nach greifen, dann zögerte sie. Umraes Klauen, die große Reichweite ihrer Arme und die offensichtliche Widerstandsfähigkeit gegen Verletzungen be deuteten, daß der kleine Dolch nutzlos war ... es sei denn, Faeryl konnte nahe genug an Umrae herankommen und sie völlig überraschend angreifen. Doch wie im Namen des Dämonennetzes sollte sie das be werkstelligen? Umrae kam immer schneller näher und schlug alle paar Schritte die Flügel zusammen, um weiter ausholen zu können, und für drei zermürbende Schritte nach hinten konn te Faeryl keinen Gedanken fassen. Dann erinnerte sie sich an den Umhang, oder besser gesagt: an dessen Überreste, die sie noch immer umklammert hielt. Vielleicht konnte sie diesen Rest benutzen, um zu verber gen, wie sie das Messer zog. Der Piwafwi war kaum mehr als eine jämmerliche Ansammlung von Fetzen, und sie besaß nicht das Geschick eines Jongleurs, doch was sollte es? Wenn die tollpatschige Umrae eine Phiole mit einem Trank an die Lippen setzen konnte, ohne daß ihre Herrin das noch rechtzei tig bemerkte, dann würde sie selbst etwas ähnliches erst recht vollbringen können. Faeryl hatte reflexartig die ganze Zeit über den Umhang umklammert, so daß es nicht weiter auffallen sollte, wenn sie ihn nun vor ihre Taille hielt. Gleichzeitig hakte sie die Finger
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ihrer Waffenhand in das hohle Oval in der Mitte der Gürtel schnalle und zog daran. Sie hatte nie zuvor Gelegenheit ge habt, zu diesem letzten, verzweifelten Mittel der Verteidigung zu greifen, doch in den 16 Jahren, seit ein Kunsthandwerker die Waffe nach ihren Angaben geschaffen hatte, war sie stets darauf bedacht gewesen, daß Klinge und Scheide gut geölt waren. Dementsprechend ließ sich das Messer nun mühelos ziehen. Sie betrachtete Umrae aufmerksam. Soweit die Botschafte rin das zu sagen vermochte, war ihrer Widersacherin nicht aufgefallen, daß sie ihre Waffe gezogen hatte. Doch sie bezwei felte, daß sie sie für mehr als ein paar Sekunden vor ihr würde verbergen können. Sie mußte so schnell wie möglich eine Gelegenheit finden, wenn sie überhaupt eine Chance haben wollte. Faeryl tat, als schwanke sie. Sie hoffte, daß ihre Unsicher heit überzeugend wirkte. Umrae hatte sie berührt, daher konn te es glaubwürdig erscheinen, daß ihre Kräfte nachließen. Die Ghulin sprang auf den Köder an. Sie machte einen Satz nach vorn. Umrae bekam Faeryl an den Unterarmen zu fassen, und diesmal bohrten sich ihre Klauen durch das Kettenhemd der Botschafterin, bis die Spitzen in ihr Fleisch drangen. Im gleichen Moment überkam sie starker Schwindel, der wie eine Woge über sie schwappte und von einer zweiten gefolgt wurde. Von einem Würgegefühl erfaßt war sie sich nicht sicher, ob sie das Messer überhaupt noch auf eine vernünftige Weise würde führen können. Vielleicht hatte sie sich mit ihrer Taktik in Wahrheit auf den Präsentierteller gelegt, und die Verräterin mußte nur noch zugreifen. Umrae grinste angesichts der scheinbaren – oder vielleicht echten – Hilflosigkeit. Die Gesandte spürte, wie sich die Kral lenhände ihrer Gegnerin spannten und sich bereitmachten, ihr
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das Fleisch von den Knochen zu reißen, während sie die Adli ge gleichzeitig noch näher an sich zog und das Maul aufriß, um es um ihren Kopf zu schließen. Faeryl kämpfte gegen ihre Übelkeit und Schwäche, wäh rend sie versuchte, die Hand nach vorn zu bewegen. Der Ver such sorgte dafür, daß die Klauen der Ghulin an ihrem Fleisch rissen, wodurch sich die Wunden weiter öffneten und die Schmerzen geradezu explodierten – dann bekam sie ihre Hand frei. Die Klinge fraß sich in Umraes eingefallene Brust, glitt genau zwischen zwei Rippen hindurch und tauchte so tief in den Körper ein, daß Faeryls Hand ihr bis zu den Knöcheln folgte. Umrae zuckte zusammen und warf den Kopf zurück, wäh rend sie einen stummen Schrei auszustoßen schien. Die Zu ckungen setzten sich bis in ihre Arme fort und drohten, Faeryl in Stücke zu reißen, ohne das bewußt wahrzunehmen. Doch dann erstarrte Umrae, kippte um und zog ihre Angreiferin mit sich. Entgegen allen Geschichten, die Faeryl je gehört hatte, nahm die Gestaltwandlerin nicht wieder ihr wahres Aussehen an, als der wahre Tod sie ereilte. Noch immer von einer gewal tigen Übelkeit erfüllt lag die Gesandte eine Zeitlang in der übelriechenden Umarmung der Ghulin, bis sie endlich genug Kraft aufbringen konnte, um die Klauen aus ihren blutenden Armen zu ziehen und dann ein paar Fuß weit zu kriechen, wo sie dann ein Stück von dem geflügelten Leichnam entfernt liegenblieb. Trotz der bohrenden Schmerzen, die von den Stichverlet zungen und Prellungen ausgingen, begann sie, sich allmählich wieder besser zu fühlen – zumindest körperlich. Im Geist machte sie sich Vorwürfe über den Ausgang des Kampfs, der kein echter Sieg war.
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Angesichts der Tatsache, daß sie hatte erfahren müssen, was Umrae gewußt hatte und sie nicht hatte töten wollen, war sie die Begegnung vom ersten Augenblick an völlig falsch ange gangen. Sie vermutete, sie hätte auf die Bedingungen der Ver räterin eingehen sollen, doch sie war zu wütend und zu stolz gewesen. Sie hätte die Phiole bemerken und geschickter kämp fen müssen. Wenn nicht pures Glück im Spiel gewesen wäre, hätte sie anstelle ihrer einstigen Sekretärin nun tot auf der Straße gelegen. Sie fragte sich, ob ihre Zeit in Menzoberranzan sich nachteilig auf sie ausgewirkt hatte. In Ched Nasad gab es Feinde innerhalb des Hauses Zauvirr ebenso wie außerhalb, weshalb sie immer auf der Hut gewesen war. Doch in der Stadt der Spinnen hatte ihr niemand etwas Schlechtes gewünscht. Hatte sie all die Gewohnheiten vergessen, die sie in den ersten 200 Jahren ihres Lebens beschützt hatten? Wenn, so wußte sie, dann sollte sie sich besser schnellstens wieder daran erinnern. Der Feind war noch nicht mit ihr fertig. Sie war nicht so dumm und eingerostet, daß sie vergessen hatte, wie diese heimlichen Kriege abliefen. Es war wie eine Partie Sava: Man machte einen Zug nach dem anderen und legte allmählich an Heftigkeit zu. Der erste Zug ihres unbekannten Gegners hatte darin bestanden, Umrae überlaufen zu lassen und Triel zu belü gen. Allerdings hatte sie zu der Zeit noch nichts von der Exis tenz eines ersten Zugs gewußt. Faeryls Gegenzug war der gewe sen, die Spionin zu fangen und zu schlagen. Sobald Umrae nicht an einem vereinbarten Treffpunkt erschien, würde ihr Gegner wissen, daß er eine Spielfigur verloren hatte, und mit der nächsten vorrücken. Vielleicht würde es die Mutter sein. Vielleicht würde der Gegner die Matronin der Baenre auf den Gedanken bringen, es sei an der Zeit, Faeryl in ein Verlies zu werfen.
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Doch das Leben war keine Sava-Partie. Faeryl konnte falschspielen und zwei Züge auf einmal machen, was für diese Situation bedeutete, daß sie so schnell wie möglich aus Men zoberranzan fliehen mußte, ehe der Gegner vom Ableben seines Agenten erfuhr. Ein wenig schwindlig und von der Anstrengung mitge nommen richtete sich Faeryl mit letzter Kraft auf, machte sich schleppenden Schritts auf die Suche nach dem Kuß der Mutter und fragte sich, wie sie wohl dieses kleine Wunder bewirken sollte.
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So getarnt, daß er einem gedrungenen, lederhäutigen Ork glich, dessen verdrehtes Bein ihn untauglich machte, um in einem Adels- oder auch nur einem Kaufmannshaus zu dienen, biß Pharaun versuchsweise von seinem Wurstbrötchen ab. Das unidentifizierbare Hackfleisch in der Teigummantelung schmeckte ranzig und war nicht nur knorpelig, sondern auch durch und durch kalt. »Beim Dämonennetz!« rief er. »Was ist?« gab Ryld zurück. Der Waffenmeister sah auch einem verachtenswerten, ge brochenen Ork in schmierigen Lumpen ähnlich. So unglaub lich es auch war, er verzehrte sein widerwärtiges Mahl ohne eine allzu offensichtliche Zurschaustellung von Abscheu. »Was soll sein?« Der Meister Sorceres hielt die Wurst hoch.
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»Diese Farce. Diese Abscheulichkeit.« Er machte sich auf den Weg zum Stand des Schuldigen, ei ner bemitleidenswerten Konstruktion aus Knochenstangen und Häuten, wobei er darauf achtete, nicht zu schnell zu ge hen. Sein Illusionsschleier würde es so aussehen lassen, als humpele er, doch er würde nicht über die Anomalie eines lahmenden Orks hinwegtäuschen, der sich genauso schnell vorwärtsbewegte wie einer mit zwei gesunden Beinen. Der langarmige, flachgesichtige Goblin-Standbesitzer holte unter dem Tresen einen Knüppel hervor. Vielleicht war er Beschwerden gewohnt. Pharaun hob eine Hand und sagte: »Ich will dir nichts tun. Ich will dir helfen.« Der Goblin kniff die Augen zusammen. »Mir helfen?« »Ja. Ich gebe sogar noch eine weitere Kupfermünze für die ses Privileg her«, sagte er und holte eine Kupfermünze aus seiner Geldbörse. »Ich will dir nur etwas zeigen.« Der Koch zögerte, dann streckte er die Hand mit den dre ckigen Fingernägeln aus und erwiderte: »Gib. Keine Tricks.« »Keine Tricks.« Pharaun gab ihm ein paar Münzen und drängte sich zum Er staunen des Goblins um die Theke herum, um an die winzige Kochstelle zu gelangen. Er griff in die Falten seines Umhangs, damit er den heißen Eisenrost mit dem darauf liegenden Fleisch von der Halterung nehmen und ihn zur Seite stellen konnte. »Zuerst«, begann Pharaun, »verteilst du die Kohlen gleich mäßig auf dem Boden des Rosts.« Er nahm einen Schürhaken und zeigte es ihm. »Wir haben jetzt nicht die Zeit, um das ganz von Anfang an durchzugehen, aber als nächstes läßt du sie brennen, bis sie grau sind. Erst dann beginnst du, das Fleisch zu garen, wobei der Rost sich hier befindet.« Er schob den Rost auf zwei höhere Scharniere.
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»Wurst dauert länger bis fertig«, sagte der Goblin. »Ja und? Versäumst du irgendetwas? Ich gehe davon aus, daß du diese fragwürdigen Delikatessen woanders kaufst und daher keinen Einfluß auf die Qualität hast. Aber du kannst sie etwas zarter machen, indem du ein paarmal mit dem Hammer drauf schlägst und mit der Gabel ein paar Löcher hineinstichst, damit sie innen schneller gar werden. Außerdem solltest du ein paar Gewürze draufgeben.« Pharaun grinste. »Du hast von all dem Zeug kaum etwas jemals angefaßt, wie? Was hast du ge macht? Den eigentlichen Koch umgebracht und den Laden übernommen?« Die kleinere Kreatur schmunzelte und erwiderte: »Jetzt egal, nicht?« »Ich denke schon. Noch etwas: Leg die Wurst auf den Grill, wenn ein Kunde sie bestellt, nicht schon Stunden vorher. Sie ist nicht annähernd so lecker, wenn sie gebraten wird, dann kalt wird und du sie anschließend wieder aufwärmst. Viel Glück dir.« Er schlug dem Goblin auf die Schulter, dann verließ er den Stand. Irgendwann war Ryld herübergekommen und hatte die Lehrstunde beobachtet. »Was sollte das?« fragte der Krieger. »Das war ein Dienst an der Allgemeinheit«, erklärte der Magier. »Ich habe den Braeryn vor einem Ausbruch von Ver dauungsstörungen bewahrt.« Pharaun schloß zu seinem Freund auf, dann gingen die bei den Drow weiter. »Du hast dir einen Spaß erlaubt, und es war idiotisch. Du machst dir die Mühe, uns zu verkleiden, und dann riskierst du, daß deine wahre Identität herauskommt, indem du den Gour met spielst.«
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»Ich bezweifele, daß ein kleiner Ausrutscher unser Ende sein wird. Es ist unwahrscheinlich, daß einer unserer Verfolger sich die Mühe machen wird, in nächster Zeit ausgerechnet diesen Straßenhändler zu befragen und ihm dann auch noch die richtigen Fragen stellt. Denk daran, wir sind gut getarnt. Wer wollte glauben, daß sich hinter diesem schlurfenden, mißgestalteten Wesen mein attraktives, elegantes Ich verber gen könnte? Allerdings muß ich einräumen, daß die Verwand lung bei dir keine so großen Leistungen vollbringen mußte.« Ryld warf ihm einen finsteren Blick zu, dann schlang er den letzten Bissen Wurst hinunter. »Warum hast du uns nicht schon getarnt, als wir in Tier Breche aufbrachen?« fragte er. »Vergiß es, ich kann es mir denken. Ein Kämpfer stellt in den ersten Augenblicken des Kampfes nicht all seine Fertigkeiten zur Schau.« »So in etwa. Greyanna und ihre Lakaien haben uns so gese hen, wie wir wirklich aussehen. Wenn wir Glück haben, wer den sie nicht auf den Gedanken kommen, wir könnten auf einmal völlig anders aussehen. Der Trick wird sie natürlich nicht auf Dauer ablenken, aber vielleicht lange genug, damit wir unseren Auftrag erledigen und in unser ruhiges, behütetes Leben zurückkehren können.« »Heißt das, du hast dir schon etwas überlegt?« »Nichts Konkretes, aber wie du weißt, neige ich zu sponta nen Inspirationsausbrüchen.« Die Meister erreichten einen überlaufenen Straßenab schnitt, der offenbar vor einer beliebten Taverne verlief, aus der ein heulendes, bellendes Gnoll-Lied erschallte, das die Kalkspatwände erzittern ließ. Pharaun hatte noch nie die Ge legenheit gehabt, sich inkognito zwischen den Angehörigen der unteren Klassen zu bewegen. Es war ein komisches Gefühl, ausweichen, stehenbleiben und zur Seite gehen zu müssen, um
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zu vermeiden, von anderen angerempelt zu werden. Hätten sie seine wahre Identität gekannt, wären die anderen Fußgänger ihm eiligst aus dem Weg gegangen. Als die beiden Drow den Rand der Menge erreichten, wandte sich Ryld plötzlich um und führte einen kurzen, gera den Faustschlag. Eine bucklige, scheckige Kreatur – womöglich das Ergebnis einer Paarung zwischen Goblin und Ork – tau melte nach hinten und landete auf seinem Hinterteil. »Taschendieb«, erklärte der Krieger. »Ich hasse diesen Ort.« »Keine nostalgischen Gefühle?« Ryld bedachte Pharaun mit einem durchdringenden Blick. »Das ist nicht witzig.« »Nicht? Entschuldigung«, gab Pharaun mit einem Schmun zeln zurück. »Ich frage mich, warum dieser Bezirk immer so scheußlich wirkt, selbst bei den seltenen Gelegenheiten, wenn man sich allein auf einem Platz oder einem Boulevard aufhält. Nun, wegen des Geruchs natürlich. Wir nennen diese Gegend nicht zufällig die Straßen des Gestanks, aber die Gebäude sind zwar durchweg bescheidener als die, die man sonst in der Stadt sieht, haben aber dennoch die gleichen anmutigen Formen, die unsere Vorfahren aus dem lebenden Stein geschlagen ha ben.« Die Lehrer blieben stehen, um eine Spinne die Straße über queren zu lassen, deren Beine so lang wie Breitschwerter wa ren. Im Braeryn wimmelte es üblicherweise von ganzen Hor den dieser heiligen Wesen. Doch ob heilig oder nicht, ging Pharaun im Geist seine Liste sofort einsatzbereiter Zauber durch, aber das Spinnentier ignorierte den getarnten Dunkel elfen. »Was für eine Frage!« erwiderte Ryld. »Warum wirkt der Braeryn so übel? Es sind seine Bewohner!« »Ah, aber schuf der lebende Abfall unserer Gesellschaft die
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Atmosphäre dieses Bezirks oder gab es diesen bösen Geist von Anfang an, und er lockte die Unterjochten in sein Reich?« »Ich bin kein Metaphysiker«, antwortete Ryld. »Ich weiß nur, daß jemand das hier von den Aasfressern säubern sollte.« Pharaun kicherte. »Was, wenn die besagte Säuberung statt gefunden hätte, als du noch ein junger Spund warst?« »Ich meine nicht, daß man sie auslöschen soll – ausgenom men die wirklich hoffnungslosen Fälle –, aber warum läßt man sie hier in ihrem eigenen Dreck hocken wie ein Krebsge schwür, das an der Stadt frißt? Warum kann man ihnen keine sinnvolle Aufgabe zuteilen?« »Aber sie tun doch bereits etwas Sinnvolles. Status ist alles, nicht wahr? Es ist nicht zwangsläufig so, daß eine Menzober ranzanyr nur zufrieden sein kann, wenn sie jemanden hat, auf den sie herabsehen kann?« »Wir haben Sklaven.« »Die reichen nicht. Tue deine Behauptung auf ihr Recht auf Selbstbestimmung ihrer Existenz kund, und du räumst still schweigend ein, daß du nur geringfügig besser bist als ein Knecht. Zum Glück treffen wir hier in den Straßen des Ge stanks auf eine Bevölkerung die hungert, die schmutzig und arm ist, die von Krankheiten heimgesucht wird, die sich mit zwanzig oder dreißig anderen ein Zimmer teilen muß und die doch dem Namen nach frei ist. Der bescheidenste Bürgerliche in Vielvolk oder sogar Ostmyr kann über sie die Nase rümpfen und sich für etwas Besseres halten.« »Du glaubst, das ist der Grund dafür, daß die Matronin der Baenre bislang keine Säuberung des Elendsviertels veranlaßt hat?« »Nun, wenn diese Schlußfolgerung nicht überzeugen kann, dann habe ich noch eine andere zu bieten: Gerüchte besagen, daß von Zeit zu Zeit jemand im Braeryn der Göttin begegnet.
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Es heißt, sie nimmt hier gerne Besuche in der Tarnung einer Sterblichen vor. Die Matronen könnten glauben, diese Ge gend stehe in gewisser Weise unter dem Schutz der Göttin.« Pharaun zögerte. »Aber wenn Lolth sich für immer zurückge zogen hat, müssen sie sich deshalb vielleicht nie wieder Ge danken machen.« Ryld schüttelte den Kopf. »Ich kann es trotzdem nur schwer gla...« »Da«, unterbrach Pharaun ihn und zeigte auf etwas. Ryld drehte sich um. An einer geschwungenen Mauer unterhalb der Augenhöhe eines Drow befand sich eine Zeichnung, diesmal in Blau. Sie bestand aus drei überlappenden Ovalen, die womöglich die Glieder einer Kette darstellen sollten. »Das ist ein anderes Zeichen«, erklärte Ryld. »Vielleicht von Hobgoblins, aber ich könnte dir nicht sagen, welcher Stamm es sein könnte.« »Stell dich doch nicht dumm. Es ist das gleiche ungewöhn liche, rücksichtslose und sinnlose Verbrechen.« »Du hast recht. Aber für unsere Unternehmung ist es be deutungslos.« »Es ist der träge Verstand, der nie über bloßen Pragmatismus hinauskommt. Zwei Zeichen, die zwei Rassen repräsentieren und beide besagen, daß zwei Vertreter der niederen Rassen auf exakt die gleiche Weise geistigen Zerfall erlitten haben? Kaum. Doch warum sollte ein Künstler ein Emblem zeichnen, das nicht seines ist?« »Zufall?« »Ich bezweifle es, aber im Moment kann ich auch keine bessere Antwort liefern.« »Es ist ein Rätsel für einen anderen Tag, weißt du noch?« »Ja.«
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Die Meister gingen weiter. »Trotzdem«, wandte Pharaun ein. »Fragst du dich nicht, an wie vielen hingekritzelten Zeichen wir vorbeigegangen sein könnten, ohne sie zur Kenntnis genommen zu haben und wel che Form sie aufgewiesen haben mögen?« Ryld ignorierte die Frage und zeigte auf etwas: »Das ist unser Ziel.« Die Kalksteintür des Hauses stand offen, wahrscheinlich zum Lüften, da das Innere eine deutlich wahrnehmbare Wär me ausstrahlte, was die Folge einer viel zu großen Zahl von Bewohnern auf viel zu engem Raum war. Es drang gedämpftes Stimmengewirr nach draußen, ebenso wie ein intensiver Ge stank, der noch deutlich übler war als der unangenehme Ge ruch, der dem Braeryn insgesamt anhaftete. Ryld war in einem ähnlichen Bau geboren und hatte wie ein Dämon gekämpft, um von dort zu entkommen. Er spürte einen seltsamen Widerwillen, das Haus zu betreten, als würde ihn das Elend ein zweites Mal nicht davonkommen lassen. Er war aber nicht gewillt, in den Augen seines Freundes ängstlich und dumm zu wirken, also verbarg er das Gefühl hinter einer aus druckslosen Kriegermiene. Pharaun jedoch trug seinen Abscheu offen zur Schau. Die Schweinsäuglein in seinem illusionären Ork-Gesicht füllten sich mit Tränen, und er mußte schlucken, da er ganz offen sichtlich versuchte, gegen ein aufkeimendes Unwohlsein an zukämpfen. »Gewöhn dich daran«, sagte Ryld. »Ich schaffe das schon. Ich habe den Braeryn oft genug be sucht, um eine Vorstellung davon zu haben, wie diese kleinen Höllen aussehen. Allerdings muß ich zugeben, daß ich noch nie eine davon betreten habe.« »Dann bleib dicht bei mir und überlaß mir das Reden. Star
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re niemanden an und sieh niemandem direkt in die Augen. Das werden sie wahrscheinlich als Beleidigung oder Provokati on nehmen. Faß nichts und niemanden an, wenn du es ver meiden kannst. Die Hälfte der Bewohner sind krank und über tragen diese Krankheiten sehr wahrscheinlich auch.« »Tatsächlich? Wo doch ihr Palast eine so reinliche Atmo sphäre verbreitet! Nun denn, geh voran.« Ryld tat, was sein Freund ihm auftrug. Auf der anderen Sei te der Schwelle fand sich der klaustrophobische Alptraum, den ei noch gut in Erinnerung hatte. Kobolde, Goblins, Orks, Gnolle, Grottenschrate, Hobgoblins und eine Reihe weniger bekannter Kreaturen drängten sich in allen Ecken. Von eini gen wußte der Krieger, daß es sich um Sklaven handelte, die ihren Herren weggelaufen waren. Andere waren in den Dienst Reisender aus Menzoberranzan getreten, denen sie in einem entlegenen Winkel der Welt begegnet waren. Diese Reisenden hatten sich dann von ihnen in die Stadt begleiten lassen, wo sie sich ihrer Diener entledigt hatten, ohne ihnen die Mittel zu geben, die sie für eine Heimkehr benötigt hätten. Die übrigen waren Nachfahren der Unglücklichen, die zu den beiden ers ten Kategorien zählten. Woher diese Armen auch kamen, sie saßen nun im Braeryn fest, bettelten, stahlen und plünderten einander aus, sie lauer ten sich gegenseitig auf und verdingten sich für jeden noch so gefährlichen und schmutzigen Auftrag, den man ihnen gab. Es war für sie die einzige Möglichkeit, um überleben zu können. Diese Wesen hatten sich daran gewöhnt, dicht gedrängt im Gemeinschaftsraum zu leben, ohne auch nur die geringste Privatsphäre genießen zu können. Unterkreaturen brabbelten, kochten, aßen, tranken, saßen reglos da, krakeelten, zuckten und stöhnten unter der Pein ihrer Krankheiten, schüttelten und ohrfeigten ihre kreischenden Kinder, spielten Würfel,
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trieben Unzucht, verrichteten ihre Notdurft und – am erstaun lichsten – schliefen tief und fest ... und das alles vor den Au gen jedes Glücklosen, der das Pech hatte, in ihre Richtung zu sehen. Wie Ryld erwartet hatte, kam unmittelbar nach ihrem Ein treten ein Paar Schläger – in diesem Fall Grottenschrate – auf sie zugeschlurft, um sie anzusprechen. Mit ihrer struppigen, zotteligen Mähne und dem kantigen, vorspringenden Kiefer zählten Grottenschrate zu den größten und stärksten der Goblinvölker, die den anderen weit überragten. Das galt auch für Dunkelelfen. Dieses Paar war, gemessen an seiner herunter gekommenen Unterkunft, wohlgenährt und recht anständig gekleidet. Vermutlich nahmen sie anderen unter Androhung von Gewalt deren geringe finanzielle Mittel ab. »Ihr lebt hier nicht«, grollte der größere. Um den kräftigen Hals trug er etwas, das wie die abgetrenn te Hand eines Goblins aussah. Drow trugen gelegentlich ähn lichen Schmuck, üblicherweise Erinnerungsstücke an einen verhaßten Feind, doch sie gaben diese zuerst einem Präparator. Es war wirklich schade, daß der Grottenschrat das nicht auch getan hatte, da es die Verwesung und damit den fauligen Ge stank verhindert hätte. »Nein«, antwortete Ryld und warf dem Grottenschrat eine Münze zu, um den Zoll zu bezahlen, damit er das Haus betreten und verlassen konnte. »Wir sind hier, weil wir zu Smylla Nathos wollen.« Die massigen Goblinoiden sahen ihn nur an, so wie auch einige der anderen Geschöpfe. Ein schuppiger nackter Kobold kicherte wie verrückt. Etwas stimmte hier nicht, doch der Meister MeleeMagtheres wußte nicht, was es war. Er spürte eine plötzliche Anspannung, die er durch Ausatmen zu vertreiben versuchte.
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Es wäre keine gute Idee gewesen, ängstlich zu wirken. »Ist das hier nicht Smyllas Haus?« fragte er. Der kleinere Grottenschrat, der immer noch fast so hoch aufragte wie ein Oger, lachte, dann sagte er: »Nicht mehr. Sie lebt aber noch hier ... sozusagen.« »Können wir zu ihr?« fragte Ryld. »Warum?« fragte der Grottenschrat mit der abgetrennten Goblinhand. Ryld zögerte. Er hatte sagen wollen, daß er und Pharaun Smylla in ihrer Funktion als Händlerin von Informationen aufsuchen wollten. Es war im Wesentlichen wahr, auch wenn das nicht weiter von Bedeutung war. Bedeutsam war allerdings, daß er nicht erwartet hatte, damit eine feindselige Reaktion hervorzurufen. Pharaun trat neben ihn. »Smylla verkaufte unserer Schwester Iggra das Geheimnis, wie man in den Tresor eines Kaufmanns einbricht«, sagte der Magier im glaubwürdig ärgerlichen Krächzen eines Orks. »Wie man alle Fallen umgeht und so ... bloß, daß sie eine vergessen hat, versteht ihr, und die hat Säure auf unsere Schwester ge spritzt, die dadurch verbrannt ist, und zwar sehr langsam. Fast hätte es uns auch erwischt. Es ist Smyllas Fehler, und wir sind hier, um mit ihr über die Angelegenheit zu... ›reden‹.« Der kleinere Grottenschrat nickte. »Ihr seid nicht die einzi gen, die so mit ihr reden wollen. Wir auch. Aber wir kommen nicht an das Miststück ran.« Pharaun legte den Kopf schräg. »Wie das?« »Vor ein paar Zehntagen«, sagte der Grottenschrat mit der abgehackten Hand um den Hals, »beschlossen wir, daß wir genug davon hatten, von ihr rumgestoßen zu werden – und von ihren Lampen, die uns in den Augen wehtaten. Wir sprangen sie an, haben sie geschlagen, aber sie hat einen von
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diesen Steinen nach uns geworfen, die so grell blitzen. Wir waren geblendet, und in der Zeit ist sie in ihr Zimmer ge rannt.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf die Wendeltreppe. »Wir kommen nicht durch die Tür. Sie hat sie mit Magie oder so verschlossen.« Pharaun schnaubte. »Die Tür muß erst noch erfunden wer den, die mein Bruder und ich nicht aufbekommen.« Die Grottenschrate sahen einander an, dann zuckte der kleinere der beiden, dem einige Zähne im Unterkiefer fehlten, mit den Schultern. »Versuchen könnt ihr es«, sagte der Größere. »Aber Smylla gehört auch uns. Schlagt sie, laßt sie bluten, schneidet euch ein Stück ab und eßt es auf, aber ihr könnt sie nicht ganz für euch behalten.« »Abgemacht«, stimmte Pharaun zu. »Dann kommt.« Die Grottenschrate führten sie durch den überfüllten Raum auf die Treppe, auf der sie ebenfalls über herumsitzende Arme steigen mußten. Auf halber Strecke nahm der eine Schläger die verwesende Hand, steckte sie sich in den Mund und be gann, daran zu saugen. Am Kopf der Treppe befanden sich ein kleiner Absatz und eine Kalksteintür, die nach oben hin abgerundet war. Zwei Wachen, ein Ork und ein hundegesichtiger Gnoll mit offenen Wunden an der Schnauze, saßen auf dem Boden und machten einen gelangweilten Eindruck. Die getarnten Lehrer machten ein Schauspiel aus der Be gutachtung der Tür. »Kannst du sie einschlagen?« flüsterte Pharaun. »Wenn die Grottenschrate es nicht konnten? Verlaß dich nicht drauf. Kannst du sie mit Magie öffnen?« »Wahrscheinlich. Sie ist magisch verschlossen, also sollte
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ein Gegenzauber reichen, aber ich will nicht, daß mich unsere Freunde dabei beobachten, wie ich ihn wirke. Das würde mei ne Tarnung wirklich gefährden. Stell dich so, daß du ihnen die Sicht nimmst, und versuch sie abzulenken. »Gut.« Ryld stellte sich in den Weg und sah die beiden Grottenschrate an. »Wir können sie öffnen. Welche Beute befindet sich dahinter?« Der größere Grottenschrat runzelte die Stirn und antworte te, auch wenn die Hand in seinem Mund ihn etwas am Spre chen hinderte: »Wir haben eine Abmachung. Von Beute war nicht die Rede.« »Smylla hat den Schatz unserer Schwester genommen«, er widerte Ryld. »Den wollen wir zurück, und dazu noch etwas extra, als Wergeld.« »Zur Hölle damit.« Der Grottenschrat, dem einige Zähne fehlten, griff nach dem Messer an seinem Gürtel. Ryld sah, daß es sich um das Werkzeug eines Metzgers handelte, nicht um eine für den Kampf angefertigte Klinge. Dennoch war er sicher, daß sie auch im Kampf Wirkung zeigen würde. Ryld legte eine Hand auf das Heft seines Kurzschwerts, die Waffe, die in einem so beengten Raum am besten geeignet war, und sagte: »Wenn ihr kämpfen wollt, dann kämpfen wir. Ich schneide euch das Gesicht vom Schädel und trage es wie einen Lendenschurz, aber mein Bruder und ich sind gekommen, um Smylla zu töten, nicht euch. Laßt uns reden. Wenn es euch nie gelingt, die Tür –« »Offen«, sagte Pharaun. Rylds Rücken wurde in grelles weißes Licht getaucht, das die Grottenschrate zusammenzucken ließ. Der Krieger kniff die Augen zusammen, wirbelte herum und lief auf die Öffnung zu. »Heh!« rief der kleinere Grottenschrat.
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Ryld spürte eine große Hand an seiner Schulter, die ver suchte, ihn zu packen, doch sie kam zu spät. Er folgte Pharaun über die Schwelle und schlug die Tür zu. »Du mußt die Tür zuhalten«, wies Pharaun ihn an. »Lange wird mir das nicht gelingen.« Ryld beugte sich vor und legte die Hände auf den Kalkstein, dann machte er sich auf den Ansturm von draußen gefaßt. Die Tür kam ihm ein Stück entgegen. Für den Bruchteil ei ner Sekunde rutschten die Füße des Drow über den Kalkspat boden, dann aber fanden sie wieder Halt, und er konnte sich gegen die Tür stemmen. Unterdessen sah sich Pharaun um. Er stieß einen zufriede nen Laut aus, nahm einen kleinen eisernen Stab hoch und legte ihn so an, daß er auf halber Höhe den Rand der Tür und den Rahmen überlappte. Als er die Hand wegnahm, bliebt das Amulett an der Stelle haften. »Das ist ein recht interessantes kleines Gerät«, sagte der Ma gier. »Ach ja, du mußt dich nicht länger dagegen stemmen.« Pharaun drehte die mechanischen Schlösser, die sein Öff nungszauber entriegelt hatte, und schloß sie der Reihe nach wieder. Es war eigentlich das verzauberte Stück Eisen gewesen, das die beiden Goblinoiden bis dahin aufgehalten hatte, doch er war der Ansicht, er und Ryld sollten so sicher wie möglich sein. Außerdem erschien es ihm auch höflich zu sein. Ihre Gastgeberin schien diese Geste gar nicht zu schätzen. »Raus!« krächzte sie. »Raus, oder ich töte euch mit meiner Magie!« Die Meister wandten sich zu ihr um. Smylla hatte den spär lich möblierten Raum mit einem Paar schmaler Messingstan gen beleuchtet, deren Spitzen ein gleichmäßiges magisches Licht verbreiteten. Sie wuchsen aus dem Hals wachsüberzoge ner Weinflaschen wie Wachskerzen in Ständern, an die sie
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möglicherweise auch erinnern sollten. Vielleicht fehlte Smylla die für Zauberwirker üblichere Beleuchtungsmethode, oder sie konnte nicht mehr darauf zugreifen. Sie selbst lag am Rand des Lichtscheins auf einem Bett, das am anderen Ende des Raums fast völlig im Schatten stand. Pharaun konnte sie nur mit Mühe sehen. »Guten Nachmittag, meine Dame«, sagte er und verbeugte sich. »Es beschämt mich über die Maßen, Eure Bitte zu igno rieren. Doch wenn dieser Herr und ich die Tür ein zweites Mal durchschreiten, werden die Grottenschrate und ihresgleichen hereinstürmen. Ich glaube, das ist genau das, was Ihr zu ver meiden versucht.« »Wer seid ihr? Du redest nicht wie ein Ork.« »Meine Dame ist ein Wunder an Scharfsinn. Wir sind in Wahrheit Drow, die hergekommen sind, um in einer Angele genheit von einiger Bedeutung Euren Rat einzuholen.« »Warum seid ihr verkleidet?« »Aus dem üblichen Grund: um unsere Feinde zu verwirren. Dürfen wir uns nähern? Es ist mühselig, sich quer durch den Raum zu unterhalten.« Smylla zögerte, dann sagte sie: »Kommt her.« Pharaun und Ryld durchquerten den Raum. Hinter ihnen waren die Grottenschrate zu hören, die fluchten, Drohungen und Fragen brüllten und immer wieder gegen die Tür schlugen. Nach vier Schritten drehte sich der Magen des Magiers um, als er einen weiteren Gestank wahrnahm, diesmal von einer feuchten, fauligen Art. Er hatte so etwas fast erwartet, doch das machte es nicht erträglicher. Selbst der sonst so phlegmati sche Ryld wirkte einen Moment lang erschüttert. »Nah genug«, sagte Smylla, und Pharaun mußte ihr wortlos zustimmen. Er verspürte kein Verlangen, sich der ausgemergelten Ges
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talt weiter zu nähern, die mit Furunkeln und Pusteln übersät war. Daran konnten nicht einmal die Zauber etwas ändern, die in seinen Mantel und in Rylds Umhang und Rüstung einge wirkt waren und sie wahrscheinlich vor einer Ansteckung schützen würden. »Könnt Ihr uns helfen?« fragte Ryld. Die Kranke warf ihm einen interessierten Blick zu. »Wirst du dafür mit deinem prachtvollen Schwert bezahlen, das du über den Rücken trägst?« Pharaun war beeindruckt. Die Illusion eines schweinsge sichtigen Orks, von der sein Freund umgeben war, ließ Splitter wie eine Kampfaxt aussehen, doch Smyllas wäßrige, eingefal lene Augen hatten diesen Teil der Täuschung durchschaut. Als er sich von seiner Überraschung erholt hatte, schüttelte Ryld den Kopf. »Nein, das Schwert werde ich Euch nicht ge ben. Ich habe zu hart dafür gearbeitet, es zu bekommen, und ich brauche es, um am Leben zu bleiben, aber wenn Ihr wollt, kann ich es benutzen, um die Goblinoiden draußen aus dem Weg zu räumen. Mein Kamerad und ich tragen auch eine be trächtliche Menge Gold bei uns.« Smylla, deren sprödes weißes Haar wirr von ihrem Kopf ab stand, lag gegen einen Stapel fleckiger, schimmliger Kissen gelehnt. Sie versuchte vergeblich, sich etwas aufzurichten. Offenbar überstieg das ihre Kräfte. »Gold?« gab sie zurück. »Weißt du, wer ich bin, Schwert träger? Kennst du meine Geschichte?« »Ja«, sagte Pharaun. »Zumindest in groben Zügen. Sie trug sich zu, nachdem ich mich bereits mehr oder weniger aus der Beteiligung an den Angelegenheiten der großen Häuser zu rückgezogen hatte.« »Was weißt du?« fragte sie. »Eine Expedition aus dem Haus Faen Tlabbar«, antworten
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der Magier, »machte sich auf in die Länder des Lichts, um dort zu jagen und zu plündern. Als sie zurückkehrten, wurden sie von einer lieblichen menschlichen Hexe und Hellseherin begleitet, nicht als von ihnen gefangengenommene Sklavin, sondern als ihr Gast. Warum wolltet Ihr mitkommen? Viel leicht wart Ihr auf der Flucht vor einem unerbittlichen Feind, oder Euch faszinierten die Anmut und Klugheit meines Volks und die Vorstellung, im exotischen Unterreich zu leben. Meine Vermutung ist, daß Ihr die Magie der Drow erlernen wolltet, doch das ist reine Spekulation. Kein Außenstehender hat es erfahren. Apropos – warum haben die Faen Tlabbar Euch Euren Wunsch erfüllt? Das ist ein noch größeres Mysterium. Es ist vorstellbar, daß einer von ihnen Euch liebte, oder aber Ihr hattet auch Geheimnisse, die Ihr weitergeben konntet.« »Ich wußte einen Weg, sie zu überzeugen«, sagte Smylla. »Offensichtlich. Nachdem Ihr in Menzoberranzan ange kommen wart, habt Ihr Euch im Haus Faen Tlabbar verdingt, wie es schon unzählige Gefolgsleute der minderen Rassen vor Euch getan hatten. Der Unterschied bestand darin, daß Euch ein gewisser Status zugestanden wurde, ja, sogar ein gewisses Maß an Vertrauen. Die Matronin Ghenni ließ Euch zusammen mit der Familie speisen und Euch an gesellschaftlichen Ereig nissen teilnehmen, bei denen Ihr dem Vernehmen nach ein Verhalten zur Schau stelltet, wie es eine echte Drow nicht besser gekonnt hätte.« »Ich war ihr Schoßtier, eine Hündin in einem Kleid, die man trainiert hatte, damit sie auf den Hinterläufen tanzen kann. Damals wußte ich das nur noch nicht.« »Ich bin sicher, daß Euch viele so sahen, doch vielleicht sa hen manche auch etwas anderes. Nach allem, was mir zu Oh ren kam, benahm sich die Matronin Ghenni so, als sähe sie Euch als jemanden, der nur eine Stufe unter einer Tochter
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angesiedelt ist. Da die Herrin des Vierten Hauses Euch gewäh ren ließ, hätten nur wenige gewagt, Euer Recht anzuzweifeln, wie eine Adlige der Menzoberranzanyr aufzutreten. Niemand tat das, bis sie sich gegen Euch wandte.« »Bis ich krank wurde«, präzisierte Smylla. »Genau. War es eine natürliche Krankheit, möglicherweise ausgelöst durch den Mangel an sengendem Sonnenlicht, das für Eure Art ein Normalzustand ist? Oder wurdet Ihr von ei nem Feind mit Gift oder tödlicher Magie infiziert? Wenn ja, war der Schuldige im Haus Faen Tlabbar zu finden, jemand, der Euch als Rivalin um die Gunst von Ghenni betrachtete, oder war es ein Agent einer feindlichen Familie, der das Haus um eine Ressource berauben sollte?« »Ich habe es nie herausgefunden. Witzig, daß ausgerechnet ich das sagen muß, nicht wahr?« »Eher ironisch. Jedenfalls versuchten mehrere Priesterin nen, Euch zu heilen, doch aus irgendeinem Grund versagte die Magie, woraufhin Ghenni Euch kurzerhand aus ihrer Zitadelle verwies.« »Genaugenommen«, erwiderte Smylla, »schickte sie Trolle zu mir, Sklavensoldaten, die mich umbringen sollten. Ich ent kam ihnen und konnte auch aus der Burg fliehen. Danach versuchte ich, meine Dienste anderen Häusern anzubieten, Adligen wie Kaufleuten gleichermaßen, doch niemand öffnete seine Tür für ein menschliche Frau, die die Gunst von Faen Tlabbar verloren hatte.« »Meine Dame«, sagte Pharaun, »wenn es für Euch einen Trost darstellt, kann ich Euch sagen, daß Ihr behandelt wurdet wie jedes Mitglied unserer eigenen Rasse. Kein Drow würde die Anwesenheit einer Person dulden, die unheilbar krank ist. Lolth hat uns gelehrt, daß die Schwachen sterben müssen – und was wäre, wenn sich die Krankheit als ansteckend erwei
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sen sollte?« »Das ist kein Trost.« »Wie Ihr meint. Um mit der Geschichte fortzufahren: Da Ihr nirgends willkommen wart, machtet Ihr Euch auf den Weg in den Braeryn. Trotz Eurer Erkrankung wart Ihr in der Lage, auf ein gewisses Maß an Magie zurückzugreifen, und genau diese Magie habt Ihr angewandt, um die Bewohner dieses spe ziellen Bezirks einzuschüchtern, damit sie Euch einen Raum zur Verfügung stellten, in dem Ihr leben konntet. Ich wage zu behaupten, daß das nicht leicht war. Indem Ihr dann Erkennt nisrituale, Eure natürliche psionische Begabung und mögliche andere Geheimnisse zur Anwendung brachtet, die Ihr während Eurer Zeit im Haus Faen Tlabbar erfahren hattet, konntet Ihr Euch hier als Händlerin von Wissen niederlassen. Anfangs griffen nur die unteren Orden auf Eure Dienste zurück, doch als sich Euer Ruf herumsprach, kamen sogar einige meiner Leute zu Euch, um sich Rat zu holen. Wir wollten Euch nicht in unserer Mitte leben lassen, aber einige von uns waren be reit, einen kurzen Kontakt zu riskieren, wenn sie sich davon einen angemessenen Vorteil versprachen.« »Ich habe nie von Euch gehört«, gestand Ryld ein, »doch innerhalb des Bezirks scheint Ihr einen guten Ruf zu genießen. Wir haben den ganzen Tag Fragen gestellt, und oft hörten wir, wir sollten uns an Euch wenden.« Es wurde extrem lautstark gegen die Tür geschlagen, wor aufhin er sich umsah, um sicher zu sein, daß die Grottenschra te nicht in den Raum stürmten. »Das ist alles, was ich von Eurer Saga weiß«, sagte Pharaun, »aber ich schließe aus der Feindseligkeit Eurer Mitbewohner, daß ein neues Kapitel begonnen hat.« »Ich nehme an, ich hätte ihnen ohnehin nicht mehr lange etwas vormachen können«, stimmte Smylla ihm zu. »Meine
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Kräfte – die hexerischen und auch die psionischen – sind ver schwunden, von meiner Krankheit aufgezehrt. Früher baute ich meinen Wissensschatz vor allem durch Ausspähung, Er kenntniszauber und ähnliches auf. In den letzten Jahren ge wann ich meine Geheimnisse durch ein Netz aus Informanten, die ich der Reihe nach hinterging.« Die eingefallene Kreatur setzte ein schiefes Lächeln auf. »Nun«, sagte Ryld. »Ich hoffe, Ihr habt dabei das Geheim nis in Erfahrung gebracht, das wir brauchen.« Sie hustete. Nein, es war ein Lachen. »Selbst wenn, warum sollte ich mit dir teilen, Dunkelelf?« »Ich sagte schon«, erklärte der Krieger. »Wir können Euch vor den Grottenschraten und den Goblins schützen.« »Das kann mein kleines Medaillon auch.« »Wenn Ihr hierbleibt, werdet Ihr an Hunger und Durst ster ben.« »Ich sterbe ohnehin. Siehst du das nicht? Ich bin keine alte Frau, ich bin nach den Maßstäben von euch Drow ein Klein kind. Aber ich sehe aus wie eine Greisin. Ich will bloß nicht durch die Hände dieser elenden Unterkreaturen mein Leben verlieren. Ich habe hier 15 Jahre lang regiert, und ich werde siegen, wenn ich ohne ihr Zutun sterbe. Versteht ihr?« »Nun denn, meine Dame«, sagte Pharaun, »Euer Wunsch klingt nach den Bedingungen eines Handels. Seid uns gefällig, und wir werden die Grottenschrate daran hindern, zu Euch vorzudringen.« Sie machte ein Geräusch, als spucke sie verächtlich aus. »Laßt sie ein, wenn ihr wollt. Ich verabscheue diese Schläger, aber noch mehr hasse ich euch Drow. Ihr habt aus mir ge macht, was ich heute bin. Ich habe euch Informationen gege ben, solange ich davon profitierte, aber jetzt, da diese Krank heit mich doch noch umbringt, könnt ihr alle in den Abgrund
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gehen, wo eure Göttin lebt, und verbrennen.« Pharaun hätte erwidern können, daß – soweit er das beur teilen konnte – Smylla ihr eigenes Schicksal an dem Tag be siegelt hatte, an dem sie sich entschied, ins Unterreich hinab zusteigen. Er bezweifelte jedoch, daß das an ihrem Entschluß etwas ändern würde. »Ich kann es Euch nicht verdenken«, sagte er und zeigte übertrieben sein Mitleid. Es hätte keinen Drow getäuscht, doch auch wenn sie über Jahrzehnte hinweg mit seiner Rasse Handel getrieben hatte, waren ihre menschlichen Instinkte vielleicht noch vorhanden. »Manchmal hasse ich selbst andere Drow. Ich würde sie sicher verabscheuen, wenn sie mich so behandelt hätten, wie sie es mit Euch gemacht haben.« Sie beäugte ihn skeptisch. »Und du willst der sein, der sich von allen anderen unterscheidet?« »Das bezweifle ich. Ich bin ein Kind Lolths. Ich folge ihr. Aber ich habe die Reiche, die die Sonne sehen, besucht. Dort sah ich, daß andere Völker anders leben und denken. Mir ist klar, daß wir Euch abscheulich behandelten, wenn man die Maßstäbe Eures eigenen Volks anlegt.« Einen Moment lang sah sie zu ihm auf, als hätte ihr nie mand mehr Mitgefühl gezeigt seit jener lang vergessenen Zeit, als sie die Schönheit – oder zumindest die begehrte Kuriosität – der Lustbarkeiten und der Bälle war. »Glaubst du«, erwiderte sie, »daß ein paar freundliche Wor te mich veranlassen, euch zu helfen?« »Nein. Ich will nur nicht, daß Eure Verbitterung Eurem Verstand im Weg steht. Es wäre eine Schande, wenn Ihr Euch von Eurer Errettung abwenden würdet.« »Was soll das heißen?«
»Daß ich Euch heilen kann.«
»Du lügst. Wie willst du schaffen, was den Priesterinnen
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nicht gelungen ist?« »Weil ich Magier bin.« Pharaun schnippte mit den Fingern und ließ die Illusion verschwinden, die ihn umgab. »Ich bin Pharaun Mizzrym. Vielleicht habt Ihr von mir gehört. Wenn nicht, dann dürften Euch zumindest die Meister Sorceres ein Begriff sein.« Sie war beeindruckt, wollte es sich aber nicht anmerken las sen. »Die keine Heiler sind«, sagte sie schließlich. »Aber Verwandler. Ich kann Euch in eine Drow oder eine Angehörige einer anderen Rasse verwandeln, wenn Euch das lieber ist. Was immer Ihr auch wählt, die Verwandlung wird Euren Körper heilen.« »Wenn das stimmt«, gab sie zurück, »warum fürchten sich deine Leute dann so vor Krankheiten?« »Weil sie diese Form der Heilung als unangemessen be trachten. Für einen Drow ist es als Angehöriger des auserwähl ten Volks Lolths undenkbar, dauerhaft die Gestalt einer niede ren Kreatur anzunehmen, wenn es sich nicht um eine Bestrafung handelt. Auch können die meisten Magier den Zauber nicht gut genug wirken, um eine Krankheit auszumer zen. Das erfordert eine gewisse Begabung, von der ich behaup ten kann, daß ich glücklicherweise über sie verfüge.« Er grinste. »Du wirst ihn einsetzen, um mir zu helfen?« »Genaugenommen helfe ich mir selbst.« Smylla runzelte die Stirn und dachte nach, dann sagte sie: »Was habe ich schon zu verlieren?« »Genau.« »Aber erst wirst du mich verwandeln.« »Nein, erst müssen wir feststellen, daß Ihr tatsächlich die Information besitzt, die mein Kollege und ich benötigen. Wir
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suchen eine Reihe flüchtiger Männer, die aus Adels- und aus bescheideneren Häusern gleichermaßen stammen.« »Hier im Braeryn hält sich eine Handvoll Drow versteckt. Einige sind krank wie ich, manche wurden aus anderen Grün den ausgestoßen. Ein paar von ihnen machen nur einen lan gen, nicht gestatteten Urlaub von ihren Verantwortlichkeiten und ihren weiblichen Verwandten. Ich kann euch sagen, wo sich die meisten von ihnen aufhalten.« »Dessen bin ich sicher«, sagte Pharaun. »Aber ich darf an nehmen, daß sie schon seit längerem hier leben, nicht? Wir sind aber auf der Suche nach Flüchtigen, die erst vor kurzem verschwanden. Menzoberranzan mußte in den letzten Zehnta gen eine regelrechte Massenflucht registrieren.« Smylla dachte nach. Der Magier erkannte an der leichten Veränderung ihres Gesichtsausdrucks, daß sie überlegte, ob sie lügen sollte oder nicht. »Mehr männliche Drow als üblich besuchten in letzter Zeit den Braeryn«, sagte sie. »Ich nahm an, sie würden einfach nur ihren selbstsüchtigsten Impulsen folgen, doch soweit ich weiß, sind sie nicht geblieben. Wenn, dann weiß ich nicht, wo sie sein könnten.« Ryld seufzte. Pharaun wußte, wie er sich fühlte. Im Allge meinen liebte der Magier Rätsel, für deren Lösung er seinem Geist Höchstleistungen abfordern mußte, doch selbst er wurde langsam ungeduldig, da sie keine Fortschritte machten. In Anbetracht des Mangels an brauchbaren Fährten beschloß er, seiner Intuition zu folgen. Noch immer in der Rolle des Mitfühlenden wagte er es, sich dem Bett zu nähern und Smyllas knochige Schulter zu tätscheln. Sie schnappte erschrocken nach Luft. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie schon lange niemand mehr angefaßt. »Gib die Hoffnung nicht auf«, sagte Pharaun. »Vielleicht
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können wir dennoch einen Handel schließen. Zum Glück interessieren mein Kamerad und ich uns auch für andere Fra gen. Ist im Braeryn in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches vor gefallen?« Die Hellseherin lachte, doch ihr war anzuhören, daß es ihr Schmerzen bereitete. »Du meinst außer der Tatsache, daß sich in den letzten Zehntagen die Tiere gegen mich erhoben haben?« »Das finde ich interessant. Wie Ihr eingestandet, welkten Eure magischen Talente vor einiger Zeit dahin. Seitdem be herrschtet Ihr die Goblins durch Bluffs und durch die Kraft Eurer Persönlichkeit, und bis vor ein paar Tagen funktionierte das auch. Was ist geschehen? Woher nahmen die Unterkreatu ren plötzlich den Mut, sich gegen Euch zu wenden? Ist Euch etwas aufgefallen, das dies erklären könnte?« »Na ja«, sagte Smylla, »es könnte auch nur mit meiner schlechten körperlichen Verfassung zu tun haben, aber ...« Sie verzog die spröden Lippen zu einem Grinsen. »Du bist gut, Meister Mizzrym. Du lächelst, du unterhältst dich freundlich, du berührst mich, und schon löst sich meine Zunge. Das macht die Einsamkeit. Aber ich will erst geheilt werden, ehe ich etwas verrate, was wichtig sein könnte.« »Sehr vernünftig.« Pharaun zog einen leeren Kokon aus ei ner seiner Taschen. »Was wollt Ihr werden?« »Eine von euch«, antwortete sie gierig. »Ich hörte mal ei nen Philosophen sagen, daß jeder das wird, was er haßt.« »Das muß ein vergnüglicher Gesprächspartner gewesen sein. Nun macht Euch bereit. Es wird nur einen Augenblick dauern, aber es könnte ein wenig wehtun.« Mit größerer Sorgfalt als sonst rezitierte er die Beschwörung und benutzte das mit Furchen überzogene seidene Behältnis, um ein Symbol in die Luft zu schreiben.
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Plötzlich war die Luft von Magie erfüllt, die Temperatur sank spürbar ab. Einen Moment lang schimmerte der ganze Raum und schien Wellen zu schlagen, bis sich die Verwerfung auf Smyllas verschrumpelten Körper konzentrierte. In ihrem Genick traten Sehnen hervor, sie schrie. Jenseits der Tür brüllte einer der Grottenschrate: »Wir wol len uns auch rächen! Wir hatten eine Abmachung!« Smyllas Wunden verblaßten, und ihre ausgemergelte Ges talt wandelte sich zu einer gesunden Schlankheit. Ihre aschene Haut wurde dunkler, bis sie schwarz glänzte, ihre blauen Augen wurden rot, und ihren Ohren wuchsen Spitzen. Ihre Züge wurden feiner und zarter. Ihr schneeweißes Haar wurde voller und wechselte von spröde und matt zu wallend und glänzend. »Der Schmerz ist weg«, hauchte sie. »Ich fühle mich stär ker.« »Natürlich«, sagte Pharaun. Sie starrte auf ihre Hände, dann setzte sie sich auf, erhob sich von ihrem Bett und versuchte zu gehen. Zuerst bewegte sie sich mit der Vorsicht einer Gebrechlichen, doch mit jedem Schritt wurde ihr klarer, daß sie nicht hinfallen würde. Ihre Zaghaftigkeit verschwand innerhalb von Sekunden, und sie begann, mit weiten Schritten umherzustolzieren, zu springen und sich zu drehen wie ein vor Freude überschäumendes klei nes Mädchen, das testete, welche Kräfte es besaß. Das schmut zige Nachthemd wehte hinter ihr her. »Du hast es vollbracht!« sagte sie. Die reine, nichts berech nende Dankbarkeit in ihren karmesinroten Augen zeigte, daß ihr Fleisch zwar so schwarz wie das der Drow, doch daß sie in ihrem tiefsten Inneren immer noch ein Mensch war. Auch wenn es seiner eigenen Natur fremd war, empfand Pharaun ihre Freude als recht befriedigend. Doch er hatte sie nicht verwandelt, damit sie sich in naiver Sentimentalität
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erging, sondern um Antworten zu erhalten. »Nun sagt uns, was Ihr wißt«, sagte er. »Genau.« Sie atmete tief durch, um sich zu sammeln, und sagte dann: »Ich glaube, etwas hat die Unterkreaturen in die sem Haus ermutigt. Außerdem glaube ich, daß es sich auf Goblinoide im ganzen Braeryn ausgewirkt hat.« »Was ist es?« fragte Ryld. »Ich weiß nicht.« Der Krieger schnitt eine Grimasse. »Was hat Euch veranlaßt, Euch hierher zurückzuziehen?« fragte Pharaun. »Ich nehme an, Ihr konntet das Haus auch schon nicht verlassen, ehe Ihr Euch hier verbarrikadiert habt.« »Ich bemerkte eine Veränderung an den Schlägern, die hier leben. Sie waren mürrisch, anmaßend und schlechtgelaunt. Sie waren bereit, einander bei der kleinsten Provokation zu ver stümmeln und zu töten.« Ryld bewegte seine Schultern, um eine Verspannung zu lö sen oder Splitter so zu verlagern, daß das Schwert angenehmer auf seinem Rücken lag. »Was ist daran anders als sonst?« wunderte sich der Waf fenmeister. Smylla warf ihm einen finsteren Blick und erwiderte: »Alles ist relativ. Diese Kreaturen ließen diese Eigenschaften in einem viel stärkeren Maß als sonst erkennen, und jedesmal, wenn ich Mitteilungen von außerhalb dieses Hauses erhielt, ließen sie den Schluß zu, daß der gesamte Bezirk von der gleichen barba rischen Stimmung geprägt ist.« Pharaun nickte. »Habt Ihr etwas davon gehört, daß in den Straßen Stammeszeichen auftauchten?« »Ja«, sagte Smylla. »Das spricht für eine gewisse Form des Wahnsinns, nicht?« »Vielleicht bei ein oder zwei Knechten«, sagte Ryld. »Was
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ist? Ihr habt Pharaun Informationen versprochen. Sagt uns etwas, das wir noch nicht wissen – und damit meine ich Tatsa chen, nicht Eure Eindrücke.« Die Hellseherin lächelte. »Schon gut, ich wollte gerade dar auf zu sprechen kommen. Alle paar Nächte wird irgendwo im Braeryn eine Trommel geschlagen, um die niederen Ränge zu einer Art von Versammlung zusammenzurufen. Viele Be wohner dieses Hauses machen sich dann auf den Weg. Mit dem wenigen, was mir von meiner Hellsicht noch geblieben ist, konnte ich fühlen, wie viele mehr durch die Straßen liefen und sich alle auf ein gemeinsames Ziel zubewegten.« »Unsinn«, warf Ryld ein. »Warum hat dann noch keine Pa trouille dieses Signal gehört und ist ihm nachgegangen?« »Weil«, gab Pharaun zurück, »die Stadt über Zauber verfügt, die Geräusche verstummen lassen.« »Nun, vielleicht.« Ryld wandte sich wieder Smylla zu. »Wo hin gehen die Kreaturen und warum?« »Ich weiß nicht«, sagte sie, »aber nachdem nun meine Ge sundheit und meine okkulten Begabungen wiederhergestellt sind, könnte ich es vielleicht herausfinden.« Sie strahlte Pha raun an. »Ich würde es gerne versuchen. Ich habe meine Seite der Abmachung eingehalten, aber mir ist auch klar, daß ich euch nicht soviel gegeben haben, wie ich es im Austausch für euer unschätzbares Geschenk hätte tun sollen.« »Diese Bemerkung bringt uns zur Frage nach Eurer Zu kunft«, sagte der Magier. »Es wird Euch nicht schwerfallen, hier in den Straßen des Gestanks Euer Reich wieder aufzubau en, doch warum solltet Ihr in so einfachen Verhältnissen le ben? Ich kann eine Adjutantin von Eurem Kaliber gut brau chen. Oder wenn es Euch lieber ist, kann ich für Eure sichere Heimkehr an die Oberfläche sorgen.« Während er sprach, krümmte er verstohlen die Finger seiner
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linken Hand und vermittelte etwas in der stummen Sprache der Drow, einem System aus Gesten, das so umfassend war wie das gesprochene Wort. »Ich glaube ...«, setzte Smylla an, dann riß sie die Augen auf. Sie wimmerte. Ryld zog sein Kurzschwert aus ihrem Rücken, und sie brach zusammen. Pharaun trat einen Schritt zurück, damit sie nicht gegen ihn kippte. »Trotz ihrer früheren Erfahrungen«, sagte der schlaksige Magier, »konnte sie nicht anders, als einem Drow zu trauen. Ich denke, das zeigt, daß man einen Menschen aus der Sonne nehmen kann, aber nicht die Sonne aus einem Menschen.« Pharaun schüttelte den Kopf. »Das ist die zweite Frau, die ich in der kurzen Zeit seit Beginn unseres Abenteuers ermordete oder ermorden ließ, und keine von beiden hatte ich eigentlich töten wollen. Vermutest du da eine unterschwellige metaphysi sche Bedeutung?« »Woher soll ich das wissen? Ich nehme an, du wolltest, daß ich das Weib töte, weil es uns Lügen auftischte.« »Nein. Ich bin überzeugt, daß sie die Wahrheit sagte. Das Problem war vielmehr, daß ich sie getäuscht habe. Ihre Meta morphose hat sie nicht von ihrer Krankheit geheilt. Es war schwierig, sie für ein paar Minuten zu unterdrücken.« Pharaun machte einen weiteren Schritt zurück, damit die Blutlache, die sich um die Tote herum bildete, nicht seine Stiefel erreichen konnte. Ryld wischte das blutige Schwert am Laken der Frau ab. »Du wolltest nicht, daß sie lebt und aus Wut Geschichten an Greyanna weitererzählt«, sagte der Waffenmeister. »Es ist unwahrscheinlich, daß sie einander begegnet wären, aber warum sollen wir ein unnötiges Risiko eingehen?« »Außerdem hast du Smylla nach den Wandschmierereien
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gefragt. Du bist zu neugierig, um das Thema auf sich beruhen zu lassen.« Pharaun grinste. »Sei nicht albern. Ich bin ein Vorbild für zielstrebige Entschlossenheit. Ich habe nur gefragt, um unsere Mission ausweiten.« Ryld sah zur Tür und zum eisernen Riegel. Beide hielten. »Was hat das seltsame Verhalten von Goblins mit den flüchtigen Männern zu tun?« fragte er. »Das weiß ich nicht«, antwortete Pharaun. »Aber wir ha ben zwei sonderbare Vorkommnisse zur gleichen Zeit im glei chen Bezirk. Erscheint es nicht sinnvoll, da einen Zusammen hang zu vermuten?« »Nicht unbedingt. In Menzoberranzan spielen sich ständig viele finstere Pläne und Verschwörungen gleichzeitig ab, ohne daß zwischen allen ein Zusammenhang besteht.« »Stimmt. Aber wenn es zwischen diesen beiden Ereignissen eine Verbindung gibt, dann können wir uns einem von ihnen widmen und gleichzeitig Erkenntnisse über das andere gewin nen. Wir haben bislang einen deprimierenden Mangel an Erfolg vorzuweisen, was die Fährte unserer Flüchtigen angeht. Also werden wir uns in den niederen Rängen umhören und herausfinden, wohin uns das führt.« »Wie werden wir das machen?« »Wir folgen natürlich der Trommel.« Wieder wurde gegen die Tür geschlagen. »Zuerst«, sagte Ryld, »müssen wir hier rauskommen.« »Kein Problem. Zuerst werde ich den Talisman entfernen, der die Tür blockiert, dann werde ich eine Illusion schaffen, die uns eins mit den Wänden werden läßt. In ein oder zwei Minuten werden die Kreaturen die Tür aufbrechen. Dann werden sie damit beschäftigt sein, sich Smyllas Leichnams anzunehmen und ihre Habseligkeiten durchzugehen. In der
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Zeit werden wir Goblin-Gesichter aufsetzen und im allgemei nen Durcheinander das Haus verlassen.«
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Quenthels Patrouille war stundenlang durch die düsteren, nur von Kerzen erhellten Gänge Arach-Tiniliths gepirscht, bis einzelne Abschnitte, die ihr bestens vertraut waren, mit ei nem Mal befremdlich und sogar unwirklich erschienen. Die Nerven ihrer Untergebenen waren durch das lange Warten bis zum Zerreißen gespannt. Sie ließ die Gruppe anhalten, damit die anderen sich ausruhen und sammeln konnten. Gerastet hatten sie in einer kleinen Kapelle, in der die Abbilder von Schädeln, Dolchen und Spinnen in Flachreliefs in die Wände eingelassen und die Knochen von seit langem toten Prieste rinnen unter dem Fußboden begraben waren. Gerüchte besag ten, in diesem Heiligtum habe sich einmal eine Klerikerin selbst die Kehle aufgeschnitten und seitdem spuke ihr Geist manchmal hier herum, doch bislang hatten die Baenre noch keine derartige Erscheinung gesehen, so daß es für die Ge
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schichte keinen Beweis gab. Die Priesterinnen und Novizinnen ließen sich auf den Bän ken nieder. Eine Zeitlang sprach niemand ein Wort. Nach einer Weile meinte Jyslin, eine Schülerin im zweiten Jahr, deren Gesicht die Form eines Herzens hatte und die sil berne Stecker in den Ohrläppchen trug: »Vielleicht wird ü berhaupt nichts geschehen.« Quenthel warf der Novizin einen frostigen Blick zu. Wie die anderen in der Gruppe machte die junge Frau dank Streitkol ben, Kettenhemd und Schild einen kriegerischen Eindruck, doch in ihren besorgten kastanienbraunen Augen und an den Schweißperlen auf der Stirn war zu erkennen, wie sehr sie sich fürchtete. »Wir werden heute Nacht einem weiteren Dämon gegenü bertreten«, sagte Quenthel. »Ich spüre es, darum ist es sinnlos, auf etwas anderes zu hoffen. Stattdessen schlage ich vor, du konzentrierst dich darauf, wachsam zu bleiben und an das zu denken, was du gelernt hast.« Jyslin senkte den Blick und flüsterte: »Ja, Herrin.« »Nur bei Feiglingen ist der Wunsch die Mutter des Gedan kens«, erklärte Quenthel. »Wenn ihr Narren in diese Denk weise verfallt, dann haben wir schon zu lange pausiert. Auf.« Leises Klirren geschmeidiger schwarzer Kettenhemden war zu hören, als sich Quenthels Gefolgschaft erhob und ihr folgte. Angesichts der beiden bisherigen Eindringlinge und der Tatsache, daß die Schutzmaßnahmen der Magier Sorceres ganz offensichtlich völlig nutzlos waren, hatte Quenthel ganz ArachTinilith in Alarmzustand versetzt und ihren Stab und ihre Schülerinnen in Gruppen von je acht Personen aufgeteilt. Die meisten dieser Einheiten hielten an festgelegten Standorten Wache, während einige andere im Gebäude patrouillierten. Die Baenre-Prinzessin hatte sich entschlossen, eine dieser
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Patrouillen persönlich zu begleiten. Sie hatte auch beschlossen, alle Lagerräume und Waffenla ger zu öffnen und alle mit mächtigen Zaubern belegte Geräte und Waffen herauszuholen, die dort noch aufbewahrt wurden. Selbst die Schülerinnen im ersten Jahr trugen nun verzauberte Waffen und Talismane, die einer Hohepriesterin würdig waren. Die Ausrüstung hatte nicht viel dazu beigetragen, Jyslins Moral zu heben, und das galt auch für die anderen Novizinnen. Hätte Quenthel nicht unter ihren eigenen sorgfältig verborge nen Ängsten gelitten, hätte ihre Betrübtheit sie vielleicht amüsiert. Die Mädchen hatten von Kindesbeinen an immer wieder Dämonen gesehen. Sie waren mit ihnen in ArachTinilith sogar sehr eng in Berührung gekommen, doch dies war das erste Mal, daß diese Wesen für sie eine Bedrohung darstell ten. Ihnen wurde erst jetzt klar, daß sie diese wilden Wesen eigentlich nie wirklich kennengelernt hatten. Zweifellos waren einige der jungen Frauen wachsam genug gewesen, um zu erkennen, daß sie selbst bislang relativ gesehen in keiner großen Gefahr geschwebt hatten, bis Quenthel sie mehr oder weniger zu ihrer Leibwache gemacht hatte. Wenn dem so war, dann war ihre Abneigung genauso egal wie ihr Unbehagen. Sie waren ihre Untergebenen, und es war ihre Pflicht, ihr zu dienen. »Das ist die Rache Lolths persönlich«, flüsterte Minolin Fey-Branche, eine Schülerin im fünften Jahr, die ihr Haar zu drei langen Zöpfen geflochten hatte. Offenbar hatte sie nicht vor, ihre Worte bis in die vorderste Reihe der Prozession drin gen zu lassen. »Erst raubt sie uns die Magie, dann schickt sie ihre Unholde, damit die uns töten.« Quenthel fuhr herum. Die Peitschenvipern, die ihre Wut spürten, streckten sich windend und zischend. »Schnauze!« herrschte sie Minolin an. »Lolth mag uns auf
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die Probe stellen, um die Untauglichen zu eliminieren, aber sie hat nicht ihren gesamten Tempel verdammt. Das würde sie nie tun.« Minolin senkte den Blick und antwortete tonlos: »Ja, Her rin.« Quenthel merkte, daß auch keine der anderen von ihren Worten überzeugt zu sein schien. »Ihr widert mich alle an«, sagte sie. »Wir entschuldigen uns, Herrin«, sagte Jyslin. »Ich erinnere mich an meine Ausbildung«, sagte Quenthel. »Wenn eine Novizin Anzeichen von Feigheit oder Ungehor sam erkennen ließ, ließ meine Schwester Triel sie für einen Zehntag fasten und für weitere Zehntage ranzigen Dreck essen. Ich sollte eigentlich mit euch das gleiche machen, aber da Arach-Tinilith angegriffen wird, brauche ich meine Leute leider stark und satt. Auch wenn ihr euch alle dafür schämen solltet, erlaube ich euch eine weitere Pause. Ihr könnt euch den Bauch vollschlagen, und ich will hoffen, daß es euer Rückgrat stärkt. Sonst werden wir feststellen, wie viele von euch ich prügeln muß, ehe der Rest aufhört zu quengeln und zu jammern. Los.« Sie führte sie in einen Klassenraum, wo der Küchenstab ei nen Tisch aufgestellt hatte. Sie hatte angewiesen, ein kaltes Essen zuzubereiten und es an verschiedenen Stellen im Tempel zu deponieren, damit die müden Wachposten sich von Zeit zu Zeit stärken konnten, und die Köche hatten ganze Arbeit geleistet. Auf einem Silbertablett lagen rosefarbene und brau ne Scheiben Rothé-Steak in einer gelbbraunen Marinade, deren Aroma mit dem in Arach-Tinilith allgegenwärtigen Duft von Weihrauch wetteiferte. Auf anderen Tabletts und in Schüsseln lagen rohe Pilzstücke in einer cremigen Soße sowie ein Salat aus gewürfelten schwarzen, weißen und roten
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Schwämmen, während die Krüge Wein enthielten, der auf Quenthels Anordnung hin verwässert worden war. Sie hoffte, daß der Alkohol jenen Mut machte, denen Lolths Abwesen heit und die Angriffe in den beiden vorangegangenen Nächten Angst machte. Aber sie wollte auch nicht, daß sich die Vertei diger des Tempels betranken und handlungsunfähig waren. Einige von Quenthels Untergebenen stürzten sich auf das Essen, als hielten sie es für ihre Henkersmahlzeit. Andere, die sich ihres Schicksals wahrscheinlich genauso gewiß waren, wirkten so angespannt, daß sie kaum einen Bissen herunterbe kamen. Die Herrin der Akademie vermutete, daß sie zwar beabsich tigte, die Nacht zu überleben, dennoch zur letzteren Gruppe zu gehören schien. Ihr Magen war nicht in der besten Verfassung, und die vielen Stunden nervösen Wartens hatten ihr jeglichen Appetit genommen. Komm schon, dachte sie. Bringen wir es hinter uns. Das Wesen reagierte nicht auf ihr stummes Flehen. Sie spürte, daß ihre Kehle etwas trocken war, sah, daß Jyslin ihr einen Blick zuwarf, und sagte: »Schenk mir einen Becher ein.« »Ja, Herrin.« Die Novizin erledigte den Auftrag mit bemerkenswerter Munterkeit. Sie schenkte den silbernen Kelch voller ein, als es in vornehmen Kreisen angemessen war, doch von einer Bür gerlichen erwartete Quenthel nichts anderes. Die Baenre nahm den Becher mit einem Nicken an und hob ihn an den Mund. Ihre Fangzahnpeitsche hing in der Schleife aus Lindwurm haut, die durch den Griff gezogen war, von ihrem Handgelenk. Sie spürte plötzliche Beunruhigung über die psionische Ver bindung branden, die sie mit den Vipern verband. Im gleichen
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Augenblick bäumten sich die Schlangen auf und schlugen ihr den Kelch aus der Hand. Sie starrte die Vipern verblüfft an. »Gift«, sagte Yngoth, dessen Augen mit den schlitzartigen Pupillen in ihren schuppigen Höhlen funkelten. »Wir haben es gerochen.« Quenthel sah sich um. Ihre Anhänger hatte die Worte der Schlange gehört und starrten sie und die Vipern bestürzt an. Sie schienen bester Gesundheit zu sein, doch sie vertraute den Vipern und wußte, daß das nicht so bleiben würde. »Übergebt euch!« sagte sie. »Jetzt!« Sie hatten keine Chance, den Befehl zu befolgen. Fast gleichzeitig fielen sie dem Gift zum Opfer, taumelten und bra chen zusammen. Einige würgten reflexartig, als die Wirkung des Gifts sie ereilte, doch es half nichts. Sie verloren wie die anderen ihr Bewußtsein. Quenthel nahm die Peitsche zur Hand, sah in alle Richtun gen und forderte die Schlangen auf, das gleiche zu tun. Ihr war klar, daß ihre dämonischen Angreifer die zahlreichen Herr schaftsgebiete der Göttin repräsentieren sollten, deshalb würde früher oder später der nächste »Assassine« auftauchen. Doch sie war so dumm gewesen, zu glauben, daß sich der Angriff in ähnlich offensichtlicher Weise abspielen würde, wie es bei der »Spinne« und der »Finsternis« der Fall gewesen war. Sie hatte nicht erwartet, daß es zu einer Hinterlist und damit zu dem Versuch kommen würde, sie zu vergiften, auch wenn diese Taktik rückblickend durchaus Sinn ergab. Die Frage war, ob der Dämon alles getan hatte, was er ge plant hatte, oder ob er auf eine andere Weise zuschlagen wür de, nachdem dieser erste Angriff fehlgeschlagen war. Aus westlicher Richtung hörte sie jemanden schreien. Der Schrei hallte in den steinernen Gängen wider. Quenthel hatte die Antwort auf ihre Frage bekommen, und es war die, die sie
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auch erwartet hatte. Ihr Herz raste, ihr Mund fühlte sich noch ausgetrockneter an, und ihr wurde klar, daß sie keineswegs darauf versessen war, diesem neuen Eindringling gegenüberzutreten, ganz bestimmt nicht ohne die Unterstützung durch ihre persönliche Wache. Aber sie war die Herrin in diesen Hallen, und es war genauso undenkbar, die Flucht zu ergreifen und einem Eindringling ungehinderten Zugang zu ihrem Reich zu verschaffen. Abgesehen davon: Wenn sie floh, würde das verfluchte Ding sie vermutlich ohnehin verfolgen. Sie ließ ihre besiegte Patrouille mit den auf dem Boden ver streut liegenden magischen Waffen hinter sich zurück und machte sich auf den Weg in die Richtung, aus der der Lärm gekommen war. Sie rief nach anderen Untergebenen, damit die zu ihr stießen, doch niemand reagierte. Nach einer knappen Minute betrat sie eine lange Galerie, deren Wandschnitzereien die Geschichte Lolths erzählten, die sich bereits zugetragen hatte und die prophezeit wurde: ihre Verführung Corellon Larethians, der obersten Gottheit der verachtenswerten Elfen der Welt an der Oberfläche, ihre Uni on und ihr erster Versuch, ihn zu stürzen, die Entdeckung ihrer Spinnengestalt und ihren Abstieg in den Abgrund, ihre Erobe rung des Dämonennetzes und ihre Adoption der Drow als das auserwählte Volk, dazu ihre zukünftigen Siege über alle Götter und der Aufstieg über die gesamte Schöpfung. Eine Silhouette, die Farbe und Form – Humanoider, Vier füßler, Klecks, Wurm, eine Ansammlung von Stacheln – von einem Moment zum nächsten veränderte, tauchte in dem Torbogen am anderen Ende der Halle auf. Irgendwie nahm das Ding Quenthel wahr und schrie. Die Stimme hörte sich an wie ein an- und abschwellender, kakophonischer Mischmasch aus jedem Geräusch, das sie je gehört hatte, und einigen, die ihr
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völlig fremd waren. In diesem ersten dissonanten Aufheulen nahm sie das Schrillen einer Pfeife, das Grunzen einer Rothé, das Schreien eines Säuglings, Wasserplätschern und das Knis tern von Feuer wahr. Quenthel erkannte in dem Dämon die massive Bedrohung, die er darstellte, doch für einen kurzen Augenblick war sie weniger um ihre Sicherheit besorgt als vielmehr überrascht. Gift wies auf einen Assassinen hin, doch der Dämon, dem sie nun gegenüberstand, verkörperte das Chaos. Der Geist machte sich auf den Weg durch die Galerie, die Wände beulten sich, flossen ineinander und änderten ihre Farbe, während er sich weiter vorwärtsbewegte. Quenthel griff in den Lederbeutel, der an ihrem Gürtel hing, und holte eine Schriftrolle heraus, als etwas sie heftig im Genick traf.
Ryld sah sich in dem Raum um. Nach dem abgesenkten Be reich in der Mitte des Bodens zu urteilen hatte dieser in Rui nen daliegende Ort in einer anderen Ära als Trinkgrube ge dient – als eines jener primitiven Etablissements, in das sich Dunkelelfen jeder Herkunft begaben, um für ein paar Stunden Kasten und Würde zu vergessen, scharf gebrannten Alkohol zu kippen und Unterkreaturen zuzusehen, die einander in Wett kämpfen abschlachteten, die oft so besetzt waren, daß sie einen komischen Aspekt erhielten. Mit anderen Worten: Nach den Maßstäben des eleganten Menzoberranzan wäre es ein primitiver Ort gewesen, doch seit die Goblinoiden ihn übernommen hatten, hatte er an Primiti vität noch zugenommen. Dutzende, wenn nicht Hunderte von ihnen drängten sich in dem Raum, der – je nach Rasse grund legend andere – Gestank, der von den ungewaschenen Kör pern ausging und sich vermischte, war ekelerregend. Das laute
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Geplapper ihrer diversen rauhen, gutturalen Sprachen war fast genauso unangenehm. Es war so laut, daß es die rhythmischen Schläge übertönte, die durch die Decke drangen. Aber natür lich spielte der zerlumpte Gnoll-Trommler auf dem Dach nicht für die, die sich bereits im Inneren befanden, sondern zur Ori entierung jener, die noch auf dem Weg waren. Zu Rylds Überraschung stammte eine beträchtliche Anzahl von Kreaturen von außerhalb des Braeryn. Er erkannte schlichte, aber relativ saubere und unversehrte Kleidung, die auf Ostmyr hindeutete, und sogar Livreen, stählerne Kragen, Handfesseln, vernarbte Peitschen- und Brandwunden – die Stigmata der Knechte, die sich aus dem wohlhabenden Haus halt ihrer Meisterinnen fortgeschlichen hatten. Die, die von außerhalb des Bezirks stammten, konnten wegen der magi schen Dämpfer die Trommel nicht gehört haben, folglich muß te sich jemand zu ihnen begeben haben, um sie zu informieren. Die Meister Tier Breches, die sich immer noch magisch als Orks tarnten, dabei aber darauf geachtet hatten, daß sie nicht an die zwei erinnerten, die die Grottenschrate überlistet hat ten, saßen in eine Ecke gedrängt, um zu beobachten, was sich wohl abspielen würde. Überzeugt davon, daß niemand ihn bei dem Umgebungs lärm hören würde, beugte sich Ryld zu Pharaun hinüber und sagte: »Ich glaube, das ist nur eine Feier.« »Siehst du etwa irgendjemanden, der hier feiert?« erwiderte Pharaun. Sein neues Schweinsgesicht hatte eine gebrochene Nase und einen Stoßzahn. »Nein. Dann wären sie ausgelasse ner. Sie warten auf etwas, und sie können es kaum erwarten. Sieh nur, wie diese weiblichen Goblins schwatzen und ihre Flasche herumreichen.« Pharaun wies mit einem Kopfnicken auf ein Trio verdreckter, krummbeiniger Kreaturen mit plattem Gesicht und fliehender Stirn. »Sie beben vor Vorfreude. Wenn
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sie nach Beendigung dieser Zusammenkunft immer noch so fröhlich sind, könnte es sein, daß wir in ihren behaarten, miß gestalteten Armen Trost für unsere Enttäuschung suchen.« Ryld schnaubte, da er sicher war, daß sein Freund scherzte, doch ... dann wurde ihm klar, daß er sich doch gar nicht so sicher war. »Hattest du ein Verhältnis mit einer Goblinfrau?« »Ein wahrer Scholar ist immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen. Außerdem – welchen Sinn hat es, ein Drow zu sein, ein Fürst des Unterreichs, wenn man nicht die Sklaven rassen bis auf das äußerste ausnutzt?« »Hmm, ich muß zugeben, daß sie womöglich nicht schlim mer sind als so manche Priesterin, die von einem verlangt, vor ihr zu Kreuze zu kriechen und alles zu tun, was sie ...« »Pssst.« Die Trommel war verstummt. »Irgendetwas passiert«, setzte Pharaun hinzu. Ryld sah, daß sein Freund recht hatte. Bewegung ging durch die Menge, die wie aus einem Munde zu rufen begann: »Pro phet! Prophet! Prophet!« Der Meister Melee-Magtheres wußte nicht, was er als nächstes zu sehen erwartet hatte, aber ganz sicher war es nicht die Gestalt in dem unscheinbaren Umhang mit Kapuze gewe sen, deren Oberkörper die wartende Menge deutlich überragte. Vielleicht war sie auf einen Tisch oder eine Bank gestiegen, oder aber er hatte sich einfach in die Lüfte erhoben, denn dieser »Prophet«, der ganz offensichtlich von den niederen Orden geliebt wurde, schien ein gutaussehender männlicher Drow zu sein. Der Prophet ließ seine Anhänger noch etwa eine Minute schreien und skandieren, dann hob er die schlanken Hände, und allmählich verstummten sie. Pharaun beugte sich wieder
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weit zu Ryld hinüber. »Es ist möglich, daß er in Wahrheit keiner von uns ist«, sag te der Magier. »Er ist in gewisser Weise getarnt, wie wir auch. Aber sein Zauber bringt jeden Betrachter dazu, ihn in einem vorteilhaften Licht zu sehen. Ich kann mir vorstellen, daß die Goblins ihn als Goblin sehen, während die Gnolle ihn als einen der ihren sehen und so weiter.« »Was steckt hinter der Illusion?« »Ich weiß nicht. Es ist ein ungewöhnlicher Zauber, den ich noch nie gesehen habe. Ich kann nicht hindurchsehen, aber ich nehme an, daß wir jeden Augenblick von seinen Absich ten hören werden.« »Meine Brüder und Schwestern«, sagte der Prophet. Seine Stimme ließ abermals Jubel aufkommen, und er war tete, bis er erstarb. »Meine Brüder und Schwestern«, wiederholte er. »Seit der Gründung dieser Stadt haben die Menzoberranzanyr unsere Völker in Fesseln oder unter unwürdigen Bedingungen gehal ten. Sie lassen uns arbeiten, bis wir an Erschöpfung sterben. Sie foltern und töten uns, wenn ihnen danach ist. Sie ver dammen uns zu hungern, zu erkranken und in Armut zu le ben.« Das Publikum stimmte grölend zu. »Ihr seid Zeuge unseres Elends, ganz gleich, wohin ihr auch blickt«, fuhr der Redner fort. »Gestern ging ich durch Viel volk. Ich sah ein Hobgoblin-Mädchen, höchstens fünf oder sechs Jahre alt, das versuchte, den Rest eines Pilzes von der Straße aufzulesen – mit den Zähnen! Weil seine Hände ihm nicht helfen konnten. Irgendein Drow hatte sie hinter dem Rücken des Kindes magisch miteinander verschmolzen, damit die Kleine als Krüppel leben und sterben muß!« Die Menge stieß einen wütenden Aufschrei aus, obwohl die
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Rassen, denen sie angehörten, für gewöhnlich zu gleicherma ßen grausamen Foltermethoden griffen, auch wenn sie dabei weniger Phantasie walten ließen. »Ich ging durch Narbondellyn«, fuhr der Prophet fort. »Dort sah ich einen Ork, der bewegungsunfähig gemacht wor den war und auf der Erde lag. Ein Drow schlitzte seine Brust auf, zog die Hautlappen zur Seite und sägte einige Rippen durch. Dann pfiff er, damit seine Reitechse zu ihm kam und die inneren Organe des noch lebenden Knechts fraß. Einem Be gleiter erklärte der Drow, er gebe dem Reptil alle Zehntage eine solche Mahlzeit, weil das Tier dann schneller laufe.« Das Publikum heulte vor Zorn. Eine Orkin wurde von ihrer Wut derart mitgerissen, daß sie sich Wangen und Stirn mit Glasscherben zerschnitt. Die Litanei der Grausamkeiten nahm kein Ende, der Pro phet beschrieb eine Greueltat nach der anderen. Mit der Zeit merkte Ryld, daß ein seltsames Gefühl von ihm Besitz zu er greifen versuchte. Er wußte, daß es keine Schuld sein konnte – kein Drow war in der Lage, diesen lächerlichen Gemütszustand zu empfinden –, aber vielleicht war es so etwas wie Scham, eine Abscheu vor der Verschwendung und der Kinderei, die sich in dem Mißbrauch manifestierte, den man in Menzober ranzan mit diesen Unterkreaturen trieb und das Verlangen, diese Zustände abzustellen, wenn er es könnte. Natürlich war das ein irrationales Gefühl. Die Goblins und ihre Verwandten existierten ausschließlich zum Vergnügen der Drow. Wenn man einen von ihnen beschädigte, fing oder kaufte man einfach einen neuen. Der Waffenmeister mußte den Kopf schütteln, um ihn von diesen untypischen Gedanken zu befreien, dann sah er zu Pharaun. Obwohl der Magier unter der Ork-Maske verborgen war, konnte man ihm sein Vergnügen ansehen.
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»Hast du dich schon entschlossen, dein Verhalten zu än dern?« »Ich darf annehmen, daß du den Einfluß auch spürst«, sagte Ryld. »Was läuft hier?« »Der Magier hat seine Rhetorik durch Magie verstärkt, und abermals in einer Art und Weise, die mir nicht klar ist.« »Gut, aber was soll das ganze Gejammer?« »Ich vermute, das wird er uns noch sagen.« Der Redner führte seine Auflistung grausamer Beispiele noch eine ganze Weile weiter, bis sich die Masse am Rand einer Hysterie bewegte. Dann rief er: »Aber so muß es nicht sein!« Die Unterkreaturen johlten, und einen Moment lang fühlte Ryld, wie die magisch ausgelöste Abscheu in unbändigen Blut durst umschlug. Dann gelang es ihm, diese Gefühle zu ver drängen. »Wir können uns rächen! Vergeltet jede Verletzung tau sendfach! Unterwerft die Drow, damit sie unsere Sklaven wer den! Wir werden uns in Seide und Goldbrokat kleiden und sie nackt umherlaufen lassen, wir laben uns an üppigen Speisen und geben ihnen Abfall zu fressen! Wir plündern Menzober ranzan, und anschließend können die von uns, die zu ihrem eigenen Volk zurückkehren wollen, dies tun und dabei nach Belieben Schätze mitnehmen, während der Rest von uns über die Höhle herrscht, die dann uns gehört!« Wohl kaum, dachte Ryld. Er drehte sich um, weil er Pha raun genau das sagen wollte, und blinzelte überrascht. Der Magier sah aus, als nähme er diese Haßtiraden ernst. »Sie machen nur ihrem Groll in Form eines Wunschtraums Luft«, flüsterte der Krieger. »Sie würden es nie wagen, außer dem würden wir sie im Handumdrehen zerschlagen.« »Das sollte man annehmen«, erwiderte Pharaun. »Komm,
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ich will mir das näher ansehen.« Sie begannen, sich vorzudrängen. Einige der Zuschauer wa ren eindeutig nicht damit einverstanden, daß sich jemand an ihnen vorbeidrängelte, und Ryld mußte sogar einen Hobgoblin auf den Boden der versunkenen Arena stoßen, um weiterzu kommen. Niemand störte sich aber daran, da auch etliche andere versuchten, sich diesem charismatischen Führer zu nähern. Der Prophet fuhr fort: »Ich danke euch für eure Arbeit und eure Geduld, doch schon bald werden wir den Lohn ernten können. Die Kunde von unserer Revolte ist in allen Straßen und Gassen verbreitet worden. Überall sind unsere Krieger, und jeder von euch weiß, was zu tun ist, wenn der Ruf erschallt. Die Drow ahnen von alledem nichts! Ihre Arroganz macht sie selbstgefällig, sie werden nichts ahnen, bis es zu spät ist, bis der Ruf erklingt, wir uns wie ein Mann erheben – und sie verbrennen!« Ryld und Pharaun waren weit genug nach vorn gekommen, um sehen zu können, wie der Prophet einen Stab aus Sand stein aufhob und ein Ende mit Öl bedeckte, das aus einer Ke ramikflasche lief. Der Stab flammte gelb und knisternd auf, als bestünde er aus trockenem Holz, jenem exotischen und leicht entzündlichen Material der Welt an der Oberfläche. Der Meis ter Melee-Magtheres kniff die Augen zusammen, als die Flam me so unerwartet und grell aufloderte. »Bei den Augen Lolths!« rief Pharaun aus. »Netter Trick«, meinte Ryld. »Aber für deinen Standard doch nichts Besonderes.« »Ich meine nicht das Feuer, sondern die beiden Grotten schrate hinter dem Propheten.« »Wohl seine Leibwächter. Was ist mit ihnen?« »Das sind Tluth Melarn und ein gewisser Alton der Schus
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ter, zwei der Flüchtigen. Sie sind auch unter Illusionsschleiern verborgen, aber von einer simpleren Art. Ich kann hindurch sehen.« »Ist das dein Ernst? Wieso helfen Drow – auch wenn sie ge flohen sind – dabei, einen Aufstand der Sklaven anzuzetteln?« »Vielleicht erfahren wir das, wenn wir dem Propheten und seinem Gefolge nachgehen, wenn er aufbricht.« »Ich habe euch gelehrt, wie man die Feuerkrüge benutzt«, sprach der Redner weiter. »Meine Freunde und ich haben genug davon mitgebracht.« Er wies auf mehrere schwebende Truhen. »Nehmt sie und versteckt sie, bis der Tag der Abrech nung da ist.« Die hellen Klänge eines Glaur-Horns aus Messing schallten durch die Luft. Einen Moment lang war Ryld verwirrt und glaubte, der »Ruf« – was immer das auch sein mochte – er klänge, dann sagte ihm ein Gefühl der Panik – oder zumindest die Erinnerung daran –, was die Trompete tatsächlich verkün dete. Nach ihrem Geplapper und den hektischen Blicken zu urteilen wußten die Goblins es auch. »Was ist das?« fragte Pharaun. »Du bist Adliger von Geburt«, erwiderte Ryld und nahm eine Spur alter Verbitterung in seiner eigenen Stimme wahr. »Bist du nie auf die Jagd im Braeryn gegangen und hast jeden getötet, den du erwischen konntest?« Der Magier lächelte und sagte: »Jetzt, wo du es sagst. Aber das ist lange her. Mir kommt gerade in den Sinn, daß dies wahrscheinlich Greyannas Werk ist. Wirklich keine schlechte Taktik, auch wenn sie viel unnötige Bewegung erfordert. Nachdem ich uns abgeschirmt hatte, konnten sie unsere Posi tion nicht mehr ausmachen, doch sie wußten, daß unsere Mis sion uns in den Braeryn bringen würde. Also haben sie einen Jagdausflug organisiert. Der Gedanke dahinter ist, daß die
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allgemeine Aufregung uns aus unserem Versteck scheuchen wird, damit wir in Panik durch die Straßen rennen werden, wo sich ihre Chancen deutlich bessern, uns ausfindig zu machen.« »Das ist noch nicht alles«, fügte Ryld an und stellte sich, daß seine Schwerter locker in den Scheiden saßen, um sie sofort ziehen zu können. »Deine Schwester stellt uns vor die Wahl, unsere Illusion aufrechtzuerhalten, so daß wir von unse ren eigenen Leuten gejagt werden, oder den Schleier abzulegen und uns damit dem Zorn der Unterkreaturen auszusetzen. So oder so könnte uns jemand für sie töten.« Der Prophet hob die Hände, um für Ruhe zu sorgen, und die Unterkreaturen wurden leiser. »Freunde, in wenigen Augenblicken werden wir uns auftei len, so wie wir es immer machen müssen. Doch ehe ihr auf brecht, nehmt die Feuerkrüge. Sobald die Gefahr vorüber ist, verteilt die Waffen an die, die nicht anwesend sein konnten, und berichtet ihnen von der Zusammenkunft. Denkt an eure Rolle und wartet auf den Ruf. Nun geht!« Einige Rebellen stürmten sofort los, doch mindestens die Hälfte der Anwesenden blieben noch lange genug, um ein oder zwei der Behältnisse aus den schwebenden Kisten zu nehmen. Ein Ork verlor im Gedränge den Halt und begann zu schreien, als ihn andere Goblinoide in ihrer Eile niedertram pelten. Währenddessen zogen sich der Prophet und seine Leibwächter durch eine Tür in der hinteren Wand zurück. »Wollen wir?« fragte Pharaun und schritt hinter ihnen her. »Was ist mit Greyanna und all den Jägern?« fragte Ryld. »Mit denen befassen wir uns, wenn es notwendig wird, aber ich will verdammt sein, wenn ich mich in einem Loch verste cke, während zwei der Jungs, nach denen wir so angestrengt gesucht haben, einfach in die Nacht entkommen.« Die Meister traten auf die Straße. Das Braeryn war vom
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Echo weiterer Trompetenstöße, von den Kampfrufen der Drow und den Schreien der Unterkreaturen erfüllt. Die Lehrer folgten dem Propheten und den beiden Flüchti gen einen halben Block weit. Das Trio ging zügig, ließ aber keine Anzeichen von Panik erkennen. Offenbar waren sie sich sicher, daß sie den Jägern entkommen würden. Ryld fragte sich wieso. Dann aber gab die Nacht ihm andere Dinge zum Nachden ken. Er und Pharaun passierten ein Haus, vor dem mehrere schreiende Goblins gegen die Vordertür aus Granit schlugen. Während der Jagd war es übliche Praxis, daß die Bewohner eines Hauses niemanden einließen ausgenommen derer, die dort tatsächlich wohnten. Anderenfalls wären die ohnehin schon überfüllten Räumlichkeiten von einem Ansturm ver ängstigter Gejagter überschwemmt worden, der die Bewohner niedergetrampelt hätte. Außerdem hätte ein solcher Ansturm ein Haus zu einem noch interessanteren Ziel gemacht. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Dann hörte Ryld, wie sich die kleinen Kreaturen mit ihren langen Armen von dem Gebäude abwandten, aufschrien und losliefen, daß die Erde unter ihren Füßen unter den trampeln den Schritten bebte. Ryld hatte keine Ahnung, warum die Goblins plötzlich ihm und Pharaun nachrannten. Vielleicht hatten sie sie mit Be wohnern des Hauses verwechselt, das ihnen soeben den Zutritt verwehrt hatte, und glaubten jetzt, angemessene Ziele vor sich zu haben, an denen sie sich rächen konnten. Vielleicht woll ten sie aber auch nur ihre Wut und Hilflosigkeit an jemandem auslassen. Der Grund war völlig unbedeutend. Die Schläger konnten es mit den Meistern Tier Breches nicht aufnehmen und wür
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den von den Dunkelelfen im Handumdrehen getötet werden. Ryld zog Splitter und ging in Abwehrstellung, während er die behelfsmäßigen Waffen seiner Angreifer betrachtete und feststellte, daß sie über keinerlei Panzerung verfügten. Es war wirklich lächerlich, und zwar so sehr, daß die nächsten Sekun den fast langweilig sein würden. Zwei Goblins teilten sich auf, versuchten, ihn in die Zange zu nehmen. Er sprang vor und holte mit Splitter einmal nach links und einmal nach rechts aus. Die Unterkreaturen gingen zu Boden, eine ließ ihr Brecheisen fallen, das scheppernd auf der Straße aufschlug, während die andere ihren Hammer fest hielt. Die zwei nächsten Kreaturen zögerten. Sie hätten sich um drehen und fliehen sollen, weil Ryld nicht dastehen und ab warten konnte, ob sie sich nun zum Kampf entschließen wür den oder nicht. Der Prophet und die Flüchtigen entfernten sich mit jeder Sekunde weiter. Er trat vor und ließ Splitter niedersausen. Einer der Goblins, der ein Kurzschwert besaß und offenbar ein wenig Kampftrai ning genossen hatte, hob die Waffe, um zu parieren. Doch es half nichts. Splitter zerschmetterte die Klinge und schnitt mitten in den Torso des Angreifers. Mit einem Messer in der Hand duckte sich der vierte Goblin hinter seinen Gegner. Ryld spürte, wo er sich befand, und trat aus. Sein Stiefel traf genau ins Ziel, brach Knochen, und als er sich umdrehte, lag die Kreatur reglos da. Vermutlich war sie tot, oder ihr Rückgrat war gebrochen. Ryld sah sich auf dem Schlachtfeld um und riß die Augen auf. Auch Pharaun lag am Boden. Drei Goblins kauerten auf krummen Beinen über ihm. Eine der Gestalten hielt einen eisernen Dorn, der als Dolch diente. Seine Spitze war blutig.
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Ryld stieß einen Kriegsschrei aus und stürmte auf die drei los, die gegen ihn keine Chance hatten. Dann kniete er neben seinem Freund nieder. Unter dem eleganten Piwafwi war zu sehen, daß Pharauns makelloses Gewand zwei Löcher aufwies und daß der Stoff vom Brustbein bis zu den Oberschenkeln dunkel verfärbt und feucht war. »Ich habe sie erst einen Moment nach dir kommen hören«, keuchte der Magier. »Ich habe mich nicht schnell genug um gedreht.« »Keine Angst«, sagte Ryld. »Alles wird gut.« In Wahrheit war er sich da nicht so sicher. »Der Goblin hat durch die Lücke zwischen den Schößen meines Umhangs gestochen. Der kleine Bastard hat mich verletzt, was Greyanna und ihren Gefolgsleuten nicht gelang. Ist das nicht lächerlich?«
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Als Quenthel beschlossen hatte, sie müsse Rüstung anlegen, hatte sie diese Aufgabe so methodisch erledigt wie alles andere auch. Sie hatte unter ihrem Kettenhemd und dem Piwafwi eine meisterlich gearbeitete Halsberge aus Diamantspat umgelegt, ein Baenre-Erbstück, und es war anzunehmen, daß dieser schützende Kragen ihr das Leben gerettet hatte. Trotzdem hatte der überraschende Schlag ins Genick sie nach vorn geschleudert und auf ein Knie niedergehen lassen. Der Hand ihres verzauberten Schildes schlug auf den Boden auf. Einen Moment lang war sie benommen. Die Peitschenvi pern zischten und lärmten, um sie hochzujagen. Ihr Ausbruch kollidierte mit dem Geheul des sich nähernden Chaosdämons. Sie fühlte, daß etwas auf ihrem Rücken hing, und wies die Schlangen an, es wegzuziehen. Hsiv sah über ihre Schulter, zog
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den Gegenstand mit dem Maul aus dem Kettenhemd und dem Stoff, dann zeigte er es ihr, damit sie es begutachten konnte. Sie erkannte es aus dem Waffenlager wieder. Es war ein ver zauberter Bolzen für eine Arbalest, die man mit beiden Hän den halten mußte. Der Bolzen wirkte fast mit Sicherheit töd lich, wenn er die Haut einer Drow auch nur anritzte. Quenthel vermutete, daß ihr Angreifer Zeit genug gehabt hatte, um nachzuladen. Wenn dem so war, dann konnte die Baenre nicht auf ihren Umhang und auf das Kettenhemd ver trauen, daß sie sie beschützen würden. Der erste Bolzen hatte beides schließlich so gut wie mühelos durchbohrt. Auch wenn es bedeutete, dem Dämon den Rücken zuzudre hen, wandte sie sich um, blieb nach wie vor auf einem Knie, um weniger Angriffsfläche zu bieten, und tat ihr möglichstes, damit sie sich hinter ihrem winzigen Schild verstecken konn te. Gerade noch rechtzeitig. Fast gleichzeitig prallte ein zweiter Bolzen gegen die Rüstung. Eine schattenhafte, aber eindeutig weibliche Gestalt zog sich rasch in einen Türbogen zurück, zweifellos um nachzuladen. Quenthel saß in der Falle. Sie war überzeugt, daß es ihr En de sein würde, wenn es ihr nicht gelang, einen der beiden so schnell wie möglich auszuschalten. Sie sah in der Drow das leichtere Ziel und richtete einen langen, dünnen Stab auf sie. Eine Blase aus brodelndem grünem Vitriol materialisierte vor ihr in der Luft und schoß auf ihre Gegnerin zu. Quenthel konnte nur einen kleinen Teil des Körpers ihrer Widersacherin im Schatten des Torbogens sehen, doch genau darauf hatte sie gezielt. Selbst wenn sie nicht traf, würde die Magie die Angrei ferin massiv behindern. Die grüne Masse streifte die Schulter ihrer Gegnerin. Sie explodierte, und die finstere Gestalt machte einen Satz. Der
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Stein um sie herum war mit einer Masse bedeckt, die eine Art Leim darstellte. Quenthel lächelte, doch ihre Widersacherin war allem Anschein nach von der fesselnden Magie in keiner Weise in ihrer Bewegung eingeschränkt, sondern legte wieder an. Irgend etwas – vielleicht die jeder Drow eigene Resistenz gegen feindselige Magie – hatte sie vor dem Zauber geschützt. Quenthel sah über die Schulter, während sie den Stab zu rück in den Gürtel schob. Auch wenn er sich nur langsam voranbewegte, hatte der Chaosdämon mehr als die halbe Stre cke durch die Galerie zurückgelegt, und jeden Moment konnte er sein Tempo erhöhen, so wie sich auch jeder andere Aspekt seiner Existenz unvorhersehbar von einer Sekunde zur nächs ten änderte. Doch wenn die Spinnenkönigin auf Quenthels Seite war und das Wesen nicht schneller wurde, hatte sie vielleicht noch Zeit für einen weiteren Schlag gegen ihre Feindin aus Fleisch und Blut. Stumm wies sie die Vipern an, den Dämon im Auge zu behalten, dann drehte sie sich um und las von einer der kostbaren Schriftrollen. Als Quenthel die letzte Silbe sprach, verschwand die Rolle in einer Staubwolke, und ein gleißendes Licht erfüllte den Raum. Die Drow in dem Türbogen taumelte und versuchte blindlings, sich irgendwo festzuhalten. Dabei berührte sie die langsam herabtropfende Masse und zog hastig die Finger weg, deren Haut dabei aber abgerissen wurde. Quenthel wollte die nächste Schriftrolle ablesen, als sich die Luft um sie herum zu regen begann und Wind mal aus der einen, mal aus der anderen Richtung kam. Die Luftströme, die heiß und im nächsten Moment eiskalt waren, trugen unzählige Gerüche mit sich, angenehme wie faulige. Sie nahm das als Zeichen, daß der Dämon ihr sehr nah gekommen war, was durch die Warnung der Vipern bestätigt wurde.
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Dennoch wollte sie erst ihre unterlegenere Widersacherin erledigen, ehe die junge Frau Gelegenheit bekam, wieder etwas Um sich herum zu erkennen. Sie vollendete den Zauber, wor aufhin sich die präzise geschriebenen Schriftzeichen wie heiße Kohle durch das Pergament brannten. Vom Ellbogen abwärts begann der linke Arm der Frau anzu schwellen und verwandelte sich in eine riesige schwarze Spin ne mit grünen Zeichnungen auf dem glänzenden Rücken. Sie war nach wie vor mit dem restlichen Körper verbunden, als sie einen Satz an die Kehle der Frau machte und ihre Beißzangen in das Fleisch bohrte. Quenthel fuhr herum. Mal malvenfarben mit goldenen Punkten, dann weiß, dann je zur Hälfte rot und blau ragte der Dämon über ihr auf. Meist wirkte er flach, wie ein Loch in ein anderes, leuchtendes, tosendes Universum, während ein Beob achter nur jenen sich ständig verändernden Umriß sah, von dem er auf die Form schließen konnte. Innerhalb von Sekun den schien sich diese Form von der gigantischen Schere einer Krabbe in eine Kutsche mit Fahrer und dann in einen wirbeln den Staubteufel zu verwandeln. Der dahintergelegene Teil der Galerie erinnerte an einen Tunnel, den man aus schmelzen dem regenbogenfarbenen Modder gehauen hatte – bis auf einen kleinen Abschnitt. Der wirkte unverändert, bis Quenthel erkannte, daß die Schnitzereien auf den Kopf ge stellt worden waren. Die Hohepriesterin kam auf die Beine. Während sie in ihrer Tasche nach einer weiteren Rolle kramte, baumelte ihre Gei ßel von ihrem Handgelenk. Die Vipern wanden sich und zuck ten. Der Chaosdämon wechselte von Ocker zu einem Muster aus schwarzen und weißen Streifen, während sich seine Gestalt von einem einfachen gleichschenkligen Dreieck in die eines
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Ogers wandelte. Der Schrei war eine Mischung aus Schreien und Muhen, während er mit seinem neugeschaffenen Knüppel ausholte. Quenthel fing den Schlag mit ihrem Schild ab. Zu ihrem Erstaunen verspürte sie keinen Aufprall. Jedoch nahm ihr Schild eine blaue Färbung an, wurde rechteckig und war mit einem Mal um ein Vielfaches schwerer als zuvor. Das überraschende Gewicht zog sie mit sich zu Boden. Der Eindringling, der sich in eine schäumende Welle verwandelt hatte, rollte auf sie zu. Sie zerrte daran, doch ihr Schildarm wollte sich nicht aus den Gurten lösen. Der Dämon wechselte von Magenta zu Braun mit schar lachroten Tupfen und kam bis auf wenige Zentimeter an ihren Fuß heran. Quenthels Stiefel begann zu verdampfen, und ein heftiger Schmerz jagte durch ihr Bein. Dann endlich bekam sie die Hand frei und warf sich nach hinten. Sie rollte sich weg von dem Dämon, wobei ihr Ketten hemd auf dem Fußboden leise klimperte. Als sie genügend Abstand zwischen sich und ihren Gegner gebracht hatte, stand sie auf und zögerte. Einen Moment lang konnte sie den Feind nicht lokalisieren, und ihr Geist raste, um zu begreifen, was ihre Augen sahen. Der Dämon war nun grün und blau gefärbt und hatte die Form einer Sanduhr, wäh rend er nicht über den Boden, sondern über die Decke glitt. Er verfolgte sie noch immer. Von der hartnäckigen mörderischen Absicht abgesehen war an diesem Wesen absolut nichts bere chenbar. Das Heulen der Kreatur setzte für einen Augenblick aus und ging dann in ein glockenhelles kindlichen Lachen über. Quenthel packte eine Schriftrolle und rollte sie auf, als die sich überraschend in den Kieferknochen einer Rothé verän derte. Die Luft nahm einen rußigen Geruch an, und ihr nächs
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ter Atemzug verbrannte ihr fast die Lungen. Nach Luft ringend taumelte sie rückwärts davon. Sie konn te wieder atmen, doch die stechende Hitze hielt sich noch in Kehle und Brust. Sie vermutete, daß sie, wenn sie noch mehr von dieser Luft eingeatmet hätte, an der Substanz in der Luft hätte sterben können. So hatte sie die Vipern außer Gefecht gesetzt und vielleicht getötet, da sie schlaff vom Griff der Peit sche herabhingen. Sie schleuderte den Kieferknochen fort, packte eine weitere Schriftrolle und begann, den darauf enthaltenen, mächtigen Zauber zu lesen. Der Dämon, der nun wie ein Mischwesen aus Wolf und Drachen geformt war, befand sich wieder auf dem Fußboden und näherte sich, ohne die Beine zu bewegen. Ob wohl er die blaugoldene Färbung einer Flamme hatte, verbrei tete er eine solche Kälte, daß sie fürchtete, die Haut in ihrem Gesicht würde erfrieren und ihren Zauber in ein unzusammen hängendes Gestammel verwandeln. Quenthel dankte der Göttin, daß ihre eigene Ausbildung in Arach-Tinilith sie gelehrt hatte, Unbehagen zu verdrängen. Sie zwang sich, die Worte in der erforderlichen Weise zu spre chen, woraufhin eine schwarze Klinge – die wie ein großes Schwert ohne Blatt, Heft oder Heftzapfen aussah – flimmernd über ihr Gestalt annahm. Sie lächelte. Die schwebende Waffe war verheerende Ma gie, die nur den Lolth-Priesterinnen bekannt war. Quenthel hatte noch nie ein Geschöpf gesehen, das dieser Klinge etwas hatte entgegensetzen können. Zwar fühlte sich der Fußboden unter ihrem nackten Fuß immer noch kalt an, doch die Eises kälte war wieder vergangen, und sie regte sich nicht von der Stelle, während die Klinge zwischen ihr und ihrem Verfolger hing. »Weißt du, was das ist?« fragte sie. »Es kann dich töten. Es
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kann alles töten.« Sie war sicher, daß der Dämon ihre Gedanken hören konn te, also schickte sie ihm ihre Warnung: Ergib dich und sag mir, wer dich geschickt hat, sonst werde ich dich in Stücke schneiden. Der Chaosdämon, der plötzlich einen süßlichen Geruch verströmte, den sie noch nie wahrgenommen hatte und aussah wie ein riesiger, grobschlächtig aus Glimmer gehauener Frosch mit mehreren gefährlichen Zahnreihen, kam auf sie zugewat schelt. Na gut, dachte die Baenre, wähle den Weg der Dummen. Sie forderte die Klinge, die sie mit ihren Gedanken kontrol lieren konnte, zum Angriff auf. Die schlug eine klaffende Wunde in den Froschkopf und schleuderte den Dämon auf den Bauch. Die Ränder der Wunde brannten in scharlachrotem Feuer. Der Eindringling nahm eine pechschwarze Färbung an und verwandelte sich rasch in etwas, das aussah wie zwei Dutzend Hände, die aus langen, belaubten Stielen wuchsen. Die Stäm me streckten und drehten sich, als das Wesen nach dem Schwert griff. Quenthel ließ sie gewähren, da die magisch geschärfte Klin ge die Hände wie erwartet in Stücke schlug, die ringsum zu Boden fielen. Der Dämon stieß einen besonders lauten Schrei aus, der sich zum Teil anhörte wie das rhythmische Schlagen eines Hammers, der in einer Schmiede ein Stück Metall in die gewünschte Form bringt. Die Priesterin zuckte ob des Lärms zusammen, wußte aber nicht, ob die extreme Lautstärke einen Schmerzensschrei bedeutete, doch sie hoffte, daß dem so war. Der Dämon verwandelte sich in einen winzigen grünen Turm, in einer Form, die den plumpen architektonischen Vor stellungen einer minderwertigen Rasse entsprach. Eine Kraft, die den Turm umgab, zog an dem Schwert, als bestünde es aus
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Stahl und als sei die winzige Feste ein Magnet. Quenthel hatte keine Mühe, dem plötzlichen Ziehen etwas entgegenzusetzen. Es gelang ihr sogar, Stücke des Mauerwerks abzuschlagen. Der Turm öffnete sich plötzlich wie ein Sarkophag, machte einen Satz nach vorn, schluckte das Schwert und schloß sich wieder. Die Wesenheit hatte Quenthel überrascht, doch sie sah keinen Grund zur Sorge. Es mochte sich sogar als wesentlich wirksamer erweisen, wenn der Gegner von innen heraus ange griffen wurde. Sie stieß mit der Klinge zu, spürte, wie die Spitze auf Widerstand traf, und ihre psionische Verbindung zu der Waffe brach ab. Trotz ihres Schrecks griff sie reflexartig nach einer weiteren Schriftrolle. Der Dämon dehnte sich zu einer flachen, sich windenden rot-gelben Masse aus. In der Mitte entstand ein Loch, aus dem das Schwert ausgespuckt wurde. Die Waffe besaß zwar noch ihre ursprüngliche Form, doch sie wies nun die gleichen sich verändernden Farben wie der Eindringling auf, und sie konnte es noch immer nicht mit ihrem Geist erfas sen. Sie wich zurück, die Klinge folgte ihr, während der Dämon knurrend die Nachhut bildete. Das Schwert bewegte sich vor und zurück, auf und ab, und Quenthel duckte sich und wich aus. Bislang hatte sie ihm aus dem Weg gehen können, doch behinderte es sie, und die bloße Nähe bereitete ihr Schmerzen. Ihr Kettenhemd verwandelte sich in Moos und zerfiel. Ihr Fleisch pulsierte plötzlich schmerzhaft, als die Macht des Dä mons danach strebte, es zu verändern. Ein Bein wurde für ei nen kurzen Moment taub und unbeweglich, so daß sie fast hingefallen wäre. Juckende Schuppen wuchsen auf ihrer Haut und verschwanden wieder. Ihre Augen schmerzten, die Welt verwischte zu einem Durcheinander aus Schwarz, Weiß und
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Grau, dann kehrten die Farben explosionsartig zurück. Ihre Identität war im Fluß. Für einen Augenblick dachte sie die Gedanken und fühlte die sanftmütigen, fremdartigen Emotio nen einer gichtkranken menschlichen Näherin, die irgendwo an der Oberfläche lebte. Trotz dieser beunruhigenden Phänomene schaffte sie es, den Zauber auf der Rolle zu lesen und gleichzeitig der Klinge aus zuweichen. Sie war nicht sicher, wie dieses spezielle Pergament nach Arach-Tinilith gelangt war, und sie bezweifelte auch, daß eine Dunkelelfe es beschrieben hatte, denn es rief eine Macht her bei, die in ihrem Glauben als Anathema angesehen wurde. Quenthel wußte aber, daß es der Wunsch der Göttin war, daß sie jede Waffe einsetzte, die notwendig war, um ihren Feind zu besiegen. Es war sogar denkbar, daß diese Magie obsiegen wür de, wo die angeblich unbezwingbare schwarze Klinge versagt hatte. Helle, komplexe Harmonien entstanden in der leeren Luft. Ein bläulich phosphoreszierendes Licht schimmerte um sie herum, in dem sie nicht greifbare geometrische Formen aus machte, die sich in komplexen symmetrischen Mustern um einander drehten. Die kühle Ausstrahlung drückte die Macht der Ordnung und des Gesetzes aus, die Antithese zum Chaos. Das Schwert, das zu einer Erweiterung des dämonischen Willens geworden war, erstarrte wie ein Insekt im Bernstein – und auch der Dä mon regte sich nicht. Zumindest für einen Moment. Dann begann die Kreatur, sich unendlich langsam voranzuziehen, während sie sich allmählich durch die sie behindernde Magie kämpfte. Die Herrin Arach-Tiniliths war im Grunde auch ein Ge schöpf des Chaos, doch sie war sterblich und auf der stoffli
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chen Ebene geboren. Dadurch hatte der Zauber über sie keine Macht. Sie wirbelte herum und eilte zu dem Körper, der im Torbogen lag. Nur der Spinnenteil davon war noch aktiv und fraß sich durch den Rest. Das tote Mädchen entpuppte sich als Halavin Symryvvin, die überraschend umsichtig gewesen war, da sie ihren gesamten protzigen, klimpernden Schmuck abgelegt hatte, ehe sie den hinterhältigen Angriff auf sie gewagt hatte. Die Novizin hatte die Arbalest geschickt gehandhabt, wenn man ihre wunden, verstümmelten Hände berücksichtigte. Quenthel beugte sich vor, um die Waffe und den Köcher, in dem sich die restlichen verzauberten Bolzen befanden, aufzu nehmen. Sie bewegte sich vorsichtig, doch die Spinne nahm von ihr keine Notiz. Sie drehte sich um, legte einen der Bolzen ein und schoß. Als der Schaft traf, bebte der Dämon in seiner fast unbewegli chen Form, doch er starb nicht. Ihr kam der Gedanke, daß sie noch fliehen konnte, solange er festsaß, um all die treuen Untergebenen zusammenzurufen, die nicht von dem vergifteten Essen gekostet hatten, damit sie an der Spitze einer Kompanie gegen das Ding kämpfen konnte, so wie es ihr ursprünglicher Plan gewesen war. Nach den ent setzlichen Ereignissen der letzten Minuten hatte diese Vorstel lung etwas sehr Ansprechendes. Doch nach dem, was sie durchgemacht hatte, wollte sie es sein, die diesem Ungeziefer eine Lektion erteilte, was es hieß, den Klerus Lolths zu belästigen. Außerdem war es lebenswich tig, Stärke zu zeigen. Also feuerte sie die Bolzen weiter so schnell auf das Ding ab, wie der Lademechanismus der Arba lest es zuließ. Der Dämon bewegte sich gleichzeitig so mühsam auf sie zu, als bestünde er aus teilweise abgekühlter Lava. Noch vier Bolzen, noch drei. Sie betätigte den Abzug, und
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der Bolzen traf den Dämon mitten in seinen gehörnten, drei eckigen Kopf, dann hörte er auf zu existieren. Sie konnte seine Stimme noch immer hören, doch sie wuß te, das hatte nur damit zu tun, daß er so laut und langgedehnt aufgeschrien hatte. Sie schüttelte den Kopf, um ihre Ohren von dem Phantomgeräusch zu befreien, als sie einen weiteren Schatten sah, der sie aus einiger Entfernung beobachtete. »Du!« rief sie und spannte die Arbalest, um den vorletzten Bolzen einzulegen. »Komm her!« Die andere Dunkelelfe eilte davon. Quenthel verfolgte sie, war aber von dem Kampf mit dem Dämon immer noch ein wenig außer Atem, so daß es ihr nicht gelang, ihre Beute ein zuholen. Die Baenre ging weiter durch das Labyrinth aus Kammern und Fluren, bis sie um eine Ecke bog und sich drei ihrer Un tergebenen gegenüber sah. Lolth allein wußte, was ihnen wirk lich durch den Kopf ging, doch angesichts der erhobenen Arbalest und der Tatsache, daß ihre Rüstung arg ramponiert, sie selbst aber unversehrt war, salutierten sie hastig. »Ich habe den Eindringling dieser Nacht getötet«, sagte sie, »außerdem einen Feind aus den eigenen Reihen. Was wißt ihr über unsere Lage? Ist noch jemand tot?« »Nein, Herrin«, sagte eine Priesterin. Das herabgesenkte Visier ihres mit Spinnen verzierten Helms verdeckte ihre Ge sichtszüge, doch Quenthel erkannte an der Stimme, daß es sich um Quave handelte, eine der älteren Lehrerinnen. »Die meisten, die von dem vergifteten Mahl gegessen und getrun ken haben, beginnen schon wieder zu erwachen. Ich nehme an, wer immer uns vergiftete, wollte uns nicht töten, sondern nur bewußtlos machen.« »Offenbar«, sagte Quenthel, »war sie gewillt, den Dämon den entscheidenden Schlag gegen mich führen zu lassen. Was
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ist mit denen, die vor mir dem Wesen begegneten?« Quave zögerte kurz, dann antwortete sie: »Als sie versuch ten, es aufzuhalten, wurden sie verletzt ... aber nicht tödlich. Sie werden wohl wieder genesen.« »Gut«, sagte Quenthel, auch wenn es sie nicht erfreute zu wissen, daß sie das einzige Ziel des unbekannten Feindes war. »Wie lauten Eure Befehle, Herrin?« wollte Quave wissen. »Wir werden feststellen, wer noch lebt und wer tot ist und nach der Stelle suchen müssen, an der der Dämon eingedrun gen ist, um sie zu versiegeln.« Das waren Aufgaben, die sie für den Rest der Nacht be schäftigen würden, doch sie wußte auch, daß sie einen Weg finden mußte, um weitere Eindringlinge von vornherein abzu halten und die nächste Krise abzuwenden. Es würde ein harter Tag werden, dessen Ausgang so ungewiß war, daß es sogar eine Hohepriesterin deprimieren konnte. Doch ihre Laune besserte sich ein wenig, als ihre Vipern sich zu regen begannen.
»Ich habe einen Heiltrank«, sagte Ryld. Er nahm eine kleine Zinnphiole aus seinem Beutel, zog den Stöpsel heraus und hielt sie an Pharauns Lippen. Der Magier trank die Flüssigkeit. »Das könnte etwas helfen«, sagte Pharaun nach einem Au genblick. »Aber es ist immer noch schlimm. Ich blute noch. Ich glaube, auch innerlich. Hast du noch etwas?« »Nein.« »Schade. Ein verdammter kleiner Goblin hat das gemacht. Ich kann es nicht glauben.« »Kannst du gehen?« fragte Ryld. Pharaun würde sich bewegen – oder irgendwie bewegt wer den – müssen. Er konnte nicht auf der Straße liegen bleiben,
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nicht im Braeryn und schon gar nicht in einer Nacht, in der die Jagd lief. Es war zu gefährlich. »Vielleicht.« Der Magier versuchte, sich aufzustützen, ließ sich dann aber wieder zu Boden sinken. »Offenbar nicht.« »Ich werde dich tragen«, erklärte Ryld. Er nahm Pharaun in die Arme, griff auf die Magie des Emb lems seines Hauses zurück und bat den Magier, das ebenfalls zu tun, dann schwebten sie langsam nach oben, bis sie auf einem Dach landen konnten. Aus diesem Blickwinkel war ihre Situa tion alles andere als ermutigend. Schreiende Unterkreaturen rannte durch die Straßen und Gassen des Braeryn, gefolgt von Reitern. Die Dunkelelfen töteten die Goblins mit einem Lan zenstich, einem Schwerthieb oder einfach, indem sie sie unter die Klauenfüße ihrer Echsen geraten ließen. Sie neigten dazu, sich an einem persönlicheren Gemetzel zu erfreuen, doch manche von ihnen begnügten sich damit, einen Pfeil abzu schießen oder eine magische Explosion zu beschwören. Andere beobachteten die Szene von Flugscheusalen, Lind würmern und anderen Flugtieren aus. Ryld sah Gefahr, wohin er auch blickte. Er zog Pharaun gegen eine Art Giebelaufsatz, in der Hoff nung, daß der genug Schutz vor den wachsamen Blicken der Fliegenden bot. »Es ist übel«, sagte der Schwertkämpfer. »Es sind sehr viele Drow an der Jagd beteiligt. Es gibt keinen Weg, der uns unbe helligt aus dem Bezirk führt.« Der Magier antwortete nicht. »Pharaun!« »Ja«, seufzte sein Freund, »ich bin noch bei Bewußtsein. Gerade noch.« »Wir werden uns hier verstecken, bis die Jagd endet. Ich werde uns in Finsternis hüllen.«
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»Das könnte ...« Pharaun rang nach Luft und warf sich hin und her. Ryld hielt ihn fest, da er fürchtete, er könnte vom Dach rollen. Als der Anfall endete, wirkte das Gesicht des Mizzrym so hager und angespannt, wie Ryld es noch nie gesehen hatte. Immer noch blutete sein Bauch. »Das klappt nicht«, sagte Ryld, »nicht von selbst. Wenn du keine weitere Heilung erfährst, wirst du sterben.« »Das wäre ... wirklich eine Tragödie ... aber ...« »Es sind heute Nacht genug Drow im Braeryn unterwegs. Einer von ihnen wird sicher über Heilmagie verfügen. Ich muß sie ihm oder ihr nur entwenden. Hier ist die Finsternis.« Ryld berührte das Dach und ließ einen Schatten entstehen, der den Meister Sorceres tarnte, viel mehr aber nicht. Mit ein wenig Glück war der Effekt eingegrenzt genug, daß niemand die unnatürliche Sichtbehinderung bemerken würde. Der Waffenmeister erhob sich und eilte davon. Soweit es möglich war, lief er über die Dächer und sprang von einem zum linderen. Oft jedoch standen die Häuser so weit voneinander entfernt, daß er auf die Straße springen und sich seinen Weg durch das Gemetzel bahnen mußte. Bei einer solchen Gelegenheit sah er eine weitere Jagdgrup pe. Leider war die Gruppe zu groß, um es mit ihr aufzunehmen. Stattdessen mußte er sich verstecken. Geduckt sah er, wie ein Magier auf einer Echse einen gelben Funken ins Fenster eines der Häuser warf. Im Raum dahinter explodierte der Funke zur gewaltigen Flamme. Als sie wieder erlosch, setzten die Schreie ein. Ryld zuckte zusammen. Als er sechs war, hatte er ein sol ches Massaker überlebt. Mit schweren Verbrennungen hatte er stundenlang unter verkohlten, stinkenden Leichen gelegen. Dir Toten waren die, die man beneiden konnte, während die, die noch lebten, jammerten und hilflos zuckten.
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Doch heute Nacht war nicht er es, der verbrannt oder unter Toten begraben wurde, und es gelang ihm, die unangenehme Erinnerung zu vertreiben. Er sah sich um, ob ihn jemand beo bachtete, dann kam er aus der Deckung und ließ sich nach oben treiben. Er eilte auf einem steil abfallenden Dach entlang, das mit Spinnwebmustern verziert war und – wie er bemerkte – von einem weiteren Emblem einer Sklavenrasse verunstaltet wur de. Er nahm etwas über und hinter sich wahr und fuhr herum. Seine Stiefel rutschten ab, und er schwebte einen Moment lang, bis er inmitten der Verzierungen wieder Halt fand. Er sah über sich ein großes schwarzes Pferd, das so mühelos durch die Luft galoppierte, wie es seine Verwandten in der Welt an der Oberfläche machten, wenn sie ein Feld überquer ten. Feuer flackerte rund um seine Hufe und kam aus seinen Nüstern. Der Drow auf dem Rücken des Tiers hielt einen Krummsäbel in der Hand, machte sich aber keine besondere Mühe, ihn in eine Position zu bringen, aus der er zuschlagen konnte. Offenbar verließ er sich auf die dämonischen Kräfte seines Reittiers, das für ihn das Töten erledigte. Warum nicht? Welcher Goblinoide konnte sich schon einem Nachtmahr widersetzen? Ryld erstarrte, als sei er eine solche glücklose Unterkreatur, die vor Angst wie gelähmt war. Unterdessen kalkulierte er, wie schnell sich der Nachtmahr näherte. Im letzten Moment, der hoffentlich genügte, um das Phantompferd und seinen Reiter zu überraschen, zog er Splitter. Er verfehlte sein Ziel. Irgendwie war es dem Dämon gelun gen, mitten in der Vorwärtsbewegung zu stoppen, woraufhin die Klinge ins Leere glitt. Der Nachtmahr, dessen feurige Hufe fünfundvierzig Zenti meter über dem Dach brannten, schnaubte heftig. Dichter,
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heißer, nach Schwefel riechender Qualm strömte aus den Nüs tern, hüllte Ryld ein, stach in Augen und Lunge und raubte ihm die Sicht. Er hörte mehr als er sah, daß die schwarze Krea tur auf ihn zusprang und mit reptiliengleichen Fangzähnen nach ihm schlug, während er einen Schritt nach hinten mach te. Der Schritt rettete ihn zwar, doch als er zum Gegenangriff übergehen wollte, hatte sich das Pferd außer Reichweite zu rückgezogen. Durch den stinkenden Qualm sah er, daß das höllische Pferd einen Kreis beschrieb und ihn abermals angriff, diesmal aber mit den Vorderhufen auf ihn einschlagen wollte. Er duck te sich und hob Splitter, so daß sich die Spitze in die Brust des Tiers bohrte. Einen Moment lang glaubte er, der Sieger zu sein, doch es strampelte wie verrückt mit den Hufen und flog hoch genug, um sich von der Klinge zu befreien, ehe sie zu tief ein dringen konnte. Die nächsten Sekunden erwiesen sich als schwierig. Ryld hatte Mühe, seinen Gegner auszumachen, während der Nachtmahr offenbar mühelos durch den von ihm selbst ver breiteten Rauch sehen konnte. Er stand da und drehte sich vorsichtig auf dem steilen Dach, ständig in Gefahr, die Balance zu verlieren. Das fliegende Pferd konnte dagegen nach Belie ben manövrieren. Um die Angelegenheit noch etwas interes santer zu machen, begann der Reiter seinen Säbel zu schwin gen. Zum Glück hatte er wie die meisten Bewohner des Unterreichs kaum Ahnung davon, wie man auf einem Pferde rücken sitzend richtig kämpfte, doch seine tollpatschigen Hie be stellten dennoch eine Gefahr dar. Ryld wollte dem Konflikt ein jähes Ende setzen, ehe jemand auf Pharauns Versteck aufmerksam wurde. Doch angesichts der Nachteile seiner augenblicklichen Situation hielt der Waffen meister es für den einzigen Ausweg, ein Risiko einzugehen. Als
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der Dämon sich das nächste Mal aufbäumte, ließ er es zu, daß er ihn mit einem seiner flammenden Hufe gegen die Brust trat. Sein Zwergen-Brustpanzer dröhnte, hielt aber stand. Der Treffer schmerzte furchtbar, doch er brach ihm keine Rippen und machte ihn auch nicht auf andere Weise handlungsunfä hig. Er fiel, schlug auf die östliche Schräge des Dachs und begann zu taumeln. Tretend und strampelnd verlagerte er sein Gewicht und schaffte es, sich zu fangen und sofort umzudre hen, um eine geduckte Kampfhaltung einzunehmen. Der Nachtmahr kam herangejagt, um ihm den Rest zu ge ben. Er holte mit Splitter aus, und diesmal war der Dämon zu sehr in seinen Angriff vertieft, um seine Vorwärtsbewegung bremsen zu können. Das Schwert fraß sich durch den Hals und hätte den Kopf mit den leuchtenden scharlachroten Augen fast abgetrennt. Das Pferd kippte seitwärts weg und überschlug sich, wo bei es eine Spur aus Glut hinter sich herzog. Der Rei ter versuchte abzusteigen, doch er war nicht schnell genug und wurde von dem Nachtmahr erdrückt. Ryld riß die Tasche des Toten auf, dann ließ er sich auf die Straße hinab und durchsuchte die Satteltaschen, fand aber weder einen Trank noch ein anderes Heilmittel. Warum, fragte er sich, soll man so etwas auch in den Habse ligkeiten eines Adligen finden? Der war gekommen, um sich im Braeryn einem unbeschwerten Sport hinzugeben. Er hatte nicht damit gerechnet, daß einer der Goblins ihn verletzen oder er sich in irgendeiner Gefahr befinden könnte. Warum also sollte er ein Heilmittel für schwere Verletzungen zu einer so unterhaltsamen Veranstaltung mitbringen, vorausgesetzt, er besaß überhaupt etwas Derartiges? Nur fünf Jäger waren mit tödlichen Absichten hergekom men, bereit, sich gegen ebenbürtige Widersacher zu stellen: Greyanna und ihre Leute. Sie trugen mit viel größerer Wahr
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scheinlichkeit heilende Magie bei sich als jeder andere Drow, dem er auflauerte. Allerdings stellten sie auch eine größere Gefahr für ihn dar, doch wenn er Pharaun retten wollte, mußte er es mit ihnen aufnehmen. Pharaun war ein nützlicher Verbündeter, und Ryld war nicht bereit, diese sorgsam gepflegte Beziehung aufs Spiel zu setzen. Er schlich weiter und ignorierte die Jäger, die seinen Weg kreuzten, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Dann sah er vor sich auf einem Dach eine vertraute Gestalt. Es war einer von Greyannas Zwillingskriegern, der noch immer getarnt war und dort auf der Pirsch lag. Mit einem schußbereiten Pfeil im Anschlag sah er hinunter auf die Stra ße. Ryld warf sich hinter einem kurzen, breiten falschen Mina rett in Deckung. Er spähte um die Ecke, um nach dem Rest der Bande Ausschau zu halten. Er sah sie nicht. Vielleicht hatte die Bande sich geteilt, um ihre Beute besser suchen zu können. Sie würde das zwangsläu fig tun müssen, wenn sie den gesamten Bezirk auf den Kopf stellen wollte. Er duckte sich wieder, spannte seine Handarmbrust und leg te einen Giftbolzen ein. Er und Pharaun hatten bislang davon Abstand genommen, ihre Verfolger zu töten. Doch nun, da der Magier im Sterben lag, machte sich Ryld keine Gedanken mehr über das Leben eines unbedeutenden Gefolgsmanns. Er beugte sich abermals vor, sein Finger spannte sich um den Abzug ... doch die Stelle, an der der Bogenschütze eben noch gestanden hatte, war leer! Ryld sah sich weiter um und entdeckte den Mann auf einem runden, kleinen Turm mit flachem Dach, der zum Hauptteil des Gebäudes gehörte. Das brachte zwei Probleme mit sich. Zum einen war der Krieger weiter entfernt und befand sich an einer drei Meter
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höheren Position. Damit war er möglicherweise jenseits, viel leicht gerade eben noch innerhalb der Reichweite der kleinen Armbrust. Das andere Problem war, daß der Mann just in die sem Augenblick in Rylds Richtung sah. Er riß die Augen weit auf, als er seine Beute entdeckte. Ryld schoß, doch der Bolzen schaffte es nicht bis zum Turm. Den Bruchteil einer Sekunde darauf zog der Zwilling in einer fließenden Bewegung die Sehne nach hinten und ließ seinen Pfeil fliegen. Der Schaft sah aus wie ein allmählich anschwel lender Punkt, was bedeutete, daß er geradewegs auf sein Ziel zuraste. Ryld zuckte zurück. Der Pfeil surrte vorbei, und der Bogen schütze brüllte: »Hier! Ich habe ihn hier!« Der Waffenmeister machte eine finstere Miene und spürte den Druck der verstreichenden Zeit noch eindringlicher als zuvor. Er wollte nicht mehr hier sein, wenn die anderen Wi dersacher eintrafen. Die einzige Hoffnung, das zu erreichen, bestand darin, sich seines Gegners schnell zu entledigen. Der Bogen war seiner Armbrust einfach nur wegen der Entfernung überlegen gewesen. Er mußte näher an sein Ziel heran. Er zog Splitter, sprang aus der Deckung und schritt auf sei nen Gegner zu. Der Bogenschütze feuerte einen Pfeil nach dem anderen auf ihn ab, doch Ryld schlug jeden von ihnen aus der Luft. Die Abwehr wurde erheblich dadurch erschwert, daß er sich über die unregelmäßige Oberfläche des Dachs bewegte und nicht auf einem ebenen Untergrund stehenbleiben konn te. Ryld begann zu schwitzen, sein Herz raste, aber er kam gut voran. Es kam ein weiterer Pfeil geflogen, diesmal einer, der durch irgendeine Art von Zauber glitzerte. Scheppernd rollte er auf dem schrägen Dach nach unten. Wieder machte er einen Schritt, schlug ein Geschoß aus der
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Luft, als er auf einmal etwas hörte. Er wußte nicht, was es war, es handelte sich um eine undefinierbare Veränderung der Ge räusche um ihn herum. Er erinnerte sich, daß manche Magier in der Lage waren, magische Waffen zu schaffen, die mehr konnten, als nur präziser ihr Ziel anzusteuern und härter aufzu schlagen. Er fuhr herum. Der funkelnde Pfeil hatte sich von selbst wieder erhoben und schwebte nun hinter ihm. Er schoß auf sein Ziel zu und war nur noch ein paar Zentimeter von seinem Leib entfernt. Ryld riß Splitter in einer verzweifelten Parade hoch. Die Schneide traf den Pfeil und spaltete ihn. Der Teil mit der Spit ze wirbelte weiter durch die Luft und traf ihn an der Schulter. Dank seiner Rüstung konnte ihm der Treffer aber nichts anha ben. Er drehte sich schnell genug, um noch genug Zeit zu haben, den nächsten Pfeil abzuwehren. Dann rückte er weiter vor. Nach vier Schritten hatte er das Ende des Dachs erreicht. Der Abstand zum nächsten Haus betrug ungefähr fünf Schritte. Er nahm Anlauf, machte sich fast schwerelos und sprang. Der Zwilling versuchte ihn zu treffen, solange er in der Luft war, doch zum Glück beschrieb dieser Pfeil eine wirre Flugbahn. Ryld landete auf dem Dach des Gebäudes, in dem sich sein Gegner aufhielt. Ihm war, als hätte er für diese Stre cke eine Ewigkeit gebraucht, obwohl er genau wußte, daß es weniger als eine Minute gedauert hatte. Nicht, daß der Spießrutenlauf damit ein Ende gehabt hätte. Die Pfeile schossen ihm unablässig entgegen, darunter auch einer, der einen unheimlichen Schrei ausstieß und ihm eine unerklärliche, unnatürliche Angst bescherte, bis er das Gefühl verdrängte. Ein anderer verwandelte sich im Flug in eine win zige Harpyie, ein weiterer schlug zwei Schritte vor ihm ins
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Dach ein und explodierte zu einer Feuerwand. Er blinzelte in den hellen Schein, dann zog er seinen Piwafwi eng um sich und sprang hindurch. Auf der anderen Seite der Flammen angekommen war er zwar ein wenig angesengt, aber insgesamt unverletzt. Dann war er dem Turm nahe genug, um sein Gewicht größ tenteils aufzuheben und auf die Spitze zu springen. Er sprang wie eine Springspinne in die Luft und landete auf der Platt form. Der Zwilling legte hastig seinen Bogen auf den Boden und zog seinen Krummsäbel. »Verfügst du über heilende Magie?« fragte Ryld. »Wenn ja, dann gib sie mir, und ich lasse dich gehen.« Der andere lächelte spöttisch und entgegnete: »Meine Ka meraden werden jeden Augenblick hier eintreffen. Ergib dich und sag mir, wo Pharaun ist, dann wird Greyanna dich viel leicht leben lassen.« »Nein.« Ryld schlug nach dem Kopf des Kriegers. Der Mann sprang zurück und damit außer Reichweite, machte einen Ausfall schritt und führte einen Schlag nach dem Arm des Waffen meisters. Ryld parierte und schlug den Krummsäbel zur Seite, womit der Kampf zwischen den beiden entbrannt war. In den nächsten paar Sekunden wich der Mizzrym zurück. Zweimal hätte er dabei fast ins Leere jenseits der flachen run den Platte getreten, die den Abschluß des Turms bildete. Beide Male konnte er sich noch gerade rechtzeitig vom Rand entfer nen. Er war ein guter Duellant und hielt sich in der Defensive, ganz offensichtlich, um Zeit zu schinden, bis die Verstärkung eintraf. Das machte es für Ryld schwierig, ihn zu treffen – aber nicht unmöglich. Ryld täuschte hoch an, um die Parade nach oben zu ziehen, dann riß er sein Schwert herunter und attackierte von unten
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kommend. Splitter fraß sich unterhalb der Rippen in den Torso des Mizzrym, und er fiel blutüberströmt um. Magie flackerte auf und schoß durch die Luft. Als Ryld her umwirbelte, materialisierten der andere Zwilling und Relonor auf dem Dach unter ihm. Offenbar konnte der Magier aus dem Hause Mizzrym aus eigener Kraft teleportieren, ohne auf die Brosche angewiesen zu sein, die Pharaun ihm abgenommen hatte. Relonor hob die Arme, so daß die weiten Ärmel bis zu den Ellbogen rutschten, während er begann, einen Zauber zu wir ken. Gleichzeitig legte der andere Zwilling einen Pfeil auf und spannte die Sehne seines Bogens aus fahlen Knochen. Ryld warf sich auf den Bauch. Er befand sich drei Meter o berhalb seiner Widersacher und hoffte, daß sie ihn nicht sehen konnten. Jedenfalls näherte sich ihm weder Magie noch ein Pfeil. Er huschte über die Plattform – Zauber in seiner Rüstung dämpften das Geräusch seiner Schritte – und packte Bogen und Köcher seines vorherigen Gegners. Dann kniete er nieder. Der Zwilling und der Magier erhoben sich über die Platt form, ersterer durch Levitation, letzterer in einem hohen Bo gen, der eine gewisse magische Befähigung für einen echten Flug erkennen ließ. Der Bogenschütze ließ den Pfeil los, und aus Relonors Fingerspitzen zuckte mystische Energie. Die Magie des Mizzrym traf als erste ihr Ziel. Ein entsetzli cher Schrei bohrte sich durch Rylds Ohren bis in sein Hirn. Er schrie und fuchtelte vor Schmerz mit den Armen, dann traf ihn der Pfeil des Zwillings mit solcher Wucht in den Ober schenkel, daß die Spitze auf der anderen Seite wieder heraus kam. Nach einem Augenblick verstummte der Schrei. Ryld spür te, daß er ihn möglicherweise verletzt hatte, vielleicht schwe rer als der Pfeil, doch er hatte weder Zeit noch Lust, darüber
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nachzudenken. So schnell, wie es außer einem Meister MeleeMagtheres nur wenige Leute konnten, schoß er selbst zwei Pfeile ab. Der erste traf Relonor in die Brust, der zweite bohrte sich in den Bauch des Kriegers. Beide sanken nach unten, so daß er sie nicht mehr sehen konnte. Ryld sah zu dem Zwilling, dessen Flanke er mit dem Schwert aufgeschlitzt hatte. Er schien bewußtlos zu sein, was es leichter machen würde, ihn zu durchsuchen. Ryld humpelte zu ihm und wühlte in seinen Taschen und in dem Lederbeutel, den er an seinem Gürtel trug. Zu seiner großen Erleichterung fand er vier silberne Phio len, die alle eine Rune trugen, die für Heilung stand. Greyanna hatte ihre Agenten in der Tat für eine richtige militärische Expedition ausgerüstet. Der Zwilling hatte Pech, daß er nicht davon hatte trinken können, ehe er in einen Schockzustand gefallen war. Sein Bruder und Relonor verfügten zweifellos auch über Heiltränke, und Ryld konnte nicht sicher sein, ob sie noch in der Lage gewesen waren, sie einzunehmen. Sie konnten ihn jeden Augenblick wieder angreifen, aber ihm war es lieber, wenn er eine zweite Konfrontation vermeiden konnte. Er muß te sich schleunigst ... Gewaltiger Flügelschlag ließ die Luft erzittern. Eine Bestie ohne Beine, aber mit langem Hals flog über das Dach, und auf dem Rücken des Tiers saßen Greyanna und die magere Prieste rin. Pharauns Schwester blickte wütend herab auf Ryld, dann zog sie an den Schnüren, die den Beutel voller Monster ver schlossen hielten. Ryld kippte die verbleibenden Pfeile aus dem Köcher, um sie besser betrachten zu können. Einer davon hatte rote Fe dern, der Rest schwarze.
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Er hatte schon miterlebt, wie sein erster Gegner einen Feu erpfeil auf ihn abgeschossen hatte. Während er betete, daß der Pfeil mit den roten Federn die gleiche Wirkung zeigen würde, setzte er ihn an der Sehne an und schoß ihn hoch in die Luft. Der Pfeil landete exakt in dem Beutel und setzte ihn in Brand. Reflexartig ließ die Hohepriesterin den Beutel los, der brennend zu Boden fiel. Die magischen Sporen, die sich im Inneren entzündeten, verfärbten die Flammen erst grün, dann blau und schließlich violett. Greyanna schrie vor Zorn und ließ das Flugscheusal tiefer sinken. Ryld suchte nach einem weiteren magischen Pfeil und stellte fest, daß keiner mehr da war. Er setzte einen normalen an, und seine Hände begannen zu zittern, zweifellos eine Nachwirkung des Angriffs durch Relonor und den Zwilling. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, am Ende zu sein. Wenn er seinen Pfeil nicht genau zielte, würde er weder eine der empfindlichen Stellen des Flugscheusals noch eine der beiden Reiterinnen treffen können. Er war aber auch nicht in der Verfassung, sich ihnen im Nahkampf zu stellen. Dann fiel ihm ein, daß er noch eine Chance hatte. Er um gab seinen Pfeil mit einer dunklen Wolke, dann schoß er ihn ab. Die herabsinkende Bestie war ein großes Ziel. Selbst mit zit ternden Händen und geschlossenen Augen standen seine Chancen gut, irgendetwas zu treffen, und der schrille Doppel schrei des Flugscheusals verriet ihm, daß er Erfolg gehabt hat te. Er sah, wie die dunkle Masse, die er erzeugt hatte, nach un ten stürzte und im Zickzack durch die Luft irrte. Getroffen und plötzlich und völlig unerklärlich seiner Sicht beraubt war das Flugtier in Panik geraten, und Greyanna war offensichtlich nicht in der Lage, es unter Kontrolle zu bringen. Vermutlich
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hätte sie mit einer Schriftrolle oder einem Talisman die Dun kelheit verschwinden lassen können, doch sie konnte selbst nichts sehen, und da das Flugscheusal wie wild umherflog, gelang es ihr auch nicht, ihre Ausrüstung zu fassen zu bekom men. Ryld brach die Pfeilspitze ab und zog den Schaft aus seinem Bein. Er nahm die Heiltränke an sich und aktivierte, so schnell er nur konnte, die Magie in seinem Talisman, schwebte vom Dach fort und humpelte dann davon.
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Als Quenthel durch den Korridor schlich, kam ihr in den Sinn, daß Gromph zur gleichen Zeit seine strahlende Hitze in die Niederungen von Narbondel schickte. Selbst Nacht schwärmer und Nekromanten gingen zur Ruhe. Sie dagegen war viel zu beschäftigt, um das ebenfalls zu tun. Sie würde erst spät in der nächsten Nacht Ruhe finden, es sei denn, etwas bettete sie zuvor für alle Zeit zur Ruhe. Zum Glück gab es einen Baenre-Alchimisten, der ein Mittel braute, das das Einsetzen von schmerzenden Augen, einem benommenen Kopf und bleiernen Gliedmaßen verzögerte, die allesamt durch einen Mangel an Schlaf hervorgerufen wurden. Quenthel holte aus einem der Beutel an ihrem Gürtel eine sil berne Phiole mit dem Mittel hervor und nippte daran. Sie rang nach Luft, und ihre Schultermuskeln schmerzten. Wieder zu voller Aufmerksamkeit zurückgekehrt, setzte sie ihren Weg fort.
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Minuten später erreichte sie die Tür zu Drisinils Gemä chern. Trotz des Status ihrer Familie residierte die Novizin in einer der bequemsten Schülerinnenunterkünfte ArachTiniliths. Quenthel bedauerte, sie nicht in ein nasses kleines Loch gesteckt zu haben. Vielleicht hätte Drisinil dann begrif fen, wo ihr Platz war. Die Hohepriesterin inspizierte die Kalksteintafel, die als Tür diente, sah aber nirgends magische Schutzzeichen. »Ist es sicher?« flüsterte sie den Vipern zu. »Wir glauben ja«, erwiderte Yngoth. Wie vertrauenerweckend, dachte Quenthel, als sie die Antwort hörte. Aber wenn sie ihnen nicht vertrauen wollte, mußte sie eine weitere kostbare und unersetzliche Schriftrolle verbrauchen, um Schutzzeichen zu tilgen, die vermutlich gar nicht vorhanden waren. Sie aktivierte die Macht ihrer Brosche. Wenn eine Novizin nach Arach-Tinilith kam, wurden die Bezauberungen be stimmter Türen so verändert, daß sie – je nach der individuel len magischen Signatur im Emblem ihres Hauses – die Räume betreten durfte, von denen die Hohepriesterinnen der Ansicht waren, daß es erforderlich war. Nur Quenthels Brosche öffnete sämtliche Türen. Sie entriegelte Drisinils Tür und öffnete sie einen Spalt breit. Keine magischen Funken sprühten, und es gab offenbar auch keine mechanische Falle, die ihr eine Klinge entgegen schleuderte. So leise wie möglich trat Quenthel ein. Die Schlangen, die ihren Wunsch nach Ruhe spürten, schwiegen und hingen schlaff herab. Drisinil saß reglos in einem Sessel, die verstümmelten, ver bundenen Hände im Schoß. Einen Moment lang dachte Quenthel, die andere Frau müsse einen unerschütterlichen Geist haben, wenn sie in einer so gefährlichen Zeit in eine
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Meditation eintrat, und war fast schon im Begriff, sie zu be wundern – als sie Branntwein roch und die leere Flasche sah, die in einer Alkohollache auf dem Boden lag. Quenthel pirschte sich an die Novizin an. Ihr wurde klar, daß sie sich Drisinil so näherte, wie die lebende Finsternis es bei ihr getan hatte. Der Gedanke amüsierte sie, womöglich, weil sie endlich die Jägerin war, nicht die Beute. Lächelnd legte sie die Vipern über das Gesicht und den Oberkörper der Drow, die daraufhin zu zischen und sich zu winden begannen. Drisinil wachte mit einem Schrei auf. Sie wollte aufsprin gen, doch Quenthel drückte sie zurück in den Sessel. »Sitzenbleiben!« fauchte die Baenre, »sonst werden die Schlangen zubeißen.« Drisinil hörte auf zu strampeln, während sich die kühlen, schuppigen Windungen der Vipern um ihre weit aufgerissenen Augen legten. »Was ist los, Herrin?« Quenthel lächelte und sagte: »Gut, Kind, du klingst über zeugend. Nachdem dein erster Plan gescheitert ist, hättest du dich woanders ausruhen sollen.« »Ich weiß nicht, was Ihr meint.« Drisinils Hand wanderte heimlich weiter, zweifellos, um nach einer versteckten Waffe oder einem Amulett zu greifen. Die Vipern schnappten nach dem Gesicht der Schülerin, wo bei ihre Fangzähne sie nur um Millimeter verfehlten. Drisinil erstarrte. »Bitte«, sagte Quenthel. »Das ganze wird einfacher, wenn du nicht meine Intelligenz beleidigst. Du hast Verstand, du glaubst, ich hätte dich zu hart bestraft, und du bist eine Barri son Del’Armgo, versessen darauf, das Haus zu Fall zu bringen, das zwischen deiner Familie und der Vorherrschaft über alle anderen steht. Natürlich bist du an dem Komplott gegen mich
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beteiligt. Du bist außerdem eine Idiotin, wenn du glaubst, das sei mir nicht klar.« »Komplott?« Quenthel seufzte. »Halavin versuchte letzte Nacht, mich zu töten, und sie hat nicht allein gehandelt. Eine einzelne Verrä terin hätte nicht das gesamte im Tempel verteilt platzierte Essen und alle Getränke vergiften können. Sie hätte dafür so lange ihren Posten verlassen müssen, daß jemand ihre Abwe senheit bemerkt hätte.« »Halavin hätte das Essen vergiften können, als es noch in der Küche stand.« »Sie war nie dort.« »Dann hat vielleicht der Dämon das Fleisch mit seiner Ma gie vergiftet.« »Nein. Wie du sicher bemerkt hast, repräsentiert jeder Geist einen Aspekt der Realität, über den Lolth herrscht. Gift ist die Waffe eines Assassinen. Doch wegen seiner ständig wechselnden Form war der Angreifer der vergangenen Nacht eindeutig eine Manifestation des Chaos.« Quenthel sah Drisinil an und fuhr fort: »Die Verschwörer mußten die Speisen auf jedem Tisch vergiften, weil sie nicht wissen konnten, wo ich essen würde. Viele wurden ohnmäch tig, nur du und noch einige Mitwisserinnen waren so schlau, nichts zu sich zu nehmen.« »Ich habe damit nichts zu tun«, beharrte Drisinil. »Novizin, du beginnst mich zu nerven. Gestehe deine Schuld, sonst überlasse ich dich den Vipern und befrage je mand anderen.« Die Schlangen zischten und ließen ihre Zun gen zucken. »Na gut«, sagte Drisinil, »ich war beteiligt. Ein wenig. Die anderen haben mich überredet. Tötet mich nicht.« »Ich weiß, was euer kleiner Klüngel getan hat, aber ich will
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begreifen, wie ihr es wagen konntet.« Drisinil schluckte: »Ihr ... Ihr habt es selbst gesagt. Jeder der Dämonen versucht, ausschließlich Euch zu töten, und jeder der Angriffe steht für einen Aspekt der göttlichen Majestät Lolths. Wir dachten, sie hätte sie gesandt. Wir dachten, wir täten, was die Göttin verlangt.« »Weil ihr dumm seid. Hat euch niemand gelehrt, nicht nach dem äußeren Schein zu gehen? Wenn Lolth meinen Tod gewünscht hätte, hätte ich ihre Mißgunst nicht einmal einen Herzschlag lang überlebt, von drei Nächten ganz zu schweigen. Die Angriffe erinnern an ihre Vorgehensweise, weil es eine blasphemische Sterbliche so arrangiert hat, um euch zu manipu lieren, damit ihr für sie das Töten erledigt. Ich hatte gehofft, deine Mitverschwörer wußten um die Identität des Angreifers, aber wie ich sehe, ist dem nicht so.« »Nein.« »Verflucht sollt ihr alle sein!« schrie Quenthel. »Die Göttin bevorzugt mich. Wie könnt ihr daran zweifeln? Ich bin eine Baenre, die Herrin Arach-Tiniliths, und ich bin schneller in den Rang der Hohepriesterin aufgestiegen als jede andere Menzoberranzanyr vor mir!« »Ich weiß ...« Die Novizin zögerte, dann sagte sie: »Die Mutter der Begierden muß einen Grund haben, warum sie sich von der Stadt distanziert, und wir ... wir spekulierten darüber.« »Einige von euch gewiß. Anderen gefiel einfach der Ge danke, mich aus dem Weg zu räumen. Ich kann mir vorstellen, deiner Tante Molvayas gefiele es, mich tot zu sehen. Sie hätte besonders gute Chancen, dann Herrin zu werden. Wir Baenre haben keine andere Prinzessin, die erfahren genug wäre, diese Rolle zu übernehmen.« »Es war meine Tante!« rief Drisinil. »Sie kam auf die Ideen, den Dämonen zu helfen, um Euch zu töten. Ich wollte ihr
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nicht helfen, ich hielt es für eine dumme Idee. Aber innerhalb der Familie steht sie über mir und hat das Sagen.« Quenthel lächelte. »Zu schade, daß es dich nicht beein druckt, daß ich hier das Sagen habe.« »Tut mir leid.« »Daran zweifle ich nicht. Nun brauche ich die Namen aller Verschwörerinnen.« Drisinil zögerte keine Sekunde. »Meine Tante, Vlondril Tu in’Tarl ...« Wie immer wahrte Quenthel eine gelassene, überlegene Miene, doch innerlich war sie überrascht, wie viele Verschwö rerinnen Drisinil nannte. Ein Achtel des Tempels! So etwas war noch nie vorgekommen, doch es paßte zu den Zeiten, in denen sie lebten, denn die Dinge, die sich um sie herum zutru gen, waren ebenfalls noch nie vorgekommen. Als Drisinil fertig war, sagte Quenthel: »Danke. Wo habt ihr euch getroffen, um Pläne zu schmieden?« »In einem der leeren Lagerräume im fünften Bein«, antwor tete Drisinil. Quenthel schüttelte den Kopf. »Das reicht nicht, der ist nicht groß genug. Ruf die Gruppe in Lirdnolus altem Klassen raum zusammen. Niemand hat ihn benutzt, seit man ihr dort die Kehle durchschnitt, also wird er wie ein sicherer Treffpunkt aussehen.« Drisinil zwinkerte. »Treffpunkt?« »Ja. Der Plan für letzte Nacht ist fehlgeschlagen, also müßt ihr euch natürlich einen neuen ausdenken. Du hast für das Treffen einen neuen Raum gewählt, weil du das Gefühl hast, der Lagerraum sei nicht länger sicher. Erzähl den anderen, was du willst, damit sich die Verschwörerinnen in vier Stunden dort einfinden.« »Wenn ich das tue, werdet ihr mich dann verschonen?«
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»Warum nicht? Wie du gesagt hast, warst du gegen deinen Willen daran beteiligt. Aber weißt du, eben wird mir klar, daß es ein Problem gibt. Wenn ich dich einfach losschicke, um diesen Auftrag zu erledigen, woher weiß ich, daß du nicht aus Tier Breche fliehst und in der Burg deiner Mutter Zuflucht suchst?« »Aber, Herrin, Ihr habt doch selbst gesagt, ein solcher Entschluß könne nur meinen Tod nach sich ziehen.« »Aber hast du mir geglaubt? Glaubst du mir jetzt? Wie kann ich mir da sicher sein?« »Herrin ... ich ...« »Wenn ich meine Magie hätte, könnte ich dich problemlos zwingen, das zu tun, was ich dir aufgetragen habe. Doch solan ge ich nicht über sie verfüge, muß ich zu anderen Mitteln grei fen.« Quenthel hob die Peitsche und ließ dabei die Vipern von Drisinils Gesicht gleiten, dann rammte sie den metallenen Stumpf der Waffe in die Mitte ihrer Stirn. Dann zog die Herrin die silberne Phiole hervor. Sie kniff dem benommenen, sich schwach zur Wehr setzenden Mäd chen die Nase zu, kippte das Stärkungsmittel in den geöffneten Mund und zwang sie zu schlucken. Die Wirkung trat sofort ein. Die jüngere Frau warf den Kopf nach hinten und zuckte hin und her, bis sie die Augen weit aufriß. Die Hohepriesterin sprang wieder auf den Boden. »Wie fühlt sich das an? Ich könnte mir vorstellen, dein Herz rast.« Drisinil zitterte am ganzen Leib. Schweiß drang ihr aus allen Poren. »Was habt Ihr mit mir gemacht?« »Das sollte einer geübten Giftmischerin wie dir doch klar sein.«
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»Ihr habt mich vergiftet?« »Es ist ein langsam wirkendes Gift. Tu, was ich dir befohlen habe, und ich werde dir das Gegengift geben.« »Ich kann die anderen so nicht betrügen. Sie werden mer ken, daß mit mir etwas nicht stimmt.« »Die äußerlichen Anzeichen werden sich in ein paar Minu ten legen, aber du wirst merken, wie das Gift durch dein Herz jagt und an deinen Nerven zehrt. Damit wirst du leben müs sen.« »Nun gut«, sagte Drisinil schließlich. »Aber bringt das Ge gengift mit, wenn Ihr in Lirdnolus Raum kommt.« Die Herrin hob eine Augenbraue, woraufhin Drisinil klein laut anfügte: »Bitte.« Quenthel lächelte. Die Vipern, die ihre gute Laune spürten, seufzten zufrieden auf.
»Woher hast du gewußt, daß Finsternis die Bestie verrückt machen würde?« fragte Pharaun, während er sich die schmale Brust einseifte. In der Nacht zuvor, nachdem Ryld es zurück zu Pharaun ge schafft hatte, war ihnen klar geworden, daß sie genügend Heil tränke hatten, um alle Wunden zu versorgen, die sie beide erlitten hatten. Doch auch wenn sie vollständig wiederherge stellt worden waren, erwiesen sich die nächsten Stunden als kräftezehrend, da sie alles daran setzen mußten, nicht dem Wahnsinn der Jagd zum Opfer zu fallen und gleichzeitig auf Greyanna zu achten. Wenigstens waren sie aus dem Braeryn entkommen. Pharaun hatte beteuert, sie seien im angenehmen, wohlha benden Narbondellyn sicher, da Greyanna weiter in den Stra ßen des Gestanks nach ihnen suchte. Daher hatte er auch
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darauf bestanden, daß er und Ryld ihre Tarnung aufgeben und ihre Entdeckungen und die erfolgreiche Flucht mit einem Besuch in einem der besten öffentlichen Bäder Menzoberran zans feiern sollten. Der Krieger hatte sich – wenn auch nicht allzu vehement – dagegen ausgesprochen, da er es für gedan kenlosen Leichtsinn hielt. Ryld ging davon aus, er und Pha raun würden schon bald dem Zugriff ihrer Verfolger entkom men sein. Dem sah er mit ziemlicher Sehnsucht entgegen. In den letzten Minuten hatte er den Luxus genossen, sich den Schweiß und Schmutz vom Leib schrubben zu lassen, der sich an ihm festgesetzt hatte. Genauso hatte er es genossen, sich einfach hinzusetzen und an nichts denken zu müssen. Er hätte aber wissen müssen, daß Ruhe und Frieden nicht sehr lange anhalten konnten. Pharaun hielt es nicht lange ohne eine Unterhaltung aus. »Woher wußtest du, daß das Flugscheusal sich nicht einfach von seinen anderen Sinnen leiten lassen würde, um weiter hinabzusinken, ohne sich um die Finsternis um es herum zu kümmern?« bohrte der Magier nach. Der Krieger zuckte die Achseln und sagte: »Ich wußte es nicht, aber es schien mir einen Versuch wert. Das Ding ist immerhin ein Tier, nicht?« Pharaun grinste. »Nein. Es handelt sich um ein Wesen von einer anderen Ebene. Aber deine Instinkte waren trotzdem gut.« »Ich hatte Glück, mit dem Leben davongekommen zu sein«, erwiderte er. »Großes Glück.« »Feuer und Flamme, du bist ein Meister aus Tier Breche. Es steht dir nicht an, bescheiden zu sein. Bereit für die nächste Phase?« Sie stiegen aus dem achteckigen Becken, das in den schwar zen Marmorboden eingelassen war, und nachdem sie die alltäg
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liche Aufgabe des Säuberns hinter sich gebracht hatten, gin gen sie hinüber zu einem größeren Becken, in dem sie es sich in dampfendem, duftendem Mineralwasser gutgehen lassen würden. Später würde es hier sehr voll sein, doch da es nicht im Trend lag, die Bäder so früh am Morgen aufzusuchen, waren sie beide unter sich, was sich als sehr angenehm erwies. So konnten sie sich unterhalten, ohne befürchten zu müssen, daß jemand lauschte. Ryld ging zielstrebig die Stufen hinab und setzte sich auf die Bank, die unter dem Wasserspiegel lag. Die Wärme tat seinem Bein gut, das geheilt war, aber immer noch schmerzte. Zufrie den seufzte er, während Pharaun ein kleines Schauspiel daraus machte, das Becken zu betreten. Er bewegte sich immer nur einen Zentimeter weit vor, als sei die Hitze für ihn schier uner träglich. »Ich habe über deine Misere nachgedacht«, sagte der Ma gier, als bis auf seinen Kopf alles unter Wasser war. »Ich habe eine Lösung.« »Was meinst du?« »Verlaß Melee-Magthere und werde Waffenmeister eines Adelshauses. Es wird natürlich eines der unbedeutenderen sein müssen, weil du ein Gemeiner bist, aber das ist schon in Ord nung. So wirst du vielleicht aufregendere Dinge erleben.« »Warum sollte ich? Das ist kein Aufstieg. Je nach Haus wäre es zwar auch kein Abstieg, aber welchen Sinn sollte es haben?« »Du bist gelangweilt, und das wäre eine Veränderung.« »Ja, aber eine, mit der ich mich vielen Hohepriesterinnen unterstelle. Ich hätte weniger Selbständigkeit als in meiner jetzigen Position.« »Ich habe es auch geschafft, unter der Aufsicht meiner Mutter meine eigenen Ziele zu verfolgen. Dennoch, ein gutes Argument. Du könntest die Zügel, die man dir anlegt, hassen.
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Aber wie lautet die Antwort dann?« »Wer sagt, daß es eine gibt? Abgesehen vielleicht von wei teren verrückten Ferien mit dir. Ich muß zugeben, dieser Ur laub hat meiner Langeweile ein Ende gesetzt.« Eine zierliche Gnomin brachte durch einen Durchgang am anderen Ende des Raums einen Stapel frisch gewaschener und gefalteter Handtücher. Ryld fragte sich, ob sie wohl eine An hängerin des Propheten war und wenn ja, wie viele der von den Duergar stammenden Feuerkrüge des Unruhestifters sich dann hier irgendwo in diesem Badehaus stapelten. Es war ein sonderbares Gefühl, Unterkreaturen auf einmal so zu sehen: als Wesen, die gegen die ihnen Überlegenen Bomben einsetzten, die Stein in Brand setzen konnten. »Du sprichst von unserem kleinen Botengang in der Ver gangenheit«, sagte der Magier. »Na ja, sobald du dem Erzmagier berichtet hast, daß die Flüchtigen im Braeryn einen kläglichen kleinen Goblin-Auf stand planen, dann ist es doch vorbei, oder nicht? Gromph wird dein Vergehen entschuldigen. Der Rat, dem es nicht gelungen ist, unsere Untersuchung zu stoppen, wird keinen Grund mehr haben, uns töten zu wollen. Es wird für ihn vor teilhafter sein, uns weiter Magier und Soldaten ausbilden zu lassen, die ihm dienen werden.« »Du bist sehr überzeugt, daß der Aufstand kläglich sein wird. Meinst du das, weil Greyannas Anhänger in der vergan genen Nacht so viele Unterkreaturen getötet haben?« Ryld spritzte sich mit einer Hand etwas heißes Wasser in den Nacken, der von den Anstrengungen etwas steif war. »Nein«, antwortete er. »Die Jäger haben viele Goblins getö tet, aber die waren nur der Bruchteil eines Bruchteils der Krea turen, die sich in jedem Winkel des Bezirks drängen – du hast ja gesehen, wie es in Smyllas Haus aussah. Vertrau mir, du
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verstehst es noch immer nicht.« »Ich verstehe, daß viele andere derartige Exemplare auch den Rest der Stadt bevölkern. Warum zweifelst du dann ihre Fähigkeit an, Schaden anzurichten? Es mangelt ihnen nicht an Mut. Die Untervölker befinden sich in einer hervorragenden Stimmung, angestachelt von der Rede des Propheten, um da und dort ihre Rassenembleme zu hinterlassen und potentielle Informanten und Ungläubige zu töten.« »Es fehlt ihnen dennoch an Kampftraining und entspre chenden Waffen.« »Einige waren Krieger, ehe die Sklavenhalter sie fingen. Manche von ihnen sind noch immer Soldatensklaven. Was die Waffen angeht – nun, hast du beim Besuch der Oberfläche je eine Stadt brennen sehen? Ich schon. Ich mußte selbst eine in Brand setzen, um eine Mission zu erfüllen. Die Zerstörung und die Zahl der Opfer waren beeindruckend, und das, obwohl die Einwohner wußten, daß ihre Gebäude Feuer fangen konnten und entsprechende Vorkehrungen getroffen hatten.« »Können wir das nicht? Aber ihr Magier könnt doch ...« Pharaun zuckte die Achseln. »Nicht wirklich. Warum sollte uns das einfallen? Vielleicht könnten wir etwas improvisieren, aber wenn wir die Feuersbrunst nicht frühzeitig bemerken, kann es sein, daß sich nicht die volle Wirkung entfaltet.« »Aber ihr würdet sie frühzeitig bemerken. Die Unterkreatu ren werden sich nicht alle gleichzeitig erheben, und deshalb ist es möglich, jeden kleinen Unruheherd sofort im Keim zu ersti cken.« »Du gehst davon aus, daß der ›Ruf‹ sich durch Mundpropa ganda fortpflanzen wird, aber nicht rasch verbreitet wird. Du könntest recht haben. Die Geräuschdämpfer könnten hinder lich sein, aber was, wenn der Prophet irgendein arkanes Mittel besitzt, um jeden Goblin und jeden Grottenschrat zum exakt
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gleichen Zeitpunkt zu erreichen?« »Ist dir derartige Magie bekannt?« »Nein.« »Und du bist ein Meister Sorceres. Daher ist anzunehmen, daß eine solche Kraft nicht existiert.« Pharaun hob eine Braue. »Ach ja? Danke für deine fach männische Meinung.« Ryld stieß einen verächtlichen Laut aus und sagte: »Schau, du glaubst, eine Rebellion könnte etwas bewirken. Ich bin anderer Ansicht, aber nehmen wir an, du hast recht. Ist das nicht ein Grund mehr, Gromph sofort Bericht zu erstatten?« Der Magier winkte einem Goblin-Sklaven, der in ihre Rich tung gegangen kam. »Das Problem ist, daß ich erst Erfolg ha ben muß.« »Wie?« »Mein Auftrag lautet, die Flüchtigen zu finden. Ich habe für ein paar Minuten zwei von ihnen gesehen. Beide sind ent wischt. Glaubst du, die Baenre werden sich mit so etwas zufrie dengeben?« Ryld runzelte die Stirn. »Aber angesichts der Tatsache, daß wir auf etwas höchst interessantes gestoßen sind ...« »Vergiß nicht, unser großer und ruhmreicher Erzmagier hält nicht allzu viel von mir. Er hat mich als Ablenkung losge schickt, damit die Priesterinnen mir das Leben schwermachen. So wie ich ihn kenne, bin ich sicher, daß er seine Abneigung gegen mich zurückstellt und seinen Teil der Abmachung hält, wenn ich exakt das erledige, was er mir aufgetragen hat. Wenn ich auch nur im mindesten scheitere, sieht es schon wieder ganz anders aus.« »Du kannst ihm aber wenigstens erzählen, daß die Flüchti gen im Braeryn sind.« »Kann ich das? Wir sind durch die Straßen des Gestanks ge
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laufen, wie es auch jeder andere hätte tun können, der von außerhalb kommt. Wir haben nicht das Haus gefunden, in dem die Flüchtigen ihren Umhang aufhängen, und wir haben kei nen einzigen stichhaltigen Beweis, daß sich dieses Haus über haupt im Braeryn befindet.« »Da hast du wohl recht.« »Natürlich. Wann habe ich mal nicht recht? Nun, ich habe folgendes vor: Ich werde das Versteck der Abtrünnigen finden. Ich werde entdecken, wer dieser Prophet ist und wie seine Magie – oder was immer es ist – funktioniert. Ich werde in Erfahrung bringen, woher die Feuerkrüge stammen, wo in der Stadt sie versteckt werden und wie der Plan für die Rebellion aussieht, und vor allem werde ich feststellen, was die Flüchti gen darüber wissen, daß die Geistlichkeit ihre Magie verloren hat.« »All das in der Hoffnung, daß du aus dieser Affäre mächti ger als je zuvor hervorgehst.« Pharaun grinste. »Daß wir aus dieser Affäre mächtiger als je zuvor hervorgehen. Das könnte deiner Langeweile ein für allemal ein Ende bereiten.« »Und das sind die wahren Gründe, warum du nicht bereit bist, nach Tier Breche zurückzukehren.« »All meine Motive sind ehrlich, auch meine Vorbehalte ge genüber Gromph. Ich nehme an, du hast es eilig, wieder heim zukommen?« Ryld seufzte. »Ich habe es nicht eilig. Unser Ausflug war bislang interessant, und ich führe gern zu Ende, was ich einmal angefangen habe. Aber was ist, wenn die Orks rebellieren, bevor wir unseresgleichen warnen können?« »Dann sorgen wir dafür, daß niemand erfährt, daß wir davon wußten.« Der Magier grinste und fügte an: »Außerdem wird das Wissen, daß wir uns beeilen müssen, um eine Katastrophe
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zu verhindern, unsere Reise noch anregender machen.« »Sollten wir diesen Wettlauf verlieren, dann wollen wir hoffen, daß niemand durch die Rebellion ums Leben kommt, der uns etwas bedeutet. Ich schätze, ich bin deiner Meinung. Wir suchen weiter.« »Exzellent!« Der Goblin, der ein silbernes Tablett trug, kam an den Rand des Beckens, beugte die Knie seiner nach außen gebogenen, dürren Beine und hielt das Tablett tief genug, daß die Dunkel elfen die Kelche nehmen konnten, die darauf standen. Pharaun lächelte dem Sklaven zu, dann bedeutete er ihm, sich zurückzuziehen, und hob seinen Becher. »Auf Geheimnisse und Ruhm!« Ryld nippte an seinem Kelch und wiederholte den Trink spruch. Das Getränk war roter Morchelsaft, süß und sehr kalt, der einen angenehmen Kontrast zum heißen Wasser bildete. »Ich schätze also, dann werden wir also wieder wie Orks he rumlaufen«, sagte Ryld beiläufig. »Ich fürchte, ich muß dich enttäuschen, aber die Zeit für diese Art von Täuschung ist vorbei.« »Was soll das heißen? Wenn wir nicht wie Unterkreaturen aussehen, wie sollen wir uns dann bei einem der Treffen ein schleichen?« »Wir wissen nicht, ob der Prophet noch eine Versammlung abhalten wird. Er hat seine Strategie, und seine Geheimwaffe ist verteilt worden. Selbst wenn er es doch tut, wird das nicht in den nächsten Tagen geschehen, während der uns Greyanna unerbittlich suchen wird. Wir sind ihr bisher aus dem Weg gegangen, doch wir müssen die Möglichkeit in Erwägung zie hen, daß sich unser Glück schließlich gegen uns wendet.« »Da hast du recht.« »Deshalb müssen wir die Abtrünnigen schnell finden, was
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bedeutet, wir müssen eine andere Taktik anwenden. Warum versuchen die Jungs, eine Revolte der Goblins anzuzetteln?« »Ich weiß nicht.« »Ich auch nicht. Es scheint keinen Sinn zu ergeben. Aber würdest du mir zustimmen, daß diese Absicht wie schon die Flucht selbst eine gewisse Abneigung gegen die herrschende Ordnung erkennen läßt?« »Vielleicht.« »Dann laß uns einmal annehmen, der Prophet oder irgend ein anderer Anführer hat die Männer aus ihren Häusern fort gelockt, weil er wußte, daß sie mehr als nur gewöhnlich mit ihrem Platz in der Welt unzufrieden waren.« »Das ist möglich. Wohin führt diese Überlegung?« Der Magier grinste und sagte: »Wenn wir zeigen, daß wir ih re Abneigung teilen, könnte es sein, daß die Abtrünnigen uns auch anwerben.« »Wie sollen wir das machen? Wir sind keine Kleriker, aber wir sind Meister der Akademie. Wir sind Säulen der Hierar chie, und noch viel wichtiger: Wir haben ein viel angenehme res Schicksal und damit weniger Grund zur Unzufriedenheit als die meisten anderen.« »Das scheint dich nicht in deinem Tatendrang zu bremsen.« »Trotzdem.« »Du übersiehst etwas. Dank meines fehlgeschlagenen Aben teuers mit dem Sarthos-Dämon bin ich ein entehrter Meister, auf den aller Wahrscheinlichkeit nach eine unerfreuliche Stra fe wartet. Während du mit deiner säuerlichen Miene und dei ner Zwergenrüstung eindeutig ein Ikonoklast und Unzufriede ner bist. Mehr noch, wir haben nach Neuigkeiten über die Flüchtigen gefragt, wo wir nur konnten. Sie müssen davon gehört haben, auch wenn sie es nicht für erforderlich halten, Kontakt mit uns aufzunehmen.
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Gleichzeitig hat eine Hohepriesterin aus dem Hause Mizz rym versucht, uns zu töten. Sie müssen auch das gehört ha ben.« »Trotzdem kommen sie nicht auf uns zu. Warum sollten sie das jetzt tun?« Pharaun lächelte. »Weil wir den Beweis liefern werden, daß wir ihre Ansichten teilen.« »Wie das?« »Die Priesterinnen führen regelmäßig Patrouillen durch den Basar an. Wir schlagen eine davon vernichtend, fliehen in den Braeryn, prahlen mit unserer Tat und warten die weitere Ent wicklung ab. Die Abtrünnigen werden nach uns suchen. Wie könnten sie es auch nicht? Egal, welches Ziel sie letztlich ver folgen, bin ich sicher, daß sie die Dienste zweier so talentierter Männer gut gebrauchen können.« »Zweifellos, aber warte: Du willst eine Patrouille umbrin gen?« »So auffällig wie möglich, ja. Wenn wir es gut planen, dürf te das überhaupt kein Problem werden. Sie wird nicht so groß sein wie die Gefolgschaft Greyannas, und niemand wird einen derartigen Zwischenfall erwarten.« »Was ist aus dem Vorsatz geworden, niemanden zu töten, erst recht keine Kleriker, es sei denn, es läßt sich nicht ver meiden?« »Das hier läßt sich absolut nicht vermeiden. Wir liefern uns einen Wettlauf mit der Zeit, vergiß das nicht, und das ist der schnellste Weg zu unserem Ziel.« »Mag sein, aber was dann? Werden die Leute nicht verlan gen, daß wir für unsere Unverschämtheit bestraft werden?« »Wir werden unsere Beteiligung denen, die nicht auf unse rer Seite stehen dürften, nicht anvertrauen.« »Die Priesterinnen werden es herausfinden.«
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»Ja, aber uns interessiert das nicht, weil wir im Versteck un seres Freundes, des Propheten, sicher sind. Außerdem hat der Rat längst zugestimmt, uns ausschalten zu lassen. Folglich haben wir nichts zu verlieren.« »Vielleicht ändert ein solches Verbrechen nichts an unserer Situation, aber wie sieht das auf lange Sicht aus?« »Auf lange Sicht«, erwiderte Pharaun, »ist es egal. Wie du vor wenigen Augenblicken selbst bemerkt hast, sind wir ein Volk von Pragmatikern. Die Leute vergeben, was ich gestern verbrochen habe, wenn ich mich heute nützlich mache.« »Aber nicht Greyanna.« Der Magier mußte lachen, dann antwortete er: »Natürlich neigen wir auch zu Mißgunst, Blutrache und Blutfehde. Das ist eines der Paradoxa unserer Art. Mit etwas Glück wird niemand von Bedeutung unser kleines Massaker persönlich nehmen. Ich glaube kaum, daß wir eine Prinzessin oder sonst jemanden umbringen werden, der für die Familie wirklich von Bedeutung ist.« »Ich halte das für verrückt«, sagte Ryld kopfschüttelnd. »Du weißt nicht, ob die Flüchtigen wirklich mit uns Kontakt auf nehmen werden oder ob ihnen gefällt, was sie sehen, wenn sie es tun.« »Dann denken wir uns einen anderen Plan aus.« Ryld runzelte die Stirn und schüttelte erneut den Kopf. »Du bist verrückt«, sagte der Waffenmeister. »Aber ich bin dabei.« »Prima! Wir müssen auf unsere mörderischen Absichten mit etwas anstoßen, das stärker ist als Saft.« Pharaun sah sich um und entdeckte den Goblin. »Könnten wir die Weinkarte sehen?« »Es ist noch früh«, wandte Ryld ein. »Laß dich nicht von Äußerlichkeiten täuschen«, gab Pha
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raun zurück. »Da keiner von uns auch nur für einen Augen blick Ruhe hat genießen können, muß es noch Nacht sein. Glaubst du, sie haben hier diesen 53er Barrison Del’ArmgoHerzwein?«
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Bis sie von jemandem ermordet worden war, hatte Lirdnolu ihre Klasse in einer Art überdachtem Amphitheater unterrich tet, einer jener zahlreichen architektonischen Kuriositäten, die über ganz Arach-Tinilith verstreut waren. Als die Verschwöre rinnen eine nach der anderen eintrafen, nahmen sie auf den C-förmigen Rängen Platz. Drisinil fragte sich, was sie ihnen sagen, wie sie sie hinhal ten sollte, bis Quenthel eintraf, um sie zur Rede zu stellen. Die Novizin konnte keinen klaren Gedanken fassen, doch sie wußte, daß sie sich irgendetwas aus den Fingern würde saugen müssen. Ihr Mund war wie ein leeres Glas und schmeckte nach Metall. Ihre Achseln waren klamm vor Schweiß, der beschleunigte Puls pochte bis in die Stümpfe ihrer abgetrenn ten Finger. Das Gift war auf dem besten Weg, sie zu töten, und sie mußte Quenthel Baenre so sehr zufriedenstellen, daß die
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ihr das Gegengift gab. Die runzlige alte Vlondril Tuin’Tarl sah Drisinil an, als wüß te sie, was der Schülerin Sorgen bereitete, doch sie sagte nur: »Ich glaube, wir sind weitestgehend vollständig versammelt. Laßt uns zur Sache kommen, ehe unsere Kollegen uns vermis sen.« »Ah, ja«, sagte Drisinil und betrachtete die Gesichter der anderen, die alle ihren Blick auf sie gerichtet hatten. »Nun, Mütter, Schwestern, wir alle wissen, was letzte Nacht gesche hen ist. Die Vipern in der Peitsche der Herrin entdeckten das Gift ...« »Das ist wahr«, unterbrach sie Quenthel. Erschrocken drehte sich Drisinil um und sah eine Gestalt, die in der ersten Reihe saß und einen farbenprächtigen Piwafwi trug. Sie hob den Kopf, schob die Kapuze nach hinten und entpuppte sich als die Herrin Arach-Tiniliths. Irgendwie war es ihr gelungen, den Raum zu betreten, ohne daß die anderen ihre wahre Identität erkannten. Quenthel schob eine Seite ihres Umhangs zurück, so daß der Arm mit der Peitsche frei war. Sie schlenderte zur Mitte des Raums. Es wurde Drisinil klar, daß in diesem Augenblick die Verschwörerinnen sich auf ihr Ziel hätten stürzen können. Doch das geschah nicht. Die Herrin verängstigte sie durch ihr unerwartetes Auftreten, ihre feindselige Haltung und die bloße Tatsache, daß sie eine Baenre-Prinzessin war. Die Herrin lächelte Drisinil an und sagte: »Gute Arbeit, Novizin, bis auf eine Kleinigkeit. Es ist Tradition, daß Prieste rinnen ihre Angelegenheiten bei Kerzenschein besprechen. Aber keine Sorge, ich habe das arrangiert.« Sie wandte sich zur Tür. »Kommt.« Zwei Lehrerinnen traten ein und brachten silberne Kerzen leuchter. Als Drisinil die Augen zusammenkniff, sah sie, daß
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sie nicht allein waren. Viele Bewohnerinnen Arach-Tiniliths folgten ihnen, alle gut bewaffnet und in Kettenhemden geklei det. Quenthel sah die Verschwörerinnen an. »Warum setzt ihr euch nicht nach unten? Die, die zu spät kommen, werden sicher nichts dagegen haben, weiter oben Platz zu nehmen.« Sie wartete einen Augenblick, dann fügte sie an: »Das war keine Bitte.« Die Angesprochenen zögerten noch einen Moment, doch die Zurschaustellung der Macht überzeugte sie, daß es besser war, zu gehorchen. »Danke«, sagte Quenthel und wartete, bis jeder saß und die Verschwörer alle Loyalisten im Rücken hatten. »So, nun wol len wir über die Angelegenheit sprechen, die euch so am Her zen liegt.« »Ich weiß nicht, was meine Nichte Euch über dieses Treffen gesagt hat«, sagte Drisinils Tante Molvayas, die ein dunkelgrün schimmerndes Gewand trug, das zur Farbe ihrer Augen paßte, »aber ich versichere Euch, daß es um völlig unschuldige Dinge geht.« »Es geht darum, Euren Tod zu planen, Herrin«, rief Vlondril. »Ich weiß es, ich war von Anfang an dabei.« Quenthel nickte der verrückten Priesterin zu. »Danke, Heilige Mutter. Eure Offenheit bringt uns ein Stück weiter.« Die Baenre sah ihre Feinde an und erklärte: »Soweit ich weiß, sieht eure Entschuldigung, euch meiner zu entledigen, so aus, daß Lolth das gewünscht haben soll. Ihr behauptet, sie sei von meiner Herrschaft über Arach-Tinilith so entsetzt, daß sie Menzoberranzan im Stich gelassen hat.« Molvayas atmete tief ein und nahm offenbar ihren ganzen Mut zusammen. »Ja. Wollt Ihr bestreiten, daß diese Möglich keit besteht?«
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»Ja«, gab Quenthel zurück. »Es ist ein lachhafter Gedanke, der sich nicht durch den kleinsten Beweis untermauern läßt. Allerdings bin ich sicher, daß er für die, die es auf meinen Platz abgesehen hat, plausibel erscheint.« Drisinil merkte, daß die Baenre zwar klang, als sei sie die Ruhe selbst, daß aber die sich windenden Peitschenschlangen unablässig in alle Richtungen blickten. »Was ist mit den Dämonen? Sie spiegeln die Attribute Lolths wi...« »Sie kommen ausschließlich zu mir, weil einer meiner sterb lichen Feinde sie in diesen Tarnungen schickt, damit sie eure Phantasie anregen.« »Welcher Feind?« verlangte Molvayas zu wissen. »Das muß noch festgestellt werden.« »Mit anderen Worten«, sagte Quenthels Stellvertreterin, »Ihr wißt genausowenig wie wir, was los ist.« »Zumindest weiß ich, was nicht los ist.« »Ja? Was macht Eure Meinung der unseren überlegen?« »Die Antwort darauf ist jedem klar, der auch nur einen Funken Verstand besitzt.« »Beleidigungen werden Euch nicht weiterhelfen, Herrin. Aber ich könnte mir einen Test vorstellen, der das könnte. Tretet für ein Jahr zurück, und wir warten ab, was geschieht.« Quenthel lachte auf. »Ich soll dir die Akademie einfach so übergeben, Barrison Del’Armgo? Wohl kaum. Aber zufällig habe ich mir auch ei nen Test überlegt, durch den sich feststellen läßt, wer von Lolth wirklich vorgezogen wird – ihr mit eurer traurigen klei nen Intrige oder ich.« »Wie meint Ihr das?« fragte Molvayas und blickte vorsichtig drein. »Mein Test ist völlig simpel. Wir fragen Lolth einfach, wen
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sie bevorzugt, und warten auf ihre Antwort.« »Das ist verrückt. Die Spinnenkönigin spricht nicht mehr zu uns!« »Wenn wir sie bitten, wird sie sich vielleicht herablassen, uns ein Zeichen zu geben. Seid ihr bereit, es zu versuchen?« »Möglicherweise«, sagte Molvayas, die sich der Klingen hinter ihrem Rücken durchaus bewußt war und wußte, daß ihr kaum eine andere Wahl blieb. »Schlagt Ihr vor, irgendein Ritual durchzuführen?« »Was sollte ein Ritual bezwecken, wo wir unsere Magie ver loren haben? Meine Idee ist einfacher. Wir alle bleiben in diesem Raum, vertieft in stumme Gebete und Meditation, bis die Dunkle Mutter ihren Willen kundtut.« Vlondril schnaubte. »Was, wenn sie beschließt, uns zu igno rieren?« Quenthel zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, daß sie ihr auserwähltes Volk und ihre Geistlichen ganz aufgegeben hat. Mein Glaube ist zu stark, um eine solche Katastrophe in Erwä gung zu ziehen. Wie stark ist dein Glaube, Barrison Del’Arm go?« »Stark genug, um keine Angst zu haben, daß die Göttin Euch mir vorziehen könnte«, erwiderte Molvayas. »Ich weiß nur nicht, was Ihr damit bezweckt. Lolth wird zu uns sprechen, wenn sie es will, nicht wenn wir es wollen.« »Es ist keine Zeitverschwendung, wenn es euch am Leben erhält. Ich hätte meinen Anhängerinnen auch befehlen kön nen, euch alle in dem Moment zu töten, als sie den Raum betraten. Stattdessen biete ich euch an, euren Befürchtungen auf den Grund zu gehen, um aller hier im Tempel willen. Könnte es unter den gegebenen Umständen eine großzügigere Tat geben?« »Nun gut«, willigte Molvayas ein. »Wir werden eine Zeit
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lang bleiben, doch wenn nichts geschieht, werden meine Ge fährtinnen und ich unbehelligt den Raum verlassen. Ihr könnt uns nicht bestrafen, wenn das Ergebnis dieses Tests unklar ist. Das wäre ungerecht.« »Einverstanden«, erwiderte Quenthel. Drisinil war entsetzt und bestürzt. Diese merkwürdige, völlig passive Prozedur hörte sich an, als könne sie Stunden in An spruch nehmen. Sie brauchte das Gegengift aber, ehe ihr ra sendes Herz in Stücke gerissen wurde, und doch konnte sie nichts tun, um den Ablauf zu beschleunigen. Auch wenn die anderen offenbar genauso verwirrt waren, kehrte augenblicklich Ruhe ein. Meditation war etwas, das sie alle gewohnt waren, auch wenn sie frustrierend und sinnlos geworden war, seit sich Lolth entzogen hatte. Lange Zeit geschah nichts, abgesehen von einem Muskel unter Drisinils Auge, der unkontrolliert zuckte. Einige von denen, die sie verraten hatte, warfen ihr verstohlene Blicke zu, die keiner Worte bedurften, um zu verstehen, daß sie ihr Rache schworen. Ein winziges Etwas huschte über den Boden, aber vielleicht war da auch nichts gewesen, denn als sie versuchte, sich auf die Bewegung zu konzentrieren, war nichts mehr zu sehen. Weitere Minuten verstrichen langsam. Stoff raschelte, als jemand seine Position etwas veränderte. Irgendjemand unter drückte ein Niesen. Drisinil bemerkte, daß sie immer noch den letzten Hauch eines Beerdigungsweihrauchs riechen konnte, den Lirdnolu in ihrem Nekromantie-Unterricht verbrannt hatte. Wieder bemerkte sie ein Huschen, und diesmal sah Drisinil eine Spinne. Das war an sich nicht ungewöhnlich, da man in Arach-Tinilith überall auf die heiligen Kreaturen traf, und doch machte etwas sie auf dieses spezielle Exemplar aufmerk
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sam, obwohl sie sich krank und elend fühlte. Sie sah genauer hin, bis sie erkannte, daß das Tier einen blauen Panzer mit roten Markierungen hatte. Das war ein wenig seltsam. Diese spezielle Art hielt sich normalerweise in ihrem Netz auf, aber sie lief nicht umher. Dennoch war ihr nicht klar, warum diese Anomalie sie so beunruhigte. Es mußte das Gift sein, das an ihren Nerven zehr te. Die Zeit verging unendlich langsam. Eine Priesterin auf dem untersten Rang summte tonlos eine Hymne. Eine andere No vizin mit verstümmelten Händen tastete verstohlen nach dem Messer, das sie unter ihrem Ärmel festgemacht hatte, und prüfte, ob es locker genug in der Scheide saß. Drisinil bemerk te, daß immer mehr schwarze Punkte über Boden und Wände krochen. Mehr als üblich für einen länger unbenutzten Teil des Tempels. Sie fand schon und sah zu Quenthel, in der Hoff nung, sie würde erkennen lassen, daß ihr Verdacht richtig war. Die Baenre stand reglos da, den Kopf gesenkt, das Abbild einer Mystikerin, die völlig von ihrer Hingabe vereinnahmt war. Eine Novizin mit goldenem Ohrring schrie vor Schmerz. Sie zog an ihrer Bluse legte ihre rechte Schulter frei und fand die Spinne, die sie gerade biß. Ihre panischen Bemühungen, das Spinnentier zu entfernen, ohne es zu verletzen, hatten etwas unfreiwillig Komisches an sich, doch Drisinil konnte nicht darüber lachen. Zermürbt und konfus von dem Gift konnte sie nur die dunklen Punkte anstarren, die durch den Raum wan derten. Einige andere Verschwörerinnen hatten es inzwischen auch bemerkt. Sie tuschelten, die Augen weit aufgerissen. Etwas strich über Drisinils Arm, die aufschrie und herum wirbelte. Es war eine von Quenthels Vipern, die sie berührt hatte. »Bleib hier«, warnte die Herrin sie.
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Erneut erhöhte sich die Zahl der Spinnen. In Scharen kro chen sie über die Verschwörerinnen, bissen sie, begaben sich unter ihre Kleidung und sprenkelten ihre Haut wie die offenen Wunden einer abscheulichen Seuche. Die Opfer schrien auf und schlugen nach ihnen, ohne sich noch länger darum zu kümmern, daß die Tiere heilig waren. Doch so sehr sie sich auch anstrengten, sie konnten nicht alle erwischen. Ein paar der Verräterinnen waren geistesgegenwärtig genug, schützende Talismane zu aktivieren, mußten aber feststellen, daß die Ma gie ihnen auch nicht helfen konnte. Der einzige Bereich, der frei von Spinnen blieb, waren die oberen Ränge. Als die Loyalisten erkannten, daß die Geschöp fe sie nicht angreifen würden, begannen sie, die Verschwöre rinnen zu verspotten und sich über ihr Los lustig zu machen. Sobald eine von ihnen versuchte, sich in Sicherheit zu brin gen, wurde sie zurückgestoßen. Manche schossen gar mit Handarmbrüsten alle Verschwörerinnen nieder, die zur Tür zu taumeln suchten. Drisinil blieb an Quenthels Seite, und die Spinnen liefen über ihre Füße, schienen aber weiter keine Notiz von ihr zu nehmen. Ganz anders dagegen die Baenre, die von den Tieren förmlich überrannt wurde, ohne daß sie ihr etwas taten. Sie nahm sogar einige von ihnen hoch und setzte sie sich auf den Kopf. Dann hörten die Schreie auf, bis nur noch Vlondrils ekstati scher Gesang zu hören war, während sie von den Spinnen vernichtet wurde. Nach wenigen Augenblicken verstummte auch ihre Litanei. Drisinil entdeckte die Leiche ihrer Tante, die sie aber nur anhand des jadegrünen Kostüms erkennen konnte. Ihr Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit geschwollen und blutüberströmt. Quenthel sah hinauf zu den Lebenden und rief: »Wir baten
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Lolth um ein Zeichen, und wir haben es erhalten. Meine Wi dersacher sind tot, ich lebe, eingehüllt in die heiligen Spinnen Lolths. Ich bin die Herrin Arach-Tiniliths, und meine Unter gebenen werden meine Autorität nicht noch einmal in Frage stellen, sonst werden sie für ihren Affront eines qualvollen Todes sterben.« Die überlebenden Priesterinnen und Novizinnen bekunde ten ihr hastig ihren Gehorsam. »Gut«, sagte die Baenre. »Ihr seid klug, also schwöre ich euch: Wir werden diesen nächtlichen Angriffen ein Ende setzen. Wir werden unsere Magie zurückerlangen, und wir werden wieder Lolths Stimme hören. Unser Orden und unser Tempel werden großartiger sein als je zuvor – und jetzt schafft diesen Unrat fort.« Die Spinnen zogen sich zurück, aus dem Raum wie von Quenthels Körper. Drisinil konnte nicht genau sagen, ob sie einfach wegkrochen oder ob sie teleportierten. »Ich habe es getan«, sagte die Schülerin. »Ich habe die Ver räter für Euch zusammengebracht. Jetzt gebt mir das Gegen gift.« Quenthel lächelte: »Es gibt keines.« »Was?« »Ich habe dich nicht vergiftet. Die Flüssigkeit war nur ein Aufputschmittel. Ich gab dir genug, um eine beunruhigende Wirkung zu erzielen, aber das legt sich wieder.« »Ihr lügt! Ihr spielt mit mir!« »Ich hätte dir ein langsam wirkendes Gift verabreicht, wenn ich eines dabeigehabt hätte, da das aber nicht der Fall war, mußte ich improvisieren.« Drisinil fühlte eine Woge bitterer Demütigung in sich auf steigen. Sie mußte irgendwie unter Beweis stellen, daß sie keine völlige Närrin war.
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»Na ja«, sagte sie schließlich. »Das paßt ja gut, weil Ihr die anderen genauso getäuscht habt. Ich weiß, daß nicht Lolth diese Spinnen kontrollierte, sondern Ihr. Ihr habt eine Schrift rolle oder einen anderen Zauber benutzt, ehe Ihr den Raum betreten habt.« »Und wenn dem so wäre, was macht es aus?« Eine gelbe Spinne kroch aus Quenthels Haar auf ihre Schulter, doch sie nahm keine Notiz davon. »Lolth lehrt uns, daß die Geschick ten und Starken über die Dummen und Schwachen regieren müssen. Du kannst es sehen, wie du willst, aber das Ergebnis entspricht ihrem Willen – und nun laß uns über deine Zukunft reden.« Drisinil schluckte. »Ihr habt versprochen, mich zu verscho nen.« »Ja«, erwiderte Quenthel mit einem aufmunternden Lä cheln. »Im Gegensatz zu manchen anderen halten wir Baenre unser Wort. Der Ruf, gerecht zu sein, erleichtert gewisse Ab machungen. Allerdings habe ich nicht versprochen, dich nicht zu bestrafen.« »Ich verstehe. Natürlich akzeptiere ich Prügel oder jede an dere Strafe, die Ihr für angemessen haltet.« »Das ist sehr vernünftig. Wie wäre es denn damit: Wir schneiden dir die übrigen acht Finger ab und reißen dir auch noch die Zunge heraus.« Einen Moment lang glaubte Drisinil, sie hätte sich verhört. »Ihr scherzt.« »Nein. Ich bin fest davon überzeugt, daß du die treibende Kraft hinter der Verschwörung gegen mich warst. Es ist meine Absicht, dafür zu sorgen, daß du dir nicht eine neue Nettigkeit ausdenkst. Nie wieder. Dafür sollte genügen, wenn du nicht sprechen kannst, wenn du weder Magie wirken noch eine Waffe führen kannst. Natürlich kannst du unter diesen Bedin
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gungen nicht in Arach-Tinilith bleiben, und ich würde auch nicht auf einen herzlichen Empfang zählen, wenn du nach Hause zurückkehrst. Ich bezweifle, daß Mez’Barrison Del’Arm go großes Interesse an einer grotesk entstellten und völlig nutzlosen Tochter hat. Sie könnte sogar glauben, du seiest eine Schande und dich töten oder wegsperren.« Voller Panik holte Drisinil aus, konnte aber keinen Treffer landen. Kräftige Hände packten sie von hinten, rissen sie zu rück, und dann traf sie etwas Hartes, Schweres am Kopf. Ihre Beine knickten weg, doch sie fiel nicht, weil sie festgehalten wurde. »Wir haben sie«, sagte Quave über Drisinils Schulter hin weg. »Danke«, erwiderte Quenthel. »Bringt sie in die Bußkam mer und kettet sie an.« »Jawohl. Ich darf annehmen, daß Ihr persönlich die Bestra fung ausführen werdet?« »Das würde ich gern«, antwortete die Baenre. »Aber es gibt noch eine andere Sache, um die ich mich kümmern muß. Du kannst das tun. Vergnüge dich, aber pass auf, daß sie nicht stirbt. Sie können an ihrem eigenen Blut ersticken, wenn man ihnen die Zunge herausschneidet.«
Pharaun entspannte sich in seinem Sessel und genoß das Ge fühl der Finger des Barbiers, der eine kräftigende Flüssigkeit in seine Kopfhaut einmassierte. Es war nicht ganz so entspannend wie eine Ganzkörpermassage, aber trotzdem beruhigend. Der Barbier erzählte drauflos, und von Zeit zu Zeit reagierte Pharaun mit einem beiläufigen »Tatsächlich?« oder einem Brummen. Wie Barbierkunden aller Rassen zu allen Zeiten dieser Welt hörte auch er nicht wirklich zu.
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Der Stand des Barbiers, der sich als kleine Kiste mit Salben und Pomaden darstellte, war nach vorn hin offen, und es war wesentlich interessanter, den Blick auf den Basar zu richten. Ein Gemeiner ging vorüber und trug in einem Kasten ein glucksendes Huhn, das aus den Ländern des Lichts importiert worden war. Ein Händler hatte dem Mann vermutlich zugesi chert, das Tier würde ihm auf Jahre hinaus Eier legen, obwohl solche Vögel im Unterreich selten lange lebten. Ein Portrait maler bildete sein Modell ab, wobei die Zauber im Pinsel es ihm erlaubten, die Leinwand mit erstaunlicher Geschwindig keit zu bemalen. Ein Waffenhändler trieb ein Rapier durch einen gefesselten und geknebelten Kobold, um zu zeigen, wie scharf die Spitze war. Mit hochgeschlagener Kapuze und eng um sich gelegtem Mantel spazierte Ryld, dessen Schwert von Pharaun mit einem Zauber getarnt worden war, zu einem Zelt, dessen seitliche Planen hochgerollt waren. Dort wurden Spiele aller Art ange boten. Ryld stand vor einem Sava-Brett und dachte über die Stellung der Figuren nach. Die Szene vor dem Stand veränderte sich plötzlich, als die Besucher in Richtung Norden zu sehen begannen. Jemand quetschte sich an einen der Stände, um die Mitte des Gangs freizumachen. Ein zerlumpter Gemeiner, der nach einem Ver steck zu suchen schien, lief in entgegengesetzter Richtung davon. Ryld schlenderte zum Rand des Zelts, sah in die Richtung, in die alle blickten, dann nickte er Pharaun zu. Damit bestätig te er, was der Magier bereits ahnte. Eine Patrouille. Pharaun wünschte, die Wachen hätten sich noch fünf Mi nuten Zeit gelassen, denn so mußte er sich ans Werk begeben, obwohl der Barbier mit seiner Arbeit noch nicht fertig war. Es war eine Tragödie, aber daran ließ sich nichts ändern.
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Einen Moment später marschierte die Patrouille vorüber, dank ihrer verzauberten Stiefel lautlos, und warf strenge Blicke nach links und rechts über den Basar. Zumindest dem Titel nach führte eine Priesterin Arach-Tiniliths mit einem polier ten Holzstab die Gruppe an. Assistiert wurde sie von einem Lehrer aus Melee-Magthere und Gelroos Zaphresz, einem von Pharauns jüngeren Kollegen in Sorcere. Das war bedauerlich. Gelroos kannte unglaublich viele Witze und amüsante Anek doten und stellte einfach eine angenehme Gesellschaft dar. Wenn Pharaun den anderen Magier heute tötete, hatte das wenigstens den Vorteil, daß er sich keine Gedanken darüber machen mußte, Gelroos könnte schon morgen einen Anschlag auf sein Leben unternehmen. Neben den Offizieren bestand die Patrouille aus einer Reihe von Kriegern, die noch in der Ausbildung waren, Jungs, die Ryld fast mit Sicherheit auch einmal in einer Kampftechnik unterwiesen hatte. Pharaun machte sich ihretwegen keine Gedanken, denn die wahre Gefahr ging von seinen Kollegen aus. Der Meister Sorceres wartete, bis die Wachen sie passiert hatten, dann überraschte er den Barbier, indem er den mit Haaren übersäten Umhang zur Seite schlug, der über seinen Oberkörper gelegt worden war, und dem Mann eine Goldmün ze in die Hand drückte, die ein mehr als großzügiger Lohn für dessen Arbeit war. Dann legte er einen Finger an die Lippen, um ihm ohne Worte zu verstehen zu geben, was er sich damit tatsächlich kaufen wollte. Er griff nach seinem Piwafwi, dessen elegantes Aussehen er mit einer kleinen Illusion überdeckt hatte, legte ihn sich um, ging zum Ausgang des Stands und spähte hinaus. Die Patrouille hatte sich etwa zwanzig Meter weit die Gasse entlang entfernt. Noch ein Stück, dann würde sie um eine
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Ecke biegen, also hatte Pharaun soviel Abstand zum Feind, wie er maximal bekommen würde. Er band sich ein Stück Seide vor die untere Gesichtshälfte, trat hinaus in den Gang, schwenkte eine Glaskugel und eine Prise Rost, dann rezitierte er eine Beschwörungsformel. Sein zur Hälfte frisiertes Haar stand hoch, und die Luft um ihn herum roch nach Ozon. Ein zuckender, blau-weißer Funke tauchte vor ihm auf und schoß durch den Gang. Als der Lichtpunkt die Patrouille erreicht hatte, explodierte er und jagte Flammen in alle Richtungen. Viele der jungen Soldaten sprangen brennend umher und gingen zu Boden, da sie weder die spirituelle Kraft noch einen schützenden Talis man besaßen, der die Verletzungen auf ein Minimum reduziert und sie auf den Beinen belassen hätte. Leider erfaßten die sengenden Feuerbögen auch eine Reihe von Händlern und Kunden. Pharaun hatte keine Unbeteiligten in den Anschlag hineinziehen wollen, doch der Gang zwischen den Ständen war zu schmal und zu überlaufen. Der Rest der Patrouille begann kehrtzumachen. Der Hauptmann von Melee-Magthere rauchte und war angekohlt und verbrannt, doch wenn er nur ein wenig so war wie Ryld, würden ihn die Verbrennungen nicht stoppen können. Gel roos und die Priesterin sahen aus, als hätte der explodierende Blitz sie überhaupt nicht erfaßt. Die Frau wirbelte schneller herum als die anderen und hob ihren Stab. Seinem Silberring hatte Pharaun das Wissen zu verdanken, daß es sich um einen Spinnenstab handelte, eine Waffe, die in der Lage war, ein klebriges Netz über ihn zu werfen. Er hatte nicht vor, diese Art von Demütigung über sich er gehen zu lassen, also rasselte er eine ganze Folge magischer Worte herunter und streckte seinen Arm aus. Fünf Streifen arkaner Energie schossen aus seinen Fingerspitzen, überwan
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den die Distanz zwischen ihnen und bohrten sich in den Torso der Klerikerin, die nach hinten taumelte und fiel. Gelroos, ein drahtiger Mann mit tiefliegenden Augen und einem Hauch von der gebeugten Haltung eines Studierenden, sah den Weg hinauf und rief: »Meister Mizzrym!« »Soviel zu meiner Fähigkeit, eine nicht-magische Tarnung anzulegen«, grinste Pharaun. »Aber andererseits kennen wir beide einander ja auch recht gut.« »Es ist Euch erlaubt, einen anderen Meister Sorceres zu tö ten«, sagte Gelroos. »Daran ist nichts auszusetzen. Aber Ihr habt Eure Befugnisse überschritten, indem Ihr diese Soldaten getötet habt. Es war sinnlos und nachlässig, und ihre Mütter werden diese Vergeudung nicht gutheißen. Sie werden mich dafür belohnen, daß ich Euch ausgeschaltet habe.« »Hilft es, wenn ich erkläre, daß ich das, was ich tue, nur tue, um Menzoberranzan vor doppeltem Unheil zu bewahren?« fragte Pharaun. Gelroos hob die Hände als Vorbereitung auf eine Beschwö rung, und die verbleibenden Krieger kamen angestürmt. »Ich dachte mir schon, daß es nicht hilft.« Auch er setzte zu einem Zauber an. Gelroos stellte seinen Zauber einen Augenblick früher fertig als Pharaun. Die Oberfläche der Gasse begann aufzubrechen und Steine in die Luft zu speien. Das Bild erinnerte an einen Geysir, doch fielen die hochgewirbelten Steine nicht zurück auf die Erde, sondern bewegten sich hin und her, bis sie eine passende Stelle gefunden hatten und eine große, in groben Zügen an einen Drow erinnernde Gestalt angenommen hat ten, die wie eine Heldenstatue wirkte, die der Bildhauer kurz nach Beginn bereits wieder aufgegeben hatte. Ihre Schritte ließen die Erde beben, als die Kreatur sich zwischen den Basar ständen auf Pharaun zu bewegte.
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Der war ehrlich beeindruckt, da es nicht einfach war, einen Erdgeist zu beschwören und zu beherrschen. Es war auch nicht einfach, ihn zu bekämpfen, dennoch ließ er sich nicht von der Manifestation aus der Ruhe bringen. Er setzte seine Rezitation ohne Versprecher fort, während er sich nach oben treiben ließ, um wenigstens für den Moment den Schwertern der anstür menden Krieger aus dem Weg zu gehen. Er sprach die letzte Silbe seines Zaubers. Ein Dolch aus Eis flog aus seiner Hand. Gelroos wich der Klinge zwar aus, doch sie explodierte und übersäte ihr Ziel mit eisigen Splittern. Einer der Splitter schnitt in die Wange des Magiers, der tau melte. Pharaun erkannte aber, daß er nicht ernsthaft verletzt war. Unter dem Mizzrym machten einige Krieger ihre Bogen be reit, während andere nach oben zu schweben begannen. Indem sie sich ihm näherten, bewegten sie sich auf Höhe des Zelts, in dem die Spiele angeboten wurden. Ryld platzte im nächsten Moment aus diesem Zelt. Vor gut einer halben Stunde hatte er einen Krummsäbel gekauft, den er für diesen speziellen Kampf für geeigneter hielt, doch es war Splitter – durch seine Berüh rung wieder sichtbar geworden –, den er im Augenblick in Händen hielt. Er mußte entschieden haben, daß es sinnlos war, seine Identität weiter geheimzuhalten, nachdem Gelroos schon Pharauns Namen genannt hatte. Das Schwert zuckte und schickte einen Gegner nach dem anderen zu Boden. Rylds Lehrerkollege erkannte die neue Gefahr und befahl seinen Untergebenen, sich ihr zu stellen, während er sich zwischen ihnen hindurchdrängte, um sich Ryld zu nähern. Steine, die so flüssig wie Magma waren, stiegen aus dem Grund auf und wurden vom Leib des Elementars aufgenom men. Die meisten dienten dazu, die Kreatur größer werden zu
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lassen, doch einige davon sammelten sich auch in ihrer Hand und bildeten dort einen Speer, der zweifellos auf Pharaun ge richtet werden würde. Der Magier zog eine winzige Phiole mit Wasser aus einer Ta sche. Er schwenkte sie und setzte zu einem monotonen Gesang an. Er spürte, wie sich die Wände des Kosmos anzupassen be gannen und wie es ihm für einen kurzen Moment unendlich viele seiner Ebenbilder in unendlich vielen Parallelrealitäten nachtaten, die wie eine endlose Folge von Spiegelbildern im mer kleiner wurden und ihm auf eine unterschwellige Weise immer weniger ähnlich sahen. Ein Impuls aus scharlachrotem Licht traf ihn in die Brust. Gelroos mußte ihn beschworen haben. Der Schmerz raste. Pharaun mußte alle Kraft aufwenden, um das letzte Wort des Zaubers auszusprechen und die letzte mystische Geste feh lerfrei in der Luft zu beschreiben. Er war sich nicht sicher, ob es ihm wirklich gelungen war, doch dann entstand ein Loch – aber nicht in der Materie, sondern in dem Medium darunter. Es öffnete sich unter dem Elementar. Die Kreatur holte aus, um den Speer zu werfen, doch in diesem Moment wurde ihr die belebende Kraft entzo gen und sie wurde in das Loch gesogen. Die Wunde in der Struktur der Welt zog sich wieder zusammen und schloß sich. Die Steingestalt zerfiel polternd in ihre Bestandteile. Pharaun überprüfte seinen Körper und kam zu dem Schluß, daß das rote Licht nur an seiner Haut gekratzt hatte. Er grinste Gelroos an. »Nicht ganz, Kollege.« »Diesmal«, sagte der jüngere Magier mit zusammengebisse nen Zähnen. Er begann zu zaubern, und auch Pharaun vergeudete keine Sekunde.
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Energie knisterte rings um den ausgestoßenen Mizzrym, konnte ihm aber nichts anhaben. Seine eigene Magie, die von dem gleichen kleinen runden Spiegel ausging, mit dem er sein Aussehen überprüfte, ließ die Luft rings um Gelroos wie klin gende Kristalle funkeln. Der junge Magier schrie, und im nächsten Moment hatte er sich in eine reglose Figur aus kal tem, glattem Glas verwandelt. Unter Pharaun erklang das Geräusch von Metall auf Metall. Er sah hinab. Es sah aus, als sei Ryld in ernsten Schwierigkei ten, doch ein Eisregen, der inmitten der überlebenden Schüler Gestalt annahm, wendete das Blatt zu seinen Gunsten. Ryld besiegte seinen Kollegen von Melee-Magthere, wirbelte herum und setzte dem Leben eines jungen Speerträgers ein Ende, und dann war der Kampf vorüber. Pharaun sah sich auf dem Schlachtfeld um. Einige Krieger schüler hatten zwar Verbrennungen erlitten und waren außer Gefecht, lebten aber noch, doch das war kein Problem. Wich tig war vor allem gewesen, seinen Kollegen zu töten. Das wür de die Ausreißer beeindrucken. Er ließ sich auf die Erde herabsinken. »Das war gar nicht so schwierig. Rückblickend ist es eine Schande, daß wir Greyan na und ihre Verbündeten nicht auf die gleiche Weise nieder gemetzelt haben.« Ryld brummte, packte den Saum des Umhangs eines der ge fallenen Kämpfer und wischte das Blut von Splitter ab. »Kannst du Gelroos zerschmettern, ehe wir aufbrechen?« bat Pharaun. »Sonst wird er sich wieder in Fleisch und Blut zurückverwandeln.« »Wenn du willst.« Ryld hob die Klinge.
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Quenthel war in einen schlichten, dunklen Piwafwi gekleidet und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen, als sie sich in südlicher Richtung durch die Stadt bewegte. Die Erfahrung war für sie fremd und bislang einzigartig. Sie war zu Fuß unter wegs, nicht auf einer Echse oder auf ihrem Thron auf einer schwebenden Steinscheibe. Sie war allein, sie wurde nicht von Scharen von Wachen und Dienern begleitet, und was das seltsamste von allem war: Niemand nahm von ihr wirklich Notiz. Oh, Sklaven gingen ihr aus dem Weg und Männer be kundeten ihr höflich Respekt, doch niemand fürchtete sich vor ihr oder war von Ehrfurcht ergriffen. Vielmehr mußte sie sogar selbst einige Male adligen Frauen Gehorsam bekunden, denen sie begegnete, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, von deren Soldaten für ihre Arroganz bestraft zu werden. Es war aufreizend, beunruhigend und zugleich ein wenig
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verlockend. In ihren verborgensten, persönlichsten Gedanken hatte sie sich vorgestellt, einfach vor dem unerbittlichen Geg ner davonzulaufen, der so hartnäckig daran arbeitete, sie zu töten. Vielleicht war es der einzige Weg, um zu überleben. Wenn sie sich in diesem Moment zur Flucht entschloß, hatte sie bereits einen guten Anfang dafür gemacht. Immerhin hatte sie Tier Breche verlassen können, ohne daß es jemand gemerkt hatte. Zumindest hoffte sie das. Flucht war jedoch ein feiger Gedanke, einer Baenre nicht würdig, und es erzürnte sie, wenn sie auch nur für einen Au genblick daran dachte. Bis die Angriffe eingesetzt hatten, war sie nie auf diese Idee gekommen. Sie bog um eine Ecke, und Qu’ellarz’orl kam in Sichtweite. Ihr Ziel lag dicht vor ihr, und sie konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihr lag. Sich aus der Akademie davonzustehlen war nicht ganz so einfach gewesen. Zunächst hatte sie unbemerkt an Kleidung gelangen müssen, die unscheinbar genug war, um sie als Bür gerliche durchgehen zu lassen. Einen derartigen Piwafwi hatte es in ihrem Bestand nicht gegeben, da ihre Kleidung aus nahmslos teuer und juwelenbesetzt war. Doch im Kleider schrank des Küchenpersonals war sie fündig geworden. Nach dem sie sich des Kochs entledigt hatte, damit der nicht das Verschwinden seines Kleidungsstücks melden konnte, hatte sie Arach-Tinilith verlassen müssen, ohne daß jemand erkannte, daß sie es war, auch nicht ihre aufmerksamen Wachen. Schließlich hatte sie bis zum Ende des Plateaus gelangen müs sen, um von dort zum Höhlenboden zu schweben, ohne die Wache am Kopf der Treppe auf sich aufmerksam zu machen. Es war ihr gelungen, und sie war sicher, daß sie auf diesem Weg auch wieder in die Akademie zurückgelangen würde, auch wenn das Plateau stärker als zuvor bewacht wurde. Eine Straße führte hinauf zu der Anhöhe, die für die Burgen
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der bedeutendsten Familien von Menzoberranzan Qu’ellarz’orl war. Sie war für Gemeine nicht tabu. Händler und Lieferanten gingen dort ein und aus, doch wurden sie von Patrouillen des Hauses Baenre durchsucht und befragt. Quenthel machte sich auf den Weg und hatte etwas mehr als die Hälfte der Serpentinen zurückgelegt, als sie das markan te Grunzen und Zischen einer Reitechse hörte. Hastig verließ sie den Weg und lief in den Wald aus gigantischen, phospho reszierenden Pilzen, wo sie sich hinter einem besonders großen Exemplar versteckte. Die Patrouille, ein berittener Offizier und ein Dutzend Sol daten zu Fuß, marschierten vorüber, ohne auch nur einen Blick in ihre Richtung zu werfen. Sich vor den eigenen Truppen zu verstecken war eine weitere bizarre, fast schon unwirkliche Erfahrung. Nachdem die Krieger vorüber waren, eilte sie weiter den Hang hinauf. Nach gut einer Minute hatte sie den höchsten Punkt der Anhöhe erreicht. Vor ihr erhoben sich die weitläu figsten Festungen der Stadt. Am äußersten östlichen Rand des Gebiets stand das Haus Baenre, das am höchsten gelegen war, alles andere überragte und im Verhältnis zu seiner eigenen Größe zwergenhaft erscheinen ließ. Sie ging auf die hohe, schmale Spitze zu, die als Zauberturm Xorlarrin bekannt war, Residenz des Fünften Hauses. Bänder aus schimmerndem Feenfeuer zogen Streifen über die eisernen Mauern. Sie erklomm unter den aufmerksamen Blicken der Wachen auf den Zinnen die hohen Stufen, die zum Tor hinaufführten. Hätte sie es nicht schon zuvor gewußt, wäre deren Wachsam keit ein sicheres Zeichen dafür gewesen, daß sie nicht länger anonym bleiben würde. Dennoch würde sie alles versuchen, nicht erkannt zu werden.
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Als einer der Wachposten, der mit Speer und Schwert be waffnet war, zu ihr kam, um sie zu fragen, was sie herführte, erwiderte sie: »Ich werde Euch etwas Bemerkenswertes zeigen, aber laßt niemanden Eure Verwunderung bemerken.« Er wirkte skeptisch. Er lebte schließlich im Zauberturm und hatte mehr Wunder gesehen als manch anderer. »In Ordnung, meine Dame. Zeigt es mir, wenn Ihr wollt.« Sie öffnete ihren Piwafwi und ließ ihn einen Moment lang das Emblem des Hauses Baenre sehen, das sie um den Hals trug. Er riß die Augen auf, verhielt sich aber sonst so, wie sie es sich gewünscht hatte. »Wie kann ich Euch dienen?« fragte er leise. Seine Stimme schwankte leicht, als wolle sie ihm ihren Dienst versagen. »Ich will den Turm betreten, ohne daß irgendwer davon et was mitbekommt, und ich möchte unter vier Augen mit Eurer Matronin reden.« »Folgt mir.« Der Wachmann führte sie durch das Tor in den Turm und von dort weiter in ein Wirrwarr aus Gängen, wie man es in jeder Burg antraf. Die Gänge brachten sie schließlich in einen hübsch eingerichteten Raum mit bequem aussehenden Sesseln aus Sandstein, einem Sava-Spielbrett in Karneol und Obsidian, das auf zwei Spieler zu warten schien, und Fresken von einigen Dämonen, die Lolth die Aufwartung machten, an den Wän den. Ihre Eskorte verließ sie, um nach der Herrin zu suchen, während Quenthel rastlos im Zimmer auf und ab lief. Dann endlich wurde die Tür geöffnet, und Zeerith Q’Xorlarrin trat ein. Ihre Gesichtszüge waren eben und unbestimmbar, aber sie war bekannt für ein würdevolles Auftreten und für ihre Gelas senheit, die sie selbst in den extremsten Situationen kaum
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einmal im Stich ließ. Für eine Matronin war ihr Kostüm recht schlicht und nüchtern. Die beiden Prinzessinnen begrüßten einander, dann führte Zeerith ihren Gast zu der Sitzgruppe. »Als Antatlab mir sagte, Ihr würdet ohne eine einzige Wa che kommen, habe ich mich gefragt, ob er verrückt geworden ist«, merkte die Matronin an. »Kann ich darauf vertrauen, daß er niemandem von mei nem Besuch erzählt?« »Er ist recht diskret. Darf ich fragen, was mir die unerwarte te Ehre Eures Besuchs verschafft?« Quenthel berichtete, was in den letzten drei Nächten ge schehen war. »Würde ich noch über meine Magie verfügen«, sagte sie ab schließend, »dann wäre diese Angelegenheit eine Leichtigkeit für mich, doch so, wie die Dinge derzeit liegen ... brauche ich Hilfe.« Diese letzten Worte waren ihr zuwider, aber sie mußten ge sagt werden. »Warum sucht Ihr diese Hilfe hier?« fragte Zeerith. »Die Xorlarrin haben die Baenre immer unterstützt und da von profitiert. So sehr ich mich auch anstrenge, kann ich kei nen überzeugenden Grund finden, warum Ihr meinen Tod wünschen solltet. Wenn ich also jemandem vertrauen muß, dann seid Ihr eine gute Wahl. Werdet Ihr mir helfen, Matro nin?« Zeerith ließ sich mit der Antwort Zeit. Quenthel wußte, daß die andere Frau kaltblütig darüber nachdachte, ob sie ihr hel fen, sie wegschicken oder sie verraten sollte. Worin lag der größte Vorteil? »Eure Notlage ist empörend«, sagte die Xorlarrin nach einer Weile, »ein Affront gegen alle Priesterinnen. Natürlich werde
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ich Euch helfen. Für zehntausend Talente Gold und für Eure Unterstützung, wenn mein Disput mit dem Haus Agrach Dyrr öffentlich bekannt wird.« »Welcher Disput?« »Der, den ich in ein oder zwei Zehntagen vom Zaun bre chen werde. Sind wir uns einig?« Quenthel preßte die Lippen zusammen. Wäre sie im vollen Ornat einer Baenre-Prinzessin zum Zauberturm gekommen, hätte es sich Zeerith zweimal überlegt, mit der Zusage ihrer Hilfe Bedingungen zu verknüpfen. Doch da sie inkognito auf getaucht war, hatte die Herrin ihre Verzweiflung unter Beweis gestellt und damit den Vorteil in der Verhandlung ihrem Ge genüber verschafft. »Ja«, sagte sie mißmutig. »Ich bin einverstanden.« »Danke für Eure Großzügigkeit. Was braucht Ihr?« »Jede Nacht«, sagte Quenthel, »kommt ein anderer Dä mon, um mich zu töten. Ich wehre mich nach Kräften. Wenn das so weitergeht, wird eine Nacht kommen, aus der nicht ich als Siegerin hervorgehe. Ich muß mehr tun. Ich muß dem Be lagerungszustand ein Ende setzen. Ich hoffe, daß Eure Magi eine Lösung wissen. Ich muß gestehen, ich kenne keine. Ich habe jedes Gewölbe, jede Truhe und jede Schublade in ArachTinilith auf den Kopf gestellt, aber nichts gefunden, was mir helfen könnte.« »Darum seid Ihr heimlich gekommen. Ihr braucht eine Waffe und wollt nicht, daß Euer Feind davon etwas erfährt, weil er ansonsten entsprechende Gegenmaßnahmen einleiten könnte.« »Korrekt.« Zeerith stand auf. »Wir werden Horroodissomoth fragen. Wenn einer etwas weiß, dann er, außerdem wird er nicht dar über reden.«
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Sie öffnete die Tür und wies Antatlab, der davor Wache ge standen hatte, an, er solle ihren Protektor und Hausmagier holen. Wenig später kam Horroodissomoth. Quenthel verspürte ein wenig Abscheu, da der Magier das absolute Gegenstück zum typischen vitalen Drow war. Sein Gesicht war mit Falten überzogen und runzlig, er ging gebeugt. Gerüchte besagten, sein verfallenes Erscheinungsbild werde nicht durch ein ex trem hohes Alter, sondern durch gefährliche magische Expe rimente hervorgerufen. Horroodissomoth bewegte sich so steif, daß man fast glaub te, das Knacken seiner Knochen hören zu können, bezeigte ihr seinen Gehorsam und ließ sich dann auf Zeeriths Bitten hin in einem der Sessel nieder, um sich Quenthels Geschichte anzu hören. Anfangs war die Miene des Magiers so ausdruckslos, daß man hätte glauben können, ihn interessiere nicht im ge ringsten, was er da hörte, doch als ihm klar wurde, daß sie ihn bat, ein magisches Problem zu lösen, begannen seine wäßrigen Augen zu strahlen. »Hmm«, sagte er, »hmm. Ich glaube, ich habe vielleicht et was, das Euch helfen wird. In gewisser Hinsicht bedaure ich, es Euch zu geben, weil es einzigartig ist, soweit ich weiß. Nicht einmal wir Xorlarrin wissen, wie man noch eines davon her stellen kann. Doch andererseits war ich immer neugierig dar auf, ob es wirklich funktioniert.«
Gerüchte besagten, daß irgendwann einmal in der fernen Ver gangenheit sich die Frauen des Hauses Ousstyl mit Menschen gepaart hatten. Natürlich leugneten die Ousstyl der Gegenwart das, und sie unternahmen alles, was mit ihren bescheidenen Mitteln möglich war, um jeden zu bestrafen, dem man unter
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stellte, er habe dieses Gerücht weitererzählt. Doch als Faeryl über den Tisch hinweg Talindra Ousstyl ansah, die Mutter matronin des zweiundfünfzigsten Hauses, war sie geneigt, es zu glauben. Talindra war groß und für eine Dunkelelfe außerge wöhnlich grobknochig. Ihr Kiefer war zu eckig, die Ohren waren nicht spitz genug. Am verräterischsten jedoch war die Vielzahl leerer Teller, die vor ihr standen. Sie hatte jedes klei ne bißchen ihres Sieben-Gänge-Menüs verspeist und damit eine Gefräßigkeit an den Tag gelegt, die eigentlich für ein niederes Wesen typisch war. Talindra rülpste einmal kräftig, dann sagte sie: »Verzeihung.« »Natürlich«, erwiderte Faeryl. Sie glaubte, von irgendwo in der Botschaftsresidenz einen dumpfen Knall gehört zu haben. Innerlich war sie zusammengezuckt, doch Talindra schien nichts aufgefallen zu sein. »Nun«, sagte die Matronin, »das war köstlich, aber ich glaube, Ihr habt meine Sippe zum Essen eingeladen und mich in diesen Privatraum gebracht, weil Ihr über etwas Wichtigeres als über Kochkunst reden wollt.« Faeryl lächelte und sagte: »Ihr habt mich durchschaut, und ich muß Euch etwas gestehen. Ich widme mich nicht immer den Interessen Ched Nasads insgesamt. Gelegentlich arbeite ich nur daran, den Reichtum des Hauses Zauvirr zu vergrö ßern.« »Wie könnte es auch anders sein?« meinte Talindra und hob ihren goldenen Kelch. »Es ist immer die Familie. Sie geht über alles.« Faeryl stimmte in den Trinkspruch der anderen Adligen ein. Sie hatte den süßen Dessertwein stets genossen, doch war er so süß, daß er ihr fast schon Übelkeit bereitete. Sie wußte, daß die Schuld dafür bei ihren Nerven zu suchen war. Die Gesandte stellte ihr Getränk ab und sagte: »Laßt uns
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darüber reden, wie unsere beiden Familien einander von Nut zen sein können. In Ched Nasad sind wir Zauvirr mit dem Haus Mylyl verbündet. Für die unmittelbare Zukunft müssen wir das auch bleiben. Doch es ist auch an der Zeit, daß für die Mylyls der Untergang beginnt und aller Reichtum und Einfluß auf uns übergehen. Ihr seht das Problem.« Talindra grinste und sagte: »Ihr wollt die Mylyls angreifen, ohne daß sie dahinterkommen, wer die Schuld daran trägt.« »Warum also nicht durch einen Mittler?« Von irgendwoher war ein schwaches, leises Wehklagen zu hören. Wieder spannte Faeryl sich an, doch ihr Gast zeigte auch diesmal keine Reaktion. Zum Glück waren Schmerzens schreie in den Häusern von Drow häufig zu hören und daher kein Grund zur Sorge. »Ihr wollt, daß ich Euch einige meiner Männer leihe«, sagte die Matronin, »damit die sich auf die lange, gefährliche Reise nach Ched Nasad begeben, um dort für Euch zu töten. Das ergibt Sinn. Die Mylyls würden nicht wissen, wer diese Solda ten sind oder daß sie für Euch arbeiten. Aber welchen Nutzen habe ich davon? Warum ...« Ein Krieger riß die Tür auf und eilte zu Talindra, einen stäh lernen Stab hoch erhoben. Doch die Matronin war zu schnell für ihn. Sie erhob sich von ihrem Platz und schlug den Mann mit einem Kinnhaken außer Gefecht, dann zog sie ein langes Messer aus dem Gürtel und machte einen Satz auf Faeryl zu. Die Botschafterin nahm im gleichen Moment den Kuß der Mutter hoch, der die ganze Zeit über unter dem Tisch gelegen hatte. Sie sprang hoch, wirbelte den Streithammer mit dem Basaltkopf herum und stoppte damit die heranstürmende Ta lindra. Für die nächsten paar Sekunden kämpften die beiden Adli
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gen, ohne daß eine von ihnen einen Treffer landen konnte; dann benutzte Talindra ihre freie Hand, um sie um ein Medail lon an ihrem Gürtel zu legen. Rotes Licht leuchtete zwischen ihren Fingern auf. Wenn die Matronin Gelegenheit bekam, einen Zauber zu wirken, dann würde das die Bedingungen dieses Zweikampfs ganz erheblich verändern. Faeryl mußte dem ganzen schnell ein Ende setzen, am besten, noch bevor sich der erste magische Effekt manifestieren konnte. Sie stürmte auf ihre Widersache rin los und zielte auf deren Kopf. Der Zug war unbedacht, und so mußte sie die Konsequenzen tragen. Die Spitze des Messers drang schmerzhaft zwischen ihre Rippen, schaffte es aber zum Glück nicht, das Kettenhemd zu durchdringen, das sie unter ihrer seidenen Kleidung trug. Der Kuß der Mutter traf die Menzoberranzanyr am Kopf und schleuderte sie zu Boden. Ihre Hand ließ das Amulett los, und das Leuchten verschwand. Sekunden später kam der zweite Wachmann in den Raum gerannt. »Wir haben sie alle unter Kontrolle, Herrin.« Der Krieger war ein rauh aussehender Mann mit abgebro chenem Schneidezahn und gebrochener Nase. Faeryl hatte ihn hin und wieder in ihr Bett geholt. »Gut«, erwiderte Faeryl. »Wie viele mußtet ihr töten?« »Nur einen, aber wir könnten den Rest abschlachten. Wenn ich das so sagen darf: Es wäre vernünftiger und nicht so mühselig, als wenn wir alle fesseln müssen.« »Das ist es, doch bin ich gekommen, um die guten Bezie hungen zwischen Menzoberranzan und Ched Nasad zu fördern. Auch wenn ein Verschwörer meine Bemühungen zunichte gemacht hat, werde ich die Situation nicht verschlimmern, indem ich für mehr Aufregung sorge als unbedingt nötig. Ihr
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Soldaten werdet tun, was ich euch aufgetragen habe. Zieht die Ousstyls aus, knebelt und fesselt sie.« Talindra stöhnte und tastete vergeblich nach ihrem Messer. Faeryl war beeindruckt, daß sie nach dem Schlag überhaupt wieder zu Bewußtsein kam, trat aber vorsichtshalber das Mes ser weit genug weg, daß es nicht in Reichweite ihrer Gegnerin war. »Das könnt Ihr nicht tun«, krächzte Talindra, »nicht mit dem Haus Ousstyl. Wir sind mächtig und vergessen nie einen Affront.« So angespannt sie auch war, Faeryl lächelte. Die Arroganz der Matronin war eindeutig fehl am Platz. Die Ousstyls waren so unbedeutend, daß sie nicht einmal gewußt hatten, daß die Botschafterin die Gunst Tier Breches verloren hatte. Anderen falls hätte sie nie die Einladung zum Essen angenommen, da man sich mit einer solchen Paria nicht an einen Tisch setzte. Faeryl schlug abermals zu, so daß Talindra das Bewußtsein verlor und so bald nicht wiedererlangen würde, dann lief sie durch die Burg und trieb ihre Gefolgschaft zur Eile an. Kurz darauf trugen sie alle die Kleidung der Ousstyls. Dieses eine Mal war Faeryl froh, daß ihr Haushalt relativ klein war, da sie sonst nicht alle hätten eingekleidet werden können. Sie und ihre Stellvertreter trugen die edle Kleidung der Ousstyl-Würdenträger, während die gewöhnlichen Soldaten Piwafwis, Kettenhemden und die Waffen von Talindras Leib wache trugen. Die Fremden verstauten Proviant unter ihren Mänteln, doch boten die nicht genügend Platz, um unbemerkt größere Mengen mit sich zu führen. Mit etwas Glück würden sie un terwegs jagen und sich mit Nahrung versorgen können. Sie machten sich auf zum geschlossenen Stall des Anwesens, wo Talindra ihre Schwebescheibe zurückgelassen hatte.
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Faeryl merkte, daß einige ihrer Gefolgsleute verschwitzt und aufgeregt waren. Auch wenn sie darauf achtete, es sich nicht anmerken zu lassen, fühlte sie sich genauso unwohl. War sie verrückt, gegen die ausdrückliche Anordnung Triel Baenres zu verstoßen? Vor allem, wenn sie und die ihr unterstellten Pries terinnen über praktisch keine Magie mehr verfügten? Nein. Es wäre vielmehr verrückt gewesen, einfach nur dazu sitzen und nichts zu tun – und das in dem sicheren Wissen, daß Triel früher oder später ihre Festnahme anordnen würde. Selbst wenn Faeryl nicht um ihr eigenes Schicksal besorgt gewesen wäre, wurde mit jeder Stunde der Drang größer he rauszufinden, warum aller Handel von Ched Nasad zum Erlie gen gekommen war, und dabei ging es nicht nur darum, daß der Handel an sich von großer Bedeutung war. So absurd es auch schien, sie wurde die irrationale Angst nicht los, daß die Stadt der schimmernden Netze von einem Unglück heimge sucht worden war. Sie mußte es wissen. Jedes Ereignis, das Ched Nasad betraf, konnte dem Haus Zauvirr schaden und ihren eigenen Status unbedeutend werden lassen. Auch wenn sie es niemandem gegenüber eingestanden hätte, war sie aber vor allem um ihr Heimatland besorgt. Sie versicherte sich, daß sie weder an Liebe, Loyalität noch an irgendeinem anderen für Drow unty pischen, da sanften Gefühl litt. Doch Ched Nasad hatte sie zu dem gemacht, was sie war. Ched Nasad war ein Teil von ihr, und alles, was der Stadt schaden konnte, bereitete ihr Sorgen. Nachdem sie ihre Gäste überfallen und beraubt hatte, wa ren die Würfel jedenfalls endgültig gefallen. Die Last- und Reitechsen zischten und brummten, als die Gruppe den Stall betrat. Faeryl wünschte sich von Herzen, wenigstens ein paar Tiere mitnehmen zu können. Doch da Talindra nicht mit diesem Transportmittel gekommen war,
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bestand diese Möglichkeit nicht. Die Schwebescheibe der Matronin war ein runder, flacher Stein, auf dem ein Elfenbeinthron festgemacht war und der gut dreißig Zentimeter über dem Grund schwebte. Er strahlte ein sanftes weißes Licht aus, das einen Hauch von Grün aufwies. Da Faeryl Talindras Kleidung trug, machte sie einen Satz und sprang auf die Schwebescheibe, setzte sich in den reich geschmückten und gepolsterten Sessel und gab dem Apparat den geistigen Befehl, sich in die ihrer Würde angemessene Höhe zu erheben. Sie durchlitt einen schlimmen Moment, in dem nichts geschah, doch als sie gerade zu vermuten begann, daß die Ousstyl das Vehikel so gesichert hatte, daß niemand außer ihr es benutzen konnte, setzte es sich doch noch in Be wegung. Es war einfach nur träge und erfüllte damit die Erwar tungen, die man allenfalls an Ausrüstung aus dem zweiund fünfzigsten Haus stellen durfte. Zwei von Faeryls Soldaten öffneten das Stalltor, und die Gruppe begab sich nach draußen, wo sich ihre Gefolgsleute angemessen formierten, sobald Platz genug war. Sie marschierten fort von der leuchtenden Feste, die 14 Jah re lang ihr Zuhause gewesen war, vorbei an dem Weg, an dem Umrae gestorben war. Faeryl sah Triels Beobachter nirgends, aber sie spürte deren Blicke auf sich. Sie war fast sicher, daß sie sie erkennen würden. Aber vielleicht auch nicht. Die meisten Leute sahen, was sie zu sehen erwarteten. Die Spione hatten gesehen, wie die Ousstyls in die Residenz gegangen waren, und wie zu erwarten, machten sich die unbedeutenden Adligen nun wieder auf den Heimweg. Warum sollte jemand genauer hinsehen, wenn er sicher sein konnte, daß er wußte, was sich da abspielte? Das zumindest war die Theorie. In dem Moment erschien es ihr ein zweifelhafter Gedanke, auf den sie da ihr Leben setzte.
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Ihre Gruppe hatte die unmittelbare Nähe der Residenz schon verlassen, ohne daß sie jemand hatte aufhalten wollen. Doch das bewies noch nichts. Die Beobachter würden ohnehin nicht aus ihren Verstecken springen und die Flüchtigen stop pen, sondern würden eine Kompanie Krieger alarmieren, die die Töchter und Söhne Ched Nasads ein Stück weiter die Straße entlang anhalten würden. Während ihre Miene die angemessene Mischung aus Gelas senheit und Überheblichkeit ausstrahlte, waren ihre Muskeln angespannt, und ihr Mund war trocken, als sie durch die Stra ßen schwebte. Im Augenblick war ihr Ziel Narbondellyn, Standort der bescheidenen Zitadelle der Ousstyls. Das war auch die Richtung, die die Spione von ihr erwarten würden. Die Drow gaben sich alle Mühe, auch für die Matronin ei nes weniger bedeutenden Hauses die Straße freizumachen. Dafür war sie dankbar. Doch vollbeladene Karren und ähnli ches konnten nicht so schnell Platz machen, wie ihr lieb gewe sen wäre. Das Vorankommen der Gruppe war notwendigerwei se gemächlich und nervenaufreibend. Schließlich jedoch passierten sie Narbondel selbst, wo das magische Leuchten sich drei Viertel des Weges bis zur Spitze der großen Steinsäule hinaufbewegt hatte. Faeryl sah Talindras Festung und befahl ihrer Gruppe, vom bisherigen Weg abzu biegen. Wenn sie sich weiter näherten, würde eine der Wa chen, die von den Wällen herunter Ausschau hielten, zwangs läufig ihre Verkleidung durchschauen. Sie marschierten in südlicher Richtung, noch immer ohne unfreiwilligen Aufenthalt. Wenn jemand sie verfolgt hätte, dann – da war die Botschafterin sicher – hätten die Verfolger inzwischen längst auffallen müssen. Faeryl atmete tief durch und sagte sich, daß ihr Plan funktioniert hatte und sie sich nun entspannen konnte. Doch so ganz gelang es ihr nicht. Viel
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leicht, wenn sie Bauthwaf erreicht hatten, oder eher noch, wenn sie das Territorium der Menzoberranzanyr hinter sich gelassen hatten ... Der Weg der Fremden führte sie in den Westen der Erhe bung Qu’ellarz’orl, deren Hänge dicht mit riesigen Pilzen be wachsen waren. Dann erreichten sie endlich eines der hundert Tore der Stadt, von denen aus man in die dahinter gelegenen Tunnels gelangte. Die Menzoberranzanyr sorgten zwar überall für eine angemessene Verteidigung, doch dieses Tor zählte zu den kleineren Ausgängen und wurde dementsprechend von wenig Personal bewacht. Die Flüchtigen bewegten sich in einer Art auf das Tor zu, als dürften sie völlig zu Recht davon ausgehen, daß die Wachen sie durchlassen würden. Die wunderten sich vielleicht, warum eine Hohepriesterin in elegantem Umhang und Gewand mit ihrem zeremoniellen Transportmittel einen Ausflug in die schmutzigen und gefährlichen Höhlen jenseits der Stadt un ternehmen wollte. Aber die Launen einer Matronin waren in Menzoberranzan Gesetz. Sie bezeugten ihr ihren Gehorsam und machten sich dann an den mühseligen Prozeß, der die Riegel aus Granit und Diamantspat öffnete – jedenfalls die meisten von ihnen. Ein Offizier beäugte Faeryl nachdenklich. Er hatte eine lis tige, amüsierte Miene und war kleiner als die meisten Männer, was ihn aber offensichtlich nicht davon abhielt, das schwere Breitschwert zu tragen, das an seinem Schulterriemen hing. Auch wenn er die Klinge eines Kriegers trug, vermied er ein Kettenhemd – das arkane Zauber stören konnte –, stattdessen hatte er Umhang und Wams gewählt, die für einen Magier typisch waren, da sie unzählige Taschen aufwiesen. Offenbar war er Kämpfer und Magier zugleich. Als sie ihm direkt in die Augen sah, senkte er respektvoll den Kopf, hob ihn aber sofort
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wieder, sobald sie in eine andere Richtung blickte. Sie wirbelte zu ihm und fragte: »Hauptmann, nicht wahr?« Der kleine Mann salutierte schneidig. »Hauptmann Filifar, meine Dame, zu Euren Diensten.« »Bitte kommt her.« Filifar gehorchte. Wenn er Vorsicht erkennen ließ, dann nur in seinen Augen. Die beiden Riesenspinnen, die in die Torflügel graviert waren, regten sich minimal. Faeryl wurde klar, daß sie sich aus ihrem geschnitzten Zustand lösen und für ihn kämpfen würden, wenn er den Befehl dazu gab. »Ihr seht aus wie ein intelligenter Mann«, sagte sie und sah von der Schwebescheibe auf ihn herab. »Danke, meine Dame.« »Vielleicht habt Ihr Befehl erhalten«, fuhr sie fort, »der De legation von Ched Nasad die Durchreise zu verwehren.« »Nein, meine Dame.« Filifars Hand zuckte leicht. Sie wollte entweder nach dem Heft seines Schwertes oder nach einer Zauberkomponente in seinem Umhang greifen. »Eure Untergebenen begnügen sich damit, ihre Anweisun gen zu erhalten und es dabei zu belassen, aber nicht ein kluger Bursche, wie Ihr es seid. Irgendwie habt Ihr es fertiggebracht, herauszufinden, wie die Botschafterin aussieht, damit Ihr in der Lage seid, sie zu erkennen, wenn sie hier entlangkommt.« Filifar kniff den Mund zusammen. »Meine Dame«, sagte er, »meine Kompanie ist gut bewaffnet und gut ausgebildet. Ihr habt vielleicht auch die Spinnen gesehen, die in das Tor gra viert –« Sie hob die Hand. »Ihr müßt Euch nicht ereifern, Haupt mann. Ich will Euch nichts. Wir sind nur zwei Menzoberranza nyr, die sich mit einem Gespräch die Zeit vertreiben, bis Eure Leute das Tor geöffnet haben.«
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»Ich bedauere, meine Dame, aber nachdem ich Euch nun aus der Nähe gesehen habe, kann ich ihnen das nicht länger gestatten.« Er trat zwei Schritte zurück, um sich ihrem Zugriff zu ent ziehen, dann drehte er sich um und war im Begriff, den ent sprechenden Befehl zu erteilen. Faeryl stoppte ihn, indem sie ihm eine protzige rubinrote Brosche hinhielt, die Talindras Eigentum gewesen war. »Ich sagte, Ihr wärt ein intelligenter Bursche, Hauptmann Filifar, aber ich glaube nicht, daß Ihr wohlhabend seid. Ihr tragt keinen Schmuck, und Eure Kleidung ist aus gewöhnli chem Stoff.« »Ihr habt recht, meine Dame. Das Glück war mir nicht hold.« »Das kann sich ändern.« Faeryl zog ein Schmuckstück nach dem anderen hervor, die Juwelen, die ihre Gefolgsleute den Ousstyls gestohlen hatten, zum Teil aber auch ihr eigenes Geschmeide. Sie legte alles in ihren Schoß, und als dort kein Platz mehr war, präsentierte sie die übrigen Teile auf dem blassen, leuchtenden Rand der Schwebescheibe. »Hier ist genug Reichtum, um deinem Glück und dem dei ner Untergebenen nachzuhelfen.« Filifar zögerte, dann erwiderte er: »Meine Dame, man sagte mir, Matronin Triel persönlich wünsche Eure Verhaftung. Es ist keine Kleinigkeit, sich einer Anweisung der Baenre zu wi dersetzen.« »Sagt einfach, die Zauvirr seien nicht durch dieses Tor ge kommen, oder wenn, dann habt Ihr sie nicht erkannt. Nie mand wird das Gegenteil beweisen können.« Er nickte ruckartig. »Genau. Verflucht, warum nicht?« Er nahm seinen Piwafwi ab, damit der als behelfsmäßiger
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Beutel herhielt, und warf den Schmuck hinein. Einige Solda ten bemerkten, was ihr Hauptmann tat, und kamen zu ihm, um zu sehen, was dort vor sich ging. Nachdem sie das Tor weit genug hinter sich gelassen hatten, ließ Faeryl die Schwebescheibe zurück. Das erhabene Trans portmittel war für ihre Zwecke viel zu langsam. Sie und ihre Gruppe marschierten im Eiltempo durch die größtenteils in ihrem Urzustand belassenen Durchgänge am Rande des Terri toriums der Menzoberranzanyr, vorbei an Außenposten von Jägern und an Diamantspat-Minen. Ihr Ziel war die Wildnis dahinter. Faeryl merkte, daß sie grinste. Es war vollkommen absurd. Sie hatten soeben ein Vermögen in Edelsteinen verschenkt, Triel würde ihre Truppen ihnen hinterherschicken, und sie war so gut wie sicher, daß eine schreckliche Gefahr vor ihnen lag. Doch aus irgendeinem Grund zählte das in diesem Moment nicht. Faeryl hatte ihre Gegner überlistet und war nach 14 Jahren endlich auf dem Heimweg. Die Flüchtigen bogen um eine Kurve, als vor ihnen finstere Gestalten aus den Tunnelwänden zu fließen schienen. Die Zauvirr wollten kehrtmachen, doch die Schatten befanden sich auch bereits hinter ihnen.
Am Rande des Menzoberranzanyr-Territoriums spürte Valas Hune die wahre Wildnis, die dahinter lag. Er konnte die wei ten, labyrinthartigen Räume fühlen und deren bedeutungs schwangere Stille hören. Er konnte die Variationen im Gestein riechen und schmecken und stellte sich vor, wie er sich ein fach in diese grenzenlose Welt gleiten ließ. Was Launen anging, war seine nicht völlig absurd. Die meisten Drow fürchteten sich davor, durch das Unterreich zu
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reisen, es sei denn, sie waren in bewaffneten Konvois unter wegs, und das aus gutem Grund. Ihnen fehlte es an den Fähig keiten, die er über Jahrzehnte hinweg entwickelt hatte, Über lebenstechniken, die ihn zu einem der besten Späher in ganz Menzoberranzan machten. Tatsächlich liebte der kleine, drahtige Mann in der robusten Kleidung eines in der Wildnis lebenden Abenteurers es, allein durch die unterirdische Welt zu reisen. Er genoß die Wunder, die Ruhe und die Freiheit. Manchmal, wenn er zu lange im Lager verweilt hatte, stellte er fest, daß er es der wetteifernden, verschlagenen Existenz der anderen Drow vorzog, allem Luxus Menzoberranzans zum Trotz. Er sehnte sich nach einem Auf trag, der ihn hinaus in die Wildnis führte und spielte mit dem Gedanken, einfach wegzulaufen. Er hörte die Zauvirr kommen und stellte seinen Traum zu rück. Ob es ihm gefiel oder nicht, seine Mission an diesem Tag war nicht die Erkundung der Wildnis. Vielmehr sollte er seine Kompanie, Söldner Bregan D’aerthes, befehligen, damit sie Faeryl Zauvirr und ihre Gefolgschaft ergriffen. Zumindest war das die Theorie. Tatsächlich mußte er keine Befehle erteilen. Zweifellos waren die Krieger Ched Nasads fähige Kämpfer, doch als die angeheuerten Söldner aus ihren Verstecken ausschwärmten, wurde die Gruppe völlig von ih nen überrascht und mit mörderischer Präzision niedergemet zelt. Sobald Valas sicher war, daß seine Gruppe siegen würde, be gann er, nach Faeryl selbst zu suchen. Seine geringe Größe und natürliche Behändigkeit befähigten ihn, sich einen Weg durch das Kampfgetümmel zu bahnen, ohne getroffen zu werden. Er entdeckte die Prinzessin inmitten des Blutbads. Sie hatte soeben einen seiner Männer getötet. Gehirn und blutige Haare klebten an dem Streithammer, mit dem sie zugeschlagen hatte,
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»Botschafterin«, rief Valas. »Ich habe Befehl, Euch nach Möglichkeit lebend zu fangen.« Sie antwortete mit einem Fluch. Er konnte es ihr nicht ver übeln. An ihrer Stelle hätte er auch nicht lebend an die Matronin der Baenre ausgeliefert werden wollen. Er nahm einen seiner beiden zueinander passenden Kukris gefährlich geschwungene Dolche – und betastete ein kleines Messingoval, eines der vielen Medaillons, die seine Tunika und seinen Umhang zierten. Er hatte Amulette und Broschen aller Rassen und Zivilisa tionen aus dem ganzen Unterreich gesammelt. Da sie fremdar tigen Vorstellungen von Ästhetik entsprachen, waren die meisten der Ornamente in den Augen der Drow häßlich und plump, doch er hatte sie weder wegen ihres Aussehens gesam melt, noch waren sie bloße Souvenirs. Jedes von ihnen ent hielt einen anderen Zauber. Drei Abbilder, genaue Kopien seiner selbst, nahmen um ihn herum Gestalt an. Er trat einen Schritt auf Faeryl zu, und die Phantome folgten ihm im gleichen Augenblick. Sie starrte ihre Gegner wutentbrannt an und war offensicht lich bemüht, den echten Valas von seinen Kopien zu unter scheiden. Doch es half nichts. Als sie zuschlug, traf sie das Abbild links von ihm. Als sie die Illusion berührte, löste sie sich auf, und im glei chen Moment sprang er vor. Sie konnte sich nicht schnell genug drehen, um ihn abzuwehren. Er hakte sein Bein hinter ihres und warf sie zu Boden. Dann trat er ihr wiederholt gegen den Kopf, bis sie zusammensackte.
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Gelächter scholl durch die von Kerzen erleuchteten Korridore Arach-Tiniliths. Quenthel runzelte die Stirn. Sie hatte erwar tet, daß etwas geschehen würde, hatte sogar fest damit gerech net. Was sie nicht erwartet hatte, war ein Freudenausbruch. Sie konnte sich nicht vorstellen, was das bedeutete. Sie ging weiter, dicht gefolgt von ihrer Patrouille. Ihre Leu te wirkten nervös, aber nicht ganz so unwillig wie noch in der Nacht zuvor. Das Schicksal Drisinils, Molvayas und der ande ren Verschwörerinnen hatte die Überlebenden davon über zeugt, daß Quenthel Lolths Gunst noch immer auf ihrer Seite hatte, zumindest in dem gleichen zweifelhaften Maß wie der Rest des betroffenen Klerus. Das Gelächter hielt so lange an, daß die Suchenden seine Quelle finden konnten. Vornüber gebeugt und mit bebenden Schultern kniete eine Novizin vor einem der kleineren Altäre
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Lolths. Trotz des Lachkrampfs malte sie mit dem Zeigefinger Linien einer eleganten Schönschrift auf den Boden. Quenthel konnte nicht erkennen, was das Mädchen als Farbe benutzte, bis es die Hand ans Gesicht hob und den Finger eintauchte, wie es ein Künstler bei einem Farbtopf tat. Es hatte sich die Augen ausgerissen, ein weiteres Handicap, das aber seine kor rekte, makellose Schrift nicht störte. Die Herrin ging nahe genug heran, um einen Blick auf die blutigen Linien zu werfen. Trotz aller Belesenheit konnte sie die Zeichen nicht deuten, doch sie fühlte, welche Macht ih nen innewohnte. Sie zogen sie an und stießen sie gleichzeitig ab, als wollten sie ihren Geist – oder einen Teil davon – aus ihrem Körper herausreißen. Sie wandte ihren Blick ab und holte mit der Peitsche aus. Die Vipern verbissen sich im Rücken der augenlosen Frau, ihre Giftzähne zerrten an ihr, bis sie zusammenbrach. Vielleicht war sie tot, vielleicht auch nur bewußtlos. Quenthel wollte es gar nicht so genau wissen. »Was hat sie geschrieben, Herrin?« fragte Jyslin. »Ich weiß nicht«, gestand Quenthel und verwischte die Glyphen mit ihrem Zeh. »Es war etwas in einer der geheimen Sprachen des Abgrunds. Ihre Niederschrift könnte zur Folge haben, daß ein Zauber gewirkt wird, darum habe ich dafür gesorgt, daß sie die Arbeit nicht beenden konnte.« »Was war los mit ihr?« wollten Minolin wissen. Quenthel war noch immer erstaunt, daß die Fey-Branche sich entgegen ihrer Erwartung nicht als eine der Verschwöre rinnen entpuppt hatte. »Auch das weiß ich nicht«, antwortete die Herrin ArachTiniliths. Sie hatte zwar eine ungefähre Vorstellung, war aber noch nicht sicher. »Laßt uns weitergehen.« Fünfzehn Minuten später stieß eine Botin aus einer Staffel,
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die im dritten Bein der Spinne stationiert war, zu Quenthels Gruppe und berichtete, eine ihrer Kameradinnen sei verrückt geworden. Quenthel begleitete sie, um sich selbst ein Bild zu machen. Auf dem Weg dorthin rechnete sie bereits mit weite ren ausgekratzten Augen und Blutschrift. Doch dieser neue Wahnsinn nahm eine andere Form an. Das Opfer hatte in einer kleinen Bibliothek Zuflucht gesucht – wenn Zuflucht überhaupt das richtige Wort war –, die über wiegend langweilige Abhandlungen über Krieg in all seinen Aspekten enthielt. Die junge Frau saß in einem Winkel zwi schen zwei Bücherregalen aus Sandstein, wippte vor und zu rück und jammerte leise vor sich hin. Quenthel beugte sich vor, rammte dem Mädchen die Faust unter das Kinn und zwang es, den Kopf zu heben. »Rilrae! Was ist los mit dir? Was ist geschehen?« Rilraes Gesichtsausdruck war völlig leer, und es schien, als würde sie kein Wort begreifen. Tränen liefen ihr über die Wangen, sie roch nach Schleim, und mit jedem Einatmen zog sie die Nase hoch. Sie reagierte nicht auf Quenthels Frage, sondern versuchte vergeblich, den Kopf wegzudrehen. Die Herrin seufzte und ließ sie los. Sie hatte schon früher Fälle wie den von Rilrae gesehen, normalerweise in einem Verlies oder in einer Folterkammer. Die Jungpriesterin hatte etwas so Unangenehmes erlebt, daß sie sich veranlaßt gesehen hatte, sich tief in ihren Geist zurückzuziehen. Hätte Quenthel noch die von Lolth gewährten Kräfte besessen oder zumindest die geeignete Ausrüstung bei sich gehabt, wäre sie vielleicht in der Lage gewesen, Rilrae aus ihrem Delirium zu holen. Doch so konnte sie aus der Frau keine Informationen herausholen. Verärgert hätte die Herrin beinahe ihrem Zorn freien Lauf gelassen und Rilrae einen Schlag mit der Peitsche verabreicht. Doch sie wollte vor ihren Anhängerinnen nicht verunsichert
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oder verärgert erscheinen. Sie führte die Patrouille weiter, bis sie auf eine Selbstmörde rin trafen, die im Korridor lag und Schaum vorm Mund hatte. In der Hand hielt sie noch die Giftflasche, die nun leer war. Eine Schülerin im zweiten Jahr wirbelte fort von einem Durchgang, der ein paar Schritte entfernt war. Schreiend und zuckend entrollte sie ein Pergament, möglicherweise eines, das Quenthel selbst aus der Waffenkammer des Tempels ausgege ben hatte, und begann, die Worte darauf brüllend vorzulesen. Die Baenre erkannte den auslösenden Satz eines Zaubers, der eine bestimmte Art von Seuchendämon herbeirufen sollte. Sie riß ihre Handarmbrust hoch und drückte ab. Einige aus der Patrouille taten es ihr nach, woraufhin ein Regen aus Gift pfeilen das Pergament zerfetzte und sich in den Körper der Schülerin bohrte. Sie fiel und schlug sich den Kopf auf dem Kalkspatboden auf, während der Zauber, der noch ein oder zwei Silben von seiner Aktivierung entfernt gewesen war, seine Energie in einem harmlosen Zischen aus rotem Licht entlud. Quenthel erkannte allmählich das Muster dessen, was hier geschah. Irgendeine Macht ergriff von einer Frau Besitz und trieb sie mehr oder weniger in den Wahnsinn. Sie trennte sich dann von den anderen, entweder unter einem Vorwand oder einfach, indem sie weglief, um ihren Wahnsinn in einem be stimmten bizarren Verhalten zu manifestieren. Es war seltsam, daß keine der Gefährtinnen der Mädchen zu bemerken schien, wenn es zu einem dieser Angriffe kam. Ge nauso merkwürdig war, daß der Dämon nur ein Mitglied einer Gruppe angriff, nicht die ganze Gruppe. Es stand auch im Wi derspruch zu den bisherigen Angriffen, bei denen niederrangi ge Priesterinnen nur zur Zielscheibe geworden waren, wenn sie versucht hatten, den Dämon aufzuhalten.
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Das Suchmuster des unsichtbaren Dämons war genauso selt sam. Die Standorte und die Zeitpunkte der Angriffe machten einen völlig willkürlichen Eindruck, da sie mal am einen, mal am anderen Ende des Tempels stattfanden. »Herrin«, sagte Yngoth, »ich weiß, was geschieht.« »Ich auch«, erwiderte Quenthel. »Mir fehlte nur noch der Beweis.« Sie drehte sich zu Minolin um. »Fey-Branche.« »Ja?« fragte Minolin. »Du hast das Kommando über diese anderen. Du wirst den Tempel evakuieren. Schaff die hinaus, die noch bei Verstand sind, und auch die Verrückten, aber nur, wenn es schnell geht.« Die Prinzessin von Fey-Branche blinzelte. »Herrin, wir glau ben an Eure Autorität«, sagte sie. »Wir haben keine Angst, bei Euch zu bleiben.« »Ich bin gerührt«, höhnte Quenthel, »aber dies ist kein Test. Ich will, daß ihr geht.« »Erhabene Mutter«, sagte Jyslin, »was ist los? Welcher Dä mon ist heute Nacht in den Tempel eingedrungen? Der Atten täter? Hat er unsere Schwestern vergiftet, damit sie den Verstand verlieren?« »Nein«, sagte die Baenre, »nicht so, wie du meinst.« »Dann –« »Geh!« tobte Quenthel. »Minolin, ich habe gesagt, du sollst sie hier rausschaffen!« »Ja, Herrin.« Die Fey-Branche formierte die Gruppe und führte sie weg. Nachdem sie gegangen waren, erschien der Gang extrem ru hig. »Herrin«, meldete sich Hsiv. »War es klug, sie wegzuschi cken?« »Zweifelst du an meinem Urteil?« fragte Quenthel.
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Die Viper zuckte. »Nein.« »Du willst mich schützen, deshalb werde ich für diesmal darüber hinwegsehen. Ich habe die Mädchen weggeschickt, weil sie mir nicht helfen können, und wenn dieser Unsinn vorüber ist, hätte ich gerne noch ein paar Untergebene.« »Sie hätten Euch vor einem weiteren sterblichen Möchte gernmörder beschützen können.« »Wir können hoffen, daß der nicht mehr da sein wird, wenn Minolin alle aus dem Tempel gebracht hat. Abgesehen davon, warum im Namen der Dämonennetze habe ich dich erschaf fen?« Schwarze Schuppen reflektierten grünliches Kerzenlicht, als Yngoth sich aufrichtete und so drehte, daß er Quenthel ins Gesicht sehen konnte. »Herrin«, zischte die Viper, »wir haben den Verweis ver nommen. Wir passen auf. Was werdet Ihr tun?« »Warten und mich vorbereiten.« Sie fand ein Klassenzimmer, das über einen einigermaßen bequemen Stuhl am Platz für den Lehrer verfügte, einen gro ßen Kalkstein mit hoher Rückenlehne, der die stilisierte Form einer Spinne mit kurzen Beinen hatte. Sie setzte sich, legte die Peitsche neben ihre Füße, holte aus ihrem Beutel einen dün nen Stab aus poliertem weißem Knochen, legte ihn in den Schoß und hielt ihn an beiden Enden fest. Nachdem sie die Augen geschlossen hatte, begann sie mit einer Atemübung. Schon nach dem zweiten Herzschlag sank sie in eine meditative Trance. Sie glaubte, einen Zustand äu ßerster Klarheit erlangen zu müssen, um es mit dem Dämon dieser Nacht aufzunehmen, weil Jyslin sich geirrt hatte. Der Eindringling beherrschte nicht die Kunst des Assassinen und stand auch nicht für den Geist des Volks der Drow. Er verkör perte das Böse.
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Die verräterischen Elfen der Oberfläche behaupteten, das Böse zu hassen. In Wahrheit, dachte Quenthel, fürchten sie sich nur vor etwas, das sie nicht verstehen. Dank der Anlei tung Lolths verstanden die Drow es, und durch dieses Ver ständnis akzeptierten sie es. Denn wie das Chaos war das Böse eine der fundamentalen Kräfte der Schöpfung, im Makrokosmos der weiten Welt ge nauso manifest wie im Mikrokosmos jeder einzelnen Seele. Während das Chaos Möglichkeiten und Phantasie schuf, er zeugte das Böse Stärke und Wille. Es brachte empfindungsfähi ge Wesen dazu, nach Reichtum und Macht zu streben. Es befä higte sie, zu unterwerfen, zu töten, zu rauben und zu täuschen. Es erlaubte ihnen, das zu tun, was nötig war, um zu wachsen, ohne einen lähmenden Funken von Bedauern zu empfinden. Damit war das Böse verantwortlich für die Existenz der Zivi lisation und für jede Großtat, die je ein Held vollbracht hatte. Ohne das Böse würden die Völker noch wie Tiere leben. Es war erstaunlich, daß so viele Rassen sich von falschen Religio nen und Philosophien blenden ließen und durch sie diese selbstverständliche Wahrheit aus den Augen verloren. Im Gegensatz dazu hatten die Drow eine ganze Gesellschaft darauf begründet, und dies war eine der Überlegenheiten, die sie über alle anderen Rassen stellte. Paradoxerweise konnte eine Berührung des absolut schwar zen Herzens dieser finstersten aller Mächte tödlich sein, so wie der höchste Ausdruck angenehmer Wärme das Feuer war, das alles verzehrte. Selbst die, die ihr Leben lang das Böse bewun dert hatten, begriffen nichts von der endlosen brennenden See unter und jenseits der materiellen Welt. Schon ein flüchtiger Blick konnte Geheimnisse vermitteln, die für einen durch schnittlichen Verstand einfach zu gewaltig und zu schreckener regend waren. Die Berührung des Bösen konnte den Verstand
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auslöschen und die Identität vernichten. Die Gefahr war groß genug, daß die Mehrheit der Zauberwirker zögerte, sich dieser Macht unmittelbar zuzuwenden. Sie zogen es vor, auf Abstand zum Bösen zu bleiben, indem sie stattdessen mit Teufeln und Untoten Umgang hatten, die das Böse verkörperten. Es schien aber, als stelle Quenthels unbekannter Feind eine Ausnahme dar. Er war in die Quelle des Bösen eingetaucht und hatte eine Macht herausgelockt, die dort lebte. Dieser Dämon war nicht faßbar, eine Kreatur des reinen Geistes. Darum schien er auch so willkürlich zuzuschlagen. Er bewegte sich nicht durch den stofflichen Raum, denn in die sem Medium existierte er nicht. Vielmehr wechselte er von einem Bewußtsein zum nächsten, von einem Kopf zum ande ren. Dieser intime Kontakt genügte, um seine Wirte zu vergif ten, selbst wenn das nicht einmal seine Absicht war. Er über zog seine Opfer mit einer Finsternis, die so groß und mächtig war, daß ihr kleiner Verstand sie nicht fassen konnte. Er suchte die ganze Zeit nach Quenthel, um ihr die profun deste Boshaftigkeit überhaupt zu zeigen. Sie betete, dieses Gift wenigstens für eine Sekunde aushal ten zu können, bis sie die Magie der Xorlarrin ins Spiel ge bracht hatte. Sie mußte es aushalten. Da der Dämon unsicht bar und körperlos war, würde sie erst wissen müssen, daß er nahe genug war, um vom Talisman erfaßt zu werden. Sie mußte warten, bis sie fühlte, daß er sich in ihr festzusetzen versuchte. Um sicher sein zu können, daß sie es auch schnell genug merkte, versetzte sie sich in eine noch tiefere Trance. Sie wur de sich bewußt, wie sich bei jedem Atemzug ihre Brust hob und senkte und wie die Luft in ihre Lungen gesogen und wie der ausgestoßen wurde. Sie fühlte den gleichmäßigen Schlag ihres Herzens, das Blut, das durch ihre Arterien gepumpt wur de. Den Druck ihres Gesäßes und ihrer Wirbelsäule gegen den
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Stuhl. Jeden noch so winzigen Luftzug, der ihre linke Ge sichtshälfte koste und kühlte. Die Vipern bewegten sich ruhe los, strichen an ihren Füßen und Knöcheln entlang, eine Be rührung, die sie sogar durch ihre Stiefel hindurch wahrnahm. Keine dieser Empfindungen war von besonderer Bedeutung. Sie nahm sie nur so lebhaft wahr, weil sie einen Zustand völli ger leidenschaftsloser Ruhe und Empfänglichkeit erreicht hat te. Einen Zustand, in dem sie Geschehnisse in Geist und Seele gleichermaßen bewußt wahrnahm. Sie erinnerte sich, diese Fähigkeit erlernt zu haben, als sie selbst noch eine Novizin in Arach-Tinilith gewesen war. Sie hatte jede göttliche Kunst mühelos gelernt. Das war eines der Zeichen gewesen, daß Lolth sie zu Größerem ausersehen hatte. Aber relativ betrachtet war diese spezielle Meisterung für sie schwieriger gewesen als üblich. Laut Vlondril, die damals noch nicht runzlig gewesen war, aber bereits erste Zeichen für einen beginnenden Wahnsinn hatte erkennen lassen, hatte das daran gelegen, daß Quenthel eine zu dynamische Persönlichkeit war, der der Instinkt für Passivität fehlte. Plötzlich merkte die Baenre, daß ihre Gedanken sie aus dem angestrebten Zustand zu holen drohten. Vlondril hatte auch gesagt, das sei immer so. Der Geist wollte nicht schweigen, er wollte unablässig plappern. Quenthel atmete wieder tief ein und ließ den Atem durch den Mund entweichen, um auf diese Weise jene aufdringliche innere Stimme aus ihrem Körper zu verbannen. Zeit verstrich. Sie hatte keine Vorstellung, wieviel Zeit ver gangen sein mochte, und in ihre Meditation vertieft, kümmer te es sie auch nicht. Im Tempel herrschte völlige Stille, was bedeuten mußte, daß alle hinausgegangen oder – in einigen Fällen – umgekommen waren. Nach und nach wurde Quenthel klar, daß ihre Trance nicht
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wirklich vollkommen war. Die Totenstille, die der Beweis dafür war, daß jeglicher Unterricht, alle Gebete und sämtliche Ritu ale eingestellt worden waren, irritierte sie ein wenig, und sie bezweifelte, daß sie sich von diesem letzten Anflug von Gefühl würde befreien können. Ihre Rolle als Herrin Arach-Tiniliths bedeutete ihr einfach zuviel. Sie war mit der Absicht zur Aka demie gekommen, sie größer und effizienter als je zuvor zu machen. So würde sie Lolth ehren und unter Beweis stellen, daß sie geeignet war, eines Tages die ganze Stadt zu regieren. Doch nun herrschte sie über ein Desaster, das sich immer mehr in die Länge zog, das alle normalen Abläufe störte und Verletz te und sogar Tote forderte. Es wurmte sie, wenn sie darüber nachdachte, wie viele ih rer adligen Schwestern ihr die Schuld geben würden, doch sie wußte, daß es nicht ihr Fehler war. Es war zum großen Teil die Schuld der Lehrer und Schüler. Die meisten, die ihr Leben verloren hatten, verdankten das ihrer idiotischen Meuterei. Die Verräter hatten die Lehren Lolths verletzt. Als Quenthel so darüber nachdachte, überlegte sie, daß das eigentliche Unglück in der Tat vielleicht eher darin bestand, daß Schwächlinge wie Jyslin und Minolin noch lebten. Sie waren unnütze Feiglinge und Jammerlappen. Doch sie hatten über lebt, weil die Manifestation des Bösen nicht ihren Weg gekreuzt hatte und weil die Baenre selbst sie in Sicherheit geschickt hatte. Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Quenthel bemerkte, daß sie erneut ihren Gedanken nach gegangen war. Durch ihre Willenskraft zwang sie sich, diesen inneren Monolog zu beenden. Für Sekunden. Doch wie sie von Vlondril gelernt hatte, war es verteufelt schwer, Passivität zu erreichen, wenn man sie anstrebte. Au ßerdem dachte Quenthel über wichtige Dinge nach, über neue Erkenntnisse, die in den kommenden Tagen ihre weiteren
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Schritte lenken würden. Wenn es einen Fehler darstellte, selbst die wertlosesten Ex emplare ihrer Schar beschützt zu haben, dann war es zumindest einer, der leicht wiedergutzumachen war. Sie hatte sich bereits der Meuterer entledigt. Wie leicht mußte es sein, die abzu schlachten, die nicht einmal den Willen zum Aufbegehren hatten? Sie stellte sich vor, wie sie zwischen ihren Untergebe nen umherspazierte, ihnen tief in die Augen sah und die Peit sche auf sie niedersausen ließ, wenn sie sah, daß sie ihrer Posi tion nicht gewachsen waren. Die Trance machte es leichter, sich Dinge vorzustellen, und dieser Wunschtraum war so le bendig, als sei er real. Sie roch das Blut und fühlte, wie es in ihr Gesicht spritzte. Die Muskeln ihres Arms, der für gewöhn lich die Peitsche hielt, spannten und entspannten sich wieder. Quenthel konnte jeden töten, wenn es nötig war. Es würde ihr ein Vergnügen sein, und vielleicht würde sich Lolth dazu herablassen, wieder zu ihr zu sprechen, wenn der Klerus rein und stark war. Wenn nicht, dann hieß das vielleicht, daß ganz Menzober ranzan gesäubert werden mußte, angefangen beim Ersten Haus. Quenthel würde den Thron der kläglichen, unentschlossenen Triel an sich reißen – nicht in hundert Jahren, sondern jetzt, zum Teufel mit irgendwelchen Vorbereitungen. Gleich am nächsten Tag würden sie und ihre Familie einen Krieg begin nen, um jene Tausende auszulöschen, die der Göttin und ihrer auserwählten Prophetin dienten, die aber entweder in ihrem Herzen nicht von Glauben erfüllt waren oder die nicht mit genügend Eifer bei der Sache waren. Es würde glorreich werden, und es würde damit beginnen, daß sie den ersten Schwächling ausmerzte. Ihre Finger schlos sen sich um den Griff der Peitsche oder besser gesagt: Sie ver suchten es. Dadurch wurde sie erst wieder daran erinnert, daß
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sie in Wahrheit den dünnen Knochenstab in Händen hielt. Sie hatte den magischen Gegenstand genauso vergessen wie den Dämon, für den er gedacht war. Dafür gab es nur eine Erklärung. Trotz ihrer Entschlossenheit war es dem Geist ge lungen, von ihr Besitz zu ergreifen, ohne daß es ihr bewußt geworden war. Ohne seinen Einfluß wären ihr nie diese Gedanken ge kommen. Ihre Anhänger auslöschen? Triel ohne den Hauch einer Strategie ermorden? Gegen alle Häuser der Stadt gleich zeitig kämpfen? Es war nicht das allumfassende Blutvergießen, das sie er schreckte – Krieg und Folter waren ihr Geburtsrecht, und oft erfreute sie sich daran –, sondern es war dieses sinnlose Böse, ein Delirium, das sie und möglicherweise das Haus Baenre mit ihr zusammen vernichten würde. Aber machte das etwas? Sie spürte die Ekstase der Hingabe. Wenn sie es zuließ, würde der Dämon sie mit sich reißen, und wenn sie eine Stunde später ihr Leben verlor – welchen Unter schied würde das machen? Sie würde in dieser kurzen Zeit spanne mehr Freude erfahren als in Jahrhunderten ihres weltli chen Lebens. Für einen Zeitraum, der ihr lang erschien, schwankte sie, unsicher, ob sie den Stab anwenden oder lieber weglegen soll te, um ihre Peitsche zu nehmen und auf die Jagd zu gehen. Am Ende war es eine einzige Überlegung, die es ihr erlaubte, sich für ersteres zu entscheiden. Egal wie groß die Versuchung auch war, zu einem reinen und transzendenten Wesen zu werden – wenn sie es tat, würde sie ihren Willen in die Hände ihres Phantomgegners legen und es dem gesichtslosen Zauberer erlauben, sie zu beherrschen, zu verwandeln und letztlich zu vernichten. Quenthel konnte den Gedanken an eine Nieder lage nicht ertragen.
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Stattdessen brach sie den Knochen in zwei Hälften. Im nächsten Moment verspürte sie eine ungewöhnliche Leichtigkeit und Klarheit im Kopf, ein Zeichen dafür, daß sich der Dämon zurückgezogen hatte, was ihre Augen ihr dann auch bestätigten. Ein mißgebildeter, nur schwach wahrnehm barer Schatten ohne Lichtquelle schwebte vor ihr. Ohne sich abzuwenden oder seine amorphen Gliedmaßen zu bewegen, zog er sich so rasch zurück wie ein Pfeil, der von der Sehne schnellte. Er wurde immer kleiner, bis er nur noch so groß wie ein Punkt war, und dann war er verschwunden. Quenthel verspürte einen Verlust, doch das dauerte nur ei nen Moment lang an. Dann lächelte sie.
Gromph saß vor einem der verzauberten Fenster in seiner verborgenen Kammer. Er hatte die Füße auf einem Kissen gekreuzt und hielt einen Kristallkelch mit schwarzem Wein in der Hand. Die mit sonderbaren Schnitzereien versehenen Fensterflügel hatte er weit aufgerissen, und er vermutete, daß er aussah wie die Seele der Behaglichkeit, die auf angenehme Unterhaltung wartete. Das war zwar seine Hoffnung, dennoch gewöhnte sich der Erzmagier Menzoberranzans allmählich daran, Enttäuschungen zu erleben. Bislang hatte er keinen Fortschritt gemacht, was die Suche nach den entlaufenen Männern anging. Seine Erkenntniszau ber waren so indirekt und widersprüchlich, daß er sie als rund weg nutzlos betrachten mußte. Offenbar hatte irgendein fähi ger Zauberwirker seine Bemühungen zunichte gemacht. Seine Spione hatten ebenfalls im Grunde nichts herausfinden kön nen, sondern hatten es sogar geschafft, sich in Ostmyr von Unbekannten erwürgen zu lassen. Die einzige Befriedigung,
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wenn man es überhaupt als solche bezeichnen wollte, gewann er aus der Tatsache, daß sein Ablenkungsmanöver immer noch auf freiem Fuß war und die Aufmerksamkeit der Priesterinnen hatte. Warum es Pharaun allerdings für erforderlich gehalten haben mochte, eine Patrouille der Akademie auszulöschen, überstieg Gromphs Fassungsvermögen. Dem Baenre-Magier war es bislang auch noch nicht gelun gen, Quenthel zu töten. In den letzten Nächten hatte er seine beschworenen Untergebenen auf den Weg zu ihr geschickt und sich ans Fenster gesetzt, um zuzusehen, wie sie seinen Auftrag ausführten. So unmöglich es auch zu sein schien, hatte seine Schwester sich nicht nur erfolgreich gegen die ersten drei Geister zur Wehr gesetzt, sondern auch noch die Verräterinnen entlarvt und ausgeschaltet, die er angestachelt hatte. Das alles war ihr gelungen, obwohl sie ihrer Magie beraubt war. Wie der Hanswurst in einer Farce hatte Gromph es nur geschafft, daß einige unbedeutendere Klerikerinnen auf sein Konto gingen, mit denen er sich zwar nicht im Streit befand, die aber gerne zur Stärke Menzoberranzans und dem herrschenden Haus bei getragen hätten. Es war zum Verrücktwerden! Er betete, daß es in dieser Nacht anders laufen möge. Quenthel hatte es geschafft, sich der Geister zu entledigen, die eine gewisse Ähnlichkeit zu stofflichen Formen aufwiesen. Sie würde aber sicher viel empfänglicher für einen Angreifer sein, der sich unbemerkt in ihren Verstand schlich. Das verzauberte Fenster gestattete Gromph einen Blick ins Innere Arach-Tiniliths, als sei er ganz dicht am Geschehen. Er sah, wie seine Schwester und ihr Trupp auf die jungen Frauen stießen, die von dem Geist bereits das Böse gezeigt bekommen hatten, das schlimmer war, als es jeder Sterbliche und sogar jeder Drow ertragen konnte. Er sah nach einem Hinweis dar auf, daß Quenthel ängstlich wurde. Es würde ein sehr unter
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schwelliges Anzeichen sein, wenn sie überhaupt irgendetwas erkennen ließ. Andererseits war er ihr Bruder und würde viel leicht sehen können, was einem anderen Beobachter nicht auffiel. Es war nichts auszumachen, und dann schickte Quenthel auch noch ihre Gefolgschaft los, um den Tempel zu evakuie ren, während sie selbst sich niederließ, um zu meditieren. Der Erzmagier legte die Stirn in Falten. Offenbar hatte das herrschsüchtige Miststück herausgefunden, was vor sich ging, und hatte in gewisser Weise angemessen reagiert. Doch das sollte nichts ausmachen. Er hatte dem Kontakt mit der ultima tiven Essenz des Bösen widerstanden, aber er war der größte Magier der Welt und hatte Vorkehrungen getroffen. Quenthel mußte auf beide Vorteile verzichten. Nach einer Weile verzerrte unterschwellige Grausamkeit ih re Gesichtszüge. Gromph stieß einen Triumphschrei aus, denn der Niederweltgeist hatte sie offensichtlich im Griff. Wie es aussah, würde sie nicht auf der Stelle tot umfallen oder Selbstmord begehen, doch das war unbedeutend. Sie war ver loren! Ihre Persönlichkeit wurde ausgelöscht, aufgezehrt von dem Verlangen zu zerfallen und zu vernichten, und damit war es ihr vorbestimmt, irgendjemanden dazu zu provozieren, sie zu töten, um sie zu stoppen. Dann brach sie den dünnen weißen Stab entzwei und setzte eine Magie frei, die sie augenblicklich von dem Niederwelt geist befreite. Gromph hatte all seinem Wissen zum Trotz so etwas noch nie gesehen. Sein Handlanger nahm die Andeu tung einer Gestalt an, dann trat er die Flucht an. Der Baenre-Magier sprang aus seinem Sessel auf und schleuderte seinen Kelch gegen die Wand. Er fluchte auf das Übelste, und die Boshaftigkeit in seinen Worten, die durch mit schwarzem Lotos aromatisierte Luft jagten, ließ die grünlichen
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Flammen der ewigen Kerzen flackern. Er rang um Fassung und versuchte, sich einzureden, es sei egal. Früher oder später würde er sie erwischen. Er würde ihr ein Wesen nach dem anderen auf den Hals hetzen, er ... Was war überhaupt mit dem Niederweltgeist geschehen? Durch Gromphs Befehl gebunden hätte er immer wieder an greifen müssen, bis er entweder Quenthels Verstand doch noch zum Einsturz gebracht hätte oder aber von ihr vernichtet wor den wäre. Stattdessen war er geflohen. Die unbekannte Magie der Herrin Arach-Tiniliths hatte die Bindung an den Auftrag aufgehoben – soviel war klar –, doch wohin war die Kreatur verschwunden? Zurück in ihre eigene Welt? Wahrscheinlich, doch etwas – vielleicht ein geringfügig erhöhter Herzschlag oder ein leichtes Kribbeln im Nacken – weckte in Gromph den Wunsch, das zu überprüfen. Der Fensterflügel reagierte auf seinen Willen. In dem recht eckigen Rahmen war der Niederweltgeist zu sehen, flüchtig wie Rauch. Er flog halb, halb prallte er in einem der labyrinth gleichen Korridore Sorceres hin und her. Ein Schutzzeichen wurde aktiviert und durchbohrte den Eindringling mit kreuz und quer verlaufenden gelben Lichtkegeln, doch er riß sich los und eilte weiter. Ein Meister in blauer Kleidung sah aus der Tür seines Allerheiligsten und entdeckte den Geist. Sofort setzte er zu einer Beschwörung an, doch der Eindringling stoppte ihn mit einem Schlag einer schattenhaften Klaue. Der Hieb wirbelte den Magier weder nach hinten noch hinterließ er sichtbare Spuren. Stattdessen fiel er wie ein Stein zu Boden. Gromph vermutete, daß sein einstiger Agent auf dem Weg zu ihm war. Entweder war er wütend, weil er ihn zur Dienst barkeit gezwungen hatte, oder aber Quenthel hatte mehr ge tan, als nur die Kontrolle durch ihn aufzuheben. Es war mög lich, daß sie ihm den Dämon entrissen und ihn gegen ihn
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gerichtet hatte. So oder so stellte der Geist eine Bedrohung dar, und zu sei nem Bedauern wußte nicht einmal Gromph, wozu er alles in der Lage sein mochte. Trotzdem gab es keinen Grund zur Sor ge, denn seine Magie war der eines solchen Wesens deutlich überlegen, vor allem in seiner geheimen Feste. Er sah dem Niederweltgeist zu, der durch die schwarze Marmortür seines Arbeitszimmers floß wie Wasser durch ein Sieb. Er kroch über den weißen Knochenschreibtisch und strebte direkt auf den verborgenen Zugang zu seinem Sanktum zu. Magie knisterte purpurn und blau um ihn herum, doch er brach durch und eilte den Schacht hinauf. Gromph lächelte. Damit war die Kreatur dort, wo er sie ha ben wollte, denn als er den Durchgang geschaffen hafte, war der Gedanke an eine Verteidigung nicht zu kurz gekommen. Durch seinen bloßen Willen vernichtete er ihn. Der Schacht bestand nicht aus Materie, und doch drang ein metallisches Krachen und Schleifen aus dem Loch in der Mitte des Bodens, als sich der künstliche Raum zusammenfaltete. Falls der rebellische Geist schrie, so ging seine Stimme im Lärm unter. Gromph hätte es gefreut, den kläglichen Todesschrei zu vernehmen, doch im Moment zählte vor allem, daß er geschla gen war. Wahrscheinlich hatte der Zusammenbruch des Schachts ihn zu nichts zusammengedrückt, und selbst wenn noch etwas von ihm übrig war, war dieses verstümmelte und desorientierte Etwas sicherlich längst in irgendeine entlegene Halbwelt geschickt worden. Die Krise war überstanden, und dem Erzmagus blieb nur die Verärgerung, daß er nun per Zau ber sein Versteck aufsuchen und verlassen mußte, bis er Zeit hatte, um jene sechs Stunden zu investieren, die erforderlich
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waren, um den Durchgang wiederherzustellen. Nur um die gewohnheitsmäßige Vorsicht walten zu lassen, die schon tausend Feinde abgewehrt hatte, wandte er sich noch einmal dem Fenster zu – und traute seinen Augen kaum. Dort war noch immer der Geist zu sehen, und soweit Gromph das erkennen konnte, war das schattenhafte Ding unversehrt. Während er durch die Schlieren aus blasser Phos phoreszenz jagte und kreiselte, warf er sich unablässig in den verzerrten Räumen hin und her, die die Feste umgaben. Gromph verstand nicht, wie die Kreatur ihn finden konnte. Eine Zuflucht, die in einem Dunst aus verzerrter Zeit verbor gen war, war unauffindbar, solange ihr Bewohner nicht auf irgendeine Weise den Weg wies. Trotzdem eilte der Magier in eines der schützenden goldenen Pentagramme, die den Mar morboden zierten. Im nächsten Augenblick zerbarst ein anderes Fenster. Die Geist strömte hindurch und war dabei, die Gestalt wieder anzunehmen, die er gehabt hatte, bevor er von Gromph in eine Dämonenform gebracht worden war. Er erinnerte ein wenig an einen flügellosen Drachen mit langen, rinderartig geschwungenen Hörnern, dessen Kopf ein einzelnes rundes Auge besaß. Der Erzmagus konnte den Augapfel nicht sehen, da er eins war mit dem pechschwarzen Schatten des gesamten Geist, doch er konnte den haßerfüllten Blick spüren. Etwas ängstlich und unsicher, aber deswegen auch umso wü tender schrie Gromph: »K’rarza’q! Ich benannte, rief und bän digte dich, ich bin dein Meister. Beim Prinzen, der im Herzen des Nichts träumt und beim Wort Naratyrs befehle ich dir, niederzuknien!« Der Niederweltgeist sonderte einen Gestank ab, der den Eindruck eines gehässigen Lachens vermittelte, dann rückte er weiter vor.
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Nun gut, dachte Gromph. Wie du willst. Er jagte sich die geschwungene Klinge seines Ritualdolchs in den Magen. Wie erwartet hielt das Geschöpf vor Schmerz inne, doch das währte nur einen Moment lang. Im Magen des Erzmagiers selbst entstand Schmerz! Knapp bevor sie ihm eine tatsächli che Wunde zufügte, gelang es ihm, die Athame aus seinem Leib zu reißen. K’rarza’q sprang. Gromph ignorierte den verbliebenen Schmerz in seiner Magengrube, rezitierte eine kurze Beschwö rung und streckte den Arm aus. Die Luft dröhnte wie nach einem Glockenschlag, und aus seiner Hand löste sich ein roter Feuerball. Der traf die Kreatur und ... nichts geschah. Das Geschoß hörte einfach auf zu existieren. Das Wesen erreichte den Rand des Pentagramms. Eine Bar riere aus azurnem Licht stieg empor und verschwand mit ei nem gequälten Wehlaut, als der Geist weiter vordrang. Die Kreatur senkte den Kopf und riß ihn dann hoch, um die Spitze eines seiner Hörner in Gromphs Brust zu bohren. Der Geist war vollkommen stofflich. Wären da nicht die Gewänder des Erzmagiers sowie eine Reihe anderer Schutz maßnahmen gewesen, hätte das lange Horn aus greifbar ge wordenen Schatten Gromph sicherlich durchbohrt. So erfaßte es ihn und riß ihn mit, um ihn dann quer durch den Raum zu schleudern. Mitten im Flug bemühte er sich, den lähmenden Schock abzuschütteln und die Levitationskraft im Emblem seines Hauses zu aktivieren. Die Kraft erwachte mit einem Übelkeit erregenden Schmerz zum Leben, aber zumindest wirkte sie. Sanft wie ein Stück Spinnenseide sank er zu Boden und vermied so einen Aufprall, der ihm womöglich einige Knochenbrüche beschert hätte. Sobald er wieder mit den Füßen den Boden berührte, zog er
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einen polierten Holzstab aus der Scheide an seiner linken Hüfte, richtete ihn aus und murmelte das Kommandowort. Eine Blase aus stechender brauner Säure bildete sich am ande ren Ende, wurde größer und größer und machte dann einen Satz auf den Geist zu. Sie traf die zyklopenhafte Maske des Wesens, offenbar ohne ihm irgendwelche Schaden zuzufügen. Der Geist stürmte heran. Gromph blieb wie angewurzelt stehen, bis sein Gegner fast über ihm war. Dann sprach er ein einzelnes Wort. Ein kleiner Teleportationszauber ließ ihn au genblicklich am anderen Ende des kreisförmigen Raums wie derauftauchen, und damit genau hinter seinem Angreifer. K’rarza’q blieb stehen und sah sich verwirrt um. Gromph hatte sich eine Sekunde Zeit verschafft, nicht mehr. Er warf den Säurestab fort und nahm einen spiralförmig geschnitzten Stab aus poliertem Karneol aus dem Regal, in dem er seine Werkzeuge untergebracht hatte, hob ihn über den Kopf und begann monoton zu singen. Der Stab verfügte über besondere Fähigkeiten gegen Wesen aus anderen Ebenen der Wirklich keit. Vielleicht konnte er mit ihm in der Hand die Schutz maßnahmen seines Widersachers endlich mit einem Zauber durchbrechen. Der Niederweltgeist hörte seine Stimme, drehte sich um und hastete auf ihn zu. Diesmal kam er näher, ohne die Gliedmaßen zu bewegen. So überwand er die Entfernung mit beängstigender Geschwindigkeit. Während er gleichzeitig Rhythmus und Sprechweise wahrte, wie es nur ein Meisterma gier konnte, beschleunigte Gromph seine Beschwörung. Er wollte unbedingt fertig sein, ehe ihm die Kreatur abermals zu nahe kommen konnte. Es gelang ihm, wenn auch nur knapp. K’rarza’q war fast her an, als die Magie Gestalt annahm. Eine Lanze aus blendendem Licht bohrte sich tief ins Auge des Niederweltgeistes.
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Die stinkende Kreatur fiel zu Boden, ihre Substanz zerfiel zu unförmigen Klumpen und Fetzen. Gromph lächelte. Ein Dut zend Stränge des Geistes streckten sich nach ihm wie die Vi pern in der Peitsche seiner verfluchten Schwester. Der Erzmagier nahm den scharlachroten Stab in beide Hände, so wie er es vor Jahrhunderten von einem Meister Melee-Magtheres in jenen sechs Monaten gelernt hatte, die jeder Schüler der Magie in der Pyramide der Krieger verbrin gen mußte. Indem er das Gerät wie einen Speer hielt, stieß er ein Ende in das, was der zerfaserte und sich windende Kern von K’rarza’q zu sein schien. Der Niederweltgeist zerplatzte in reglose Stücke grau schwarzen Schleims. Gromphs schützende Zauber sorgten dafür, daß nicht ein Spritzer davon ihn treffen konnte. Er verspürte eine gewisse Befriedigung über seinen Sieg, doch die schwand recht schnell, weil er nicht den Gegenstand seines Hasses getötet hatte, sondern es ihm nur gelungen war, sich vor den Folgen eines weiteren gescheiterten Anschlags in Sicherheit zu bringen, und dabei hatte er feststellen müssen, daß er keine Ahnung hatte, über welche Ressourcen Quenthel verfügte. Was hatte es mit dem Knochenstab auf sich? Woher kam er, wie funktionierte er? Hatte er nur seine Kontrolle über den Dämon gebrochen oder hatte er ihn gleichzeitig auch unter die Kontrolle seiner Widersacherin gestellt? Betrübt kam er zu dem Schluß, daß es dumm wäre, weiter hin einen Feind anzugreifen, der in der Lage schien, seine Magie gegen ihn zu wenden. Erst mußte er mehr erfahren. Also würde er die Angriffe einstellen müssen. Mit einem plötzlichen Gefühl des Unbehagens wurde ihm klar, daß er nur darauf hoffen konnte, daß seine Schwester nicht dahinterkam, wer für die Attacken der letzten Nächte verantwortlich war.
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Alle anwesenden Unterkreaturen sahen verblüfft auf, als Pha raun und Ryld den Keller betraten, was aber auch kein Wunder war. Der Magier bezweifelte, daß man in dieser üblen kleinen Trinkgrube je eine so elegante Gestalt wie ihn zu Gesicht be kommen hatte, einen Aristokraten von eleganter Erscheinung, mit prächtigen Ornamenten, Kleidung und Frisur ... nun, er hoffte, daß sein Haar nach einigen in aller Eile vorgenomme nen Korrekturen zumindest passabel aussah. Jedenfalls war nicht zu übersehen, daß die Goblins, Orks und alles, was sich sonst noch so dort aufhielt, wenig Interesse an ästhetischer Wertschätzung hatten. Sie flüsterten, warfen ihnen finstere Blicke zu und tasteten dann nach ihren Waffen, sobald sie glaubten, die beiden Dunkelelfen würden es nicht sehen. Angst und Haß waren in dem schweißtreibenden Raum mit der niedrigen Decke fast greifbar. Pharaun glaubte, daß
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angesichts dessen, was Greyanna und ihre Jäger in der Nacht zuvor im Braeryn angerichtet hatten, ein gewisses Maß an Verärgerung verständlich, wenn nicht gar angemessen war. Er fragte sich, wie sie wohl reagiert hätten, wenn sie gewußt hätten, daß seine Schwester ihresgleichen abgeschlachtet hatte, nur um eine Gelegenheit zu bekommen, ihn zu töten. Vermutlich war dies eine Frage, die im Reich des Hypotheti schen besser aufgehoben war. Da er wußte, daß Ryld ihm den Rücken deckte, schlenderte der Meister Sorceres zur Theke und warf mit einer ausholen den Bewegung ein paar Münzen hin. Die Währung war das übliche Durcheinander, das einem überall in Menzoberranzan begegnete – runde, quadratische oder dreieckige Münzen, Münzen in Form von Ringen, Spinnen oder Achtecken. Si cher die Hälfte davon wurde von einem guten Dutzend der größten Adelshäuser geprägt, den Rest importierte man aus anderen Ländern des Unterreiches und sogar aus der Welt an der Oberfläche. Es waren Münzen aus Silber, Platin oder Gold und damit aus Edelmetallen, die man in diesem verwahrlosten Loch sicher seit einer Dekade oder mehr nicht mehr gesehen hatte. »Heute Nacht«, verkündete Pharaun, »trinkt diese Truppe aus munteren Gesellen auf meine Kosten!« Der Wirt der Taverne, ein gedrungener Ork mit schiefem, sabberndem Mund und einem räudigen Haarschopf, starrte einige Herzschläge lang auf die aufgehäuften Münzen, dann begann er, die Krüge in ein übelriechendes Gebräu in einer schmutzigen Wanne zu tauchen. Die anderen Unterkreaturen fluchten und drohten einander, während sie sich zur Theke drängten, um ihr Getränk zu bekommen. Der Magier bemerk te, daß niemand es für nötig hielt, sich bei ihm zu bedanken. Nachdem Pharaun sich einige Augenblicke lang umge
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schaut hatte, sah er in einer Ecke einen Dunkelelfen sitzen, der offenbar so tief gesunken war, daß die Goblinoiden ihn als einen der Ihren akzeptierten. »Komm her, Freund«, rief der Magier. Der Ausgestoßene zuckte zusammen. »Ich?« »Ja. Wie heißt du?« Der Bursche zögerte, dann entgegnete er: »Bruherd, einst aus dem Hause Duskryn.« »Bis deine adlige Verwandtschaft dich aus dem Haus gewor fen hat. Wir haben viel gemeinsam, Bruherd, denn ich selbst bin in zweifacher Hinsicht ein Ausgestoßener. Nun komm her, um mir in einer wichtigen Angelegenheit einen Rat zu geben.« »Ich ... fühle mich wohl hier, wo ich bin.« »Ich weiß, du willst nicht unfreundlich sein«, sagte Pharaun und ließ blaue Funken auf seinen Fingerspitzen tanzen. Der Duskryn seufzte und kam zu Pharaun, wobei sein Hum peln verriet, daß er unter chronischen Schmerzen litt. Er war dürr, und ein halbes Dutzend Furunkel säumte seinen Hals und sein Kinn. Offenbar hatte er sich zu irgendeinem Zeitpunkt seines Abstiegs von seinem Piwafwi getrennt, doch er trug noch immer ein verschmutztes Gewand, das einst das eines Magiers gewesen war, wie der Mizzrym mit gewissem Erstaunen zur Kenntnis nahm. Mit Hilfe des Silberrings konnte er erken nen, daß in den Dutzenden von Taschen nicht die mindeste Spur von Magie verblieben war. »Sie könnten mich dafür töten«, sagte Bruherd und wies beiläufig auf die Goblins. »Sie dulden mich nur, weil sie glau ben, daß ich von meinem eigenen Volk völlig abgeschnitten bin.« »Ich werde für dein Wohlergehen beten«, erwiderte Pha raun. »Was ich bis dahin wissen muß: Welches der Getränke, die im zweifellos großen und gutsortierten Keller des Wirts zu
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finden sind, ist das am wenigsten üble?« »Übel?« Bruherds Mundwinkel zuckten. »Man gewöhnt sich daran.« »Ich hoffe nicht.« Pharaun gab dem anderen Drow eine Goldmünze in Form eines Hammers, die in irgendeiner Zwergenenklave geprägt worden war. »Sag dem Wirt, du willst das Zeug, das schäumt«, empfahl Bruherd. »›Das Zeug, das schäumt‹. Toll. Offenbar bin ich unter Ge nießern gelandet.« »Es wird genügen«, warf Ryld ein, der noch immer unauffäl lig die Menge beobachtete. »Wichtig ist, daß wir auf unseren Sieg trinken können.« Pharaun wartete einen Moment, dann lachte er leise: »Du solltest ihn jetzt eigentlich fragen, wovon er redet«, meinte er zu Bruherd, »und uns damit Gelegenheit geben, auf eine uneit le Weise weiter mit unserem Triumph zu prahlen.« Wieder zuckte der Mundwinkel. »Ich halte nicht mehr viel von Siegen oder Triumphen.« Pharaun schüttelte den Kopf. »Soviel Verbitterung auf der Welt! Sie lastet schwer auf unserem Herzen. Würde es dich aufmuntern, wenn ich dir sagte, daß ich uns in gewissem Maß gerächt habe?« »Uns?« grunzte Bruherd. Am anderen Ende des Raums kam es zu einem Streit zwi schen einem zerlumpten Hobgoblin und einem wolfsgesichti gen Gnoll. Als sich die beiden Streithähne auf dem Boden wälzten, warf ihnen jemand ein Messer zu, offenbar aus Neu gier, wer von ihnen es als erster zu fassen bekommen würde. »Lausche den guten Nachrichten«, sagte der Meister Sorce res. »Ich bin Pharaun Mizzrym, ausgestoßen aus dem Siebten
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Haus und nun auch aus Tier Breche, in keinem von beiden Fällen aus gutem Grund. Verärgert beschloß ich, mich an der Akademie zu rächen. Mit Hilfe meines gleichermaßen verär gerten Freundes, Meister Argith, konnte ich heute auf dem Basar eine Patrouille auslöschen. Vielleicht hast du davon gehört.« Bruherd sah ihn an. Auch der Kobold und die Goblins in Hörweite wurden aufmerksam. »Es stimmt«, nickte Ryld. »Ihr wart das?« fragte Bruherd. »Und ihr prahlt auch noch damit? Seid ihr verrückt? Man wird euch jagen.« Pharaun sagte: »Das versuchten sie sowieso schon.« Alle im Keller waren inzwischen verstummt und hörten ihm zu. »Mir sind Gerüchte über eine Anlaufstelle zu Ohren gekommen, die einem Drow-Jungen helfen wird, wenn er mit seinem Los im Leben wahrhaft unzufrieden ist – was Ryld und ich ja sind, wie du sicher erkannt haben wirst.« »Ich weiß nicht, wovon du redest«, gab Bruherd zurück. »Na ja«, fuhr Pharaun fort. »Vermutlich werden sie erwar ten, daß es sich um jemanden handelt, der für sie von Nutzen sein kann. Verzeih, wenn ich das so direkt sage ...« Aus dem Augenwinkel nahm er eine blitzartige Bewegung wahr und konnte sich gerade noch schnell genug umdrehen, um zu sehen, wie der Wirt in zwei Hälften nach hinten weg kippte. Offenbar war er im Begriff gewesen, mit einem Kurz schwert in der Hand klammheimlich über die Theke zu klet tern, und Ryld hatte das gespürt, sich umgedreht und ihn durchtrennt. Der Drow-Krieger wandte sich wieder seinem Freund zu, Splitter einsatzbereit in der Hand. Pharaun drehte sich auch wieder um und sah eine Masse aus Unterkreaturen auf sich zustürmen. Er zog rasch drei glatte graue Steine aus der Tasche und begann, einen Zauber zu rezi
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tieren. Rylds Schwert zuckte durch sein Blickfeld und fällte zwei der angreifenden Gnolle, damit er den Zauber ungehin dert fertigstellen konnte. Eine Dampfwolke nahm vor ihm Gestalt an. Diejenigen Orks und Goblins, die die Dämpfe einatmeten, brachen au genblicklich zusammen, während die anderen zurückzuckten, um der Wolke auszuweichen. Einen Herzschlag später hörte die Wolke wieder auf zu exis tieren. »Ich fürchte, ich kann nicht zulassen, daß ihr uns tötet und unsere Leichen an die Behörden verkauft«, erklärte Pharaun der Menge, »und ich bin schockiert – schockiert! –, daß ihr es überhaupt wagt! Seid ihr nicht froh, daß wir eine Patrouille niedergemetzelt haben?« »Sie wollen nicht, daß die Priesterinnen euch hier finden«, erläuterte Bruherd. Er hatte sich nicht eingemischt. Vielleicht war er erstarrt, aber vielleicht hielt er es auch für die beste Überlebenstaktik. »Ich auch nicht. Es ist zu erwarten, daß sie auch uns töten.« »Wie enttäuschend«, sagte Pharaun. »Da dachten Ryld und ich, wir hätten eine gemütliche Enklave Gleichgesinnter ge funden. Aber natürlich werden wir uns niemandem aufdrän gen, dem es an der Vernunft mangelt, das zu schätzen. Aller dings werden wir diesen Ort auch nicht verlassen, ehe wir nicht unseren Durst gestillt haben. Ihr Goblins und alle ande ren werdet jetzt gehen müssen. Guten Abend.« Die Unterkreaturen warfen ihm finstere Blicke zu. Der Ma gier sah ihnen an, daß sie überlegten. Sie waren viele, und die Eindringlinge waren nur zwei. Doch sie hatten gesehen, wozu diese beiden fähig waren, und nach einigen Augenblicken begannen sie hinauszutrotten, ließen aber ihre bewußtlosen Kameraden liegen, wo sie zusammengebrochen waren.
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»Ihr seid verrückt«, sagte Bruherd zu den beiden Meistern. »Ihr müßt euch für einige Jahre bedeckt halten. Ihr müßt den Matronen und der Akademie Zeit geben, euch zu vergessen.« »Leider«, erwiderte Pharaun, »fürchte ich, ich bin unver geßlich. Du kannst auch gehen, wenn du es erträgst, uns zu verlassen.« »Verrückt«, wiederholte der Ausgestoßene. Er hinkte zur Treppe und war einen Augenblick später wie die anderen verschwunden. Pharaun ging hinter die Theke und sagte: »So beginnt die ewige Suche der Drow nach dem Zeug, das schäumt.« Ryld betrachtete die schlafenden Goblins, als überlege er, ob er ihnen sein Schwert in den Leib jagen sollte. »Ich halte das für eine dumme Idee«, sagte der Waffenmeis ter. Pharaun machte einen großen Schritt um die blutigen Hälf ten des Wirts, darauf bedacht, sich die Stiefel nicht zu be schmutzen. Dann inspizierte er die Krüge und Flaschen. »Das sagst du immer, und jedesmal irrst du dich. Die Gobli noiden werden überall von unserem Aufenthaltsort erzählen. Die Abtrünnigen werden zwangsläufig davon erfahren.« »Deine Schwester und jeder andere, dessen Zorn wir uns zu gezogen haben, auch.« Pharaun entkorkte einen Krug. Die stechend riechende Flüssigkeit schien nicht zu schäumen, also suchte er weiter. »Willst du darauf wetten, wer als erstes hier auftaucht?« Ryld schnaubte. »So oder so wird es unser Tod sein.« »Wenn ich die langweilige Stimme des Pessimismus hätte hören wollen, hätte ich unseren Freund Bruherd hierbehal ten«, sprach der Magier weiter, während er ein Faß mit einer trüben Flüssigkeit untersuchte. »Hier ist ein Faß mit eingeleg ten Würstchen, für den Fall, daß du dein Fasten brechen willst.
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Für den Inhalt kann ich nicht garantieren. Ich glaube, in der Brühe schwimmt das Horn eines Kobolds.« Er öffnete eine Glasflasche mit einem langen, doppelt ge schwungenen Hals, und der Inhalt zischte. »Aha! Ich habe das Gebräu gefunden, das uns der Duskryn empfohlen hat.« »Da kommt jemand«, sagte Ryld. Der Magier drehte sich um. Zwei Gestalten, die mit ihrer wilden Mähne und den wolfsgleichen Ohren wie Orks aussa hen, kamen die Treppe herunter. Pharauns silberner Ring ent hüllte jedoch, daß es sich um eine Illusion handelte, mit der sich zwei Drow tarnten. Der Magier erkannte die Maske als durchscheinende Schleier, die über der Realität lagen. Diese Erkenntnis teilte er Ryld mit einer raschen Bewegung seiner Finger mit. »Meine Herren«, sagte der Magier, »willkommen! Mein Kamerad und ich haben überall nach euch gesucht.« »Das wissen wir«, sagte der größere der beiden Neuan kömmlinge, der offenbar nicht überrascht war, daß ein Meister Sorceres seine Tarnung sofort durchschaut hatte. Bei ihm han delte es sich um Houndaer Tuin’Tarl, einen der hochrangigsten der verschwundenen Männer, der zudem zu den ersten gehörte, die die Flucht angetreten hatten. Er sah aus wie jemand, der über andere das Sagen hatte. Seine teure Kleidung aus Seide und Samt, die magische Aura, die viele seiner Habseligkeiten umgab, sein Auftreten – das alles sprach dafür. Im dichten, wallenden Haar trug er Kristalle – die einen schönen Effekt bewirkten –, er hatte eng zusammenstehende Augen und einen markanten Kiefer, und er wirkte so, als wisse er, wie er mit dem Krummsäbel umzugehen habe, der an seiner Seite hing. Er machte einen recht angespannten Eindruck. »Wir wissen das schon eine Weile«, sagte der andere Frem
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de, den Pharaun nicht erkannte. Auf den ersten Blick schien er ein unscheinbarer Gemeiner zu sein, der die krummen, kleinen Hände eines Handwerkers hatte, der mit feinen Arbeiten zu tun hatte. Doch der Dolch in seiner Schärpe war mit kraftvollen Zaubern belegt, genauso wie ein Gegenstand, der in seinem Wams verborgen war. Dem Anschein nach hatte er eine Tarnung über eine andere gelegt. »Nun«, meinte Ryld. »Ihr habt euch Zeit gelassen, mit uns Kontakt aufzunehmen. Ich würde sagen, das ist verständlich.« »Das würde ich auch sagen«, erwiderte Houndaer, während die beiden näherkamen. Ein Goblin stöhnte, woraufhin ihn der Adlige mit einem gezielten Tritt zum Schweigen brachte. »Warum habt ihr uns gesucht?« »Soweit wir wissen«, erklärte Pharaun und kam hinter der Theke hervor, »bietet ihr Männern eine Zuflucht, die ein Leben unter der Knute der weiblichen Verwandten als uner träglich erachten und die, aus welchen Gründen auch immer, weder die Akademie noch einen Händlerclan noch Bregan D’aerthe anstreben. Wenn dem so ist, möchten wir uns euch anschließen.« »Aber euch zwei hat es doch bereits zur Akademie gezo gen«, gab der Adlige zurück. »Ihr seid dort in einen hohen Rang aufgestiegen. Mancher könnte sagen, dies sollte für mei ne Verbündeten und mich Grund zur Sorge sein.« Der mit Stoßzähnen besetzte Mund der Ork-Maske imitierte perfekt die Bewegung seiner wirklichen Lippen. Pharaun hätte diese Illusion nicht überzeugender wirken können. »Ihr sprecht von einer toten Vergangenheit«, sagte Pha raun. »Zweifellos habt Ihr von meiner Entehrung gehört, und Meister Argith empfindet Melee-Magthere als fade und ermü dend.« Die dunklen Mächte wußten, daß sein unzufriedener Freund keine Schwierigkeiten haben sollte, sie davon zu über
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zeugen. »Wir brauchen einen anderen Lebensstil.« Houndaer nickte und erwiderte: »Freut mich, das zu hören. Aber wer garantiert mir, daß ihr keine Agenten seid, die von den Matronen losgeschickt worden sind, um uns zu suchen?« Pharaun grinste. »Mein Eid?« Alle mußten lachen, sogar Ryld und der Junge mit dem Dolch, die ruhig und nachdenklich ihre eher geschwätzigen Gefährten beobachteten. »Aber ernsthaft«, fuhr der Magier fort. »Wenn unsere Eska pade auf dem Basar euch nicht von unseren ehrlichen Absich ten überzeugen konnte, dann weiß ich nicht, was wir noch machen müssen, um von euch anerkannt zu werden. Aber sie war nicht erfolglos, oder? Sonst wärt ihr nicht hier. Wenn ihr also nichts feststellen könnt, das nach einem Spion aussieht ...« Der falsche Gemeine lächelte. »Ihr habt recht.« Er sah zu Houndaer und fügte an: »Für mich riechen sie nicht verdäch tig, und wenn sie es doch sind, dann wird eine kleine Frage stunde in diesem stinkenden Goblin-Loch auch nicht den Beweis dafür liefern. Wir sollten sie von hier fortbringen, ehe ein Diener der Geistlichkeit herkommt, um zu schnüffeln und uns dabei antrifft. Das wird sich schon noch klären.« Einen Moment lang, als die Macht von Pharauns Silberring schwankte, wurde aus dem sanften, zivilisierten Tonfall des Dunkelelfen das Gebrüll eines Orks. Er roch sogar nach einer der dreckigen Unterkreaturen. Der Tuin’Tarl kniff den Mund zusammen. Pharaun vermute te, daß es ihm nicht besonders gefiel, sich Ratschläge erteilen zu lassen, auch nicht von einem Gefährten. »Ich bin nur vorsichtig, was du im Übrigen auch sein soll test. Aber du könntest recht haben.« Er wandte sich wieder den Meistern zu und sagte: »Wenn wir euch in unsere Feste
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mitnehmen, dann gibt es kein Zurück. Ihr macht mit, oder ihr seid tot.« Pharaun grinste. »Gut gesprochen, ganz im Sinne von tau send mal tausend Verschwörungen zuvor. Bringt uns hin.« »Gern«, erwiderte der Adlige mit einem gehässigen, flüch tigen Lächeln. »Sobald ihr beide uns eure Waffen und den Umhang mit den vielen Taschen übergeben habt.« Der Magier hob eine Augenbraue und sagte: »Ich dachte, ihr hättet euch entschlossen, uns zu vertrauen.« »Es ist Zeit, uns ein wenig Vertrauen entgegenzubringen«, konterte Houndaer. Pharaun händigte ihm daraufhin seinen Piwafwi, die Arm brust und den Dolch aus. Er war nicht sicher, ob Ryld genauso bereitwillig sein Hab und Gut hergeben würde. Er konnte sich gut vorstellen, daß der Krieger beschloß, nicht unbewaffnet die Höhle des Löwen zu betreten, sondern Houndaer und seinen Begleiter hier und jetzt zu überwältigen und aus ihnen alle Informationen herauszuholen, die er ihnen entreißen konnte. Das Problem bei dieser Strategie war jedoch, daß der Tu in’Tarl und sein namenloser Gefährte nicht in alle mystischen Geheimnisse eingeweiht waren, die die Verschwörung als Gan zes besaß und daß diejenigen, die mehr wußten, fliehen könn ten, wenn die beiden Gesandten nicht zurückkehren sollten. Auch wenn es den Meistern so wohl gelingen mochte, eine Goblin-Revolution zu verhindern, würden sie sich damit der Gelegenheit berauben, die außergewöhnliche Macht zu erlan gen, nach der sie strebten. Außerdem würde es viel mehr Spaß machen, sich den Ab trünnigen anzuschließen und sie von innen heraus unschädlich zu machen. Offenbar teilte Ryld Pharauns Ansicht, oder aber es genügte ihm, dem Vorbild des Magiers zu folgen, da er ohne Widerwor
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te Splitter und seine anderen Waffen aushändigte. Der Tuin’Tarl griff in seinen Beutel, holte einen Stein her vor und warf ihn hoch. Er explodierte auf eine seltsame, schrä ge Weise und riß eine Wunde in die Luft, einen Riß von der Größe und Form eines hochkant gestellten Sarkophags und von der Farbe des Lichts, das hinter geschlossenen Augenli dern schwimmt. Er wies auf das Portal und sagte: »Nach euch.« Pharaun lächelte. »Danke.« So einfach? dachte Pharaun. Er empfand Enttäuschung, was eigentlich absurd war. Immerhin war es erstaunlich schwierig gewesen, es bis hierher zu schaffen. Er trat durch das Portal, erlebte aber nichts von dem wir belnden Schwindel, von dem Teleportation für gewöhnlich begleitet wurde. Von einer Blindheit abgesehen, die für den Bruchteil einer Sekunde währte, war es, als würde man aus einem Zimmer in ein anderes gehen. Das einzige Problem war die Drinne, die auf der anderen Seite wartete. Der Magier bemühte sich, kein Geräusch zu machen, doch die riesige Kreatur, halb Spinne, halb Drow, einen Bogen in der Hand, einen Köcher voller Pfeile auf dem nackten Rücken, wandte sich ihm zu. Pharaun hatte keine Angst vor einer ein zelnen dieser Mißgeburten, aber Lolth allein wußte, wie kom pliziert diese Falle in Wahrheit war. Er wirbelte in dem Mo ment herum zu dem magischen Durchgang, als Ryld ihn durchschritt. Ryld, der in den Höhlen rund um Menzoberranzan schon etliche Drinnen getötet hatte, erkannte sofort, daß dieses Ex emplar überdurchschnittlich groß war. Das Mischwesen, das Kopf, Arme und Rumpf eines Drow und die Gliederbeine einer riesigen Spinne hatte, war ein extrem robuster Vertreter seiner
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Art, sofern man von Art reden konnte. In der Natur kamen sie nicht vor, sie wurden vielmehr durch Magie geschaffen. Manchmal, wenn die Göttin einem ihrer Verehrer unterstellte, sein Glaube sei nicht stark genug, wurde er bestraft, indem ein Kreis aus Priesterinnen und einem Dämon namens Yochlol die Verwandlung an ihm durchführte. Der Meister Melee-Magtheres konzentrierte sich instinktiv auf die gefährliche Mischkreatur, sobald er aus dem Portal hervorgekommen war. Doch wie jeder fähige Krieger – und offenbar im Gegensatz zu Pharaun – nahm er auch die gesamte Umgebung wahr. Der Portal hatte sie in eine große, leere Halle gebracht, de ren Wände von einer Reihe von Durchgängen gesäumt waren. Es war die Art Knotenpunkt, von dem aus man in einer Burg in die verschiedenen Flügel des Gebäudes gelangte. Ein paar Männer wanderten hindurch, und auch wenn sich keiner in die unmittelbare Nähe der Drinne gewagt hatte, machte nie mand Anstalten, sie anzugreifen oder die Flucht zu ergreifen. Auch die Kreatur selbst schien keine feindlichen Absichten zu hegen, allerdings betrachtete sie die Neuankömmlinge mißtrauisch. Froh darüber, seinem schlauen Freund voraus zu sein, packte Ryld Pharaun an der Schulter. »Ganz ruhig«, sagte der Kämpfer. »Mach dich bloß nicht lä cherlich.« Der Magier sah sich um, grinste und sagte dann: »Stimmt. Unsere Freunde haben uns nicht in eine Falle gelockt. Die Drinne wird magisch gebändigt.« »Nein.« Ryld sah nach hinten und entdeckte die beiden PseudoOrks, die ebenfalls durch das Portal gekommen waren, das sich hinter ihnen in nichts auflöste. Es war der größere und gesprä
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chigere des Duos, der sprach. »Die Drinnen helfen uns freiwillig.« »Interessant«, bemerkte Pharaun. Von einem Moment zum anderen verwandelten sich die beiden Goblinoiden in einen aristokratischen Krieger – genau er gesagt, Houndaer Tuin’Tarl, der von Ryld ausgebildet wor den war – und einen Handwerker. Der Prinz schloß mit einer Armbewegung das Portal. »Benutzt Ihr noch immer diesen indirekten Angriff mit den üblen Hintergedanken?« fragte Ryld. »Das war ein schöner Zug.« Zum ersten Mal zeigte sich auf Houndaers Miene ein Lä cheln, das weder gehässig war noch Mißtrauen zeigte. »Daran erinnert Ihr Euch, Meister? Es ist so lange her, daß ich überrascht bin, daß Ihr Euch überhaupt an mich erinnert.« »Ich erinnere mich immer an die, die wirklich lernen.« »Ich danke Euch. Es ist gut, Euch hier zu haben, und Ihr werdet darüber auch froh sein. Große Dinge liegen vor uns«, sagte der Adlige. Die Drinne kam auf sie zugeeilt. »Ah, da kommt Tsabrak. Ihr werdet sehen, sein Verstand ist weder träge noch anderweitig verstümmelt, und doch steht er auf unserer Seite.« Tatsächlich machte die Drinne keinen besonders sympathi schen Eindruck. Durch die Länge ihrer Beine überragte ihr Kopf die vier Drow, und in ihren Augen funkelten Wahnsinn und Haß. Ryld nahm an, daß Tsabrak eine typische Menzober ranzanyr-Allianz eingegangen war. Er hatte sich mit den Aus reißern zusammengetan, weil er sich davon einen Nutzen ver sprach. Dennoch verabscheute er die Drow, weil sie ihn deformiert und ausgestoßen hatten. »Was soll das?« erwiderte die Drinne und bleckte die Reiß
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zähne, die ihre Sprechweise ein wenig zu beeinflussen schie nen. »Syrzan hatte nein gesagt!« Syrzan war kein typischer Drow-Name, aber Ryld hatte kei ne Ahnung, zu welcher Spezies der Name gehören konnte. Er sah zu Pharaun, der mit einem beiläufigen Schulterzucken zu verstehen gab, daß er es auch nicht wußte. »Syrzan ist mein Verbündeter, nicht mein Vorgesetzter«, erwiderte Houndaer und warf dem Spinnending einen wüten den Blick zu. »Ich treffe meine eigenen Entscheidungen, und ich habe entschieden, daß diese Herren uns helfen können. Sie sind Meister Tier Breches –« »Ich weiß, wer sie sind!« schrie Tsabrak, und Schaumparti kel, die vielleicht mit Gift vermischt waren, flogen von seinen Lippen. »Hältst du mich für eine geistlose Bestie? Ich habe wie jeder andere in Tier Breche gelernt!« »Dann solltest du wissen, wie nützlich ihre Talente uns sein können«, warf der Handwerker ein, »und wie unwahrschein lich es ist, daß sie uns Schaden zufügen können, vor allem, nachdem der Prinz sie entwaffnet hat.« »Bring uns einfach zu Syrzan«, sagte Houndaer. »Es wird dir deine Ängste nehmen.« Es? fragte sich Ryld. »Das kann ich nicht«, sagte die Drinne. »Es ist irgendwohin gegangen.« »Wohin?« fragte Houndaer. »Sklaven aufwiegeln? Mehr magisches Feuer aus seiner ge heimen Quelle holen? Woher soll ich das wissen? Ihr werdet bei den beiden bleiben müssen, bis es zurückkommt.« »Das ist nicht schlimm«, sagte der Adlige. »Meister Argith und ich können über alte Zeiten reden. Wir werden in dem Raum warten, in dem Syrzan die anderen Rekruten befragte.« »Vielleicht möchtest du ja mitkommen«, schlug der Hand
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werker vor, »um sicherzugehen, daß die Meister keine Proble me machen werden.« Pharaun sah die blutrünstige Kreatur an und sagte: »Das wä re schön. Es gibt bestimmt ein halbes Dutzend Fragen über Drinnen, die mir schon seit Jahren Rätsel aufgeben.« Tsabrak ignorierte ihn und funkelte stattdessen Houndaer und den Handwerker an, als vermute er, daß die beiden ihn hereinlegen wollten. Schließlich sagte er: »Ja. Ich werde mitkommen. Es sollte jemand mit Verstand dabei sein.« »Schön.« Houndaer nickte Ryld und Pharaun zu. »Kommt.« Die Meister und ihre Gastgeber – oder Häscher – machten sich auf den Weg durch ein Labyrinth von Gängen. Wie ange kündigt überschüttete Pharaun Tsabrak mit einem Wust an Fragen, und jedesmal, wenn die Drinne nicht antwortete, begann der Magier, in der Art eines Gelehrten über die mögli che Antwort zu spekulieren. Ryld achtete kaum auf die beiden. Er studierte aufmerksam die Zitadelle der Ausreißer. Sie war ein vergessener, staubiger Ort, an dem Pharauns Monolog sich in der Stille verlor. Nir gends waren Diener zu sehen, nur geflohene Männer und Drinnen, die oft ihre früheren Lehrer wiedererkannten und sie neugierig ansahen. Die Wände waren überzogen mit den Spu ren von magischen Angriffen, Blitzen und Säurespritzern. Allem Anschein nach versteckten sich die Verschwörer im Sitz eines Hauses, das von seinen Feinden ausgelöscht worden war. Es war niemandem gestattet, eine solche Festung ohne die Erlaubnis der Baenre in Besitz zu nehmen, und nur wenige würden es wagen, sich über diesen Grundsatz hinwegzusetzen. Es hieß, diese leerstehenden Burgen seien verflucht, Brutstät ten für Krankheit, Wahnsinn und Unglück. Als wollten die Besetzer das Potential für Unglück vollends ausschöpfen, hat
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ten sie die vorhandenen Spinnweben nicht nur dort entfernt, wo sie ihnen im Weg waren, sondern auch dort, wo sie nie manden störten. An einer Stelle passierten die Meister und ihre Bewacher eine Reihe kleiner, achteckiger Fenster. Die Glasscheiben fehlten, doch die geformten Kalkspatrahmen waren noch da. Ryld warf einen Blick hinaus und sah weit unter ihnen Häuser grün und violett leuchten. Die Ausreißer hatten sich eine Stalaktiten-Burg ausgesucht, die von der Höhlendecke hing. Zweifellos war es die Isolation gewesen, die sie angezogen hat te. Nach einer weiteren Minute hatte die kleine Prozession ihr Ziel erreicht, eine Kapelle mit einer Reihe von Bänken, einen schiefen Gang, der zur Mitte eines asymmetrischen Altars aus Basalt hinaufführte, Wandgemälden, die mit silberner Phos phoreszenz leuchteten, und Reliefs an Wänden und Decke. Zu Rylds Überraschung zeigten diese nicht die Dämonennetze, sondern andere Höllen, in denen es keine Spinnen, keine Yochlols und auch die Göttin Lolth selbst nicht zu geben schien. Offenbar war das Haus, das hier residiert hatte, verbo tenen Gottheiten zugetan gewesen. Vielleicht war es dieses Vergehen gewesen, das zu seinem Untergang geführt hatte. Die Drow ließen sich auf den Bänken nieder. Auch wenn Houndaer und der Gemeine davon überzeugt zu sein schienen, daß die Meister mit Tier Breche gebrochen hatten, behielten sie dennoch die Ausrüstung der Neuankömmlinge. Tsabrak hockte hinter der Tür und hatte seine Beine zu beiden Seiten des Eingangs ausgestreckt. »Ich bewundere die Dekoration«, sagte Pharaun. »Auch ohne mich anzustrengen, erkenne ich Abbilder Cyrics, Orkus’, Tyrannos’, Ghaunadars und Vhaerauns. Eine bemerkenswerte Ansammlung von Gottheiten für den wählerischen Anbeter.«
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»Wir suchen keinen neuen Gott«, spie Houndaer. »Dessen bin ich sicher«, erwiderte der Magier. »Vielleicht könntet ihr so freundlich sein und Meister Argith erklären, worum sich euer großer und ruhmreicher Plan dreht und wa rum ihr ihn jetzt in die Tat umsetzen wollt.« »Warum?« gab der Adlige zurück. »Unser Geheimbund existiert seit Jahrzehnten«, erklärte der Handwerker. »Aber erst vor kurzem sind wir alle geflohen und haben uns hier auf Dauer niedergelassen. Vorher haben wir uns nur alle zwei Wochen für ein oder zwei Stunden getrof fen.« »Wenn man ein Mann«, sagte Houndaer, »und mit seiner Rolle in Menzoberranzan völlig unzufrieden ist, dann braucht man irgendeine Zuflucht, nicht wahr?« »Dem kann ich durchaus zustimmen«, sagte der Magier. »Andere haben sich natürlich für ein Handelshaus, die Aka demie oder Bregan D’aerthe entschieden.« Houndaer spie aus. »Das sind nur Orte, an denen man sich vor den Matronen versteckt. Dies ist eine Festung für Männer, die Menzoberranzan auf den Kopf stellen und sich selbst an die Spitze setzen wollen. Warum auch nicht? Sind unsere Magier und Krieger etwa nicht genauso mächtig wie der Klerus?« »Sie sind es auf jeden Fall jetzt, nachdem die Priesterinnen ihre Magie verloren haben«, erwiderte Pharaun grinsend. Houndaer sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Ihr wißt davon?« »Ich habe es gefolgert, wie ihr offenbar auch. Sonst würdet ihr nicht zum Spaß Spinnweben zerstören, ganz zu schweigen davon, daß ihr nun euren Plan in die Tat umsetzen wollt. Mich würde interessieren, wie ihr dahintergekommen seid und ob Ihr den Grund kennt.« »Nein«, sagte Houndaer kopfschüttelnd. »Wir begannen
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etwas zu vermuten, als ein paar von uns beobachteten, wie Priesterinnen ums Leben kamen, die draußen in Bauthwaf gegen Gricks kämpften. Die Weiber hätten sich eigentlich mit Zaubern retten können, aber sie taten es nicht. Wir vermute ten, daß sie es nicht taten, weil sie es nicht konnten. An schließend hielten wir die Augen offen und lauerten Klerike rinnen auf, um zu sehen, wie sie sich verteidigen würden. Was wir dabei herausfanden, stützte unsere Theorie.« Pharaun seufzte und sagte: »Dann steht ihr also nicht in Kontakt mit irgendeinem geschwätzigen Informanten, der in den Reichen des Göttlichen zu Hause ist. Wie ich habt ihr beobachtet und Schlüsse gezogen. Schade. Seid ihr euch in eurer Ignoranz nicht dessen bewußt, daß Lolth die Magie der Priesterinnen in dem Augenblick wiederherstellen könnte, wenn es euch am wenigsten gelegen ist?« »Vielleicht hat sich die Göttin gegen die Geistlichkeit ge stellt, weil es nun an uns ist, zu herrschen«, gab der Gemeine zu bedenken. »Wer weiß? Jedenfalls ist das unsere Chance, und wir werden sie nutzen.« »Eure Chance wozu?« fragte Ryld. »Ihr sprecht, als plantet ihr eine Revolte, aber stattdessen stachelt ihr die Sklaven an, sich zu erheben.« Houndaer fluchte. »Davon wißt ihr auch?« »Wir sind darauf gestoßen, als wir nach euch suchten«, er klärte Pharaun. Er strich eine Haarsträhne zurück. Sein weißes Haar leuchtete im sanften Schein der Schnitzereien wie das Fleisch eines Geistes. »Wie Meister Argith sagte, erscheint das Auspeitschen der Unterkreaturen für euer Ziel ohne Bedeu tung.« »Ihr müßt tiefer blicken«, sagte der Adlige. »Wir sind klug genug, um zu wissen, daß wir nicht auf einen Schlag das Matri archat abschaffen können. Auch ohne ihre Zauber sind unsere
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Mütter und Schwestern noch zu stark. Sie verfügen über zu viele Talismane, Festungen und vor allem Truppen und Vasal len, die ihnen aus Angst dienen.« »Ich beginne zu verstehen, und ich möchte mich entschul digen, wenn ich voreilig geurteilt habe«, sagte Pharaun. »Dies ist nur der Eröffnungszug in einem Sava-Spiel, das Jahre dauern wird.« »Wenn Menzoberranzan von den Kämpfen erfaßt wird«, führte Houndaer aus, »und die Klerikerinnen keine Zauber wirken, um die Revolte zu bekämpfen, wird jeder ihre Schwä che erkennen können. Inzwischen wird unsere Bruderschaft das Chaos nutzen, um jene Frauen auszuschalten, die für unse re Ziele als die größten Hemmnisse angesehen werden. Mit etwas Glück werden die Orks ihren Teil dazu beitragen. Wenn alles vorbei ist, wird der Platz unseres Geschlechts in der Ord nung der Dinge ein deutlich stärkerer sein, und jeder Mann in der Stadt wird nach Überlegenheit streben wollen. In den kommenden Jahren wird unser Geheimbund alles tun, um die Frauen zu verdrängen und ihre Positionen einzunehmen. Eines Tages wird es ein Adelshaus geben, das ein Mann führt, und schließlich wird es in jedem Haus einen Meister geben.« Er lächelte und fügte an: »Es erübrigt sich zu sagen, daß es sich dabei um einen Meister aus dieser Bruderschaft handeln wird. Ich werde mit Vergnügen über das Haus Tuin’Tarl herr schen, und ich kann mir vorstellen, daß Ihr, Bruder aus Sorce re, gegen die Herrschaft über Eure eigene Familie sicher auch nichts einzuwenden hättet.« Pharaun nickte und sagte: »Ihr seid viel zu umsichtig, als daß ihr vergessen haben könntet, daß wir alle davongelaufen sind ...« »Unsere Verwandte werden uns mit offenen Armen emp fangen, wenn wir sie erst einmal so geschwächt haben, daß sie
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verzweifelt um Verstärkung ringen. Wir erfinden Geschichten von Reisen bis ans ferne Ende des Unterreichs oder etwas Ähnliches. Es wird sie nicht weiter interessieren, weil sie zu verzweifelt sein werden.« »Nun, ihr habt das alles so vorausschauend geplant, daß ich nur ein potentielles Problem sehe«, sagte Pharaun. »Was ist, wenn die Goblins und die Gnolle tatsächlich darin erfolgreich sein sollten, uns alle abzuschlachten, oder zumindest eine solche Verwüstung in unserer Stadt herbeizuführen, daß es uns das Herz bricht?« Houndaer starrte den Magier einen Moment lang an, dann begann er zu lachen. »Für einen Augenblick hätte ich fast geglaubt, Ihr meint das ernst.« Pharaun grinste. »Verzeiht, aber ich habe eine perverse Vor liebe für Witze im falschen Moment, wie Meister Argith bestä tigen kann.« Houndaer lächelte Ryld an und sagte: »Genauso gut könnte er mir sagen, ich hätte all die Strategielektionen gelernt, die er mir eingehämmert hat.« »Habt Ihr ja auch«, meinte Ryld und meinte es vielleicht auch so. Sein Instinkt sagte ihm, daß dieser Plan abstrus wir ken mochte, daß er aber tatsächlich funktionieren könnte. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er keine Ahnung hatte, ob ihm diese Möglichkeit behagte oder nicht. Er und Pharaun hatten die Flüchtigen infiltriert, um sie zu verraten, um den Erzmagier zu besänftigen – und weil der Mizz rym-Magier hoffte, sie könnten so zu einem höheren Status und mehr Macht gelangen, womit sich auch Rylds schwer greifbare Unzufriedenheit von selbst lösen würde. Doch nun waren es ausgerechnet die Verschwörer, die einen hohen Rang und eine wichtige Rolle in einem großen Abenteuer verspra chen. Vielleicht sollten die Lehrer tatsächlich zu den Rebellen
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werden, die zu sein sie vorgaben. Ryld warf Pharaun einen Blick zu. Mit einer so beiläufigen Bewegung seiner Finger, daß niemand sonst sie bemerkte, vor mittelte der Magier ihm ein Wort in Zeichensprache: aushar ren. Ryld verstand die Geste so, daß sein Freund mit seinem üb lichen Scharfsinn erkannt hatte, was er dachte, und ihn dräng te, an der ursprünglichen Absicht festzuhalten. Er nickte nahe zu unmerklich. Er war nicht sicher, ob Pharauns Entschluß weise war, aber ihm war auch klar, daß er nicht hier sitzen und dieser apokalyptischen Unterhaltung zuhören würde, wenn sein Freund ihn nicht um Hilfe gebeten hätte. Schließlich war Ryld aus Melee-Magthere herabgestiegen, um dem Magier zu helfen, seine Ziele zu erreichen, und genau das würde er jetzt tun. Pharaun wandte sich Tsabrak zu und sagte: »Ich nehme an, die Drinnen haben sich der Verschwörung angeschlossen, weil die Jungs euch einen ehrenvollen Platz im neuen Menzober ranzan versprochen haben. Vielleicht haben sie euch ja sogar zugesichert, nach einem Weg zu suchen, um die Verwandlung rückgängig zu machen.« »Ungefähr«, gab Tsabrak zurück. »Vor allem aber haben sich viele von uns angeschlossen, um die Gelegenheit zu be kommen, so viele Priesterinnen wie möglich zu töten.« »Ich kann es euch nicht verübeln«, sagte Pharaun. »Nun, meine Herren, eure Pläne sind gelinde gesagt eine wahre Inspi ration. Ich bin froh, daß wir euch aufgesucht haben.« »Ich auch«, stimmte Ryld zu. »Eine Sache ist mir noch nicht ganz klar«, fuhr der Magier fort. »Syrzan und der Prophet. Handelt es sich dabei um die selbe Person? An euren Gesichtern sehe ich, daß es so ist. Wer ist ... es wirklich, und welche Macht benutzt es, um die
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Goblins so zu fesseln?« »Ich glaube, das werdet ihr gleich herausfinden«, sagte Houndaer. Im nächsten Moment dröhnte etwas in der Luft, fast wie ein Geräusch, obwohl es das nicht war. Tatsächlich existierte diese Wahrnehmung nur im Geist. Pharaun drehte sich um und sah, wie Tsabrak zur Seite ging, um den Blick auf eine Gestalt frei zugeben, die in ein Gewand gehüllt in der Türöffnung stand. Ryld verspürte eine gewisse Bestürzung. Von der Befürchtung erfüllt, es könnte schon zu spät sein, sprang er von der Bank auf.
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Zu Faeryls Linker stand eine eiserne Jungfrau in Gestalt eines rundlichen Hofnarren mit glöckchenbesetzter Kappe. Die kleinen Glocken sahen echt aus und würden offenbar fröhlich erklingen, wenn im Inneren ein Opfer sein Leben ließ. Die Jungfrau war nur einen Spaltbreit geöffnet, der nicht reichte, um die Dornen im Inneren zu sehen. Direkt vor ihr baumelte ein Haken an einer Kette herab und wartete darauf, sich in einen Gefangenen zu bohren, während die Streckbank untätig dastand, da niemand ge streckt werden mußte. Direkt links davon befand sich eine Kohlenpfanne, die eine extreme Hitze verbreitete, und gleich daneben waren eine Auswahl an Scheren, Messern, Kneifern und Dornen an Haken aufgehängt. Ihre Nemesis, der kleine Mann mit all den häßlichen Spielzeugen, hielt sich in der Nähe auf einem eisernen Stuhl auf, an dessen Armlehnen
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Fesseln montiert waren. Das war auch so ziemlich alles, was die Gesandte sehen konnte, die man nackt an einen geformten Kalkspatpfahl ge bunden hatte. Sie hatte Hunger und Durst, alles schmerzte, weil sie seit Stunden in einer Position verharren mußte. Die Seile, mit denen man sie gefesselt hatte, schnitten in ihre Haut ein, ihr Kopf schmerzte. Doch die echten Qualen, die dieser Keller bereithielt, warteten erst noch auf sie, und sie glaubte auch zu wissen, warum das so war. Jemand hatte die Folterknechte angewiesen, auf Triel zu warten, ehe die Festlichkeiten began nen. Faeryl hatte schon versucht, sich mit dem kleinen Mann und ihren Wärtern zu unterhalten, doch keiner von ihnen war zu einer Reaktion bereit gewesen. Damit konnte sie nur ihre Gedanken im Zaum halten. Sie wollte sich nicht all die Dinge ausmalen, die die Baenre mit ihr vorhatte, doch hatte sie bei genügend derartigen Folterungen mitgewirkt, so daß sie ihre Phantasie kaum bemühen mußte. Sie wollte auch nicht über das Massaker an ihren Gefolgsleuten nachdenken, doch die Erinnerungen kamen immer wieder hoch. Die Töchter und Söhne Ched Nasads waren umzingelt wor den, der Gegner war zahlenmäßig weit überlegen gewesen und hatte sie einen nach dem anderen niedergemetzelt. Während Faeryl das Abschlachten mitangesehen hatte, waren ihr Trä nen in die Augen gestiegen, die sie nicht hatte weinen wollen. Natürlich »liebte« sie ihre Untergebenen nicht, doch sie war an sie gewöhnt, stolz auf sie und wußte, daß sie ohne eine Ge folgschaft nichts war, nichts weiter als eine gefallene Priesterin in einem Land voller Feinde, ihrer Königin ebenso beraubt wie ihres Zuhauses. Dann trat ihr der kleine Mann gegenüber und benutzte sei
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ne Magie, um sie zu verwirren und auszuschalten. Sie war an diesen steinernen Pfahl gefesselt erwacht. Eine Tür knarrte, und Stimmengemurmel erklang. Faeryls Instinkt warnte sie, daß Triel endlich eingetroffen war. Die Botschafterin schloß die Augen, atmete tief ein und langsam wieder aus, um sich zu sammeln. Sie wollte keine Angst zeigen. Ihre Würde war alles, was sie noch hatte – jedenfalls solange, bis man sie ihr aus dem Leib peitschen und brennen würde. Dann kamen Triel und ihr Draegloth-Sohn durch die Tür, die offenbar in angenehmere Bereiche des großen Hügels führ te. Die Baenre-Oberin lächelte. Jeggred, dessen breites Grinsen Reihen von Fangzähnen erkennen ließ, folgte ihr auf ziegen ähnlichen Beinen. Der Kleine stand auf und bekundete ihr seinen Gehorsam. »Valas«, sagte Triel. »Gut gemacht. Haben die Zauvirr dir Schwierigkeiten gemacht?« »Sie versuchten, sich verkleidet davonzustehlen«, erwiderte der Mann. »Fast hätten sie den Beobachtungsposten getäuscht. Aber nachdem er gemerkt hatte, was los war, lief alles genau nach Plan.« Die Baenre hielt einen prall gefüllten Beutel hoch, der für ihre winzige Hand viel zu groß und viel zu schwer zu sein schien. »Ich lasse es dich wissen, wenn ich Bregan D’aerthe wieder brauche«, sagte sie, Valas nahm den Beutel und machte eine tiefe Verbeugung, dann zog er sich zurück, während Triel und ihr monströser Sohn sich der Gefangenen zuwandten. »Guten Abend«, sagte Faeryl. »Oder ist es schon Morgen?« Jeggred riß das Maul auf und sprang mit ausgestreckten Händen und schlagbereiten Klauen auf die Gefangene zu. Unwillkürlich zuckte Faeryl zurück. Sowohl die Klauen als
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auch die Fangzähne kamen nicht mal einen Zentimeter von ihrem Fleisch entfernt zum Stillstand. Der Draegloth baute sich vor ihr auf und kam näher, als wolle er sie wie eine Ge liebte in die Arme nehmen. Er fuhr mit einem seiner spitzen Nägel über ihre Wange, dann nahm er den Finger in seinen bestialischen Mund und leckte daran. Warmer, zähflüssiger Speichel, der womöglich mit ihrem Blut vermischt war, troff auf ihre Stirn. »Vorsicht«, sagte die Botschafterin so nonchalant, wie sie nur konnte. »Wenn Euer Sohn mich schnell tötet, wird Euch das doch sicher den ganzen Spaß verderben, oder nicht?« Jeggred stieß einen tiefen, kehligen Laut aus. Faeryl wußte nicht, ob er knurrte oder lachte. »Du unterschätzt ihn«, sagte Trieb »Ja, ich habe gesehen, wie er acht Gefangene in ebensovielen Sekunden abschlachte te, aber ich sah ihn auch Tage damit verbringen, ein Elfenkind Faser für Faser auseinanderzunehmen. Es hängt ganz von seiner Laune ab – und von meinen Anweisungen.« »Natürlich«, sagte Faeryl. Die aufgeritzte Haut ihrer Wange begann zu brennen. Jeggred folgte mit seiner Klaue den Kontu ren ihrer Lippen, diesmal ohne ihre Haut zu ritzen – noch nicht zumindest. »Ich hoffe, die verräterische Welpe wußte die Ehre zu schätzen.« »Schwer zu sagen«, meinte Triel. »Was ist mit dir? Wirst du es zu schätzen wissen?« »Leider, erhabene Mutter«, gab Faeryl zurück, »kann Eure Tochter keine Ehre zu schätzen wissen, um die sie sich nicht verdient gemacht hat.« Jeggred, der noch immer mit seiner Klaue die Konturen der Gefangenen nachzeichnete, hob eine der kleineren Hände, die sich bis auf die feinen Haare nicht von denen eines gewöhnli chen Drow unterschieden. Er packte Faeryls Ohr und drehte
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es, so daß sie nach Luft rang, als sie den brutalen Schmerz spürte. Als er losließ, pochte das Ohr immer noch. Sie fragte sich, ob ihr der Draegloth bleibenden Schaden zugefügt hatte, doch dann wurde ihr klar, daß das eigentlich unerheblich war. In den nächsten Stunden würde Taubheit ihr kleinstes Prob lem sein. »Ich wünschte, du würdest deine Schuld nicht leugnen«, seufzte die kleine Baenre-Matriarchin. »Ich finde das immer so langweilig.« »Selbst wenn es wahr ist?« Faeryl bemerkte einen blutenden Schnitt unter ihrem Auge. Offenbar hatte sie seine Klaue gestreift, als er ihr Ohr malträtiert hatte. »Ermüde mich nicht«, sagte Trieb »Du wolltest fliehen, und das bestätigt deine Schuld.« »Es bestätigt nur meine Überzeugung, daß jemand Euren Verstand vergiftet hat, um Euch gegen mich aufzubringen«, erwiderte Faeryl. Jeggred packte eine Locke ihres Haars und zog heftig daran. »Meine Abneigung dagegen, zu Unrecht verurteilt zu werden.« »Dachtest du, du könntest mir entkommen, indem du zu rück nach Ched Nasad fliehst?« fragte Triel. »Dort ist mein Wort auch Gesetz.« »Woher wollt Ihr das wissen?« konterte Faeryl. Jeggred schlug sie mit einer seiner gewaltigen Kampfhände und wirbelte ihren Kopf herum. Für einen Moment war ihr Verstand wie gelähmt. Als sie ihre Sinne wieder beisammen hatte, schmeckte sie Blut im Mund. Der Draegloth ging in die Hocke, bis sein bestialisches Ge sicht genau vor ihrem war. »Respektiere die Auserwählte Lolths«, knurrte er. »Das tue ich«, sagte Faeryl. »Ich sage nur, daß nach allem, was wir wissen, in Ched Nasad alles Mögliche geschehen sein
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kann. Mantler können die Stadt überrannt haben, sie kann in Lavawogen ertrunken sein. Ich bezweifle das, und ich bete, daß es nicht so ist. Aber wir wissen es nicht! Wir müssen es heraus finden, und daher schlich ich mich weg. Ich wollte nicht ir gendeinem Feind von der Schwäche des Klerus Menzoberran zans berichten. Mutter der Begierden, es ist auch meine Schwäche! Ich wollte Informationen zusammentragen, ich wollte den Kontakt wiederherstellen ...« »Ich sagte dir schon, ich stehe in Kontakt mit Ched Na sad«, erklärte Triel. »Ich meine einen glaubwürdigen Kontakt«, beharrte Faeryl. »Ich wollte mich nützlich machen und Euch meine Loyalität beweisen, ich wollte Euch nie verraten.« Triel spie aus, dann sagte sie: »Meine loyalen Dienerinnen gehorchen mir.« Faeryl wollte heulen, nicht aus Angst, obwohl sie davon mehr als genug hatte, sondern aus Frustration. Jeggreds Klaue strich über ihre Halsschlagader. »Oberin«, fuhr die Zauvirr fort, »ich flehe Euch an. Laßt mich der Person gegenübertreten, die mich denunzierte. Gebt mir Gelegenheit, meine Treue zu beweisen. Ist es denn so un denkbar, daß jemand gelogen haben könnte? Machen Eure Höflinge einander nicht bei jeder Gelegenheit gegenseitig schlecht, um selbst besser in Eurer Gunst zu stehen? Ist es denn auszuschließen, daß jemand oder etwas in Ched Nasad Euch belügt – daß man Euch erzählt, alles sei in Ordnung, während Tage, Zehntage und schließlich Monate vergehen, ohne daß auch nur eine einzige Karawane eintrifft?« Triel zögerte, und Faeryl spürte einen Hoffnungsschimmer. Dann sagte die Herrscherin über Menzoberranzan: »Du bist die Lügnerin, daran wird sich nichts ändern. Wenn du willst, daß ich Gnade walten lasse, dann sag mir, wem du dienst. Den
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Svirfneblin? Den Abolethen? Einer anderen Drow-Stadt?« »Ich diene nur Euch, Heilige Mutter.« Faeryls Worte kamen ihr ohne jegliche Hoffnung über die Lippen, denn sie hatte einsehen müssen, daß sie die Baenre nie von ihrer Unschuld würde überzeugen können. Es war für Triel zu schwer, an ihre Vorgängerin heranzureichen, zu schwer, in einer so schwierigen Zeit zu herrschen, zu schwer, Entschei dungen zu treffen. Sie würde keine der wenigen Entscheidun gen rückgängig machen, zu denen sie sich durchgerungen hat te, ganz gleich, wie verkehrt sie war. Jeggred ohrfeigte Faeryl, ohrfeigte sie immer weiter, bis sie die Hiebe nicht mehr mitzählen konnte. Irgendwann hörte er auf. Warum auch? Er hatte bereits jegliche Kraft aus ihr her ausgeprügelt. Sie wäre gefallen, wenn die Seile sie nicht gehal ten hätten. Unter ihrer Zunge hatte sich ein abgebrochener Zahn festgesetzt, und sie spie ihn aus, als sie es merkte. »Ich sagte doch«, knurrte der Draegloth, »Respekt!« »Ich bin respektvoll«, keuchte Faeryl. »Darum sage ich die Wahrheit, auch wenn es viel einfacher wäre zu lügen.« Triel sah ihren Sohn an und sagte: »Prinzessin Zauvirr wird dich nicht von deinen Pflichten abhalten.« Jeggred legte den Kopf schräg. »Nein.« »Aber wenn ich deine Dienste nicht brauche«, fuhr die Oberin fort, »kannst du mit der Spionin nach Belieben verfah ren. Wenn sie dir irgendetwas Interessantes zu sagen hat, laß es mich wissen, aber du sollst dich ihrer in erster Linie anneh men, um sie zu bestrafen, nicht um sie zu verhören. Ich be zweifle, daß sie etwas weiß, was sie uns anvertrauen möchte. Wir wissen ja, wer unsere Feinde sind.« »Ja.« Der Halbdämon hockte sich vor Faeryl hin und starrte ihr ins Gesicht, dann sagte er: »Ich werde mir Zeit lassen, Ihr werdet sehen.«
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Er streckte seine spitze, rauhe Zunge aus, um Blut von ihrem Gesicht zu lecken.
Die Gestalt in der Türöffnung der Kapelle hatte einen Kugel kopf mit großen, hervorquellenden Augen, ausgetrockneter, runzliger Haut und vier zuckenden Tentakeln, die um den Mund herum verteilt waren und ihn verdeckten. Sie hatte knorrige, dreifingrige Hände, die Konturen und Proportionen ihres Körpers unterschieden sich deutlich von denen eines Drow, und sie war behängt mit einer Ansammlung von Talis manen und Amuletten, die mit fremdartigen Zaubern belegt waren. Syrzan – Pharaun hatte keinen Zweifel, daß es sich um ihn handelte – war Angehöriger einer psionisch begabten Spezies namens lllithiden. Bei ihm handelte es sich um eine der weni gen Kreaturen dieser Art, die dem Pfad der Magierkunst folgte und sich letztlich in ein untotes Wesen verwandelte, das als Alhoon bekannt war. Das Ding war sicher ausgesprochen stark, immun gegen den Verfall der Zeit und dabei völlig in der Lage, die Gedanken der Meister zu lesen und den dort verborgenen Verrat zu entdecken. Wie Pharaun war auch Ryld von seiner Bank aufgesprun gen. Der riesige Krieger eilte auf Houndaer zu, offensichtlich bemüht, an seine Waffen zu kommen. Pharaun, der seine Zau berkomponenten mindestens so dringend brauchte, hastete seinem Freund hinterher. Der Waffenmeister schlug zu und schleuderte Houndaer rückwärts von der Bank, dann packte er Splitter. Er fuhr her um, um nach der unmittelbaren Bedrohung Ausschau zu hal ten, und hatte dabei fast seinen Freund mit dem Schwert nie dergeschlagen.
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Pharaun griff nach seinem Umhang, als ihm plötzlich klar wurde, daß Houndaers unscheinbarer Begleiter ein wortloses Arpeggio sang. Hätte Pharaun schon seinen Piwafwi mit all den schützen den Zaubern getragen, hätte er dem Gesang widerstehen kön nen. So aber drang dessen Macht direkt in seinen Geist. Er lachte unkontrollierbar und taumelte zurück. Schließlich ging er in die Knie, während sich seine Bauchmuskeln zusammen zogen und ihm Schmerzen bereiteten. Er hatte schon vermutet, daß sich hinter dem unscheinba ren kleinen Mann mehr verbarg, als der äußere Eindruck ah nen ließ. Er mußte ein hervorragender Kämpfer sein, der ein fades Äußeres zur Schau trug, um seine Gegner in trügerischer Sicherheit zu wiegen. Er hatte recht gehabt. Der »Handwer ker« war in Wahrheit ein Barde, ein Zauberwirker, der durch Musik Resultate erzielte. Pharaun biß die Zähne zusammen und befreite sich von dem Lachzwang. Nach Luft ringend hob er den Kopf und sah sich um. Der Barde zog gleichzeitig seinen magischen Dolch und setzte zu einem neuen Lied an, diesmal in hohem Falsett. Houndaer hatte sich aufgerappelt und kämpfte gegen Ryld, ihre Schwerter prallten laut aufeinander. Am anderen Ende des Raums bewegte Tsabrak aufgeregt seine acht Beine und schoß einen Pfeil auf Pharaun ab, während das Alhoon einfach nur in der Türöffnung stand. Seine Mundtentakel bewegten sich, und es schien sich damit zu begnügen, daß seine Gefähr ten sich um das Kämpfen kümmerten. Pharaun warf sich zur Seite. Ein Pfeil verfehlte ihn nur knapp, schlug auf dem Boden auf und rutschte ein ganzes Stück weiter. Der Magier schlug mit der flachen Hand auf den Stein, woraufhin sich zwischen ihm und seinem Widersacher eine
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Wand aus schützender Finsternis bildete. Mit geübter, ruhiger Anmut huschte er weiter. Etwas legte sich um Pharauns Geist, erstickte seinen Willen und beraubte ihn der Fähigkeit, sich zu bewegen. Der untote Gedankenschinder war gar nicht untätig gewesen. Syrzan hatte nur seine Psi-Kraft der Magie vorgezogen, weshalb es mit sei nen dreifingrigen Händen auch keine Gesten hatte beschrei ben müssen. Die Wand aus Schatten hatte für den Propheten kein Hindernis dargestellt, als er nach Pharauns Intellekt ge sucht hatte, um ihm einen lähmenden Schlag zu versetzen. Die Barrikade aus Finsternis verschwand. Syrzan mußte ei nen Gegenzauber gewirkt haben, um sie zu bannen, und dabei hatte er Pharaun einen Blick auf den dahinter gelegenen Teil des Raums ermöglicht. Der war recht erstaunt, daß Houndaer noch lebte, doch das mochte daran liegen, daß Tsabrak seinen Bogen weggesteckt und statt dessen sein Breitschwert gezogen hatte, um an seiner Seite zu kämpfen. Die beiden Verschwörer versuchten, Ryld in die Zange zu nehmen, normalerweise eine wirkungsvolle Taktik, aber bislang schützten der Piwafwi, die Zwergenrüstung und das Geschick des Lehrers ihn vor Verlet zungen. Der Tuin’Tarl führte einen halbherzigen Schlag, und Ryld, der ihn sofort als Finte durchschaute, reagierte nicht. Tsabrak, dessen nackte Gliedmaßen die Phosphoreszenz der Schnitze reien reflektierte, spie Gift auf seine Klinge. Der Barde ließ seinen schrillen Gesang in ein donnerndes Crescendo überge hen, während er die Beine kreuzte und seine Arme so fest um sich schlang, als wolle er sie verknoten. Mit Hilfe seines Rings sah Pharaun einen glitzernden magi schen Impuls, der von dem Sänger auf Ryld zuflog. Er konnte sogar erkennen, was er bewirken sollte. Sein Freund sollte seinen Körper in die gleiche hilflose Haltung bringen wie der
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Barde. Ryld war jedoch so willensstark, daß er sich dem Drang widersetzte, ohne zu merken, was er da tat. Der Waffenmeister täuschte einen Schlag gegen Houndaers Kopf an, wirbelte dann herum und tauchte ab. Er rutschte zwischen Tsabraks Beinen hindurch und brachte sich sowohl vor der Drinne als auch vor Houndaer in Sicherheit. Er sprang auf und stürmte auf Syrzan los. Obwohl der Gedankenschinder ihn bislang nicht angegriffen hatte, war Ryld doch bewußt, daß der sein gefährlichster Gegner war. Syrzan griff in die Tasche und holte eine kleine Keramik phiole hervor. Als es die Flasche schwenkte, nahmen hinter ihr ein Dutzend heller Feuerkugeln Gestalt an. Sie schossen in gerader Linie auf Ryld zu und explodierten eine nach der ande ren, was sich anhörte, als würde jemand auf einer höllischen Trommel einen Takt schlagen. Der Lichtschein war gleißend. Einen Moment lang sah Pha raun überhaupt nichts; Ryld nahm er nur durch verschwom mene Nachbilder auf der Netzhaut hindurch wahr. Sein Freund schien unversehrt. Er stürmte immer noch voran und war dem Alhoon fast nahe genug, um mit seinem Schwert zuzuschlagen. Syrzan setzte seine Gedankenschindertalente ein. Obwohl der Leichnam keinen Angriff gegen ihn vorgenommen hatte, spürte Pharaun es. Es war wie ein Regen aus heißer Asche, der sein Hirn verbrannte. Ryld ging zu Boden. Syrzan betrachtete einen Moment lang den Krieger, offen bar um sicherzugehen, daß er ausgeschaltet war, dann kam es auf Pharaun zu. Trotz des weit bis auf den Boden reichenden Gewands war etwas an seiner Gangart sonderbar, fast so, als hätten die Beine zu viele Gelenke. Jetzt, da es dicht vor ihm war, bemerkte Pharaun einen leicht unangenehmen Geruch wie von verfaultem Fisch. Die Kleidung war einst von hoher
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Qualität gewesen, doch nun war sie zerfetzt und verschmutzt. Es legte einen Finger auf Pharauns Stirn, und im nächsten Augenblick befanden sie sich an einem anderen Ort.
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Das Unterreich war grenzenlos, seine Mysterien waren unend lich, und obwohl Pharaun über Jahrhunderte seiner Neugier gefolgt war, hatte er noch nie eine Stadt der Illithiden zu Ge sicht bekommen. Auch wenn es einen Mangel an Bewohnern gab, glaubte er, soeben eine solche betreten zu haben. Kunsthandwerker hatten die Wände und Säulen des Ge wölbes so gestaltet, daß sie wie schwammartige Hirnmasse wirkten, danach hatten sie die Windungen mit Linien voll eingravierter Runen überzogen. Tümpel, in denen warme Flüs sigkeit stand, bedeckten den Boden. Diese kleinen Teiche verströmten intensiven Salzgeruch und wogten und pulsierten mit einer solch gewaltigen mentalen Energie, daß sie selbst eine nicht psionisch veranlagte Intelligenz im Hinterkopf als das Flüstern eines fremdartigen, unverständlichen Gedankens wahrnahm.
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Pharaun erkannte, daß die Höhle in gewisser Weise eine Il lusion war, doch das machte sie nicht weniger interessant. Nichts wäre ihm lieber gewesen, als jeden Winkel und jede Ecke zu erkunden. Es war eine Neigung, die verwurzelt war in einem profunden Wohlgefühl und einer fröhlichen Sorglosig keit, die nicht echter war als die Landschaft, aber dennoch verführerisch. Er mußte dagegen ankämpfen! Er drehte sich um und sah, daß Syrzan ein Stück von ihm entfernt stand, und warf Energiepfeile, einen Zauber, der nur einige Worte und eine rasche Geste mit den Händen erforder te. Auf halber Strecke zum Ziel blieben die azurn strahlenden Geschosse mitten in der Luft stehen, fielen zu Boden und ver wandelten sich in Wesen, die an Egel oder Kaulquappen erin nerten. Sie quiekten telepathisch, während sie zum nächsten Tümpel krochen. »Deine Zauber werden hier nicht wirken«, sagte Syrzan in der vollen, faszinierenden Stimme des Propheten. »Das hatte ich vermutet, doch ich mußte es zumindest ver suchen. Sind wir in deinem Verstand?« »Mehr oder weniger.« Syrzan schlenderte näher. Neben ihm spritzte blubbernd Flüssigkeit hoch, als die Kaulquappen sich suhlten. »Wir unterhalten uns in meiner speziellen Zuflucht«, er klärte der untote Gedankenschinder. »Aber wir sind auch noch in der Kapelle der Ketzer. In dieser Wirklichkeit werfe ich Houndaer gerade vor, daß er euch geholt hat, obwohl ich ihn warnte, ihr wärt gefährlich, und du bist bewußtlos.« »Faszinierend«, erwiderte Pharaun, »und ich nehme an, du hast mich in den Traum geholt, damit wir unter vier Augen reden können.« »Im Wesentlichen ja«, sagte das Alhoon. Sogar in dieser rein geistigen Domäne verbreitete er den Geruch verrottenden
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Fischs. »Es ist genau genommen eine Form des Gedankenle sens. Du wirst nicht lügen können.« Der Meister Sorceres lachte leise. »Manche würden sagen, mit dem Handicap könnte ich überhaupt keinen Ton heraus bringen.« Die Magier begannen, Seite an Seite weiterzuschlendern. Es herrschte eine recht entspannte Atmosphäre. »Wie kommt es«, fragte Syrzan, »daß ihr nach uns sucht?« Pharaun erklärte es ihm. Er glaubte nicht, er könne sich damit auf irgendeine Weise schaden. Als er fertig war, sagte der Gedankenschinder: »Du könn test meine spezielle Art von Macht nicht anwenden.« »Das begreife ich nun. Du fesselst die Unterkreaturen mit einer geschickten Kombination aus Magie und deinem Ge schick als Gedankenschinder, und mir fehlt es an der angebo renen Fähigkeit, letzteres zu meistern. Außerdem weiß ich, daß ihr Verschwörer nichts über die Probleme der Priesterinnen wißt.« Pharaun legte den Kopf schräg. »Oder vielleicht doch, meisterlicher Leichnam?« »Nein«, sagte Syrzan, dessen Mundtentakel zuckten und sich wanden. »Wie die anderen weiß ich, was passiert ist. Aber den Grund kenne ich nicht.« »Dann hätte ich hier nichts von dem finden können, wo nach ich gesucht habe«, stellte Pharaun fest und lachte. »Mei ne Schwester Sabal sagte einmal, der Verstand eines cleveren Drow könne ihn zu Dummheiten verleiten, die kein Dumm kopf in Angriff zu nehmen wagen würde ... aber das ist Blut von gestern. Was ist mit dir? Was um alles in der Welt brachte ein Geschöpf wie dich dazu, sich mit einer Bande abtrünniger Menzoberranzanyr zu verbünden?« »Du suchst Informationen, die du gegen mich verwenden kannst.«
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»Nun, zum Teil ...« Pharaun mußte einen Moment lang in nehalten, als eine Welle von Psi-Kraft aus einem der größeren Tümpel drohte, seine eigenen Gedanken fortzuspülen. »Für den unwahrscheinlichen Fall, daß ich je die Chance dazu be komme. In erster Linie aber bin ich neugierig. Du bist Magier. Damit haben wir etwas gemeinsam, auch wenn das schon alles ist.« Syrzan zuckte die schmalen Schultern, die sich unter dem ausgebleichten Gewand höher hoben als bei einem Drow. »Nun«, sagte das Alhoon, »ich glaube, es kann nicht scha den, wenn ich dich etwas aufkläre. Außerdem ist es lange her, daß ich das letzte Mal Gelegenheit hatte, mit einem fähigen Kollegen zu sprechen. Nicht, daß du mir ebenbürtig wärst – kein Elf und kein Zwerg könnte das je sein –, doch du bist den Verbündeten Houndaers weit überlegen.« »Deine Worte beschämen mich.« Die beiden Magier betraten eine Brücke, ein geschwunge nes Stück Kalkstein, das einen der salzigen Tümpel überspann te. »Drow werden einen Leichnam erdulden«, sagte das Al hoon, in dessen musikalisch klingende und fast sicher künstli che Stimme sich eine düstere Note schlich. »Illithiden nicht. Insgesamt hassen sie die Vorstellung von Hexerei, eine fremde Disziplin, die so stark ist wie die psionischen Fähigkeiten, die unser Geburtsrecht darstellen. Dennoch tolerieren sie wegen der Vorteile, die wir ihnen bringen, eine begrenzte Zahl an sterblichen Magiern, also jene von uns, die sich trotz des Stig mas zur Magie hingezogen fühlen. Doch der Gedanke an un sterbliche Magier, die Jahrtausende existieren und sich immer mehr magische Fähigkeiten aneignen, ängstigt sie.« »Also hast du an dem Tag, an dem du deine Unsterblichkeit erlangtest«, entgegnete Pharaun, »deine Heimat für immer
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verlassen, oder zumindest bis zu jenem Tag, an dem du sie erobern kannst.« Die beiden Magier blieben am höchsten Punkt der Brücke stehen und sahen auf die warme, solehaltige Flüssigkeit hinab. Pharaun bemerkte, daß das Naß träge Wellen schlug, als sei es dicker als Wasser. »In der Tat«, sagte Syrzan. »Ich hoffte, meine Abreise heimlich gestalten zu können, doch irgendwie spürte das Volk Oryndolls meine Metamorphose. Jahrzehntelang jagten sie mich wie ein Tier, und ich existierte wie eines in der Wildnis des Unterreichs. Das war eine schwere Zeit. Selbst die Unto ten sehnen sich nach den Annehmlichkeiten der Zivilisation. Schließlich wurde ich von Oryndoll aufgegeben oder verges sen. Das machte die Situation erträglicher, aber ich hatte noch immer kein Zuhause.« »Ich hörte«, warf Pharaun ein, »daß es ein oder zwei gehei me Enklaven der Illithiden geben soll. Hast du nicht nach ihnen gesucht?« »Ich suchte 90 Jahre lang und fand schließlich eine«, erwi derte Syrzan und klang etwas verärgert darüber, daß sein Ge fangener einen solchen Sprung in der Geschichte gemacht hatte, die er erzählte. »Eine Zeitlang lebte ich dort auch, doch ich bekam Streit mit den ältesten Alhoons, die sich für die Anführer der anderen hielten. Ich unternahm Nachforschun gen, die sie in ihrer Ignoranz und Furchtsamkeit verboten hatten.« Der Meister von Sorcere lachte und sagte: »Wenn dein Herz – vorausgesetzt, ein Gedankenschinder verfügt über die ses Organ – es dir nicht erlaubt, uns als gleichwertig zu be trachten, dann mußt du zumindest zugeben, daß wir vom glei chen Schlag sind. Du wolltest nicht zufällig den SarthosDämon anrufen?«
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»Nein«, erwiderte Syrzan knapp. »Es erübrigt sich zu sagen, daß ich, wäre nicht Pech im Spiel gewesen, den ältesten Leichnam von allen gestürzt hätte. Doch wie die Dinge liefen, mußte ich in die Wildnis fliehen und wurde gezwungenerma ßen wieder zum einsamen Wanderer.« »Sicherlich fandest du jemanden, den du versklaven konn test.« Pharaun spürte, wie die Luft in der Traumhöhle kühler ge worden war. Vielleicht reagierte sie auf die finsteren Gedanken ihres Erschaffers. »Ich stieß auf kleinere Lager«, räumte Syrzan ein. »Eine Goblinfamilie dort, ein Dutzend Troglodyten da. Ich benutzte und verschliß sie, einen nach dem anderen. Doch keines der kleinen Löcher, die von einer Handvoll Schläger infiziert wa ren, konnte mir das geben, wonach ich wirklich strebte. Ich sehnte mich nach einer blühenden Stadt voller Glanz und Luxus, über die ich herrschen und von der aus ich ein Imperi um erobern konnte. Doch die Einnahme einer solchen Stadt überstieg meine Kräfte.« »So wie meine«, sagte Pharaun, »auch wenn es mir schwer fällt, das zuzugeben. Während du dich also nach etwas verzehr test, was du nicht haben konntest, spioniertest du die Städte des Unterreichs aus, jedenfalls wenigstens eine von ihnen. Du hattest ein Auge auf Menzoberranzan.« »Ja«, antwortete Syrzan. »Ich beobachtete deine Leute lange. Vor etwa 40 Jahren wurde ich auf die Machenschaften der abtrünnigen Männer aufmerksam, und vor kurzem be merkte ich die Schwäche der Priesterinnen. Kein Drow konnte eine so gravierende Veränderung vor einem Beobach ter mit meinen Talenten verborgen halten. Ich erinnerte mich an die Möchtegern-Rebellen und sorgte dafür, daß sie die gleiche Entdeckung machten. Dann trat ich aus dem
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Schatten und bot ihnen meine Dienste an.« »Warum?« fragte Pharaun. »Deine Mitverschwörer sind Drow, und du bist – verzeihe meine direkte Art – Angehöriger einer minderwertigen Art. Eigentlich nur Ungeziefer, das ei nen Satz nach oben gemacht hat. Du erwartest doch nicht, daß Houndaer und seine Jungs zu einem Pakt mit dir stehen, wenn der Sieg errungen ist, oder? Drow halten nicht einmal unter einander ihr Wort.« »Zu meinem Glück wird dieser Sieg erst in vielen Jahrzehn ten errungen werden. Bis dahin werde ich subtil daran arbei ten, meinen Verbündeten meinen Willen aufzuzwingen. Lange bevor sie die Herrschaft über die Stadt an sich reißen können, werde ich über sie herrschen.« »Verstehe. Diese Narren haben dir einen Ansatzpunkt ge geben, und nun wirst du dir von innen das unterwerfen, was du von außen nie hättest erobern können. Dabei wirst du das Netz des Zwangs weiter und weiter ausdehnen, bis alle Menzo berranzanyr geistig versklavt sind und zum Takt deiner Trom mel marschieren.« »Offenbar begreifst du die Grundlagen der Gesellschaft der Illithiden«, sagte Syrzan. »Vermutlich weißt du auch, daß wir uns bevorzugt an den Gehirnen niederer empfindungsfähiger Wesen laben und wie deine eigene Rasse eine Vorliebe für Folter haben. Trotzdem wird es einigen deines Volks gutgehen. Schließlich kann ich nicht jeden schinden, nicht wahr?« »Es sei denn, du willst König über die Geister und das Schweigen werden. Woher, wenn ich fragen darf, kommen diese Feuerbomben, die Stein in Brand setzen können?« »Menzoberranzan ist nicht die einzige Drow-Stadt, in der es ehrgeizige Männer gibt«, antwortete der Gedankenschinder. Pharaun war einen Moment sprachlos. Eine andere DrowStadt ...
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»Nun ist es an dir, meine Neugier zu stillen«, erklärte Syr zan und unterbrach den Gedankengang des Drow. »Ich lebe für die Gelegenheit.« »Als Houndaer und die anderen dir unseren Plan erklärten, hast du da ernsthaft überlegt, dich uns anzuschließen?« Pharaun grinste und sagte: »Für eine Viertelsekunde.« »Warum verwarfst du den Gedanken? Du bist weder treuer noch weniger ehrgeizig als jeder andere Drow.« »Oder als jeder andere Gedankenschinder, wage ich zu be haupten. Warum also blieb ich meinem Entschluß treu, euch zu verraten?« Der schlanke Dunkelelf spreizte die Hände. »Es gibt viele Gründe. Zum einen bin ich ein angesehener Magier, wenn ich das so sagen darf, und in Menzoberranzan haben wir Magier unsere eigene, stillschweigende Hierarchie. In den letzten Jahren habe ich meinen Ehrgeiz darauf gerichtet. Sollte ich an die Spitze aufsteigen, wird mich das zu einer Persön lichkeit machen, die fast so erhaben ist wie eine Hoheprieste rin.« Syrzan zuckte mit den Tentakeln, eine Geste, die Ungeduld vermittelte. Dabei löste sich eine Hautschuppe. Im Gegensatz zur schleimigen Haut lebendiger Gedankenschinder war das Fleisch des Leichnams spröde und trocken. »Die Abtrünnigen versuchen, einen Platz über den Frauen zu erlangen«, meinte die untote Kreatur. »Ich verstehe schon, aber ich bezweifle, daß es so laufen wird, wie sie planen ... und wie du planst.« »Du hältst die Priesterinnen für zu gut, auch wenn sie nicht länger über ihre Zauber verfügen?« »Oh, sie sind mächtig. Sie könnten diesen kleinen Klüngel durchaus auslöschen. Doch im Moment mache ich mir Sorgen wegen der Unterkreaturen. Ist dir klar, wie viele Goblins es gibt? Wie sehr sie uns schon haßten, bevor du sie aufgehetzt
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hast? Wie gefährlich Feuer ist, das Stein brennen läßt? Wenn der Aufstand vorbei ist, könnte es sein, daß es überhaupt kein Menzoberranzan mehr gibt, über das man herrschen könnte.« »Unsinn. Die Orks werden ihren Auftritt haben, und deine Leute werden sie abschlachten.« Pharaun seufzte. »Genau das wollen mir alle einreden. Ich wünschte, deine Überzeugung wäre ein Trost für mich, doch das ist sie nicht. Das ist einer der Nachteile, wenn man sich selbst besser kennt als jeder andere.« »Ich versichere dir, die Orks können nicht siegen.« »Zumindest werden sie einen Teil der schönen Architektur zerstören, die die Gründer aus dem lebenden Stein formten. Außerdem werden sie ein Vorbild für kommende Generatio nen von Knechten abgeben. Dein Plan wird nicht nur den Priesterinnen, sondern auch Menzoberranzan schaden, und das kann ich nicht gutheißen. Es ist nachlässig und unangemessen. Nur ein Narr beschädigt den Schatz, nach dem er strebt.« Höhnisch erwiderte Syrzan: »Ich hätte dich nicht für einen Patrioten gehalten.« »Seltsam, nicht? Ich werde dir etwas noch seltsameres er zählen. Auf meine Art bin ich sogar ein treues Kind Lolths. Zwar hat mich das nie davon abgehalten, nach meinem eige nen Vorteil zu streben – und dabei auch ein paar Priesterinnen zu ermorden –, aber auch wenn ich persönliche Vorherrschaft erlangen will, würde ich nie versuchen, die Gesellschaftsord nung zu zerschlagen, die Lolth schuf. Ganz sicher würde ich keine Verschwörung anzetteln, um das von ihr auserwählte Volk und ihre Stadt von einer niederen Kreatur beherrschen zu lassen.« »Selbst Götter sterben, Drow. Vielleicht existiert Lolth nicht mehr. Wenn Menzoberranzan wirklich das Reich der Sterblichen ist, das sie am meisten liebt, warum sollte sie es
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dann im Stich lassen?« »Eine Prüfung? Eine Strafe? Eine Laune? Wer weiß? Aber ich bezweifle, daß Lolth tot ist. Ich habe sie einmal gesehen, und damit meine ich nicht bloß die Manifestation, die Menzo berranzan in der Zeit der Avatare besucht hat. Ich habe die Dunkle Mutter in der vollen Pracht ihrer Göttlichkeit gese hen, und ich kann mir nicht vorstellen, daß etwas über sie obsiegen könnte.« »Du hast die Spinnenkönigin gesehen?« »Ich dachte mir, daß dich das interessieren könnte«, erwi derte der Magier. »Es war kurz nachdem ich meinen Abschluß in Sorcere gemacht hatte. Ich kehrte nach Hause zurück und stellte mich auf die Seite meiner Schwester Sabal, um gegen ihre Zwillingsschwester vorzugehen. Eines Abends kam eine Delegation aus Priesterinnen in unsere Burg. Triel Baenre selbst führte sie. Sie war zu der Zeit die Herrin Arach-Tiniliths. Sie brachte Würdenträger aus den Häusern Xorlarrin, Agrach Dyrr, Barrison Del’Armgo und von anderen wichtigen Famili en mit. Es war ein bewegender Moment, vor allem für mich, weil all die bedeutenden Damen gekommen waren, um mich festzunehmen.« Er schwieg einen Moment. »Ich kam nie dahinter, ob Grey anna diese Angelegenheit initiiert hatte. Es war durchaus ihr Stil, aber sie muß es nicht zwangsläufig gewesen sein. Es wird dich wohl kaum interessieren, doch damals betrachtete man mich als arroganten, hochnäsigen Tunichtgut, weit entfernt von dem demütigen, bescheidenen Mann, den du heute vor dir siehst. Viele Kleriker konnten mich der Unehrerbietigkeit verdächtigt haben.« »Das ist, was mit Tsabrak geschah«, warf Syrzan ein. »Die Priesterinnen nahmen ihn fest, machten aus ihm eine Drinne und verjagten ihn.«
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»Manchmal teilen sie noch viel schlimmere Strafen aus«, erwiderte Pharaun. »Doch erst untersuchen sie dich, um deine wahren Absichten zu bestimmen. Ich hatte gehofft, meine Mutter würde einschreiten. Sie war eine der großen Matronen Menzoberranzans, und ich hatte für das Haus Mizzrym eine Reihe von Vorteilen herausgeholt. Doch sie sagte kein Wort dazu. Vielleicht glaubte sie, ich sei ein angehender Verräter, oder sie wollte sich nicht mit den Baenre anlegen. Vielleicht amüsierte sie auch nur meine mißliche Lage. So ist Miz’ri. Auf jeden Fall warfen mich die Priesterinnen in ein Verlies und befragten mich, indem sie Peitschen und andere Spielzeu ge einsetzten. Irgendwie gelang es mir, dem Drang zu widerste hen, irgendetwas zu gestehen, nur damit sie endlich aufhörten und der Schmerz ein Ende nahm. Ein anderer Magier versuch te einen Zauber, um meine Gedanken zu lesen, scheiterte aber an der Abwehr, die die meisten Magier errichten, um ihre Gedanken zu schützen. Ich kann mir vorstellen, daß ein Ge dankenschinder diese Barriere mühelos durchbrochen hätte, doch er war der Herausforderung nicht gewachsen.« »Dann hast du also den Test bestanden?« fragte Syrzan. »Nein.« Pharaun mußte lachen. »Man hielt die gewonne nen Ergebnisse für nicht eindeutig, also wurde eine höhere Macht gebeten, für ein klares Urteil zu sorgen. Man legte mich auf einen Altar aus Obsidian, und dann vollzogen sie ein Ritu al, bei dem sie tanzten, schrien und sich selbst verstümmelten, und dann verschwand die Folterkammer um mich herum. Man sollte meinen, daß ich darüber glücklich gewesen wäre, doch die neue Umgebung war nicht weniger unheilvoll.« Pharauns Bewacher hatten seinen Silberring übersehen, vielleicht hatten sie ihn auch nur für bloßen Schmuck gehal ten. Als er Syrzan ansah, bemerkte er, daß die Magie des Rings sogar in der von dem Leichnam erzeugten unwirklichen Um
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gebung funktionierte. Er verdrängte eine Idee in sein Unter bewußtsein, während er weiter drauflosredete. »Die Priesterinnen hatten mich unter Medikamente gesetzt, um zu vermeiden, daß ich ihnen Widerstand entgegensetzte, dann hatten sie mich mit beträchtlicher Brutalität benutzt. Ich brauchte eine Weile, um meinen verletzten Kopf zu drehen und mich umzusehen. Als es mir endlich gelang, erkannte ich, daß ich auf einem riesigen Gegenstand lag, der die Form eines Stabs oder eines Stück Seils hatte. Er war aus einer Substanz, die nachgab, dabei aber so stabil wie Diamantspat war. Sonst wäre es unter seinem eigenen Gewicht zerfallen. Ein Stück weiter verschmolz meine Unterlage im rechten Winkel mit einem ganz ähnlich aussehenden Gegenstand, der wieder mit einem anderen verbunden war. Auf einmal wurde mir klar, daß es sich um ein Spinnennetz von unermeßlichen Dimensionen handelte, groß genug, um daraus eine ganze Welt entstehen zu lassen. Wenn es irgendwo festgemacht war, dann waren diese Punkte zu weit entfernt, um sie sehen zu können. Vielleicht nahm es in keiner Richtung ein Ende.« »Das Dämonennetz«, sagte Syrzan. Verstohlen betrachtete Pharaun die Talismane seines Ge genübers und benutzte den magischen Ring, um herauszufin den, welcher von ihnen den Illithiden in die Lage versetzte, einen »Ruf« an jeden Ork und jeden Goblin in Menzoberran zan zu schicken. »Sehr gut«, sagte der Magier. »Ich sehe, du hast aufgepaßt, als deine Lehrer über die verschiedenen Existenzebenen spra chen. Man hatte mich tatsächlich auf diese Ebene des Ab grundes verbannt, wo Lolth herrscht. Ich erinnerte mich, ge hört zu haben, die Fäden des Netzes seien hohl und ein Großteil des Lebens an diesem Ort existiere im Inneren. Nir gends an der Außenseite konnte ich eine Quelle für Nahrung
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und Wasser sehen, ganz zu schweigen von einem Portal, das mich nach Hause zurückgebracht hätte. Obwohl ich von der Behandlung durch die Klerikerinnen noch benommen war und mir übel war, begann ich umherzukriechen, um nach einem Eingang zu suchen. Vielleicht hätte ich den irgendwo gefun den, doch die Zeit wurde knapp. Der Faden, auf dem ich mich bewegte, begann zu zittern. Ich blickte mich um und sah sie auf mich zuhuschen.« »Lolth?« fragte Syrzan. »Wen sonst? Ihre Priesterinnen sagen, sie reise in einer mo bilen eisernen Festung durch ihr Reich, doch an diesem Tag mußte sie sie zurückgelassen haben. Ich sah die Göttin in der Gestalt einer Spinne, die so groß war wie der große Hügel der Baenre. Sie war schon anderen in der gleichen Form erschie nen, nur kleiner, aber als sie sich mir näherte, war sie riesig. Ich war völlig verängstigt, doch was hätte ich tun sollen? Fliehen? Kämpfen? Beides wäre gleichermaßen absurd gewe sen. Ich entschied mich für die einzige vernünftige Möglich keit. Ich kauerte mich zusammen und bedeckte meine Augen.« Im Geiste war Pharaun wieder in jener Zeit und an jenem Ort. »Leider verwehrte sie mir den Vorteil der Blindheit. Ihr Wille ergriff von mir Besitz und zwang mich aufzublicken. Sie ragte über mir auf und starrte mich aus einem Kreis leuchten der rubinroter Augen an. Ich hatte das Gefühl, daß ihr Blick mich nicht nur durch drang, sondern förmlich auflöste. Die Empfindung war uner träglich, ich wollte sterben, und in gewisser Weise erfüllte sie mir diesen Wunsch. Ihre Beine waren gewaltig, liefen aber na delspitz zu, so daß sie mit ungeheurer Präzision beginnen konn te, mich mit den beiden vordersten Gliedmaßen zu sezieren.« Wieder schwieg er einen Moment. »Hat es mich getötet? Ich weiß nicht. Es hätte so sein sollen, doch wenn ich starb,
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dann hielt sich mein Geist weiter in meinem zerteilten Fleisch und litt unter dem Entsetzen und dem Schmerz. Auch meine Seele war sich ihrer Zerstörung bewußt. Als Lolth Fleisch und Knochen zerlegte, tat sie das gleiche mit meinem Verstand und meinem Geist. Es macht mich verrückt, daß ich nicht be schreiben kann, wie es sich anfühlte. Ich stamme aus einer Rasse von Folterern und Zauberwirkern, und doch fehlen mir die Worte. Es mag reichen, wenn ich sage, daß es keine ange nehme Erfahrung war. Am Ende lag jeder Aspekt meines Seins vor ihr ausgebreitet – heute ist mir klar, daß es einer gründlichen Begutachtung diente, doch damals empfand ich zuviel Schmerz und Furcht, um das zu erkennen. Als sie genug gesehen hatte, begann sie, mich wieder zusammenzusetzen.« Pharaun achtete nach wie vor darauf, daß er sich nicht ver riet und auf seine Geschichte konzentriert blieb. Gleichzeitig entschied er, daß das Dreieck dem Alhoon die Macht für den Ruf gab. Die Frage war, wie er vorgehen sollte. Die echte Bro sche hing an Syrzans stofflicher Brust in der stofflichen Welt. Die in seinem Geist war so etwas wie ein Echo. Eine Analogie. Würde es etwas bewirken, wenn er sie Syrzan abnahm? Pharaun fort fuhr: »Glaubst du, sie hat jeden subtilen As pekt meines Intellekts und Geistes exakt so wieder zusammen gesetzt, wie er sich zuvor dargestellt hatte? In den Jahren da nach dachte ich viel über diese Frage nach, doch sie kann nicht beantwortet werden. Das sollte uns nicht aufhalten. Nachdem die Mutter der Begierden mich wieder zusammenge flickt hatte, schleuderte sie mich in meine ursprüngliche Wirk lichkeit zurück, zurück auf den Altar, um so zu zeigen, daß sie mich für annehmbar erachtete. Ich schätze, die Klerikerinnen waren enttäuscht. Mir ist noch nie ein Inquisitor unterge kommen, der sich am Freispruch eines Verdächtigen erfreut.«
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Pharaun ließ seinen Blick über die Landschaft in Syrzans Geist wandern. »Vielleicht war es für sie ein kleiner Trost, daß ich völlig verrückt geworden war. Sie brachten mich zurück zu meiner Familie, die mich auf ein Bett legte, fesselte und dann darüber diskutierte, ob es nicht praktischer wäre, mich mit einem Kissen zu ersticken. Sabal war meine Fürsprecherin und Hüterin. Sie konnte es sich nicht leisten, ihren treuesten Ver bündeten zu verlieren. Laß uns all die Anfälle und die Halluzinationen übersprin gen, ja? Schließlich erlangte ich meinen Verstand zurück. Als ich über meine Erfahrung im Abgrund nachdachte, wurde mir klar, daß Lolth zwar unendlich furchterregend und bösartig war, daß sie aber zugleich übersinnlich schön war. Ich war einfach nur zu abgelenkt gewesen, um das zu sehen.« Die Magie des Rings und der Brosche hatte die Träumer mit in den Traum begleitet. Sonst wäre es Pharaun nicht möglich gewesen, das Leuchten des Dreiecks zu sehen. Wenn er den Talisman hier an sich nahm, würde sein Gegenstück in der weltlichen Realität vielleicht seine Zauber verlieren. Vielleicht auch nicht, doch der Meister Sorceres spürte, daß er das Risiko eingehen mußte. Er bezweifelte, daß er eine zwei te Gelegenheit bekommen würde. »Gewiß verkörperte sie die überlegene Macht, die alle Drow, ganz besonders wir Magier, anstreben«, fabulierte der Drow weiter. »Es war für mich eine Inspiration, daß sie unsere Schutzherrin war. Sie ist unserer würdig, und wir sind ihrer würdig.« »Sie hat dich beeindruckt«, sagte Syrzan, dessen Tentakel rund um seinen Mund zuckten, »wie jede noch so unbedeu tende Gottheit einen Sterblichen in blankes Erstaunen verset zen kann. Du solltest wissen, daß es Mächte gibt, die größer sind als Lolth, Wesen, die, wenn sie wollten ...«
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Pharaun griff nach der dreieckigen Elfenbeinbrosche und riß sie vom verdreckten, schäbigen Gewand des untoten Gedan kenschinders. Dann schlug er mit ihr auf das nur im Geist geschaffene Geländer der Brücke. Das Amulett zerbrach nicht. Verzweifelt holte er aus, um es wegzuwerfen. Vielleicht würde der Illithiden-Leichnam Schwierigkeiten haben, es aus dem trüben Teich unter ihnen zu bergen. Eine kalte, grobe Hand riß ihn am Kragen und zerrte ihn zu Boden. Er konnte ihr nichts entgegensetzen. In der Realität, die sich Syrzan geschaffen hatte, war die Hand so stark wie die eines Titanen. Der Leichnam riß Pharaun die Brosche aus der Hand und steckte sie in die Tasche. Syrzan umfaßte mit beiden Händen den Kopf des Drow, beugte selbst den Kopf vor und legte seine trockenen, schuppenden Mundtentakel um den Schädel des Magiers. Pharaun wußte, daß sich Gedankenschinder so er nährten. Sie bohrten ihre Tentakel in jene Körperöffnungen, die am leichtesten zugänglich waren, und rissen ihren Opfern das Gehirn heraus. Er fragte sich, was geschehen würde, wenn Syrzan sein Traum-Ich einer solchen Behandlung unterwarf. Würde sein stofflicher Leib zerfallen, oder würde er als lebende, aber geist lose Hülle weiterbestehen? »Hat dir meine Geschichte nicht gefallen?« keuchte Pha raun. Der Griff des Leichnams preßte ihm den Atem aus dem Leib. »Du wirktest recht interessiert. Deshalb wagte ich zu hoffen, dich überraschen zu können.« »Du hast mich angefaßt! Das gestatte ich nicht!« Die schmeichelnde Stimme des Propheten entwickelte sich zu einer Mischung aus Zisch- und Brummlauten. Die Tentakel packten noch fester zu. »Genaugenommen sind es nicht meine Hände«, sagte Pha
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raun. Göttin, es fühlte sich an, als würde sein Schädel zer drückt! »Immerhin ist das alles nicht real!« »Du wirst mir sagen, woher du wußtest, welches Amulett du mir entreißen mußtest.« »Durch meinen Ring. Er erlaubt mir, die Muster magischer Kraft zu sehen und zu interpretieren. Jeder Magier sollte einen solchen Ring haben.« »Du warst ein Narr, weil du versucht hast, mich hier in meiner eigenen Welt zu schlagen. Begreifst du nicht, daß ich in diesem Konstrukt Gott bin?« »Ich bin ohnehin so gut wie tot«, gab Pharaun zurück. »Wenn ein Drow weiß, daß sein Leben verwirkt ist, konzent riert er sich ganz auf die Rache.« »Aber du irrst.« Syrzan lockerte den Griff seiner Tentakel und sagte: »Ich werde dich nicht töten. Das wäre Verschwen dung. Wie du erfahren hast, ist mein Ziel, ganz Menzoberran zan zu versklaven. Du mit deinen Talenten wirst einen sehr nützlichen Knecht abgeben. Hättest du mich nicht angefaßt, wäre deine Knechtschaft wohl vergleichsweise leicht ausgefal len, da ich die Gesellschaft anderer Magier schütze. Nun fürchte ich, daß du es nicht im Geringsten mögen wirst.« Schmerz jagte durch Pharauns Kopf. Er schrie.
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»Laß mich das machen«, knurrte Houndaer. Mit erhobenem Krummsäbel ging er auf Ryld zu. Der Meister Melee-Magtheres versuchte, sich zu erheben, schaffte es aber nicht. In seiner Zeit als Student der Akademie und in all den Jahren danach hatte er sich mit verschiedenen Techniken befaßt, Schmerzen zu überwinden, doch nie hatte er etwas gespürt, das mit dem Schlag zu vergleichen war, den der untote Gedankenschinder ihm verabreicht hatte. Es war, als hätte sich ein Speer durch seinen Geist gebohrt. Syrzan erwachte aus seiner vorübergehenden Trance und erwiderte: »Nein.« Houndaer drehte sich um. »Nein?« fragte er. »Du hattest of fenbar recht, was sie angeht.« »Ich baue darauf«, versetzte der Leichnam, dessen Mund tentakel zuckten, »daß du nicht vergißt, wessen Urteil ausschlaggebend ist. Da sie aber jetzt einmal hier sind, können
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schlaggebend ist. Da sie aber jetzt einmal hier sind, können sie unserer Sache auch so dienen, wie du es erhofftest. Ihr Verstand muß nur umgeformt werden.« Der Barde hob eine Braue und fragte: »Kannst du das?« »Ja«, antwortete Syrzan, »aber nicht ohne weiteres und nicht jetzt. Ich brauche meine Kraft, um den Ruf zu senden.« Es zog Pharauns Silberring vom Finger des bewußtlos am Boden liegenden Drow. »Schließt sie für den Augenblick weg«, befahl das Alhoon. »Gut«, sagte Tsabrak. »Ich hoffe, du wirst es beheben, damit wir sie alle kontrollieren können.« Er bewegte sich ebenfalls auf Ryld zu. Der Waffenmeister unternahm einen erneuten Versuch, sich zu erheben. Jemand schlug ihm mit der flachen Seite eines Schwerts auf den Kopf, woraufhin sämtliche Kraft aus seinem Körper schwand, wie Wein aus einem umgestoßenen Becher strömt. In den nächsten Minuten verwischte alles vor seinen Au gen. Houndaer, Tsabrak, der Barde und ein weiterer Abtrünni ger trugen die Gefangenen in eine Zelle. Dort herrschte die gleiche schmutzige, verzweifelte Atmosphäre wie fast überall in der Burg, doch irgendwer, der die Prioritäten eines echten Drow setzte, hatte sich die Mühe gemacht, die Schlösser und Ketten auszutauschen. Die Abtrünnigen nahmen Ryld seinen Umhang und die Rüstung ab, dann ketteten sie ihn an die Wand. Wie zu erwar ten gewesen war, trafen sie bei dem Magier wesentlich umfang reichere Vorsichtsmaßnahmen, obwohl Pharaun einen hefti gen Anfall erlitten hatte, kurz nachdem Syrzan ihn betäubt hatte. Dann war er offenbar in eine tiefe Bewußtlosigkeit gefal len, und es waren keine Anzeichen erkennbar, daß er daraus in nächster Zeit wieder erwachen würde. Ihm legten sie nicht nur
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Fesseln an, sondern befestigten einen stählernen Zaum so an seinem Kopf, daß der vordere Teil in seinen Mund gedrückt wurde und ihn daran hinderte, irgendeinen Zauber zu spre chen. Seine Unterarme schoben sie in die beiden Enden eines winkligen Metallrohrs, das wie eine Art Muff oder ein verbun denes Paar Handschuhe funktionierte, denn so konnte verei telt werden, daß er auch nur einen Finger krümmen konnte, um ein magisches Zeichen zu beschreiben. Als sie fertig waren, hatte sich Ryld zumindest soweit erholt, daß er wieder sprechen konnte. »Es wird euch auch erwischen«, krächzte er. Houndaer drehte sich um und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Was?« »Der Leichnam. Es will die Macht nicht teilen. Es will je den einzelnen Menzoberranzanyr zu seinem Sklaven machen – auch euch. Das machen Illithiden so.« »Glaubst du etwa, wir trauen dieser Bestie?« höhnte der Tu in’Tarl. »Wir sind doch keine Idioten. Wenn sie ihren Zweck erfüllt hat, werden wir uns ihrer entledigen.« »Das plant ihr, aber was, wenn Syrzan schon an eurer Un terwerfung arbeitet, und zwar so subtil, daß ihr nichts davon merkt? Was, wenn die Zeit kommt und ...« Houndaer holte aus und verpaßte seinem einstigen Lehrer einen Haken genau auf den Mund, so daß Rylds Kopf gegen die Kalkspatwand hinter ihm prallte. »Halt den Mund«, fauchte der Adlige. »Du hast mich ein mal zum Narren gehalten und mich vor ihm wie einen Trottel dastehen lassen. Das kommt nicht noch einmal vor.« Die Abtrünnigen zogen sich zurück. Mit seinem flachen, breiten Spinnenleib mußte sich Tsabrak durch die Tür quet schen. Der letzte, der ging, war der Barde. Er sah Ryld an, lä chelte sarkastisch und zuckte die Achseln. Dann zog er die Tür
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zu. Ryld leckte den salzigen Geschmack von Blut von seiner aufgeplatzten Unterlippe. »Pharaun«, flüsterte er. »Bist du wirklich bewußtlos oder tust du nur so?« Der Meister Sorceres, der schlaff in dem stählernen Har nisch rund um seinen Kopf hing, antwortete nicht. Hätte Ryld nicht sehen können, wie sich seine Brust regelmäßig hob und senkte, wäre er überzeugt gewesen, daß der Magier tot war. Der Schwertkämpfer versuchte, zu Pharaun hinüberzuge hen, doch die Ketten waren zu kurz. Er sah sich die Fesseln genauer an. Die Handschellen lagen dicht auf der Haut, die Schlösser waren stabil. Die Kettenglieder waren schwer, gut geschmiedet und ebenso gut in der Wand eingemauert. Ryld hatte sich in seiner ungestümen Jugend ein paarmal aus Fes seln befreien können, doch ohne Werkzeug oder ein Wunder würde er hier nichts bewirken können. Pharaun, der weder seine Stimme noch seine Hände einset zen könnte, würde auch nicht mehr Erfolg haben. Dennoch ging Ryld davon aus, daß der Magier seine einzige Hoffnung war. Pharaun war klug. Vielleicht konnte er sich einen Plan ausdenken. Wenn er doch bloß bei Bewußtsein gewesen wäre ... »Wach auf!« rief Ryld. »Wach auf, verflucht. Du mußt uns hier rausholen!« Er schlug eine der Ketten an die Wand, um mehr Lärm zu machen, doch nichts geschah. Er brüllte, bis er heiser war, aber Pharaun regte sich nicht. »Blut und Asche!« fluchte der Waffenmeister. Er kauerte sich nieder und versuchte, etwas Speichel zu sammeln, um die Trockenheit in Mund und Kehle zu bekämp fen. Da die Abtrünnigen ihnen kein Wasser dagelassen hatten,
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mußte er sich mit Speichel behelfen. »Du mußt aufwachen«, sagte er leiser. »Sonst haben sie uns besiegt, und das haben wir noch nie mit uns machen lassen. Erinnerst du dich, wie wir diesen Mantler-Fürsten jagten? Wir merkten zu spät, daß sich in seiner Jagdtruppe siebenundsech zig andere Kluftrochen befanden, weit mehr, als unsere kleine Gruppe aus Schülern im dritten Jahr erwartet hatte. Aber du hast gesagt: ›Das klappt schon. Es sind nur ein paar gut ge wählte Zauber nötig, um Chancengleichheit zu schaffen.‹ Erst hast du eine Feuerwand beschworen ...« Ryld redete weiter, bis seine Kehle trocken und rauh war, und erzählte von den gemeinsamen Erlebnissen, die ihm in den Sinn kamen. Vielleicht würde eine der Geschichten auf Pharauns bewußtlosen Verstand eine Wirkung haben. Auf jeden Fall aber war es besser, als einfach dazusitzen und sich zu fragen, wie das Leben wohl sein würde, nachdem Syrzan mit seinem Geist gespielt hatte. Endlich riß der Magier das Kinn hoch. Die Augen hatte er weit aufgerissen, und er versuchte, laut aufzuschreien. Der stählerne Knebel erstickte nicht nur den Schrei, sondern schnitt auch in seine Mundwinkel und ließ Blut aus den Wun den treten. »Schon gut«, sagte Ryld beschwichtigend. »Was immer der Leichnam dir angetan hat, es ist vorbei.« Pharaun atmete tief ein und ließ die Luft langsam entwei chen. Seine Augen nahmen wieder einen vernünftigen Aus druck an. Ryld hatte das Gefühl, der Magier hätte ihn auf seine übliche fröhliche Weise angelächelt, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Er nickte dem Waffenmeister zu, um ihm für die aufbauenden Worte zu danken. Dann betrachtete er die metal lene Hülle um seine Hände. Er schlug sie ein paarmal auf den Boden, um festzustellen, ob sich die Verschlüsse lösen ließen.
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Sie waren so stabil, daß sie sich nicht bewegten. Er schüttelte den Kopf, saß sekundenlang still da, dann schloß er die Augen, lehnte sich gegen die Wand und schien über ihre mißliche Lage nachzudenken. Nach einigen Minuten setzte er sich wieder auf und begann, mit dem Absatz des einen über die Seite des anderen Stiefels zu kratzen. Ryld verspürte ein Gefühl der Aufregung. Er konnte nur annehmen, daß sein Freund in der Fußbekleidung irgendeinen Talisman versteckt hatte. Es war merkwürdig, daß der Magier sich nicht sofort daran erinnert hatte, doch es war möglicher weise durch den Anfall in Vergessenheit geraten. Pharauns Stiefel waren wie die aller Drow hoch und lagen eng an. Als der Magier es endlich geschafft hatte, sich von dem Schuhwerk zu befreien, sah Ryld voller Neugier und Un geduld ... nichts. Nichts außer einer engen Hose und einem Strumpf. Pharaun begann, auch den anderen Stiefel abzustreifen. Ryld hätte gerne gewußt, was sein Freund vorhatte, doch ihm war klar, daß es sinnlos war zu fragen. Mit den umhüllten Händen konnte der Zauberwirker ihm nicht einmal in der Zeichensprache der Drow etwas mitteilen. Dann hatte er sich auch von dem zweiten Stiefel befreit und zog nun noch die Strümpfe aus. Seine bloßen Füße waren wie seine Hände schlank und lang, auch die Zehen. Der Magier hob den rechten Fuß, sah ihn eindringlich an und begann dann, die Zehen zu bewegen und zu kreuzen. Er mühte sich durch eine Folge von Gesten, dann wiederholte er sie. Ryld brauchte einen Moment, um zu begreifen, was da ablief. Als er es verstand, wußte er nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Doch tatsächlich war es so, daß es im Unterreich mehr als
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genug Geschöpfe gab – Syrzan eingeschlossen –, deren Extre mitäten sich deutlich von denen eines Drow unterschieden und die dennoch Magie wirken konnten. Daher hatte Pharaun eine Chance. Vielleicht konnte er einen jener Zauber wirken, die nur Gesten erforderlich machten, aber weder Worte noch Materialkomponenten. Aber nur, wenn es ihm gelang, mit seinen Füßen und Zehen die richtigen Muster zu beschreiben, jene präzisen und kompli zierten Gesten, deren Anwendung mit den Händen er jahre lang gelernt hatte. Sobald die Zehen seines rechten Fußes erlahmten, wechsel te er zum linken. Danach verlagerte er sein Gewicht nach hinten, hob die Beine und übte mit beiden Füßen gleichzeitig. Ryld hätte das Spektakel recht amüsant gefunden, wäre nicht sein Leben vom Erfolg des Magiers abhängig gewesen. Pharaun begann vor Anstrengung zu schwitzen und gele gentlich zu zittern, woraufhin er unterbrechen und sich einen Moment lang erholen mußte. Nach einer Stunde ging er zur nächsten Phase seines Experiments über, indem er begann, die einzelnen Elemente des Zaubers zusammenzufügen und alle Bewegungen in der richtigen Zusammenstellung und mit dem richtigen Tempo zu beschreiben. Ryld beobachtete den Prozeß aufmerksam. Er war kein Ma gier, doch selbst für sein ungeübtes Auge sah es nach einiger Zeit so aus, als beschriebe Pharaun in zwei von drei Fällen exakt das gleiche Muster, während er in der übrigen Zeit an irgendwelchen Stellen abwich. Schließlich sah er schweratmend den Waffenmeister an und zuckte die Achseln. »Ist schon in Ordnung«, gab der zurück. »Zwei von drei ist nicht schlecht.« Pharaun ließ sich umfallen und verbrachte einige Minuten
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damit, sich auszuruhen. Als er sich aufsetzte, begann er durch den Knebel zu reden, ohne sich um das Blut zu kümmern, das aus den wieder aufbrechenden Wunden lief. Er schlug zweimal mit der Konstruktion, die seine Arme umschloß, auf den Bo den und sah dann Ryld an. »Ich verstehe«, sagte der Krieger. »Lärm machen. Jemanden rufen.« Pharaun nickte. Das Gestell, das seinen Knebel hielt, schepperte. »He!« brüllte Ryld. »Kommt her! Ich bin ein Meister Me lee-Magtheres. Ich kenne Geheimnisse, die die Verteidigungsan lagen der großen Häuser betreffen, Geheimnisse, die ihr ken nen müßt, wenn euer Plan Erfolg haben soll! Ich werde sie gegen meine Freiheit eintauschen!« So brüllte er einige Minuten lang und schlug immer wieder seine Ketten gegen die Wand. Pharaun lag unterdessen reglos auf dem Boden, als sei er noch immer bewußtlos. Endlich war hinter dem kleinen vergitterten Fenster ein Augenpaar zu sehen. »Was ist?« raunte der Mann auf der anderen Seite. Es war keine Stimme, die Ryld schon einmal gehört hatte. »Ich muß mit dir reden«, sagte der Waffenmeister. »Das habe ich gehört«, gab der andere zurück. »Du hast Geheimnisse. Das Alhoon wird sie dir entreißen, da ist kein Handel nötig.« »Syrzan hat gesagt, es werde eine Weile dauern, unseren Geist zu versklaven«, erwiderte Ryld. »Ich habe Informatio nen, die ihr braucht, ehe ihr die Unterkreaturen loslaßt. Die Rebellion wird euch nicht helfen, wenn die Waffenmeister sie alle töten, ehe sie sich überhaupt auf den Weg machen.« »Wie sollten die Waffenmeister das tun können?« fragte der Abtrünnige.
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»Ein Geheimnis«, sagte Ryld, »das wir Brüder der Pyramide nur wenigen weitergeben.« »Ich glaube dir nicht.« »Wir studieren seit Jahrtausenden Kriege. Glaubst du, wir geben unsere gesamten Erkenntnisse an jeden Dummkopf weiter, der sich an der Akademie einschreibt? Oder ist nicht eher anzunehmen, daß wir die größeren, tödlicheren Geheim nisse für uns behalten?« Der Drow zögerte. »Gut, sag es mir. Wenn da etwas dran ist, werde ich dich freilassen.« Ryld zuckte und ließ seine Fesseln scheppern, die bereits seine Handgelenke wundrieben. »Soll ich es durch die geschlossene Tür brüllen?« fragte der Waffenmeister. »Willst du das wirklich?« »Warte.« Die Geringschätzung im Tonfall des Gefangenen hatte den Abtrünnigen an ein Grundprinzip erinnert. Es war stets am besten, Informationen für sich zu behalten, bis man herausge funden hatte, wie man aus ihnen einen Nutzen ziehen konnte. Der Drow wollte nicht, daß noch jemand mitbekam, was Ryld zu sagen hatte. Der Schlüssel drehte sich im Schloß, dann wurde die Tür knarrend geöffnet, und der Abtrünnige kam herein. Er war stämmig und hatte ein kantiges Gesicht mit einer gebrochenen Nase. Er hatte eher unscheinbare Kleidung mit protzigem Schmuck angelegt, darunter ein granatbesetztes Silberhals band. Sein Rapier hing an einem Schultergurt, aus beiden Stiefelschäften ragte das Heft eines Dolches heraus, an seinem Gürtel hing eine kleine Armbrust. Er blieb gleich hinter der Tür stehen, da er allen Grund zu der Annahme hatte, dort in Sicherheit zu sein. Die Zelle war
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groß, während die Fesseln der Gefangenen kurz waren, so daß er sich nicht in ihrer Reichweite befand. Er lehnte die Tür hinter sich an, ließ sie aber nicht zufallen. »Nun gut«, sagte er. »Erzähl mir, was du weißt.« »Erst löst du meine Fesseln«, gab Ryld zurück. Er glaubte den Abtrünnigen noch eine Weile länger ablen ken zu müssen, damit Pharaun Zeit für seinen Zauber hatte. Der Wachmann lachte nur und sagte: »Das ist absurd.« »Wieso?« »Das weißt du ganz genau.« »Aber du könntest dir die Geheimnisse einfach anhören und mich dann hier angekettet lassen«, sagte Ryld und beo bachtete Pharaun aus dem Augenwinkel. Zu seinem Entsetzen regte sich der Magier nicht. War er wieder bewußtlos geworden? »Du bist der Gefangene«, erklärte der Abtrünnige, »nicht ich. Also wirst du mir vertrauen müssen, nicht umgekehrt.« Ryld runzelte die Stirn, während er krampfhaft überlegte, was er sagen sollte. Da Pharaun reglos dalag, mußte er improvi sieren, damit der Abtrünnige abgelenkt war. Gleichzeitig wür de Ryld beten, daß sich der Magier endlich regte. »Gut, ich schätze, mir bleibt nichts anderes übrig. Ganz in der Nähe von Bauthwaf gibt es einen Eingang in einen Tun nel, der in die tiefsten Tiefen des Unterreichs führt, wohin nicht einmal unsere Leute ...« »Was hat das mit den Waffenmeistern zu tun, die Sklaven töten?« wollte der Wachmann wissen. »Hör zu, und du wirst es erfahren. Am unteren Ende dieses Durchgangs gibt es ein Mineral, das ich noch nirgends sonst gesehen habe ...« Endlich bewegte Pharaun seine Füße. Solan ge der Abtrünnige davon nichts mitbekam ... »Wenn man diesen Stein zu Pulver zerreibt ...«
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»He!« Offenbar nahm der Wachmann genau wie Ryld wahr, was sich in seinem Augenwinkel abspielte, da er zu Pharaun her umwirbelte – allerdings zu spät. Eine körperlose Hand aus blaßgelbem Licht tauchte neben seiner Schulter auf und ver setzte ihm einen Stoß. Der Stoß ließ ihn in Rylds Richtung taumeln. Der Waffen meister bekam ihn zu fassen, riß ihn herum und donnerte sei nen Kopf gegen die Steinmauer, bis von ihm nur noch eine blutige Masse übrig war. Dann begann er, den Toten zu durch suchen, und entdeckte an dessen Gürtel einen Schlüsselbund. Er fand die Schlüssel, mit denen er sich und Pharaun befrei en konnte. Der Magier bewegte die Finger, um das Blut wieder richtig zirkulieren zu lassen, dann zog er ein seidenes Taschen tuch hervor und tupfte das Blut an seinen Mundwinkeln ab. »Ich glaube, ich gründe eine neue Schule der Magie«, sagte er dann. »Pedimantie – zaubern mit den Füßen.« »Warum hast du mit dem Zaubern so lange gewartet?« frag te Ryld. »Ich hielt nach dem Schlüsselbund Ausschau. Wir hätten nichts davon gehabt, wenn er nicht die Schlüssel bei sich getragen hätte, mit denen sich unsere Ketten lösen ließen. Sein Umhang verdeckte sie, und ich brauchte einen Augen blick, um sie zu entdecken.« »Ich war schon überzeugt, daß etwas schiefgegangen war. Bist du bereit, uns rauszubringen?« »Im Augenblick«, sagte Pharaun, während er Strümpfe und Stiefel anzog, »läuft alles bestens, findest du nicht? Wir haben erfahren, was wir wissen wollten, und nun fliehen wir, wie wir es geplant haben.« »Es war aber nicht unser Plan, unsere Ausrüstung her zugeben.«
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»Bitte klammere dich nicht an das Offensichtliche. Das macht eine Unterhaltung unerträglich langweilig. Wo genau befinden wir uns übrigens? Wo ist der nächste Ausgang?« »Ich weiß nicht. Ich habe einen Schlag auf den Kopf be kommen, ehe man uns hierher trug. Ich glaube, wir befinden uns in der Höhlendecke.« »Also werden wir nicht auf ein Fenster oder einen Balkon stoßen, wenn wir uns nicht weiter nach unten begeben. Aber wir könnten auf eine Tür in einen Tunnel stoßen.« Ryld nahm Waffen und Piwafwi des Abtrünnigen an sich. Der Umhang war ihm zwar viel zu klein, doch er würde zumin dest für etwas Schutz sorgen. Das Kettenhemd konnte er leider nicht überstreifen. »Ich bekomme nichts?« fragte Pharaun. »Ich bin der Kämpfer, und ich werde vorne stehen.« »Nun, wenn du es so formulierst ...« »Gehen wir.« Die Meister standen auf. Ryld war schwindlig, und er schwankte, fand dann aber sein Gleichgewicht wieder. Sie machten sich auf den Weg zur Tür, als etwas geschah. Es war wie das Schallen einer Trompete und ein gleichzeitiges weißes Licht, doch zugleich war es auch keines von beiden. Ryld wuß te nicht, was es war. Er wußte nur, daß es ihn auf der Stelle innehalten ließ, bis es vorüber war. »Was war das?« fragte er. »Der Ruf«, erwiderte Pharaun. »Wir sind so nahe an der Quelle, daß man ihn vage spürt, selbst wenn man kein Goblin ist. Die Sklaven erheben sich.«
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Als die beiden Lehrer um eine Ecke kamen, entdeckte Pha raun einen Abtrünnigen, der gut fünf Schritte von ihnen ent fernt war. Der Verschwörer war gut bewaffnet und eilte ziel strebig durch den Gang, vermutlich, um sich einer der angreifenden Schwadronen anzuschließen, die sich in die Stadt begeben würden, sobald der Aufstand der Goblins für Chaos gesorgt hatte. Seine Reflexe waren gut. Als er die beiden entkommenen Gefangenen entdeckte, streckte er die Hand nach der Wand aus, ganz offensichtlich, um sich hinter einem Vorhang aus Dunkelheit zu verbergen. Pharaun hob die Hände, um Energiepfeile abzufeuern – ihm waren noch zwei derartige Zauber verblieben, von denen kei ner ein Objekt benötigte, auf das er sich konzentrieren mußte –, doch Ryld kam ihm zuvor. Er feuerte die Armbrust ab und
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traf den Abtrünnigen ins Auge, der sofort zusammenbrach. Die beiden Meister schlichen zu dem Toten und hockten sich hin, um ihn zu durchsuchen. Pharaun war nicht erstaunt, aber enttäuscht, daß der tote Krieger keinerlei Zauberzutaten bei sich trug. Der Meister Sorceres hatte nicht das Vertrauen in sich selbst verloren, doch ihm wurde bewußt, daß Selbstüberschät zung gepaart mit Ehrgeiz ihn und Ryld in eine unerfreuliche Situation gebracht hatten. Sie waren von Feinden umgeben. Ohne die auslösenden Substanzen konnte er auf kaum einen seiner Zauber zugreifen, und der Waffenmeister spürte noch immer die Auswirkungen des Schlags auf den Kopf sowie von Syrzans Psi-Attacke. Die meisten hätten das nicht bemerkt, doch Pharaun kannte Ryld gut genug, um die winzigen Hin weise darauf in der Art zu erkennen, wie er sich bewegte. Aber zumindest war Ryld nicht langweilig. Pharaun nahm dem Mann die kleine Armbrust, den Dolch und den Piwafwi ab – einschließlich des Emblems eines niede ren Hauses, von dem Pharaun aber annahm, daß es dennoch so wie die anderen mit Zaubern belegt war. Der Mantel paßte ihm recht gut, auch wenn er nicht daran gewöhnt war, ein so leich tes Exemplar zu tragen, während seiner voller verborgener Taschen war. Er hoffte, er würde zumindest zur Levitation in der Lage sein. Ryld tauschte das Rapier, das er getragen hatte, gegen das Breitschwert des gefallenen Drow ein. Der Meister Melee-Magtheres legte die Armbrust an und legte einen neuen Bolzen ein, dann eilten die beiden weiter durch den Korridor, als auf einmal die Wände zu schreien begannen. Pharaun und Ryld verzogen das Gesicht angesichts der schmerzenden Lautstärke. Blaue Funken entluden sich aus Decke und Wänden, ein heißer, strenger Gestank nach Ener gie erfüllte die Luft.
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Das Kreischen endete so abrupt, wie es begonnen hatte, a ber sein Echo hallte durch die ganze Zitadelle. »Ein Alarmzauber?« fragte Ryld, während er weiterlief. »Ja«, antwortete Pharaun und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten. Seine Ohren klingelten. »Hätte ich ihn gesehen, dann hätte ich ihn außer Kraft gesetzt, aber –« »Aber so, wie die Dinge liegen, werden uns die Abtrünni gen jetzt jagen.« Pharaun legte die Stirn in Falten. »Es sei denn, sie haben alle Hände voll damit zu tun, sich darauf vor zubereiten, Priesterinnen zu töten«,, fuhr Ryld fort. »Nein, ihnen wird klar sein, daß sie uns um jeden Preis fan gen müssen. Wenn ein Spion von hier entkommt und dem Rat von dem Plan berichtet, dann wäre das das Ende für all ihre Bemühungen.« »Du hast recht. Verflucht.« Die Meister hatten sich seit der Flucht aus ihrer Zelle vor sichtig und langsam vorwärtsbewegt, und nun würden sie noch langsamer vorankommen, da sie sich sofort würden zurückzie hen und andere Wege suchen müssen, wenn sie fühlten, daß der Feind sich ihnen näherte. So liefen sie noch eher Gefahr, sich zu verirren. Die seit langem toten Adligen hatten ihre Feste nach einer Verteidigungsstrategie gebaut, die in Menzo berranzan von Zeit zu Zeit noch Anwendung fand. Die Burg glich einem Labyrinth. Wenn jemand hier aufgewachsen war, würde er damit keine Schwierigkeiten haben. Er würde jeden Gang und jede Sackgasse kennen, doch jemand, der von au ßerhalb stammte, hatte seine Schwierigkeiten damit, sich hier zu bewegen. Vor allem, wenn man wie Pharaun und Ryld auf der Suche nach einem Ausgang war. Vielleicht, so überlegte der Magier, haben die Abtrünnigen auch Schwierigkeiten, sich hier zurechtzufinden. Auch wenn sie die Burg besetzt hatten, mußten sie sich
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nicht so gut auskennen wie die ursprünglichen Bewohner. Es war denkbar, daß sie sich nur mit einigen zentralen Bereichen vertraut gemacht und den Rest des angeblich verfluchten Hau ses in Ruhe gelassen hatten. Dennoch war es nur eine Frage der Zeit, bis die Jäger auf ih re Beute stießen, dachte Pharaun, und damit lag er nur zu richtig. Er und Ryld durchquerten eine Galerie, in der feuchte, phosphoreszierende Teppiche an den Wänden hingen, als hinter ihnen ein Rascheln erklang. Die Meister wirbelten herum und entdeckten ein halbes Dutzend Krieger, deren Drow-Stiefel sie nicht verraten hatten. Sie alle hatten ihre Armbrust angelegt und zielten auf die beiden. Ryld hockte sich hin und hielt sich ein Stück des Umhangs vors Gesicht, Pharaun tat es ihm nach. Gleich zwei Pfeile bohrten sich in seinen behelfsmäßigen Schild, der offenbar nicht so gute wirkungsvolle Zauber aufwies wie der Piwafwi, den Houndaer ihm abgenommen hatte. Ein Geschoß verfing sich im Stoff, das andere strich über die Schulter des Magiers und fügte ihm eine leichte Wunde zu. Er betete, daß es nicht vergiftet sein möge. Als plötzlich lautes Geklapper ertönte, zog Pharaun den Stoff weg und sah, daß die Abtrünnigen ihre Armbrüste weg gelegt hatten und nun heranstürmten. Sie waren schon zu nah, als daß er noch den Zauber hätte einsetzen können, der ihm am liebsten gewesen wäre. Stattdessen wirkte er Pfeile aus Licht und brachte zwei Angreifer zu Fall. Er schoß seine Arm brust ab, verfehlte aber einen dritten. Ryld stieß ein wildes Kriegsgebrüll aus und sprang nach vorn, um sich den verbliebenen Gegnern zu stellen. Das Schwert zuckte vor und zurück, stach und schnitt, parierte mit kleinen, höchst präzisen Bewegungen, die für eine wahrhafte Beherrschung der Kampfkunst sprachen. Pharaun stürmte mit
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seinem Dolch vor, bekam aber keine Gelegenheit, die Waffe einzusetzen, da die Abtrünnigen schon tot waren, bevor er in Reichweite kam. Pharaun machte eine innere Bestandsaufnahme und befand, daß sich kein Gift in seinem Körper befand, aber Ryld stöhnte, verzog das Gesicht und hielt seine Schläfe fest. »Was ist?« fragte der Magier. Es war anzunehmen, daß einer der Gegner einen Treffer hatte landen können, doch er sah kein Blut, das sich seinen Weg zwischen den Fingern seines Freundes hindurch bahnte. Normalerweise bluteten Kopfverletzungen stark. »Wahnsinnige Kopfschmerzen«, erklärte Ryld. »Ein Über bleibsel von Houndaer und Syrzan, vermute ich, das wieder schlimmer wurde, als mein Herz schneller zu schlagen begann. Jetzt geht es wieder.« »Freut mich zu hören.« Pharaun wandte sich ab, geradewegs in einen zweiten Hagel aus Bolzen. Ihm blieb weder Zeit, den Umhang zu heben noch sich zu ducken. Das einzige, was er machen konnte, war, die zweite Gruppe von Abtrünnigen anzustarren, die sich aus der anderen Richtung genähert hatten. Wie durch ein Wunder traf kein einziger Bolzen. Einer der Männer rief: »Sie sind hier!« Die Wachen eilten heran, woraufhin Pharaun ein Stück Spinnwebe schwenkte, das Zauberelement, an dem es ihm nie mangeln würde. Ein Gitter aus engen, leuchtenden Strängen nahm rund um die heranstürmenden Abtrünnigen Gestalt an. Die Stränge, die fest mit der Wand verbunden waren, erwiesen sich als stabil wie Seile und klebrig wie Leim. Sie umgaben die Angreifer und hielten sie in Schach – bis auf die zwei an der Spitze der Gruppe. Beide waren schnell genug gewesen, um zur Seite zu springen, ehe der Effekt seine volle Wirkung entfaltet
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hatte. Vielleicht waren sie als Drow aber einfach nur vor dieser Magie geschützt gewesen. Unbeeindruckt vom Verlust ihrer Kameraden kamen die Krieger in Reichweite. Der, der sich auf Pharaun konzentrierte, hatte auf der linken Gesichtshälfte ein Muttermal. Pharaun schoß auf ihn. Der Bolzen traf den Mann genau in die Brust, doch sein Kettenhemd ließ das Geschoß abprallen. Der häßliche Kerl holte mit dem Schwert aus, um einen Hieb in die Flanke zu führen. Pharaun sprang zur Seite und begann mit einer Beschwörung. Er mußte zwei weiteren Angriffen ausweichen, ehe er end lich fertig war. Lichtpfeile schossen aus seinen Fingerspitzen. Nur noch ein solcher Zauber, dachte er, und nur noch eine Chance, um ein weiteres Netz zu beschwören. Die Geschosse durchdrangen das Kettenhemd des Abtrün nigen und ließen ihn nach hinten taumeln. Der Abtrünnige, der verwundet war, aber noch lebte, schüttelte den Kopf. Pha raun zog seinen neuen Dolch und stürzte sich auf den Wach mann. Der Magier rammte die Spitze gleich unter dem Kinn ins Fleisch des häßlichen Kerls, noch bevor der wußte, wie ihm geschah. Pharaun drehte sich zu Ryld um, der hoch und tief an täuschte, um dann sein Schwert in den Hals seines Gegenübers zu jagen. Der Abtrünnige sackte zusammen, sein abgetrennter Kopf rollte über den Boden. Einen Moment lang verspürte Pharaun Erleichterung, doch dann sah er das verzerrte Gesicht seines Freundes, das Blut auf dessen Oberschenkel und hörte die Rufe anderer Verfolger, die sich ihnen näherten. »Das klingt, als seien alle Abtrünnigen auf uns angesetzt«, sagte der Magier. »Welch großartiges Kompliment.« »Sie haben den Kampflärm gehört«, erwiderte Ryld. »Sie haben eine ungefähre Ahnung, wo wir sind, und deinetwegen
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ist dieser Gang jetzt für uns zur Sackgasse geworden. Wir müs sen weg von hier, und zwar jetzt!« »Vielleicht wäre es dir ja lieber gewesen, wenn ich die übri gen Angreifer nicht aufgehalten hätte.« »Beweg dich.« Das taten sie auch, während die im Netz Gefangenen ihnen Verwünschungen nachbrüllten. Pharaun merkte schon nach wenigen Schritten, daß Ryld sich bemühte, weder zu humpeln noch sich den Schmerz anmerken zu lassen, doch es gelang ihm nicht völlig. Der Magier überlegte, Flecken aus Finsternis zurückzulassen, um die Verfolgung zu erschweren, doch dann hätte er gleich zeitig eine Spur hinterlassen. Ihm kam nur ein Trick in den Sinn, mit dem er die Abtrünnigen in die Irre führen konnte, und er hoffte, daß es nicht dazu kommen würde. Zweimal merkten die Meister, daß sich eine Gruppe Ab trünniger näherte, beide Male versteckten sie sich in einem Raum, bis sie vorbei waren. Dann endlich fanden sie eine Treppe, die nach unten führte. Pharaun hoffte, daß der Abstieg in eine tiefergelegene Ebene die Verfolger abschütteln würde, doch schon bald wurde ihm klar, daß das nicht der Fall war. Vielleicht lag es daran, daß sie eine Spur aus Blut hinter sich herzogen. Pharauns Schnitt hatte sich wieder geschlossen, doch Rylds aufgeschlitztes Bein blutete immer noch. Unwillkürlich begann der stämmige Schwertkämpfer, unre gelmäßige Schritte zu machen, einer kürzer als der andere. Pharaun hörte Stimmgemurmel hinter ihnen und auch in einem Seitengang. »Bleib hier«, sagte er auf einmal. »Ich habe eine Idee.« Ryld zuckte die Achseln. Der Magier lief einige Schritte weiter durch den Gang. Dann hob er sein hauchdünnes Spinnennetz und setzte zu
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einem monotonen Gesang an. Energie pulste stöhnend durch die Luft, und sich kreuzende Stränge versiegelten den Korridor. Die Verfolger, die sich hinter ihm befanden, waren nun auf der anderen Seite – und Ryld ebenfalls. Der Schwertkämpfer betrachtete Pharaun durch die Zwi schenräume und sagte: »Ich verstehe nicht.« »Du bist der Meistertaktiker. Ich bedauere es wirklich, aber ich könnte entweder bei dir bleiben und mich von deinen Verletzungen am Vorankommen hindern lassen, oder ich lasse dich als Nachhut zurück, damit du meine Verfolger aufhältst. Angesichts der Tatsache, wie verwundbar ich im Moment bin, ist das die einzige Entscheidung, die die Vernunft erlaubt.« »Sei verdammt! Weißt du, wie oft ich dir das Leben gerettet habe?« »Ich habe aufgehört, mitzuzählen. Aber hiermit wird es einmal mehr sein, und gleichzeitig wirst du endlich deine Me lancholie überwinden. Leb wohl, Freund.« Pharaun drehte sich um und ging. Er hörte, wie eine Armbrust abgefeuert wurde, und warf sich sofort zur Seite. Der Bolzen flog an ihm vorbei. Ryld hatte äußerst genau zielen müssen, um zu vermeiden, daß sich das Geschoß in dem klebrigen Gewebe verfing. Pharaun sah ihn an und sagte: »Guter Schuß, aber du soll test dir deine Bolzen besser für die Abtrünnigen aufheben.« Er schlich weiter und beschleunigte seine Schritte, als hin ter ihm jemand schrie und dann das Schlagen von Metall auf Metall ertönte.
Ryld erkannte schnell, daß einer der Abtrünnigen ein Magier war, der zudem auch noch gut war. Er hatte kein Problem da mit, seine Zauber durch die Linie seiner Kameraden zu schi
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cken, die sich auf ganzer Breite in der Halle aufgebaut hatten. Von ihnen wurde niemand in Mitleidenschaft gezogen, wäh rend der Waffenmeister eine Attacke nach der anderen einste cken mußte. Bisher hatten die Energieblitze den Meister MeleeMagtheres versengt und frösteln lassen, aber nicht nennens wert verletzt. Er bezweifelte aber, daß es dabei bleiben würde. Er mußte der Magie ein Ende setzen, ehe es dem Magier ge lang, einen Zauber durch seine natürliche Widerstandskraft hindurchzuleiten. Das hieß, daß er die Linie würde durchbre chen müssen. Er deutete einen Ausfallschritt nach links an, bewegte sich dann aber nach rechts. Sein verwundetes Bein pochte, und ein Schmerz, der immer noch ein Überbleibsel von Syrzans An griff war, durchzuckte seinen Geist. Dieser Schmerz machte ihn gerade langsam genug, um die Täuschung wirkungslos verpuffen zu lassen. Urlryn, der Abtrünnige zur Rechten mit den langen Armen und der Zahnlücke, der ebenfalls ein ehe maliger und obendrein guter Schüler Rylds gewesen war, be gegnete ihm mit einem gefährlichen Stoß in Richtung Bauch. Wie jeder Krieger weiß, kann man sich nicht zurückziehen, wenn man gleichzeitig vorrückt. Ryld blieb keine Wahl, als sich mit der Klinge zur Wehr zu setzen. In einer seitlichen Parade zog er das Breitschwert über seinen Leib. Urlryn ver suchte, unter der Blockade wegzutauchen, war aber zu langsam. Ryld schlug dem Widersacher die Klinge aus der Hand, mußte aber dafür seinen eigenen Griff lockern. Der Waffenmeister begann, mit einem Hieb zur Brust zu pa rieren, machte aber seitlich von sich eine Bewegung aus. Er wirbelte herum. Dort stand ein Drow gleich neben Urlryn und hatte offenbar gehofft, Ryld zu überrumpeln, indem er mit seiner Axt nach dessen Knie ausholte. So ging man als Krieger
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vor, wenn man sich mit anderen in einer Linie aufgebaut hat te: Man tötete den Kämpfer, der auf einen Nebenmann kon zentriert war. Ryld sprang über den Angriff hinweg. Als er landete, ging ein so heftiger Schmerz durch sein Bein, daß er fürchtete, es könne unter ihm wegknicken. Er stieß einen gellenden Schrei aus, um den Schmerz zu überwinden, und zugleich hieb er nach dem Bauch des Axtträgers. Das Schwert fraß sich durch das Kettenhemd und fällte den Abtrünnigen. Die Klinge steckte noch in den Eingeweiden des Mannes, als Urlryn und der andere überlebende Kämpfer auf ihn zu sprangen. Der Meister wich nach hinten aus und riß das Schwert heraus. Klingen blitzten und streckten sich nach sei nem Körper, doch obwohl er schon das Gleichgewicht verlo ren hatte, konnte er ihnen ausweichen. Dabei fiel er rücklings zu Boden. Die Abtrünnigen rückten nach, um Rylds Leben ein Ende zu setzen. Doch Ryld überraschte den anderen Fremden mit einem Tritt, der den Knöchel des Mannes zerschmetterte und ihn nach hinten warf, dann ging er auf ein Knie und hob das Schwert, da er wußte, was nun kommen würde. Urlryns Klinge schlug mit so großer Wucht auf die seine, daß sich der Aufprall bis in seine Schulter fortsetzte. Da der Abtrünnige mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand, konnte er seine gesamte Kraft in den Schlag legen, während das Ryld unmöglich war. Doch er war größer und stärker als sein Widersacher, außer dem befand er sich in einer guten Position, um den anderen Drow lähmen zu können. Mit zusammengebissenen Zähnen hielt er seine Verteidigung, bis der Gegner in seinen Attacken nachließ. Dann wirbelte er das Schwert so hinter das Bein des Abtrünnigen, daß er ziehen und gleichzeitig schneiden konnte.
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Urlryn stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus und tau melte zur Seite. Ryld richtete sich auf und wandte sich dem Magier zu, mußte aber feststellen, daß er ihn nicht mehr sehen konnte. Seiner schützenden Mauer aus Kriegern beraubt, hatte der Zauberwirker einen anderen Verteidiger beschworen, ein bärenähnliches Ding mit zusammengelegten Fledermausflügeln und leuchtenden karmesinroten Augen, das so groß war, daß es den Gang fast auf voller Breite für sich beanspruchte. Ryld hatte bei zahlreichen Gelegenheiten Pharaun beo bachten können, wie der sein berühmtes Mizzrym-Talent für Illusionen unter Beweis gestellt hatte. Diese Erfahrung kam ihm nun zugute. Auch wenn er nicht wußte, warum, spürte er doch, daß der dämonische Bär nichts weiter als ein Phantom war. Er humpelte vor, zielte mit dem Schwert darauf und ließ den Bären so verschwinden, als würde sich ein Schwamm in eine Wolke aus Sporen auflösen. Es war ein seltsamer Gedan ke, daß das Ding ihn in Fetzen hätte reißen können, wenn er an dessen Existenz geglaubt hätte. Der abtrünnige Magier ergriff die Flucht. Ryld wollte nicht, daß der Bastard später wieder auftauchen und noch einmal versuchen konnte, ihn zu töten, also machte er sich an die Verfolgung. Sein Kopf und sein verwundetes Bein schmerzten gleichzeitig und so heftig, daß er anhalten mußte. Der Magier eilte um eine Ecke und war verschwunden. Während Ryld wartete, daß der Schmerz nachließ, wurde ihm bewußt, daß er in seiner gegenwärtigen Verfassung nicht mehr viele derartige Kämpfe würde überstehen können. Ent weder mußte er seinen Widersachern schnellstens entkommen oder etwas gegen die Dinge unternehmen, die ihn so behinder ten. Er war gleichzeitig auch zu der Einsicht gekommen, daß es sein Schicksal war, weiter durch die Burg zu wandern und sich
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dabei vor seinen Verfolgern zu verstecken, bis er durch pures Glück einen Ausgang fand. Das konnte Stunden dauern. Ryld hatte Grund zu der Hoffnung, daß er nicht annähernd so lange brauchen würde, um wieder zu Kräften zu kommen, doch dieser Prozeß würde ihn verwundbar machen. Er würde nicht in die entgegengesetzte Richtung schleichen können, wenn er spürte, daß sich eine Gruppe Jäger näherte. Er würde an einem Ort verharren müssen. Dennoch erschien ihm das die bessere Lösung. Er schlich durch den Gang und spähte vorsichtig durch Türöffnungen. Eine davon führte zu einer verlassenen Trai ningshalle. Die Puppen, an denen früher einmal geübt worden war, standen da und wirkten unter den Spinnweben wie Geis ter. An der rechten Wand befanden sich einige Sitzreihen, von denen aus Zuschauer den Kriegern bei ihrem Training hatten zusehen können. Wenn sich Ryld dahinter versteckte, würde ihn niemand bemerken, der nicht den Raum gezielt durch suchte. Außerdem, überlegte der Meister, mochte es ihm Glück bringen, sich in einem Saal niederzulassen. Die dunklen Mäch te wußten, daß er es brauchen konnte. Er humpelte hinter die aus Stein gehauenen Sitzreihen und ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder. Die Hände legte er auf die Oberschenkel, die Augen hielt er geschlossen, während er mit seinen Atemübungen begann. Zauberwirker waren auf ihre überhebliche Weise der An sicht, sie könnten als einzige meditieren. Sie irrten. Die Brüder von Melee-Magthere hatten diese Methode auch erlernt. Es half ihnen, das höchste Niveau an Kampfgeschick zu erreichen. Zauberwirker. Der Gedanke erinnerte ihn an Pharaun. Ent setzen und Wut wallten in ihm auf. Doch im Moment waren
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diese Gefühle hinderlich. Er mußte sich entspannen und sei nen Geist leeren. Er konnte die Wunde heilen, die Syrzan in seinem Kopf hinterlassen hatte. Er konnte die Blutung an seinem Bein stoppen. Er konnte Schmerz und Müdigkeit verbannen und die letzten Kraftreserven seines Körpers mobilisieren. Wenn der Gegner ihm nur genug Zeit gab.
Pharaun ertastete für ein paar Minuten seinen Weg, dann stieß er auf eine weitere Treppe, eine enge Wendeltreppe, die nach unten führte. Es war fast so, als sei die so rätselhaft schweigsa me Lolth lange genug zurückgekehrt, um ihn für seinen Verrat zu belohnen. Wenn dem so war, dann hatte er kurze Zeit später allen Grund, sich daran zu erinnern, daß sie selbst ein ebenso lau nenhaftes, hinterhältiges Wesen war. Er erreichte den Fuß der Treppe, lief einen Gang mit hoher, gewölbter Decke entlang und hörte eine weitere Gruppe Jäger. Es klang, als würden sie gleich um die Ecke vor ihm kommen. Pharaun betrachtete die nackten Wände. In diesem Gang gab es keine Türöffnungen, in die ein Flüchtender sich hätte retten können. Der Magier hätte fliehen können, doch er wollte sich nicht in die Richtung zurückziehen, aus der er gekommen war. Ein Vorhang aus Finsternis wiederum hätte die Abtrünnigen sofort darauf gebracht, daß sich etwas dahinter verbarg. Er konnte Energiepfeile auf sie abfeuern, doch damit würde er seine of fensive Magie erschöpfen. Er beschloß, ein Risiko einzugehen. Pharaun konzentrierte sich auf das gestohlene HausEmblem, streifte sein Gewicht ab und ließ sich horizontal nach oben treiben, bis er sich am höchsten Punkt mit dem Rücken gegen die Decke pressen konnte.
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Die Jäger liefen unter ihm durch, ohne ihn zu bemerken. Er sah hinunter und hielt nach einem Magierkollegen Ausschau. Wenn es eine Chance gab, wieder in den Besitz von Zauber komponenten zu gelangen, hätte er vielleicht angegriffen, egal wie schlecht die Chancen für ihn standen, doch bei den Män nern handelte es sich ausnahmslos um Krieger. Als sie vorbei waren, ließ er sich wieder zu Boden sinken und schlich weiter. Er mußte erneut kehrtmachen, dann stand er völlig überraschend vor einem kleinen Dienstboteneingang zu einem Stall, der dem in der Burg seiner eigenen Familie recht ähnlich war. Schimmelige Steintröge, Fässer, Steigklötze und rostige Eisenhaken zeichneten rechteckige Muster auf dem Boden, während muffiges, verrottendes Zaumzeug an den Wänden hing. Die Flugtiere gab es schon lange nicht mehr, offenbar hatten die Eroberer sie mitgenommen, da nirgends Knochen zu sehen waren. Zwei Abtrünnige standen vor den riesigen Schiebetüren Wache. Pharaun lächelte, dann feuerte er seinen letzten Lichtpfeil ab und sprang aus seiner Deckung, um auf die beiden Wach männer zuzurennen, ohne abzuwarten, wieviel Schaden er überhaupt angerichtet hatte. Einer der Männer hustete und spuckte Blut, während er fiel. Der andere – ein nett aussehender junger Kerl mit je einer einzelnen Strähne, die über seinen Wangen hing – schien nichts abbekommen zu haben. Er drehte sich um, entdeckte Pharaun und hob in aller Ruhe die Armbrust. Der Magier warf sich zu Boden, das Geschoß flog über sei nen Kopf hinweg. Noch immer in gebückter Haltung feuerte er seine eigene Armbrust ab. Der Schaft bohrte sich in die Brust des Abtrünnigen. Der Mann fauchte, riß seinen Krummsäbel heraus und lief auf Pharaun zu. Nach drei Schritten blieb er stehen, seine
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Arme sackten herunter, die Waffe fiel scheppernd zu Boden. Der Mann hatte einen Ausdruck des Erstaunens auf seinem Gesicht, als er auf die Knie sank. Im Aufstehen fiel Pharaun auf, daß die Kleidung des Ster benden genauso geschmackvoll war wie seine Frisur. »Wer ist dein Schneider?« fragte Pharaun, doch der Ab trünnige kippte vornüber und fiel aufs Gesicht. »Hm, dann eben nicht.« Der Magier schritt zu einer der Türen nach draußen, entrie gelte sie und schob sie auf. Vielleicht waren die Laufrollen magischer Natur, da sie perfekt arbeiteten. Das Tor glitt mühe los und leise auf. Auf der anderen Seite fiel der Hang sicher 300 Meter bis hinunter zu den leuchtenden Palästen ab. Er dankte stumm dem Haus des toten Wachmanns, dann berührte er die gestoh lene Brosche und sprang.
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Pharaun konnte die 300 Meter nach unten schweben, ebenso konnte er sich einfach fallen lassen und darauf vertrauen, daß die Levitation seinen Fall am Ende bremste. Letzteres war nicht ungefährlich. Wenn er zu lange wartete, ehe er gegen den Sog der Schwerkraft anging, würde er sich Knochen bre chen oder gar zerschmettert werden, wenn er landete. Dennoch entschied er sich für den freien Fall, da der An blick unter ihm keine andere Möglichkeit zuließ. In der Zitadelle der Abtrünnigen hatte er jedes Zeitgefühl verloren, doch es war offensichtlich, daß der Ruf um die Zeit des schwarzen Todes Narbondels erfolgt sein mußte, als die meisten Drow für die Nacht nach Hause gegangen waren. Nur wenige Drow waren da, die für ihre Vorherrschaft über die Straßen kämpfen konnten, als die Unterkreaturen aus der Gosse gekommen waren, um zu morden, zu plündern und zu
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zerstören. Pharaun konnte keine Individuen ausmachen, doch er sah, wie der Mob durch die Straßen strömte, eine große, formlose Masse, so wie die lebenden Gallerten, von denen bestimmte Höhlen befallen waren, und konnte die Brände sehen, die sie legten. Er roch den seltsamen, unangenehmen Geruch brennenden Steins und hörte die Rufe der Goblins. Vielleicht hofften die in die Kämpfe verwickelten Gemei nen auf Hilfe aus den Adelshäusern. Wenn, dann warteten sie vergeblich. Magische Energie zuckte hinter den Fenstern und Außenmauern der Stalaktiten-Burgen weiß und rot auf, da die Adligen dort gegen eine Rebellion ihrer Sklavensoldaten an kämpften. Für den Moment waren die Drow in der Defensive, unfähig, sich gegen die Plünderer vor ihren eigenen Mauern zur Wehr zu setzen. Unter Pharauns Stiefeln wurde ein Haus immer größer und größer. Er machte sich leichter als Luft, schlug aber trotzdem so hart auf, daß es ihm die Luft nahm und er für einen Moment die Besinnung verlor. Als er wieder zu sich kam, trieb er bereits wieder nach oben. Indem er einen Teil seines Gewichts wiederherstellte, ge lang ihm eine elegantere Landung. Er preßte sich flach aufs Dach und sah sich um. In unmittelbarer Nähe waren keine Goblins zu sehen, die in den Straßen Amok liefen, also sprang er nach unten. Zum Glück war der Basar nur drei Blocks von ihm entfernt, so daß er sofort dorthin eilte. Er hatte sein Ziel fast erreicht, als eine zusammengewürfelte Truppe aus schuppigen kleinen Kobolden, schweinsgesichtigen Orks und zerlumpten, plumpen Grottenschraten aus einer Gasse heranstürmte. Bislang lief die Revolte für sie gut. Es war ihnen gelungen, Speere, Schwerter und Äxte in die Hände zu bekommen und Blut damit zu vergießen. Pharaun rannte noch schneller. Ein Speer flog an ihm vor
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bei, doch die Sklaven machten sich nicht daran, ihn zu verfol gen. Offenbar hatten sie eine andere Beute im Auge. Als der Magier den Marktplatz erreichte, fluchte er, da der Aufstand vor ihm dort angekommen war. Die Unterkreaturen plünderten die Stände und setzten sie in Brand, womit sie Flecken gleißenden Lichtscheins schufen. Einige Händler hatten die Flucht angetreten, andere versuchten, ihre Waren zu verteidigen, was ihnen nicht gelingen konnte, wenn sie darauf hofften, daß ihnen die Goblins zur Seite standen, die sie bis dahin für sich hatten arbeiten lassen. Pharaun lief am Rand des Basars entlang und wurde auf dem Weg immer wieder Zeuge brutaler Übergriffe. Ein Goblin schlug lachend mit einer Peitsche auf seinen möglicherweise toten Herrn ein. Ein Grottenschrat würgte mit seinen Beiß zangen einen Händler. Reitechsen, die in brennenden Stein ställen gefangen waren, zischten vor Angst und bewegten sich aufgewühlt vor und zurück. Der erste Stand, von dem Pharaun gehofft hatte, ihn intakt vorzufinden, stand in Flammen. Am zweiten wimmelte es von Gnollen, die knurrten, heulten und bellten, während sie sich durch die Waren wühlten. Der Meister Sorceres wußte nur noch eine Möglichkeit am Rande des Basars. Sollte die auch verloren sein, dann mußte er entweder tiefer in das brennende und von Orks überlaufene Labyrinth aus Ständen vordringen oder sich einen anderen Plan ausdenken. Mit Warzen übersäte, bärtige Oger warfen einen Wagen mit zwölf Rädern auf die Seite und schleuderten die Drow heraus, die sich von dort aus verteidigt hatten. Ein wandelnder Pilz, der größer als die Schläger und mit seinem schlanken, geriffel ten Stamm weitaus eleganter war, machte einen weiten Bogen, um dem kleinen Massaker auszuweichen. Pharaun wich dem Gemetzel auch aus. Nach einigen
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Schritten bot sich ihm eine Szene, die nach dem gerade eben beobachteten Blutbad fast unwirklich erschien. Auf dem west lichsten Teil des Marktplatzes herrschte Ruhe. Einige Händler hatten sich bewaffnet und vor ihren Zelten und Ständen Stel lung bezogen, doch sie machten einen ruhigen, furchtlosen Eindruck. Im Verlauf eines abenteuerlichen Lebens hatte Pharaun die ses Phänomen schon einmal erlebt. Unter den richtigen Um ständen war es Leuten möglich, ein hitziges Gefecht, das sich nur wenige Meter von ihnen entfernt abspielte, praktisch komplett zu ignorieren. Pharaun lief weiter. Vor ihm befand sich ein leuchtend grü ner Kreis auf dem Boden, der einen geräumigen Stand aus getrockneten Schwämmen umgab. Ein schwergewichtiger Mann stand in der Türöffnung, eine Armbrust in der Hand und auf der Schulter eine Kröte – seinen Vertrauten. Er trug ein Nachthemd und war barfuß. Der Kaufmann kniff die Au gen zusammen, als er Pharaun erblickte. »Bleibt, wo Ihr seid«, rief er. Seine kehlige Stimme war so gar noch tiefer als die Rylds. Pharaun blieb stehen, holte Luft und begann wegen des Qualms, der die Luft verpestete, sofort zu husten. »Mein lieber Meister Blundyth, begrüßt man so einen treu en Kunden?« »So begrüßt man einen Verrückten, der erst gestern eine Streife angegriffen hat.« Das stimmt, dachte Pharaun, das war erst gestern gewesen. So vieles war geschehen, daß es ihm wie ein ganzes Jahr vorkam. »Meine Vergehen der Vergangenheit sind nicht mehr von Bedeutung«, sagte Pharaun. »Wißt Ihr, was hier los ist?« »Ihr meint den Rauch und die Unruhe da drüben?« Blun dyth wies mit einer Kopfbewegung nach Osten. »Ich schätze,
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ein Kaufmann schaltet die Konkurrenz aus. Ich habe damit nichts zu tun, aber ich bin bereit, mich zu wehren, wenn sich das hierher fortsetzt.« »Ich wünschte, das wäre wahr«, sagte Pharaun. »Leider ist niemand von uns wirklich bereit für diese Nacht. Habt Ihr mal einen Blick über das Dach Eures Geschäfts geworfen?« Er wies auf das orangefarbene Leuchten, das im Osten fla ckerte. »Die Adligen planen irgendetwas«, meinte Blundyth. Viel leicht haben sich einige Häuser zusammengetan, um einen gemeinsamen Rivalen auszulöschen. Aber auch damit habe ich nichts zu tun.« »Da irrt Ihr Euch. Überall in der Stadt rebellieren die Un terkreaturen.« Blundyth schnaubte: »Ihr seid wirklich verrückt.« »Habt Ihr oder Eure Nachbarn keine Sklaven?« »Natürlich. Die sind irgendwo unterwegs.« »In der Tat. Sie sind unterwegs und machen sich bereit, Euch die Kehlen durchzuschneiden.« »Geht einfach fort, Meister Mizzrym.« Blundyth veränderte seinen Griff um den Stab und fügte an: »Wir haben uns immer gut verstanden. Zwingt mich nicht, Euch zu verletzen.« »Die Orks stellen eine ernste Bedrohung dar. Ich weiß, wie wir sie abwenden können, aber ich brauche Hilfe. Ich habe hier doch noch Kredit, oder?« »Ich verkaufe nicht an Gesetzlose. Ich will keinen Ärger mit den Priesterinnen.« Pharaun sah dem Kaufmann in die Augen und erkannte, daß er ihn nie überzeugen würde. »Zu schade. Ihr werdet diese Entscheidung noch bereuen. Wahrscheinlich schon in ein paar Minuten. Doch dann wird es zu spät sein.«
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Der Meister wandte sich um und schritt von dannen, doch sobald Blundyth ihn nicht mehr sehen konnte, machte er kehrt. Er kroch durch die engen Lücken zwischen den Ständen und näherte sich von der Seite dem Stand des stämmigen Drow. Während er dahin schlich, lauschte er immer wieder, um zu hören, ob sich die Unterkreaturen bereits näherten. Er konnte es aber nicht feststellen und vermutete, daß einer die ser verfluchten Zauber den Lärm dämpfte. Immerhin erreichte er das gekräuselte Schwammbauwerk, ohne daß ihn Orks angriffen. Er beschrieb mit den Händen eine mystische Geste und flüsterte eine Beschwörung. Der schützende Lichtkreis erlosch. Pharaun lief zum Stand, schwebte in die Luft und landete auf dem Dach. Der gehärtete Schwamm trug ihn, als sei es Stein. Blundyth fluchte und kam hinter seinem Stand hervor, die Armbrust im Anschlag. Pharaun hielt es für besser, dafür zu sorgen, daß der Händler keine Gelegenheit hatte, sie zu benut zen. Der Magier sprang vom Dach auf Blundyths Rücken. Er wußte, daß er das Manöver nicht so anmutig ausgeführt hatte, wie der arme Ryld es getan hätte. Dennoch zeigte es Wirkung. Der Händler ging durch den Aufprall in die Knie, die Kröte sprang davon. Während er sich an seinem Opfer festklammerte, trieb der Magier immer wieder seinen Dolch in die Seite des großen Mannes. Mal stieß die Klinge tief in den Körper hinein, mal prallte sie gegen eine Rippe. Blundyth strampelte und zappelte, konnte sich aber nicht befreien. Er versuchte, mit der Arm brust über die Schulter zu zielen, doch Pharaun duckte sich. Dann endlich sackte der Händler seitlich weg und begrub Messer und Hand seines Angreifers unter sich. Pharaun zog die Hand unter ihm hervor, kümmerte sich a
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ber nicht um den Dolch. Er war im Begriff, weit überlegenere Waffen an sich zu nehmen. Er wischte die blutverschmierten Finger an Blundyths Kleidung ab, dann stand er auf und ging zum Eingang des Stands. Blundyths Nachbarn beobachteten das Geschehen, griffen aber nicht ein. Wie der Tote selbst es wohl formuliert hätte: Sie hatten mit dem Mord an ihm nichts zu tun. Der Stand des Magiers war wie üblich gut sortiert. Fässer, Flaschen und Kisten standen in Regalen aus Kalkstein, auf einem Holzstand in der Ecke leuchtete ein grünlicher Spiegel. Die Luft roch nach Gewürzen, Kräutern, Weihrauch und Zer fall. Blundyths Piwafwi lag achtlos über einer Truhe. Er war das erste, was Pharaun an sich nahm. Der Umhang paßte ihm, als hätte er sich ein Zelt umgelegt, aber sein Inneres war auf ver traute Weise von Reihen voller Taschen gesäumt. Als nächstes untersuchte er die Phiolen und Schubladen, um nach den magischen Komponenten zu suchen, die für die von ihm vor bereiteten Zauber erforderlich waren. Mit jedem weiteren Teil, das er an sich nahm, fühlte er sich etwas besser, fast wie ein Krüppel, der allmählich wieder in der Lage war, seine Beine zu benutzen. Während er sich durch den Raum arbeitete, entdeckte er auf einem kleinen Regal ein Paar Stiefel, die eindeutig etwas besonderes sein mußten, da der Schuhmacher in das Leder Runen eingearbeitet hatte. Ohne seinen Silberring war Pha raun nicht in der Lage, sofort zu erkennen, welche besonderen Fähigkeiten die Stiefel besaßen, dennoch beschloß er, sich die Zeit zu nehmen, um sie anzuprobieren. Die Stiefel wanden sich und formten sich um seine Füße, dann zuckten sie gegen sein Fleisch wie ein Tier, das darauf brannte, loszulaufen. Er machte versuchsweise einen Schritt,
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woraufhin das Schuhwerk die Kraft seiner Beine verstärkte und ihn mit einem einzigen Schritt den Laden durchqueren ließ. Nicht schlecht, dachte er. Nicht so gut wie ein fliegender Teppich, aber trotzdem hilfreich. Er machte einige weitere Schritte, um ein Gefühl für die Stiefel zu bekommen, dann ging er hinaus. Just als er das Ge schäft verließ, dröhnte wie aus dem Nichts eine heulende, kreischende Kakophonie durch die Luft. Im nächsten Moment kam eine Horde von Unterkreaturen – überwiegend Orks, dazwischen vereinzelt Goblins – aus den Ständen und Buden im Osten herangestürmt. Blundyths Nachbarn konnten dem Geschehen nur fassungs los zusehen. Für einige von ihnen war die Verwirrung tödlich. Die Unterkreaturen schwärmten über sie hinweg wie Ameisen, die den Kadaver einer Maus leerfraßen. Einige der verbliebenen Händler rannten davon. Andere feuerten ihre Handarmbrüste ab oder beschworen magische Blitze. Ein Optimist versuchte, die Rebellen mit Drohungen, Beschimpfungen und Befehlen einzuschüchtern, bis ein skrofu löser Ork, der die Flüssigkeit aus einem Blecheimer schlürfte, ihm etwas von Syrzans flüssigem Feuer entgegenschleuderte. Die Flüssigkeit setzte Fleisch genauso leicht in Brand wie Stein. Pharaun wickelte den einem Laken gleichenden Piwafwi um sich und rannte los. Jeder von den Stiefeln verstärkte Schritt ließ ihn in die Lüfte aufsteigen, doch ihre Magie sorgte auch dafür, daß er sicher landete. Ein paar Orks sahen ihn und hoben ihre Speere. Er flüsterte eine Beschwörung, woraufhin unter den Unterkreaturen eine zerklüftete Finsternis entstand, die die Essenz des Todes war. Noch während sie zusammenbrachen, verrotteten ihre Leiber bereits.
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Zumindest für den Augenblick war Pharaun in Sicherheit. Er rannte weiter, während um ihn herum seine Stadt in Blut und Feuer verging. »Du mußt doch irgendein Lied, irgendwelche Magie ken nen, um einen Feind aufzuspüren«, sagte Houndaer.
»Dann würde ich es bestimmt singen«, erwiderte Omraeth schroff. »Jetzt sei ruhig. Wenn die Meister uns hören, werden sie alles tun, um uns aus dem Weg zu gehen.« »Er hat recht«, sagte Tsabrak, der auf seinen acht Gliederbei nen hinterhertrottete. »Sei ruhig, sonst werden wir nie fertig.« Houndaer trug Ryld Argiths Schwert quer über den Rücken geschnallt, und für einen Moment bebte er geradezu vor Ver langen, es an seinen Gefährten zu testen. Er war solche Über heblichkeit nicht gewöhnt, jedenfalls nicht von anderen Männern, und erst recht nicht von einer so niederen Kreatur wie einer Drinne. Doch er riß sich zusammen, weil es sein mußte. Er betete, daß er es sein würde, der die Flüchtlinge zu fassen bekam, die ihn in den Augen der anderen Abtrünnigen wie einen Narr hatten dastehen lassen. Doch er wußte auch, daß er allein sie nicht würde töten können. Tsabrak hob die Hand und flüsterte: »Halt!« »Was ist?« fragte Houndaer. Statt zu antworten, begann die Halbspinne, tief durchzuat men. Ihre Nasenflügel bebten. Sie wandte sich erst in die eine, dann in die andere Richtung, schließlich schnupperte sie am Boden. Ihre Vorderbeine knickten dabei ein, ihr spinnenarti ger Unterkörper kippte wie ein Tablett weg, um ihren DrowKopf nach unten zu bringen. »Hast du ihre Fährte gewittert?« fragte Houndaer.
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Er spürte, wie Begeisterung in ihm aufkam, doch er bemühte sich, sie sofort zu unterdrücken. Er zweifelte nicht daran, daß Tsabrak wirklich eine Fährte gewittert hatte. Doch in der letz ten Stunde hatte der Halbdrow, dessen Metamorphose offen bar auch seine Wahrnehmungsfähigkeit verändert hatte, die Spur etliche Male entdeckt und sie dann doch jedesmal wieder verloren. »Folgt mir«, sagte Tsabrak und legte einen Pfeil an. Die Drinne führte ihre Gefährten zum bogenförmigen Ein gang eines Trainingssaals, wo mit Wolken von Spinnweben überzogene Trainingspuppen standen. An der Wand zur Lin ken hing ein Zählbrett. Im Lauf der Jahre hatte die Kreide ihre Phosphoreszenz zum größten Teil verloren, doch Houndaer konnte noch immer das Ergebnis eines Fechtwettkampfs in schwach leuchtenden Ziffern lesen. So sehr er sich auch anstrengte, von Meister Argith und dem Mizzrym konnte er keine Spur entdecken. Er warf Tsabrak einen fragenden, leicht ungeduldigen Blick zu. Die Drinne reagierte, indem sie auf den Boden zeigte. Als die Burg einer stolzen Adelsfamilie gehört hatte, war ein in ihren Diensten stehender Handwerker damit beauftragt worden, den Boden mit Linien und widerstreitenden Kreisen zu bemalen. Wie die Kreide strahlte auch der magische Lack noch etwas Licht aus. An einer Stelle verdeckte ein Blutsprit zer ihn. Houndaers Herz begann zu rasen. Er sah zu der Drinne auf und hauchte: »Wo?« Tsabrak führte sie zu den Sitzreihen zur Rechten. Der Adli ge bemerkte zum ersten Mal, daß sich zwischen der Wand und der Empore aus bearbeitetem Kalkspat ein Freiraum befand. Von irgendwo aus der Burg rief ein Jäger einem anderen et was zu.
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Nur die Ruhe, sagte sich Houndaer. Das ist meine Beute. Er hielt den Atem an, als er und seine Untergebenen – was sie in Wirklichkeit auch waren, obwohl sie vom Gegenteil überzeugt waren, da sie zur Verschwörung gehörten – hinter die letzte Sitzreihe spähten. Da saß Meister Argith ein paar Schritte von ihnen entfernt im Schneidersitz. Der Tuin’Tarl legte augenblicklich die Armbrust an. Er war im Begriff zu schießen, als er sich zurückhielt, um die Szene in all ihren Details zu studieren. Sein einstiger Lehrer saß reglos da, die Augen geschlossen. Allem Anschein nach war er be wußtlos, zumindest aber war er sich des Vorrückens seiner Gegner nicht bewußt. Von Pharaun war nichts zu sehen. Rylds Passivität ließ Houndaer unsicher werden, wie sie vorgehen sollten. Sollten er und seine Untergebenen sich sofort des Spions entledigen, oder sollten sie die Gelegenheit nutzen, ihn erneut gefangenzunehmen? Wenn der Waffenmeis ter tot war, konnte er ihnen nichts über den Verbleib Pharauns verraten. Der Adlige wurde sich bewußt, daß Tsabrak in der Zeit, in der er selbst über die Angelegenheit nachgedacht hatte, seinen Bogen gespannt und gezielt hatte. Houndaer hob eine Hand, um ihm zu bedeuten, nicht zu schießen, doch dann kamen ihm Zweifel. Meister Argith war ein hervorragender Krieger, sogar nach den hohen Anforderungen Melee-Magtheres. Darum hatte Tuin’Tarl ihn als Schüler auch so bewundert und darauf gebrannt, ihn nun zu rekrutieren. Vielleicht war es ratsamer, ihn zu töten, solange sie die Gelegenheit hatten. Außerdem gefiel es Houndaer nicht, sich den Ärger einzu handeln, Tsabrak einen Befehl zu geben, den der dann igno rierte. Er hob seine Armbrust, dann nahmen er und die Drinne sich Zeit, ihr Ziel zu erfassen. Sie konnten es sich erlauben, da
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Ryld sie noch immer nicht registriert hatte. Tsabrak ließ die Sehne los, im gleichen Moment betätigte Houndaer den Abzug. Die beiden Geschosse flogen auf den nach wie vor reglosen Ryld zu. Der Adlige hatte keinen Zwei fel daran, daß die beiden Geschosse genügen würden. Sie flo gen schnurgerade, die Spitzen waren vergiftet. Es war merk würdig und etwas unbefriedigend, sich eines Meisters des Krie ges so mühelos zu entledigen. Es war wie eine Rache, die einem zu leicht gemacht wurde. Als es zu spät für eine Reaktion war, begann sich Ryld zu bewegen. Er wich dem Bolzen aus und bekam den Pfeil mit der Hand zu fassen. Schnell, aber ohne Hast sprang der Waffenmeister auf und kam auf die Angreifer zu. Sein blutiger Oberschenkel schien kein Hindernis darzustellen. Sein Gesicht und sein Blick wa ren leer wie bei einem Medium, das darauf wartete, mit den Toten Kontakt aufzunehmen. Omraeth sang mit tiefer Stimme einen schnell gereimten Vers. Energie funkelte in der Luft. Offenbar sollte der Zauber bei Ryld etwas bewirken, doch soweit Houndaer das beurteilen konnte, war dem nicht so. Der große Mann kam einfach im mer näher. Tsabrak schoß einen weiteren Pfeil ab, den der Lehrer mit seinem Schwert problemlos ablenkte. Tsabrak und Houndaer ließen ihre Bogen fallen und griffen zu den Schwertern. Die Drinne spie Blut auf ihre Klinge, und dann gingen sie auf Ryld los, während der sich noch hinter den Sitzen befand und keinen Raum zum Manövrieren hatte. Om raeth ging hinter seinen Kameraden in Stellung, von wo aus er ihre Bemühungen mit seiner Bardenmagie unterstützen konn te. Houndaer verspürte plötzlich Angst, die er rasch wieder verdrängte. Er hatte keinen Grund, sich zu fürchten. Sie waren
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zu dritt, Ryld war allein, und er trug nicht einmal ein Ketten hemd. Wenn man ihn so sah, konnte man sogar meinen, er verfüge auch nicht über seinen Verstand. Doch dann bewies er, daß dem nicht so war. Ryld berührte die vertikale Fläche der Rückseite der Stufen. Er rief damit Finsternis zu sich, um seinen Gegnern die Sicht zu nehmen. Houndaer schlug blindlings zu und spürte, daß Tsabrak es ihm nachtat. Ob es um sie herum dunkel war oder nicht, sie mußten den Spion in Stücke schneiden, wenn er sie angriff. Doch ihre Schwerter schnitten nur die Luft in Stücke. Nach einigen Sekunden rief Omraeth: »Zurück! Sofort!« Houndaer und Tsabrak drehten sich um und liefen in die Richtung, aus der sie die Stimme ihres Barden hörten. Das vergiftete Schwert der Drinne schlug gegen den Arm des Tu in’Tarl, doch glücklicherweise so leicht, daß es nicht seine Rüstung und den Piwafwi durchdringen konnte. Als Houndaer aus der Finsternis gestolpert kam, stand Meis ter Argith in der Mitte des Saals. Im Schutz der Dunkelheit hatte er es geschafft, die oberste Stufe zu erreichen und nach unten zu laufen. Seine Chancen standen gut, ungehindert den Ausgang zu erreichen. Doch er nutzte diese Chance nicht. Er stand inmitten der schwach leuchtenden Kreise und nahm seine Kampfstellung ein. Er war nicht über die Treppe geeilt, um zu fliehen, sondern weil er eine Kampfarena erreichen wollte, die mehr nach sei nem Geschmack war. Houndaer schluckte, weil seine Kehle schlagartig ausge trocknet war. Ryld war nicht klug genug, die Flucht zu ergrei fen? Gut, dann würden sie ihn eben töten. Der Adlige und die Drinne schwärmten aus, um sich von zwei Seiten dem Meister Melee-Magtheres zu nähern. Om
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raeth blieb zurück und setzte zu einem neuen Lied an. Die beiden hatten sich ihm noch nicht ganz genähert, da begann Meister Argith die erste von drei Bewegungen – parie ren, hoch antäuschen, tief zuschlagen – jener BreitschwertÜbung zu vollziehen, die er Houndaer in Tier Breche gelehrt hatte. Der Adlige nahm einen Augenblick zu spät wahr, daß der einzige Zweck dieser Übung gewesen war, darüber hinwegzutäuschen, daß er in der anderen Hand die Armbrust hielt. Der Pfeil bohrte sich tief in Omraeths Kehle und ließ dessen Gesang in einem häßlichen Röcheln enden. Gleichzeitig verflüchtigte sich die Magie, die sich durch seinen Gesang in der Luft gesammelt hatte. Der Zaubersänger fiel, und damit stand es zwei gegen einen. Houndaer sagte sich, daß das egal war. Immerhin führte er nun Rylds eigenes Schwert, eine Waffe, von der es hieß, daß sie sich durch alles schneiden konnte, und Tsabraks Klinge war vergiftet. Sie mußten nur einen Treffer landen, um ihren Geg ner zu besiegen. Ryld wich vor ihnen zurück. Houndaer nahm an, daß er die Wand im Rücken haben wollte, damit keiner seiner Widersa cher ihn von hinten angreifen konnte. Doch mit einer Beweg lichkeit, die für einen so schweren Kämpfer höchst erstaunlich war, wechselte Ryld die Richtung. Von einem Augenblick auf den anderen stürmte er vor und schlug nach der Halbspinne zu seiner Linken. Irritiert zögerte Houndaer einen Moment lang, doch dann lief er auf Ryld und die Drinne zu. Er würde einige Herzschläge benötigen, um die Distanz zu überwinden. Ryld nutzte diese Zeit, um Tsabrak von dessen rechter Seite zu attackieren, die vom Schwertarm der Kreatur abgewandt war. Die untere, spinnengleiche Hälfte der Drinne war so mas siv, daß sie – so wie ein berittener Kämpfer – große Mühe hat
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te, über ihren Rumpf hinweg zu schlagen oder Schläge zu pa rieren. Tsabrak versuchte, nach Rylds Kopf zu schlagen, doch der Hieb war so schlecht gezielt, daß dieser sich nicht einmal die Mühe machte, wegzutauchen, sondern sich völlig auf seinen eigenen Angriff konzentrierte. Tsabrak gab sich alle Mühe, sich in Sicherheit zu bringen. Dennoch fraß sich Rylds Breitschwert durch eines der Chitin beine seines Gegners. Tsabrak schrie und verlor das Gleichge wicht. Ryld wirbelte seine Waffe so herum, daß alles danach aus sah, daß er der Drinne den Todesstoß versetzen würde. Houn daer stieß ein lautes Kriegsgebrüll aus, rannte den Rest des Weges und holte aus. Er hatte keine Zeit gehabt, die richtige Haltung einzunehmen, daher war der Hieb äußerst unge schickt. Er genügte aber, um den Waffenmeister ein Stück zurückzudrängen. Ryld wußte besser als jeder andere, wie töd lich die gewaltige Klinge sein konnte. Sobald der Schlag ihn verfehlt hatte, rückte der Meister mit einem Stoß nach der Brust seines Gegners vor. Houndaer riß das Schwert herum, um den Angriff zu parieren. Es hätte un möglich sein müssen, die Richtung einer so schweren Waffe so schnell zu ändern, doch mit einem Mal schien sie ihm so leicht in den Händen zu liegen wie ein Stück Pergament. Rylds Breit schwert verfing sich in einem der Haken gleich über dem bele derten Ricasso. Ryld zog sich zurück und riß seine Waffe frei. Houndaer hielt das Schwert genau vor sich, während Tsabrak herange humpelt kam. Die Drinne verzog vor Schmerz das Gesicht, und aus der Wunde spritzte in einem gleichmäßigen Rhythmus eine stechende Flüssigkeit. Ryld zog sich weiter zurück. Die Abtrünnigen teilten sich
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abermals auf, gingen diesmal jedoch nicht auf soviel Abstand. Tsabrak setzte zu einem leisen, klagenden Geräusch an, das aus den Tiefen seiner Kehle kam. Dann warf Ryld scheinbar völlig mühelos sein Schwert, als sei es nur eine plötzliche Erweiterung seines Armes. Auch wenn diese Waffe für eine solche Aktion nicht bestimmt war, flog sie durch die Luft wie ein Pfeil, dann bohrte sie sich in Tsabraks Brust. Die Drinne riß die Augen auf. Sie spuckte Blut, begann zu husten, knickte in der Taille ein und ließ das Schwert fallen. Ihre Spinnenhälfte starb nicht ganz so schnell, sondern be wegte sich noch ein Stück weit vorwärts. Es war aber nicht ganz so tragisch, denn von einem Dolch abgesehen hatte Ryld keine Hieb- und Stichwaffe mehr zur Verfügung, und der Dolch würde ihm gegen eine Waffe wie sein eigenes Schwert nicht helfen können. Houndaer stürmte vor, um den tödlichen Treffer zu landen. »Tuin’ Tarl!« schrie er. Das Gesicht des Waffenmeisters war noch immer so leer wie das eines Zombies, als er zur Seite wegtauchte. Houndaer drehte sich um, folgte seinem Ziel und sah, daß Ryld sich hinter einer der Trainingspuppen aus Holz versteck te. Aus der Nähe waren die krude geschnitzten Puppen merk würdig beängstigende Gestalten, da sie trotz einer Fülle von Kerben und Schnitten unablässig lächelten. Ryld stand da und wartete. Houndaer erkannte sofort, wel che Absicht der Spion mit seiner Taktik verfolgte. Wenn sein Gegner sich auf einer Seite um die Puppe bewegen wollte, würde der Meister in die entgegengesetzte Richtung auswei chen, um das Hindernis zwischen ihnen zu wahren. Houndaer sah keinen Grund, sich auf dieses Spiel einzulas sen, erst recht nicht, wenn sein Schwert wirklich so scharf war,
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wie man ihm nachsagte. Er zog die Klinge in einem niedrigen Bogen herum. Sie schleuderte die Puppe weg und beraubte Ryld so seiner Deckung. Leider sprang der Waffenmeister im gleichen Moment vor, noch ehe Houndaer das Schwert zu einem weiteren Schlag umdirigieren konnte. Ryld schlug nach der Kehle des Adligen. Houndaer schaffte es, nach hinten auszuweichen und seine Waffe zwischen sich und den Spion zu bringen, ehe ihm be wußt wurde, daß die Attacke nichts weiter als eine Finte gewe sen war. Ryld hatte ihn dazu verleitet, sich in die Defensive zurückzuziehen, und jetzt nutzte er die Gelegenheit, an ihm vorbeizueilen. Houndaer schlug nach dem Rücken des Meis ters, zerschnitt aber nur ein Stück des wallenden Umhangs. Der Tuin’Tarl setzte nach, als plötzlich Tsabrak in seinen Weg geriet. Die Drinne lag im Sterben oder war schon tot, aber ihre Beine trugen sie immer noch weiter. Houndaer schrie frustriert auf und schlug die Drinne nieder. Als das Mischwesen fiel, konnte der Adlige sehen, was sich in der Zwischenzeit hinter Tsabrak abgespielt hatte. Ryld hatte das Schwert erreicht, das die Drinne hatte fallenlassen. Ohne sich um das trocknende Gift auf der Klinge zu kümmern, schob er eine Zehe unter die Waffe, schleuderte sie hoch und bekam sie zielsicher am Heft zu fassen. Sein Gesichtsausdruck war noch immer unergründlich, als er mit der Waffe in der Hand wieder vorrückte. Ich kann ihn töten, dachte Houndaer. Ich bin immer noch im Vorteil. Laut rief er: »Zu mir! Ich habe hier einen der Meister!« Ryld trat vor, bis er fast in Reichweite war, dann blieb er stehen. Im Vertrauen auf seine Fähigkeit, sich zu verteidigen, wollte er Houndaer zuschlagen lassen. Ein Fechter konnte nicht angreifen, ohne dem anderen eine Öffnung zu bieten.
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Zunächst weigerte sich der Adlige, der Aufforderung nach zukommen. Er wollte warten, bis sein Gegner anfing. Ryld schlug mit der Klinge auf den Boden. Dieses Geräusch veranlaßte ihn abrupt zu einer Reaktion, aber wenigstens war es ein überlegter Angriff. Finte gegen die Brust, Finte zur Flanke, nach unten schlagen und dann dem Gegner die Beine unter dem Leib weghauen. Noch während er in die letzte Position überging, erinnerte er sich, daß er diese Sequenz von Ryld gelernt hatte. Seinen Lehrer würde er sicher nicht zum Narren halten können. Er parierte den flachen Angriff und reagierte mit einem Schlag nach Houndaers Handgelenk. Das Breitschwert fraß sich durch den Handschuh und in das Fleisch darunter. Ryld riß seine Waffe los, und Blut spritzte. Er schlug tiefer zu, hieb nach Houndaers Torso. Der Tuin’Tarl taumelte rück wärts, um außer Reichweite zu gelangen, und brachte dabei das Breitschwert erneut in eine bedrohliche Haltung. Sein blutiges Handgelenk pochte, die Klinge in seiner Hand zitterte. Trotz der Zauber war es unglaublich anstrengend, sie zu halten. Er schnappte nach Luft, seine geschwächte Hand umklammerte den Ricasso. Doch das half kaum. Er horchte auf das Geräusch, das ankündigte, daß eine weitere Gruppe von Abtrünnigen den Raum betrat. Nichts. »Gut gemacht, Meister Argith!« erklärte Houndaer. »Ich gebe auf. Ich kapituliere.« Ryld trat vor, das Breitschwert schlagbereit. »Bitte!« sagte der Tuin’Tarl. »Wir haben uns doch immer verstanden, oder? Ich war einer Eurer pflichtbewußtesten Schüler, und ich kann Euch helfen, hier herauszukommen.« Ryld kam immer näher, und Houndaer sah, daß sein Gesicht in Wahrheit weder leer noch ausdruckslos war. Es mochte zwar frei von jedweder Gefühlsregung sein, aber es verriet eine ü
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bernatürliche, fast schon dämonische Konzentration, die aus schließlich auf das Töten ausgerichtet war. Houndaer sah in diesem Gesicht seinen eigenen Tod. Von einer seltsamen Gelassenheit erfaßt ließ er das Schwert sinken. Einen Augenblick später bohrte sich Rylds Klinge in seine Brust.
Das nachhallende, metallische Krachen schreckte Quenthel auf. Gut, daß sie sich ein Leben lang in Selbstkontrolle geübt hatte, sonst hätte sie einen entsetzten Schrei ausgestoßen. Sie und ihre Truppe patrouillierten durch den Tempel. Nach den Ereignissen der letzten Nächte wäre es dumm gewe sen, in der Wachsamkeit nachzulassen, doch nachdem so viele Stunden ereignislos verstrichen waren, begann ihre Truppe darüber zu spekulieren, daß die Angriffswelle vorüber war. Immerhin sollte das auch der Fall sein. Der Knochenstab sollte die Abscheulichkeit der letzten Nacht zu dem zurückgeschickt haben, der den Fluch über sie ausgesprochen hatte. Dennoch war Quenthel noch nicht bereit, in den allgemei nen Optimismus einzustimmen. Ja, sie hatte einen Angriff an seinen Ursprungsort zurückgeschickt, doch das mußte nicht zwangsläufig heißen, daß ihre gesichtslose Feindin selbst dem Angriff des Dämons zum Opfer gefallen war. Die Zauberwirke rin konnte überlebt haben, und wenn dem so war, konnte sie einfach weiter ihre unirdischen Assassinen ausschicken. Dem Geräusch nach zu urteilen war ein weiterer soeben in den Tempel eingebrochen, doch Quenthel besaß keinen weite ren Knochenstab. Einen Moment lang fühlte die Baenre Angst in sich aufstei gen, vielleicht sogar eine Spur von Verzweiflung, die sie sofort herunterschluckte.
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»Folgt mir«, sagte sie knapp. Vielleicht würden sich ihre Untergebenen zur Abwechslung einmal als nützlich erweisen. Die Priesterinnen, deren Schritte in den verzauberten Stie feln völlig lautlos waren, begaben sich in Richtung des Lärms. Grünlicher Fackelschein warf ihre Schatten an die Wände. Pergament raschelte, als eine Novizin eine Schriftrolle entroll te. Laute Frauenstimmen ertönten. Energie ließ die Luft einen Augenblick lang einen roten Farbton annehmen und sandte ein unangenehm kribbelndes Gefühl über die Haut der Prieste rinnen. »Das ist kein Dämon«, erklärte Yngoth, der sich vom Griff der Peitsche erhob, um auf Augenhöhe mit Quenthel zu gelan gen. Durch ihre ausholenden Schritte wippte sein keilförmiger, schuppiger Kopf unablässig auf und ab. »Nicht?« fragte sie. »Ist meine Feindin gekommen, um sich mir persönlich zu stellen?« Sie hoffte es. Da sie von ihren Untergebenen umgeben war, würde sich für Quenthel eine gute Gelegenheit ergeben, die arrogante Närrin zu vernichten. Aber leider war dem nicht so. Ihr Weg führte sie in die Ein gangshalle mit den Spinnenstatuen. Die armen, mitgenomme nen Türflügel hingen einmal mehr schief in den Scharnieren und standen offen. Diesmal jedoch war der Schuldige eine große, körperlose, leuchtende Hand. Ihre Finger waren geöff net, als wollten sie jemanden dazu bringen, stehenzubleiben. Ein schlaksiger Mann in einem viel zu weiten Umhang hatte hinter der durchscheinenden Manifestation Zuflucht gesucht vor den Speeren und Pfeilen, die einige der Priesterinnen auf ihn niederregnen ließen. Quenthel seufzte. Sie kannte den Narren, und er konnte unmöglich ihr unbekannter Widersacher sein. Er war in den
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letzten Tagen in der Stadt viel zu beschäftigt gewesen, um sich daneben noch den Attacken widmen zu können. Sie machte eine Geste mit der Peitsche, die alle Angriffe beendete. »Meister Mizzrym«, rief sie. »Ihr fügt Euren Verbrechen ein weiteres hinzu, indem Ihr dort einbrecht, wohin sich kein Mann ungebeten begeben darf.« Pharaun verbeugte sich tief, um seinen Gehorsam zu zeigen. Er wirkte außer Atem und, was für einen so berüchtigten Dan dy mehr als ungewöhnlich war, ausgesprochen zerzaust. »Herrin, ich bitte Euch um Verzeihung, doch ich muß mit Euch sprechen. Die Zeit drängt.« »Ich habe Euch nicht viel mehr zu sagen, außer Euch zu verdammen – was der Erzmagus längst hätte tun sollen.« »Tötet mich, wenn Ihr müßt.« Die riesige Hand hörte auf zu existieren, während er fortfuhr: »Angesichts meiner jüngs ten Sünden habe ich das halb erwartet. Aber hört Euch erst meine Botschaft an. Die Unterkreaturen rebellieren.« Quenthel kniff die Augen zusammen und fragte: »Hat der Erzmagier Euch mit dieser Nachricht hergeschickt?« »Leider«, erwiderte der Magier, »konnte ich ihn nirgends finden. Aber ich weiß, daß das etwas ist, was den höchsten Mitgliedern der Akademie mitgeteilt werden muß. Mir ist klar, daß sich niemand hätte träumen lassen, daß so etwas passieren könnte. Doch es ist passiert. Begebt Euch mit mir zum Rand des Plateaus und seht selbst.« Quenthel legte die Stirn in Falten. An sich war das Auftre ten Pharauns viel zu anmaßend, doch machte er den Eindruck, daß er es ernst meinte. »Nun gut«, gab sie zurück. »Aber wenn das ein kranker Witz sein soll, dann lasse ich dich dafür leiden.« »Herrin«, sagte Minolin, »er könnte Euch vielleicht in ...«
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Quenthel brachte die Närrin mit einem eisigen Blick zum Verstummen, dann wandte sie sich wieder Pharaun zu. »Führt mich hin, Meister Sorceres.« Tatsächlich mußte die Hohepriesterin nicht bis zum Ab hang gehen, um zu erkennen, daß etwas in der Stadt unter ihr nicht in Ordnung war. Der flackernde gelbe Flammenschein und der stinkende Qualm in der Luft machten ihr das bereits klar, als sie den spinnenförmigen Palast verließ. Ohne Rück sicht auf ihre Würde rannte sie zur Felskante, Pharaun folgte ihr. Unter ihr standen Teile Menzoberranzans in Flammen. Der Stein stand in Flammen ... aber wie war das möglich? Sogar der große Hügel der Baenre wies an der höchsten Stelle einen Punkt auf, der brannte und wie eine Quaste an einem Hut wirkte. Nachdem sich Quenthels Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, konnte sie vage den Mob erkennen, der in den Straßen und auf den Plätzen wütete. »Seht Ihr«, sagte Pharaun, »deshalb rannte ich durch die halbe Stadt und wich an jeder Ecke Plünderern aus, um Euch zu erreichen, meine Dame. Wenn Ihr mir die Bemerkung ges tattet: Die Situation ist viel schlimmer, als sie aussehen mag. Die Adligen haben bislang nicht einmal begonnen, die Stra ßen zurückzuerobern. Sie sitzen in ihren Anwesen fest, wo sie gegen die Goblins in ihrem Haushalt kämpfen. Daher schlage ich vor, daß Ihr ...« Der Magier war klug genug, den Mund zu halten, als er Quenthels Blick sah. »Wir werden Tier Breche mobilisieren«, sagte sie. »MeleeMagthere und Arach-Tinilith können kämpfen. Sorcere wird seine Anstrengungen dazwischen aufteilen, uns zu unterstützen und die Feuer zu löschen. Ihr werdet entweder meinen Bruder Gromph finden oder Ihr an seiner Statt agieren.«
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Pharaun verbeugte sich. Quenthel drehte sich um und sah, daß ihre Priesterinnen und Novizinnen ihr aufs Plateau gefolgt waren. Etwas an deren Verhalten ließ sie innehalten. »Meisterin«, sagte Viconia Agrach Dyrr, eine der höherran gigen Lehrerinnen, recht schüchtern, »es ist durchaus sinnvoll, wenn Melee-Magthere und Sorcere die Treppen hinabsteigen, aber ...« »Aber Ihr Damen habt Eure Magie verloren«, sagte Pha raun. Die Schwestern des Tempels gafften ihn an. »Ihr wißt das?« fragte Quenthel. »Sehr viele Männer wissen es«, erwiderte der Magier, in dessen Stimme ein Hauch von Ungeduld durchklang. »Es bringt nichts, wenn Ihr mich deswegen tötet. Ich werde später alles erklären.« Er sah die übrigen Klerikerinnen an. »Heilige Mütter und Schwestern, Ihr mögt Eure Zauber verloren haben, doch Ihr habt Eure Schriftrollen, Eure Talismane und den Rest der göttlichen Werkzeuge, die Euer Orden hortet. Ihr könnt mit Streitkolben umgehen, wenn es sein muß. Ihr könnt kämpfen.« »Wir haben zu viele Schwestern verloren«, sagte Viconia zu Quenthel. »Die Dämonen haben einige getötet, und Ihr, Her rin, habt durch die Anrufung der Spinnen viele weitere in den Tod geschickt. Wir wagen es nicht, die restlichen aufs Spiel zu setzen. Jemand muß überdauern, um die Geschichte weiter zugeben und die Rituale zu vollführen.« »Das ist viel zu optimistisch«, sagte Pharaun. Viconia warf ihm einen finsteren Blick zu. »Was ist zu op timistisch, Junge?« »Die Annahme, Ihr würdet verschont werden, wenn Ihr hier oben bleibt«, erklärte der Magier. »Vielmehr ist anzuneh
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men, daß die Orks, wenn sie unten triumphiert haben, die Stufen erklimmen werden, um hier oben ihre Verheerungen fortzusetzen. Ihr behauptet, Arach-Tinilith treu zu sein. Es wäre doch sicher ehrfürchtiger, sich den Unterkreaturen im Gewölbe entgegenzustellen, um ihnen nicht auch nur den Hauch einer Gelegenheit zu geben, Eure Schreine und Altäre zu schänden. Zudem wäre es außerdem die bessere Strategie, an der Seite von Verbündeten zu kämpfen, anstatt zu warten, bis sie vernichtet sind und Ihr auf Euch allein gestellt seid.« »Ihr seid schlagfertig, Magier«, konterte die Priesterin aus dem Hause Agrach Dyrr, »doch Ihr wißt nicht, ob unser Ein satz überhaupt erforderlich ist. Feuer und Flamme, das sind nur Goblins! Ich glaube eher, Ihr seid ein Feigling.« »Vielleicht«, sagte Quenthel. »Doch wie können wir es wa gen, um die Gunst der Dunklen Mutter zu bitten, wenn wir uns weigern, in der Stunde der Not die von ihr auserkorene Stadt zu verteidigen? Dann werden wir ihre Stimme sicher nie wieder hören.« »Herrin«, sagte Viconia und spreizte die Hände. »Ich weiß, wir können einen besseren Weg finden, um ihr zu gefallen, anstatt uns in den Straßen mit Ungeziefer abzugeben.« Quenthel hob ihre Armbrust und schoß ihrer Stellvertrete rin ins Gesicht. Viconia stieß einen erstickten Laut aus und taumelte zurück. Das Gift verfärbte ihr Gesicht bereits schwarz, noch ehe sie zu Boden gesunken war. »Ich dachte, ich hätte schon gezeigt, daß ich hier herrsche«, sagte die Baenre dann. Will noch jemand meine Befehle in Frage stellen?« »Wenn ja«, sagte Pharaun, »dann sollte sie sich darüber im klaren sein, daß ich auf der Seite der Herrin stehe und die Macht besitze, euch alle von diesem Plateau zu fegen.« Quenthel ignorierte den prahlerischen Magier und betrach
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tete ihre Untergebenen. Offenbar wollte sich niemand zu ihrer Frage äußern. »Gut«, sagte die Baenre. »Dann werden wir jetzt den Turm und die Pyramide alarmieren.«
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Von Quenthel angeführt stieg die Akademie einem großen Wasserfall gleich von Tier Breche herab. Einige Scholaren folgten ihr auf der Treppe, während andere sich an der Fels wand nach unten gleiten ließen. Andere, die über Magie ver fügten, die sie fliegen ließ, schossen wie Fledermäuse hinab. »Vielleicht möchte die Herrin einen Moment innehalten«, sagte Pharaun, der vor dem Abstieg noch Zeit genug gefunden hatte; um sich in sein Privatgemach zurückzuziehen, damit er sich das Gesicht waschen und sein Haar kämmen und neue Kleidung anziehen konnte. Er kehrte allein zurück und be hauptete nach wie vor, nichts über Gromphs Verbleib zu wis sen. »Dies ist ein geeigneter Punkt, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Wir befinden uns unterhalb der Rauch schicht, sind aber noch hoch genug für einen Überblick aus der Luft.«
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Da Gromph weiterhin unabkömmlich oder desinteressiert war, nahm der Mizzrym mit offensichtlichem Genuß den Platz des Erzmagiers ein. Es war ein Affront gegen das Haus Baenre und gegen den Erzmagier selbst. Dennoch hatte Quenthel den Befehl gegeben. Solange ihr Bruder nicht erreichbar war und die Krise anhielt, mußte sie jemanden haben, der für Sorcere sprach, und sie war sicher, es würde Gromph auf amüsante Weise ärgern, daß er bei einer so wichtigen Aufgabe von die sem Dandy ersetzt worden war. Sie blieb stehen, woraufhin all ihre Untergebenen abrupt hinter ihr anhielten und einander anrempelten. Die Peit schenvipern sahen sich um und betrachteten mit ihr zusam men die Stadt. Aus dem Augenwinkel sah sie Pharaun lächeln, als halte er das Verhalten der Schlangen für lustig. »Da«, sagte Quenthel hinabdeutend, »in Vielvolk. Es sieht so aus, als hätte das Haus Auvryndar die eigenen Sklaven niedergerungen. Aber das Haus wird von einem Mob bestürmt, der sie daran hindert, nach draußen zu kommen.« »Ich sehe es, Gesegnete Mutter«, erwiderte Malaggar Faen Tlabbar, der auf der Stufe hinter ihr stand. Das Erste Schwert Melee-Magtheres war ein fröhlich dreinblickender, rundge sichtiger Junge, der eine Vorliebe für grüne Kleidung und für Smaragde hatte. »Mit Eurer Erlaubnis, das könnte ein guter Ansatzpunkt sein. Wir leisten Entsatz und schließen die Auv ryndar unserer eigenen Armee an.« »So sei es«, erklärte Quenthel. Die Bewohner der Akademie erreichten den Boden der un teren Höhle, woraufhin die Lehrer – vor allem die Krieger aus der Pyramide – sich daran machten, die Schüler in Schwadro nen einzuteilen, wobei die Zauberwirker von Schwert- und Speerträgern beschützt wurden. Dann mußten sie in den Ein heiten etwas bringen, was wenigstens an eine Marschordnung
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erinnerte. Wie jede Prinzessin eines großen Hauses besaß Quenthel ein Mindestmaß an Wissen über militärische Fragen und beo bachtete die Versuche, Ordnung herzustellen, mit scheelem Blick. »Ich wünschte, ich hätte eine richtige Armee«, murmelte sie. Es hatte niemand hören sollen, doch Pharaun nickte. »Ich verstehe Eure Gefühle, Herrin, doch sie sind alles, was wir haben, und wenn wir sie gut ausgebildet haben, dann ha ben wir sicher eine Chance.« Er mußte husten. »Jedenfalls gegen die Sklaven.« »Was soll das heißen?« »Die größte Gefahr sind die Rauchwolken. Ich glaube, Syr zan hat sich allem Geschick zum Trotz verrechnet. Wenn die Magier, die wir oben gelassen haben, es nicht schaffen, die Flammen zu löschen, dann werden wir alle ersticken. Dann bleibt dem Alhoon nur die Herrschaft über eine Stadt der Toten. Dennoch müssen wir uns auf unsere vorrangige Aufga be konzentrieren und uns vom Rest nicht beunruhigen lassen.« »Was für ein Alhoon?« fragte sie. Pharaun zögerte. »Das ist eine wirklich lange Geschichte, Herrin, die zudem im Augenblick nicht von Bedeutung ist.« »Ich entscheide, was von Bedeutung ist und was nicht«, er widerte sie. »Sprich.« Ehe Pharaun anfangen konnte, sah sie, daß das Erste Schwert sich näherte, wohl um sie zu informieren, daß die Kompanie zum Vorrücken bereit war. Während sie losmarschierten, hörte sie sich die Geschichte des Magiers an, der ihr von dem Gedankenschinder und dessen Plänen für Menzoberranzan erzählte. Sie war sicher, daß er mehr wußte, aber nicht alles verriet, doch um das zu erfahren, konnte sie ihn später immer noch foltern.
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Die Straßen waren gesäumt von brutal ermordeten Drow, manche hatte man enthauptet, andere waren zum Teil ange fressen worden. Der Schein des Feuers vergoldete ihre toten Augen. Der intensive Blutgeruch wetteiferte mit der beißen den Schärfe des Rauchs. Natürlich hatte kein Drow etwas gegen das Spektakel eines gewaltsamen Todes einzuwenden, doch die Allgegenwärtigkeit verstümmelter Leichen in Kombination mit dem Schein der Flammen und dem ungewohnten Anblick von brennendem Stein ließ den Eindruck entstehen, Menzoberranzan selbst sei zu einer Hölle geworden. Das war zumindest für Quenthel beunruhigend. Die Herrin Arach-Tiniliths glaubte, wäre sie keine so starke Persönlichkeit gewesen, hätte sie wohl das Gefühl gehabt, sich durch einen Alptraum zu bewegen. Oder sie hätte das Blutbad als Beweis ausgelegt, daß Lolth sich für alle Zeit von Menzo berranzan abgewendet hatte. Doch sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie diesmal einem Feind entgegentrat, den sie sehen und vernichten konnte. Immer wieder stießen sie auf kleine Gruppen von Unterkre aturen, die plünderten, wehrlose Gemeine umbrachten oder sogar Steine und Pfeile auf die Kolonne abfeuerten. Die jünge ren Schüler wollten die Sklaven angreifen, doch die Lehrerin pfiff sie jedesmal zurück. Die Akademie mußte geeint auftreten und einem Plan folgen, wenn sie darauf hoffen wollte, den Sieg davonzutragen. Malaggar hob die Hand und bedeutete den anderen, stehen zubleiben. Ich glaube, wir sind ganz nah, signalisierte er in der Zeichen sprache der Drow. Sie blieben stehen, bis ein fliegender Späher, ein Bruder der Pyramide, dessen Umhang in der Lage war, sich in ein Paar
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Fledermausflügel zu verwandeln, bei ihnen landete und Bericht erstattete. Herrin, bedeutete Malaggar, darf ich vorschlagen, daß zehn Schwadronen geradeaus weitergehen, während die übrigen um diesen Häuserblock gehen! Auf diese Weise werden wir die Orks von zwei Seiten angreifen können. Sehr gut, erwiderte Quenthel, während ihr Blick über ihre Armee schweifte. Alle vom Kopf der Kolonne bis zur Einmündung der Gasse dort folgen mir. Der Rest geht mit Meister Faen Tlabbar. Jeder verhält sich so leise, wie es geht. Hände hoben sich in regelmäßigen Abständen weiter hin ten, um denen die Befehle weiterzugeben, die die Herrin nicht hatten sehen können. Die Kompanie teilte sich auf, dann schlichen Quenthels Truppen weiter, einem lärmendem Mob entgegen, der ihnen womöglich zahlenmäßig weit überlegen war. Zum Glück hat ten die Sklaven von der Ankunft der Akademie noch nichts mitbekommen, und sie beabsichtigte, diese Ahnungslosigkeit voll zu ihren Gunsten zu nutzen. Rasch brachte sie ihre Leute in eine unordentliche, aber brauchbare Formation und trug ihnen auf, geschlossen anzugreifen. Energie heulte und blitzte, brannte und verschlang Massen von Goblins. Blitze durchzuckten die Luft und durchbohrten Orks und Grottenschrate. Unterkreaturen fielen in Scharen. Doch nach der ersten Salve blieben immer noch Heerscha ren übrig, die sich den Gelehrten und den Schülerinnen wie rasend entgegenwarfen. Die Drow tauschten ihre Armbrüste rasch gegen Speere und Schwerter. Hinter den Reihen der Krieger hielten sich die Magier und Priesterinnen auf, um zu beobachten, was sich in dem wilden Gemetzel tat, damit sie ihre Zauber ausrichten konnten, ohne ihre eigenen Kameraden zu gefährden.
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Quenthel hätte sich auch hinter den Reihen der Kämpfen den aufhalten können – und als Hohepriesterin und Anführe rin hätte sie das vielleicht sogar tun sollen –, doch sie glaubte, sie könne die Entschlossenheit der Schüler im ersten und zwei ten Jahr stärken, wenn sie an der Front mitmarschierte. Au ßerdem wollte sie aus nächster Nähe töten und den Schmerz und die Angst in den Gesichtern ihrer Opfer sehen. Ihre Vi pern wanden sich und zischten, während sie sich ihren Weg zur Front bahnte. Blendend gelbes Licht blitzte und zuckte um sie herum, als sie mehrere Goblinoide tötete. Das magische Feuer konnte ihr nichts anhaben – ihre mystischen Abwehrmaßnahmen hielten ihm stand –, doch um sie herum kreischten Drow und Unter kreaturen gleichermaßen auf und gingen zu Boden. Einen Moment lang war jeder Überlebende in ihrer Nähe wie betäubt. Dann stürmten die Orks los, um durch die Lücken zu brechen, die die Flammen in die Linien der Drow gerissen hatten, und gleichzeitig rückten Scholaren vor, um die Lücken zu schließen. Niemand achtete auf die verkohlten Kameraden, über die sie hinwegtrampelten. Sie verfluchten sie höchstens, wenn sie ihretwegen stolperten oder den Halt verloren. Quenthel trat zurück, ließ einen Kriegerstudenten aus dem Hause Despana ihren Platz einnehmen und sah sich dann um, um die Quelle des Flammenstoßes zu entdecken. Sie hatte eine vage Ahnung, daß die Magie von oben über sie gekommen war, deshalb sah sie als erstes zu den höheren Stockwerken der Gebäude zu beiden Seiten. Überrascht blinzelte sie, als sie erkannte, daß Drinnen ech ten Arachniden gleich an den Wänden und steilen Dächern entlangliefen. Viele dieser entwürdigten Geschöpfe behielten ihre Fähigkeiten als Zauberwirker, und eines von ihnen mußte das Feuer beschworen haben.
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Quenthel konnte sich nicht vorstellen, wie die Sklaven und Ausgestoßenen sich hatten zusammenschließen können, doch ihr fehlte auch die Zeit, um über diese Frage nachzudenken. Sie mußte die Drinnen aufhalten, ehe die ihre Truppe von oben dezimieren konnten. Sie erhob sich durch die rauchver hangene Luft nach oben und hielt dabei Ausschau nach dem Magier, der die Flamme geschaffen hatte. Pfeile mit Widerhaken und Lichtblitze schossen aus allen Richtungen auf sie zu. Sie schirmte ihr Gesicht mit einem Stück ihres Piwafwi ab, und die Geschosse prallten ab oder lösten sich einfach auf, sobald sie auf die magischen Schutz schichten trafen. Die Treffer stachen zwar, verletzten sie aber nicht ernsthaft. Als sie weit genug aufgestiegen war, erkannte sie einige Ge sichter trotz der Fangzähne wieder. Es handelte sich um Drin nen, an deren Entstehung sie mitgewirkt hatte. Vielleicht erklärte das, warum sie sie trotz des unvermeidlichen Scha dens, den der Mob aus Orks nehmen würde, mit Magie bom bardierten. Sie entrollte eine weitere Schriftrolle und las den auslösen den Satz. Klingen nahmen zwischen den Drinnen vor ihr Ges talt an. Im nächsten Moment begannen sie, sich so schnell um eine Mittelachse zu drehen, daß sie unsichtbar wurden, wäh rend sie sich in die Körper ihrer Opfer schnitten. Die Klingen zerschnitten und durchbohrten die Halbspinnen, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren, bis von den Untieren nur noch Fleischfetzen und Blutspritzer übriggeblieben waren. Quenthel lachte und begann sich zu drehen, um sich den Drinnen zuzuwenden, die sich auf den Stalagmitengebäuden auf der anderen Straßenseite versammelt hatten. Etwas Langes, Klebriges schlug nach ihr und wickelte sich fest um ihren Leib, wobei ihre freie Hand an ihre Brust gedrückt wurde.
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Es waren Spinnweben. Sie wußte, daß manche Drinnen die se spinnen konnten. Als sie versuchten, sie zu fesseln, stieg sie ein Stück weiter auf und wehrte sich gegen den Zug wie ein Fisch, der an einem Angelhaken hing. Gleichzeitig versuchte sie angestrengt, eine weitere Schriftrolle zu fassen zu bekom men, auch wenn die Bewegungsfreiheit ihres Arms einge schränkt war. Die Vipern bissen in den Strang und waren be müht, ihn zu durchtrennen. Pharaun erhob sich auch über die kämpfende Menge. Weiße Blitze schossen aus seinen Fingerspitzen, die eine Drinne erfaß ten, von ihr auf die nächste übersprangen und von dort weiter, bis die zuckende, blendende Energie alle Halbspinnen mitein ander verband wie Perlen auf einer Schnur. Sie zuckten, bis die Magie ihre Wirkung verloren hatte, dann brachen sie zusam men. Von den Kadavern stieg stinkender Rauch auf. Pharaun lächelte Quenthel an und sagte: »Ich habe mich immer gefragt, warum Lolth unsere Ausgestoßenen nicht in etwas Harmloses verwandelt. Ich nehme an, Drinnen sind ein weiteres Werkzeug, um die Schwachen auszumerzen.« Quenthel ignorierte sein Gerede und spähte nach unten, um zu sehen, was sich auf dem Schlachtfeld abspielte. Malaggars Trupp war eingetroffen und bohrte sich in die Flanke des Feindes. Praktisch im gleichen Moment öffneten die Auvryndar die Tore und kamen auf ihren Echsen angeflo gen. Mit verbissener Miene zog Quenthel sich die zähe Masse vom Leib und schwebte zu Boden, damit sie sich wieder unter ihre Truppen mischen konnte. Ohne auf die Pfeile der Feinde zu achten, schwebte Pharaun weiter über den Köpfen der Kämpfenden, da es von dort viel einfacher war, seine Magie treffsicher einzusetzen. Die Schüler brauchten nur wenige Minuten, um die
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Goblins von drei Seiten zugleich zu bestürmen, die unter der Wucht des Ansturms zusammenbrachen. Quenthel ließ ihre Truppen sich ein paar Minuten lang er holen, dann formierten sie sich neu und marschierten weiter, um in die Schlacht zu ziehen, die nur die nächste von die Göt tin weiß wie vielen noch sein würde.
»Raus!« brüllte Greyanna. »Sofort!« Der Kanubauer sah sie verblüfft an und stotterte: »A-aber w-was ist mit meinem Vorrat?« Die Gegenstände, die er meinte, lagen auf dem Boden der Werkstatt oder waren an der Decke festgemacht. »Die Goblins werden sie zerstören«, erwiderte die Prinzes sin. »So!« Mit einem Schlag ihres Streitkolbens zerschmetterte sie das halb fertiggestellte Kajak, eine zerbrechlich aussehende Konstruktion aus gebogenen Rippenknochen und Haut. »Spä ter kannst du neue bauen, aber nur, wenn du überlebst! Jetzt beweg dich, sonst töte ich dich persönlich!« Der Handwerker sprang von seinem Hocker, dann schob Greyanna ihn aus dem Raum. Auf der Straße war ihr halbes Dutzend Untergebener damit beschäftigt, die Eigentümer der anderen Werkstätten und Geschäfte nach draußen zu scheu chen. Ein Mob haariger Hobgoblins, die alle schwer bewaffnet und größtenteils einen Kopf größer waren als ein durchschnitt licher Elf, schlichen um eine Ecke in die Gasse. Sie entdeckten die Drow, stießen ihre absonderlichen Schlachtrufe aus und stürmten los. Nach der verheerenden Begegnung mit Ryld Argith war ei ner der Zwillinge tot, der andere sowie Relonor waren schwer verletzt und lagen nach wie vor im Haus Mizzrym im Bett.
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Ohne auf weitere Dosen heilender Magie zurückgreifen zu können, da Miz’ri sich geweigert hatte, die begrenzten Vorräte des Hauses für so unfähige Personen zu verschwenden, konnte niemand sagen, ob sie überleben oder sterben würden. Grey anna hatte sich Miz’ris Ansicht angeschlossen. Nachdem sie die Verletzten nach Hause gebracht hatte, war Greyanna mit fragwürdiger Unterstützung Aunraes daran ge gangen, fünf andere Männer auszuwählen, die sie auf ihrer Jagd begleiten sollten. Diesmal würden sie Pharaun zu Fuß verfol gen, nachdem Greyanna zu der späten Einsicht gekommen war, daß Flugscheusale ihr kein Glück zu bringen schienen. Sie und ihre Bande waren auf den Straßen unterwegs gewe sen, um nach ihrer Beute zu suchen, als auf einmal die Rebelli on ausgebrochen war. Nachdem sie das Ausmaß der Unruhen erfaßt hatte, hatte sie sich gefragt, ob der Überfall im Braeryn, den sie inszeniert hatte, um ihren Bruder aus seinem Versteck zu locken, die Sklaven zu einer Revolte veranlaßt hatte. Auf eine verrückte, finstere Weise fand sie diese Möglichkeit amü sant, doch sie beschloß, niemanden in ihre Hypothese einzu weihen. Sie würde wohl kaum jemanden finden, der diesem Aufstand einen witzigen Aspekt abgewinnen konnte. Vor allem aber kreisten ihre Gedanken um praktische Erwä gungen. Sie glaubte, ihre Jagdgruppe könne mithelfen, die Unterkreaturen zu schlagen, jedoch nur, wenn sie sich mit einer richtigen Armee zusammenschlossen. Sonst würde der Mob sie überrennen. In den ersten Minuten des Mordens und Vernichtens hatte sie nach einem adligen Clan Ausschau gehalten, der aus einer Burg kam und Goblins vor sich hertrieb. Zu ihrer Verwirrung geschah das aber nicht, jedenfalls nicht in ihrer Nähe. Ihr kleiner Trupp war auf sich gestellt. Das Leben wurde zu einer ärgerlichen Mischung aus Flucht
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und Verstecken, und das auch noch vor Orks. Tatenlos mußte sie mitansehen, wie Bestien, die nicht besser waren als Rothé, Schönheit und Anmut zerstörten, die sie nicht einmal als solche begriffen. Hier und da zerschlugen Greyanna und ihre Gefährten kleinere Trupps Goblinoider, die von den anderen getrennt umherstreiften. Doch das half nicht, den Zerfall des Schönsten auf der ganzen Welt zu stoppen. Wo war Lolth? Vielleicht empfand sie ihr prachtvolles Spielzeug namens Menzoberranzan als langweilig. Vielleicht wollte sie es zerstören, um Platz für etwas Neues zu schaffen. Nach einer Weile erreichte Greyanna eine Straße, die sie wiedererkannte. Es war eine doppelte Reihe aus gutgehenden Geschäften – genau genommen waren es Läden, deren Eigen tümer unter dem Schutz des Hauses Mizzrym standen. Sie war oft hiergewesen, hatte Mieten und Gebühren eingetrieben und manchmal einen Narren bestraft, der sich mit der Rückzahlung eines Darlehens verspätet oder Muttermatrone Miz’ri ander weitig verärgert hatte. Greyanna wurde bewußt, daß die Händler kein Gold mehr zu den Schätzen der Mizzrym beisteuern konnten, wenn sie in den Unruhen umkamen. Wenn sie sie dagegen in Sicherheit geleitete, könnte sie in der Gunst ihrer Mutter steigen. Miz’ri war ungeduldig geworden, da es ihrer Tochter nicht gelingen wollte, Pharaun zu töten. Sie hatte sogar angedeutet, eine andere könnte den Titel der Ersten Tochter mit mehr Würde tragen. Das Hab und Gut Mizzryms zu wahren verschaffte ihr zu mindest das Gefühl, etwas Sinnvolleres zu tun, als einfach nur umherzuschleichen. Also wies Greyanna ihre Leute an, die verängstigten Händler und Kunsthandwerker aus ihren Häu sern zu holen. Sie feuerte auf die Hobgoblins, und ihre Soldaten taten es
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ihr nach. Ihr Magier beschwor einen kalten, hochaufragenden Schatten, der an die Silhouette einer Gottesanbeterin erin nerte und zahlreiche Knechte mit überdimensionalen Greif zangen zermalmte, ehe er sich wieder auflöste. Insgesamt fiel mindestens ein Dutzend der Bestien, aber andere schritten durch den Rauch und feurigen Schein, um deren Platz einzu nehmen. Bei den Stimmen der Qual, dachte sie, wie viele Unterkrea turen sind hier in Menzoberranzan? Bis zu diesem Tag war das Greyanna nie bewußt gewesen. Sie vermutete, daß es den anderen genauso erging. Die Hobgoblins kamen näher. »Dunkle Mauer!« schrie die Mizzrym-Prinzessin. Drei ihrer Leute, die der vorrückenden Meute am nächsten standen, bückten sich und berührten den Boden, woraufhin ein undurchdringlicher Schatten zwischen ihnen und den Unterkreaturen entstand. Dann wichen sie zurück. Einer der Mizzrym-Krieger trieb die Händler an, sich von der Gefahr zu entfernen. Der Rest – darunter Greyanna – kam zusammen und bildete eine Linie an einer engen Stelle, die drei Schritte hinter der undurchsichtigen Barriere gelegen war. Die Prinzessin zog eine kleine Silberphiole aus dem Beutel an ihrem Gürtel und schluckte den bitteren, lauwarmen Inhalt. Sie schüttelte und krümmte sich, als sich ihre Muskeln ver krampften, doch dann wich das unangenehme Gefühl krib belnder Wärme. Hobgoblins durchschritten die Finsternis. Sie lebten schon zu lange unter Drow, um sich von diesem Trick länger als ein paar Sekunden aufhalten zu lassen. Zumindest aber hatte der alle Sicht raubende Schleier sie davon abgehalten, in einer halbwegs geordneten Formation vorzurücken. Sie schrien und stürmten in einer formlosen, von
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Lücken durchsetzten Welle voran, die trotz allem tödliche Wirkung hatte. Der erste Hobgoblin, der sich Greyanna zuwandte, war be sonders groß und in krassem Gegensatz zu seinen Gefährten von den Schultern an aufwärts unbehaart. Offenbar war der Sklave von seiner Herrin oder seinem Herrn enthaart worden, um die Leinwand für ein Kunstwerk vorzubereiten, da hunder te winziger runder Brandnarben in einem komplexen Wirbel muster auf seinem Nacken angeordnet waren. Der Sklave holte nach Greyannas Kopf aus. Unter ande ren Umständen hätte sie sich zurückgezogen, doch damit wäre sie aus der Verteidigungslinie ausgebrochen. Sie wünsch te sich, einen Schild zur Hand zu haben, während sie den Streitkolben hob, um den Schlag zu parieren. Das Breit schwert des Hobgoblins traf das steinerne Heft ihrer Waffe und prallte ab. Sofort konterte sie mit einem Hieb in die Flanke, und die Unterkreatur riß den Schild hoch, um ihre Attacke abzuweh ren. Der Treffer schlug eine Beule in den runden Schild aus Stahl und ließ den Hobgoblin zurücktaumeln, der vor Überra schung seine schrägstehenden Augen aufriß. Greyanna führte den nächsten Schlag seitwärts und tötete den Sklaven, der ihren Nebenmann bedrohte. In der Zwi schenzeit hatte sich ihr eigentlicher Gegner wieder genähert. Eine Sekunde lang ragte er über ihr auf, dann täuschte er eine Attacke zur Flanke an, versuchte aber, eigentlich seine Klinge in ihre Brust zu jagen. Greyanna erkannte, welche Gefahr ihr drohte, machte einen halben Schritt in den Bogen seines An griffs und holte gegen seinen Kiefer aus. Sie landete einen Volltreffer, der den Hobgoblin mit zerschmettertem Kinn und gebrochenen Genick zurückschleuderte. Sie tötete zwei weitere, als sie auf einmal etwas an ihrem
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Schienbein spürte: ein Stechen und Stoßen, das ihren Stiefel aber nicht durchdringen konnte. Sie sah nach unten, und es war ein mit einem Schürhaken bewaffneter Kobold, der offen bar zwischen den Füßen der größeren Sklaven umhergehuscht war. Greyanna tötete den reptilienartigen Kobold mit einem einzigen Tritt. Sie hielt Ausschau nach ihrem nächsten Gegner, schien a ber keinen mehr zu haben. Der Kampf war vorbei, die wenigen überlebenden Hobgoblins traten die Flucht an. »Formation!« schrie sie. »Ich will eine Kolonne, die Händ ler in die Mitte! Los!« Als sich die ungewöhnliche Prozession auf den Weg ge macht hatte, fragte Aunrae, die neben Greyanna ging: »Darf ich fragen, wohin wir gehen? In die Burg eines Verbündeten?« »Nein«, erwiderte Greyanna. »Ich vermute, wir würden nirgends eingelassen werden. Wir verstecken unsere Schützlin ge in Bauthwaf.« Die Kolonne schlich an Leichen und brennendem Stein vorbei; auf dem Weg zur Höhlenwand schlossen sich ihnen Gemeine an, die aus ihren Häusern kamen. Greyannas erster Impuls war, die fortzuschicken, die nicht mit dem Haus Mizz rym verbunden waren, doch dann besann sie sich eines Besse ren. Viele Neuankömmlinge trugen Schwerter, und notfalls konnte sie diese Tölpel dazu veranlassen, sich an der nächsten Auseinandersetzung zu beteiligen. Hin und wieder brach einer aus der Gruppe zusammen, da der stechende Rauch ihn vergiftet hatte. Die anderen stiegen über den Kollabierten hinweg und eilten weiter. Jemand stieß einen schwachen, hellen Schrei aus, als habe ihn ein unerwarteter Schmerz ereilt. Greyanna wirbelte her um. Die Goblins griffen sie nicht an. Vielmehr hatte der Ka nubauer die Gelegenheit genutzt, einem anderen Mann ein
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Messer in den Rücken zu jagen.
»Ein Mitbewerber«, erklärte der Handwerker.
In der labyrinthgleichen Festung, die als der große Hügel be kannt war, befand sich eine Reihe magisch versiegelter Berei che, so unglaublich das auch war, wo doch die rebellierenden Sklaven überall sonst eindrangen. Die Baenre bekämpften die Goblinoiden in den Stalagmiten-Türmen, auf den Brücken, die sie miteinander verbanden, und in den Stollen darunter. Sogar auf den Balkonen und den Emporen der StalaktitenBastionen vergossen sie ihr Blut, um ihre Eigentum Zentimeter für Zentimeter zurückzuerobern. Die Knechte kamen auf dem Hof, einem großzügigen Areal, das von einem Eisengitter in Spinnwebform umgeben war, zu ihrem letzten Aufgebot zusammen. Diese Barriere war eine mächtige magische Verteidigung, die, wie die Baenre soeben hatten feststellen müssen, keinerlei Nutzen hatte, wenn sich der Gegner bereits in der Anlage befand. Triel schwebte von einer der Festungsmauern herab, um sich in den letzten Kampf einzumischen. Jeggred, der seit Be ginn der Gefechte an ihrer Seite war, folgte ihr nach unten. Sowohl die Mutter als auch der halbdämonische Sohn waren mit Blutspritzern übersät, von denen kein einziger von ihnen selbst stammte. An sich hätte Triel die Aufgabe, den Hof zu leeren, ihren Kriegern überlassen können, doch es machte ihr zuviel Spaß, das selbst in die Hand zu nehmen. Zum einen war es die pure Blutlust der Drow, zum anderen bevorzugte sie ein direktes, unmittelbares Handeln, wenn es darum ging, Goblins abzu schlachten. Dieses Gefühl vermißte sie immer wieder bei der komplexen Aufgabe, die Stadt zu regieren. Zum ersten Mal,
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seit sie ihrer Mutter auf den Thron nachgefolgt war, hatte sie das Gefühl, genau zu wissen, was sie tat. Ein halbes Dutzend Minotauren, formidable Biester, die sie oft als ihre Leibgarde eingesetzt hatte, skandierten »Freiheit! Freiheit!«, während sie ihre Äxte schwangen oder sich bück ten, um einen Feind mit den Hörnern zu forkeln. Triel las die letzte Zeile aus Runen auf ihrer Schriftrolle, die zu Beginn der Rebellion noch sieben Zauber enthalten hatte. Blendende Flammen schossen unter den Hufen der Mino tauren empor. Vier der großen Kreaturen fielen schreiend und um sich schlagend um, die beiden anderen retteten sich durch einen Sprung vor dem Feuer, entkamen aber nicht ganz unver sehrt. Die Flammen brannten Teile ihres zotteligen Fells weg und versengten das Fleisch darunter, doch diese Verletzungen hielten sie nicht auf. Sie brüllten und rückten vor. Ein Minotaurus überragte einen Drow von normaler Statur und ließ Triel wie einen winzigen Feengeist aussehen. Den noch lächelte sie, als sie vortrat, um sich ihrem Widersacher zu stellen. Einer der Sklaven konzentrierte sich auf sie, ein ande rer auf Jeggred. Die Muttermatrone wußte, daß ein Minotaurus seinen Geg ner gern mit der Vorwärtsbewegung seines ersten Ansturm überwältigte. Sie wartete, bis er sie fast erreicht hatte, dann trat sie einen Schritt zur Seite. Er war schon zu schnell, um noch zu stoppen oder um ihr zu folgen. Sie donnerte ihren Streitkolben gegen sein Knie, als er an ihr vorbeieilte. Der Sklave fiel bäuchlings zu Boden, und sie nahm ihm die Möglichkeit, seine Gliedmaßen weiter zu benutzen, indem sie mit einem heftigen Schlag sein Rückgrat zertrümmerte. Un terdessen kaute Jeggred auf dem Hals seines Gegners herum, während er dessen Torso aufschlitzte und die Eingeweide her ausholte.
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Danach töteten Triel und der Draegloth noch mehrere Gnolle, bis ihnen die Gegner ausgingen. Keuchend schritt die Baenre zum Fuß einer Wand und schwebte weit genug nach oben, um jenseits der Anhöhe von Qu’ellarz’orl auf die bren nende Stadt zu blicken. Wiederum folgte Jeggred ihr. Als sie zum ersten Mal gemerkt hatte, daß die Sklaven in Menzoberranzan rebellierten, hatte sie einen bestimmten ma gischen Diamanten eingesetzt, um die Männer Bregan D’aerthes aus ihrem geheimen Versteck kommen zu lassen. Die Söldner waren am Werk. In einem Viertel im Süden wimmelte es von Goblins. Selbst vom großen Hügel aus konnte sie die Bewegungen in den Straßen erkennen. Doch dann, innerhalb nur weniger Sekun den, kamen die Bewegungen zum Erliegen. Offenbar waren alle Kreaturen auf einen Schlag gestorben. Es war für eine Massentötung eine außergewöhnliche Leis tung, doch die Söldner hatten nur in einem kleinen Teil Men zoberranzans wieder für Ruhe gesorgt. Sie konnten nicht aus eigener Kraft die ganze Stadt zurückerobern, sofern das über haupt noch möglich sein sollte. Triel schrie jedem Offizier in Rufweite im Hof drunten zu: »Versammelt meine Truppen! Wir machen einen Ausfall!«
Jeggred fand vor Freude keine Worte mehr. Das war in seinem jungen Leben die beste Nacht gewesen. Er war vom Töten berauscht. Wieder und wieder hatte er gemordet und dabei eine Ekstase erfahren, die seine Folterung Faeryl Zauvirrs völlig verblassen ließ. Und seine Mutter sagte, es sei noch nicht vorbei! Sie wür den in die Stadt hinabsteigen, um weiter zu morden! Jeggred würde die übersinnlichen Wonnen eines Teufels erfahren. Das
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einzig schwierige würde sein, immer daran zu denken, jeden zu töten, bloß keine Drow. Mit einer seiner kleineren, zuckenden Hände drückte er Triels Schulter.
Valas Hune schlich um eine Ecke, dann kniff er die Augen zusammen. Eine Feste versperrte an einer Stelle die Straße, wo sich keine Bastion hätte befinden sollen – und dann bewegte sich das Ding! Nein, es war keine Feste, sondern der größte Steinriese, den er je zu Gesicht bekommen hatte. Der Späher wußte, daß manche Häuser neben den üblicheren Goblinoiden und Ogern auch Riesen als Sklaven hielten. Dieses Exemplar, das im Feu erschein grau wirkte, das einen langen Kopf und schwarze, tiefliegende Augen hatte, trug noch Handfesseln, an denen Teile einer zerrissenen Kette baumelten. Irgendwo hatte das Wesen eine zweihändige Axt gefunden, die zu seinen Dimen sionen paßte, und schlug jeden Drow zu Brei, den es entdeckte. Valas war von seinen Kameraden getrennt worden. Das war nicht schlimm. Er war daran gewöhnt, allein durch wüste Ge genden zu reisen, auch wenn er zugeben mußte, daß er noch nie einen Tunnel erlebt hatte, der auch nur annähernd so gefährlich und unberechenbar gewesen war, wie Menzoberran zan es in dieser Nacht war. Er hatte zunächst mit seinem Bogen Orks und Gnolle getö tet. Als ihm die Pfeile ausgegangen waren, war er zu seinen Kukris übergegangen. Er hatte geglaubt, wirklich Fortschritte zu machen, bis er auf dieses Ding gestoßen war. Der Anblick war entmutigend, doch die großen Unterkrea turen mußten genauso ausgelöscht werden wie die kleinen, wenn Menzoberranzan überleben und Bregan D’aerthe für
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seine Dienste bezahlt werden sollte. Valas legte eine Fingerspitze auf den neunzackigen Blech stern, der an seinem Hemd hing. Dann murmelte er ein Wort, das von einer Rasse stammte, von der noch kein Menzoberran zanyr je gehört hatte. Im nächsten Augenblick hockte er auf der Schulter des Steinriesen. Dessen Oberfläche war glatt und abgerundet, und sofort be gann Valas zu rutschen. Doch als erfahrener Bergsteiger verla gerte er sofort sein Gewicht und fing sich augenblicklich. Er kletterte in die Nähe des Halses und begann, mit beiden Kukris auf die Arterien am Hals des Behemoth zu schlagen – jedoch ohne Ergebnis. Da er leicht schräg stand, konnte Valas seine Kraft und sein Gewicht nicht in vollem Umfang zu sei nem Vorteil nutzen. Der erste Schlag prallte wirkungslos von der steinernen Haut des Riesen ab. Der Behemoth nahm allerdings von dem Schlag Notiz. Er riß den Kopf herum, wobei er mit dem Kinn Valas beinahe abgeworfen hätte. Während der Riese ihn anstarrte, schlug Valas wieder zu, diesmal mit mehr Erfolg. Von zuckenden Blit zen umspielt spaltete seine magische Waffe die Unterlippe des Sklaven. Der schrie vor Wut und Schmerz, ein Laut, den Valas bis in die Knochen spürte. Der Steinriese riß den Kopf herum, gleich zeitig hob er eine seiner gewaltigen grauen Hände, um der Drow zu packen, der sich weiter vorwärts bewegte und auf der Nacken des Kolosses einschlug. Dunkles, dickes Blut schoß aus der Wunde und spülte Valas fort, der schwer auf einem Dach aufschlug und zusah, wie der Gigant ins Wanken geriet. Er preßte seine Hände an seiner Hals, doch nach ein paar Schritten fiel er nach hinten und begrub einige Hobgoblins unter sich, die das Pech hatten, sich gerade in seiner Nähe aufzuhalten.
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Gromph war schlecht gelaunt, als er an der Felswand entlang nach oben schwebte. Er hatte wie immer Licht in den Fuß von Narbondel gewirkt, doch diesmal war völliger Wahnsinn über die Welt hereingebrochen. Orks tauchten wie aus dem Nichts auf und griffen seine Wachen an. Seine eigenen Oger, die die Sänfte getragen hatten, warfen spontan sein luxuriöses Trans portmittel zu Boden und schlossen sich dem Aufstand an. Der Erzmagier hatte versucht, die Unterkreaturen mit ei nem Zauber zu töten, doch nichts geschah. Jemand hatte um ihn herum eine magisch tote Zone geschaffen. Entweder war einer der Orks ein Schamane, der stark genug war, um einen solchen Effekt zu erzielen, oder eines der Untiere hatte seinem Besitzer einen Talisman entwendet – was er für wahrscheinli cher hielt. Wie immer sie es auch geschafft hatten, die Bestien waren hinter ihm her. Die Zauber in Gromphs Gedächtnis stellten für den Moment nichts weiter dar als merkwürdige kleine Reime. Sein Gewand und der Umhang waren bloß dünner Stoff, und seine Waffen bestanden aus nutzlosen Stäben und Amuletten. Vermutlich waren sie nicht alle nutzlos, doch er war nicht abgebrüht genug, um stehenzubleiben und zu experimentieren, wenn die Orks ihn mit ihren langen Klingen attackierten. Er stellte seine Würde zurück, drehte sich um und rannte los. Die Anstrengung ließ seine Brust an der Stelle pochen, an der K’rarza’q ihn verletzt hatte. Als er den Rand des Platzes erreichte, vermutete er, die tote Zone hinter sich gelassen zu haben. Das sollte auch besser der Fall sein, weil er hinter sich das Grunzen der Orks hörte, die mit ihren langen Beinen keine große Mühe hatten, ihn einzu holen. Er drehte sich um, richtete einen Stab auf seine Verfol
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ger und zischte das Kommandowort. Ein Tropfen Flüssigkeit schoß aus der Spitze des Stabes und traf den vordersten Oger an der Brust, wo sich der Tropfen zu einem beachtlichen Säureklecks ausdehnte. Da seine Magie wiederhergestellt worden war, löschte Gromph jeden Angreifer aus, der nicht klug genug war, die Flucht zu ergreifen. Seine Begleiter, allesamt Drow, waren bereits tot, so daß er sich allein auf den Rückweg nach Tier Breche machen mußte. Wie sich bald herausstellen sollte, war die Rebellion der Sklaven allgegenwärtig, was den Heimweg nicht einfach ges taltete. Er überlegte, ob er sich in einer Burg oder einem Haus verstecken sollte, doch als er die Flammen sah, die den Stein wegfraßen, wußte er, daß er weiterziehen mußte. Verdreckt, verärgert und hustend erreichte er sein Zuhause, und als er über die Kalksteinmauer schwebte, sah er etwas, das seine Laune wenigstens ein bißchen besserte. Acht Meister Sorceres standen singend und gestikulierend auf einer Freifläche, um ein Ritual zu initiieren, während eine gleiche Anzahl Schüler ihnen dabei zusah. Die Magier hatten einen Großteil der erforderlichen Ausrüstung aus dem Turm geholt. Wenigstens etwas, dachte Gromph, aber diese Beschwörung ist ein nutzloses Durcheinander. Der Baenre streckte die Hand aus, um sich auf festen Un tergrund zu ziehen und fiel dabei auf Hände und Knie, ein weiterer ärgerlicher Affront gegen seine Würde. Er stand auf und rief: »Schluß!« Die Lehrer und Schüler drehten sich um und sahen ihn un gläubig an. Der Gesang verstummte. »Erzmagier!« schrie Guldor Melarn. Angeblich war er auf dem Gebiet der elementaren Magie ohnegleichen, doch davon
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war seiner Leistung an diesem Abend nichts anzumerken. »Wir waren besorgt!« »Das glaube ich«, erwiderte Gromph. »Das erklärt auch all die Streifen, die in der Stadt nach mir suchen!« Guldor schluckte. »Herr, die Herrin der Akademie befahl ...« »Schweigt«, sagte Gromph. Er war nahe genug herange kommen, um zu sehen, daß die Lehrer in einem komplexen Pentagramm standen, das in rotem Phosphor auf den Grund gezeichnet war. »Erbärmlich.« Er streckte den Zeigefinger aus und schrieb etwas in die Luft. Die magischen Worte und die Sigeln veränderten darauf hin ihre Form. »Erzmagus«, rief Meister Tiefengang. »Wir haben diesen Kreis gezeichnet, um die Feuer zu ersticken. Wenn Ihr ihn brecht ...« »Ich breche ihn nicht«, sagte Gromph. »Ich korrigiere ihn.« Er sah einen der Schüler an, irgendeinen gemeinen Ju gendlichen. Der Tölpel zuckte zusammen, als er in die Augen des Erzmagiers sah. »Bring mir etwas Pelz, einen Bernsteinstab und einen kleinen bronzenen Gong, wie ihn die Köche benut zen, wenn sie zum Essen rufen. Los!« »Erzmagier«, warf Guldor ein »seht, wir haben für die Feu ermagie bereits alle erforderlichen Foki hier.« Er wies auf eine Brennschale voller rotglühender Kohlen. »Ich flüstere den Flammen unten zu und befehle ihnen, zu erlöschen.« »Damit sorgst du nur für noch mehr Qualm. Den brauchen wir ja auch.« Gromph trat die Kohlenpfanne um, die Glut verteilte sich auf dem Steinboden. »So geht das nicht, Ele mentarist. Ich sollte dich für einige Dekaden in die Reiche, die die Sonne sehen, verbannen. Vielleicht kommst du dann dar auf, was nötig ist, um ein Feuer dieser Größe zu löschen.«
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Der Junge kam mit den Dingen zurück, um die Gromph ihn geschickt hatte. Der Baenre flüsterte ein Zauberwort, und prompt nahm das rote Pentagramm eine blaue Färbung an. »Gut denn«, sagte er an die Magier gewandt. »Ich nehme an, jeder von euch weiß, wo er zu stehen hat, also nehmt eure Position ein, damit wir beginnen können. Ich spreche einen Satz, ihr wiederholt ihn. Macht meine Gesten nach, wenn ihr könnt.« Für einen gut ausgebildeten Magier war der Umgang mit Magie normalerweise eine einfache Sache. Er verließ sich dabei auf ein Arsenal an Zaubern, von denen viele von seinen Vorgängern entwickelt worden waren und von denen er mögli cherweise ein paar selbst entwickelt hatte. Jedenfalls handelte es sich um perfektionierte Zauber, die er in vollem Umfang verstand. Er wußte, daß er sie wirken konnte, und er wußte, was geschah, wenn er es tat. Ein Ritual aus dem Stegreif war eine ganz andere Angele genheit. Dabei mußte sich ein Kreis aus Magiern auf sein arka nes Wissen und seine natürlichen Fähigkeiten verlassen, um aus dem Nichts einen neuen Effekt zu schaffen. Oft geschah gar nichts, und wenn doch, wandte sich die Kraft in vielen Fällen gegen die, von denen sie erschaffen worden war, oder entlud sich auf eine andere Weise, die ihren Absichten entge genlief. Doch von Zeit zu Zeit funktionierte eine solche Zere monie, und da sein Status, sein Reichtum und seine Heimat auf dem Spiel standen, war Gromph entschlossen, daß es dies mal eine von diesen Zeiten sein sollte. Nachdem die Magier gut fünfzehn Minuten lang gesungen hatten, begann in der Luft Energie zu knistern und zu zucken. Der Erzmagier schlug den Gong, der einen klirrenden, schauer lichen Ton verbreitete. Sofort antwortete eine gewaltigere Note und überdeckte das erste Geräusch mit einem dröhnen
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den, ohrenbetäubenden Grollen. Gromphs Untergebene zuck ten zusammen, doch er lächelte zufrieden. Das Geräusch war Donner. Von hoch oben in der Seitenhöhle hatten die Bewohner Sorceres einen hervorragenden Blick auf das, was sich dann abspielte. In der Luft an der Decke des großen Gewölbes, an der sich bereits dichter Rauch gesammelt hatte, nahmen wei tere Wolken Gestalt an. Die formlosen Schatten flackerten wie durchscheinende Drachen, in deren Bauch Flammen zün gelten. Nach jedem Blitz brüllten sie diesen göttergleichen, hämmernden Donnerschlag heraus, als trieben die Flammen sie an. Gromph wußte, daß viele in der Stadt keine Ahnung hat ten, was sich abspielte. Es war sogar denkbar, daß einige seiner gelehrten Kollegen nicht wußten, was los war. Doch das war egal, denn Wolken, Blitz und Unwetter statteten den bis dahin stets gleichbleibenden Tiefen des Unterreichs einen Besuch ab. Die Wolken ergossen wie auf Kommando immense Wasser massen über die Stadt, die als eiskalte Schleier niederprassel ten. Der Baenre hörte ein Zischen, als die Regentropfen gegen die Höhlenwände klatschten. »Beeindruckend«, sagte Guldor. »Aber seid Ihr sicher, daß es die Flammen ersticken wird? Es ist immerhin magisches Feuer.« Gromphs Verletzung ließ ihn zusammenzucken. »Ja, Lehrer«, knurrte er, »und zwar, weil ich kein inkompe tenter Narr aus einem bedeutungslosen Haus bin. Ich bin ein Baenre, und ich bin der Erzmagier von Menzoberranzan ... und ich bin sicher!«
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Noch bevor alles vorbei war, verlor Pharaun die Übersicht, wie viele Gefechte er und seine Kameraden ausgetragen hatten. Er wußte nur, daß sie alle gewannen, vor allem, weil ihre Takti ken überlegen waren. Trotz ihrer Verluste wurden sie immer zahlreicher, da andere Garnisonen zu ihnen stießen, die sich den Weg aus den Burgen freigekämpft hatten. Hin und wieder gelangten sie in einen Stadtteil, in dem die Ruhe bereits wiederhergestellt worden war. Zwar bekam er sie nie zu Gesicht, dennoch wußte Pharaun, daß Bregan D’aerthe parallel zu seiner Kompanie tätig war. In einer so düsteren und unerfreulichen Nacht bedeutete das einen ge wissen Trost. Dann traf die Armee Tier Breches auf eine gleichermaßen beeindruckende Streitmacht, die dem Kommando der Oberin der Baenre unterstellt war. Die beiden Kompanien schlossen sich zusammen und marschierten gen Narbondellyn, wo etli che Grottenschrate mit einem gewissen Maß an Kampferfah rung versucht hatten, Tausende von Unterkreaturen so zu organisieren, daß sie in der Lage sein sollten, dem Zorn ihrer Herren zu widerstehen. Die große Steinsäule von Narbondel strahlte über einem wilden, chaotischen Kampf. Doch plötzlich setzte in den obe ren Regionen der Höhle ein Sturm ein, der Pharauns ärgste Befürchtungen besänftigte. Eine Stunde später stürmten die Drow vor, löschten die feindliche Armee aus und eroberten damit ihre Heimat zurück. Später ging der Magier im strömenden Regen mal hierhin, mal dorthin. Nasse Strähnen klebten auf seiner Stirn, seine Stiefel glucksten bei jedem Schritt. Als Magier mußte er ein gestehen, daß das Unwetter eine große Leistung gewesen war, ganz abgesehen davon, daß es für Menzoberranzan die Rettung gebracht hatte, aber es war schade, daß seine Kollegen keinen
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Weg gefunden hatten, diese Tat zu vollbringen, ohne jeden bis auf die Haut mit eiskaltem Regenwasser zu durchnässen und so massiv jede noch so sorgfältig gekämmte Frisur zu ruinie ren. Der Mizzrym grinste. Weder Quenthel noch Triel waren zu sehen. Er hatte die ganze Nacht über bereitwillig ihren Befeh len gehorcht, doch jetzt wollte er das Finale dieser außerge wöhnlichen Angelegenheit selbst in die Hand nehmen. Ihre Abwesenheit war für ihn ein guter Grund, sich aufzumachen, ohne sich mit ihnen zu beraten. Er sah sich abermals um und entdeckte Welverin Freth, den fähigen Waffenmeister aus dem Neunzehnten Haus. Welverin trug zwar ein künstliches Silberbein, doch trotz der Behinde rung hatte er sich als ein hervorragender Kämpfer erwiesen. An Pharauns Seite hatte er in dieser Nacht gleich mehrfach gekämpft, und im Augenblick hatte er sich in einer Türöff nung zusammengekauert und beriet sich mit zweien seiner Stellvertreter. »Waffenmeister!« rief Pharaun. Welverin sah auf und nickte. »Wie kann ich Euch behilf lich sein, Meister?« »Wie würde es Euch gefallen, mir zu helfen, die Kreatur zu töten, die für diesen Aufstand verantwortlich ist?« Der Krieger kniff die Augen zusammen, dann fragte er: »Ist das wieder ein Scherz von Euch?« »Nein. Aber wenn wir Erfolg haben wollen, sollten wir uns besser beeilen, ehe unsere Beute sich ins Unterreich davon stiehlt. Ich darf annehmen, daß Eure Truppen Flugtiere reiten können?« Pharaun wies auf die riesigen Fledermäuse, die von irgend einem Zauberer geschaffen worden und in einer nahegelege nen Kuppel aus Gitterwerk gefangen waren. Es kam einem
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Wunder gleich, daß sie bei der Rebellion weder erstickt noch verbrannt waren. »Wo ist das Zaumzeug?« fragte Welverin und sah in den Kä fig.
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Unablässig tropfte Wasser vom Saum seines Umhangs, wäh rend Pharaun die Festung der Abtrünnigen durchschritt. Jetzt, da er weder Verfolgern ausweichen noch gegen die sein Ge hirn marternden Nachwirkungen eines Psi-Angriffs ankämp fen mußte, war das System aus Korridoren und Treppen gar nicht mehr so komplex. Doch die leeren Räume und Gänge, in denen jeder Laut nachhallte, wirkten noch immer so düs ter, wie man es von einem Hort für Geister und Flüche erwar tete. Der Mizzrym beobachtete Welverin und die anderen Krieger des Hauses Freth, um festzustellen, ob dieser Ort auf sie beun ruhigend wirkte. Es sah nicht so aus. Vielleicht waren sie zu mutig. Oder vielleicht lenkte der Anblick der Leichen der unlängst niedergemetzelten Abtrünnigen, die den Fußboden übersäten, ihre Gedanken um, von dem schattenhaften Schre
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cken hin zu der üblichen Gewalt, die mit ihrem Beruf verbun den war. Sie fanden die Leichen, die oft in Stücke gehackt waren, überall in der Burg. Pharaun war erstaunt, wie viele es waren. Offenbar hatte der arme, verletzte Ryld noch einen langen Amoklauf hingelegt, ehe die Verschwörer ihn niedergestreckt hatten. Vielleicht war sogar Syrzan erforderlich gewesen, um das zu bewerkstelligen. Rückblickend wunderte sich Pharaun, daß das Alhoon sich nicht von Anfang an in die Suche nach den entflohenen Häft lingen eingeschaltet hatte. Vielleicht war es vorübergehend geschwächt gewesen, nachdem es den Ruf ausgesandt hatte. Der Meister Sorceres führte die Soldaten in einen langen, geräumigen Saal, an dessen gegenüberliegendem Ende sich ein Podest befand. Nach den Bänken und Tischen zu urteilen, die in einer Nische aufeinandergestapelt waren, mußte es sich um den Raum handeln, in dem die Muttermatrone Hof gehalten und auch gespeist hatte. Überall waren geschnitzte oder auf gemalte Spinnen zu sehen, vermutlich eine Art Tarnung, da die einstigen Bewohner der Feste insgeheim andere Gottheiten verehrt hatten. Spinnweben zogen sich über die Kunstwerke. »Seht«, sagte Welverin. Pharaun drehte den Kopf und hielt überrascht den Atem an. Ryld war soeben aus einem Durchgang für Dienstboten getreten, der sich auf halber Strecke an der linken Wand be fand. Des Waffenmeisters Schritte waren gleichmäßig und sicher, obwohl sein Bein nach wie vor verletzt sein mußte. Er war deutlich schlanker, als verbrenne sein Körper in einem un glaublichen Tempo Fett, und irgendwie hatte er es geschafft, Splitter wieder an sich zu nehmen. Die Soldaten legten an.
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»Nicht!« rief Pharaun. Noch nicht. Ryld drehte sich zu den Neuankömmlingen um und ging auf sie zu. Sein Blick war eindringlich, aber leer, sein Gesicht war völlig ausdruckslos, und die Waffen, die auf seinen stämmigen Leib gerichtet waren, schienen ihn nicht zu kümmern. Ein Krieger murmelte etwas, als hätte er den Meister MeleeMagtheres mit einem Geist verwechselt. Pharaun wußte besser, was los war; er erkannte eine tiefe Trance, wenn er sie sah. Offenbar hatte sich sein Freund einer esoterischen Kampfdis ziplin bedient, um zu überleben. »Ryld!« sagte Pharaun. »Gut gemacht! Ich wußte, daß du Houndaer und die anderen besiegen würdest. Sonst hätte ich dich auch nicht zurückgelassen.« Selbst in den Ohren des Lügners war die Falschheit dieser Worte nicht zu überhören. Ryld ließ sich nicht davon beeindrucken. Vielleicht hatte er in seinem veränderten Bewußtseinszustand die Worte nicht gehört oder gar nicht gemerkt, daß sein Freund gesprochen hatte. Jedenfalls kam er immer näher. »Wach auf!« sagte Pharaun. »Ich bin es, Pharaun. Ich bin gekommen, um dich zu retten. Diese Jungs sind aus dem Hause Freth, sie sind unsere Verbündeten.« Ryld trat einen weiteren Schritt vor, immer noch direkt auf Pharaun zu. Tut mir leid, dachte Pharaun, aber diesmal bist du ganz al lein schuld. Er holte tief Luft, um den Feuerbefehl zu geben, als auf einmal durch die drei Torbögen am hinteren Ende des Podests Gestalten in den Raum huschten. Die Vorhut bildeten mehrere Kreaturen, die die Größe von Menschen hatten und deren Leiber in rasselnde Ketten gewi ckelt waren. Es handelte sich um Kytonen, böse Geister, die von Magiern gerufen und kontrolliert werden konnten. Diesen
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Teufeln folgten die überlebenden Verschwörer sowie Syrzan in seinen zerfallenden Gewändern. Ryld wirbelte herum und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Verschwörer. Die Abtrünnigen feuerten eine Salve pfeifen der Armbrustbolzen ab, die Freth-Krieger taten es ihnen fast im gleichen Augenblick nach. Die Abtrünnigen hatten den Vorteil, sich auf der erhöhten Plattform zu befinden, während die Soldaten zahlenmäßig überlegen waren. Doch keine der Salven brachte mehr als einen Bruchteil ihrer Ziele zu Fall. Die Kämpfer waren durch Rüstungen oder Magie oder sogar beides zu gut gepanzert. Die Freth-Soldaten, die sehen wollten, ob ihre Schwerter das erreichen konnten, was ihre Pfeile nicht geschafft hatten, stießen einen Schlachtruf aus und stürmten vor. Welverin gab mit seiner tiefen, volltönenden Stimme den Truppen vor dem Saal den Befehl, nach den Eingängen zu suchen, die die Verrä ter benutzt hatten, um sie so in die Zange nehmen zu können. Es war keine üble Idee, doch Pharaun vermutete, daß die Sol daten sich eher verlaufen würden, anstatt den rückwärtigen Eingang zu finden. Acht Kytonen, von denen es jeder mühelos mit einem Dut zend gewöhnlicher Kämpfer aufnehmen konnte, wirbelten ihre Kettenenden durch die Luft und sprangen von dem Podest, um den anstürmenden Kriegern entgegenzutreten. Die Abtrünni gen blieben mit Syrzan auf der Plattform zurück und luden ihre Armbrüste neu, da sie offenbar vorhatten, aus sicherer Entfer nung in das Kampfgetümmel zu feuern. Pharaun beschloß, daß er das nicht erlauben konnte. Er stieg über seine Kameraden auf, bis er einen klaren Blick aufs Podest hatte. Eine Sekunde lang spürte er ein Zucken in der Mitte seiner Stirn. Wie zu erwarten, hatte Syrzan als erstes einen psioni
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schen Angriff gewählt, ohne zu erkennen, daß sich sein Wider sacher diesmal mit entsprechenden Talismanen und Zaubern davor geschützt hatte. Diesmal, dachte Pharaun, wirst du mich Amulett gegen Amulett und Zauber gegen Zauber bekämpfen müssen. Zu seiner Überraschung bekam er eine Antwort, eine tele pathische Stimme, die in seinem Kopf krächzte und summte. So sei es, Säuger, sagte das Alhoon. So oder so werde ich mich an der erbärmlichen Kreatur rächen, die mich erneut zum Exil verdammt. Noch während er Syrzans Drohung empfing, murmelte Pha raun eine Beschwörung und hielt ein kleines Stahlrohr hoch. Eine helle Flammenkugel schoß aus dem offenen Ende und weitete sich im Flug zu einem Gegenstand von der Größe eines Schädels aus. Dieses Objekt kollidierte mit einem der Abtrün nigen auf dem Podest, prallte ab und traf den nächsten. Es flog auf der Plattform hin und her und hinterließ eine Zickzackspur aus Funken und Nachbildern. Als es schließlich erlosch, waren etliche der Abtrünnigen tot. Andere rannten als lebende Fa ckeln umher, die von ihren Kameraden umgebracht werden mußten, wenn diese von ihnen nicht auch noch in Brand gesetzt werden wollten. Syrzan blieb von dem feurigen Chaos verschont. Unter sich erhaschte Pharaun einen Blick von dem Kampf getümmel, von aufblitzenden Klingen und wirbelnden Ketten. Während die Kytonen – die im Inneren ihrer um sich gewi ckelten Ketten an schleimige, verwesende Leichen erinnerten – auf ihre Gegner einschlugen, veränderten sie ihr Aussehen. Diese Teufel hatten die Fähigkeit, die Gestalt eines verstorbe nen Nahestehenden aus der Vergangenheit ihres Gegners anzunehmen. Svirfneblin und ihresgleichen mochten diese Eigenschaft als zutiefst beunruhigend empfinden, doch für die
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Angehörigen einer Rasse, die keine Liebe kannte, bewirkte das nur minimales Unbehagen. Ryld stand in vorderster Front und schlug mit Splitter mit der gewohnten Kraft und Geschicklichkeit um sich. Pharaun war froh, als er sah, daß sich die Hiebe nur gegen die Dämonen richteten. Syrzans Mundtentakel zuckten, seine Glubschaugen blick ten finster, als er seine dreifingrigen Hände hob, um zu be schwören. Viele der noch lebenden Abtrünnigen sprangen in aller Eile von dem Podest. Offenbar kämpften sie lieber direkt gegen die Freth-Soldaten, als sich in der Nähe des Alhoons aufzuhalten, wenn Pharaun im Begriff war, seine Zauber abzufeuern. Der Meister Sorceres war überrascht, daß so wenige der Ver räter den Versuch unternahmen, einfach davonzulaufen. Loya lität – eine ihnen völlig fremde Eigenschaft – konnte es nicht sein, die sie an ihrem Platz hielt. Sie mußten längst erkannt haben, daß ihre Pläne durchkreuzt waren, daß ihre Verschwö rung enttarnt war, daß sie Gesetzlose waren und nichts von dem, was sie begehrten und schätzten, für sie noch greifbar nahe war. Vielleicht hatte ihr Leid sie so zornig werden lassen, daß Rache ihnen wichtiger war als Überleben. Als sich Syrzan seiner Magie widmete, tat der Drow es ihm in aller Eile sofort nach, doch der Leichnam war schneller fertig. Ein Blitz ähnlich denen, die noch immer außerhalb der Feste durch die Höhle zuckten, sprang aus der trockenen, schuppigen Hand des Alhoons hervor, bohrte sich knisternd in Pharauns Rumpf und hinterließ an der Decke eine dunkle Brandstelle. Pharauns Muskeln krampften, seine Haare standen zu Ber ge, doch sein Schutz hatte ihn vor einer richtigen Verletzung bewahrt. Der Angriff hatte nicht einmal seine eigene Be
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schwörung gestört. Beim letzten Wort streckte er die Hand aus und setzte eine Welle kalter Schatten frei, die wie geisterhafte Fledermäuse flatterten. Kreischend und schnatternd tauchten die Phantome hinab und umkreisten das Alhoon, um mit den Krallen nach ihm zu schlagen. Der Gedankenschinder knurrte ein Wort in einer infernalischen Sprache; im nächsten Moment bildete sich an einer der Wände ein zerklüfteter Riß, und dann verschwanden Pharauns dienstbare Illusionen. Der Mizzrym holte aus einer seiner Taschen fünf Glasmur meln, ließ sie geschickt in seiner Handfläche kreisen und ras selte eine knappe Terzine herunter. Fünf leuchtende Kugeln nahmen in der Luft Gestalt an und rasten auf Syrzan zu, um ihn gleichzeitig mit Feuer, Lärm, Kälte, Säure und Blitz zu attackieren. Wenigstens eine dieser Kräfte würde sich durch seine Verteidigung bohren können. Syrzan stieß ein rauhes, klatschendes Kreischen aus und fuchtelte mit der Hand. Fast gleichzeitig machten die Kugeln kehrt und eilten mit gleicher Geschwindigkeit zu ihrer Quelle zurück. Pharaun war zwar überrascht, versuchte aber dennoch auf die einzig mögliche Weise auszuweichen: Er stellte sein Ge wicht wieder her und ließ sich wie ein Stein zu Boden fallen. Zwei der strahlenden Projektile schossen an ihm vorbei und explodierten an der Decke, zwei weitere lösten sich auf, als sie mit dem Piwafwi in Berührung kamen, eines jedoch drang einem Geist gleich in seine Brust ein. Der lauteste Schrei, den er je vernommen hatte, erschütter te seine Knochen und ließ seine Ohren auf nie erlebte Weise schmerzen. Jeder seiner Gedanken wurde augenblicklich zu nichte. Wie betäubt sackte er weiter ab, bis er inmitten des Kampfgetümmels auf den Boden schlug.
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Einen Moment lang lag er zwischen Heerscharen von Füßen einfach nur da, bis seine Konzentration soweit wiederherge stellt war, daß ihm klar wurde, daß er sofort aufstehen mußte, wenn er nicht zu Tode getrampelt werden wollte. Gerade er hob er sich, als ihn ein Stück Kette an der Schläfe traf. Zwar wurde er nur gestreift, dennoch genügte es, um ihn wieder zu Boden zu schleudern. Ein Kytone hatte sich vor ihm aufgebaut und wirbelte seine beweglichen Waffen für den nächsten Angriff. Der Geist hatte Sabals Gesicht. Pharaun deutete auf ihn und rasselte einen Zauber herunter, als ihm auf einmal klar wurde, daß er weder sich selbst noch etwas von dem Lärm um ihn herum hören konnte. Sekunden zuvor war er von einer lautstarken Kakophonie umgeben gewe sen, und nun war kein Laut zu hören. Zum Glück mußte er seine Stimme nicht hören können, um einen Zauber zu wirken. Energie sprang von seiner Fingerspitze auf den Leib des Teufels über. Innerhalb eines Herzschlags verrottete das Fleisch in der Umhüllung aus Ketten, und als der Gegner völlig zerfallen war, rutschten die Glieder zu Bo den. Jemand packte Pharauns Schulter und half ihm auf. Er drehte sich um und sah Welverin. Der Offizier bewegte den Mund, doch der Magier hatte keine Ahnung, was er sagte. Er schüttelte den Kopf und wies auf seine Ohren, die zwar nutzlos, aber nicht empfindungslos waren. Sie pochten und sie blute ten. Auch in seinem Inneren spürte er starken Schmerz, der in ihm um so mehr den Wunsch aufkommen ließ, Syrzan zu ver nichten. Pharaun schwebte nach oben, fand sich aber unversehens nur wenige Meter von etwas entfernt, was der Gedanken schinder in der Zeit beschworen haben mußte, als der Magier auf dem Boden gelegen hatte. Es war ein riesiger phosphores
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zierender IIlithidenkopf ohne Rumpf, dessen Mundtentakel größer waren als der Drow. Die Tentakel wanden sich, und das krakengleiche Geschöpf kam auf ihn zu. Je näher es kam, umso deutlicher konnte er einen fischigen Geruch wahrnehmen. Pharaun zog einen weißen Lederhandschuh und einen Splitter eines durchsichtigen Kristalls aus seinem Umhang und sprach einen Zauber. Ein spitz zulaufender Tentakel schlang sich um seinen Unterarm und hätte fast die letzte Bewegung verhindert, doch er konnte sich losreißen und die Geste erfolg reich zu Ende führen. Eine riesige Hand aus Eis tauchte neben dem Kopf des Ge dankenschinders auf, legte die Finger um ihn und bohrte seine Krallen hinein, um das Ding festzuhalten, damit es sich nicht von der Stelle bewegte. Das einzige Problem war, daß der Phantomkopf, noch im mer Pharauns Sicht behinderte. Während er sich ein Stück weit absinken ließ, damit er Syrzan wieder sehen konnte, setzte er zu einem weiteren Zauber an. Bei dessen letztem Wort brach weißes Feuer aus dem verrot teten Fleisch des Alhoon hervor ... ein Feuer, das Sekunden später wieder erlosch. Die Magie hätte den untoten Magier in einen leblosen Körper verwandeln sollen, doch allem An schein nach hatte sie lediglich dessen zerlumptes Gewand ein wenig angesengt. Pharaun wurde klar, daß es ihm trotz mehre rer Anläufe noch nicht gelungen war, seinen Widersacher zu verwunden oder wenigstens aus der Fassung zu bringen. Hätte der Drow es nicht besser gewußt, dann hätte er sich ernsthaft gefragt, ob Syrzan von ihnen beiden nicht doch seine Magie umfassender im Griff hatte. So sehr der Mizzrym auch dem Nahkampf abgeneigt war, eine Änderung der Taktik mochte angebracht sein. Er nahm einen zarten kleinen Knochen, der von einem unbedeutenden
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Dämon stammte, den er vor seiner Klasse zu Demonstrations zwecken getötet hatte, und begann zu beschwören. Syrzan riß den Arm herum und feuerte ein Dutzend bren nender Pfeile auf ihn ab. Sie verfehlten ihr Ziel, da sie recht zeitig von den Schutzzaubern ihres Zieles abgelenkt worden waren. Pharaun beendete seine Beschwörung und fügte sich selbst hundert schmerzende Stiche zu. Sein Körper wurde groß wie der eines Oger, seine Haut ver dickte sich zu einem schuppigen Panzer. Seine Zähne wurden zu Stoßzähnen, seine Fingernägel zu Krallen, während aus seiner Stirn lange, geschwungene Hörner wuchsen. Am Ende seines Rückgrats bildete sich ein unbehaarter Schwanz, in seiner Hand nahm eine Peitsche Gestalt an. Die Verwandlung dauerte nur einen Augenblick, dann war das sie begleitende unbehagliche Gefühl verschwunden. Mit einem kräftigen Schlag seiner neuen ledernen Flügel stürzte sich Pharaun auf seinen Gegner. Der Magier hob seine monströsen Arme und schrie eine Be schwörung. Pharaun war auf einmal schwindlig. Die Szene vor ihm schien sich zu drehen und zu wirbeln, und obwohl er sich zu wehren versuchte, kam er von seinem Kurs ab. Er schlug auf dem Podest auf, dann wurde es dunkel um ihn herum. Als er das Bewußtsein zurückerlangte, hatte er wieder sein natürliches Aussehen angenommen und fühlte sich so schwach und krank wie Smylla Nathos. Der Leichnam starrte auf ihn herab. »Du warst ein Idiot, daß du zurückgekehrt bist«, sagte Syr zan. »Du wußtest, daß du es mit mir nicht aufnehmen kannst.« Pharaun merkte, daß er wieder hören konnte, auch wenn seine Ohren noch klingelten. Er würde nicht taub sterben, auch wenn er sich nicht im Klaren war, was ihm das bringen würde.
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»Hör auf, dich aufzuplustern«, erwiderte der Meister Sorce res. »Du siehst lächerlich aus. Das ist nicht deine jämmerliche Traumwelt. Das ist die Wirklichkeit, und hier bin ich ein Prinz einer großen Stadt, während du nur eine Molluske bist, eine tote, verwesende Molluske.« Während er die Kreatur verhöhnte, sammelte er Kraft für einen letzten Zauber. Sicher würde der genauso versagen wie alle, die ihm vorausgegangen waren. Warum sollte er sich dann überhaupt die Mühe machen, ei nen Angriff zu starten? Er konnte auch etwas anderes versu chen. Vor Anstrengung zitternd wirkte er seitlich der Plattform einen Zauber. Blaue Energiefunken glitzerten in der Luft. »Du nennst mich jämmerlich?« gab Syrzan zurück. »Was sollte das denn?« Wenn du den Ring trügest, den du mir gestohlen hast, dachte Pharaun, dann wüßtest du es. Aber ich bezweifle, daß du ihn über deine aufgedunsenen Finger streifen könntest. Das Alhoon hob ihn vom Boden hoch und legte seine tro ckenen, schuppigen Tentakel um seinen Kopf. Du wirst mir doch noch nutzen, sprach Syrzan direkt in den Verstand des Magiers und hob einen knorrigen Finger hoch, um ihm den Silberring zu zeigen. Wenn ich dein Hirn verspeist habe, werde ich alle deine Geheimnisse kennen. »Vielleicht würde das deine unglaubliche Dummheit hei len«, keuchte Pharaun. »Aber ich fürchte, daß wir das nie erfahren werden. Sieh dich um.« Der Leichnam drehte sich um, und Pharaun merkte, daß er vor Erstaunen leicht zusammenzuckte. Die Linse der Illusion, die er vor dem Podest hatte entste hen lassen, ließ Syrzan exakt so aussehen wie einen gewissen gewieften Meister von Sorcere, während Pharaun wie ein simpler Ork aussah. Nachdem der Mizzrym sie geschaffen hat
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te, befahl er der Hand aus Eis, den Kopf des Gedankenschin ders loszulassen, und nun kam das Konstrukt direkt auf seinen Urheber zugeschossen. Syrzan warf Pharaun zu Boden und wandte sich seiner Schöpfung zu. Hätte er es unbeachtet gelassen, hätte er dem Konstrukt irgendwie ausweichen können. Doch Pharaun fand die Kraft für einen weiteren Zauber. Mit großer Anstrengung schaffte er es, den Boden des Podests einbrechen zu lassen. Das Alhoon stolperte und wurde in seiner Konzentration gestört. Die riesigen Tentakel zogen Syrzan hoch und führten ihn an das Maul dahinter heran, das zu saugen und zu kauen begann. Die Magie des Alhoons zermalmte es auf eine Weise, wie es Pharaun nie gelungen wäre. Der Leichnam verblaßte einen Moment, dann wurde er opak und wieder fest. Er versuchte, sich auf eine andere Existenzebene zu retten, konnte sich aber wegen der Schmerzen nicht konzentrieren. Nach einer Weile hörte der gewaltige Kopf übergangslos auf zu existieren. Als er verschwand, fielen reglose Stücke des mumifizierten Gedankenschinders zu Boden. Pharauns Kraft kehrte allmählich zurück. Er wühlte in den stinkenden Überresten des Alhoons herum, bis er seinen sil bernen Ring fand. Dann richtete er seine Magie gegen die Abtrünnigen, obwohl das eigentlich nicht mehr nötig war. Ryld, Welverin und die anderen hatten längst die Oberhand gewonnen. Als der letzte Verschwörer tot war, setzte sich der Meister Melee-Magtheres immer noch in Trance im Schneidersitz auf den Boden. Sein Kinn sank herab, und er begann zu schnar chen. Welverin, dessen Silberbein klapperte, als seien seine Einzelteile durch einen Treffer gelockert worden, humpelte zu ihm, um nach ihm zu sehen und sich notfalls um ihn zu küm mern.
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Der Mizzrym dachte, er müßte sich eigentlich ebenfalls nach dem Wohlbefinden seines Freundes erkundigen. Doch als er aufzustehen versuchte, begann sich alles in seinem Kopf zu drehen, dann fiel er der Länge nach auf den Rücken.
Triel stand auf dem Balkon und sah hinab auf die Stadt unter ihr. Es war die gleiche Aussicht wie am Abend des Sklavenauf stands, jenes feurigen Spektakels, das sie hatte erkennen las sen, daß ganz Menzoberranzan von den Unruhen erfaßt wor den war. Die Feuer waren gelöscht, doch an ihrer Stelle stand kaltes Wasser in hohen Pfützen, das ein Vorankommen behinderte. Der Regen hatte Keller und Verliese überschwemmt, und es würde einige Zeit dauern, das Wasser wegzuschaffen. Niemand hatte je einen Wolkenbruch in Erwägung gezogen, nicht, wenn sich zwischen der Stadt der Spinnen und dem freien Himmel über Kilometer hinweg Gestein erstreckte, und so hatte auch keiner der Erbauer daran gedacht, für einen Wasserablauf zu sorgen. Jemand hustete leise und diskret. Triel drehte sich um und sah Gromph in der Tür stehen, der den Kopf neigte. »Matrone.« Sie empfand Vergnügen – nein, eigentlich Erleichterung – beim Anblick ihres Bruders, der so schnell zu ihr gekommen war, nachdem sie ihn zu sich bestellt hatte. Sie achtete darauf, sich diese Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Erzmagier«, sagte sie. »Kommt her.« »Natürlich.« Gromph kam etwas steif zur Balustrade herüber. In einer Ecke der Terrasse hockte Jeggred auf einem Stuhl, der für ihn zu klein war, und kaute an einem rohen Stück
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Rothé-Lende. Er schien völlig in seine Mahlzeit vertieft zu sein, aber Triel war sicher, daß er jede Bewegung ihres Bruders beobachtete. Schließlich war es seine Aufgabe, sie vor potentiel len Feinden zu schützen, ihre Verwandten eingeschlossen. Vor allem ihre Verwandten. Gromph sah hinaus auf die Kuppeln und Spitzen der Stadt. Einige davon leuchteten nicht mehr, so als hätte der Regen ihre Phosphoreszenz weggewaschen. Viele waren vom Feuer in Mitleidenschaft gezogen, die geschnitzten Spinnen waren deformiert oder völlig entstellt. Gromph verzog den Mund. »Es hätte schlimmer kommen können«, sagte Triel. »Die Steinmetze können den Schaden reparieren.« »Vor ihnen liegt viel Arbeit, vor allem ohne die Hilfe von Sklaven.« »Wir haben noch ein paar. Einige Unterkreaturen weiger ten sich zu rebellieren oder wurden nicht getötet, sondern gefangen genommen. Wir werden sie hart arbeiten lassen und neue kaufen und fangen.« »Gut, aber erinnert sich jemand daran, wie jede Mauer und jede Skulptur exakt aussahen? Kann jemand Menzoberranzan so wiederherstellen, wie es war? Nein. Es hat uns verändert, es hat uns Narben zugefügt, es ...« Er zuckte und rieb über seine Brust. »Verzeiht«, fuhr der Erzmagier fort. »Ich kam nicht her, um zu klagen, sondern um meine Funktion als Berater zu erfüllen, um meine Gedanken zu äußern, wie den kommenden Heraus forderungen entgegengetreten werden kann.« Triel legte die Hand auf den kalten, polierten Stein der Brüstung und fragte: »Wie seht Ihr diese Herausforderungen?« »Ist das nicht offensichtlich? Was wir erlebt haben, dürfte nur die erste in einer ganzen Reihe von Katastrophen sein. Jeder Menzoberranzanyr, der Euch in der Schlacht beobachtet
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hat und auch nur halbwegs bei Verstand ist, wird jetzt wissen, daß die Priesterinnen ihre Macht verloren haben. Ganz gleich, welche Maßnahmen der Rat auch ergreift, Ihr könnt sicher sein, daß es sich herumsprechen wird. Vielleicht berichtet gerade ein entkommener Sklave irgendwo davon. Schon bald wird der eine oder andere Feind gegen uns marschieren, und wenn wir Pech haben, werden sie sich gegen uns zusammen schließen.« Triel schluckte. »Keiner unserer Gegner wagt auch nur da von zu träumen, Menzoberranzan zu erobern.« »Syrzan schon. Wenn seinesgleichen und andere seines Schlages herausfinden, daß wir unserer göttlichen Magie be raubt sind, daß wir einen Großteil unserer Krieger verloren haben und praktisch über keine Sklaventruppen mehr verfü gen, dann könnte das ihren Optimismus wecken – und sie sind nicht einmal unsere ärgste Bedrohung.« »Das sind wir selbst«, seufzte Triel. »Genau. Immer wieder kommt es zu Fehden und Attenta ten. Gelegentlich wird ein Haus von einem anderen ausge löscht, aber das ist eben so. Es ist unsere Art, es stärkt uns. Aber wir können einen andauernden offenen Krieg nicht über stehen. Das wäre zuviel ... Chaos. Es würde Menzoberranzan zerreißen. Bislang hat die Angst vor Lolth und ihrer Geistlich keit für Ruhe gesorgt, aber damit ist es jetzt vorbei.« Er spie aus. »Es ist eine Schande, daß unsere neuen Helden nicht bei der Verteidigung der Heimat einen Heldentod starben.« »Ihr meint Quenthel und den ausgestoßenen Mizzrym?« »Wen sonst? Glaubt Ihr, sie könnten weniger ehrgeizig sein als der Rest von uns? Sie haben die etablierte Ordnung be schützt, die gestern noch Bestand hatte. Aber inspiriert von dem Wissen, daß sich viele hinter sie stellen würden, könnten sie schon morgen versuchen, diese Ordnung zu stürzen.
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Quenthel könnte Euren Thron für sich beanspruchen, nicht in hundert Jahren, sondern jetzt. Pharaun könnte nach den Ge wändern des Erzmagiers streben – bei den sechshundertsechs undsechzig Ebenen, er hat es ja praktisch schon gemacht, in dem er keine Zeit damit vergeudete, nach mir zu suchen, sondern sofort an Eure Seite eilte. Was für eine Katastrophe! Abgesehen von den persönlichen Unannehmlichkeiten für uns könnte die Stadt in ihrer geschwächten Verfassung eine solche Unruhe nicht überstehen.« »Ich schätze, sie könnten es in diesem Augenblick planen«, erwiderte Triel finster. Vielleicht hätten wir es doch durchzie hen und wenigstens Pharaun töten sollen.« »Wenn wir einen der Retter von Menzoberranzan töten – sein elendes Fell sei verdammt –, dann würde Haus Baenre verängstigt und schwach wirken.« Der Erzmagier setzte ein schiefes Lächeln auf. »Was wir im Moment ja auch sind, auch wenn wir es nicht wagen, den Anschein zu erwecken.« »Was empfehlt Ihr also?« Unterhalb des Balkons zischte eine Echse, und das Knarren von Rädern war zu hören, als ein Karren vorübergezogen wur de. »Benutzt sie so, daß sie uns Nutzen bringen und gleichzeitig die Gefahr gebannt wird, die sie für uns darstellen«, sagte Gromph. »Wir sind uns doch sicher einig, daß die gegenwärti ge Situation so nicht weiterbestehen kann. Wir müssen einen Weg finden, um die Magie der Priesterschaft wiederherzustel len.« Triel nickte und wandte ihren Blick von der Stadt ab. »Ich schlage dies als einen ersten Schritt vor«, fuhr der Erz magier fort. »Wir entsenden Agenten in eine andere Stadt, etwa Ched Nasad, um herauszufinden, ob deren Geistlichkeit auch betroffen ist und ob jemand den Grund dafür kennt. Ihr
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könnt Quenthel diese Expedition anführen lassen, immerhin ist das eine Sache, die in erster Linie Arach-Tinilith angehen dürfte. Ich würde mit Vergnügen Meister Pharaun als Begleiter mitgeben. Wenn die Geschichte, die ich gehört habe, den Tatsachen entspricht, sollte ihn auch dieser Ryld begleiten, und wenn es nur dem Zweck dient, Pharaun in Verlegenheit zu bringen.« »Ched Nasad«, flüsterte Triel. »Die drei sollten mehr als fähig sein, eine Reise nach Ched Nasad zu überleben«, sprach Gromph weiter. »Außerdem kön nen sie wohl kaum versuchen, uns zu stürzen, wenn sie kilome terweit von der Stadt entfernt sind, nicht wahr? Wer weiß, vielleicht wird Lolth vor ihnen zurückkehren und ihren Ruhm verblassen lassen.« Sein Vorschlag machte Triel ein wenig verlegen. Sie verbarg es, so gut sie konnte, indem sie tat, als denke sie über seinen Plan nach. »Faeryl Zauvirr schlug eine Expedition nach Ched Nasad vor. Sie behauptete, sie sei besorgt, weil die Karawanen von dort ausbleiben.« Gromph legte den Kopf schräg. »Ach ja? Na, das können unsere Vertreter ja dann gleich mitklären. Es ist gut, daß die Botschafterin gewillt ist, dorthin zu reisen. Sie wird eine wert volle Ergänzung darstellen, außerdem ist sie die geeignete Tar nung für unseren Plan.« »Waerva sagte mir, Faeryl sei eine Spionin«, sagte Triel. »Sie sagte, sie wolle die Stadt verlassen, um ihren Vorgesetzten von unserer Schwäche zu berichten. Ich untersagte es ihr.« »Welche Beweise legte Waerva vor?« »Sie sagte, sie haben durch einen Informanten von Faeryls Verrat erfahren.« Gromph schwieg einen Moment, als warte er auf weitere
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Ausführungen. »Das ist alles?« fragte er dann. »Bei allem Respekt, Matro ne, aber darf ich darauf aufmerksam machen, wenn Ihr nicht mit dem Informanten selbst gesprochen habt, wenn Ihr die Sache nicht näher untersucht habt, daß Ihr dann wirklich nur Waervas Wort dafür habt, daß die Gesandte eine Verräterin ist?« »Ich kann mich nicht um alles kümmern«, erwiderte Triel verärgert. »Dafür haben wir unsere Bediensteten. Ich habe nicht völlig den Bezug zu meinen ... zu unseren Interessen in bezug auf Ched Nasad vergessen, auch wenn deren Erklärun gen und Entschuldigungen allmählich unglaubwürdig werden.« »Natürlich, Matrone«, sagte Gromph rasch. »Ich verstehe. Ich habe das gleiche Problem mit meinen Leuten, und ich muß mich nur um die Magier Menzoberranzans kümmern, nicht um die ganze Stadt.« »Warum sollte Waerva lügen?« »Ich weiß nicht, aber ich hatte einige Male mit Faeryl Zau virr zu tun. Sie kam mir nie so dumm vor, sich mit den Baenre anzulegen. Waerva dagegen ist verwegen und unzufrieden genug, um jedes Spiel mitzuspielen. Dementsprechend halte ich es für klug, sich erst noch einmal mit dieser Angelegenheit zu befassen.« Triel zögerte: »Das könnte sich als schwierig erweisen. Ent gegen meinem Befehl versuchten die Zauvirr, aus Menzober ranzan zu fliehen. Ich heuerte Leute von Bregan D’aerthe an, geführt von Valas Hune – kennt Ihr ihn?« »Ich habe den Namen schon gehört«, erwiderte Gromph. »Er wäre eine gute Ergänzung für unseren Erkundungs trupp«, sagte Triel. »Er ist bestens mit der Wildnis des Unter reichs vertraut – er ist ein recht erfahrener Führer.« Gromph verneigte sich zustimmend.
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»Wie dem auch sei, ich ließ Faeryl von Valas Hune zurück bringen. Er erledigte seine Aufgabe zu meiner Zufriedenheit, und die Botschafterin habe ich Jeggred überantwortet.« Gromph drehte sich zu dem Draegloth um. »In welcher Verfassung ist sie?« fragte er die Kreatur. »Lebt sie?« »Ja«, antwortete Jeggred mit vollem, blutverschmiertem Mund. »Ich habe mir Zeit gelassen, um zu zeigen, daß ich das kann. Du kannst sie nicht haben. Mutter gab sie mir. Sie hat es gerade gesagt.« Gromph starrte dem Draegloth in die Augen. »Neffe«, sagte er. »Ich bin gereizt, frustriert und insgesamt schlecht gelaunt. Ob du heilig bist oder nicht, kümmert mich im Augenblick so wenig wie ein aufgerissener Beutel mit Rat tendreck. Zeige etwas Respekt und führe mich zu der Gefange nen, sonst töte ich dich an Ort und Stelle.« Jeggred sprang von seinem Stuhl auf, den Rothé-Knochen wie einen Knüppel erhoben. »Tu, was der Erzmagier dir aufgetragen hat«, sagte Triel. »Ich will es auch so.« Der Draegloth ließ die behelfsmäßige Waffe sinken. »Ja, Mutter«, seufzte er dann.
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Waerva hatte das Gepäck geschultert, ihr Herz schlug heftig, während sie sich umdrehte und die Umgebung betrachtete. Vor und hinter ihr erstreckte sich die Höhle, Stalaktiten sta chen aus der Decke, Stalagmiten sprangen aus dem unebenen Boden in die Höhe. Nichts regte sich. Was aber hatte sie dann gehört? Wie als Antwort auf ihre unausgesprochene Frage fiel irgendwo im Gang vor ihr ein Wassertropfen zu Boden. Es war eines der am meisten verbrei teten Geräusche im Unterreich und alles andere als Vorbote für Unheil. Waerva wischte sich den Schweiß von der Stirn und wun derte sich über ihre Nervosität. Sie hatte allerdings auch allen Grund, nervös zu sein. Jeder sagte, daß es selbstmörderisch sei, allein durch die unterirdische Wildnis zu reisen. Wegen der Rebellion der Goblins hatte sie keine Wahl ge
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habt. Angesichts der verzweifelten Kämpfe überall in der Stadt war es längst kein Geheimnis mehr, daß die Geistlichkeit ihrer magischen Fähigkeiten beraubt worden war. Gromph hatte es auf jeden Fall bemerkt, womit Triel nichts mehr vor ihm zu verbergen hatte. Sicher würde sie wieder seine Ratschläge hören wollen. Waerva war sicher, daß sie die überforderte Muttermatrone würde manipulieren können, doch sie hatte starke Zweifel daran, daß sie den wachsamen Erzmagier täuschen konnte. Also hatte sie den Großen Hügel und Menzoberranzan verlas sen, bevor ihresgleichen anfangen konnten, ihr irgendwelche Fragen zu stellen, und so wanderte sie nun einsam und verlas sen durch eine gefährliche Wildnis. Aber sie war stark und klug, sie würde überleben. Sie würde es bis zu ihren heimlichen Verbündeten schaffen, und dann wäre alles wieder gut. Sie machte weitere vier Schritte, dann hörte sie erneut ein leises Geräusch, und dieses war nicht von einem Wassertrop fen verursacht worden. Es klang mehr wie jemand, der heim lich einen Schritt gemacht und dabei einen Stein gestreift hatte. Das Geräusch kam von hinten. Sie fuhr herum, konnte aber niemanden sehen. Im nächsten Moment spürte sie einen Schmerz am Arm. Zu ihren Füßen lag der Kieselstein, den jemand nach ihr geworfen hatte. Leises Lachen durchdrang die Luft. Nach dem Geräusch zu urteilen hielten sich die Scherzbolde rings um sie herum auf. Doch warum konnte sie sie nicht sehen? Den Streitkolben aus Diamantspat bereit, einen Schoß ihres Piwafwi nach hinten geworfen, um mit der Waffe besser arbei ten zu können, ging Waerva in die Richtung, aus der der Stein gekommen war. Sie ging im Zickzack um Stalagmiten herum und erreichte die Höhlenwand, ohne eine Spur von ihren
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Angreifern zu bemerken. Als sie einen Hauch von vertrautem, reptilienhaftem Moschus wahrnahm, wußte sie, mit wem sie es zu tun hatte. Kobolde. Die gehörnten, schuppigen Unterkreaturen, die klein genug warum, um sich inmitten der Erhebungen und Spitzen aus Kalkspat zu verstecken. Sie wandte sich von der Mauer ab und erschrak. Offenbar hatten die Kobolde die Geduld verloren, noch länger mit ihr zu spielen, da sie ihr Versteck verlassen hatten. Als sie ihnen den Rücken zugewandt hatte, waren sie hervorgekrochen und standen nun um sie herum, während Waerva die Wand hinter sich hatte. Die Untiere waren Sklaven aus Menzoberranzan. Brandzei chen der verschiedenen Häuser und Peitschennarben verrieten diese Tatsache. Ein paar trugen sogar noch Reste von Hand schellen. Waerva war offenbar nicht die Einzige, die aus der Stadt geflohen war. Sie starrte die Kobolde an und sagte: »Ich bin eine Baenre. Ihr wißt, was das heißt. Macht Platz, sonst töte ich euch.« Die Unterkreaturen erwiderten ihren zornigen Blick, dann sahen sie nach unten und ließen eine Lücke in der Kette um Waerva herum entstehen. Mit hocherhobenem Kopf ging sie auf die Öffnung zu. Ei nen Moment lang war alles ruhig, dann lachten die Reptilien, kreischten und stürmten auf sie los. Sie stieß einen Schlachtruf aus und ließ ihren Streitkolben sprechen. Jeder Treffer zerschmetterte einen der Sklaven, doch für jeden einzelnen, den sie tötete, schlug und hieb ein Dut zend mehr nach ihren Beinen. Ein stechender Schmerz ging durch ihr Knie, und sie stürz te. Die Kobolde schwärmten über ihren ganzen Leib, bis ihr die Kraft fehlte, sich zur Wehr zu setzen.
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Sie hatten Mühe, ihr die Rüstung und die Kleidung vom Leib zu reißen, doch dann begannen sie, ihren ungeschützten Leib zu traktieren. Obwohl es sich um eine so bestialisch an mutende Rasse handelte, schienen sie mit der Anatomie so vertraut zu sein wie Waervas Lieblingsmasseur Tluth, doch was sie ihr antaten, hatte mit Massage nichts zu tun.
Faeryl hatte gelernt, die Bewußtlosigkeit zu begrüßen. Sie be scherte ihr eine Pause von den anhaltenden Schmerzen ihrer Folterungen. Leider konnte sie neue Schmerzen nicht abwen den. Wenn Jeggred sie so fand, wedelte er einfach mit einer Flasche Riechsalz unter ihrer Nase herum, bis sie hochschreck te. Sie hörte ihn kommen. Das taten auch die Wärter, die ans entlegene Ende des Verlieses huschten, um ihn nicht zu stören. Schaudernd bemühte sie sich, sich zusammenzureißen. Viel leicht konnte sie ihm die Befriedigung eines Schmerzens schreis verweigern – wenigstens für eine Weile –, oder es ge lang ihr, ihn so sehr zu provozieren, daß er sie tötete. Das wäre wunderbar. Der Draegloth tauchte in der Tür auf und bückte sich, um hindurchzugehen. Unwillkürlich zuckte Faeryl zusammen, als sie sah, daß er nicht allein war. Die zierliche kleine Triel be gleitete ihn, und auch ihr Bruder mit den schroffen Gesichts zügen, der wie üblich das Gewand des Erzmagiers trug. »Meinen ... Gruß, Matrone«, krächzte die Zauvirr. »Still«, sagte Gromph, »und alles wird gut.« Er sah den Halbdämon an. »Mach sie vorsichtig los.« Jeggred trat vor Faeryl. Diesmal schaffte sie es, nicht zu sammenzuzucken. Der Draegloth stützte sie mit seinen kleine ren Händen, während er mit den Klauen der großen ihre Fes
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seln durchtrennte. Er fing sie in seinen Armen auf, und sie verlor das Bewußtsein. Es folgte ein verschwommener Zeitraum von Stunden oder Tagen, in denen sie immer wieder für ein paar Sekunden auf wachte und dann sofort wieder bewußtlos wurde. Sie lag auf einem weichen Sofa, Diener trugen Salben auf ihre Wunden auf und verbanden sie, und manchmal flößten sie ihr Brühe ein. Priesterinnen lasen von Schriftrollen, die der Heilung dien ten, und in gewissen Abständen wirkte Gromph einen Zauber. Sie sah den Kuß der Mutter auf einem Tischchen an ihrer Seite liegen. Wenn sie sich stark genug fühlte, streckte sie ihren zitternden Arm aus, um ihn zu berühren. Irgendwann öffnete sie die Augen und merkte, daß ihr Verstand klar und ihr Körper wieder vital war. Diener halfen ihr, neue Kleidung anzuziehen. Sie erklärten, es sei Zeit für ein Treffen mit Triel. Faeryl überlegte, ob sie ihren Streithammer mitnehmen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Wenn ihre Rehabili tation nur ein ausschweifender Streich war, wenn die Baenre sie weiter foltern wollte, dann würde diese Waffe sie auch nicht retten können. Sie war noch immer ein wenig unsicher auf den Beinen, als sie einem Mann durch die endlosen Korridore des großen Hü gels folgte. Schließlich öffnete er eine Tür, die in einen klei nen, aber üppig ausgestatteten Raum führte. Triel saß an einem Tisch in der Mitte des Raumes, und hin ter ihr an der Wand standen zwei Leibwächter. Faeryl nahm an, daß es sich hier um eine Kammer handelte, die die Matro ne benutzte, wenn sie sich mit jemandem unterhalten mußte, ohne die Formalitäten des Hofs berücksichtigen zu müssen. Die Baenre erhob sich und nahm die Hände ihrer Gefange nen.
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»Kind«, sagte Triel. »Ich freue mich, dich zu sehen. Einige sagten, du würdest dich nicht erholen, aber ich habe nie daran gezweifelt. Ich wußte immer, daß du eine starke, wahre DrowPrinzessin bist, die die Gunst Lolths auf ihrer Seite hat.« »Danke, Matrone«, gab Faeryl völlig irritiert zurück. Triel führte sie zu einem Stuhl. »Es wird dich freuen zu erfahren, daß wir sie gefaßt haben«, sagte die Matrone. »Sie?« »Die Briganten, die dir aufgelauert und dein Gefolge ermor det haben. Die dich zum Sterben zurückließen, bis Valas dich fand. Ich habe ihrer Hinrichtung beigewohnt.« Faeryl begriff. Aus irgendeinem Grund hatte Triel ihr ihren Ungehorsam verziehen. Sie war frei, Ehre und Rang waren wiederhergestellt. Doch es gab einen Haken. Sie würde fortan die Behauptung stützen müssen, daß Triel in keiner Weise für das verantwortlich war, was ihr zugestoßen war. Schließlich war die Herrscherin über Menzoberranzan ein vollkommenes Wesen, das von Lolth über alle anderen erhoben worden war. Wie konnte es sein, daß ihr ein Fehler unterlaufen sollte? Es ärgerte sie ein wenig, doch war Faeryl mehr als bereit, diese Lüge zu unterstützen, wenn sie auf diese Weise eine Rückkehr in das Verlies vermeiden konnte. »Danke, Matrone«, sagte sie. »Danke vielmals.« Triel winkte, worauf ein Diener Wein brachte. »Willst du immer noch nach Hause reisen?« fragte die Baenre.
Pharaun war im Verlauf seiner illustren Karriere zu einer gan zen Reihe von Audienzen bestellt worden, und es war seine Erfahrung, daß der Anlaß noch so drängend sein konnte,
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trotzdem wurde man immer für eine Weile in einem Vorzim mer warten gelassen. Der Warteraum der Matrone Baenre war deutlich großzügiger angelegt als sonst, und unter normalen Umständen hätte er sich damit vergnügt, Kommentare über die Ästhetik des Dekors von sich zu geben. Stattdessen mußte er sich mit einer anderen Sache befassen, denn als er kam, saß Ryld auf einem Stuhl in der Ecke, halb hinter einer Marmor statue versteckt. Die Statue zeigte eine hübsche Frau, die, wie er annahm, zum höheren Ruhm der gefürchteten Spinnenkönigin mit einem Tiefengnom etwas sehr unerfreuliches anstellte. Der Mizzrym hatte seit dem Gemetzel mit den Abtrünnigen nicht mehr mit Ryld gesprochen, doch dieser Zeitpunkt schien nun gekommen. Zuerst jedoch bekundete er Quenthel seinen Gehorsam, die zu ihrer Verärgerung ebenfalls warten mußte. Dann verbeugte sich der Magier vor einem Drow mit finsterer Miene, der in seiner groben Wanderkleidung und den häßli chen Medaillons fehl am Platz wirkte. Pharaun kannte ihn nicht. »Valas Hune«, sagte der Krieger, »von Bregan D’aerthe.« Pharaun stellte sich vor, dann spazierte er zum Meister Me lee-Magtheres hinüber. »Ryld!« sagte der Magier. »Guten Nachmittag! Hast du eine Ahnung, warum der Rat uns zu sich bestellt hat?« Der Schwertkämpfer stand auf und sagte: »Nein.« »Wohl, um uns mit Ehren zu überhäufen. Wie geht es dir?« »Ich lebe.« »Ich bin froh, das zu hören. Ich war besorgt, weil ich sehen konnte, daß diese Kriegertrance sogar deiner Konstitution zu schaffen machte.« Einen Moment lang sahen sich die beiden schweigend an. »Mein Freund«, sagte Pharaun dann mit gesenkter Stimme.
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»Ich bedauere wirklich, was geschehen ist.« »Was du getan hast, war taktisch klug«, sagte Ryld. »jeder vernünftige Drow hätte es so gemacht. Ich hege keinen Groll gegen dich.« Pharaun sah dem Waffenmeister in die Augen und bemerk te, daß er zum ersten Mal nicht in ihnen lesen konnte. Vielleicht meinte Ryld, was er sagte, aber genauso gut konn te er lügen, um das Mißtrauen des Verräters zu besänftigen und irgendwann Rache zu üben. Auch wenn Pharaun ihre langjäh rige Freundschaft weiterpflegen wollte, konnte er seinem Ka merad nie wieder restlos vertrauen. Einen Moment lang verspürte er das Gefühl von Verlust, doch er verdrängte es. Freundschaft und Vertrauen waren etwas für niedere Rassen. Sie schwächten einen Drow, und ohne sie war er besser bedient. Pharaun gab Ryld einen freundlichen Klaps auf die Schulter, wie er es schon tausendmal gemacht hatte.
Als die Türen geöffnet wurden, thronten alle acht Matronen des Rates auf einem Podest in der Form einer Pyramide aus acht Ebenen, wobei Triel natürlich etwas höher saß als die anderen. Ein leuchtendes marmornes Spinnennetz erstreckte sich über ihnen. Quenthel trat ein, gefolgt von Pharaun und den anderen Männern. Immerhin war sie die Herrin ArachTiniliths und eine Baenre. Sie hatte Grund, stolz zu sein. Wenn sie ehrlich war, dann gab es einen winzigen, verhaß ten und unterdrückten Teil in ihr, der nicht hatte eintreten wollen, weil sich ihr unbekannter Feind sehr wahrscheinlich hier in diesem Raum aufhielt. Die Matriarchinnen waren nicht die einzigen in der Nähe der Plattform. Jeggred, ein Symbol für die Gunst der Göttin
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und eine Quelle des praktischen Schutzes, hielt sich hinter Triels Platz auf. Diener eilten die Stufen hinauf und hinunter, um die Anweisungen der ehrbaren Damen zu erledigen. Gromph stand auf der höchsten Erhebung, ein Platz der größ ten Ehre für einen Mann. Als sie, der Magier, der Waffenmeister und der Söldner den Fuß des Podests erreichten, begann Triel sie für ihre Anstren gungen gegen den Gedankenschinder und dessen Schergen zu loben. Anfangs war die Lobrede weitgehend das, was Quenthel erwartet hatte. Doch bald nahm sie eine unerwartete Wen dung. Sie sollte eine Expedition nach Ched Nasad anführen, um herauszufinden, warum aus dieser Richtung keine Reisenden mehr kamen und was die Priesterinnen der Vasallenstadt über Lolths Schweigen wußten. Ryld, Pharaun Mizzrym und Valas Hune würden als ihre Stellvertreter agieren und Botschafterin Faeryl Zauvirr begleiten. Als der schwere Krieger mit der Zwergen-Brustplatte diese Neuigkeit erfuhr, nickte er nur zustimmend. Der Magier grins te, der Späher lächelte. Auch die Botschafterin, die in ihrer Nähe stand, schien erfreut zu sein. Dann sagte Triel: »Schließlich, meine liebe Schwester, stel le ich dir für deine Reise meinen eigenen Sohn Jeggred zur Verfügung. Ein Draegloth hat den Segen der Dunklen Mutter, und du könntest seine Kraft brauchen.« Einen Moment lang schien es, als wollte Faeryl protestieren. Jeggred sah auf sie herab. Offensichtlich hatte sich zwischen den beiden zu irgendeiner Zeit etwas so Unangenehmes abge spielt, daß die Botschafterin ihn verabscheute und ihm miß traute. Gromph verlagerte sein Gewicht ein wenig. Quenthel fand, daß er zumindest überrascht, vielleicht sogar etwas verärgert
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wirkte. Vielleicht hatte er nicht erwartet, Triel könne klug genug sein, ihren Agenten mitzuschicken, einen Untergebe nen, der allein ihre Interessen im Sinn hatte. Es gab tausend Argumente, die dagegen sprachen, in einer so unsicheren Zeit für Menzoberranzan, den Glauben und das Haus Baenre zu verlassen ... alles stürzte in diesem Moment auf Quenthel ein, doch letztlich sagte sie nichts. Die Versammlung besprach eine Stunde lang die Einzelhei ten des Plans, dann schickte Triel ihre neu bestellten Gesand ten los. Pharaun holte im Vorzimmer Quenthel ein. Er ver beugte sich, und sie gab ihm mit einer Handbewegung zu ver stehen, daß er sprechen durfte. »Ich nehme an, Herrin, Ihr wißt, warum sie uns ausgewählt haben?« murmelte er. »Ich verstehe es besser als Ihr«, gab sie zurück. Pharaun hob eine Braue und fragte: »Tatsächlich. Würdet Ihr das ausführen?« Sie zögerte, doch warum sollte sie nicht zumindest das Of fensichtliche aussprechen? Er war schließlich zu ihr gekom men, als die Revolte der Sklaven begonnen hatte. Er war ein wahrer Drow – ehrgeizig und verwegen genug, um darauf bau en zu können, daß er alles tun würde, was zu seinem Vorteil gereichte. Gromph hatte ihn zum Ablenkungsmanöver und zur Zielscheibe gemacht, und vielleicht würde sie ihn eines Tages zum Erzmagier von Menzoberranzan bestimmen. »Mein Bruder und meine Schwester haben uns fortge schickt, weil sie unseren Ehrgeiz fürchten.« »Ich wage zu behaupten, das ist sehr klug von ihnen«, erwi derte Pharaun. »Bedeutet das, Ihr begebt Euch widerstrebend auf diese Unternehmung?« »Nein. Welche Motive meine Geschwister auch haben, der Plan ist vielversprechend. Ich würde überall hingehen und
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alles tun, um meine Verbindung zu Lolth wiederherzustellen und Menzoberranzan zu retten; beides ist natürlich ein und dasselbe.« Sie brannte sogar darauf, Abstand zu ihnen zu bekommen, bis der Zeitpunkt gekommen war, an dem sie ihre Magie zu rückerhielt, vorausgesetzt, sie konnte das erreichen, ohne ei nen Statusverlust hinnehmen zu müssen. Überraschend sah es aus, als sei es ihr tatsächlich möglich. Das Problem mit den dämonischen Assassinen war auch noch nicht gelöst, und so stellte sie sich die Frage, ob ihr unbekannter Widersacher sich zu erkennen geben würde, wenn sie die Stadt verließ. Sie betrachtete ihren herausgeputzten Begleiter von oben bis unten. »Was ist mit Euch?« fragte sie den Magier. »Ihr seid mutig, das habe ich gesehen. Aber seid Ihr bereit, durchs Unterreich zu marschieren?« »Ihr meint, ob ein so herausragendes Exemplar wie ich es erträgt, auf warme Duftöle, üppige Mahlzeiten und frisch ge reinigte Kleidung zu verzichten?« gab Pharaun grinsend zurück. »Es wird zermürbend werden, doch angesichts der Umstände werde ich es schon schaffen. Ich liebe es, Rätsel zu lösen, vor allem, wenn ich das Gefühl habe, dabei meine persönliche Macht ausweiten zu können.« »Vielleicht werdet Ihr das«, sagte Quenthel. »Aber ich rate Euch, Eure Hände von allem fernzuhalten, was Eure Führerin für sich beansprucht.« »Selbstverständlich, Herrin.« Der Meister Sorceres machte eine tiefe Verbeugung.
Pharaun wirkte einen Zauber, dann glitt er wie ein Geist durch die geschlossene Tür. Auf der anderen Seite lag ein
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schmuckloser kleiner Raum, dessen Luft abgestanden roch. Greyanna saß auf dem einzigen Stuhl, wie eine Invalidin in ein großes Laken gewickelt, ihr narbiges Gesicht eine Maske der Verbitterung. Einen Moment lang sah sie ihn verständnislos an, dann warf sie das Laken von sich, wohl, um sich auf ihn zu stürzen. Er hob die Hände, als wollte er einen Zauber wirken, und die Drohgebärde an sich genügte, um sie in ihrer Bewegung erstar ren zu lassen. »Was für ein trostloses Quartier«, sagte er. »Das war mal Sabals Zimmer, nicht wahr? Als ihr Glück auf dem Tiefpunkt war. Mutter hat ein gutes Gedächtnis und einen reizenden Sinn für Ironie.« »Sie wird dich töten, Ausgestoßener, weil du in die Burg eingebrochen bist!« »Das nahm ich auch immer an. Das war ein Grund, warum ich dir bislang nie einen Besuch abstattete. Aber die Umstän de haben sich geändert. Der Rat braucht meine Hilfe, um herauszufinden, was mit der Spinnenkönigin geschehen ist. Für dich, liebste Schwester, interessiert sich niemand mehr. Nach dem Miz’ri dich degradierte, da es dir wiederholt mißlungen ist, mich zu töten, bezweifele ich, daß sie viel Aufhebens um dein Ableben machen wird – selbst wenn sie sicher ist, daß ich dafür die Verantwortung trage. Als ich sie heute Nachmittag im Haus Baenre sah, hat sie mich angelächelt, kannst du dir das vorstellen? Sie muß zu dem Schluß gekommen sein, daß es ihr gefallen würde, wenn ich eines Tages Sorcere verlasse und zur Familie zurückkehre. Offenbar beginnt sie zu verstehen, wie mächtig ich geworden bin, seit du mich vor so vielen Dekaden aus dem Haus getrieben hast.« »Ich bin überrascht, daß du mich immer noch töten willst«, sagte Greyanna. »Du hast mich schon besiegt und ruiniert. Der
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Tod könnte sich als Gnade erweisen.« »Darüber habe ich nachgedacht. Aber ich begebe mich auf eine Reise ins Ungewisse, eine Reise, auf der Gefahren und Widrigkeiten lauern. Ich werde etwas brauchen, an dem ich mich erbauen kann, eine Erinnerung, die so spektakulär und dramatisch ist, daß sie auf dem Weg meine Laune beflügelt.« »Ich kann dich verstehen«, meinte die Priesterin. »Aber ich frage mich noch immer, wieso es soweit kam. In all den Jahren habe ich nie begriffen, worauf sich unsere Fehde eigent lich begründet. Wenn ich schon sterben soll, dann sag mir wenigstens, warum du Sabal mir vorgezogen hast. War es Zu neigung? War es Lust?« »Weder noch«, kicherte Pharaun. »Meine Entscheidung hatte nichts mit der Persönlichkeit zu tun. Wie auch, wenn ihr euch so ähnlich wart? Ich habe mich lediglich auf Sabals Seite gestellt, weil sie an der untersten Sprosse der Mizzrym-Leiter hing. Ich hielt es für eine große Herausforderung, sie bis an die Spitze zu bringen.« »Danke, daß du es mir erklärt hast«, sagte Greyanna. »Und nun ... stirb.« Pharauns eigenes lebendes Rapier kam unter ihrem Laken zum Vorschein. Offenbar hatte Greyanna die Waffe nicht nur gestohlen, sondern auch herausgefunden, wie sie kontrolliert wurde. Zweifellos hatte sie ihn in seiner Form als Stahlring getragen, als er hereingekommen war. Da sie wußte, daß er gern und viel redete, hatte sie ihn mit dem Gespräch abge lenkt und nun völlig unvorbereitet erwischt. Die Waffe mit der langen, dünnen Klinge schoß durch den Raum auf Pharauns Brust zu. Hektisch wich er aus, und die Spitze bohrte sich stattdessen in seinen linken Unterarm. Eine Sekunde lang spürte er den brennenden Schmerz der Wunde nicht.
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Er mußte die Waffe bewegungsunfähig machen, ehe sie sich losreißen und ihn wieder angreifen konnte. Mit der rechten Hand packte er die Klinge, die in seine Handfläche schnitt. Das Rapier war zwar in erster Linie eine Stichwaffe, doch die Klinge war trotz allem scharf genug, um zu verletzen. Gleichzeitig warf Greyanna die Decke ab und packte einen Streitkolben, der hinter ihrem Stuhl gelegen hatte. Sie sprang auf und stürmte heran. Pharaun entging knapp ihrem ersten Schlag, dann warf er sich gegen sie, indem er ihr seine Schulter in den Leib rammte. Der Aufprall ließ sie zurücktaumeln. Sie verletzte sich dabei aber nicht, sondern lachte nur und lief wieder auf ihn zu. Er wußte, warum sie so gute Laune hatte. Sie dachte, er könne keinen Zauber wirken, um sie abzuwehren, weil seine Hand durch das Rapier in seinem Arm in ihrer Bewegung behindert war und er seine rechte Hand um die Waffe gelegt hatte. Sie hatte recht. Während er zurückwich, ließ er die lebende Waffe los und begann mit blutender Hand so schnell zu beschwören, wie es nur ein wahrer Meister konnte. Seine Schwester kam immer näher. Das Rapier befreite sich aus der Wunde, was weitere Schmerzen verursachte. Es drehte sich in der Luft und zielte erneut auf sein Herz. Fünf Pfeile aus azurner Energie schossen aus seiner rechten Hand und bohrten sich in Greyanna. Die gab einen seufzenden Laut von sich, dann brach sie zusammen. Ihr Streitkolben fiel polternd auf den Boden. Fast gleichzeitig hörte das Rapier auf, sich zu bewegen, und landete scheppernd auf dem Boden. Er betrachtete Greyanna aufmerksam, um sicher zu sein,
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daß sie wirklich tot war. Dann widmete er sich seinen eigenen Verletzungen. Sie waren unangenehm, doch ein oder zwei Heiltränke würden genügen, um sie zu heilen. »Danke, Schwester«, sagte er, »für dieses anregende Inter mezzo. Wenn ich aufbreche, um unser geliebtes Menzoberran zan zu retten, dann wird mein Herz von Freude erfüllt sein.«
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