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Von der Serie MAGIC. Die Zusammenkunft™ erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: 1. Band: William R. Forstchen, Die Arena • 06/6601 2. Band: Clayton Emery, Flüsterwald • 06/6602 3. Band: Clayton Emery, Zerschlagene Ketten •06/6603 4. Band: Clayton Emery, Die letzte Opferung • 06/6604 (in Vorb.) 5. Band: Ten McLaren, Das verwunschene Land • 06/6605 (in Vorb.) 6. Band: Kathy Ice (Hrsg.), Der Gobelin • 06/6606 (in Vorb.) Weitere Bände in Vorbereitung
CLAYTON EMERY
Zerschlagene Ketten DRITTER BAND
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6603
Titel der Originalausgabe MAGIC THE GATHERING™ SHATTERED CHAINS Übersetzung aus dem Amerikanischen von Anja Jacke und Armin Abele Das Umschlagbild malte Steve Crisp
Redaktion: Irene Bonhorst Copyright © 1995 by Wizard of the Coast, Inc. Erstausgabe bei HarperPaperbacks A Division of HarperCollinsPublishers, New York Copyright © 1996 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1996 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-09523-5
Es war der junge Stiggur auf dem Rücken seines mechanischen Untiers, der als erster die Gefahr erkannte. »Gull! Da, im Norden! Es ist ein... ein... Ich weiß nicht, was es ist!« Alle im Lager schauten auf. Es waren Dutzende von Leuten jeglicher Statur, Hautfarbe und Größe, die sich zum Schutz gegen den früh gefallenen Winterschnee in bunte Gewänder eingemummt hatten. Von hier aus konnten sie nichts sehen außer immergrünen Nadelbäumen, die sich über ihren Köpfen scheinbar bis ins Unendliche erstreckten. Gull, der Holzfäller, ließ sein Abendessen auf den schneebedeckten Boden fallen, stürmte quer durch das Lager und hechtete nach der Strickleiter, die an der Seite des mechanischen Monsters herabbaumelte. Der General dieses zusammengewürfelten Haufens hatte als Holzfäller angefangen und sah auch so aus: Er war groß und von dem ständigen Leben im Freien braungebrannt. Sein langes braunes Haar wurde im Nacken von einem Lederband lose zusammengehalten. Über einem wollenen Hemd trug er eine stark zerkratzte lederne Tunika, dazu einen ledernen Kilt, enganliegende rote Beinkleider und robuste kniehohe Stiefel. Sein Atem gefror, als er die Leiter hinaufkletterte. Das mechanische Untier war eine Konstruktion, die einem riesigen Pferd aus Holz und Eisenplatten mit mühlwerkähnlichen Eingeweiden glich: surrende hölzerne Getriebe, lederne Riemen, Flaschenzüge und Hebel. Noch immer hatte man nicht herausgefunden, ob die mechanische Kreatur lebendig war oder nicht. Man 5
wußte nur, daß sie die ganze Zeit lief, dabei wie ein Bienenstock summte und sich mit Hilfe von Hebeln steuern ließ, die aus ihrem Eichenholz-Schädel herausragten. Der Besitzer - oder Meister oder Freund - des Untiers war ein Waisenjunge namens Stiggur, dessen Name >Gatter< bedeutete, denn an einem solchen war er gefunden worden. Er war ein magerer Bursche von etwa dreizehn Jahren, der wie ein Würstchen in einer Pelle aus Leder und Wolle steckte, ganz nach der Art seines Helden - Gull. Dieser erklomm gerade das wacklige >Sattelnest<, das Stiggur in luftiger Höhe gebaut hatte. In den Monden, seit sie das Holzpferd gefunden hatten, hatte Stiggur es immer mehr bepackt: Er hatte Säcke, Körbe und Taschen aufgeladen sowie Waffen, Rüstungen und ähnliche Dinge daraufgestapelt, um die Ausrüstung des durch die Lande ziehenden Heeres zu transportieren. Gull hatte das Gefühl, als stünde er auf einem beweglichen Warenhaus, während er über die Wipfel der Zedern hinweg Ausschau hielt. Hier oben befand er sich beinahe zehn Schritt hoch über dem Erdboden. Die Taiga, ein subarktischer Wald aus immergrünen Nadelbäumen, bedeckte das gesamte flache Tal. Im Osten erhob sich das Land zu einer Hochebene, einem Tafelberg, der sich flach wie eine Tischplatte im Norden bis hinter den Horizont erstreckte. Weit im Westen ragte eine Sierra, eine zerklüftete Gebirgskette, in die Höhe, so hoch, daß ein Adler sie nicht überfliegen konnte. Also kämpfte sich das bunt zusammengewürfelte Möchtegernheer durch die Taiga in der Hoffnung, daß sie irgendwo endete - nur, daß ihm im Moment etwas den Weg versperrte... Ein Kegel, vermutete der Holzfäller, ein umgedrehter Kegel, der... zitterte? In der frostklaren Luft kam es ihm vor, als könne er nach dem Ding greifen und es berühren. Es maß mehr als hundert Schritt in der Höhe und war oben abgeflacht 6
wie der Rauch von einem Waldbrand, der von einer Gewitterfront niedergedrückt wird. Zum Boden hin verjüngte sich der Kegel zu einer dünnen Spitze. An der Stelle, wo er den Wald berührte, spuckte er Stücke und Klumpen durch die Luft wie ein Hund, der beim Graben Dreck zwischen den Beinen hervorschleudert. »Was ist das, Gull?« fragte Stiggur, der davon ausging, daß Gull alles wußte. Doch diesmal enttäuschte ihn der Holzfäller. »Ich weiß nicht, Kleiner. Es ist eine dunkle... Säule... aus wirbelndem Rauch. Ob es wohl gefährlich ist? Und wie weit ist es noch weg? Ich kann die Entfernung nicht schätzen...« Doch diese Stückchen, die da durch die Luft gewirbelt wurden, kamen ihm vertraut vor. War es ein Heulen, das er in der Ferne hörte...? Dröhnende, vom Schnee gedämpfte Hufschläge unterbrachen seine Gedanken. Bardo, der Paladin, brach auf seinem weißen Schlachtroß aus dem dunklen Wald hervor und donnerte ins Lager. Der kampfgestählte Ritter, der sich ganz und gar seinem Gott verschrieben hatte, trug über dem Kettenhemd einen erdbraunen Wollumhang, der das auf die Brust des Wappenrocks gestickte heilige Emblem frei ließ: einen geflügelten roten Stab. Gull hatte sich nie die Mühe gemacht, danach zu fragen, welchen Gott es symbolisierte - es gab so viele Götter. Der disziplinierte und übergenaue Bardo führte eine kleine Truppe von Jagdspähern an, von denen ihn jetzt zwei begleiteten, während die übrigen vier noch unterwegs waren. Sie alle waren mit Langbögen, die aus den Satteltaschen herausragten, und mit Langschwertern bewaffnet, die sie entweder auf dem Rücken befestigt hatten oder in Scheiden am Sattel trugen. Bardo hatte ein schmales längliches Gesicht mit Augen so blau wie die Gletscher seiner weit entfernten Heimat im Norden, und unter seinem Kettenhelm lugte strohblondes Haar hervor. Er trieb sein Pferd an das me7
chanische Untier heran, und sein trällernder Akzent verstärkte sich vor Aufregung. »Gull! Reitär im Nordän! Sie reitän am Rand des Tafelbergäs entlang und kommän direkt auf uns zu! Wir glaubän, es sind sischerlisch dreißig! Meine Spä'er prüfän, ob es genauso vielä im Westen sind! Isch vermute dies!« »Reiter? Kavallerie? Befinden sich irgendwelche Händler bei ihnen?« Ein Kopfschütteln. »Nein. Sie sind zum Krieg gerüstät.« »Nun...« Gull kam sich tölpelhaft und hilflos vor, wie üblich. Irgendwie war er zum Anführer dieser zusammengewürfelten Truppe ernannt worden, und nun erwartete man von ihm, daß er Entscheidungen traf. Wie sollte er dafür geeignet sein? Er war ein Holzfäller. Bäte man ihn, einen Weißdorn zu fällen, ohne danebenstehende Bäume auch nur zu streifen, so könnte er ihn auf einen Stecknadelkopf fallen lassen. Aber fragte man ihn, wie eine angreifende Armee aufzuhalten wäre... »Sie müssen hinter uns her sein, schließlich ist sonst niemand hier draußen. Stiggur, gib Alarm!« Der Junge hob ein gold-ziseliertes Widderhorn und blies so kräftig hinein, daß der Trompetenstoß Gulls Schädel erschütterte. »Bardo, signalisiere deinen Kundschaftern, auf Posten zu stehen, ohne einzugreifen, wie immer du das schaffst. Schick Helki und Holleb nach... äh... Westen, damit du in keinen Hinterhalt gerätst. Und jemand soll die Nachhut bilden, damit wir nicht überrascht werden.« Bardo runzelte die Stirn. »Isch 'abe abär nischt genüg Leute dafür.« »Oh, klar. Nun ja, ich mach das schon. Abrücken! Nein, warte! Klettere erst mal hier hoch und schau, ob du dieses Ding erkennst.« Unter ihm stopften sich die Soldaten und Soldatinnen ihr Abendessen in Münder und Hemdtaschen und griffen zu den Waffen, während ihre Frauen und Männer 8
ihnen dabei halfen, die Rüstungen anzulegen. Die Köchinnen und der Rest des Gefolges beeilten sich, das Lager zu sichern. Überall rannten die Leute durcheinander, und zwei Soldaten stießen zusammen, als sie den lauten Befehlen ihres Weibels folgten. Bardo, der niemals zu Fuß ging, wenn er reiten konnte, drängte sein Pferd seitwärts und packte die Strickleiter vom Sattel aus. Er quetschte sich neben Gull auf den schmalen Rücken des Holzpferdes und runzelte die Stirn beim Anblick des wirbelnden Kegels im Norden, »'ab so etwas noch nie gese'än.« »Und du kommst aus dem Norden...«, wunderte sich Gull. »Varrius, wo bist du? Varrius! Klettere doch mal hier hoch, ja?« Varrius war ein dünner Mann mit knotigen Armen, einem dichten schwarzen Bart und einer von südlicher Sonne gebräunten, tief zerfurchten Haut. Er beauftragte einen Korporal damit, seine Soldaten zu sammeln, lief zu dem mechanischen Pferd und stieg hinauf. Als er oben ankam, erbleichte er. »Bei den Waffen von Hyperion! Das ist ein Tornado!« »Tor-na-do?« fragte Gull und dachte wieder einmal darüber nach, daß ein unwissender Holzfäller, der die ersten zwanzig Jahre seines Lebens in einem kleinen Dorf verbracht hatte, einen armseligen Abenteurer abgab. »Was ist...« »Ein Wirbelsturm!« rief der Soldat. Er trug mehr Kleidung als üblich, denn sein Körper war eher an die heißen Länder des Südens gewöhnt, und darüber schützte ihn ein schuppenartiger Brustpanzer. Auf dem Kopf saß ihm ein gepolsterter Helm mit einem großen roten Federbusch, und an seinem Waffengurt hingen ein Kurzschwert und ein fast ebenso langer Dolch. »Das ist ein... mörderischer Sturm! Er dreht sich so schnell, daß er ein Haus in die Luft schleudern kann! Siehst du nicht, wie diese Bäume zum Teufel gehen?« Gull starrte hin. Der Tornado war nun näher gekom9
men, obwohl er immer noch nicht genau sagen konnte, wie nahe er war, denn in diesem Meer aus Grün war es unmöglich, Entfernungen abzuschätzen. Doch nun erkannte er die Stücke, die durch die Luft flogen: Nadelbäume, sicherlich zwei bis drei Schritt hoch! Während der Sturm heranwirbelte, wurden Dutzende davon in alle Richtungen geschleudert, wie Holzspäne unter einer Säge. Als er dies erkannte, konnte Gull nur noch stammeln: »O mein Gott!« Kaum eine Meile entfernt riß dieser sicherlich hundert Schritt hohe Tornado eine gut zwanzig Schritt breite Schneise durch den Wald - und raste geradewegs auf sie zu! Panik überflutete das Lager wie ein zweiter Wirbelsturm. Das Lager war auf einer gerodeten Lichtung über kurzen Baumstümpfen und zertrampelten Zweigen und Nadeln errichtet worden. Da es in diesem schier endlosen Wald keine freien Flächen gab, mußte jede Lagerstelle von neuem bereitet werden: Bäume wurden gefällt und die harzigen Zedern verbrannt. Zwischen dem Matsch, dem verkrusteten Schlamm und den verstreuten Ästen breitete sich ein ungeordnetes Durcheinander von Zelten und Schlafdecken aus. Die Arbeitsstätte der Köchinnen war einigermaßen sauber, wie auch die der Kartographen und Bibliothekare, aber der Rest... Es gab nicht einmal anständige Latrinen, und so hatte bisher wahrscheinlich nur die Kälte die Ausbreitung von Krankheiten verhindert. Wenn sie sich erst einmal wieder beruhigt hatten, dachte Gull, mußten sie sich endlich organisieren... Die Leute rannten und stolperten wild durcheinander. Bardo und seine Späher verschwanden im Grün, ohne eine Spur zu hinterlassen, während die Kentauren Helki und Holleb, das eheliche >Spießgespann<, die Visiere ihrer bemalten, gerieften Helme hinunterklappten und 10
ihre gefiederten Lanzen erhoben. Unter ihren geschmückten Brustplatten und ihrem Kriegsgeschirr - das um ihre glänzenden rötlichen Flanken geschnallt war wurden sie von Hemden und Pferdedecken gewärmt. Der steinalte Riese Liko mit seinen zwei schlichten kahlen Köpfen und nur einem Arm rappelte sich auf, nur um den anderen im Weg zu stehen. Er allein konnte über die Bäume hinwegsehen, aber es würde eine Weile dauern, bis die Gefahr, die von dem Windkegel ausging, sein träges Hirn erreichte. Tomas, Neith und Varrius, die schuppengepanzerten Weibel in Rot, brüllten ihre bunten Truppen an, schlugen ihnen das Essen aus den Händen und verlangten, die Waffen zu überprüfen. Drei heilige muronische Derwische drehten sich wild im Kreis und kreischten, daß der Augenblick des Jüngsten Gerichtes nahe sei. Der wirbelnde Fuß des einen trat einen Koch zu Boden, so daß sich ein Kessel mit dampfender Suppe in den Schnee entleerte. Andere rannten hin und her und bestürmten einander mit Fragen. Mitten in dieses Gewimmel sprang Gull hin und her und bellte Befehle, die niemand hörte. »Stiggur, treib dein Pferd an! Weg vom Lager! Ihr anderen, geht in Deckung! Hier, schnapp dir diese Pferde! Binde sie an die Bäume, aber mit Abstand... He! Ich rede mit dir! Komm her! Schaff diesen...« Irgend jemand stülpte einen Korb um und ließ eine dreckige graugrüne Gestalt - nicht größer als ein Kind herausfallen. Sie war in Lumpen gehüllt und ähnelte einem Laubhaufen: Es war ein Goblin, die nutzloseste aller Kreaturen, der den Namen Egg-Sucker trug. Als er den kalten Schnee unter den bloßen Füßen fühlte, hechtete er nach einem warmen Untergrund und landete genau auf Gulls Stiefeln. Verärgert packte der Holzfäller den Quäkenden im Nacken und warf ihn zwischen die Zedern. Egg-Sucker war eine Art von Maskottchen nutzlos, aber unentbehrlich. Bevor Gull sich umdrehen konnte, rannte ihn eine junge Frau mit einem Arm voller 11
Schriftrollen beinahe über den Haufen. Gull kannte ihren Namen nicht, er wußte nur, daß sie eine Adeptin der Magie war, die seine Schwester Greensleeves irgendwo auf dem Weg aufgesammelt hatte. Das Mädchen entschuldigte sich und kroch über den Boden, um die Pergamente aus dem Schlamm zu retten. Gull fühlte, wie ihm ein Baumstamm gegen die mit Leder und Wolle gepolsterte Schulter krachte, und zuckte zusammen. Aber es war nur der Riese Liko, der ihn fragte, was er tun solle. Trotz der Kalte trug der Gigant nur einen ärmellosen langen Kittel aus geflickten Segeltuchplanen, alten Schiffssegeln und rohen Ochsenhäuten, die sie in einem Schlachthaus eingetauscht hatten. Der gewaltige Dummkopf hatte den linken Arm in einer Schlacht verloren - er war ihm von einer Felsenhydra bis zum Ellbogen abgebissen worden. Zum Ausgleich dafür hatten Gull und andere Handwerker eine eisenbeschlagene lange Keule gefertigt, die genausoviel wog wie der verlorene Arm des Riesen, und sie am Stumpf festgebunden, so daß er ohne Gleichgewichtsstörungen gehen konnte. Gull legte den Kopf in den Nacken und kratzte sich. »Was du tun sollst? Ähm, nun... geh da rüber und sieh mal, ob du irgendwelche Reiter auf Pferden siehst. Zeig dich ihnen, dann komm zurück und mach Meldung, in Ordnung?« Der Riese nickte und stampfte davon, während seine schmutzigen bloßen Füße tief in den matschigen Lehmboden einsanken. Er fühlte nicht einmal, wie ihm die scharfen Aststrünke, von denen es im Lager nur so wimmelte, die Haut aufrissen. Die Lichtung leerte sich, doch Gull vermochte nicht genau zu sagen, wohin die Leute verschwanden. Sollen sie ruhig gehen und sich im Wald verstecken, dachte er und rannte auf eines der drei großen Zelte am Rand der Lichtung zu. Als er sich im Eingang duckte, stieß er beinahe mit dem Kopf gegen den seiner Schwester. Greensleeves sah aus, wie ihr Name vermuten ließ: 12
ganz in Grün gekleidet, einige Kleidungsstücke zerlumpt, andere fast neu. Sie trug ausnahmsweise sogar Schuhe, um sich gegen den Schnee zu schützen, und ihren alten zerrissenen Schal, den ihre Mutter gestrickt hatte, hatte sie über den grünkarierten Umhang um die Schultern gewickelt. Ihr Kopf war wie immer unbedeckt, und das braune Haar war wie das ihres Bruders zerzaust. Sie ähnelten sich sehr, Greensleeves reichte Gull allerdings gerade bis zur Brust. Zu ihren Füßen trippelte ein Dachs mit abgerissenem Ohr, eine Art Haustier. Auf ihrem Schal hockte eine kleine Kohlmeise namens Cherrystone. »Greenie! Nimm Lily und geh in Deckung! Da kommt ein Tornado, ein gewaltiger Sturm!« »Aus w-welcher Ri-Richtung?« Bis vor wenigen Monden war Greensleeves noch halb schwachsinnig gewesen. Erst nachdem sie ihre Heimat, den Flüsterwald, und seinen benebelnden Zauber hinter sich gelassen hatten, hatte sich ihr Geist geklärt, und sie hatte sprechen gelernt, obwohl es ihr immer noch schwerfiel. Die Magie des Waldes hatte jede Faser ihres Körpers durchströmt und sie zu einer mächtigen, naturverbundenen - aber ungelernten - Zauberin gemacht. Als Gull nach Norden deutete, verschwand sie im Innern des Zeltes, dicht gefolgt von ihrem Dachs. »Ich hahabe vielleicht e-etwas...« »Greenie! Komm... oh!« Lily drängte sich durch den Zelteingang - eine weitere unausgebildete Naturzauberin und Gulls Quelle der Liebe und ständiger Verwirrung. Sie war ganz in Weiß gekleidet wie ein Hermelin im Winterpelz. Über ihrem Kleid, das von einem Gürtel zusammengehalten wurde, trug sie eine mit Blumenstickereien geschmückte kurze Brokatweste, dazu robuste Schnürschuhe und einen weißen Umhang, der am Saum mit weiteren blauen, roten und gelben Blumenmustern bestickt war. Lilys kaffeebraunes Gesicht wurde von schwarzem Haar um13
rahmt, das am Hinterkopf zusammengebunden war und in das weiße Bänder geflochten waren. Sie schenkte dem Holzfäller ein strahlendes Lächeln, stellte sich, ohne zu überlegen, auf die Zehenspitzen, um ihm einen raschen Kuß zu geben, besann sich dann jedoch und hielt inne und riß die Wunde in Gulls Herzen erneut auf. Sie bewegte sich noch ungelenk, da sie in den zurückliegenden Monden einen Arm- und Beinbruch erlitten hatte. Es war jedoch nicht dieser alte Schmerz, sondern die Last auf ihrer Seele, die sie von Gull Abstand halten ließ. Sie murmelte nur: »Ich passe auf Greensleeves auf. Du kümmerst dich um das Lager.« »Aber...« Sie war verschwunden. Inzwischen hörte Gull das Heulen des wirbelnden Sturms und das Bersten von Holz. Er gab es auf, sich um die Frauen zu sorgen. Beide konnten wahrscheinlich den Tornado reiten wie er eine zahme Kuh. Er würde zu seinen Pflichten zurückkehren und den General dieses Pöbelhaufens spielen. Obwohl er nicht gerade viel über Kriegsführung wußte... Endlich kehrte ein wenig Ordnung in das Lager ein, wenn auch hauptsächlich deshalb, weil die meisten der Nichtkämpfer in den niedrigen Wald gerannt waren, um sich zu verstecken. Die >roten< Weibel - so genannt wegen ihres buschigen Federschmucks - Tomas, Neith und Varrius hatten ihre Truppen in ungeordneten Reihen gesammelt. Einige nahmen Haltung an, als Gull heranschlurfte, andere hantierten an ihren Rüstungen herum oder würgten die letzten Bissen ihrer unterbrochenen Mahlzeit hinunter. Der große, kahlköpfige, tiefgebräunte Tomas brüllte unter seinem schwarzen Bart: »Was sind Eure Befehle, General?« Gull winkte unbestimmt mit seiner riesigen Doppelaxt. In Zeiten wie diesen hätte er wirklich lieber Holz gefällt. »Tom, nimm deine Männer und Frauen und stelle sie ungefähr... äh... zweihundert Schritt weiter im Nordosten in einer Linie auf. Var, tu das gleiche im 14
Nordwesten. Wir müssen das Lager verteidigen. Neith, führ deine Leute nach hinten und laß sie ausschwärmen, um uns Rückendeckung zu geben. Wenn ihr von der Hauptmacht angegriffen werdet, zieht euch zum Lager zurück. Ansonsten haltet sie vom Zentrum fern. Und haltet die Köpfe unten, wenn diese Sturmwolke heranfegt. Verstanden?« Selbstverständlich hatten sie es verstanden, doch sie hatten trotzdem noch Dutzende von Fragen, aber die Disziplin verbot es ihnen, diese Fragen zu stellen. In bester militärischer Manier würden sie sich >durchwursteln<. Gull sah ihnen nach, als sie zwischen den kleingewachsenen Bäumen verschwanden. Er überprüfte seine Ausrüstung: Er trug seine Axt, und in einer seiner Gürtelschlaufen hing eine neue schwarze Peitsche aus Schlangenleder, in der Art, wie er sie früher benutzt hatte, um Fliegen von den Ohren seiner Maultiere zu schnippen. Aber wo waren Langbogen und Köcher? Er hatte sie von der Flanke des mechanischen Pferdes gelöst und sie an einen Zeltpfosten gehängt, doch nun waren sie verschwunden. Wer könnte...? Irgend jemand rannte auf das Feuer zu, packte eine brennende Fackel - Gull hatte keine Ahnung warum und zögerte, als wisse er nicht, wohin er sich wenden solle. Gull schrie: »Geh in Deckung, du Narr!« Kopfschüttelnd - den Langbogen hatte er schon wieder vergessen - zwängte er sich durch die Zedern zur Frontlinie, wo diese und der gewaltige Wirbelsturm sich auch immer befinden mochten. Gerade hatte er die Linie erreicht und dem Zuruf eines Wachtpostens geantwortet, als ein markerschüttertes Geschrei die frostklare Luft durchschnitt. Es war unmöglich zu erkennen, wie der Angriff aussah oder woher er kam, außer von vorn - oder vielleicht doch von der Seite oder von hinten? Als die Schreie erneut anschwollen, fluchte Gull und 15
rannte los. Der Wald sah überall gleich aus und erstreckte sich meilenweit nach Osten und Westen. Der sandige flache Boden des Tales war von einer dicken Schicht abgestorbener brauner Nadeln bedeckt. Verwöhnt vom Sonnenlicht und nur von benachbarten Zedern bedrängt, hatten sich die Bäume ausbreiten können, bis sich ihre süßlich duftenden steifen Zweige ineinander verhakten. Der Wald war wie ein Meer aus brusthohem Wasser, das sich in alle Richtungen ausdehnte. Ein schlechter Platz zum Kämpfen, schalt sich Gull. Ein echter General hätte ein anderes Schlachtfeld gewählt. Und wo steckte der Rest der Truppen? Den einzigen Orientierungspunkt bildete der Tornado, den Gull nun erkennen konnte, obwohl er sich mitten im dichten Wald befand. Genau nördlich von ihm türmte sich der Sturm wirbelnd in den Himmel und spuckte zerhäckselte Bäume wie Melonenkerne durch die Luft. Und doch schien er nicht näher zu kommen! Konnte ein solches Ding einfach auf der Stelle kreiseln? Konnte ein Zauberer es beschwören und vielleicht lenken? Das wäre so gewesen, als ob man einen Berg lenkte! Überall um sich herum sah Gull >seine< Soldaten, ein Kopf hier, ein Hut dort, aufgestellt in einer unregelmäßigen gekrümmten Linie. Aber wo steckte der Feind... Dann sah er ihn! Dunkel war er, dunkler noch als Tomas, beinahe schwarzhäutig, und sein Gesicht zierte ein schwarzer Bart. Ein wollenes Gewand, leuchtendblau wie der Abendhimmel, umhüllte die gesamte Gestalt des Mannes, selbst der Kopf war mit einem Tuch umwickelt. Einen >Turban<, so hatte man diese Art von Kopfschmuck damals in jener Hafenstadt genannt. Das Pferd des Mannes war dunkelbraun und trug ein reichverziertes goldbesetztes Ledergeschirr. Über dem Kopf schwang er ein mondsichelförmig gebogenes Schwert, doch er hackte damit nicht nach den Bäumen, denn das Pferd tanzte behende zwischen ihnen hindurch - nein, er bewahrte sich seine Hiebe für die Feinde auf. 16
Gull sah, wie einer seiner Soldaten - er kannte den Namen des Mannes nicht - rasch zurückwich, sich dabei zunächst in den verschlungenen Ästen verfing, dann jedoch in Kampfstellung ging und sein Langschwert hob. Ein Kurzbogen war auf seinem Rücken befestigt, aber er hatte weder Zeit noch Gelegenheit gefunden, einen Pfeil aufzulegen und zu zielen. Nun wartete er auf den Angriff des Reiters. Speere, verdammt, dachte Gull, wir brauchen Speere! Oder, noch besser, Lanzen, die man in den Boden rammen könnte, um die berittenen Truppen aus dem Sattel zu reißen! Sich jedoch mit Schwertern einem Kavallerietrupp zu stellen, war sinnlos. Der hoch zu Roß sitzende Reiter stürmte allzurasch auf den Fußsoldaten zu, schlug mit Leichtigkeit dessen Schwert beiseite und holte dann rückhändig mit seinem gebogenen Säbel aus. Dem durch den überraschenden Angriff wie gelähmt dastehenden Infanteristen wurde die Schädeldecke durch den Hieb der rasiermesserscharfen Klinge abgetrennt. Gull zuckte zusammen, als er das schreckliche Schauspiel beobachtete, und verfluchte sich selbst für seine mangelhafte Vorbereitung. Zedernzweige schrammten ihm die Ellbogen auf, als er nach dem Langbogen griff, der ihm über der Schulter hing... Doch er war nicht da! Dann erinnerte er sich: Er hatte ihn irgendwo im Lager verloren. Gull schnappte nach Luft, als der Reiter sein Pferd herumwarf und auf ihn zukam. Wie ein Dämon aus der Hölle kreischend, schwang der Mann die Sichelklinge hoch über der Schulter und griff den Holzfäller an. Da er keine andere Verteidigungsmöglichkeit sah, duckte sich Gull und rannte weiter. Nahe am Boden wuchsen die Bäume noch dichter, und obwohl ihre Äste längst abgestorben und nadellos waren, waren sie noch immer zäh wie Draht. Zu anderen Zeiten hätte Gull nie daran gedacht, unter ihnen hin17
durchzukriechen, aber nun beseelte ihn die Kraft der Verzweifelten und Gejagten. Wie eine Schlange schlitternd, kroch er über den Boden und stieß sich mit Kopf und Schultern voran durch das laut knackende und splitternde Unterholz. Zahllose Nadeln verfingen sich in seinem Haar und stachen ihn in den Nacken, als er sich mühevoll vorwärtskämpfte. Dabei behinderte ihn die schwere Axt, die er mit der linken verkrüppelten Hand umklammert hielt {drei Finger hatte er durch einen Unfall beim Holzfällen eingebüßt). Gleichzeitig machte ihm sein lahmes rechtes Knie zu schaffen, das einst von einer heimtückischen Ulme zerschmettert worden war. Kein Soldat hatte Gull jemals so schwer verwunden können wie stürzende Bäume. Wie ein Ertrinkender nach Luft schnappend, entschied Gull, daß er nun weit genug vorangekommen war - sicherlich vier Schritt -, er kniff die Augen zusammen und brach durch die verhakten Äste nach oben wie ein riesiges verrücktes Kaninchen. Es war die falsche Stelle! Der blaugewandete Reiter befand sich etwa vier Schritt entfernt und war immer noch kampfbereit. Aufmerksam suchte er den Boden auf der anderen Seite seines Pferdes ab, denn er hatte gesehen, wie Gull dort verschwunden war. Doch er hatte Gulls Fluchttunnel nicht verfolgen können - sein Fehler! Nadeln und Zweige ausspuckend, erhob der Holzfäller die Axt und riß sie über die Schulter, als wolle er Holz spalten. Er würde niemals einen anständigen Soldaten abgeben, bedauerte er, denn er konnte nicht einmal aus der Deckung heraus angreifen. «Hier bin ich, du Ratte!« Überrascht drehte sich der Reiter blitzschnell um, doch er war nicht schnell genug. Sein Pferd schien unter seiner erfahrenen Hand zu tanzen, aber das wogende Grün hielt es fest gefangen. Der Kavallerist erhob seinen Krummsäbel, halb angreifend, halb zurückschreckend... und Gulls acht Pfund schwere Axt fiel. 18
Die schwere Klinge, scharf genug, um ein Haar zu zerschneiden, spaltete den rechten Oberschenkel des Mannes, seinen Sattel und den Brustkorb des Pferdes. Das Pferd schnaubte und versuchte zu wiehern, doch es bekam keine Luft mehr, da seine Lungen angeritzt worden waren und sich schnell mit Blut füllten. Der Reiter blinzelte nur, als sich sein Bein teilte, die untere Hälfte abfiel und im Steigbügel baumelte. Gull bemerkte beiläufig, daß der Mann lederne Schuhe trug, die sich an der Spitze, an der ein winziges silbernes Glöckchen bimmelte, nach oben bogen. Blut spritzte durch die Luft und färbte die Äste der Nadelbäume rot. Aus dem Gleichgewicht gebracht, taumelte der Reiter mit versagendem Herzen zur anderen Seite, doch diszipliniert, wie er war, behielt er den Krummsäbel und die Zügel fest in der Hand. Sein Gewicht riß den Kopf des Pferdes herum, doch das Tier röchelte mit blutigem Schaum vor dem Mund, schwankte, stürzte gegen einen Baum und sank langsam zu Boden. Der ehemalige Eseltreiber empfand Mitleid mit dem Tier, denn er wußte, daß es einen langen Todeskampf vor sich hatte. Der Reiter, vermutete Gull, war ohne Zweifel ein ebenso einfacher Mann wie er selbst, der durch die Laune eines Zauberers von irgendeinem entfernten Landstrich der Domänen beschworen und unter dem Bann einer Zauberformel zum Kampf gezwungen worden war, nur damit der Zauberer die Kraft eines anderen Magiers rauben konnte. »Bei meinen Klöten!« fluchte Gull. Falls er jemals den Sinn seines Lebens vergessen sollte, die Welt würde ihn schon daran erinnern! Er, seine Schwester und das Heer waren ausgezogen, um die Magier mit allen Mitteln aufzuhalten, sie daran zu hindern, ganze Landstriche zu verwüsten und das Leben der einfachen Leute zu zerstören. Allerdings waren auch seine Schwester und Lily, seine Geliebte - oder frühere Geliebte oder Beinahe-Geliebte - ebenfalls Zauberinnen! 19
Gedanken und Ungereimtheiten beiseite wischend, brach Gull durch die Bäume und suchte nach seinen Soldaten. Wo waren sie nur? Hatte er sich verirrt? Er drehte sich langsam im Kreis und suchte nach dem Wirbelsturm, um sich orientieren zu können. Doch er war verschwunden! Der Himmel war eisblau, so klar, wie nur die Winterluft im Gebirge sein konnte. Wie...? Plötzlich hörte er ein Rufen, drehte sich um und kämpfte sich in die entsprechende Richtung vor. »Gut Freund!« rufend, näherte er sich einer in Lumpen gekleideten Frau mit Armbrust und Pike, die ihm mit einem Nicken den Weg zu Tomas wies. Bald schon standen sie sich in dem vertrackten grünen Labyrinth gegenüber, und Gull fragte: »Konntest du einige Reiter gefangennehmen?« Gefangene zu machen, war ihre Hauptaufgabe, denn diese brachten Erfahrung mit, und das konnte in der Hitze des Gefechts von Nutzen sein, da solche Dinge allzuoft vergessen wurde, wie Gull soeben bewiesen hatte. »Vielleicht, General. Istu hat einen Mann aus dem Sattel gestoßen. Vielleicht überlebt er«, berichtete der Soldat, schob sein Kurzschwert in die Scheide und unterstrich mit blutigen Händen jedes seiner Worte. »Sie griffen unsere rechte Flanke an, also wissen wir, daß es da draußen zwei Armeen gibt, die uns in die Zange zu nehmen versuchen. Wir haben drei erledigt, vermuten wir, und einen von uns verloren, bevor sie sich zurückzogen. Sie johlten in irgendeiner gottverdammten Sprache, beschimpften uns vermutlich als Waschlappen, und dann machten sie sich aus dem Staub zurück nach Norden.« Die beiden Männer standen so dicht beieinander, daß Gull Tomas' Schweiß und seinen Knoblauchatem roch, denn von dieser Knolle machten er und seine Südländer ständig Gebrauch. »Könnte es möglich sein, daß sie uns umkreisen, um das Lager von hinten einzunehmen?« »Kann ich nicht sagen, General.« Er wedelte mit der 20
Hand in der Luft herum. »Sie können überallhin geritten sein.« Gull erhob die Stimme: »Hat irgend jemand von euch gesehen, wohin dieser Windsturm verschwunden ist?« Er stellte fest, daß er nur vier weitere Soldaten sah, und fragte sich, wo die gefallenen Reiter lagen. Ihr Blut und ihre Knochen würden wohl noch jahrelang Nahrung für diese Bäume bieten. Da niemand antwortete, sprach Tomas: »Wir hatten genug damit zu tun, den Angriff abzuwehren, General.« Gull schaute grimmig auf das grüne Meer. Von nun an würde er auf dem Rücken des Holzpferdes bleiben und es als eine bewegliche Festung benutzen oder zwischen Likos schweren Köpfen reiten, damit er sah, was der verdammte Feind tat. »Nun, ziehen wir uns zurück, bis... äh... hundert Schritt vom Lager entfernt. Wir müssen in Rufweite...« Mit weitaufgerissenem Mund hielt er inne. Tomas drehte sich um und fluchte: Direkt über ihren Köpfen schwirrten Dutzende von Schwertkämpfern und Schwertkämpferinnen auf fliegenden Teppichen durch die Luft. »Das Lager!« brüllte der Holzfäller. Der Tornado hatte sie offensichtlich nur vom Lager ablenken sollen. Er hob seine Axt, um die Äste einer Zeder zur Seite zu schlagen, fuhr herum und erstarrte. Ihm gegenüber stand eine haarige schwarze Menschengestalt. Obwohl sie bucklig war wie ein Bär, war sie breiter, größer und stärker als Gull. Das Wesen riß das Maul auf, entblößte scharfe Eckzähne und brüllte.
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Norreen setzte sich ihr schläfriges Kind bequemer auf den Schoß und verschnürte ihr Mieder. Der kleine Hammen, dunkel wie seine Eltern, murmelte verschlafen. Wie jeden Abend war er beim Stillen eingeschlafen. Wenn sie ihn nur in seine Wiege legen könnte, ohne ihn aufzuwecken... »Papa?« gluckste das Kind mit weitgeöffneten Augen, die in dem gleichen dunklen Türkisblau wie die seines Vaters leuchteten. »Wo Papa?« Norreen fühlte einen Stich im Herzen. »Er ist... draußen, Schätzchen. Er sieht nach den Tieren.« »Oh. Aber Hammen möchte, daß Papa...« Die Müdigkeit siegte, und die Augen des Kindes fielen zu. Inzwischen hatte ihn seine Mutter in die Wiege gelegt. Er wuchs so schnell, daß er kaum noch hineinpaßte und seine immer größer werdenden Füße gegen das Fußbrett stießen. Er würde einmal ein großer Junge werden, ein Mann wie ein Baum, so wie alle aus ihrer Familie, die sie so lange nicht mehr gesehen hatte. Ein weiterer Stich fuhr ihr ins Herz, und sie versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf das Kind zu lenken. Er konnte nun schon sprechen, richtig sprechen. Der Junge braucht ein Bett und keine Wiege, dachte sie. Aber sein Vater würde ihm keines anfertigen, er war zu beschäftigt. Bei diesem Schmerz stiegen ihr Tränen in die Augen. Mit verschleiertem Blick zog sie die Schnüre ihres Mieders fester. Zumindest konnte sie sich daran erfreuen, daß ihre Brüste und ihr Bauch wieder flacher wurden. Bei den Göttern, eine Geburt forderte einen großen Tribut vom Körper einer Frau! Sie hatte weitaus weniger 22
Narben und Entstellungen auf dem Schlachtfeld erlitten. Aber nun, da der kleine Hammen laufen konnte und draußen allein zurechtkam, wollte Norreen sich etwas mehr Bewegung verschaffen. Sie wollte wieder mit den Übungen beginnen: das Gefühl für Schwert, Schild, Dolch und Bogen in Armen und Schultern wiedergewinnen. Lediglich mit einem schlichten wollenen Bäuerinnengewand und einem Schnürmieder bekleidet, mit langem, leicht gewelltem schwarzen Haar, zeugte nur wenig davon, daß sie früher eine Kriegerin gewesen war - außer dem siebenzackigen Stern, der auf ihren linken Unterarm tätowiert war... und ihren Erinnerungen. Sie schüttelte den Kopf und suchte nach ihrem Gemahl. Außerhalb der Hütte war die Luft kühl und feucht. Der Nachthimmel war teilweise bewölkt, und der Nebelmond stand wie ein grauer Dunststreif am westlichen Horizont. Hier bestanden die Südlande aus kleinen Wäldern und sanften Hügeln, die zum größten Teil kultiviert waren, um den gierigen Hunger der Stadt Estark im Norden zu stillen. Langsam fiel das Land gen Süden ab, bis es auf das Endlose Meer und die grünen Lande des hinterwäldlerischen Gish traf. Ihre Hütte schmiegte sich an einen Hügel, der mit Catulpabäumen und zitternden Espen bestanden war und von einem klaren Fluß begrenzt wurde. Am Fuß des Hügels lag ein kleines Tal, in dem Weinstöcke wuchsen - kopfhohe Lattenwerke, die sich in Reihen gegen den Abhang lehnten und sich talwärts bis ins Weideland erstreckten. Gemeinsam mit ihrem Mann besaß Norreen alles Land in Sichtweite, denn sie waren einst sehr reich gewesen und hatten viel Land erwerben können. Es war guter Boden: Der Abhang wies nach Süden und bekam reichlich Sonne und Regen, und die Nächte waren niemals kalt. Der Weinberg war sehr ertragreich gewesen, der beste in der Gemeinde, damals, 23
als sie ihn kauften. Jetzt hätte man ihn genausogut für einen Aschehaufen halten können. Ihr Gemahl stand gedankenverloren oben auf dem Hügel, starrte blicklos in die Nacht und dachte nicht an den Hof - oder an sie. Sie näherte sich ihm vorsichtig mit schlurfendem Schritt. Aufgrund der jahrelangen Übung und des mühevollen Überlebenskampfes war es gefährlich, jemanden ihresgleichen zu überraschen. Ein Mensch mochte dabei sehr rasch zu Tode kommen. »Garth?« »Hä?« Er fuhr erschreckt herum, dann jedoch kehrten seine Gedanken in die Wirklichkeit zurück, und er antwortete: »O Norreen. Du bist es.« »Wer sollte es sonst schon sein?« erwiderte sie gereizt. Außer ihr und dem Kind gab es nur drei Knechte auf dem Hof. »Was tust du denn? Hammen wollte, daß du ihn ins Bett bringst.« »Hä?« Er wandte sich ab. Verärgert stach Norreen ihm mit einem scharfen Fingernagel in den Rücken. Wieder sprang er auf wie ein Tiger, entspannte sich allerdings schnell wieder. Norreen hätte heulen mögen. Es war nun fünf Jahre her, seit sie um ihr Leben gekämpft hatten, und noch immer waren sie beide scheu wie hungrige Wölfe. Würden sie denn niemals Frieden finden? »Hör mir zu! Ich bin deine Gemahlin, verdammt! Hör auf, den Mond anzuheulen, und rede mit mir! Was ist mit dir?« »Ach, nichts...« Garth war ein mittelgroßer dünner Mann mit schmutzigem, schlecht geschnittenem dunklen Haar - Norreen war keine Barbierin. Obwohl er die abgetragene Wollhose und die einfachen Schuhe eines Bauern trug, hatte er noch immer ein mit blauem Faden reich besticktes schwarzes Hemd an. Um die Schultern hing ihm ein zerfetzter Lederumhang mit besticktem Saum. Er trug einen Dolch, ein seltsames Werkzeug für einen Bauern, und einen kleinen Beutel aus gegerbtem Leder, dessen Anblick Norreen ganz besonders zuwider war. 24
Garths einzige fesselnde Merkmale waren seine Augen: von einem tiefen Türkisblau wie die ihres Sohnes. Um sein linkes Auge zogen sich deutliche weiße Narben, die in alle Richtungen ausliefen, so daß es dem eines Kindes ähnelte, das in die Sonne blinzelte. Insgesamt sah er wie eine Vogelscheuche aus, war aber einst der gefährlichste Mann in den gesamten Westlichen Reichen gewesen. Garth, einst Garth Einauge, hatte nun zwei Augen, da er das fehlende neu hatte wachsen lassen. Sein Auge war aus reiner Bosheit ausgequetscht worden, als er noch ein Kind war, bevor er den Flammen überantwortet wurde, in denen der Rest seiner Familie umgekommen war. Garth jedoch hatte überlebt, immer mehr Magie erlernt und war Jahre später nach Estark zu den jährlichen Magierfestspielen zurückgekehrt - in die Arena. Auf eigene Faust hatte er sich zunächst dem einen, dann einem anderen Haus angeschlossen, unzählige Duelle ausgefochten, sowohl körperliche als auch seelische Torturen ertragen, einen Meister gegen den anderen aufgehetzt, ein Haus gegen das andere ausgespielt und schließlich sich selbst als den obersten Magier der Westlichen Reiche eingesetzt. Als solcher hatte er einen Wanderer getroffen, der einst ein Mann, später beinahe ein Gott gewesen war. Garth war aufgestiegen, um zwischen den Welten zu wandern, hatte diesen >Gott< bekämpft und besiegt und war schließlich in die Arena zurückgekehrt, als erster Zauberer, der jemals von dort aufgestiegen war. Von dort aus hatte er Vergeltung an allen Häusern von Estark geübt - Fentesk, Kestha, Bolk, Ingkara -, um jene Verschwörung zu rächen, durch die das Haus von Oor-Tael vor langen Jahren ausgelöscht worden war. Das daraus entstehende Chaos war als die >Zeit der Not< bezeichnet worden, eine kurze Bezeichnung, die den Tod von Tausenden, die Zerstörung einer ganzen Stadt und den Ruin der herrschenden Klasse von Estark beschrieb. All dies war von dieser >Vogelscheuche < verursacht 25
worden, und nebenher hatte Garth das Herz von Norreen von Benalia erobert. Selbstbewußt, wagemutig, ungestüm, geheimnisvoll und doch verletzlich, wie er war, hatte er ihre Liebe gewonnen, noch bevor sie in der Arena sein Leben gerettet hatte - wie er das ihre. Zusammen hatten sie die pestverseuchte, schwelende Stadt hinter sich gelassen und waren nach Süden gezogen, hatten einen Hof gekauft und sich um die Rebstöcke gekümmert, da Garth ein Weinliebhaber war und gern Winzer werden wollte. Alles, was er sich gewünscht hatte, war ein friedliches Leben und eine neue Familie, nachdem er so lange allein und einsam gewesen war - zumindest für eine Weile... Doch in letzter Zeit waren die Rebstöcke dahingewelkt, nur noch halbherzig von den Dienern versorgt, denn ihr Herr hatte jegliches Interesse verloren. Immer öfter strich Garth nun durch die Nacht, starrte die Sterne und den Mond an und sprach flüsternd mit sich selbst. Einst hat er Magie benutzt, dachte Norreen finster, und sie wie ein Gott beherrscht, doch nun benutzt die Magie ihn. »Ich habe nachgedacht, Norreen...« Plötzlich haßte sie diesen Namen, denn es war nicht ihr wahrer Name. »Ich dachte, ich könnte...« »Weggehen«, unterbrach sie ihn, »wieder einmal!« Ein Stirnrunzeln legte sich über sein knochiges Gesicht. In dem schwachen Licht, das aus der Hüttentür fiel, glühte der weiße Narbenstern um sein linkes Auge. »Es ist rein geschäftlich. Ich brauche einige neue Ableger für die Weinstöcke. Wenn wir sie zu stark bewässern, werden die Trauben aufplatzen, denn sie sind eine nördliche Sorte. Ich dachte, falls ich im Süden suche, wo die Sonne heißer ist, könnte ich eine Sorte...« »Erspar mir das!« Sie hob die Hand, und er zuckte zusammen. »Du hast das schon die letzten beiden Male gesagt und bist dann ohne irgend etwas zurückgekehrt! Die Weinstöcke brauchen keine Veredelung oder magi26
sche Mätzchen! Sie brauchen eine sanfte Hand, die sie stutzt und formt, die sie jätet, bewässert und beschneidet! Wochen mühseliger Arbeit und keinen einwöchigen Ausflug in den Äther! Wenn du nicht hierbleibst und den Boden umgräbst, werden wir keine einzige Frucht ernten, nur eine Schar traubenfetter Krähen!« Bevor er irgend etwas antworten konnte, deutete sie zornig auf den Beutel, der an seiner Seite hing. »Wenn du nur nach Ablegern suchen willst, warum nimmst du dann das mit? Alles, was du dort jemals herausgeholt hast, war weitere verfluchte Magie! Zauberei wird diesem Hof nicht helfen! Und sie wird mir nicht helfen!« Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie verfluchte sich für dieses Zeichen der Schwäche. Ihr Gemahl hörte nicht zu. Er war gar nicht richtig anwesend. Ein Mann, der zwischen den Sternen gewandert war, würde die Füße niemals wieder auf den Boden setzen - zumindest nicht gänzlich. Er hatte die Unendlichkeit gekostet und fand die Endlichkeit schal, wie ein Mann, der guten Wein gekostet hat sich nie wieder an Wasser gewöhnen kann. »Ich gehe«, verkündete Garth. »Ich kehre zurück...« »Bemüh dich nicht!« schrie sie unter Tränen. »Ich werde nicht hier sein, wenn du zurückkehrst! Und Hammen auch nicht!« Das Stirnrunzeln vertiefte sich. »Du wirst. Ich befehle...« »Du hast mir gar nichts zu befehlen!« fuhr sie ihn an und griff instinktiv nach dem Dolch an ihrer Seite, ihrer bevorzugten Kampfwaffe, aber sie trug ihn nicht bei sich. »Kein Mann kann das! Ich bin eine Heldin von Benalia, vom Clan Tarmula!« »Die Magie ruft mich. Wir reden, wenn ich zurückkomme.« Er griff in seinen Beutel und zog etwas Schwärzeres als die Nacht heraus. Zart wie Spinnweben sponnen sich die schwarzen Fäden aus seiner Hand und umhüllten ihn wie ein Schleier. Die Schwärze ver27
dichtete sich, bis er in dem schwarzen Kokon nicht mehr zu sehen war. Dann schwebte er davon wie Sommerfäden im Wind und war verschwunden. Norreen fluchte, schrie, stampfte mit den Füßen und ballte die Fäuste. Sie verfluchte Garth, die Magie und ihre eigene Hilflosigkeit. Natürlich würde sie bei seiner Rückkehr noch da sein, sie wußte nicht, wohin sie gehen sollte, auch nach Hause konnte sie nicht mehr zurück, obwohl sie in diesen Tagen immer häufiger an ihre Heimat dachte und sich wünschte, ihr Kind könnte von seinem Erbe erfahren. Eigentlich liebte sie diesen Hof und die einfachen Menschen aus dem Tal und dem nahegelegenen Dorf. Sie wollte hier leben und glücklich sein, aber Garth wurde von dem Sirenenruf der Magie weggelockt ... Ein Quäken ließ das Blut in ihren Adern gefrieren, und sie fuhr herum. Große Schatten flackerten im Kerzenlicht der Hütte, die noch vor wenigen Augenblicken nur ihr Kind beherbergt hatte. Sie raffte ihre Röcke und stopfte den Saum in den Gürtel, während sie sich nach ihrer alten Kriegerinnenkluft aus Rindsleder sehnte. Im Laufen hob sie eine eiserne Hacke aus dem Küchengarten vor der Hütte auf und riß das Blatt ab, so daß sie einen mit einer eisernen Spitze versehenen Stab in den Händen hielt - eine tödliche Waffe, wenn es sein mußte... Die Vorsicht einer Kriegerin überkam sie, als sie sich auf Zehenspitzen von der Seite her der Tür näherte. Falls es Räuber waren, würden sie den Überfall auf dieses Haus bedauern! Dafür, daß sie ihr Kind und ihr Heim bedroht hatten, würde sie ihnen die Adern öffnen und ihr Blut den Hügel hinabfließen lassen, um die Weinstöcke zu düngen. Mit dem Rücken gegen die Tür lauschte sie, doch die Diebe machten kein Geräusch. Hatten sie sie gehört? Hatte sie das Gespür verloren, nachdem sie so lange aus 28
der Übung war? Ein weiteres Quäken ihres Kindes, und sie stürmte los. Besser ein direkter Angriff! Laut »Tarmu-la« brüllend sprang sie um die Ecke, den behelfsmäßigen Kampfstab schlagbereit in der Hand. Dann erstarrte sie. Alle drei trugen Schwarz. Lederne Wämser, hautenge Beinkleider, Stulpenstiefel und Waffengurte, in denen Kurzschwerter und Dolche steckten, bis jetzt noch in ihren Scheiden. Es waren zwei Männer und eine Frau, gefährlich wie Tiger. Der größere Mann stand im Hintergrund und wiegte Norreens brüllenden Sohn in den Armen. Auf dem linken Unterarm hatten sie Muscheln tätowiert, das Zeichen des Clans Deniz. »Du bist Rakel vom Clan Tarmula?« fragte die schwarzgekleidete Frau grimmig. Ihr blondes, mit einem schwarzen Lederband zusammengehaltenes Haar lag ihr als geflochtener langer Zopf auf dem Rücken. »Ja, das ist sie!« antwortete der große Mann. »Obwohl man sie in dieser Kleidung kaum erkennt. Hast du Kuhmist geschaufelt oder dich bei den Schweinen gesuhlt, Rakel?« Unbewußt schnappte Norreen nach Luft. Sie kannte diesen Mann. Sie hatte mit ihm geübt: Natal. Es waren Helden von Benalia. Was wollten sie hier? »Laß meinen Sohn los, Natal, oder ich werde dich als ersten töten. Die übrigen von euch...« Mit einem Aufflackern in den Augen ergriff die Blonde blitzschnell die Initiative. Mit einem Sprung durchquerte sie den Raum, trat Norreens klägliche Hacke nach oben, schwang sich herum und trat erneut zu. Ein Tritt gegen das Brustbein schleuderte Norreen gegen die Wand. Atemlos und mit verschleiertem Blick krallte sie sich an einem Tischbein fest. Alles ist eine Waffe in den Händen einer Heldin, sagte ihr Volk. Sie konnte vielleicht... Ein beiläufiger Stiefeltritt trat ihre Hand zur Seite und lähmte sie. Finger krallten sich in ihr Haar, rissen ihren 29
Kopf herum und warfen sie auf den dreckigen Boden der Hütte, ihrer Hütte, ihres Heims - und des Heims von Garth und Hammen. Die Handgelenke auf dem Rücken verdreht und mit brutal festgehaltenen Armen atmete sie Staub und versuchte nachzudenken. Es gab einen Befreiungsgriff - aber wie nur? Sie war so langsam, so hilflos. Tränen rollten ihr aus den Augen und tropften in den Schmutz. »Bist du sicher«, ertönte die höhnische Stimme der Blonden, »daß sie eine Heldin ist? Sie ist so hilflos wie ein Milchmädchen und langsam wie eine Kuh!« »Sie ist es!« antwortete Natals Stimme. »Guyapi!« Aus den Augenwinkeln sah Norreen einen Mann aus einer dunklen Ecke hervortreten. Sein dunkles Wams ähnelte dem der Krieger, doch war es zusätzlich mit Mond- und Sternenmotiven quer über der Brust und entlang der Rippen bestickt: ein benalischer Zauberer! Dieser Mann hatte den Meuchlertrupp hierherbeschworen und würde ihn wieder zurückzaubern - wenn Norreen tot war. Und ihr Kind? Erneut benetzten Tränen ihre Wangen. Welche Ironie - eben noch hatte sie Garth gesagt, daß sie nicht hier sein werde, wenn er zurückkehrte. Nun würde er nur ihre von Koyoten und Ratten blankgenagten Skelette vorfinden... »Guyapi, bring uns heim!« Der Zauberer antwortete nicht, sondern spreizte nur die Finger. Die Helden rückten dicht zusammen, während Natal noch immer den wimmernden Hammen festhielt. Funken sprühten aus den Fingerspitzen des Magiers - eine alberne Eitelkeit, wie Norreen aus Garths Erklärungen wußte. Nur mindere Zauberer verschwendeten magische Energie mit derartigen Taschenspielertricks. Doch sie hatten >heim< gesagt. Würde sie...? Die Funken verstärken sich, flackerten auf und erhellten die ganze Hütte. Sie waren so hell, daß Norreen die Augen abwenden mußte. Würden die Funken ihr Haus in Brand setzten? Würde Garth nur noch eine rauchende 30
Ruine vorfinden und niemals erfahren, was mit ihnen geschehen war? Würde er überhaupt zurückkehren? Plötzlich fühlte sie ein Brennen am ganzen Körper, so als wären die Funken unter ihre Haut gefahren. Dann fiel sie zu Boden und weinte. Als die Funken verglommen, erkannte Norreen, daß sie sich in einem kleinen Raum ohne Fenster befand. Das winzige Zimmer besaß an allen vier Wänden kostbare, aber verblichene Wandteppiche und einen eisernen Kronleuchter als Lichtquelle. Noch immer wurde sie von zwei Helden mit dem Gesicht nach unten festgehalten. Sie legten gerade einen eisernen Kragen um ihren Hals und verbanden ihn dann mit den Fesseln an ihren Handgelenken, die hinter ihrem Rücken verschnürt waren. Sie konnte nur dann atmen, wenn sie die Arme oben behielt. Die blonde Frau lachte. »Das ist so, als wollte man die Fußkette eines Elefanten einer Maus anlegen.« »Du kennst die Regeln. Sind sie schon für uns bereit?« fragte Natal. Er dämpfte Hammens Weinen, indem er ihm Mund und Nase zuhielt, so daß das Kind nicht mehr atmen konnte und nach Luft schnappte, als er es kurz losließ. Norreen wand sich hilflos in ihren eisernen Fesseln. Sie konnte nur hoffen, daß man sie und ihren Sohn rasch tötete und sie nicht in die Kerker schickte, damit die Folterknechte sich an ihnen übten. An der Tür sagte Natal: »Sie geben Zeichen. Laßt uns gehen. Nehmt Haltung an! Kopf hoch, Schultern zurück.« Stolz zählt vor allem anderen, dachte Norreen. War sie wirklich ein Sproß dieses hartherzigen Volkes? Dann wurde heftig an ihren Fesseln gezogen, und sie wurde aus dem winzigen Warteraum herausgezerrt und in einen prächtigen Saal gestoßen. Der Raum hätte ein Thronsaal sein können, hätte Benalia eine königliche Familie gehabt. Doch der Stadtstaat 31
hatte keinen König, sondern nur sich abwechselnde Kasten. Ohne große Überraschung erkannte Norreen, welcher der sieben Clans dieses Jahr regierte - und wer dessen Führer war. Dutzende von Gefolgsleuten, Schranzen und Tagedieben waren versammelt. Alle in kostbarer, aber schlichter Kleidung und alle begierig darauf, unterhalten zu werden. In der Mitte des Raumes lag ein langer blauer Läufer, der mit rosafarbenen Muscheln verziert war, der Farbe und dem Emblem der derzeit herrschenden Kaste: Clan Deniz! Am Ende des Raumes war ein Podium errichtet worden, auf dem eine lange glänzende Tafel stand. Sehr schlicht, aber wertvoll, so wie alles in Benalia. An dem Tisch saßen sieben Älteste, die Führer des Clans, und in der Mitte saß ihr Sprecher. Norreen kannte ihn nur allzugut. An einem Ende der Tafel stand der Schatzmeister mit einer rotgesäumten Schriftrolle - in der Farbe des Blutes. Es ging also um Leben und Tod - um ihren Tod. Die Helden verstärkten ihren Griff um Norreens Fesseln und ihr Kind, als die sieben Ältesten und der Hof die Aufmerksamkeit dem Schatzmeister zuwandten, der die Anklageschrift verlas: »Rakel, Tochter der Dasha, Tochter der Argemone, Tochter der Kynthia«, zitierte er die Namen von Norreens Mutter und ihren Großmüttern, »du wirst angeklagt...« Die Rede war sehr blumig und wollte nicht enden. Für Norreen waren dies alte Geschichten. Sie war Schildknappin der Kriegsherrin gewesen, einer Frau namens Alaqua, die in einer Schlacht gefallen war. Gesetz und Bräuchen zufolge hätte Norreen zuerst sterben müssen oder mit ihrer Herrin, doch statt dessen hatte sie überlebt. Es hatte keinen Sinn zu erklären, daß drei Pfeile in ihrem Leib gesteckt hatten und ihr Schädel von einer Zwergenaxt fast eingeschlagen worden war. Benalia war nicht an Gerechtigkeit interessiert, sondern an Gesetzen. Ihre Verbrechen wurden weiter ausgebreitet, während 32
Norreen in Gedanken die Lücken füllte: wie sie >nach Estark geflohen< war (bewußtlos auf einem Wagen voller Leichen), sich dort >in Geheimverstecken verborgen gehalten hatte (vierzehn Monde in einem Wohlfahrtshospital), ohne >ihren Vorgesetzten Bericht zu erstatten< (sehr witzig, sie wußte ja noch nicht einmal, wo Estark lag, von Benalia aus gesehen), wie sie ihren >Stand entwürdigt hatte, indem sie zum Vergnügen der Massen (und für einen gefüllten Magen) in den Straßen gekämpft hatte, wie sie in der Arena von Estark auf Leben und Tod gekämpft hatte, >ohne Vergütung< (um das Leben ihres Geliebten Garth zu retten), und so weiter. Sie wartete auf das Ende der Litanei und auf ihren Tod. Dabei bemühte sie sich, nicht zu weinen, da sie an ihren Sohn dachte. Schließlich waren alle Anklagepunkte verlesen. »Wofür plädierst du?« »Schuldig im Sinne der Anklage.« Hatte jemals irgend jemand für >unschuldig< plädiert? Ihre Stimme war fest, zumindest konnte sie mit Würde sterben. Aber ach, ihr Kind war noch so jung! »Sehr gut. Erwarte deine Strafe.« Der Sprecher versuchte, sich ein Grinsen zu verkneifen. Norreen starrte ihn nur an. Von den Hunderten von Männern in Benalia mußte sie ausgerechnet wehrlos vor Sabriam stehen, dem Mann, dem sie die Ehe ausgeschlagen hatte. Aber schließlich hätte sie damit rechnen müssen: Sie hätte wissen sollen, daß seine Kaste in diesem Jahr aufsteigen würde. Und es war keine falsche Entscheidung gewesen, von Benalia fortzubleiben: Sabriam sah noch verbrauchter, liederlicher und heruntergekommener aus denn je. Als Herrscher wurde er von den führenden Clans einer der größten Städte der Domänen gefeiert, und die nächtlichen Feste forderten einen hohen Tribut von ihm: Wein, Völlerei und Orgien würden ihn vermutlich völlig zerstören, noch bevor das Jahr vorüber wäre - so hoffte sie zumindest. 33
Sabriam wischte sich das Kinn und konnte sich nicht beherrschen, drauflos zu reden: »Benalia ist ganz besonders enttäuscht von dir, Rakel. Alaqua war unsere beste Kriegsherrin, und du warst ihre vielversprechendste Knappin. Aber du hast sie im Stich gelassen, und so liegen die Roteisenberge immer noch außerhalb unserer Einflußsphäre. Das hat die Stadt viel gekostet, während du mit Tändeleien beschäftigt warst.« Bei dem Wort >Tändeleien< leckte er sich vielsagend über die Lippen. »Nimm mir die Ketten ab«, knurrte Norreen, »dann zeige ich dir, wie ich tändele.« Ein feuchtes Glucksen zwang Sabriam dazu, sich erneut über das Kinn zu wischen. »Ich muß hinzufügen, daß es eine herbe Enttäuschung für mich war, als du meinen Antrag zurückgewiesen hast. Eine Beleidigung für mich und meinen Clan.« Norreen tobte innerlich. Hingerichtet zu werden, war schlimm genug, aber zu Tode geredet zu werden, war noch schlimmer. »Du bist eine Beleidigung für deinen Clan, Sabriam, und für alle in Benalia! Daß deine warzigen Hände das Schicksal dieser Stadt bestimmen, ist genauso, als ließe man die Schakale den Friedhof bewachen. Und was die Heirat angeht, so würde ich lieber mit einem Schwein in der Jauche schlafen als mit dir. Der Geruch wäre angenehmer, und es gäbe weniger Gelegenheit, mir eine Krankheit einzufangen, und ich müßte mich nicht fragen, ob mich das Schwein nicht vielleicht für eine Flasche oder einen hübschen Knaben sitzen ließe!« Die Menge hielt den Atem an, obwohl viele kicherten. Selbst einige der Ältesten, die zu Sabriams Seite saßen, hätten am liebsten zustimmend genickt: Rivalitäten innerhalb der Clans wurden genauso erbittert geführt wie die Straßenkämpfe zwischen den Clans. Als Sabriam den Spott um sich herum bemerkt hatte, rief er mit zitternder, speichelsprühender Stimme: »Macht sie bereit!« Der Griff um Norreens Handgelenke veränderte sich, 34
und die blonde Kriegerin trat mit einem langen weißen Dolch in der Hand vor sie hin. Der berüchtigte Dolch von Benalia, Zeichen einer Heldin. Werden sie mich gleich hier im Saal töten? fragte sie sich. Nun gut, besser als in den Kerkern. Ihr Sohn würde sich daran erinnern, daß seine Mutter ehrenvoll gestorben war... Doch das Messer suchte nicht nach ihrem Herzen, sondern küßte ihre Haut, als es die Vorderseite des Mieders hinabglitt und die Bänder löste. Die Klinge fuhr tiefer, schlitzte ihr das Kleid auf, so daß sie nackt dastand. Die Höflinge kicherten, und Norreen errötete von Kopf bis Fuß, was zu weiterer Heiterkeit Anlaß gab. Sie konnte diese unglaubliche Beleidigung kaum fassen. Einer Heldin sollte ein Heldinnentod zustehen! Die Blonde schnaubte verächtlich, als sie Norreens nackte Gestalt zu Gesicht bekam: den ausladenden Hintern, die dicken Schenkel, den vorstehenden Bauch und die hängenden Brüste, aus denen Milch tropfte. Außer im Gesicht und an den Armen hatte die bleiche Haut jegliche Bräune verloren, die den Kriegerinnen und Kriegern, die nackt unter der brennenden Sonne exerzierten, so gut stand. Irgend jemand brachte ein Bündel herbei, und die Blonde nahm etwas heraus. Was im Namen der Unsterblichen hatte man mit ihr vor? Man kleidete sie an. Die Blonde befahl ihr, den Fuß zu heben, und verblüfft gehorchte Norreen. Mit Hilfe eines der Männer zog man ihr eine lederne Hose über die dicken Waden und Oberschenkel und stöhnte mehr als nötig bei dieser Anstrengung. Trotz der Ketten streifte man ihr das lederne Wams einer Heldin über den Oberkörper und schnürte es unter den Achseln zu. Schließlich gürtete man sie mit einem Waffengurt, an dem Taschen, ein Kurzschwert, ein Dolch und Handschuhe hingen. Ein Rundschild wurde ihr auf den Rücken gehängt und Stiefel über die Füße gestülpt. Dann trat die Blonde einen Schritt zurück und spuckte aus, um ihre Verachtung einer solch banalen Aufgabe gegenüber kundzu35
tun. Aber Norreen konnte sich nur wundern. Seit wann kleidete man die Verurteilten in ein Kriegsgewand? »Die Zeiten haben sich geändert«, antwortete Sabriam, als könne er ihre Gedanken lesen. »Unter unserer Herrschaft gibt es eine neue Politik. Verbrecher werden nicht länger zum Tode verurteilt.« (>Verbrecher<, hallte das Echo in ihrem Geist.) »Wir vergeuden nicht länger... wertvolle Rohstoffe.« Die Leute zischten bei der Erwähnung von Geld. Krieger waren keine Schuster oder Fischhändler. Sabriam fuhr fort, lauter nun, so als wolle er verhindern, daß ein alter Streit erneut aufflammte. In Benalia waren Streitereien an der Tagesordnung. »In einem einzigartigen Akt der Gnade gewähren wir verurteilten Schwerverbrechern eine Gelegenheit, ihre Ehre wiederherzustellen. Aber nur eine einzige! Du wurdest ausgewählt, die Wünsche der Sprechenden Kaste zu erfüllen. Wenn du dich bewährst, sollst du begnadigt und wieder in die Gesellschaft der Heldinnen und Helden aufgenommen werden. Versagst du, so sollst du dem Tod überantwortet werden.« Noch immer kläglich, obwohl sie sich in ihrer Kriegerinnentracht bereits stärker fühlte, fragte Norreen: »Worin besteht meine Aufgabe?« »Eine Armee entsteht in den östlichen Ländern. Der Plan dieses Heeres ist es, von Osten nach Westen vorzudringen und Mutter Benalia selbst zu bedrohen. Du sollst dieser Armee beitreten oder dich bei ihr einschleichen - was immer du für angemessen erachtest - und ihre Anführer töten.« »Wer sind sie?« fragte Norreen. Instinktiv versuchte sie, den Befehl genauer erläutert zu bekommen. Ihre Gedanken wirbelten angesichts des unerwarteten Aufschubs durcheinander. Einen Augenblick lang war sie dem Tod nahe gewesen, und im nächsten lebte sie und wurde wie ein Jagdhund auf das Wild losgelassen. Sie wußte, daß Sabriam log. Dieser Plan hatte ohne Zweifel 36
das Ziel, die Macht und den Einfluß seines Clans zu mehren. »Die Anführerin ist eine Zauberin, eine gewisse Greensleeves, von der man sagt, daß sie große Macht über die Natur besitzt. Ihr zur Seite steht der General der Armee, den man Gull, den Holzfäller, nennt. Hol dir ihre Köpfe, Guyapi wird dich dann zurückrufen.« »Was ist mit meinem Sohn?« Norreen hatte nicht vorgehabt zu brüllen, aber es war ein Schrei aus der Tiefe ihres Herzens. Sabriam lächelte schleimig. »Dein... Bastard... wird zu seinem eigenen Schutz hierbehalten. Er wird den Tutoren übergeben, damit seine vernachlässigte Ausbildung nachgebessert wird. Obwohl ich mir vorstellen könnte, daß er weit zurückgeblieben ist und die anderen Kinder ihn häufig... auf die Probe stellen werden. Du wirst den Jungen vermutlich nicht einmal mehr wiedererkennen. Also beeil dich. Zauberer!« »Nein!« brüllte Norreen. Die Tutoren waren gnadenlos. Sie wußte das aus eigener Erfahrung. Sie würden jedes Quentchen Menschlichkeit aus ihrem zarten Jungen herausprügeln und ihn vielleicht sogar auf der Stelle töten, als Exempel für die anderen. »Neeeeiiiiin!« Sie warf sich gegen ihre Fesseln und wand sie aus den Händen ihres Bewachers, dann lehnte sie sich vor, um nicht hinzufallen, und griff das Podium an. Mit altgewohnter Stärke sprang sie hinauf und von dort auf den Tisch. Sabriam fuhr zurück, doch er war zu überrascht und langsam in seinen Reaktionen. Norreen hatte Zeit für einen guten Tritt, mit dem sie die Nase der Kröte zerschmetterte, bis das Blut spritzte, bevor sie von der rutschigen Tafel hinunterfiel. Sie krachte mit der Schulter auf das Podium, und jemand ergriff sie, um sie herumzurollen. Aber Norreen trat zu und hörte das Knacken eines Kniegelenks. Dann stieß die Hand der Blonden herab, und der als Totschläger einsetzbare schwere Diamant auf dem Heft ihres 37
umgedrehten Dolches schmetterte Norreens Kopf auf den Teakholzboden, so daß sie Sterne vor den Augen funkeln sah. Immer noch Widerstand leistend, sah sie, wie der Magier Guyapi beide Hände ausstreckte und Funken von seinen Fingerspitzen stoben. Ihr Kind schrie: »Mama! Laß Hammen nicht allein!« Dann wurde sie von den Funken umhüllt, und sie fiel erneut zu Boden.
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»L-laßt es liegen! Es ist nicht wi-wichtig!« Greensleeves versuchte, ihre Studenten aus dem Zelt zu scheuchen, aber sie fielen fast übereinander her, im Bemühen, seltsam anmutende Dinge und Bündel in vier Reisekoffer zu stopfen. Greensleeves bückte sich, um ihren Dachs aufzuheben, bevor jemand auf ihn trat und gebissen wurde. Das Fell des graubraun gestreiften Tieres war steif wie Pferdehaar und fühlte sich beim Berühren schmutzig an. Eines seiner Ohren war vor langer Zeit bei einem Kampf eingerissen worden. Der Dachs war kein Haustier oder ein Familienmitglied <, sondern nur ein weiteres Tier, das ihr auf dem Fuß folgte, wie die Kohlmeise auf ihrer Schulter, die eines Tages von einem Baum herabgeflogen und einfach geblieben war. Die junge Magierin spähte aus dem geöffneten Zelteingang, als sie ein lautes Flattern am Himmel hörte, das an unzählige Wäschestücke auf der Leine erinnerte. Der Tornado toste in einiger Entfernung, kam jedoch nicht näher. Was also mochte das Flattern verursachen? Der Dachs in Greensleeves Armen knurrte. Überall im Lager ergriff man Waffen, Kinder und Werkzeuge und rannte auf den Wald zu. Greensleeves, die für alle verantwortlich war, schrie: »Fl-flieht! Alle! Und ver-versteckt euch...« Sie gab es auf, da ohnehin niemand zuhörte und ihr Stottern vor Aufregung nur noch schlimmer wurde. »Ich gehe!« beschloß die praktisch veranlagte Lily und zog sich den Umhang fester um die Schultern. »Wir müssen hier weg und in den Wald fliehen! Komm schon, Greensleeves!« 39
Doch die beiden Männer packten weiterhin unverdrossen und nur ein wenig schneller die merkwürdigen Dinge in die Kiste. Die beiden waren Studenten der Magie, Leute, die sich für Zauberei interessierten, aber nicht selbst Beschwörungen durchführen konnten. Der kleinere der beiden hieß Tybalt, und seine Aufgabe bestand darin, sich um die Artefakte der Armee zu kümmern. Sein Gesicht zierten eine riesige Nase, ein schütterer Backenbart und so spitze Ohren, daß sie Elfenblut vermuten ließen. Der andere war Kwam, ein dunkler, hochgewachsener, schlanker junger Mann. Greensleeves hatte vier solcher Studentinnen und Studenten, die ihr zur Hand gingen: Sie versuchten, die Geheimnisse eines magischen Schatzfundes zu ergründen, ihrer Kriegsbeute aus dem Wagenzug des hinterhältigen, verlogenen Towser, des Zauberers, der versucht hatte, Greensleeves zu opfern und Gull zu töten. Bei seiner überstürzten Flucht hatte er vier Kisten mit Wunderlichkeiten, Schriftrollen, Spielzeugen, Tränken und Krimskrams zurückgelassen. Da sie nicht gewußt hatten, was davon wertvoll war, hatten die Magie-Studierenden alles eingepackt. Dann, plötzlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, begann der Angriff. In Sekundenschnelle tauchten farbige Köpfe über den niedrigen Baumwipfeln auf, gefolgt von dunkelhäutigen Kriegern in prächtigen Gewändern - auf fliegenden Teppichen! Die zwei Schritt langen Teppiche waren aus Fäden in allen Farben des Regenbogens kunstvoll verwoben und an allen vier Ecken mit wehenden Quasten versehen. Die grellen Farben leuchteten fast schmerzhaft an diesem grauen Wintertag. Greensleeves fragte sich, wie die Flieger ihre Teppiche wohl steuerten, da ihnen offensichtlich ein kurzer Blick nach unten genügte, um die flatternden Stoffbahnen zum Boden zu lenken. Sie 40
schwebten etwa zwei Spann über der Erde, als sei es ihnen zuwider, von Schmutz und Schlamm besudelt zu werden. Die Angreifer trugen weite fließende Hemden in leuchtenden Farben, Pluderhosen und hohe gelbe Stiefel mit gebogenen Spitzen. Umhänge, leicht wie Seide, umflatterten ihre Schultern, als sie mit der Anmut von Ballettänzern heranflogen. Tödliche Tänzer! Sie kreischten irgendeinen fremden Namen, zogen ihre Krummsäbel und griffen an. Der erste, der starb, war ein muronischer Derwisch, der im Kreise herumwirbelnd seine Schicksalsklage angestimmt hatte und nun seine eigene Prophezeiung erfüllt sah, als ein fliegender Mann ihn mit einem Schwertstreich niederstreckte. Noch immer wehklagend, sank der Derwisch in seinen schmutzigen Gewändern kopfüber in den Schlamm, bis ein anderer Angreifer ihn mit seiner rasiermesserscharfen Klinge köpfte. Sicherlich zwanzig oder mehr dunkelhäutige Frauen und Männer verteilten sich über das Lager und machten die wenigen nieder, die zu langsam gewesen waren, um zu fliehen. Eine Köchin starb mit ihrer noch vor Bratensaft tropfenden Schöpfkelle in der Hand, und ein Kartograph schaffte es gerade noch, seine Machete halb zu ziehen, bevor er die eigenen Gedärme aus dem Leib quellen sah. Da ihnen ein reichhaltiges Opfer versagt blieb, sprang ein Dutzend Angreifer auf die sich sanft wellenden Teppiche, brüllte den >Schlachtrössern< Befehle zu und schwebte über die Zedern hinweg, um in den Wäldern nach weiteren Opfern zu suchen. In jenen ersten Sekunden des Ansturms schwirrte ein halbes Dutzend Marodeure auf Greensleeves und ihr Zelt zu. Mit aufgerissenen Augen wandte sich die Zauberin um und rannte hinein. Wenn sie die Angreifer doch nur irgendwie mit einem Schutzzauber hätte abwehren können, wenn sie sich nur daran hätte erinnern können, wie die Formel lautete, dann hätte sie sich und ihre Schutzbefohlenen retten können. Aber sie hatte ge41
rade den Zelteingang hinter sich geschlossen, als Lily zu schreien begann. Die Vorderseite der vergilbten Segeltuchplane riß auf, nachdem ein dunkelhäutiger hagerer Mann mit schwarzem Haar, schwarzem Spitzbart und einem mit Straußenfedern geschmückten Turban sie von der Firststange bis zum Boden aufgeschlitzt hatte. Er redete auf die Frauen ein, vermutlich um ihnen mitzuteilen, daß sie stehenbleiben sollten, dann wandte er sich an seine Kumpane. Weitere Krummdolche schlitzten die schwere Zeltplane in Streifen, Halteseile wurden zerschnitten, und die Firststange bog sich durch und hing schlaff auf die Fetzen herab. Greensleeves und Lily stießen mit dem Rücken gegen Tybalt und Kwam, als die Angreiferinnen und Angreifer ihre Unterkunft bloßlegten, wie Bauern, die in einem Rattennest stocherten. Im fahlen Sonnenlicht standen nichts als zwei Feldbetten, vier reichverzierte Truhen und ein schmutziger gewebter Bettvorleger. Die Spitzen der Krummsäbel wiesen auf die Zauberinnen und ihre Studenten und hielten sie in einem Ring aus Stahl gefangen. Durch die Worte der Marodeure drang immer wieder der Name >Karli< hindurch. Greensleeves bemerkte, daß ihnen der Atem vor den Mündern gefror und ihnen die Zähne klapperten. Jetzt, da sich die Hitze der Schlacht zeitweise legte, spürten sie die Kälte und zogen sich die seidenen Umhänge fester um die Schultern. »Hinter wem sind sie her? Hinter uns?« quietschte Lily. »Und worauf warten sie nur?« Greensleeves gab keine Antwort. Sie konnte sich um keinen Preis daran erinnern, wie sie einst einen magischen Schild beschworen hatte, und zum hundertsten Male wünschte sie sich zu wissen, wie man ordentlich Bannsprüche wirkte. Lilys Frage wurde beantwortet, als eine weitere Gestalt am Himmel auftauchte: Eine Frau, die noch leuch42
tender als alle anderen gekleidet war, näherte sich mit vier weiteren Säbelschwingern auf fliegenden Teppichen. Diese Zauberin jedoch flog stehend ohne einen Läufer durch die Luft. An den Füßen trug sie leuchtend rosafarbene Pantoffeln mit spiralig gedrehten Spitzen, an denen winzige Flügel wie die eines Kolibris schwirrten. Die Frau hob die Arme und landete leicht wie ein Schmetterling in dem verwüsteten Lager. Sie war klein und zart wie eine Kaktusblüte, mit einer Haut so dunkel wie Mahagoniholz, und Haaren so weiß wie frisch gefallener Winterschnee. Sie trug eine reichgeschmückte Brokatweste, eine lange gefütterte Hose und einen Umhang aus gelben Federn, die so fein waren, daß sie an Angorahaar erinnerten. Am wunderlichsten war ihre Weste, die entlang der Rockaufschläge und um die Taille mit Tausenden von Knöpfen und Medaillons besetzt war. Sie lächelte triumphierend und hochmütig. Greensleeves kannte diese Lächeln. Sie hatte es auf Towsers Gesicht gesehen, für gewöhnlich auf dem Höhepunkt einer neuen Betrügerei. Der Dachs in ihren Armen knurrte erneut, und die Kohlmeise Cherrystone versteckte sich hinter Greensleeves Kopf. Anmutig tänzelnd wie eine Katze, die Angst vor nassen Pfoten hat, landete die Frau im Matsch und näherte sich dem zerstörten Zelt. Sie hob die Augenbrauen beim Anblick der beiden Frauen: die in weiße Wolle und Pelz gehüllte Lily in ihrer mit gelben, blauen und roten Blumen bestickten Kleidung, die vom Reiseschmutz bedeckt war, und Greensleeves, die stets aussah wie eine Vogelscheuche mit ihrem zerrissenen Wollrock, der zerlumpten Jacke, von der die grünen Ärmel einfach abgeschnitten worden waren, und dem schlichten Umhang, der von einer Messingschließe über der Schulter zusammengehalten wurde, und darüber einem schäbigen Schal sowie einem Hut, der ihr zerzaustes braunes Haar bedeckte. Die Magierin, die jene Karli sein mußte, sprach die 43
beiden Frauen in einem Singsang an, der an blubberndes Öl erinnerte. Ihre Stimme klang höhnisch. Zwar konnte sie die magischen Kräfte in den beiden erkennen, hatte jedoch nur Verachtung für ihre schlichte Kleidung und Manieren übrig. Sie runzelte die Stirn, als die beiden nicht antworteten, und versuchte es vergeblich in einer anderen Sprache. Kopfschüttelnd erkannte Greensleeves, daß sie wohl von sehr weit entfernt aus den Domänen kommen mußte. Ärgerlich warf die Magierin einen begehrlichen Blick an Tybalt und Kwam vorbei auf die vier mit Schnitzereien verzierten Truhen, die auf dem verrutschten Vorleger standen. Lily schnaubte, und Greensleeves erkannte den Blick: die Gier nach dem Besitz einer anderen Magierin. Karli berührte einen kristallenen Knopf auf ihrem Revers und schnippte mit zwei Fingern in Richtung der Magiestudenten. Tybalt und Kwam stöhnten auf, als hätten sie einen Tritt in den Magen erhalten. Sie wurden von einem unsichtbaren Schlag von den Füßen gerissen und vier Schritt nach hinten katapultiert, bis sie in die Zedern krachten, wo zurückschwingende Äste sie umhüllten. Karli betastete ein weiteres Medaillon, einen runden Löwenkopf, und sprach in singendem Tonfall mit ihren Söldlingen. Diese zogen sich eilig zurück und stürmten davon, so daß nur noch zwei Wächter mit gezogenen Säbeln hinter Karli zurückblieben. Die anderen Angreifer, die mit einem zum Plündern und Zerstören ermunterndem Zuruf abkommandiert worden waren, durchwühlten Schlafdecken, leerten Kisten und Bündel und warfen sogar das Küchengerät durcheinander. Nur Greensleeves und Lily blieben noch übrig, um Karli Widerstand zu leisten. Plötzlich erkannte Greensleeves, daß die Zauberin wohl glaubte, daß sie bereits durch einen Abwehrspruch geschützt seien (Greensleeves wünschte, sie wären es wirklich gewesen) und daß irgendein gewaltiger Spruch demnächst über sie hereinbrechen 44
werde, um in den nichtvorhandenen Schild eine Bresche zu schlagen. Doch Greensleeves kam ihr zuvor und murmelte einen Spruch, den sie gut beherrschte: Mit fletschenden Zähnen erschien ein Rudel aus acht riesigen Waldwölfen in einem Kreis um sie und Lily! Ein gigantischer Affe! Gull erkannte dieses Wesen aus alten Bilderbüchern, die er einst betrachtet hatte. Ein Affe, so groß wie ein riesiger Mann, mit glänzendem steifen Haar wie ein Keiler, titanischen Kräften und mordlüstern blitzenden Augen. Zumindest schien es so, doch es war nur ein Tier, und Gull hatte weder Zeit noch Lust, ein dummes Ungeheuer zu bekämpfen. Er mußte zum Lager zurück, das gerade von den Teppichreitern belagert wurde. Der Gorilla hob die Arme hoch über den Kopf und brüllte, griff jedoch nicht an. Als erfahrener Eseltreiber vermutete Gull, daß der Affe nur imponieren und nicht wirklich angreifen wollte und somit durch Bluffen zum König des Taigawaldes werden wollte. Anstatt anzugreifen, imitierte Gull das Tier, um herauszufinden, ob es sein eigenes Verhalten erkannte, wenn man ihm einen Spiegel vorhielt. Gull hob die Axt mit beiden Händen über den Kopf und brüllte zurück. Der Gorilla richtete sich zu seiner vollen Größe auf, höher als Gull, warf die Arme in die Luft und brüllte erneut. Beim Feuer der Titanen, fluchte der Holzfäller, dieses Ungeheuer war gewaltig! Es wog sicherlich so viel wie ein Stier! Eine dieser Fäuste konnte ihm wahrscheinlich den Kopf in den Brustkasten schmettern! Doch noch immer war es nicht auf ihn losgegangen. Gull schüttelte wütend die Axt und brüllte noch einmal. Aus den Augenwinkeln sah er Tomas und einen weiteren Soldaten mit angelegtem Pfeil in der Armbrust seitlich auf ihn zukommen. Gull konnte diese Hilfe nicht 45
gebrauchen, sie würde den Affen vermutlich nur verängstigen und zum Angriff reizen. Er trat einen Schritt nach vorn und schrie wieder, bis ihm die Kehle schmerzte. Er war nun innerhalb der Reichweite jener unbeschreiblich langen Arme. Er packte seine Axt fester - vielleicht brauchte er sie. Der Affe stank nach Dung und altem Schweiß. Gull schrie sich die Kehle rauh. Der Gorilla blinzelte, kräuselte die dicken Lippen zu einem Knurren, drehte sich dann abrupt um und stahl sich zwischen den Zedern von dannen. Obwohl er so riesig war, war eine wippende Zweigspitze die einzige Spur, die er zurückließ. Tomas hob an, etwas zu sagen, fluchte dann jedoch nur. Er deutete auf ein halbes Dutzend weiterer buckliger schwarzer, jedoch kleinerer Gestalten, die durch den Wald davonhasteten. Rangniedere Männchen oder Weibchen, vermutete Gull. Falls jemals irgend jemand in diesen Hügeln wohnte, würden für alle Zeiten Legenden über bucklige schwarze Dämonen erzählt werden. Was dies anging, gab es nun eine weitere denkwürdige Geschichte über Gull, den Holzfäller, die sich die Soldaten am Lagerfeuer erzählen konnten. »Ko...« Gulls wunde Kehle reizte ihn zum Husten. »Komm schon! Stell deine Truppen neu auf! Wir müssen zum Lager zurück und diese... Teppichreiter vertreiben!« Fliegende Teppiche! dachte er verbittert. Noch mehr magischer Wahnsinn! Gab es denn jemals ein Ende? Warum konnten Zauberer ihre Kräfte nicht für gute Zwecke einsetzen? Den Boden für die Aussaat verbessern, Kranke heilen, Sümpfe trockenlegen oder Schmetterlinge sammeln. Warum mußten sie ausgerechnet die Gruppe irgendeiner Zauberin mitten in der Wildnis angreifen? Sie taten es, weil sie nach Macht gierten, genauso wie Drachen andere Drachen fraßen und so stärker wurden. 46
Das Leben erstand aus dem Tod, und die Zauberer versuchten, Herrscher über alle Lebewesen zu sein. Gull wischte seine verdrießlichen Gedanken beiseite, vergewisserte sich, daß die Soldaten bei ihm waren, und stieß durch die Zedern auf das Lager vor. Sie waren kaum dreißig Schritt vorangekommen, als ein muronischer Derwisch laut kreischend vor ihnen durch die Bäume brach. Seine Kapuze war ihm in den Nacken gerutscht und entblößte das von einer Kopfwunde blutüberströmte Gesicht. Blind vor Angst rannte der Mann geradewegs gegen Gull und krallte sich schutzsuchend an ihn. Der Holzfäller mußte ihn zur Seite stoßen, um an ihm vorbeizukommen. Einer von Tomas' Soldaten rief irgend etwas und gestikulierte. Aus der Richtung des Lagers kam ein fliegender Teppich heran. Die rittlings auf ihm sitzende Söldnerin war so sehr mit ihrer eingeheimsten Beute beschäftigt, daß sie die Soldaten zu spät bemerkte. Ein langer Pfeil schlug in ihren Brustkorb, und im gleichen Moment schwirrte ein Armbrustbolzen durch den Teppich und durchbohrte ihr Bein. Der Doppeltreffer ließ die Frau schwanken, und Gull erwartete, daß sie von ihrem schwebenden Läufer herunterfallen würde, doch dieser blieb fest unter ihren Beinen, selbst als sie sich langsam drehte und vom Himmel stürzte. Magischer Klebstoff, dachte der Holzfäller bewundernd. Ein nützlicher Zauber. Wie ein verwundeter Adler überschlug sich die farbenprächtige Frau zweimal, bevor sie zwischen den Bäumen niederging. Gull fragte sich, welche Art von Beute sie wohl bei sich hatte, und tadelte sich sogleich. Er dachte schon in den gleichen Kategorien wie seine Söldner! Aber schließlich hatte er in Zeiten wie diesen auch gewaltige Ausgaben. Er stürmte vorwärts und hörte eine Frau Befehle schreien und Männer fremdartige Flüche ausstoßen, die ihn an das Knurren kämpfender Hunde erinnerten. 47
Gull kämpfte sich durch die Bäume auf die Lichtung, wobei er spitze Zedernnadeln verstreute, und blickte sich rasch im Lager um: Leichen und Zerstörung, die dunkelhäutige weißhaarige Zauberin mit ihren beiden Wächtern, die Greensleeves und Lily bedrohte, und das Rudel Wölfe, das zu ihrer Verteidigung herbeigesprungen kam. Was sollte er tun? Seine Schwester und ihre Freundin beschützen? Die Unschuldigen im Wald verteidigen? Die Angreifer töten? Wer wußte schon, was das Beste in einer Schlacht war, dem größten Wahnsinn, dem Menschen frönten? Er war nicht einmal ein Soldat, geschweige denn ein General! Hinter ihm ertönte ein Gebrüll, aus dem die Namen Torsten, Ragnar, Jacques le Vert und die eines Dutzends Kriegsgötter herauszuhören waren. Tomas' zwölf Soldaten stürmten angriffslustig aus dem Wald, woraufhin die farbigen Plünderer, Sklavinnen und Sklaven der weißhaarigen Zauberin, ihren Beutezug unterbrachen, um ihnen eine Herausforderung entgegenzuschreien. Meine Handlungen sind ohnehin vorherbestimmt, philosophierte Gull. Also packte er seine furchterregende Holzfälleraxt fester und griff an. Mit schwingendem Beil stürmte er auf die nächstbeste Marodeurin los, doch die Frau war unglaublich schnell, hüpfte zur Seite, ohne aus dem Gleichgewicht zu kommen, und zielte mit der Spitze ihres Krummsäbels auf Gulls herannahendes Gesicht. Aufjaulend warf sich der Holzfäller zur Seite, und statt gezielt zu schlagen, drosch er mit der Axt auf sie ein. Zwar verfehlte er sie, zwang sie jedoch zum Ausweichen, so daß er gerade noch vermeiden konnte, sich selbst auf ihrer Schwertspitze aufzuspießen. Aus dem Gleichgewicht geraten, taumelte Gull kopfüber in den feuchten Lehm. Während er sich wieder aufrappelte - die ganze Zeit erwartete er einen eisigen Stich in den Rücken -, hatte sich Tomas der Marodeurin angenommen. Durch einen 48
Ausfall mit dem Schild lockte der alte Veteran sie in seine Reichweite und tötete sie dann geschickt mit einem einzigen schnellen Schwertstich, der ihre Luftröhre teilte. Während sie noch im Sterben lag, war Tomas bereits weiter vorwärtsgestürmt. Über Wurzeln und Baumstümpfe stolpernd, eilte Gull in die Schlacht. Als sie die Kriegsschreie gehört hatten, waren die meisten Soldaten von Neiths und Varrius' Kompanien aus den Wäldern auf die Lichtung gestürmt, so daß ihre Zahl nun der der Angreifer entsprach. Doch diese Wüstenfalken waren tapfere Kämpferinnen und Kämpfer: In einer Ecke sah Gull, wie ein papageienbunter Mann drei seiner Soldaten zurückdrängte und dabei eine pikenbewehrte Kriegerin durch einen Säbelhieb niederstreckte. Es stand auf Messers Schneide, ob sie siegen würden - falls sie überhaupt die Möglichkeit hatten! Er erhob seine Axt und rannte auf einen Pulk Marodeure zu, die Neiths Kompanie arg bedrängten. »Mir nach! Zum Angriff!« und andere Albernheiten schrie er, als er ihre rechte Flanke angriff. Neiths Soldaten - meist Männer und nur etwa drei Frauen - bemühten sich, ihre unordentliche Linie aufrechtzuerhalten, während sie schreiend vorwärtsmarschierten. Die Wüstentöchter und -söhne stellten sich Gulls plumpem Angriff entgegen, doch der hatte genug Verstand, um außerhalb der Reichweite ihrer Schwerter, aber innerhalb der Wurfdistanz stehenzubleiben. Zu spät erkannte der vorderste Wüstenräuber seinen Fehler: Die Axtschneide traf seinen Körper seitlich unter der Achsel und tötete ihn augenblicklich. Während der Sterbende gegen seinen Kameraden geschleudert wurde, war Gull bereits vorwärtsgestürmt, um den Angriff zu forcieren. Er riß die Axt aus den Rippen des sterbenden Mannes und schmetterte das Heft sofort geradewegs in die Eingeweide einer Frau, die daraufhin aufkeuchte und vornüberstolperte. Gull grunzte - er haßte diese >Arbeit< 49
und sich selbst - und schlug sie so hart unter das Kinn, daß ihr Kiefer brach. Verflucht sei alle Zauberei, dachte er, und dieses unnötige Sterben! Diese Leute waren in die Schlacht gezwungen worden, und als Sklaven der Magie blieb ihnen nichts anderes übrig, als für die Eitelkeit eines Zauberers bis zum Tod zu kämpfen! Das Beste an unserer Sache, philosophierte der Holzfäller, ist die Tatsache, daß jeder Soldat, der jetzt und hier für meine und Greensleeves Armee kämpft und stirbt, ein Freiwilliger ist - keiner ist zum Dienst gezwungen worden. Überall um ihn herum heulten, kreischten, weinten und starben Kriegerinnen und Krieger. Zweikämpfe tobten an jedem Ort des dreckigen Lagers, und die Verteidiger - Gulls Leute - zogen sich nicht zurück, sondern hielten stand. Wie es seiner Schwester mit ihren Wölfen erging, konnte er nicht sehen, da bei ihrem Zelt ein heilloses Durcheinander herrschte. Gull überlegte gerade, wie er den ungleichen Kampf wenden und die Wüstenunholde verjagen konnte, als Helki mit donnernden Hufen auf die Lichtung galoppierte. »Gull!« schrie die Zentaurin. »Kavallerie im Anmarsch! Zweimal zehn oder mehr!« Die Dinge überstürzten sich so schnell, daß Greensleeves ihnen nicht folgen konnte. Karlis zwei Wächter sprangen vor, als sie die Wölfe sahen, und stellten sich sofort - aus Loyalität oder unter Zwang - schützend vor ihre Herrin. Ein Mann schlug instinktiv nach dem Anführer des Rudels, ein riesiges schwarzes Tier mit zottigen Haaren, und ritzte dem zurückweichenden Wolf die Nase auf. Die großen Tiere griffen normalerweise nicht von sich aus an, aber sie waren verwirrt und in Panik, so daß sie markerschütternd bellten und knurrten. Der große Wolf sprang los, um sein Rudel zu verteidigen, und sofort stürzten sich vier weitere auf den Mann. Als sie knur50
rend zubissen und das Fleisch vom Knochen rissen, schlug der andere Wächter nach den Tieren, brachte sich so aber nur selbst in Erinnerung. Karli, die Zauberin, beachtete das Gemetzel gar nicht, dem ihre Wächter zum Opfer fielen, sondern umklammerte mit zierlicher brauner Hand ein Medaillon an der Hüfte. Sie bellte ein Wort, und Feuer loderte unter ihren Füßen auf, als wäre sie eine Hexe, die auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Die Flammen flackerten ihr bis zur Hüfte hinauf, und die Hitze bewegte die gelben Federn ihres Gewandes, doch Karli schenkte alledem keine Beachtung. Greensleeves und Lily fühlten die Hitze, und der Geruch des brennenden Harzes der Zedernzweige und der heißen staubigen Zeltplane stieg ihnen in die Nase. Die ungeduldige, temperamentvolle Zauberin, die ihrer Sprache nicht mächtig war, stach sich mit den Fingern in die Handfläche und verlegte sich auf eine gebieterische Zeichensprache. Zuerst deutete sie eine runde Form an, dann ein Gehen, und schließlich wackelte sie mit den Händen wie ein Oktopus mit seinen Tentakeln. Ernstlich verwirrt, bemühte sich Greensleeves, etwas zu verstehen. Fast ihr ganzes bisheriges Leben lang war sie schwachsinnig gewesen, und tausend unzusammenhängende Gedankenfetzen hatten stets in ihrem Kopf gewirbelt, so daß sie immer noch Schwierigkeiten hatte, sich für längere Zeit auf einen einzigen Gedanken zu konzentrieren. Sie beachtete das Knurren, Heulen und Prasseln der Flammen nicht und schüttelte wiederholt den Kopf. »W-was w-willst du?« Greensleeves sah, daß auch Lily verwirrt war, aber ihre Freundin schob sich näher heran, um sich zwischen die Druidin Greensleeves und die mißlaunige Hexe zu schieben. Die glutäugige Magierin schlug sich mit der Faust in die Handfläche, die letzte Aufforderung, das schachtelförmige gehende Ding mit den Tentakeln herauszuge51
ben. Schmollend stach sie mit einem Finger in Lilys Richtung und griff nach einem anderen Medaillon am Saum ihrer Jacke. Lily schluckte und fiel zusammen wie ein geplatzter Ballon. »N-nein!« keuchte Greensleeves. »B-bitte! Ich w-weiß nicht, w-was du w-willst!« Doch die Zauberin war zornig. Die Flammen um ihre Füße prasselten nun so hoch, daß ihr Gesicht durch die Hitzewellen verzerrt erschien. Sie griff nach einem weiteren Medaillon und deutete auf Greensleeves. Greensleeves fühlt sich plötzlich luftig und leicht, als schwebe sie, obwohl sie wußte, daß sie noch auf dem Boden stand. Gebannt beobachtete sie, wie Karli das Versagen ihres Spruches (welches Spruches?) mit einem Stirnrunzeln bestätigte, einen weiteren Knopf ergriff und erneut deutete. Diesmal fühlte Greensleeves einen Stich wie von einem Eiszapfen im Herzen, und aus der Tiefe ihres Geistes drang ein grauenhafter Schrei. Ein überwältigender Drang fortzulaufen überkam sie. Sie wollte nur ihren Dachs aufheben, wegrennen, sich verstecken, sich nötigenfalls selbst in einem Loch begraben - doch irgend etwas hielt sie am Boden fest. Der Spruch traf auch die blutbeschmierten Wölfe, die jaulend zwischen den Zedern das Weite suchten. Zwei von ihnen waren den Hieben der Krummsäbel zum Opfer gefallen, aber auch beide Wächter lagen regungslos am Boden. Lily lag flach auf dem schmutzigen Vorleger des zerstörten Zeltes. Mit ihrem Gesicht, das so weiß wie ihre Kleidung war, und ihren in seltsamen Winkeln verdrehten Gliedmaßen sah sie aus wie eine fallengelassene Puppe. Greensleeves versuchte, sich etwas auszudenken, womit sie zurückschlagen konnte, doch sie war keine Kämpferinnennatur, ihre normale Reaktion wäre es gewesen, fortzulaufen und sich zu verstecken, so wie es ein Tier täte - denn nur Menschen töten einander grund52
los. Aber sie mußte hierbleiben und das Lager und ihr Gefolge verteidigen - wenn sie konnte. Wie sollte sie dieses angriffslustige Ungeheuer bekämpfen, das nach unbekannten Seltsamkeiten gierte? Und wie konnte sie gegen eine Zauberin ankommen, die richtige Sprüche beherrschte, während Greensleeves nur auf blinden Instinkt vertraute? Die flammenumkränzte Karli fauchte wie ein Wüstenadler und berührte ein Paar goldener Knöpfe in den Ecken ihrer Jacke. Diesmal war es gelber Rauch, der offenbar aus einer Spalte im Boden hervorquoll und in dem zwei riesige häßliche Frauen Form annahmen. Noch größer als ihr Bruder Gull, beeindruckten die Wesen mit rotverbrannter Haut und schwarzem Haar, das zu einem Knäuel aufgebunden war und an die scharfumrissene Form eines Witwenknotens erinnerte. Die sackartigen schweren Brüste waren mit haarigen Warzen bedeckt. Die Gesichter waren nicht menschlich: niedrige Stirnen, Nasen, lang wie die von Jagdhunden, und dicke Lippen, die wegen der riesigen, kinnlangen, säbelförmigen Fangzähne vorstanden. Sie trugen die grotesken Karikaturen gelber und grüner Tänzerinnenkleider und protzten mit quastengeschmückten Ohrringen, die groß wie Fuchsschwänze an ihren Pferdeohren hingen. Oger, dachte Greensleeves, oder Ogerinnen - Riesinnen, die für ihre Grausamkeit berüchtigt waren! Karli gab Befehle, und die Ogerinnen polterten vorwärts, um mit ihren warzigen roten Händen nach der jungen Frau zu greifen. Sie werden mir die Arme brechen, wenn sie mich in die Finger bekommen, dachte Greensleeves voller Angst. Sie werden mir das Leben aus dem Leib prügeln, bis Karli das bekommt, was sie haben will. Hilfe, dachte das Mädchen, ich brauche Hilfe! Doch sie war nur eine Naturzauberin, die, ungeübt, wie sie war, nur Wesen und Dinge beschwören konnte, die sie 53
früher einmal berührt hatte, ohne die Möglichkeit, diese auch zu beherrschen. Die Ogerinnen erhoben die furchterregenden Pranken wie Fleischerhaken - und Greensleeves wedelte wie wahnsinnig mit den Händen, so als wolle sie sie fortscheuchen. Dann wurde der dreckige Vorleger unter ihr und um sie herum an mehreren Stellen durchbohrt - von unten! Gull zählte seine geschwächten Truppen und versuchte dadurch, zu einer Lösung zu kommen, wie er die anreitende Kavallerie zurückweisen konnte, als Holleb, der männliche rothaarige Zentaur in ziselierter, bemalter Rüstung - die nun mit Blut bespritzt war - wie von einem Katapult geschossen auf die Lichtung brach. Er trug eine gefiederte Lanze, die länger als sein Pferdekörper und bis zum Griff mit Blut beschmiert war. Er schrie Helki etwas zu, woraufhin diese herumfuhr und auf ihn zugaloppierte, doch sofort wieder kehrtmachte, als sie seine Worte verstand. Das ist nicht gut, dachte Gull. Holleb hatte die Kavallerie im Osten verfolgt. Da er jetzt aber hier war, bedeutete das... »Tomas!«, brüllte Gull. »Laß im Karree antreten! Wir müssen sofort...« Mit dem infernalischen Geheul eines Sandsturms donnerten blaugewandete Kavalleristen auf die Lichtung. Überall um Greensleeves herum schossen unter grünbraunem Kräuseln weiße Steinsäulen auf, spitz wie Schwerter. Einige waren kaum größer als eine Stricknadel, andere schulterhoch. Es waren Stalagmiten aus einer fernen Höhle, einem Ort, den Greensleeves nie gesehen hatte. Die wie Angelhaken scharfen Stalagmiten bildeten einen Wall aus Schwertern um die junge Zauberin. Sie brachen durch den Boden, rissen Löcher in den dreckigen Vorleger und ließen nur eine zwei Schritt 54
durchmessende >Lichtung< innerhalb der vier Schritt dicken Mauern übrig. Die Magierin mußte ihren kratzenden Dachs absetzen und Lilys Hand packen, um sie in den Kreis zu ziehen, damit sie nicht von unten aufgespießt wurde. Sie rümpfte die Nase, und ihre Augen tränten von dem Gestank nach Ammoniak, denn der beschworene Höhlenboden war fingerdick mit Fledermausdung und sich windenden schwarzen Insekten bedeckt. Doch falls Greensleeves gehofft hatte, damit die Ogerinnen aufhalten zu können, so hatte sie sich getäuscht. Nur einen Augenblick lang wurden die blutgierigen Monster durch das rasche Erscheinen der tödlichen Speere aufgehalten und wichen zurück, doch dann walzten sie wie wildgewordene Stiere vorwärts. Die Steinbarrikade zerbarst knirschend unter der Wucht ihres Ansturms, und Greensleeves zuckte zusammen, als kleine Steintrümmer ihr Gesicht trafen. Die Ogerinnen kreischten, als sie sich die warzigen bloßen Füße an den scharfen Steinstümpfen aufrissen. Aber hartnäckig kämpften sie sich weiter nach vorn. Irgend etwas anderes! dachte Greensleeves. Ich muß etwas anderes beschwören! Aber es war so schwer, sich über all dem Donnern und Brüllen darauf zu konzentrieren, denn weitere Reiter griffen das Lager an. Was konnte sie vor tobenden Ogerinnen retten? Eine geschmeidige gelbbraune Gestalt kam ihr in den Sinn, die schnell wie der Wind rannte und wie eine Bergziege auf Felsklippen herumsprang - mit Zähnen und Klauen. Mit dem Gedanken und dem Wunsch kam die Beschwörung. Ein riesiger Berglöwe materialisierte sich schimmernd und fauchend vor ihren Füßen. Die weißen Schnurrhaare zitterten, als das Tier die Zähne fletschte, und die weichen, runden, schwarzgeränderten Ohren legten sich flach an den Kopf. Mit einem gewaltigen Sprung stieß sich der Puma vom Boden ab, als hätte er Flügel, '55
und griff den Feind vor sich an. Rasiermesserscharfe Klauen zerrissen das Gesicht einer Ogerin, stachen ihr ein Auge aus, schlitzten die lange Nase auf und zerfetzten die sabbernden roten Lippen, Das geblendete Monster heulte wie ein Dämon, als es zur Seite taumelte, auf die scharfen Stalagmiten krachte und sich selbst pfählte. Der Gestank seines heißen Blutes erfüllte die frostige Luft. Doch wie jedes Tier kämpfte der Puma nur, um fliehen zu können, also stieß er sich von dem zu Boden gestürzten Leichnam ab wie von einem Sprungbrett und verschwand zwischen den schützenden Zedern. Noch einmal zuckte der buschige Schwanz, dann war die riesige Katze verschwunden. Die andere Ogerin heulte über die Schande, die man ihrer Schwester angetan hatte, und stürzte vor, um Greensleeves zu zermalmen, während weit hinter ihr Karli wie eine Verrückte Anfeuerungen brüllte. Eine größere Barriere! dachte die Magierin. Ich brauche etwas Festeres! Undeutlich erinnerte sie sich an ein Artefakt, das sie einst weit entfernt in den Domänen auf einer tropischen Insel gesehen hatte: eine Kuriosität, die von irgendwo noch weiter her fallengelassen worden war. Ekelhafter Atem, der nach fauligem Fleisch stank, stieg Greensleeves in die Nase, als die Ogerin die letzten Stalagmiten zerschmetterte. Greensleeves flatterte wild mit den Händen, denn ihr Leben hing von ihrem Handeln ab. Plötzlich flimmerte die Luft wie an einem heißen Sommertag, dann nahm sie Gestalt an, und plötzlich erschien eine uralte, exotische, drei Schritt hohe Lehmstatue. Dutzende von Steinspeeren zerbrachen unter ihrem tonnenschweren Gewicht. Die Statue strahlte noch immer die Wärme der tropischen Sonne ab, in der sie gelegen hatte. Greensleeves wußte nichts über sie - außer daß ihr Bruder sie auf 56
einer Insel, auf der er gefangengehalten worden war, im Dickicht liegend gefunden hatte. Mit ihren überkreuzten Beinen, den im Schoß gefalteten Händen und den geschlossenen mandelförmigen Augen wirkte die Statue wie eine gütige Heilige. Wie bei einer Knopfleiste verliefen Abdrücke und Kratzer entlang ihrer Körpermitte im Lehm. Die matte braune Haut war hart wie Ton, doch sah die Statue biegsam genug aus, als könne sie aufstehen und auf Befehl tanzen. Vermutlich vermochte sie dies auch - wenn man den richtigen Befehl kannte. Welchem Zweck sie auch immer diente, sie gab eine nützliche Barriere ab. Die Ogerin röhrte vor Zorn, als ihr die Statue den Weg zu Greensleeves versperrte. Sie hämmerte mit schwieligen Fäusten auf das Ding ein und stampfte durch die Steinspeere, um es zu umgehen. Doch Greensleeves errichtete bereits eine Mauer aus Holz - aus Ästen, Wurzeln und Baumstümpfen, die alle seltsam ineinander verschlungen und selbst für ein Kaninchen undurchdringbar waren. Sie hatte sie aus den Tiefen ihrer Heimat, dem Flüsterwald, herbeibeschworen. Selbst die schwere Lehmstatue wurde von den Bäumen erschüttert, die sich unter ihrem Körper hervorwanden. Wild gestikulierend zog Greensleeves die Mauer um sie herum immer höher - drei Schritt, vier Schritt -, bis sie von düsterem Zwielicht umfangen wurde. Als sie hörte, wie die Ogerin tobend gegen die Mauer anrannte, fühlte sie sich sicher in ihrem kleinen geschützten Kreis. Zumindest so lange, bis sie sich eine andere Verteidigungsmöglichkeit ausgedacht hatte. Aber sie hatte sich selbst in die Falle gelockt: Von diesem geflochtenen Käfig aus konnte sie nicht erkennen, was die Wüstenzauberin Karli, die vor Wut und Enttäuschung laut schrie, vielleicht gerade beschwor. Quer über die Lichtung hinweg erkannte Gull, daß Karli, die Magierin, ein bronzenes Medaillon mit einem 57
purpurnen Stein berührte. Aus dem Stein entwich wabernder Rauch - eine purpurne Gestalt, in der zwei leuchtend grüne Punkte glühten. Der Holzfäller sah, wie die Wolke aufstieg und sich drohend über dem hölzernen Wall - mit seiner darin gefangenen Schwester auftürmte. Dann erkannte auch Greensleeves die Gefahr: Ein purpurner, von Kopf bis Fuß nackter Teufel mit glühenden grünen Augen ragte über ihr auf.
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Der Schlag auf den Kopf und die Beschwörung an einen unbekannten Ort ließen Sterne vor Norreens Augen aufblitzen. Als das Feuerwerk nachließ, erkannte sie, daß sie in Matsch und Schlamm kniete. Der Geruch von Zedernharz stieg ihr in die Nase, und der falsch auf ihren Rücken gebundene Schild grub sich schmerzhaft in ihr Fleisch. Sie bemerkte, daß ihre Hände frei waren: Der Zauberer hatte es geschafft, sie ohne Fesseln auf die Reise zu schicken. Eisige Kälte drang an ihre Haut, und sie zitterte. Alles, was sie über den milchfeuchten Brüsten trug, war eine lederne Weste. Ihr Atem formte große Dunstwolken in der Luft, und durch die dampfende Feuchtigkeit erkannte sie, daß sie sich inmitten einer Schlacht befand. Gull, der Holzfäller und General wider Willen, stand kurz davor, eine Armee zu verlieren. Die Phalanx der Kavallerie war genauso gekleidet wie die fliegenden Teppichreiter, doch diese Angreifer schwangen Krummsäbel, die lang genug waren, um einen Mann von Kopf bis Fuß zu spalten. Die Pferde brachen aus dem immergrünen Wald hervor, und jeder der erfahrenen Reiter scherte nach links oder rechts aus, um so Platz für den nächsten Angreifer zu schaffen, denn in einer breitgefächerten Linie konnten sie die meisten Feinde töten. Sie kamen so rasch näher, daß Gull überrumpelt stehenblieb. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er seiner Schwester helfen sollte - deren dünne Steinbarriere ge59
rade von Riesinnen in grünen und gelben Gewändern zertrümmert wurde - oder ob seine Truppen, das Rückgrat ihrer Verteidigung, seine Unterstützung brauchten. Aber wo waren die anderen? Wo war Liko mit seiner gewaltigen Kraft? Waren die Kentauren wieder im Wald verschwunden, um weitere Kavalleristen abzuwehren? Und waren Bardo und seine adleräugigen Späher irgendwo anders in Kämpfe verwickelt worden? Wie konnte diese Armee beim Abendessen nur so riesig sein, während sie in einer Schlacht derart zusammenschmolz? Gull bemerkte zwischen den umherhetzenden Leuten, den Toten und Sterbenden, daß eine bewaffnete fremde Frau in schwarzem Leder das Lager betreten hatte. Sie stand einfach da und sah sich gelassen um. War sie eine Späherin, die ausgesandt worden war, um heimlich ihre Verteidigungsstellungen auszuspionieren? Es gab wenig genug zum Spionieren: Sie waren wehrlos! Tomas, der älteste Veteran, der stets kühl blieb, was auch immer über ihn hereinbrach, hatte seine Kriegerinnen und Krieger zu einem Keil formiert. Sie standen zwei Reihen tief gestaffelt mit dem Rücken zu den Zedern und hielten ihre Stangenwaffen und Schwerter bereit. Es waren sicherlich zwanzig Soldatinnen und Soldaten, mit Tomas an der Spitze des Keils und Neith und Varrius an dessen Basis. Die roten Weibel hatten alle Hände voll zu tun, um ihre verdrossenen Truppen vor Auflösung und Flucht zu bewahren - und sie zusätzlich noch auf den Angriff der herandonnernden Kavallerie vorzubereiten. Doch trotz dieses stählernen Walls lichtete der erste Ansturm der Wüstenreiter die Reihen der Verteidiger, und ihre Säbel sausten durch die Luft, als wollten sie Löwenzahn köpfen. Entweder hatte Tomas seine Verteidigungsstellung falsch eingeschätzt, oder die Reiter waren verrückt, denn sie preschten die Linie auf und ab, als ob sie an einem harmlosen Zaun entlangritten. Leicht und schnell 60
schwangen sie ihre langen dünnen Säbel, zielten geübt nach einem halben Dutzend Soldaten, spalteten Köpfe, Gesichter und Arme und machten dann elegant kehrt, als hätten ihre Pferde Flügel. Nachdem drei Reiter die Linien durchbrochen hatten, lösten sich diese auf. Tomas lag am Boden, er hatte den Helm verloren, und Blut strömte über seinen kahlen Kopf. Gull fluchte und rannte los, während ihm das verkrüppelte Knie höllische Schmerzen durch den Oberschenkel jagte. Seine Schwester hatte er nicht mehr gesehen, seit sie von einer purpurnen Wolke bedroht worden war. Lily war einige Zeit vorher wie unter dem Schlachterbeil zusammengebrochen. Wenn sie nun starb, ohne daß sie Gelegenheit gehabt hätten, das zu klären, was zwischen ihnen stand? Verfluchte Zauberei! Und verdammt auch er, der Bruder einer Druidin und Geliebte einer Zauberin! Und anstatt Magier zu bekämpfen, hätte er genausogut Schweinezüchter werden können: Er wäre nicht weniger erfolgreich gewesen! Eine Erschütterung unter seinen Füßen ließ ihn herumfahren. Über seinen bitteren Selbstbezichtigungen hatte er die wichtigste Regel einer Schlacht vergessen: aufmerksam zu sein. Hinter ihm donnerten zwei Kavalleristen, schnell wie der Wind, mit schlagbereit erhobenen Säbeln auf ihn zu. Greensleeves schrie auf, als sich der purpurne Teufel das größte Objekt weit und breit - vor ihr in die Luft erhob. Sein von purpurnen Muskelsträngen umwundener Kopf war so lang wie ein Pferdeschädel, seine Oberseite knollig, und aus einem Loch stieg Rauch auf wie die Fontäne eines Wals. Die leeren Augenhöhlen glühten grün, und der offene Mund wirkte wie der grüne Rachen des Todes. Der nackte Dämon hatte die Gestalt eines Mannes, die spitzen Ohren waren mit goldenen 61
Ringen geschmückt, und das Höllenfeuer umwaberte die weißglühenden Dornen an seinen Ellbogen. Als sich das Ding erhob, keifte die finstere Zauberin Karli in ihrer gurgelnden Sprache. Der Efreet spreizte die Finger, die zu wachsen begannen, immer länger wurden und innerhalb von Sekunden seinen Körper an Länge übertrafen. Als würde es ihn nicht mehr Mühe als ein Schulterzucken kosten, schob der Teufel seine langen Finger in die Holzbarriere, die Greensleeves um sich herum gewoben hatte, und zog. Die ineinanderverflochtenen Bäume zerkrümelten zu Splittern und Rinde. Die Kreatur schleuderte das Kleinholz beiseite, grub die purpurnen Klauen tief in den Boden vor Greensleeves und riß einen Erdballen heraus, groß wie eine Wagenladung: Obenauf thronten Greensleeves, Lily und die Einrichtung des Zeltes. Greensleeves schluchzte aus purer Verzweiflung, als sie auf dem wackligen Erdklumpen, den nur ein schäbige Zeltvorleger zusammenhielt, in den Himmel gehoben wurde. Kämpfen bewirkte überhaupt nichts, doch sie hatte keine andere Wahl, und wieder suchte sie nach einer Hilfe, nach etwas, das auch nur den geringsten Schaden anrichten konnte. Ihre erste und natürlichste Reaktion war, etwas zu beschwören, das ihr vertraut war, und der Dachs zu ihren Füßen, ein treuer Freund, obwohl ihm ein Name fehlte, erinnerte sie an etwas. Das Tier nahm in ihren Gedanken Gestalt an, und sie stellte sich vor, wie es unsichtbar über Meilen herbeiflog. Ein Regenbogen in allen Erdfarben flackerte neben ihr auf, braun wie der Boden, grün wie die Pflanzen und blau wie der Himmel und die Wolken und schließlich gelb wie die lebensspendende Sonne. Etwas materialisierte sich neben ihr in der Luft und krachte geradewegs auf die Brust des Efreets. Es war ein weiterer Dachs, aber ein riesiges Tier mit einem Körper, so groß wie der eines Pferdes, und er wog 62
sicherlich mehr als eine halbe Tonne. Allein sein Gewicht gebot dem Efreet Einhalt und ließ ihn niedersinken, bis er kaum noch vier Schritt über dem Boden schwebte. Erschreckt durch die Beschwörung in luftiger Höhe, verkrallte sich der riesige Dachs in den festen Halt unter sich. Die Klauen gruben sich sechs Finger tief in die purpurne Brust des Efreets und rissen Furchen in die violette Haut, als der knurrende Dachs strampelnd nach Halt suchte. Aus der aufgeplatzten Haut quoll grünes Blut, und obwohl die Wunden sofort wieder verheilten, wand sich der Efreet vor Überraschung und Schmerz. Da er die beiden vergrößerten Hände voll mit Erde, zwei Zauberinnen und deren Ausrüstung hatte, blieben ihm nur seine zahnlosen grünen Kiefer zum Angriff und er setzte sie ein. Das höhlenartige Maul schloß sich dicht um den Hals des Tiers, und Greensleeves schreckte zurück, als sie das entsetzliche Knacken hörte, mit dem der Kopf des Dachses zerbarst. Seine vier Pfoten zuckten und verloren den Halt, als der Efreet Knochen, Blut und Fell ausspuckte, und Greensleeves hätte um ihren armen toten Riesendachs laut weinen mögen. Der Efreet hob sie höher in die Luft, so hoch, daß ihr Bruder von dort aus wie eine Maus wirkte. Sein aufschauendes Gesicht wurde nahezu ganz von den blaugewandeten Reitern verdeckt, die über ihn herfielen. In der Ferne stand der Riese Liko knietief in den Nadelbäumen und hielt nach Feinden Ausschau, die wahrscheinlich direkt unter seinen großen Füßen waren. Endlich erkannte er Greensleeves' Schwierigkeiten und kam angerannt doch es war zu spät. Das Erdreich unter ihr verschob sich, und Greensleeves duckte sich, um nicht hinunterzufallen. Mit einer Hand krallte sie sich an Lily fest, mit der anderen an dem kleinen Dachs. Karli hob sich mit ihren rosafarbenen fliegenden Pan63
toffeln in die Luft und schwebte auf sie zu. Ihr weißes Haar wehte im Wind, als sie die dunklen Arme in das gelbe Federgewand grub, und ihr Mund verzog sich zu einem hämischen Lächeln. Greensleeves wünschte sich, ihr diese Grimasse aus dem Gesicht zu schlagen, und der plötzliche Haß tief in ihrem Herzen erstaunte sie. Nun gut. Wenn sie kämpfen mußte, dann würde sie eben kämpfen. Sie würde mit etwas angreifen, das diese Frau in den Wahnsinn treiben würde. Der von den beiden Reitern gejagte Gull packte seine blutige Axt dicht am Kopf und rannte - wie ein Hase zur rettenden Hecke - auf die nächsten Bäume zu. Hinter ihm donnerte die Kavallerie heran, so nahe, daß er den heißen Atem der Pferde im Nacken zu spüren vermeinte. Jeden Augenblick erwartete er das Sichelschwert, das ihm den Schädel bis zum Kiefer spalten würde. Dann versperrte ein huschender schwarzer Schatten das Herannahen des nächsten Pferdes - die fremde Frau in schwarzem Leder. Schnell wie ein Frettchen und geschmeidig wie ein Panther stürmte Norreen auf das nächste Pferd zu. Sie behielt sowohl ihr Ziel als auch den mit Baumstümpfen übersäten schlüpfrigen Grund im Auge, als sie ihr Kurzschwert in Armeslänge vorschnellen ließ und der empfindlichen Nase des Pferdes einen Schnitt verpaßte. Das getroffene Pferd blieb verängstigt stehen, zuckte zurück und warf sich so heftig herum - weg von Gull -, daß die Reiterin beinahe aus dem Sattel gerutscht wäre. Norreen nutzte die Verwirrung aus, duckte sich unter dem Tier hinweg und stach es in den Widerrist, um es noch weiter von Gull abzudrängen. »Laß dich fallen!« schrie sie und drosch eine Faust gegen Gulls Schulter, so daß dieser nach hinten geschleudert wurde und schwer auf den mit Zedernstümpfen bedeckten Boden krachte. 64
Norreen blickte nicht nach unten, als sie über ihn hinwegsprang. Sie huschte seitlich heran, um ein schlechteres Ziel zu bieten, und vollführte einen perfekten Überkopfschlag, der keinen Teil ihres Armes dem herankommenden nächsten Reiter gegenüber ungeschützt ließ. Da sein eigentliches Ziel durch dieses wirbelnde Etwas beiseite gestoßen worden war, versuchte der Reiter, seinen Hieb in einen Schlag mit der Rückhand zu verwandeln, doch es sollte ihm nicht mehr gelingen. Norreens Klinge schnitt ihm den Arm sauber am Ellbogen ab, und die benalische Klinge war so scharf, daß der angreifende Marodeur nur einen eisigen Kuß am Gelenk spürte. Als er den Schwertarm hob, um nachzusehen, wo er getroffen war, stellte er fest, daß er fehlte und daß nur ein blutiger Stumpf übriggeblieben war. Das Pferd machte noch drei Galoppsprünge, bevor er aus dem Sattel fiel. Norreen nahm ihre Kräfte zusammen, riß Gull zu seiner Überraschung in die Höhe. »Ich suche Gull, den Holzfäller, General dieser Armee!« Sie umklammerte weiterhin seine Hand, um sich seiner Aufmerksamkeit zu vergewissern. »Pah!« schnaubte Gull und spuckte aus. »Es ist die Armee eines Narren, der für dieses Durcheinander verantwortlich ist!« Seine Armee war schon längst aufgerieben. Die Angehörigen von Tomas' Trupp hatten das Weite gesucht und Haufen von Toten um den sterbenden Tomas zurückgelassen. Was soll der Tod dieser vielen Leute nur Gutes bringen? dachte der Holzfäller. Norreen hätte vor Enttäuschung schreien können. »Aber wo ist...« Gull entwand sich ihrem Griff und packte seine große Axt fester. »Keine Zeit! Wir müssen...« Er sah nach seiner Schwester, dann erblickte er sie: sieben Schritt hoch auf einem zerkrümelnden Erdbrocken, der von einem purpurnen Dämon getragen wurde. Norreen starrte auf seine Axt, ein riesiges zweischneidiges Werkzeug, wie es 65
von Holzfällern verwendet wurde. War dies der Mann, den sie suchte? Ein Donnern unter ihren Füßen weckte ihre Kriegerinneninstinkte. Sie packte erneut den Arm des Mannes und sah sich nach der Quelle der Gefahr um. Vier Kavalleristen waren in ihre Richtung ausgeschwärmt. Greensleeves fauchte wie eine wütende Katze und bündelte ihre ganze Wut auf die Frau, die sie in luftiger Höhe gefangenhielt und kaum sieben Schritt entfernt auf ihren spitzen Pantoffeln am Himmel schwebte. Um einem Freund zur Hilfe zu kommen, war Greensleeves einst - bis zu den Oberschenkeln im Schlamm - durch einen Sumpf gewatet. Ihr Bruder und sie waren damals zu ihrem Schrecken von... Plötzlich kräuselte sich glitzernde grünbraune Luft um die Zauberin Karli und überhäufte sie mit unzähligen fetten Blutegeln. Sie sprenkelten die Haut der Magierin: schmierige fingerlange Schnecken wie Rotzklumpen, mit raspelnden, sägenden Mäulern, die sich in ihrer Gier nach rotem Blut an Karlis dunkler Haut festsaugten. Die neben dem Efreet schwebende Karli war zunächst verwirrt und berührte sich nur gedankenverloren an der Wange, an der sie einen Hauch von Feuchtigkeit gespürt hatte. Plötzlich keuchte sie auf und zerrte an dem schleimigen Ding. Da sie es aber nicht schaffte, es zu entfernen, zog sie immer heftiger und riß es schließlich von der Haut weg. Blut spritzte, und sie schrie und wimmerte wie ein Schwein auf der Schlachtbank, als sie seitwärts durch den Himmel purzelte. Der verwirrte Efreet taumelte und sank dem Boden entgegen, während Greensleeves sich an ihre Freundin und ihr Haustier klammerte. Sie betete, daß die Zauberin den Efreet nicht >entschwören< möge, damit sie nicht Dutzende von Schritt durch die Luft fiele. Wenn nur... Doch Karlis Wut kannte keine Grenzen. Wild um66
klammerte sie ein mit einer Spirale geschmücktes Medaillon an der Hüfte und stieß zusätzlich zu ihren gellenden Schreien einen heisernen Ruf aus. Wie ein Donner fiel der Tornado vom Himmel und pflügte durch das Lager. Gull stemmte sich mit den Füßen in den Boden, riß die lange Axt hinter den Kopf und erwartete die heranpreschenden vier Reiter. Wenn es sein mußte, konnte er vermutlich die Kehle eines Pferdes spalten und den dahinter sitzenden Angreifer töten. Ein Feind weniger... Die Kriegerin in Leder müßte sich um sich selbst kümmern. Sie hatte sich als kampferfahren erwiesen, mehr als er selbst. Aber was war... Ein Brüllen wie der Schrei von tausend Wahnsinnigen erfüllte Gulls Kopf: ein Lärm, so laut, daß er seinen Ursprung in ihm selbst zu haben schien und nicht außerhalb. Der Boden bebte, als Dreck, Holzsplitter, Zedernzweige und Asche in die Luft geschleudert wurden. Unsichtbare Finger zerrten an seiner wollenen Mütze, dem Saum seines Umhangs, den Bändern seiner Lederweste und an seinem Haar. Das Brüllen verstärkte sich noch, bis Gull befürchtete, sein Schädel werde bersten und seine Eingeweide würden zermalmt werden. Der Himmel wurde dunkel, als sich über ihm eine verdrehte Form wie ein gestürzter Berg auftürmte, eine wirbelnde dunkle Masse mit der Kraft und der Launenhaftigkeit eines Gottes. Dann kam der Tornado über sie. Der Holzfäller konnte nicht wissen, daß Tornados nicht über den Grund fegten, sondern sich Dutzende Schritt hoch in der Luft drehten, dann wie ein Blitz zu Boden fuhren, dort mit Windgeschwindigkeiten von fünfhundert Meilen in der Stunde und mehr tobten und schließlich wieder in die Luft hüpften, um den Wechsel von Schweben und Landen aufs neue zu beginnen wie ein Stein über der Wasseroberfläche, bis sie endlich vom Sog der Erde aufgehalten und aufgelöst wurden. 67
Und so erschien der von Karli beschworene trichterförmige Sturm erneut, diesmal etwa dreißig Schritt hoch über dem Lager. Spielerisch wie ein Welpe packte er die Menschen und schleuderte sie wie Ameisen durch die Luft. Gull wurde hochgehoben und gegen ein herangaloppierendes Pferd geworfen. Er schnaubte, als er gegen den Reiter prallte, einen Mann, der nach Gewürzen, Zimt, Tabakrauch und Honigtee roch. Wie durch Magie wurde der Holzfäller gegen die Brust des Angreifers geschmettert, bevor er in den Sattel des braunen Pferdes sank. Gull fand noch Zeit, die mit Juwelen und echtem Blattgold besetzten Zügel zu bewundern, bevor die beiden Männer und das Pferd emporgerissen und sich überschlagend durch die Luft gewirbelt wurden. Der Reiter krachte in die verästelten dicken Zedernzweige wie ein Pfeil in eine Strohscheibe, und Gull folgte ihm. Er fühlte, wie sein Stiefel weggerissen wurde, und wenn auch die Zedernzweige schmerzhaft in seine Haut stachen, ließ er die Axt nicht los. Der Geruch nach Zedernöl war überwältigend, und er befürchtete in seiner Benommenheit, daß er für immer wie dieser Wald riechen würde. Der unter Gull eingeklemmte Kavallerist schnappte schwer nach Luft und erschauerte. Der Holzfäller roch plötzlich frisches Blut und fühlte, wie sich eine Spitze in seine Brust bohrte: Der Reiter war von einem abgebrochenen Baumstamm gepfählt worden. Dann krachte das Pferd, das hinter ihnen durch die Luft geschleudert worden war, auf die beiden Männer. Gull fühlte, wie das Tier unmittelbar neben ihm in die Bäume geschmettert wurde, so nahe, daß er das verschwitzte üppige Haar der Pferdemähne auf der Zunge schmeckte. Der schwere Pferdeleib drückte ihm die Luft aus den Lungen. Er geriet in Panik, als das sterbende, um sich tretende Tier, das ihn halb unter sich begrub, weiterrutschte und ihn ins dichte Farnkraut quetschte. Vergebens versuchte er sich zu befreien - und er hoffte, 68
daß die Angst ihm die Kraft verleihen würde, einen Mammut hochzustemmen -, doch sein Griff fand nur knorrige, zerrende Zweige. Der Kopf des unter Pferdefleisch und Zedernholz begrabenen Holzfällers krachte gegen etwas zugleich Hartes und Weiches, und dann erloschen ihm die Lichter des Bewußtseins. Greensleeves klammerte sich an Lily - die schlaff wie ein Mehlsack und schwach atmend dalag -, an ihren Dachs und den dreckigen Vorleger, der sie auf dem krümelnden Erdklumpen hielt. Doch alles wurde durch die Luft gewirbelt wie Weizenspreu, und so hätte sie genausogut nach dem toten Riesendachs oder dem Efreet greifen können, der wie eine Kerzenflamme flackerte und von dem über allem aufwirbelnden Tornado ausgelöscht wurde. Sie hätte auch Karli packen können, die sich über dem Wald in der Luft überschlug und schreiend an ihrer Haut zerrte, um die Blutegel wegzureißen, wobei sie sich mit ihren langen Fingernägeln ebensoviel Schaden zufügte wie die Blutsauger. Dann glitten ihr Lily, der Dachs, der Vorleger und Erde durch die Finger, und sie fiel. Es blieb keine Zeit mehr für Beschwörungen... Sie krachte in die Zedern, und nur ihre dicke Wollkleidung bewahrte sie davor, ernsthaft verletzt zu werden. Der Umhang hatte sich um ihren Kopf gewickelt, und sie fühlte, wie hundert hölzerne Finger statt an ihm an ihrer Haut zerrten. Ihr Kopf schlug schmerzhaft gegen irgend etwas, doch sie vergaß den Schmerz sofort, als ihr Fuß in einen Kaninchenbau einbrach und ihr Körper in die andere Richtung verdreht wurde. Sie schrie, als ihr das Gelenk brach und lähmender Schmerz wie eine Welle durch ihren Körper brandete. Nur Norreen sah das Ende von Karlis Überfall. Der grimmige Zephyros hatte die Kriegerin von den Füßen 69
gehoben und sie zwanzig Schritt weiter sacht wie Distelwolle wieder abgesetzt. Doch die Erfahrung, auf einem Mördersturm geritten zu sein, ließ ihre Knie zittern, und sie hielt sich erleichtert an einer nahestehenden Zeder fest. Von dort aus sah sie die Wüstenmagierin landen. Die anderen Leute - Karlis Truppen oder die Mitglieder dieser Armee - krochen durch das Lager, saßen da, den Kopf in den Händen vergraben, oder lagen still am Boden, für immer unbeweglich, denn der Atem war ihnen aus den Körpern gewichen, und ihre Herzen hatten aufgehört zu schlagen. Selbst eine riesige Ogerin in zerrissener Kleidung lag jammernd mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden: Ein verirrter Baumstamm hatte ihr das Rückgrat gebrochen. Karli war ein rotgeflecktes zerzaustes Schreckensgemälde. Sie hatte sich die Haut zerstochen, Haare ausgerissen und die Kleidung zerfetzt, um die widerwärtigen Blutegel loszuwerden, obwohl sie tatsächlich in dem Augenblick zu sterben begannen, da sie aus ihrem weit entfernten Sumpfwasser gerissen worden waren. Wütend, fast außer sich vor Abscheu und dem Wunsch nach Entkommen, trat die Zauberin nach der verstreuten Einrichtung von Greensleeves Zelt. Um ein frisches gähnendes Loch herum lagen die nunmehr zerbrochenen oder aufgesprungenen geschnitzten Kisten. Alles war mit Dreck bedeckt, doch die kleine Frau trat, grub und zerrte mit wachsender Verzweiflung auf der Suche nach irgendwelchen Dingen. Norreen blieb still stehen und beobachtete verwirrt das Schauspiel. Die Zauberin schien nach etwas Bestimmtem zu suchen, nach irgendeinem Schatz zu gieren, denn sie hielt nicht inne, um die Dinge zu untersuchen, sondern warf sie nur beiseite und grub tiefer. Dann hörte sie plötzlich auf - fast entgeistert vor Glück. Norreen hielt den Atem an. Die Zauberin hatte eine rosafarbene kopfgroße 70
Schachtel gefunden, die seltsam umbunden oder - es war schwer zu sagen - eingekerbt war und auf allen Flächen runde oder rechteckige Erhebungen aufwies. Karli lachte frohlockend, als sie das Artefakt gegen die Brust preßte. Dann glitt das Ding durch ihre Finger. Norreen keuchte. Es sah so aus, als hätte die Frau es aus Ungeschick fallengelassen, aber das stimmte nicht. Die Kriegerin hatte mit eigenen Augen beobachtet, daß ihr die Schachtel wie Rauch durch die Finger geschlüpft war. Die verblüffte Karli bückte sich und griff danach, doch sie konnte sie nicht hochheben. Es war, als wolle sie Wasser festhalten: Immer wieder glitt ihr die Schachtel durch die Finger. Verzweifelt fuhr sie mit den Händen durch das Trugbild der Schachtel, doch es war sinnlos. Um Magie mit Magie zu bekämpfen, berührte Karli die Knöpfe ihrer nunmehr schäbigen Jacke und sprach Formel um Formel. Jedesmal bückte sie sich und versuchte, das Artefakt aufzuheben, doch jedesmal versagte sie. Tränen der Verzweiflung rannen ihr über die Wangen, und Norreen wußte, warum: Sie hatte einen wundervollen Schatz gefunden, und nun konnte sie ihn nicht mitnehmen. Aber... war es die Schachtel selbst, die der Zauberin nicht folgen wollte und sich selbst unberührbar gemacht hatte? Wütend stampfte Karli mit den Füßen auf, trat nach dem geisterhaften Artefakt, warf den Kopf zurück und schrie. Dann wurde ihr ihre mißliche Situation wieder bewußt. Viele Überlebende im Lager, sowohl Verteidiger als auch Angreifer, sahen sie an. Einige der einheimischen Soldaten verständigten sich leise und suchten nach einer Armbrust... Mit einem letzten Blick auf die Schachtel, teils verächtlich, teils sehnsüchtig, scharrte sie mit den Füßen, wickelte sich den zerrissenen gelben Federumhang um die Schultern und erhob sich in die Luft, um fortzufliegen. 71
Als erfahrene Soldatin bemerkte Norreen, daß sie ihre Truppen zurückließ. Sie hatten in ihren Augen versagt, und so ließ sie sie im Stich. Verdammt seien alle Zauberer, dachte Norreen, dann seufzte sie, rappelte sich hoch und überquerte die Lichtung. Sie mußte diesen großen Mann mit der Axt finden, denn er schien zu wissen, was hier geschah, und konnte sie wahrscheinlich zu Gull, dem Holzfäller, bringen. Und zu dieser Zauberin, fügte sie hinzu, denn trotz ihrer abgerissenen Kleidung mußte sie die berühmte Greensleeves sein. Mit etwas Glück würde sie die zwei, Gull und Greensleeves, töten können, bevor sich die Armee wieder erholt hatte. Dann würde sie nach Benalia zurückkehren und ihren gefangenen Sohn in die Arme schließen.
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»He! Wach auf, Soldat! Wach auf!« Gull kletterte benommen und mit schädelsprengenden Kopfschmerzen aus einer dunklen Fallgrube in fahles winterliches Sonnenlicht. Die ausgefransten, zitternden Ränder der Grube ragten immer noch über ihm auf, bis er sich schließlich daran erinnerte, daß es Zedern waren. Ach ja, da hatte es eine weitere Schlacht gegeben... Hatten sie gewonnen oder verloren? Gull hätte gern einmal gesiegt, nur um zu sehen, was für ein Gefühl das war. Dann erinnerte er sich an Greensleeves, die von einem Geist davongetragen worden war. Und Lily. Waren sie... Norreen schüttelte ihn wieder und zerrte an seinem verbliebenen Stiefel. »He, Großer! Lebst du noch da drinnen?« »Ich weiß nicht...« Gull hustete und spuckte Zedernnadeln aus. Als er sich aufsetzte, fühlte er tausend Kratzer wie Insektenbisse. Er wischte sich noch mehr Zedernzweige aus dem Gesicht, so daß er wieder klar sehen konnte, und stieß gegen etwas Kaltes, Steifes - ein totes Pferd. Schwerfällig und steif wie das verendete Reittier wand sich Gull aus den ihn umschlingenden Zedern hervor und kletterte über das braune Pferd hinweg. Unter dem Tier lag ein blaugewandeter Reiter, dem ein blutiger Baumstumpf aus der Brust ragte, und darunter ein Nest aus zerschmetterten Zedernbäumen, das seinen Sturz aufgehalten hatte. Die Frau in Leder hatte ihn geweckt und bot ihm nun eine behandschuhte Hand, die ihn schließlich aus dem Gewirr herauszog. 73
»Danke«, murmelte er. »Hast du meine Schwester gesehen? Und die Frau in Weiß? Und meinen Stiefel?« Ah, dachte Norreen, dieser große Hornochse ist der Bruder der Zauberin Greensleeves. Deshalb hatte er wohl irgendeine untergeordnete Kommandofunktion oder den Posten des Leibwächters inne. Wahrscheinlich trug er die Holzfälleraxt nur, um den berühmten General dieser Armee zu imitieren. Er sah groß und zäh aus, dennoch schwerfällig, mit Dutzenden von Narben und nur noch zwei Fingern an der linken Hand. Es war gut, daß sie ihm das Leben gerettet hatte: Er würde ihr den Zugang zu Greensleeves ermöglichen, die Gelegenheit, dieser nahezukommen. »Ja. Sie ist noch tiefer im Wald. Ich habe dich hier herausgezogen, nun laß uns nach ihr sehen.« »Oh, danke! Du bist sehr freundlich«, brummte der Holzfäller. Seine Lippen waren zerkratzt, zerquetscht und geschwollen, sein ganzes Gesicht schorfig, aufgerissen, und es juckte wie der Teufel vom Harz und den Nadeln der Zedern, die sich selbst unter seinem Hemd festgesetzt hatten. Mehr als alles andere wünschte er sich ein Bad, aber Greensleeves und Lily kamen zuerst. »Du hast da draußen mein Leben gerettet. Vielen Dank. Du bist auch eine verdammt gute Kämpferin. Du bist zwischen diesen Pferden geradezu herumgetanzt und doch nie so nahe an eines herangekommen, daß es dich ankratzen konnte. Wie kommt es, daß du unsere Sprache sprichst? Niemand sonst von den Söldlingen dieser dunklen Zauberin konnte das.« Norreen fühlte eine Welle des Stolzes, als sie die Komplimente hörte, obwohl sie keine gute, sondern nur eine durchschnittliche Kriegerin war, zudem fett und deshalb langsam, mit Muskeln, die am ganzen Körper schmerzten und zitterten. Aber was meinte er mit den Söldlingen der Zauberin? Ah, er glaubte, sie sei von der Zauberin beschworen worden! Sehr gut, sollte er es ruhig glauben. »Oh, ich komme von den Grenzen ihres Landes, vom Rande der Wüste.« 74
»Dann bist du also auch gestrandet?« Gull suchte nach seiner Axt und seinem Stiefel und fand beide unter dem Kleinholz. Er zwängte sich durch die Zedern in die Richtung des Lagers, und Norreen bemerkte, daß er auf dem rechten Knie hinkte. »Das tut mir leid, aber du bist nicht allein. Wir sind alle Opfer von Zauberern und versuchen, nach Hause zu kommen!« rief er ihr über die Schulter zu. Die Worte >nach Hause< stachen in Norreens Herz. Sie brach hinter ihm durch das Unterholz und rief: »Ich muß Gull sprechen, den Holzfäller!« Der Mann vor ihr schnaubte verächtlich, als er zwischen den letzten Bäumen hindurch auf die Lichtung stampfte. »Warum?« Fast jeder war auf der entfernten Seite des Lagers beschäftigt, dort, wo die Verteidigungsstellungen seiner Soldaten aufgerieben worden waren. Troßleute lagen jammernd über ihren toten Ehemännern und Ehefrauen. »Er leistet hier eine verdammt armselige Arbeit als General. Er hätte beim Ästestutzen bleiben sollen«, knurrte Gull bitter. Ohne ein weiteres Wort ging der riesige Mann auf die größte Menschenansammlung zu, wo weinende, fluchende oder still arbeitende Söldlinge und Troßleute die Leichen in langen, geraden Linien aufreihten. Norreen folgte ihm. Amma, eine Samitin und Anführerin einer heruntergekommenen Gruppe von Heilkundigen, gab Befehle, wo welche Verwundeten hinzubringen seien. Der große Mann stand mit seiner großen Axt einfach nur da, bis ihn die weißgekleidete Heilerin zu sich herüberwinkte. Am Boden lag der sterbende Tomas, einst ein stolzer Weibel seiner roten Kohorten, dann Offizier dieser bunten Truppe. Eine klaffende Kopfwunde schimmerte rot an seinem Haaransatz, und seine Augen starrten glanzlos in die Sonne, denn er war erblindet. Doch von seiner ursprünglichen Kraft war noch viel geblieben, genug, um Gulls Hand zu packen und ihn zu sich heranzuziehen. 75
»Gull!« schrie der Sterbende, als wäre er bereits weit entfernt. »General! Könnt Ihr mich hören?« Erstaunt riß Norreen die Augen auf, als sich der große Mann über den Soldaten beugte und sich nicht darum scherte, daß die blutigen Hände seine lederne Tunika befleckten und nach seinem braungebrannten Gesicht tasteten. Auch er schrie: »Ich bin hier, Tomas! Unmittelbar vor dir. Es tut mir leid, daß du verwundest wurdest, Tom. Das ist alles meine Schuld!« Der blinde Mann setzte sich halb auf und klammerte sich fest an Gull. »Nein! Nein... das ist... nicht wahr! Du hast... es versucht! Kämpfst für das Gute! Vergiß niemals...! Du hilfst uns... hilfst uns, nach Hause zu kommen! Wir brauchen dich... Gull, und auch deine Schwester. Deine Sache ist gerecht...« Seine Kraft und seine Seele entwichen in einem einzigen langen Seufzer, und er fiel zurück auf den schlammigen Boden. Gull schloß ihm die blinden Augen. »Ich werde mich daran erinnern, Tomas. Ich verspreche es.« Norreen erstarrte verwundert. Dieser junge, freundliche, rücksichtsvolle Mann war der General dieser Armee? Der berühmte und berüchtigte Gull, der Holzfäller? Der Bruder von Greensleeves? Der Mann, den sie töten mußte? Greensleeves erwachte durch ein sanftes Rütteln und den Klang ihres Namens. Als sie die Augen öffnete, sah sie einen dunklen Engel, der über ihr schwebte: Er hatte ein schlankes Gesicht, dunkles, langes, glattes Haar und einen ernstlich besorgten Blick. »O K-Kwam. D-du b-bist es.« »Ja, nur ich«, kam die freundliche Antwort. Kwam war nur einer von mehreren Magie-Studenten, ein Helfer im Lager, der nun die Äste von Greensleeves fortzerrte. »Wie geht es ihr?« fragte eine rauhe Stimme: Tybalt. Zusammen zogen er und Kwam Greensleeves aus dem 76
verhakten Nest aus Splittern und Zedernzweigen. Eine der Heilerinnen half Lily, die sich etwa vier Schritt entfernt aus einem anderen Haufen erhob. Doch Greensleeves schrie, als sie aufzustehen versuchte: Ihr Fußgelenk wackelte und bog sich unter ihrem Gewicht durch. »Gebrochen!« stöhnte Tybalt. »Ich werde eine Heilerin holen und eine Trage machen...« »Ich kann sie tragen«, bot der sanfte Kwam an. Greensleeves konzentrierte sich so sehr darauf, ihr Bein nicht zu bewegen - und einen weiteren Stich zu ertragen, als sie aufzutreten versuchte -, daß sie nicht widersprach. Vorsichtig nahm sie der überraschend kräftige, hochgewachsene Student in die Arme, und Greensleeves fühlte sich wieder wie ein Kind, als sie sich an seine Brust schmiegte. Doch sie achtete sehr darauf, ihr Bein ruhig zu halten. Ihr Dachs schnüffelte unter den Zweigen und flitzte dann hinter ihnen her. Ihre Kohlmeise Cherrystone flog von einem verborgenen Zweig auf und ließ sich auf ihrem Schal nieder. Der Anblick ihrer Tiere machte Greensleeves glücklich, und sie lächelte, während sich Kwam mit unbewegtem Gesicht auf das Gehen konzentrierte. Tybalt bahnte sich einen Weg durch die zerbrochenen Bäume, und da weder ein Überfall noch ein Tornado oder der Hauch des Todes ihn zum Schweigen bringen, geschweige denn von seiner Leidenschaft ablenken konnte, plapperte er schon wieder drauflos. »Ich habe rasch nach den Artefakten gesehen! Sie sind immer noch alle da! Jemand hat erzählt, daß diese dunkle Zauberin das Durcheinander untersucht hat, aber sie hat überhaupt nichts mitgenommen! Seltsam, nicht wahr? Ach ja, ich habe bei einem - nein, bei zwei - Dingen herausgefunden, worauf ihre Wirkung beruht. Soll ich es dir zeigen?« Die schmerzgeplagte Greensleeves, die in Kwams Armen hin- und herschwankte, stammelte: »E-es r-reicht, wenn du m-mir d-das n-nur er-erzählst. Im Momoment.« 77
»Was? Ja, natürlich! Zuerst also diese Wurstmaschine! Oder das, was aussieht wie eine Wurstmaschine! Du wirst es nicht glauben, was herauskam, als wir ein Stück Schweinefleisch hineingesteckt hatten! Und dieser Zinnhund? Er hat gekläfft, als wir...« Greensleeves verstand von seinem Geschnatter nicht viel, denn ihre Schmerzen waren zu stark. Aber sie bemerkte, daß Kwam sehr darauf achtete, sie nicht zu schütteln. Er sollte ein Heiler werden, dachte sie müßig, kein Student, der der Zauberei hinterherjagt. Von Schmerzen geschüttelt sah Greensleeves, daß sie den Wald verlassen hatten, und fast blieb ihr das Herz stehen, als sie die lange Reihe der Toten sah, die auf der Lichtung nebeneinanderlagen. Doch sie versuchte, höflich zu bleiben: »J-ja. D-das ist gut, T-Tybalt. Ich bin froh, d-daß du diese D-dinge he-herausgefunden hast.« Und irgendwie war sie tatsächlich froh darüber. »E-es ist n-nur dir zu ver-verdanken, T-Tybalt, daß wir T-Tomas und die anderen hi-hierherb ringen ko-konnten...« Sie verstummte, als sie ihren großen Bruder daherkommen sah, gefolgt von einer fremden Frau in schwarzem Leder mit Wehrgehenk. Gulls Hirschledertunika war mit frischen blutigen Handabdrücken verschmiert, und sein Gesicht sah finster aus. »Wenn wir Tomas nicht hierhergebracht hätten, wäre er immer noch auf dieser Insel - lebendig. Jetzt ist er tot, und mit ihm viele andere. Sieh es ein, Greenie: Wir erreichen nichts.« Das Lagerfeuer in der Mitte des Kreises knackte, knisterte und rauchte, denn sie hatten nur grünes Feuerholz gefunden. Die Leute blinzelten und duckten sich, als ihnen die Brise Asche in die Augen blies. Dutzende von Söldlingen, Troßleuten, Köchinnen und Köchen, Heilerinnen, Kartographen, Bibliothekaren und Schreibern hatten sich im Kreis um das Feuer versammelt, so wie die vielen Mitläufer, deren Zweck sich Norreen nicht 78
vorstellen konnte. Aber es gab noch mehr Unverständliches bei dieser bunten Menge. In der Mitte tagte der Rat dieser Armee, eine recht zwanglose Versammlung, zu der neben General Gull, die Zauberinnen Greensleeves und Lily, die KentaurenSpäher, die roten Weibel Varrius und Neith - ohne ihren Kameraden Tomas -, Bardo, der Paladin, Hauptmann der Späher, und selbst Stiggur, der Junge, der das riesige Holzpferd ritt, gehörten. Nach einem improvisierten Abendessen hatten sie sich hingesetzt, für alle hörbar ihre Pläne und Strategien diskutiert und selbst Kommentare von außerhalb des Rates zur Kenntnis genommen. Aufgrund ihrer streng militärischen Erziehung, gewöhnt an strengste Disziplin, verschlüsselte Befehle und Nichtverbrüderung zwischen Offizieren und Soldaten, verstand Norreen weder, wie diese Armee irgend etwas erreichen wollte, noch, wie Befehle überhaupt ausgeführt wurden. Diese Leute waren unglaublich nachlässig. Kein Wunder, daß sie alle Schlachten verloren. Und wo, bei der Liebe von Typhon, waren die Feldwachen? Wußten diese Leute nicht, daß der beste Zeitpunkt für einen zweiten Angriff einige Stunden nach dem ersten war, wenn die Überlebenden müde, versprengt und im Sammeln begriffen waren? »Ich wei-weiß«, stammelte Greensleeves. »Ich weiweiß, daß wir es n-nicht ge-gerade gut machen. A-aber w-wir versuchen es.« Sie bemerkte, daß ihre Kohlmeise fror, und wickelte den winzigen Körper in ihren Schal. Ihr Bruder kratzte sich über das Gesicht und zuckte, als er sich einige Krusten aufriß. »Nun gut, unser Vater hat immer gesagt: >Solange du nicht aufgibst, solange kannst du gewinnen< Aber ich würde wirklich gern einmal gewinnen, möchte triumphieren, anstatt es immer nur zu versuchen. Wir haben unzählige gute Leute für nichts und wieder nichts verloren. Wir könnten genausogut Zielscheiben auf unsere Rüstungen malen und die Zauberer rufen, um ihre Schüsse abzugeben.« Doch 79
dann erinnerte er sich an das Versprechen, daß er dem sterbenden Tomas gegeben hatte, und schwieg. Es war ruhig im Lager, und nur das Knistern des Feuers und das Stöhnen der Verwundeten aus dem Krankenzelt durchbrachen die Stille der Nacht. Norreen widerstand einem Kopfschütteln. Ein solches feiges Geschwätz - selbst wenn es stimmte -, kam von einem General? Undenkbar! Von einem General erwartete man, daß er sagte, er habe gesiegt, gleichgültig, wie schmählich er verloren hatte. »Wie v-viele h-haben wir ver-verloren?« fragte Greensleeves in die Stille. Ein Schreiber namens Niederhäuser, ein dünner Mann in dunklem Gewand, sah auf eine mit Kreide bekritzelte Tafel. »Schwer zu sagen. Sechs Soldaten - einschließlich Tomas - wurden sofort durch die Kavallerie getötet. Zwei der Derwische starben, einer wurde zertrampelt, der andere fiel einer Säbelwunde zum Opfer. Eine Köchin und ihre Tochter wurden niedergestreckt. Zwei Kinder wurden erstochen, doch wir können ihre Eltern nicht finden. Mindestens fünf Troßleute werden vermißt, vermutlich haben sie sich im Wald verirrt. Wir hoffen, daß sie das Lagerfeuer sehen.« Gull seufzte und fragte dann: »Gibt es Verwundete?« Die in ein pulverblaues Gewand und einen weißen Hut gekleidete Amma erstattete mit Hilfe eines mit Holzkohle beschriebenen Rindenstücks Bericht. »Drei unserer Soldaten werden vermutlich sterben, vier weitere werden sich wieder erholen. Ein Student erlitt schwere Verbrennungen, als er ins Feuer fiel, und wird wahrscheinlich sterben. Ein Koch hat sich das Bein gebrochen und wurde durch Pferdehufe schwer verletzt, bei ihm weiß ich es nicht so genau. Ein alter Mann - niemand weiß, wer er ist - wurde bewußtlos geschlagen und wird wohl nie wieder aufwachen. Eine meiner Heilerinnen verlor eine Hand, als sie versuchte, einen Angriff abzuwehren - sie wird es überleben. Ein Späher hat eine Schulterwunde davongetragen, die sich vielleicht 80
entzünden wird...« Es gab noch viele kleinere Verletzungen, die sie aufzählte, bevor sie zum Ende kam. »Und unsere Greensleeves hat ein gebrochenes Fußgelenk und kann nicht laufen. Unsere Gegner haben noch ein halbes Dutzend verwundeter Kavalleristen und einige Teppichreiter zurückgelassen - vier werden durchkommen.« »Wenn sie es überleben, werde ich sie anwerben.« Gull seufzte wieder. »Wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können.« »Nein!« kreischte eine unordentliche verweinte Frau aus dem äußersten Kreis und zeterte: »Sie haben meinen Hassel umgebracht, und du willst, daß sie mit uns kommen? Sie wollten uns die Kehlen durchschneiden, und du willst sie durchfüttern? Das ist nicht richtig! Das ist eine Beleidigung für meinen armen toten Mann!« Gull spähte über den Kreis aus Gesichtern, sein eigenes wurde von den Flammen in ein flackerndes Rot getaucht. Seine Stimme klang mild. »Du meinst das nicht ernst, Atira, oder? Es tut mir leid um Hassel, aber du mußt daran denken, daß wir alle in einem Boot sitzen. Diese Wüstenkrieger wurden von den dunklen Kräften einer Zauberin zum Kampf gezwungen. Sie hatten keine Wahl. Wir aber können uns frei entscheiden, und wir ziehen durch das Land, um etwas zu verändern. Obwohl ich ja zugeben muß, daß wir nicht gerade viel zustande bringen...« Norreen traute ihren Ohren kaum. Ein General diskutierte mit einer alten Vettel, mit einer Troßhure? Ein richtiger Führer hätte sie auspeitschen und vierteilen lassen. Und er gestand Versagen und Unzulänglichkeiten ein? Das war keine Armee, sondern ein Pöbelhaufen! Sie würde der Welt einen Gefallen tun, wenn sie diese Narren enthauptete. Warum machte nichts Sinn, was hier gesagt wurde? Etwas ändern? Was ändern? Man konnte die Welt nicht ändern, man konnte nur überleben! Wie auch immer, sie erinnerte sich an ihren Geliebten Garth, der 81
ganz allein eine riesige Stadt auf den Kopf gestellt hat, der ihre korruptesten und mächtigsten Häuser stürzte und damit das Leben von Tausenden verbesserte... Der Rat hörte sich die anderen Berichte an: Der Chefkoch erklärte, daß die Vorräte - meist eiserne Rationen zum größten Teil noch genießbar waren, die Truppe aber bald frisches Fleisch benötigte. Die Jäger berichteten, daß in diesem Wald außer kleinen Vögeln kein Wild zu erbeuten war. Vielleicht konnten Rehe und Ziegen aufgespürt werden, wenn die Armee näher an das schroffe Vorgebirge heranrückte. Der Schreiber mußte zugeben, daß viele Zelte so sehr zerstört waren, daß eine Instandsetzung aussichtslos erschien, doch sie hatten die meisten Pferde und Maultiere wiedergefunden - dank Liko, dem Riesen, und Stiggur auf seinem mechanischen Holzpferd, die sich sehr gut auf das Hirtenhandwerk verstanden. Für die Kartographinnen und Bibliothekare, deren Aufgabe es war, die Karten des Landes zu zeichnen, erstattete ihre Anführerin Kamee Bericht: Sie bedauerte, daß zahlreiche Pergamente zertrampelt oder verbrannt worden und damit unwiederbringlich verloren waren. Tybalt, der Magiestudent, freute sich, daß die meisten Artefakte noch heil geblieben waren, obwohl einige zerbrochen waren, als der purpurne Teufel sie fallengelassen hatte. Gull und Greensleeves hörten den wenig ermutigenden Berichten zu, während die Leute durcheinanderredeten und ein müdes Kind jammernd nach seinem Vater verlangte. Schließlich sprach der Holzfäller: »Wir haben überlebt, aber sind wir unserem Ziel nähergekommen? Wer kann das sagen?« Norreen konnte ihre Neugier nicht länger bezähmen. »Ich verstehe das nicht! Was ist euer Ziel? Was versucht ihr zu ändern, indem ihr durch diesen götterverdammten Wald hier reist? Was gibt es hier zu erobern?« Die Leute verstummten. Gull, Greensleeves, Lily und die übrigen sahen Norreen neugierig an, und sie ver82
fluchte sich selbst dafür, daß sie ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Aber der Holzfäller blieb so ruhig wie immer. »Ja, du bist neu. Später sollten wir die anderen Neulinge hier versammeln und es ihnen auch erzählen. Mal sehen, ob ich es erklären kann...« Schnell berichtete er, wie er und Greensleeves einst in einem friedlichen Tal im Osten namens Weißfels gelebt hatten, bis eines Tages zwei Zauberer mit ihren Wagenzügen wie aus dem Nichts erschienen waren. Sofort hatten sie angefangen, sich zu bekämpfen, und beim Versuch, sich gegenseitig zu töten, Soldaten, Monster und Naturgewalten von überall her aus den Domänen beschworen. Gulls und Greensleeves' Dorf war zwischen die Fronten geraten, als hätten Götter ein Feuer auf einem Ameisenhaufen angezündet. Binnen Stunden war das Dorf von Soldaten, Barbaren, Trollen, Regen, Steinhagel und Erdbeben verwüstet worden. Die Zauberer verschwanden schließlich, aber innerhalb von Tagen hatte ihr Vermächtnis - Wassermangel, eine Pest, die durch Ratten ausgelöst wurde, Vampire und Seuchen den Rest des Dorfes ausgelöscht. Die Überlebenden waren fortgezogen, alle außer Gull und Greensleeves, die mehr aus Sturheit als aus Treue zu ihrer Heimat geblieben waren - genauer gesagt, Gull war geblieben, denn in jenen Tagen war Greensleeves umnachtet gewesen. Als sie in den Wäldern lagerten, hatten sie Versprengte aus den Armeen der Zauberer getroffen, die von ihren Führern im Stich gelassen worden waren: den Riesen Liko, der den rechten Arm im Kampf gegen eine Felsenhydra verloren hatte, die Kentauren Helki und Holleb, das mechanische Riesenpferd aus Holz und selbst einen unnützen Goblin namens Egg-Sucker. »Unnütz?« piepste eine Stimme. Der hüftgroße graugrüne Dieb sprang hinter einem Stapel Feuerholz hervor und fuchtelte drohend mit einem Kochlöffel in Gulls Richtung. »Ich bin nicht unnütz! Wer war es damals, der die Wölfe verjagt...« 83
»He!« unterbrach ihn ein Koch. »Das ist mein Löffel!« Egg-Sucker quäkte und wollte fliehen, doch er stieß einen eisernen Dreifuß um, so daß sich ein ganzer Kessel Suppe ins Feuer ergoß und es auslöschte. Hüpfend und sein Schienbein reibend, floh er in die Dunkelheit, gefolgt von dem wütenden Koch. Normalerweise hätten die Leute gelacht, doch dafür waren sie zu müde, und Gull konnte nur seufzen. »Vielleicht ist das unser Problem. Unser Glücksbringer ist ein Pechvogel... Wo war ich stehengeblieben? Ach ja...« Zu jener Zeit hatte sich Gull von einem Zauberer anwerben lassen, denn - das wußte er heute - der Mann verstand sich auf das Hypnotisieren und auf das Lügen wie eine Kobra. Später, fast zu spät, fanden sie heraus, daß der Zauberer Towser Greensleeves' verborgene Astralkraft erkannt hatte und plante, sie und Lily zu opfern. Glücklicherweise war sein Vorhaben in letzter Sekunde gescheitert, und die beiden ungelernten Zauberinnen hatten mit Hilfe von Gulls eigenwilligen Freunden gegen den Magier gekämpft und ihn in die Flucht geschlagen - und doch hatten vorher viele, viele Unschuldige das Leben verloren. »Vielleicht erkennst du jetzt, daß wir nichts als Schwierigkeiten von diesen Zauberern zu erwarten haben - außer von Lily und meiner Schwester hier. Sie sind wie Haie oder Schakale oder Drachen. Sie bekriegen sich untereinander und stehlen sich die Magie, um noch stärker zu werden. Wir Sterbliche sind nur wie Vieh, das sie benutzen, so wie die Götter die Menschen benutzen. Aber das Schlachtvieh hat beschlossen, sich zu wehren! Diese Armee«, er erhob die Hand, um die bunte Versammlung mit einzubeziehen, »besteht aus lauter Opfern, die unter den Heimsuchungen der Magier gelitten haben, und wir haben uns alle dem einen Ziel verschworen, Zauberer zu finden und sie von ihrem schändlichen Tun abzuhalten. 84
Und während wir das tun, versuchen wir - wenn wir können -, den Weg nach Hause zu finden. Zauberer denken sich nichts dabei, Menschen und Tiere aus ihrer Heimat zu reißen, sie Hunderte von Meilen entfernt in eine Schlacht zu werfen und sie dann einfach zurückzulassen und zu fliehen, wenn der Kampf verloren ist. Die Domänen sind so riesig, daß keine Karte sie erfassen kann, und es kann Jahre dauern, bevor einige von uns ihre Heimat finden. Manche von uns werden es nie schaffen, so wie der arme Tomas. Und deshalb haben wir die Kartographen, die das Land aufzeichnen, das wir durchqueren, und jeden befragen, den wir treffen, und die Bibliothekare, die die Geschichten, Gerüchte und Legenden sammeln und so versuchen, eine vollständige Karte zusammenzusetzen. Aber es ist nicht leicht«, fuhr Gull fort, und die Menge hörte versunken der Geschichte zu, in der sie alle eine Rolle spielten. »Wir sind jetzt neun Monde unterwegs, haben überall verlorene Seelen aufgegriffen und nach Zauberern gesucht, um sie zu beherrschen und aufzuhalten. Um sie zu töten, wenn nötig, obwohl wir noch nicht wissen, wie. Und wir suchen unsere Heimatländer, jedenfalls die meisten von uns. Greensleeves und ich haben kein Zuhause mehr. Bis jetzt«, schloß Gull, »sind wir über zwei andere Zauberer gestolpert und haben ihre Armeen und Monster niedergekämpft, doch jedes Mal konnten sie fliehen ... Doch wir sind alle Freiwillige und mit ganzem Herzen dabei. Das ist unser Vorteil in den Schlachten gegen versklavte Truppen. Wir mögen zwar aufgerieben werden - um so mehr, weil Tomas nun tot ist -, aber wir kämpfen hart. Und wir geben nicht auf.« Er hielt inne, um Atem zu holen. »Macht das irgendeinen Sinn? Oder sind wir verrückt?« Versunken in die Geschichte, platzte Norreen heraus: »Was? Nein. Aber... Ich habe nie davon gehört, daß 85
Zauberer sich bemühen, den Menschen zu helfen, ohne dafür den Schatz eines Königs als Gegenleistung zu fordern. In meinem Land nehmen selbst die Heiler für die Behandlung kleinster Wunden nur Gold.« Gull lachte leise. »Was ist schon Gold? Niemand in dieser Armee wurde jemals bezahlt. Wir teilen uns die Beute, die wir finden, aber es ist verdammt wenig.« »Keine Bezahlung?« Norreen schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie etwas von einer Armee gehört, die helfen und nicht verletzen will... Das ist wie ein... Kreuzzug!« Die Leute murmelten, als sie das erhabene Wort hörten, das nie zuvor ausgesprochen worden war. Norreen kam sich wie eine Närrin vor: Sie war beauftragt worden, sich in diese Armee einzuschleichen und ihre Anführer zu töten, und nun erregte sie Aufmerksamkeit und posaunte ihre Meinung frei heraus. »W-wo ist d-dein Hei-heimatland?« fragte Greensleeves. »U-und w-wie hei-heißt du?« »Hm? Oh... äh... Rakel.« Es war ihr wahrer Name, den sie jahrelang nicht mehr gehört hatte. »Aus... den Südlanden, nahe dem Hinterland von Gish. Mein... äh... Volk zieht Reben und preßt Wein.« Jedenfalls hatte Garth das getan, bevor die Magie seine Seele gefangengenommen und ihn entführt hatte - auch er war ein Opfer der Zauberei, wie alle, die hier versammelt waren. Aber diese hier waren vereinigt durch eine Idee, einen Kreuzzug, der den einfachen Leuten helfen sollte. Er diente nicht dazu, sich an Macht und Gold zu bereichern, sondern nur der Unterstützung von Unschuldigen. Wie in einer alten Geschichte, dachte sie, einer uralten Legende, die man Kindern erzählt, über die glorreichen Tage von Benalia, als die sagenhafte Stadt noch dazu bestimmt war, das Leben aller zu verbessern. Heute war der Ort ein intrigengeplagtes Labyrinth, in dem es alles käuflich war, selbst Loyalität und Ehre - einschließlich Kriegerinnen, wie sie eine war, und deren Seelen. 86
Und wenn sie diese beiden freundlichen Leute ermordete und diesen Kreuzzug enden ließe, dann würde das Böse dieser Welt triumphieren. Aber wenn sie sie nicht tötete, dann würde sie ihren Sohn nie wiedersehen... »Nun«, fragte Lily, die bisher geschwiegen hatte. »Wirst du bei unserem... Kreuzzug mitmachen?« »J-ja«, sagte Norreen, die jetzt wieder Rakel hieß. »J-ja. Ich bin dabei. Danke.« Doch Tränen rannen ihr über die Wangen.
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»Hier ist es!« freute sich Tybalt und hielt das Artefakt in die Luft, das in der Tat einer einfachen Wurstmaschine glich. »Wartet, bis ihr seht, was es kann!« Inzwischen hatten sie im Lager einen Anschein von Ordnung wiederhergestellt, und Greensleeves hatte die Möglichkeit, sich wieder um ihr >magisches Gefolge< zu kümmern. Tybalt, ihr Anführer, brannte darauf, mit seinen neuesten Entdeckungen anzugeben. Er spielte mit der Wurstmaschine herum und stopfte ein Mischmasch von Dingen in den oben angebrachten Fülltrichter, während er mehr zu sich selbst als zum Publikum sprach. Greensleeves saß vor ihrem Zelt auf einem Stuhl aus behelfsmäßig zusammengebundenen Zedernzweigen und Ästen, der auf dem wurzeldurchzogenen schlammigen Boden einen wohlriechenden, aber harzigen Sitz abgab. Ihr geschientes Gelenk lag auf einer Kiste und pochte heftig, trotz Ammas Gebräu aus Fieberklee, Fenchel, Hagebutten und anderen Heilkräutern. Cherrystone, die Kohlmeise, hüpfte auf Greensleeves' Bein auf und ab, als wäre es ein Ast, während der Dachs schlief und im Traum eingebildete Feinde anknurrte. Als Tybalt und zwei andere Studenten geschäftig ihrem Treiben nachgingen, faßte Greensleeves mit ihrer schmutzigen schwieligen Hand nach Kwams', woraufhin der große, stille und ernste Student seltsamerweise aufsprang. »E-es t-tut mir 1-leid, K-kwam. Ich w-wollte dir n-nur für d-deine Hi-hilfe danken. Daß du m-mich ge-getragen hast.« Greensleeves wunderte sich darüber, daß der Magie-
Student errötete und wegsah. Mochte er sie nicht? Er murmelte, daß es doch nichts gewesen sei, und ging dann weg, um irgend etwas zu holen. Greensleeves seufzte. Sie war so unbeholfen im Umgang mit Menschen. Siebzehn war sie nun, doch in vielen Angelegenheiten fühlte sie sich, als wäre sie erst ein oder zwei Jahre alt. Seit ihrer Geburt im Dorf Weißfels war sie durch die Magie des mysteriösen Flüsterwalds umnachtet gewesen - eine Halbverrückte, ein Einfaltspinsel. Ihre Familie - bis auf ihren Bruder waren nun alle tot, und niemals hatte sie sich für ihre Geduld angemessen bedanken können - hatte gesagt, daß sie mit dem >zweiten Gesicht gesegnet< sei, hatte sie akzeptiert und ihren Unfug, ihr Herumstromern und ihre Störungen mit Nachsicht hingenommen. Es war ihr Bruder Gull, der die >Hauptschuld< an ihrer Verwirrung trug, denn er hatte sie immer mit in den Wald genommen, wenn er Holz schlug, um ihr Gesellschaft zu leisten und sie davon abzuhalten, das Dorfleben zu stören. Oft genug hatte man sie dabei erwischt, wie sie Kaninchenställe und Brotöfen öffnete, Fallen auslöste, Säuglinge aus den Krippen stibitzte, Hunde losband oder Kuchen stahl. Kaum jemand - auch sie nicht - hatte gewußt, daß die seltsame Magie des Flüsterwalds ihre Seele und ihren Geist mit einer geheimen Kraft überschemmt hatte, so stark, daß ihr Denken ausgeschaltet worden war. Erst nachdem sie den Wald verlassen hatte, konnte sie das erste Mal in ihrem Leben klar denken. Doch noch immer war sie von Astralkraft erfüllt, so daß sie so leicht zaubern konnte wie ein Kind Sandkuchen backen. Aber wie ein Kind beherrschte sie die Kraft nur fehlerhaft, ungeübt und unkundig. Sie glich einem gespannten Bogen, doch es gab weder einen Pfeil zum Auflegen noch ein Ziel, auf daß man schießen konnte. Und was nutzte eine Kraft, die nicht beherrschbar war? Ein Blitz konnte Bäume spalten, doch wer wollte das schon? Als sie allein, mit nicht mehr Ver89
stand als eine Beutelratte, meilenweit durch die Wälder gestreift war, hatte sie sich mit Waldwölfen, Dryaden, großen und kleinen Dachsen, Bären, Elfen, Kardinalsvögeln, Berglöwen, Bienen, Waldschraten und Dutzenden anderer Kreaturen angefreundet. Doch was den Umgang mit Menschen betraf... Sie mochte sie sehr gern, verstand sie aber nicht immer, und nun hatte sie so viele Freunde - Lily, Tybalt, Kwam und auch diese Neue, Rakel -, obwohl sie niemals wußte, was sie gerade dachten. »In Ordnung!« Tybalts ungestüme Stimme unterbach ihre Gedanken. »Wir können beginnen!« Tybalt war ein Geheimnis für sie alle, denn niemand wußte, ob er ein Mensch, ein Elf, ein Halbelf oder ein Zwerg war - oder etwas ganz anderes. In den vergangenen Monden hatte er von ihrem Kreuzzug gehört und war über das Land gereist, um sich ihnen anzuschließen: ein langnasiger Kerl mit einem drahtigen Wangenbart und einer purpurnen Mütze, gekleidet in fremdländische Gauklerkluft. Als er erklärte, daß er ein >Fachmann in Sachen magischer Artefakte< sei (ob es nun stimmte oder nicht), hatte ihm Greensleeves leichten Herzens die Kisten, Töpfe und Spielzeuge anvertraut, die sie aus Towsers zerstörtem Wagenzug aussortiert hatte. Mit der Zeit hatte Tybalt noch andere Magie-Studenten angeworben, wie zum Beispiel Kwam. Zusammen mit zwei Frauen, Ertha und Daru, verbrachten die zwei jede Minute damit, mit dem Inhalt der Truhen herumzuexperimentieren. Da sie selbst jedoch keine Magie wirken konnten, hatten sie bis jetzt nur wenig herausgefunden. Die seltsame > Wurstmaschine < stand auf einer Kiste, auf der Tybalt sie notdürftig festgenagelt hatte. Er wedelte theatralisch mit dem Arm. »Dies hier sieht aus wie eine einfache Wurstmaschine, und in der Tat kann man Wurst damit machen. Einfach Fleisch, Gewürze und Mehl oben hineingestopft, den Darm über das Austritts90
loch hier unten gezogen, und schon hat man eine Wurst. Aber sie kann noch mehr! Stunde um Stunde haben wir mit Versuchen verbracht...« »Können wir mit der Vorführung fortfahren?« fragte die ältere wettergegerbte Daru. »Du machst mich hungrig.« »O ja, natürlich. Äh... Ah, und so haben wir alles, was wir finden konnten, in den Trichter hineingemischt, -gefüllt und -gestopft! Nun haben wir - laß mal sehen gesalzenes Schweinefleisch, Hirschhirn, Klettenblätter, Erde, Zedernzweige, Kerzenwachs und eine Prise Salz...« Greensleeves lehnte sich auf ihrem geflochtenen Stuhl nach vorn. Vielleicht würde Tybalt sich etwas beeilen, wenn sie ihn erwartungsvoll ansah. »Wie dem auch sei«, schloß er, »schaut her und staunt!« Entschlossen ergriff er die Kurbel und begann zu drehen, während Daru mit einem Stecken das Gemisch in den Trichter stopfte. Greensleeves beobachtete das Austrittsloch der ächzenden Maschine und erwartete, daß Wurstfüllung heraussickerte und sich auf dem Boden verteilte - aber es kam etwas Festes heraus, als sei die Wurst schon von einer Pelle umhüllt. Die junge Zauberin schluckte, denn was aus dem stählernen Loch herauskam, war eine... Klapperschlange! Der breite Kopf des giftigen Reptils leuchtete im satten Grün der Zedernzweige und war mit gelben Flecken wie von Kerzenwachs gesprenkelt. Für die Umstehenden sah es so aus, als sei die Schlange versehentlich in die Maschine geglitten und versuchte nun, sich wieder herauszukämpfen. Aber Greensleeves konnte sehen, daß es unmöglich war... »Paß auf!« brüllte Kwam so laut, daß die Zauberin hochfuhr, der Dachs bei dem Lärm wie ein Blitz verschwand und Cherrystone erschreckt aufflatterte. Tybalt war so sehr mit dem Drehen der Kurbel beschäftigt, und Daru achtete so sehr darauf, daß ihre Fin91
ger nicht in die Maschine gerieten, daß sie die Schlange vergessen hatten. Zitternd und zischend fiel das zwei Schritt lange Tier auf den matschigen Boden. Vielleicht durch die Kälte der Erde, den Lärm oder die >unsanfte< Beschwörungsweise höchst verärgert, wand sich die Schlange zu einem Knäuel und entblößte ihre vor Gift glänzenden Fangzähne, die weiß wie abgeschabte Knochen schimmerten. Das Untier richtete seinen kurzsichtigen Blick auf Greensleeves' verwundetes Bein, und als Tybalt und Daru aus dem Weg sprangen, rasselte es kurz und richtete sich wütend auf. Obwohl Greensleeves alle Tiere liebte, schrie sie entsetzt auf... ... doch Kwam sprang zwischen sie und die Schlange, die sich streckte und so rasch wie ein blitzender Dolch vorstieß. Der Magie-Student stöhnte, als der Kopf des Reptils sein Knie traf und die nadelspitzen Giftzähne sich durch die wollene Hose bohrten. Die Schlange schüttelte sich, um ihre Zähne zu befreien, wobei einer abbrach, und ihre kräftigen Bewegungen ließen Kwam wie einen Baum im Sturm schwanken. Dann hatte sich Tybalt wieder gefangen, riß die Wurstmaschine hoch und zerschmetterte der Klapperschlange das Rückgrat. Das verwundete giftige Reptil warf sich herum, um den unachtsamen Studenten anzugreifen, doch es kam nicht mehr zum Biß: Ein kräftiger Tritt von Kwam zerquetschte ihm den Kopf. Der lange, starke Körper der Schlange bog sich durch, bäumte sich noch einmal auf wie eine Peitschenschnur und lag endlich still da. Tybalt schob seine purpurne Kappe zurück und rieb sich den kahlen Schädel. »Puh! Mensch! Nie zuvor haben wir eine giftige herausgekriegt! Sie waren immer klein, wie harmlose Landnattern! Ich frage mich, ob wir vielleicht zuviel Pfeffer hineingetan...« Er verstummte, als Kwam gegen ihn stolperte. 92
Nach dem Durcheinander - man hatte inzwischen Kwams Bein mit einer Aderpresse abgebunden und ihn in das Krankenzelt getragen - schnitt Amma die Wunde auf und saugte sie aus, während die anderen Heilerinnen ihm die Arme und Beine massierten, um das Gift im Körper zu verteilen. Schließlich erklärten sie, daß er überleben würde. Unterdessen hatte Tybalt viel Mühe, irgend jemanden für ein weiteres magisches Artefakt zu begeistern. »Dieses hier«, er hielt einen Gegenstand in die Luft, der aussah wie eine Spieldose - ein Zinnhund auf einem kleinen Postament, »haben wir in einer Kiste mit einem magischen Schloß gefunden, das wir aufbrachen.« Er erwartete nicht, daß ihm jemand zusah, und sprach endlich einmal leise. »Wenn man es aufzieht und in die Nähe einer Magierin hält, dann...« Er drehte den Schlüssel im Rücken des Hundes, und sofort bewegte sich dieser auf dem Podest, richtete seine winzige Schnauze auf Greensleeves und Lily und bellte: »Wauwauwauwauwauwauwau!«, ertönte es lange nervenzerrüttende Minuten, bevor sich die Feder abgespult hatte. Tybalt sah in den Kreis der grimmigen Gesichter im blassen Morgenlicht. »Ist das nicht großartig?« Greensleeves machte es sich in dem Rohrstuhl bequem und versuchte, nicht zu stöhnen. Cherrystone kam zurück, und sie bot ihm einen Finger als Landeplatz. »J-ja, T-tybalt. D-das ist schö-schön. W-wundervoll. N-nimm es b-bitte we-weg.« Tybalt nickte trübsinnig und schlich sich mit seinem Zinnspielzeug von dannen, während Daru und Ertha schweigend an der Entzifferung einer Schriftrolle arbeiteten: Sie hatten keine Lust, an Tybalts Schande teilzuhaben. Gull war an den Ort des Geschehens gerannt, als der Magie-Student gebissen worden war, und Rakel war ihm wie ein Schatten gefolgt (wenn es Gull überhaupt aufge93
fallen war, so hatte er es zumindest nicht kommentiert). Müßig grübelte der Holzfäller: »Ich frage mich, ob Towser so herausgefunden hat, daß du und Lily unerkannte Zauberinnen seid. Aber warum hast du nichts von dem Gebell gehört?« Greensleeves warf beide Hände in die Luft und ließ sie wieder fallen. »I-ich we-weiß n-nicht...« Sie gab es auf. Das Reden war zu schwierig, und ihr Gestotter ermüdete sie. Früher hatte es ihr besser gefallen, damals, als sie nur Tierlaute von sich gegeben hatte: das Schnüffeln eines Dachses, das Gekeckere eines Erdhörnchens, das Pfeifen eines Eichelhähers. Beiläufig und ohne nachzudenken erhob Rakel ihre behandschuhte Hand und deutete auf die rosafarbene umbundene Schachtel, die auf einer Kiste lag. »Was ist denn das für ein häßliches Ding?« Alle sahen auf. Lily, die still dagesessen und ein Hemd gesäumt hatte, antwortete: »Das ist ein Speicher für astrale Kraft, glauben wir. Towser ließ ihn vom Grunde eines Krater heraufholen. Er fiel vom Himmel und speichert vermutlich Mana, magische Energie, aber wir waren noch nicht in der Lage, herauszufinden wie. Towser trug ihn auf dem Kopf, festgebunden mit einem Schal, als er versuchte, Greensleeves zu opfern, aber wir glauben nicht, daß man ihn so benutzen muß.« Die ehemalige Tänzerin sah die Kriegerin eindringlich an. »Warum fragst du?« »Reine Neugier.« Rakel zuckte mit den Schultern. Sie wußte, daß es das einzige Objekt gewesen war, nach dem es der räuberischen Karli gelüstet hatte. Doch sie hatte es nicht mitnehmen können, denn es war plötzlich unberührbar geworden. Rakel behielt ihr Wissen aber für sich, denn es konnte sich noch als nützlich erweisen. »Es ist scheußlich.« Lily nickte wortlos und machte sich wieder an ihre Näharbeit. Ohne aufzuschauen bemerkte sie, wie Gull ging und Rakel ihm auf dem Fuße folgte. Sie seufzte laut, zog einen Faden durch den Stoff und zerriß ihn dabei. 94
Greensleeves seufzte ebenfalls. »Du auch, Lily?« Lily legte ihre Arbeit zur Seite und starrte in den Himmel. »Was sollen wir tun, Greensleeves? Was können wir tun?« Greensleeves stand auf, humpelte auf dem unverletzten Fuß herum und rückte ihren Stuhl so zurecht, daß sie ihrer Freundin, die auf einem Hocker saß, ins Gesicht sehen konnte. Obwohl die winterliche Luft eisig war, war es doch für die in dicke Wollmäntel gehüllten Frauen angenehm warm im fahlen Sonnenschein. Das Geschehen im Lager spielte sich um sie herum ab: Gehetze, schreiende Kinder, die einander jagten, brüllende Weibel, die ihre neuen Rekruten ausbildeten, der Geruch eines brutzelnden Bratens, ein Vater, der seinem auf den Rücken gebundenen Kind etwas vorsang, während er auf einem kleinen Amboß hämmerte. Cherrystone schob sich tiefer unter Greensleeves' Mantel und schlief ein, doch die beiden Frauen waren sichtlich bedrückt. Greensleeves fragte: »V-vielleicht, w-wenn wir u-uns überlegen w-was wir w-wissen...« »Das haben wir doch schon! Tausend Mal!« »Ich w-weiß, ich weiß! A-aber v-vielleicht haben wir e-etwas ü-übersehen.« Lily unterdrückte ein Seufzen, denn die Beharrlichkeit ihrer Freundin ermüdete sie. »Also gut. Laß es uns versuchen. Was wissen wir? Gut, tatsächlich wissen wir nichts außer dem, das wir selbst gesehen und getan haben. Also, was ist sicher, geht man davon aus?« Lily fuhr fort und zählte auf. Es schien, als hätten Zauberer die Fähigkeit (woher, konnte niemand sagen), Dinge von einem Ort an einen anderen zu beschwören. Wenn Zauberer durch das Land reisten, konnten sie Dinge berühren, sie >einfangen< (Tybalts Wort). So konnten sie einen Katalog anlegen, in dem Tiere, Pflanzen, Naturerscheinungen - wie Stalagmiten -, Magiequellen - wie Schwarzer Lotus -, verzauberte Wiesen und alle Arten von Kreaturen aufgeführt 95
waren. Diese Dinge enthielten >Mana<, mystische Energie, die die Zauberer >anzapfen< konnten (niemand wußte wie). Magier, die etwas >eingefangen< hatten, konnten später das Mana nutzen (aus dem Land, in dem sie sich gerade befanden; oder aus dem Land, in dem sie das Objekt berührt hatten; das Mana in sich selbst?), um das Objekt an ihre Seite zu beschwören. Auf irgendeine Weise konnten sie das gerufene Objekt dann dazu zwingen, nach ihrem Willen zu kämpfen - wenn sie in der geheimen Kunst unterrichtet worden waren. Weder Greensleeves noch Lily waren ausgebildet worden, so daß sie nur auf gut Glück zaubern konnten und manchmal nicht einmal das. Sie vermuteten, daß Greensleeves seit frühester Kindheit von der Magie des Flüsterwaldes überschwemmt worden war und nun in Bedrängnis Dinge herbeirufen konnte, die sie früher einmal berührt hatte. Aber sie konnte sich nicht selbst durch die Leere bewegen (>teleportieren< - ein weiteres von Tybalts Worten), so wie es Towser und die anderen Zauberer, die sie gesehen hatten, taten. Warum nicht? Wie vollbrachten sie das? Warum glühten die Dinge, die Lily herbeirief, weiß, während die von Greensleeves sich in Erdfarben kräuselten? Wie konnten andere Zauberinnen Horden von Dämonen beherrschen? Hatten sie sich in dämonische Länder gewagt und jeden einzelnen berührt? Niemand wußte es genau, obwohl alle - Greensleeves, Lily, Tybalt und die Bibliothekare - hundert Ideen und Vermutungen aus aufgeschnappten Geschichten und alten Legenden hatten. Gieensleeves litt sehr unter der ganzen Verwirrung, und Lily ging es nicht besser. Sie wußten, daß auch sie magische Fähigkeiten besaß, denn damals, als Greensleeves geopfert werden sollte, war sie so in Angst aufgelöst gewesen, daß sie sich nach Gull gesehnt und ihn so von einer fernen Insel herbeibeschworen hatte, auf die er verbannt worden war. Dieses eine Mal hatten ihre 96
Hände in einem reinen Weiß geglüht (die ehemalige Prostituierte lachte bitter über die Tatsache, daß irgend etwas an ihr rein sein könnte), doch seit dieser Zeit war ihr nicht ein Spruch gelungen - bis auf eine Ausnahme. Und so waren Lily und Greensleeves Zauberinnen ohne die Möglichkeit, ihre Kraft sinnvoll einzusetzen. Zugegeben, Greensleeves konnte Berglöwen, Waldwölfe und Schwertwälle beschwören, aber weder schnell noch leicht. Und man mußte sich nur die blauen Flecken, die Verwundungen ihrer Gefolgsleute und die Reihe der frischen Gräber am Waldrand ansehen, um zu wissen, wie zufällig ihre Zauberei war. Tatsächlich gäbe es kaum diese Armee, wenn nicht Tybalt und seine Studenten gewesen wären. Sie hatten mit einem korallenbesetzten Silberreif herumgespielt und ein schimmerndes Tor zu der Insel geöffnet, auf die Towser seine Gefangenen verbannt hatte. Als sie durch das Tor auf die Insel gelangt waren, war es ihnen gelungen, Bardo, die roten Soldaten Tomas, Neith und Varrius und eine Handvoll Orks zu retten. Dort hatten sie aber auch einige Seltsamkeiten - beispielsweise eine gewaltige orientalische Lehmstatue - entdeckt. Die geretteten Krieger waren das Herz ihrer Armee geworden, denn Gull wußte nichts über Streitmächte und ihre Organisation. Und doch - wie Gull es gesagt hatte - war Tomas zum Kämpfen gekommen und hatte nur den Tod gefunden. Magie, so hatte er genörgelt, konnte ein Segen oder ein Fluch sein, üblicherweise aber traf letzteres zu. Für Lily hatte sich die Magie als Grund für die Suche nach sich selbst erwiesen. Seit ihrer Kindheit war sie eine Tänzerin und Liebesdienerin gewesen, praktisch denkend und mit einem Herzen aus Stein. Ihr Leben kannte wenig Ehrgeiz und keine Illusionen, doch dann war sie von der Erkenntnis überrascht worden, daß sie eine Zauberin war - wenn sie auch nur einen Spruch beherrschte. Zwar sonnte sie sich im Ruhm ihrer neuentdeckten Fähigkeiten, doch gleichzeitig erschreckte sie die Kraft, 97
und sie weigerte sich bislang, diese auszuprobieren fast so wie ein kleiner Vogel, der das Nest nicht verlassen will. Und so hatte sie an allem zu zweifeln begonnen, was in ihr steckte: Magie, Leben, Liebe, Treue. »Ich war immer so zuversichtlich!« klagte sie. »Ich wußte darüber Bescheid, was ich war, meine Aufgaben waren klar: Ich mußte nur mit Towser herummachen und mein Geld einsammeln. Ich wollte in eine Stadt ziehen und einen Laden aufmachen, verdammt. Aber jetzt... Was nütze ich dieser Armee und diesem Kreuzzug? Du verteidigst uns mit deinen Beschwörungen, Gull organisiert die Schlachten, Amma heilt, die Kartographen zeichnen, die Köchinnen kochen - ich kann nicht einmal das, bei Xiras Schwingen! Ich bin nicht einmal mehr eine Hure! Oder wenigstens die >Geliebte des Generals
tete sie abwechselnd. »Ich weiß nicht, Greenie.« Sie benutzte Gulls Kosename für seine Schwester. »Ich fürchte, die Magie selbst verändert die Leute. Wenn sie erst einmal gelernt haben, sie zu gebrauchen, dann müssen sie das tun, so wie ein Kind unbedingt die Zuckerstange will, die es auf einem Regal gesehen hat. Aber kann jemand Magie lernen, ohne ein Unhold zu werden, ein Vampir, der auf Kosten der einfachen Leuten lebt? Ist es das, was aus uns wird?« »Sie >ein-einfache L-leute< zu n-nennen, ver-verunglimpft sie be-bereits«, seufzte Greensleeves. »Ach... w-wäre es v-vielleicht besser, w-wenn wir n-nie er-erfahren h-hätten, d-daß wir zau-zaubern k-können?« Lily streckte die Hand in der Dunkelheit aus und berührte die magere Schulter des Mädchens, und der Trost, den sie Greensleeves spenden konnte, ermutigte sie. »So oder anders, es ist nun einmal geschehen und kann nicht rückgängig gemacht werden. Wenn es etwas gibt, was ich in diesem Leben mit all seinen Schicksalsschlägen gelernt habe, dann ist es, daß es keinen Sinn macht, über die Vergangenheit zu jammern. Du mußt in die Zukunft sehen und hoffen, daß es besser wird. Wir werden es weiter versuchen, so wie es Gull tut. Ich weiß, daß wir es schaffen werden. Und irgendwie werden wir auch lernen, unsere Magie zu beherrschen, nicht für uns, sondern um anderen zu helfen. Und wir werden auch lernen, uns selbst zu beherrschen.« Greensleeves berührte bestätigend Lilys Hand. »Also g-gut. Z-zusammen. E-etwas G-gutes hat all d-das: I-ich ha-habe eine gu-gute Fr-freundin g-gefunden.« Als sie das hörte, lächelte die ehemalige Tänzerin und drückte die schmale Hand ihrer Freundin. Sie waren ein sehr verschiedenes Paar: Die eine lebte in zwei Welten, die andere in keiner, aber sie hatten auch viel gemeinsam. Sie hatten inzwischen gelernt, daß sie sich aufeinander verlassen konnten, und vertrauten sich gegenseitig ihre Geheimnisse und Zweifel an. 99
Um das Thema zu wechseln, fragte Greensleeves: »Z-zeigst du mir deinen S-spruch? E-es ist et-etwas, was ich n-nicht ka-kann.« Lily lächelte und legte ihre Arbeit erneut beiseite: »Also gut. Ich würde meinen Zauber gerne vorführen. Meinen einzigen Zauber.« Sie ging vom Zelt weg und stellte sich etwa vier Schritt von den Kisten und den Bündeln entfernt auf einen freien Platz. Sie schloß Augen und Ohren, um die äußeren Eindrücke auszuschalten, und suchte nach der Magie für ihren einzigen Spruch. Sie wußte nicht, wie man ihn ausspricht, nur daß sie >in ihrem Kopf herumwühlen< und den Spruch wie eine Wachtel in den Tiefen ihres Geistes jagen mußte. Dann fand sie ihn, doch sie mußte ihn noch >füttern<, und sandte zu diesem Zweck ihre Gedanken aus, nach oben, höher, bis sie nach den Wolken reichte. Langsam fühlte sie, wie ihre Hände und Füße erst prickelten und dann brannten. Das Glühen und sie wußte, daß ihre Hände nun weiß glühten - wanderte die Beine hinunter und die Arme hinauf, von den Handgelenken in die Lenden, den Bauch, die Schultern, den Oberkörper, bis es schließlich ihren Kopf wie ein Irrlicht umflackerte. Dann... »D-du scha-schaffst es, L-lily! D-du f-f-fliegst!« Die ehemalige Tänzerin öffnete die Augen und blickte auf die Wipfel einiger in der Nähe stehenden Zedern hinab. Sie war ein wenig nach vorn gekippt, so daß ihr das dunkle Haar um die Wangen hing und in der dünnen Luft wehte. Das nunmehr kalte Glühen hatte ihren ganzen Körper durchdrungen, und sie fühlte sich so leicht wie eine Feder. Greensleeves befand sich drei oder vier Schritt unter ihr. Lehmklumpen rieselten von den Sohlen ihrer festen Schuhe, als sie versuchsweise - Furcht und Erstaunen schnürten ihr die Eingeweide zusammen - die Arme wie Schwingen ausbreitete und aufstieg... »Wundervoll!« platzte eine Stimme heraus. »Das ist wunder...« 100
Mit einem Ruck verlor Lily die Beherrschung über ihren Spruch und stürzte zu Boden. Unter ihr ertönte ein Schrei, dann quiekte sie, als sie jemand an der Hüfte und an einem Bein auffing. Gull schüttelte den Kopf, als er sie absetzte. »Bist du in Ordnung? Ich konnte dich gerade noch auffangen! War ich es, der deinen Zauber gestört hat? Tut mir leid! Ich...« »Nein, es ist... es ist schon gut.« Sanft schälte Lily sich aus seinen Armen und trat auf den Boden, der sich nach ihrem kurzen Flug hart, kalt und unfreundlich anfühlte. Überraschend stellte sie fest, daß sie sich wünschte, für immer fliegen zu können - wegzufliegen, einfach weg, weg von sich selbst und ihren Sorgen, an einen Ort, an dem sie keine Träume, Liebe oder Hoffnung brauchte - an einen Ort, an dem sie so rein wie die Luft sein konnte. Doch das konnte sie Gull nicht sagen. Sanft löste sie sich von dem Mann, der einmal ihr Geliebter gewesen war. Sie bemerkte den verletzten Blick auf seinem Gesicht, wie ein liebeskranker Welpe, der versuchte, sie zu verstehen, um sie nicht schuldig zu sprechen, dafür, daß sie sich ihm entzog. Sie schliefen nicht mehr miteinander und sprachen nur wenig - diese Tage verbrachte Lily damit, nachzudenken und sich Fragen zu stellen. Doch sie konnte nicht erklären, was sie bewegte, nicht ihm, nicht Greensleeves, nicht einmal sich selbst. Doch wie konnte sie jemanden lieben, ohne sich selbst zu mögen? »Nun, du sahst gut aus, wie du so geflogen bist, Lily«, sagte Gull - nicht unbeholfen, sondern mit einem Mal unfreundlich. »Übe weiter. Fliegen könnte eine wertvolle Fähigkeit sein, die wir nutzen können.« »O Gull...«, seufzte die junge Frau, doch er wand sich ab und ging davon, beschäftigt wie immer. Hinter ihm trottete die Kriegerin her, die erst gestern aus dem Nichts aufgetaucht war. Trotz ihrer Enttäuschung ließ 101
eine plötzliche Aufwallung von Neugier Lily murmeln: »Was treibt sie nur für ein Spiel?« »Was?« fragte Greensleeves, die ihrem Bruder verständnislos nachsah. »Nichts«, sagte Lily. »Komm! Wir besuchen Kwam und die anderen und sehen nach, wie es ihnen geht.« »In O-ordnung.« Greensleeves erhob sich unter Schmerzen, und Lily bot ihr eine Schulter an. Cherrystone protestierte, als er von dem Schal gestoßen wurde, und hüpfte beleidigt umher. Lily ging langsam: Sie wußte, was es hieß, hilflos zu sein, denn sie hatte sich in der letzten Schlacht gegen Towser einen Arm und ein Bein gebrochen. Als sie vorwärtshumpelten, war Lily zwar mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, doch sie hörte Greensleeves fragen: »E-es ist s-sehr selt-seltsam, a-aber immer, w-wenn ich mich um-umdrehe, ist K-kwam d-da.« »Hmmmm...«, brummte Lily, sagte jedoch nichts weiter dazu. Greensleeves würde bald genug herausfinden, warum Kwam immer um sie >herumschlich<, und bis dahin war ihr Leben wirklich kompliziert genug. Das Mädchen seufzte. »D-da sind so v-viele Di-dinge, die ich n-nicht ver-verstehe...« Doch Greensleeves stand kurz davor, alles zu lernen, was sie wollte - und noch mehr. Es begann in dieser Nacht, als sie eine Stimme weckte - eine Stimme in ihrem Kopf... ein Befehl. »Greeeeeensleeeeeves...« Erschreckt sprang das Mädchen auf, so schnell, daß das verletzte Gelenk Schmerzwellen durch ihren Körper sandte. Stöhnend umfaßte sie das pochende Bein und richtete ihre Sinne wieder auf die Stimme. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, denn sie hatte wie beinahe jede Nacht wieder einen Alptraum gehabt. Sie war durch einen Wald gewandert und wußte, daß 102
sie sich verirrt hatte. Sie war sich nicht sicher gewesen, wohin sie hätte gehen müssen - und dies ängstigte sie um so mehr, weil sie sich in einem richtigen Wald noch nie verlaufen hatte -, denn dieser Wald sah in jeder Richtung gleich aus. Die Rinde an den Bäumen erinnerte an Gehirne, die aus Schädeln gerissen und um die Baumstämme gewickelt worden waren. Diese Gehirne sprachen zu ihr, sie flüsterten, doch sie konnte nicht verstehen, was sie sagten, und nur ihre Drohungen drangen zu ihr durch - Warnungen, daß sie niemals verstehen würde und alles, was sie wisse, falsch sei. Dann wurde das Flüstern lauter und hämmerte in ihrem Kopf, bis dieser pochte und schmerzte - bevor er schließlich zerbarst... Am schrecklichsten war, daß sie genau wußte, was als nächstes geschah. Ihr Hirn wurde aus dem Schädel gerissen und ließ diesen leer zurück. Sie war in einem vollkommenen Wahn gefangen, verrückter als damals, als sie noch eine Närrin gewesen war, hirnlos wie ein frischgeschlüpftes Küken und nie mehr in der Lage, klar zu denken... ... An dieser Stelle erwachte sie immer zitternd und schweißgebadet, doch diese Stimme, die ihren Namen rief, war neu. Sie konnte sie zwar nicht hören aber fühlen, und obwohl ihr furchtbar heiß war, wehte sie durch ihren Geist wie ein kühler Frühlingswind. Sie erinnerte an Quellwasser, frische Fluten, die über Steine schäumten, moosige Lichtungen und an den Geruch von Tannin und Eichenblättern. »Greensleeves. Komm!« Das Mädchen preßte die Hände auf die Ohren, doch die Stimme verstummte nicht. Sanft schüttelte sie Lily, um sie zu fragen, ob sie es auch hörte, doch sie konnte ihre Freundin nicht aufwecken. War sie verzaubert? Oder nur erschöpft? »Komm jetzt!« Greensleeves hatte keine Wahl. Sie mußte gehen. Auf 103
ihren dünnen Beinen kroch sie zum Zelteingang scheuchte dabei den Dachs und die Kohlmeise auf, die dicht bei ihr geschlafen hatten -, schob die Plane mit ihrem gesunden Fuß zur Seite und rutschte nach draußen. Als sie dort vor Schmerz keuchend dalag, sah sie einen Wächter, der den Rand des Lagers abschritt. Obwohl sie nicht wußte, wie er ihr überhaupt helfen sollte, stöhnte sie: »H-hilf mir, b-bitte!« Doch der Mann hörte sie nicht. »H-hallo! B-bitte? Oh... G-gull! W-wo bist d-du?« Aber es war sinnlos. Drei Krieger würfelten kaum zehn Schritt entfernt am Lagerfeuer, doch sie drehten sich nicht zu ihr um. Sie war ein Geist geworden, doch der Boden unter ihr war kalt und der Tau naß. Sie zitterte und zog sich den Umhang fester um die Schultern. »Komm jetzt!« Sie mußte gehen. Die Lockung, eine sanfte, aber beharrliche Forderung, verzauberte sie. Sie taumelte auf ihrem unverletzten Fuß vorwärts, hüpfte von Zelt zu Zelt und dann zu den angepflockten Pferden. Sie suchte sich ein geflecktes stämmiges Tier aus, warf sich bäuchlings über das Pferd und schwang ihr schmerzendes Bein über seinen Rücken. Der Dachs, der unbedingt in ihrer Nahe bleiben wollte, war ihr gefolgt, doch Greensleeves konnte ihn aus der Höhe nicht erreichen. Der an nächtliche Ausflüge nicht gewöhnte Cherrystone hüpfte aufgeregt hin und her. Das Pferd stampfte und schnaubte aufgrund der späten Störung, doch noch immer war kein Wächter auf sie aufmerksam geworden. Eine Kriegerin mit einer Armbrust lief direkt hinter dem Pferd vorbei und setzte ihren Weg ungerührt fort. Vor Schmerzen und Verzweiflung über den ihr aufgezwungenen Ausflug wimmernd, zog das Mädchen an den Zügeln des Pferdes. Es waren eher ihr natürlicher Instinkt und ihre Tierliebe als ihr reiterisches Können, die das Pferd dazu brachten, vom Gatter zurückzutreten 104
und aus dem Lager in den immergrünen Wald zu trotten. Sie wollte nach Norden, an den Rand der Taiga und darüber hinaus, einen grasbewachsenen Abhang hinauf, den sie im Geist deutlich vor sich sah, und dann auf eine eichenbestandene Hochebene... direkt zu der Stimme und ihrer Quelle.
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»Ihr habt geschlafen, ihr Bastarde! Oder wart betrunken! Oder blind! Oder dumm!« »Nein! Das stimmt nicht!« widersprach eine wütende Wachsoldatin. »Keiner von uns war es, obwohl ich jetzt wünschte, ich wäre eingenickt. Ich könnte etwas Schlaf...« »Halt den Mund!« brüllte Gull der Frau ins Gesicht. »Meine Schwester ist mitten in der Nacht wie ein Geist aus ihrem Zelt verschwunden, und ihr fünf Narren habt es noch nicht einmal bemerkt. Ich weiß, was euer Wort wert ist!« Das ganze Lager hörte Gulls Tiraden zu. Es war das erste Mal, daß er überhaupt zornig geworden war, doch alle wußten, wie sehr er es ihn aufrieb, auf seine Schwester aufzupassen - um so mehr, als sie wußten, daß Magie im Spiel gewesen war. Lily sprach den Gedanken aus: »Es muß irgendein Spruch gewesen sein, Gull. Ich bin nicht einmal aufgewacht, und du weißt, was für einen leichten Schlaf ich habe.« Unerwarteterweise errötete sie vor dem ganzen Lager. »Ich meine... sie hatte ein gebrochenes Gelenk. Sie mußte über mich klettern, um hinauszukommen. Es muß ein Zauber gewesen sein...« »Spar dir das!« schnappte er. »Du bist genauso schuld! Wenn du mehr achtgegeben hättest...« Aber er hielt inne, als er sie unter heißen Tränen blinzeln sah. »Ach, mach dir nichts draus. Bardo! Sattle die besten Pferde! Hol drei deiner Späher! Und etwas zum Essen! Ich werde hinter ihr herreiten und nicht eher zurückkommen, bis ich sie gefunden habe. Varrius, du 106
übernimmst das Kommando. Sobald du kannst, brich das Lager ab und folge uns. Wir werden jeden Tag morgens, mittags und abends - ein Feuer entfachen, so daß du uns folgen kannst Laß du mich nicht hängen, wie dieser Haufen von wandelnden Sauerbroten!« Die Wachen rissen die Köpfe hoch, funkelten ihn jedoch nur böse an anstatt zu antworten. Gull beachtete sie nicht weiter, sondern griff sich rasch einige Vorräte von den Köchinnen - einen Weinschlauch, eine Feldflasche mit Wasser, einen Schinken und ein paar Kartoffeln - und rannte dann zu seinem Zelt, wo er sich den Köcher und den Langbogen auf den Rücken warf und die Axt und die Maultierpeitsche aufhob. Stiggur - der Junge war im Wachstum, doch immer noch klein - kam angerannt. Zur Zeit trug er sein Haar wie sein Held zu einem Zopf zusammengebunden im Nacken. »Ich kann dich begleiten, Gull! Ich reite auf Knothead...« - dem mechanischen Holzpferd, das nach einem von Gulls toten Maultieren benannt war - »...so daß ich über die Baumwipfel sehen kann...« »Nein! Das Holzpferd wird gebraucht, um die schweren Sachen zu tragen. Bleib hier und bewache das Lager!« Er konnte zu dem Jungen, der so gutmütig und immer darauf bedacht war zu gefallen, nicht grob sein. Doch sobald sich Gull zu seinem Pferd umdrehte, erblickte er aus den Augenwinkeln eine Gestalt: einen jungen Mann seiner Größe und seines Alters, doch schlank und in Schwarz gekleidet. Gull wußte, daß er ein MagieStudent war, doch er kannte seinen Namen nicht. Was wollte er bloß? »Darf ich dich begleiten? Du könntest etwas Magie benötigen...« »Nein!« lehnte der General mit Nachdruck ab. Bei Aduns Schild, dachte denn jeder, daß dies ein Picknick in der Stadt werden würde, mit Kuchen und Bier? Und warum sollte ein unfähiger Magie-Student seiner Schwester folgen wollen? 107
Rakel schlenderte heran. Sie hatte sich den Waffengurt umgeschnallt, einen abgenutzten Lederhelm aufgesetzt und einen geliehenen Umhang um die Schultern gezogen. »Ich werde mitkommen. Ich bin als Späherin ausgebildet worden.« Gull runzelte die Stirn, als er sein Pferd sattelte, einen breitbrüstigen Apfelschimmel. »Zum letzten Mal: Nein! Ich brauche keine...« »Ich komme mit.« Zum ersten Mal nahm Gull sie genauer in Augenschein. Warum wollte sie wohl mitkommen? Hatte hier nicht jeder eine ganz bestimmte Aufgabe zu erledigen? Doch ihr militärisches Auftreten und der auffallende siebenzackige Stern auf ihrem Unterarm kennzeichneten sie als geübte Soldatin. »Kannst du mit einem Bogen umgehen?« »Besser als du.« Der Holzfäller runzelte die Stirn, doch etwas in ihrem Verhalten ließ es ihn glauben. »Dann leih dir einen. Schnell!« Sie sattelte ein Pferd und war noch vor Gull zum Aufbruch bereit, denn es gab noch tausend Dinge, die er im Lager regeln mußte. Zum Schluß ermahnte er noch einmal die Wachen: »Und ihr Schlafmützen könnt doppelte Schichten schieben, bis Greensleeves heil und gesund wieder zurück ist.« Die Wachen machten flink kehrt und zeigten ihm die Rücken. Bardo, die drei Späher und Rakel waren zum Aufbruch bereit, und Gull grollte ihnen zu: »Los geht's! Findet ihre Spur und folgt ihr!« Die Frau war alt, uralt - schon seit langer Zeit. Sie saß auf einem flachen Stein, von dem das Moos abgerieben worden war. Er lag vor einer Höhle, die in einen von leuchtendgelbem Wintergras bewachsenen Bergabhang führte. Über ihrem Kopf raschelten die toten Blätter von Stieleichen. Das Tal lag inmitten eines Eichenwalds, und 108
der Wald bedeckte die Spitze eines weiten Hochlandtafelbergs. Greensleeves fühlte sich nicht sehr müde. Als sie durch die Taiga geritten war, hatte sie innerhalb - so schien es - einer Stunde die Sonne durch den Himmel wandern, untergehen und wieder aufgehen sehen, doch nicht ein einziges Mal hatte sie Hunger oder Durst verspürt. Ein weiterer verkürzter Tag folgte, bis sie die Taiga durchquert hatte, dann drei weitere Tage, an denen sie den Abhang zum Plateau hinaufgeklettert war - manchmal mußte sie an Stellen absteigen, die zu steil zum Reiten waren, und hinaufkriechen -, und schließlich noch einmal drei Tage, in denen sie durch einen Eichenwald geritten war. Und alles schien nicht länger als einen Tagesritt gedauert zu haben... Während sie auf ihrem niemals ermüdenden Pferd vorwärtsgeritten war, der Dachs leichtfüßig neben ihr hergehuscht war und die Kohlmeise niemals ihre Schulter verlassen hatte, hatte sie darüber nachgedacht, daß ihr Bruder begeistert gewesen wäre, diesen Wald zu sehen. Es wimmelte nur so von Wildschweinen, Hirschen und Elchen, von Waschbären, Opossums und Bibern in den Bächen. Selbst in diesem frühen Winter gab es mengenweise Pilze und Teebeeren. Die Sonne schien hell hier oben, und Greensleeves wußte, daß dies nicht nur an der Höhe lag - es war diese Frau... Sie trug eine wie durch ein Wunder saubere weiße Robe aus reiner Wolle, nichts an den Füßen und keinerlei Schmuck. Ihr langes weißes Haar fiel ihr in den wirren Locken einer alten Frau auf den Rücken. Ihre Augen waren geschlossen, aber als das Mädchen näher kam, sagte sie: »Sei gegrüßt, Greensleeves. Ich freue mich, daß du gekommen bist.« Mit der zerfurchten, blaugeäderten linken Hand wischte sie sich einen Speichelfaden vom Kinn. Das Mädchen hatte keine Wahl gehabt, doch sie sprach es nicht aus, sondern musterte neugierig diese 109
Zauberin, die offensichtlich sehr mächtig war - mächtig genug, um immer noch am Leben zu sein. Ihre gesamte rechte Seite war gelähmt: Das Gesicht war halb eingefroren, und die Lippe hing zu einer Grimasse verzogen schlaff herunter. Der rechte Arm baumelte kraftlos und verdorrt am Körper, das Bein war verdreht, der Fuß verkrüppelt und die Schulter nach oben verwachsen. Doch auch die linke Körperhälfte hatte nicht viel Kraft, und so konnte die alte Frau nichts tun, als sich auf den Stein zu quälen und wie ein alter Hund das Sonnenlicht zu genießen. Als hätte sie Greensleeves' Gedanken gelesen, wisperte die Alte mit einer Stimme, die an das Raspeln von Kornhülsen erinnerte: »Ich entschuldige mich für mein Aussehen. Schau, ich kämpfe gegen den Tod, und das schon seit langem. Er besucht mich regelmäßig, wie ein unerwünschter Werber, doch jedesmal verjage ich ihn von meiner Tür. Wie so viele Werber vor ihm...«, fügte sie mit einem Kichern hinzu. »Aber jedes Mal sterbe ich ein bißchen, wie ein Baum, der von Zeit zu Zeit einen Ast verliert. Der Verfall hat mein Herz noch nicht zum Stillstand gebracht, doch es braucht viel Magie, um es in Betrieb zu halten.« Erneut kicherte sie trocken. Greensleeves glitt aus dem Sattel und achtete sehr darauf, auf dem gesunden Fuß aufzukommen und den verletzten zu schonen. Sie ließ das Pferd los, so daß es zwischen dem Liebstöckel am Rand der Lichtung grasen konnte. Auch der Dachs und ihr Vogel machten sich auf Nahrungssuche davon. Furchtlos zwängte sich das Mädchen auf den Felsen neben die alte Frau. »D-du bist ei-eine Dr-dr-...« Sie holte Luft. »Druidin!« »So ist es. Und du bist eine Zauberin. Aber unausgebildet. Willst du lernen?« Greensleeves riß die Augen auf. »J-ja! J-j-ja...« Einen Moment lang konnte sie nur stammeln. Erneut holte sie tief Luft. »Ja! Ich w-würde g-gerne! K-kannst d-du mimich 1-lehren?« 110
»Ja, ich kann. Wenn du dich richtig bemühst. Wenn du das Opfer bringen willst.« »Be-bemühen? Ich w-will mi-mich be-bemühen! Aber w-was für ein O-opfer?« »Jedes. Alles. Das letzte Opfer.« »M-mein Le-leben?« »Das und mehr.« Greensleeves war verwirrt. Welches Opfer war größer als das eigene Leben? »A-alles. Ich h-hasse es, eine hahalbe Ma-gierin zu sein, d-die wei-weiß, daß sie d-die Kr-kraft hat, sie a-aber n-nicht nu-nutzen k-kann.« Die Hände der Druidin flatterten vom Felsen auf und kamen auf Greensleeves' Hand zu ruhen. Sie waren leicht wie eine verlorene Feder, doch kalt wie ein Eiszapfen. »Ich bin Chani« ertönte ein Wispern. »Mein Name bedeutet >Eichenwald<. Du siehst, daß meine Familie schon bei meiner Geburt wußte, was aus mir werden würde. Und so war es auch bei dir, denn du erhieltest deinen Namen, weil deine Hände vom Ausrupfen der Blumen und Pflanzen immer grüngefleckt waren. Also sind wir uns einig? Ich bin die Lehrerin und du die Studentin?« »A-alles, Mei-Meisterin.« »Nenn mich Chani. Du bist jung und nimmst einen Eid noch leicht. Du wirst es noch lernen. Doch laß uns beginnen. Leg deinen Fuß hier hinauf, Kind, und entferne die Schiene.« Die Druidin arbeitete still und leicht, während Greensleeves sie beobachtete und abwartete. Endlich würde sie lernen, wie man mit Magie umging. Wenn sie nur nicht den Verstand dabei verlor… »Äs ist ein Zaubär und kein Zweifäl!« stellte Bardo fest. Die vier Männer starrten auf winzige Lücken in der Taiga, während sie sich in kleine Vertiefungen erleichterten, die sie mit den Absätzen gescharrt hatten. Rakel und die Späherin, eine Frau namens Channa, hockten sich auf 111
der entgegengesetzten Seite des Weges hin. >Weg< war eigentlich zuviel gesagt, denn um Greensleeves' Spur zu folgen, mußten sie sich zwischen den verhakten Ästen des endlosen Nadelwalds durchkämpfen. Die Späherinnen und Späher waren alle gleich gekleidet: grüne oder braune Tuniken und Hosen, stumpfgraue Wollmäntel und Hüte mit tiefen Krempen, die ihre Gesichter beschatteten. Aus ihren Satteltaschen ragten Langbögen hervor, und tief an ihren Hüften hingen Kurzschwerter mit breiten Klingen - sogenannte Pallasche -, die Wild, Zweige oder Feinde zerteilen konnten, »Wie kann sie verzaubert worden sein«, fragte Gull, »wenn niemand irgendwelche Fremde ins Lager kommen sah und Lily direkt an ihrer Seite schlief?« Bardo zuckte mit den Schultern und schloß seinen Gürtel. »Isch weiß nischt. Abär, wir 'aben ein lahmäs Mädschan auf einäm Ffärd, das gut für 'ündefüttär ist, keine Feldflaschän, kein Essän, keine Deckän, auf einäm Spazierritt, während wir so 'art gerittän sind, daß unsäre Blasän bald platzän, abär wir 'aben kein Zeischän gese'än, daß sie abgestiegän ist.« Der Paladin, ein großer Mann mit bedächtigem Gang, ging in die Knie und schob einige Zweige zur Seite. Die trockenen Nadeln darunter zeigten Hufabdrücke. »Deine Schwestär ist entwedär ein meschanischäs Tier wie Stiggörs 'ütablagä odär sie ist unter einäm Bann. Selbst Rittär in einem Kreuzzüg reitän nischt mähr als sechs Stündän am Stück.« Gull wollte vor Enttäuschung schreien. »Aber sie reitet nur Schritt, und wir reiten wie die Teufel! Wann werden wir sie einholen?« Bardo zuckte erneut mit den Schultern. »Vielleischt gar nischt. Isch würde sagän, daß sie üntär einäm Bann steht und nischt an'altän wird, bis sie ihr Ziel erreischt 'at. Isch 'abe ge'ört von solschen Sprüchen, ein Bann auf Pfärd und Reitär. Die Zeit wird verkürzt, so daß Tagä in 112
Stündän verge'än. Was das Ein'olän angeht... wir sind keine 'exän, und unsere Tiere müssen rü'en.« »Aber...« Bardo verschwendete keine Zeit mit Diskussionen und wandte sich an seine Späher: »Eine Stündä! Dinos, das Lagär da vorne, Channa, be'alte unseren Rückwäg im Augä. Gebt ärst eurän Pferdän zu trinkän.« Um ein Beispiel zu geben, goß er Wasser für sein weißes Schlachtroß in seinen Helm. Der Atem des Pferdes dampfte, als es gierig trank. »Rakäl ist dein Namä? Du kennst disch aus mit Kündschaftän? Wir werden se'än. Isch wärde dir eine Aufgabä zuteilän, wie dem Rest. Schür das Signalfeuär an.« Nur Gull als General erhielt keine Aufgabe, was bedeutete, daß er um so mehr Zeit hatte, sich Sorgen zu machen. Um sich irgendwie abzulenken, fällte er eine Zeder und hackte deren Äste ab, während Rakel Feuerstein und Stahl schlug. Die Kriegerin war von der Arbeitsweise des Holzfällers beeindruckt: Er setzte seine große Kraft ein, ohne sie zu verschwenden. Sie fragte: »Du machst dir ziemlich viel Sorgen um deine Schwester, nicht?« »Was? Oh. Ja, klar.« Er stapelte die trockensten Zweige auf das Feuer, um es anzufachen, dann legte er die grüne Baumkrone darauf, um grauen Rauch zu erzeugen. »Ja. Obwohl sie kein Einfaltspinsel mehr ist, ist sie immer noch so unwissend.« Rakel verkniff sich ein Lächeln. Seine Schwester war nicht die einzig Unwissende in diesem Wald. Sie konnte die Naivität dieses Mannes kaum fassen, der alle Fragen beantwortete - anders als die Männer aus Benalia, die jeden Gedanken hüteten und sich jede Tat zweimal überlegten, damit niemand ihre Stärken oder Schwächen gegen sie einsetzen konnte. So wie es Garth in letzter Zeit auch getan hatte. Sie bedrängte Gull mit weiteren Fragen und redete sich ein, daß es darum ging, mehr über den Feind zu erfahren - das Ziel des Mordanschlags. 113
»Ist Greensleeves deine einzige Verwandte?« »Ja.« Gull stützte sich auf den Axtgriff und starrte in die Flammen, als lägen dort die Antworten. Als Rakel eine ihrer eisernen Rationen anbrach, wurde Gull ebenfalls ans Essen erinnert. »Unsere ganze Familie wurde getötet, als zwei Zauberer Weißfels zerstörten. Das Herz meiner Mutter war einem lebenentziehenden Spruch nicht gewachsen. Mein Vater wurde getötet, als Steine vom Himmel regneten. Der Steinhagel oder vielleicht die Pest haben mir auch meine Brüder und Schwestern genommen. Mein kleiner Bruder, Sparrow Hawk, verschwand spurlos. Ich denke, er wurde von Soldaten gefangengenommen und versklavt, oder er ist gestorben, und ich konnte seine Leiche nicht finden. Wir werden es niemals erfahren. Greensleeves ist alles, was ich noch habe, und es ist meine Aufgabe, auf sie aufzupassen. Ich nehme meine Verpflichtungen ernst.« Rakel nahm einen Schluck Wein aus einem Schlauch und betrachtete ihn verstohlen. »Sie ist sicher nicht alles, was du hast. Was ist mit Lily? Ist sie nicht deine... Geliebte?« Ein Achselzucken antwortete ihr. »Ich weiß nicht. Sie war es für eine Weile, aber sie ist nun besessen von der Zauberei. Wie es meiner Schwester auch langsam ergeht. Da ist etwas an der Magie, das süchtig macht, und Zauberer brauchen es mehr als Nahrung, Liebe, Freundschaft und alles andere. Ich hoffe, ich werde nie erkennen, was sie so anzieht. Es raubt ihnen die Menschlichkeit. Und es hat meine Schwester in seiner Gewalt, schon wieder, verdammt!« »Aber was ist mit der Armee? Deine Leute sind dir treu ergeben. Sie sehen zu dir auf.« »Eine Versammlung von Ausgestoßenen. Die eine Hälfte sucht ihre Heimat, die anderen haben sich eingeschrieben, weil wir ein bißchen was bezahlen und sie sich nach Abenteuern sehnen, oder weil sie gar keine Heimat haben. Es wäre mir lieber, es gäbe keine Armee 114
und Greenie, ich und meine Familie würden noch immer glücklich in Weißfels leben und hätten nie etwas von Magie gehört. Aber das ist alles vorbei. Und sich Zauberer wegzuwünschen ist wie im Herbst nach Pferdefliegen zu schlagen. Man muß mit ihnen leben.« Er schürte das Feuer mit dem Axtkopf und achtete sehr darauf, daß sich die Klinge nicht zu sehr aufheizte und dadurch zerstört würde. Rakel aß schweigend. Sie stellte keine weiteren Fragen mehr, denn seine Antworten trafen sie fast ins Herz. Er wollte keinen Ruhm, keine Ehre, keine Schmeicheleien oder Reichtümer. Er wollte nur ein Zuhause, eine Familie und ein friedliches Leben, um einen Hof zu bestellen oder seinen täglichen Arbeiten nachzugehen. Das war auch Garths Traum gewesen, so hatte er es jedenfalls gesagt. Aber die Magie hatte ihn verführt, und sie war von ihrem Herd gezerrt worden, um alte Schulden zu begleichen. Warum verweigerten einem die Götter die Dinge, die man sich wünschte - selbst die einfachsten? Gull, dachte sie, würde seine Familie nie verlassen, um der Magie und dem Ruhm hinterherzurennen. Er war ein Mann ganz nach ihrem Herzen... »...es ist alles wie ein Spinnennetz, siehst du? Wir sind ein Teil davon. Einige Zauberer glauben, daß wir das Zentrum sind, aber jeder mit Verstand kann sehen, daß es keine Zentren gibt, nur sich überlappende Zonen wie bei Schneeflocken, die mit ihren sechs Spitzen in einer Schneewehe aufeinanderliegen, sich berührend, doch voneinander entfernt, vereint, doch gleichzeitig getrennt...« Die Tage vergingen schnell für Greensleeves, die von der Morgen- bis zur Abenddämmerung eifrig lernte und nie müßig war Chani gönnte ihr keine Ruhe. Die alte Druidin redete unaufhörlich, denn sie hatte eine Welt von Wissen zu verschenken, und es blieb ihr nicht mehr viel Zeit. Die Frau wurde wie Greensleeves niemals 115
müde, obwohl sie nur Pilze, Eichelbrot, Weidenrindenstreifen, Geigenköpfchen oder Teebeeren aßen. Die Nächte vergingen in einem Augenblick, und Chani redete bereits wieder, wenn Greensleeves aufwachte. Aber vielleicht vergingen die Nächte ja auch, ohne daß sie es bemerkte, und die Dunkelheit kam und ging wie eine Wolke, die vor der Sonne vorüberzog. Aber sie hatte keinen Grund zur Klage, denn jede Minute lernte sie mehr, tauchte tiefer und tiefer in die Zauberwelt längst vergessener Weisheiten und Erkenntnisse ein, bis sie fürchtete, nie wieder in die wirkliche Welt zurückfinden zu können. Doch sie hörte zu und übte sich in ihren neuen Fertigkeiten und wurde mit jedem Tag selbstsicherer. »... ein Ding von einem Ort zu einem anderen zu beschwören, ist sonderbarerweise die leichteste Aufgabe, die man ausführen kann«, erklärte Chani eines Tages. Die alte Frau sah so verfallen aus wie immer, nur ihre heisere wispernde Stimme war lebhaft, und nur selten verließ sie ihren warmen Felsen. Doch Greensleeves fühlte, daß sie das Universum und all seine Dimensionen erforscht und selbst die Sterne berührt hatten, während sie auf dieser einen Lichtung saßen. »Es ist keine Kunst, ein Objekt von einem Platz zu einem anderen zu bringen. Es ist schwieriger, von einem Stuhl aufzustehen, durch eine Tür zu gehen und eine Kerze aus einem anderen Raum zu holen. Beschwörungen bewegen Dinge durch den Raum. Du wählst ein Objekt aus und machst den Raum, der es umgibt, zu deinem Raum...« Eigentlich erwartete Greensleeves jeden Tag den Schnee, denn es war früher Winter gewesen, als sie das Lager verlassen hatte, und nun mußten sie dem Jahreswechsel recht nahe sein. Doch jeder Tag blieb so mild, wie der Winter nur sein konnte, und jeden Tag lernte sie mehr. Gelegentlich fragte sie sich, wann Gull ankommen würde, doch dann schob sie diesen Gedanken beiseite. 116
Sie hatte sich um Wichtigeres zu kümmern als um Nahrung, Gesellschaft oder Schlaf. Sie lernte, wie sie das Universum selbst ändern konnte. Doch in manchen Nächten kehrten die Träume zurück - die Träume vom Wahnsinn, und je mehr sie über die Magie lernte, um so näher fühlte sie sich an den Abgrund gezogen... Doch immer war Chanis raspelnde sanfte Stimme da, die sie ermutigte, anspornte und ihr Lob und Sicherheit schenkte wie einst Greensleeves' Mutter Bittersweet, an die sich das Mädchen - damals noch ein Einfaltspinsel nur undeutlich erinnern konnte. Vielleicht konnte Greensleeves ihrer toten Mutter all die liebende Pflege vergelten, wenn sie sich um Chani kümmerte. Und gewiß fühlte sie sich am behaglichsten, wenn Chani sie >Kind< nannte. »Du nennst mich eine Druidin oder, noch mehr, eine Erzdruidin«, sagte Chani, »doch >Druidin< ist nur ein Name für eine Zauberin, die von Naturmagie durchdrungen ist. Magierin, Spruchwirker, Hexe, Thaumaturg, Zauberin, Dimensionsreisender, Magie-Macherin, Schamane, Priesterin - alles nur Namen. Die Leute benennen einen Eichelhäher, doch sie tun es nur für sich selbst: Es ändert nicht das Leben des Eichelhähers oder das, was er über sich selbst denkt...« So nahmen die Lektionen ihren Fortgang, und Greensleeves fühlte, daß sie das Wissen eines Lebens innerhalb kurzer Zeit lernte. Eines Morgens fand sie Cherrystone steif und kalt in ihrem Umhang. Als sie den Tod des Vogels ansprach, antwortete Chani: »Kohlmeisen leben nur zwei oder höchstens drei Jahre, Schatz...« Gulls Suchtrupp verließ die Taiga am zweiten Tag und erklomm einen mit gelbem Gras bewachsenen Abhang, um auf ein weiteres Plateau zu gelangen. Oft mußten sie absteigen und die Pferde halb hinter sich herzerrend auf Händen und Füßen weiterklettern. Nachts pflockten sie 117
die Tiere sorgfältig an und stellten Wachen auf, und Gull bestand darauf, ebenfalls eine Schicht zu übernehmen. Die Späherinnen und Späher lebten in ihrer eigenen Welt. Sie lasen die Zeichen und Geräusche des Waldes, wachten in der Nacht und sprachen nur wenig. Dinos und Channa waren ein Liebespaar, das sich des Nachts die Decken teilte. Bardo ritt voraus oder entfernt auf einer Seite und verlor sich in seinen eigenen Gedanken, wenn er mit seinem Gott Zwiesprache hielt. So ritt nur Rakel neben Gull, und sie unterhielten sich. Sie sprachen über viele Dinge, obwohl sie sehr darauf bedacht war, ihre Worte zu hüten. Sie ließ ihn in dem Glauben, daß sie eine einfache umherstreifende Söldnerin und von Karli in den Dienst gezwungen worden war. Aber sie sprach über ihre Familie, die sie in Benalia zurückgelassen hatte, und Gulls gelegentliche Fragen erinnerten sie an Dinge, die sie schon vor langer Zeit vergessen hatte: Geschichten, Erinnerungen und Ereignisse aus ihrer Kindheit und Jugend, Dinge, die vor kurzem an die Oberfläche ihres Bewußtseins gedrungen waren, denn jetzt hatte sie ihr eigenes Kind, Hammen. Die Gedanken an ihren Sohn drohten ihr das Herz zu zerreißen, doch es war ein süßer Schmerz, und sie fühlte sich ihrer Familie trotz der großen Entfernung näher als je zuvor. Dennoch schwor sie sich, daß sie ihr Kind zurückbekommen und ihre verlorene Familie wiedersehen würde. Und wenn Garth zurückkehrte, dann würde sie fordern, daß er seine Magie einsetzte, um den Menschen zu helfen, und nicht Monster und Mörder beschwor, um gegen Mörder und Monster zu kämpfen. Aber um ihren Sohn zu befreien, mußte sie dem Rat die Köpfe von Gull und Greensleeves bringen und sie dem abscheulichen Sabriam darbieten... Konnte sie das nun tun? Wäre es besser, niemals wieder zurückzukehren? Konnte sie sich vor dem Beschwörungsmagier Guyapi verstecken? Konnte sie in den unendlichen Weiten der Domänen untertauchen 118
und hierbleiben? Aber, ach, ihr Sohn würde niemals seine Mutter kennenlernen... Abend für Abend lag Rakel in ihre Decken gehüllt unter den frostigen Sternen und hörte Gull, wie er keine zwei Schritt entfernt atmete und das Lager abschritt. Nach Tagen voller Schmerz war die Milch in ihren Brüsten schließlich getrocknet und ihr weicher Körper von der Reise gestählt worden. Als sie nun allein dalag und ihren Sohn und Garth neben sich vermißte, ertappte sie sich dabei, wie sie sich danach sehnte, umarmt zu werden. Und eines Nachts war es nicht mehr Garth, dessen Bild in ihrer Vorstellung mehr und mehr verblaßte, sondern Gull, den sie ganz fest an sich drücken wollte. Weitere Lektionen... »Die astrale Kraft ist in allen Dingen enthalten, in manchen mehr als in anderen. Menschen bergen etwas, Elfen sind so damit durchdrungen - wie ein Tautropfen vom Sonnenlicht - daß sie sie nicht von ihrem täglichen Leben trennen können. Manche Menschen bezeichnen sich selbst als Glückspilze, doch Glück ist nichts anderes als die Anwendung von Magie, ohne es zu bemerken. Es gibt also Magieanwender und Menschen, die ihre Magie nicht benutzen. Astral begabt sind alle, doch nur einige wenige haben gelernt, die Kraft in sich anzuzapfen...« Eines Morgens streckte Greensleeves die Hand aus, um ihren Dachs zu tätscheln, doch er biß sie. Überrascht untersuchte sie das Tier und stellte fest, daß seine Augen durch grauen Star erblindet waren, so daß es nach allem schnappte, um sich zu verteidigen. Sein Fell war nun überwiegend weiß, nicht grau, und seine Bewegungen steif, als habe er Gliederreißen. Dachse lebten sechs oder sieben Jahre lang, wie sie wußte, und ihr Dachs war ein Jahr alt gewesen, als er sich ihr angeschlossen hatte. Wie...? 119
»Magie ist ein einziges Durcheinander, wie ein riesiger Mischmasch oder ein Eintopf. Sie erscheint in allen Farben, allen Geschmacksrichtungen und allen Arten. Druidinnen beschäftigen sich mit Naturmagie, die wiederum zusammengesetzt ist aus Erdmagie, Wassermagie, Tiermagie und Windmagie. Manche Zauberer schätzen nur Magie-Magie, die sich mit der Verformung der Zauberkraft beschäftigt: Sprüche, die Aufschluß darüber geben, wieviel Astralkraft in einem Artefakt steckt, oder die ein Artefakt unsichtbar machen. Da sie nur ein wenig beschwören und ein bißchen fliegen kann, vermute ich, daß deine Freundin Lily die Wolkenmagie, Himmelsmagie oder die Kraft, die in dem liegt, was am Himmel ist, anzapfen kann - falls dort überhaupt irgend etwas ist. Ich war auf Berggipfeln und habe festgestellt, daß die Luft dort dünn und kalt ist, und ich nehme an, daß wenn du noch höher hinaufsteigst, du dort überhaupt nichts finden wirst - außer einer Art ungenutzter Energie vielleicht... Der Trick dabei ist zu wissen, welche Art von Magie du anzapfst und diese dann zu reinigen. Wenn du fliegen willst, dann willst du nur Wolken-, Himmels- und Sonnenmagie. Wenn du eisenrote Erdmagie aufsaugst, dann wirst du einen Anker an deinen Füßen herumschleppen. Aber du mußt lernen, deine Magie zu erkennen und das eine Blatt von dem einen Baum in einem unendlichen riesigen Wald auszuwählen...« Langsam lernte das Mädchen, nahm das Wissen auf und stellte Fragen, Hunderte von Fragen. »Dimensionsreisen? Ich habe es eine Zeitlang gemacht, als ich jung war. Aber jetzt nicht mehr, darüber bin ich hinaus. Ich habe rechtzeitig gelernt, daß es das beste ist, wenn man der Natur ihren Lauf läßt. Ich nehme an, daß du das eines Tages einsehen wirst. Es ist das Ergebnis von andauerndem Lernen und der Vertiefung deines Wissens. Aus diesem Grund trage ich auch kein Zauberbuch mehr mit mir herum, denn ich habe 120
alles auf ein Lied reduziert, weißt du, und so ist es leichter, sich daran zu erinnern... Bannspruch? Ach ja, das Weben eines Banns, um das, was auch immer du beschwörst, zu zwingen, für dich zu kämpfen. Ja, viele Zauberer nutzen diesen Spruch bei ihrer Suche nach Macht. Üblicherweise ist es der zweite Spruch, den sie lernen, denn sie behaupten, daß es keinen Sinn hat, etwas zu beschwören, wenn man es nicht beherrschen und lenken kann. Doch ein Schwert hat immer zwei Schneiden, und wenn du mit dem Bannspruch lebst, dann rechne damit, daß du gebannt wirst. Aber du willst anderen deinen Willen nicht aufzwingen, oder, Kind? Nein, ich glaube nicht. Nur Freiwillige, wie deine Soldaten. Gut, denn das ist auch am besten so, weil ich dich den Spruch nicht lehren würde, selbst wenn ich ihn könnte... Du bist nicht zusammengebrochen, als diese Wüstenzauberin auf dich gedeutet hat, obwohl Lily es tat? Vielleicht bist du von Magie so durchdrungen, daß sie wie ein natürlicher Schild wirkt. Beherrschst du einen Schildzauber? Also gut. Normalerweise dauert es Jahre, dieses Wissen zu meistern, eine Mauer aus purer Astralkraft zu erschaffen, doch du weist Zauberei so leicht ab wie eine Ente den Regen... Alpträume? Alle Zauberinnen haben sie, Liebling. Wenn du beschwörst, dann schickst du deine Gedanken, einen Teil deines Geistes aus, nach dem Ding, das du herbeiholen willst. Es gibt Geschichten von Zauberern, die zuviel von sich selbst in den Äther geschickt haben und diese Teile nie zurückerlangen konnten...« Das machte ihr Angst. >»Einfangen O ja, einige nennen es so. Es bedeutet einfach, daß du, wenn du einen Gegenstand oder ein Lebewesen gesehen hast, ihn berührt hast, gerochen hast, ihn mit deinem Blick, mit deinen Augen erkennst. Jeder gewöhnliche Mensch, dem zum Beispiel ein Hufnagel gezeigt wurde, würde ihn wiedererkennen. Aber nimm 121
diesen Nagel und wirf ihn in ein Faß, in dem Tausende solcher Nägel liegen, und diese arme blinde Seele könnte ihn in tausend Jahren nicht wiederfinden. Aber ein von der Kraft gesegneter, ein >Manipulator<, könnte einfach das Bildnis dieses Nagels - jenes einen, den er berührt hat - herbeirufen, den Raum um ihn herum verändern und ihn in seine Hände befehlen... Niedere Magier, Scharlatane, können nur etwas >einfangen<, es liegenlassen und hoffen, daß es noch dort ist, wenn sie es brauchen. Gute Zauberinnen können ein Ding oder ein Lebewesen einfangen - ohne daß es weiß, daß es eingefangen wurde - und es an sich ketten, um zu verhindern, daß andere es einfangen können. Auf diese Weise beschützen sie ihre Schätze und Truhen und spüren, wenn irgend jemand sich an ihnen zu schaffen macht. Manch ein nach Artefakten gierender Narr täte gut daran, sich daran zu erinnern, denn wenn du einen Gegenstand von großem Wert betastest, riskierst du den augenblicklichen Zorn von jemanden, der so mächtig ist, daß es deine Vorstellungskraft übersteigt. Denk daran: Nicht du besitzt die Dinge, sie besitzen dich... Im Gegensatz dazu bedeutet das >Anzapfen<, daß du aus deiner Umgebung Mana aufsaugen kannst. Du kannst das Mana der Erde, der Luft und des Wassers anzapfen, oder auch Vorräte, die in dir verborgen liegen. Aber nicht zuviel, sonst würdest du wie eine leere Hülle zurückbleiben, du könntest sogar sterben, oder Schlimmeres.« »Aber versuch es doch, Liebling.« »Was denn?« fragte Greensleeves. Sie blinzelte und versuchte, sich zu konzentrieren. Obwohl sie alles verstand, was ihre Meisterin sie lehrte, war sie doch immer zehn Schritte zurück und versuchte aufzuholen, so als ob Chani auf einem Pferd galoppierte und Greensleeves ihr zu Fuß folgte. »Beschwöre etwas.« 122
»Äh... was denn, Chani?« »Was auch immer. Irgend etwas, das du dir vorstellen kannst.« Die gesunde linke Hand der Druidin flatterte durch die Luft wie ein Schmetterling mit zerrissenen Flügeln, der darum kämpfen mußte, oben zu bleiben. »Oh. Ja, in Ordnung.« Greensleeves rieb sich die Stirn und versuchte, sich etwas vorzustellen. Etwas aus dem Lager vielleicht. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein, so als habe ihr der Gegenstand ein Zeichen gegeben. Stirnrunzelnd stand das Mädchen von dem Felsen auf. Eine kühle Brise wehte aus dem Eichenwald heran, ließ das gelbe Gras, das in Büscheln auf der Lichtung wuchs, rascheln und die Blätter der verkrüppelten Stieleichen rauschen. Greensleeves war sich sicher, daß es seit einigen Tagen kälter geworden war. Es mußte bereits Winter sein, denn die Luft trug einen Hauch Frost mit sich. Aber vielleicht war es auch der Geruch von geschmolzenem Eis, eine leichte Frühlingsbrise. Vielleicht lag der Winter bereits hinter ihr - oder mehrere Winter, sie wußte es nicht. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, und sie streckte die Hände in einer zaghaften Geste nach vorn. In letzter Zeit waren ihre Bewegungen unbeholfener geworden. Sie vermutete, daß die Gebärden, die sie früher gemacht hatte - in ihren ungeschulten, unwissenden Versuchen, Magie zu wirken - sie eher behindert als ihr geholfen hatten. Aber sie wußte nicht warum. Im Moment ruderte sie nur mit den Händen durch die Luft, ungeschickt wie ein Kind bei seinen ersten Gehversuchen. Die Ahnung eines Alptraumes huschte kurz durch ihren Geist, wie eine schwarze Schlange, die aus der Dunkelheit kommt und in sie zurückkehrt, nichts als eine dunkle Spur hinterlassend. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. War die Furcht vor dem Wahn nicht ein zu hoher Preis für die Erlangung der Macht? Aber das Ding, das sie wollte, war da und sang zu ihr mit Sirenenklängen. 123
Chani kauerte auf ihrem Felsen wie eine erfrorene Eidechse, während Greensleeves mit der Hand einen Strich in die Luft zeichnete, sie dann zurückzog und viel leichter als je zuvor - ein Flimmern auf dem Boden entstehen ließ. Ein braunes Quadrat, nicht viel größer als der Hut eines Mannes, erschien auf dem Gras. Dann kräuselte es sich aufwärts: grün, doch nicht das schlammige Grün, wie sie es früher immer beschworen hatte, sondern ein sattes Blattgrün, wie der erste Hauch des Frühlings. Dann erschien eine Fläche aus lebhaftem Blau, klar und frisch wie die Farbe des Himmels nach einem Sturm. Ein Anflug von Sonnengelb und... ...die Mana-Schachtel lag vor ihren Füßen. Sie glitzerte rosig und schimmerte wie eine polierte Perle. Greensleeves hob sie auf und erklärte: »Ich weiß nicht, warum ich dieses... Ding gewählt habe. Fast glaube ich, daß es mich gewählt hat. Es ist ein Mana-Speicher, den ein Magier namens Towser...« »Mana-Speicher?« krächzte Chani. »O nein, mein Kind. Das ist kein Mana-Speicher.« »Ist es nicht?« Greensleeves jonglierte mit der Schachtel wie ein Kind mit einem Ball. »Aber es fiel vom Himmel. Der Zauberer, der es ausgraben ließ, war sehr aufgeregt. Er sagte, es sei ein Mana-Speicher.« »Dann war er ein Narr. Dieses Ding lebt. Es ist so lebendig wie du und ich.« Gull deutete nach vorn. »Da ist sie! Hallooooo, Greenie!« Seit drei Tagen nun hatte der Suchtrupp den Eichenwald auf diesem Plateau durchquert. Die Späher waren mit allen Arten von Wild beladen: mit Truthähnen, Moorhühnern, Bibern und sogar einem Hirsch. Sie konnten kaum widerstehen, auf Wild zu schießen, und taten es so häufig, daß sie inzwischen mehr hatten, als sie essen konnten. Nach der Öden Taiga war dieser Wald ein Füllhorn, 124
Nun zügelte der Holzfäller sein Pferd am Rande einer Senke vor einer kleinen Höhle und einem Hügel. In der Mitte stand seine Schwester, und neben ihr, auf einem Felsen, saß eine weißgekleidete alte Frau, die mehr tot als lebendig aussah. Gull sprang aus dem Sattel und hinkte auf seinem verkrüppelten Bein die Senke hinab. Greensleeves übergab der alten Frau den rosafarbenen Mana-Speicher (aber sollte der nicht eigentlich im Lager sein?) und rannte auf ihren Bruder zu. Gull schlang seiner Schwester die Arme um die Hüften, hob sie hoch und drückte sie so fest an sich, daß sie quietschte. »Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Warum bist du weggelaufen? War es so ein Spruch?« »O Bruderherz! Ich muß dir so viel erzählen! Ich lerne gerade alles über Magie, von Chani hier! Ihr Name bedeutet >Eichenwald<, und sie ist eine Druidin, und ich bin auch eine! Sie hat mir alles beigebracht, über alle möglichen Dinge! Über Sterndeuterei, über ChakraPunkte - das sind die Zentren der Magie in deinem Körper -, wie man die Sprache der Kristalle versteht...« Lächelnd ließ Gull sie wieder herunter und vergewisserte sich, daß sie heil und gesund war. Sie hatte sich verändert, stellte er fest. Aber inwiefern? Sie sah gesund und munter aus, mager wie stets, zersaust und sonnenverbrannt. Ihr Umhang und ihr Tuch waren noch fadenscheiniger und zerrissener als sonst, so als hätte sie die vergangenen Winter im Freien verbracht. Und... »Dein Fußgelenk ist verheilt!« Das Mädchen blickte hinunter und wackelte mit dem Fuß. »O ja! Chani hat es gerichtet, sie ließ die Knochen über Nacht wieder zusammenwachsen! Sie kann alle möglichen wundervollen...« »Und... du bist... größer geworden!« »Was...?« Die junge Frau trat einen Schritt zurück, um sein Gesicht zu betrachten. Ihr großer Bruder schien ihr plötzlich weniger groß als vorher zu sein. Doch Gull fiel noch mehr auf: Sie war um etliche Fin125
gerbreit gewachsen. Ihre Brüste waren voller, ihre Hüften breiter und ihr Gesicht runder geworden. Ihre Wangen waren weich und zart, ihr Nacken fest. Verschwunden war das schlaksige halbverhungerte Aussehen. Seine Schwester sah ihrer Mutter Bittersweet nun sehr ähnlich. Aus dem Mädchen war eine Frau geworden, und sie war nun vielleicht sogar älter als ihr großer Bruder Gull - als wären die Jahre über Nacht verstrichen. »Und... du stotterst gar nicht mehr!« »Was?« Die junge Frau legte sich die grasbefleckte Hand an die Lippen. »Oh! Du hast recht. Ich habe nie bemerkt...« Rakel stand am Rand der Senke und beobachtete, wie die Geschwister miteinander plauderten. Unbewußt ließ sie eine Hand auf dem Heft ihres Schwertes liegen. Nun sind sie wieder zusammen, rasten ihre Gedanken, mit nur wenigen Gefolgsleuten. Heute nacht wäre es mir ein leichtes, sie zu erschlagen und mir ihre Köpfe zu holen. Morgen könnte ich bereits wieder in Benalia sein, meine Trophäen vorweisen, meinen Sohn auslösen, zum Weingut reisen und auf Garth warten - sollte er jemals zurückkehren. Aber sie konnte es nicht. Gull war ein anständiger Mann, der für eine gerechte Sache kämpfte, und Greensleeves eine selbstlose Zauberin, die anderen mit ihrer Magie helfen wollte: etwas Einzigartiges in Rakels bisherigem Erfahrungsschatz. Sie konnte diese Menschen nicht einfach auslöschen, ihre Träume, die Hoffnung, die sie verkörperten, und die Rettung, die sie der Welt versprachen. Und doch, entweder die beiden oder sie selbst - und ihr Sohn. Wie sollte sie sich entscheiden, schrie ihr Geist. Was sollte sie tun?
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»Ich verstehe es nicht...« Greensleeves stupste den rosafarbenen Mana-Speicher an, so wie sie es nun seit Tagen tat. Das Ding faszinierte sie, ganz besonders seit Chanis Bemerkung. »Wie kannst du sagen, daß es lebendig ist?« Chani lehnte auf ihrem gesunden Arm und antwortete mit einem einseitigen Schulterzucken. »Es ist eine Art des Erkennens, Schatz. Du wirst es lernen. Hast du bemerkt, daß es sich beim Berühren warm anfühlt?« »Ja, schon«, antwortete das Mädchen, »aber ich dachte, das käme nur von der wärmenden Sonne.« »Nein. Aber keine unausgebildete Person könnte es bemerken. Hier, bring es zu mir.« Das Mädchen legte die Kiste auf den Felsen neben die bleiche, blaugeäderte Hand der Frau. Heute war ein weiterer milder Wintertag, und trotz der Höhe schneite es nicht. Das fahle Sonnenlicht wärmte das gelbe Gras und die rauschenden Blätter der Lichtung. Die Tage vergingen nun langsamer und doch schneller, seit die anderen angekommen waren. Ihr Bruder, Rakel und die Späher waren ausgezogen, um nach einem Lagerplatz für die Armee zu suchen, die in wenigen Tagen hier erwartet wurde. Die Zeit verging nicht schneller als üblich, entschied Greensleeves: Die Stunden flogen dahin, wenn man beschäftigt war, oder zogen sich beim Müßiggang in die Länge. Nicht, daß Chani ihr jetzt mehr Ruhe gönnte: Wenn überhaupt, dann sprach sie nun noch schneller und warf Greensleeves Ideen und Bemerkungen vor wie einem hungrigen Pferd das Heu. »Aber, lebendig...? Ich kann es mir nicht vorstellen. Es fiel auf die Erde wie eine Sternschnuppe. Es schlug 127
einen Krater, der so groß war, daß man keinen Stein hinüberwerfen konnte. Das Loch war so tief, daß die unteren Schichten aus gelbem Sand bestanden. Wie...?« »In der Zauberei sind wie im Leben alle Dinge möglich«, unterbrach Chani. »Du mußt das begreifen, mehr als alles andere. Denn die Magie ist nur durch das Mana und die Vorstellungskraft der Anwenderin begrenzt. Das ist der Grund, warum Towser das Leben in dieser Schachtel nicht erkannte. Er sah sie sich kurz an, entschied, daß es ein Mana-Speicher sei, und dabei blieb es.« »Du willst sagen... es denkt?« Wie würde es sich anfühlen, seinen Geist in diesem... Ding gefangen zu wissen? Chani gluckste. »Alles was lebt, denkt, einige Wesen klarer als andere. Sei jetzt still, ich will mit ihm sprechen.« Sanft wie eine zu Boden fallende Feder legte sie die weiße Hand auf die gewölbte rosafarbene Schachtel. Sie schloß ihre Augen und saß so lange ruhig da, bis Greensleeves glaubte, sie wäre eingedöst, doch dann schüttelte sich die Druidin. »Es wird bewacht. Von anderen ... und von sich selbst. Hilf mir, Liebling, ich möchte den Kopf darauflegen.« Verwundert half Greensleeves Chani herunter, so daß sie die Stirn auf die Schachtel betten konnte, als sei diese ein steinernes Kissen. Die Druidin grübelte. »Du wirst auch das noch lernen: auf einem Totenschädel zu >schlafen<, um sich mit dem Leichnam zu unterhalten... ah, da ist es ... ein Funken, tief im Inneren... hallo...« Plötzlich schrie die alte Frau auf und krächzte trocken. Chanis Kopf wurde zurückgeworfen, als sei sie von einem Maultier getreten worden. Stöhnend und zitternd krachte sie mit dem Rücken gegen den moosigen Stein, verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße darin zu sehen war, seufzte erneut und lag still. Greensleeves griff nach der Druidin, stieß dabei gegen die rosafarbene Schachtel und zuckte erschreckt zurück. 128
Dem angeblichen Mana-Speicher wuchsen rasend schnell ein Dutzend dicke, spitze grüne Arme. Die sich windenden, unterschiedlich großen, gegabelten oder stumpfen Anhängsel brachen ohne erkennbare Ordnung aus jeder Seite der Schachtel hervor - einige aus den Vertiefungen, andere aus den Ecken. Das leuchtende Rosa des Artefakts verfärbte sich grün, und braune Flecken erschienen auf der Oberfläche, so daß sie der Haut eines Frosches glich. Zwischen den sich windenden Tentakeln beulten sich drei Stiele aus, die von blutunterlaufenen runden Kugelaugen gekrönt wurden. Die Stiele drehten sich in Greensleeves' Richtung, während eine Ecke aufbrach und einen Mund mit einer heraushängenden roten Zunge enthüllte. All dies geschah innerhalb von Sekunden, dann erhob sich der Speicher mit einem taumelnden Sprung auf eine Handvoll gesprenkelter Tentakeln, sprang vom Felsen und wuselte quer über das raschelnde Laub davon. Wie gelähmt beobachte Greensleeves, wie er verschwand, und in diesem Augenblick wurde ihr plötzlich klar, was es mit Karlis Forderung nach einer >magischen wandelnden Kiste< auf sich gehabt hatte. Dann fiel ihr Chani ein, doch als sie ihr die Hand auf die Brust legte, stellte sie fest, daß sie nicht mehr atmete. »O Chani«, wimmerte sie, »O Gull! Oh... HILFE!« »Gull!« sagte Rakel mit einer Hand auf dem Schwertknauf. »Ich habe eine Entscheidung gefällt. Ich werde deiner Armee beitreten.« Der Holzfäller sah sie neugierig an. Die beiden hatten den Morgen damit verbracht, einen weiten Kreis abzureiten, um eine Lichtung zu finden, auf der die Armee lagern konnte, wenn sie in ein paar Tagen eintraf. Es war eine angenehme Arbeit. Sie schaukelten im leichten Gang der Pferde und ritten auf einem braunen Teppich aus Blättern zwischen den großen Eichen hindurch, während die Sonne am weißblauen Himmel ihnen den 129
Rücken wärmte. Gull redete sich ein, daß er arbeitete, aber in Wirklichkeit ruhte er sich aus. Das Führen seiner zusammengewürfelten Armee hatte ihn in den letzten Monden erschöpft, und das Auffinden seiner Schwester war eine wundervolle Entschuldigung für sein Faulenzen. Er verstand Rakels Bemerkung nicht, aber er begriff ohnehin das wenigste von dem, was Frauen ihm sagten. Für ihn dachten Frauen auf einer höheren Ebene. Während Männer umhertapsten, um einen Stein zum Schärfen einer Axt zu finden, damit man einen Baum fällen, ihn zu einem Balken zurechtschneiden und als neuen Dachfirst einbauen konnte, sandten Frauen ihre Herzen zu den Sternen, um nach... nun, nach was auch immer zu suchen. Glück? Zufriedenheit? Das Geheimnis des Lebens? Er konnte es nicht erraten und hatte keine Zeit, darüber nachzusinnen. Er mußte Bäume fällen und eine Armee befehligen, das war Arbeit genug. Er antwortete: »Schön. Aber ich dachte, du wärst bereits dabei. Du kannst kämpfen, und wir brauchen Kriegerinnen...« »Ich kann kämpfen«, unterbrach sie, »aber du nicht.« »Was?« Er zügelte sein Pferd, einen Apfelschimmel, den er wegen seiner wehenden Mähne >Ribbons< genannt hatte, und blinzelte zu ihr hinüber. »Ich weiß, wie man kämpft«, erklärte sie, »aber du bist hoffnungslos. Das einzige, was dich im Kampf am Leben hält, sind deine Muskeln und deine Instinkte. Und die Tatsache, daß du deine Axt geschwungen hast, seit du sie heben konntest, nehme ich an. Aber wenn du erst einmal richtigen Kriegern gegenüber stehst, werden sie Hackfleisch aus dir machen.« »Das nehme ich an.« Gull war zu gut gelaunt, um beleidigt zu sein, außerdem hatte sie recht. »Ich habe das Kämpfen nie geübt, nur das Holzfällen. Ich gebe mein Bestes.« »Das ist nicht gut genug.« Verärgert ließ Rakel die 130
Zügel fallen und sprang von ihrem Pferd auf die knirschenden Blätter, die den Boden bedeckten. Sie entfernte sich einige Schritte, schlang sich die Arme in einer unbewußten Umarmung um die Brust und starrte in den Eichenwald, ohne ihn wahrzunehmen. In einiger Entfernung, auf einer sonnenbeschienenen Lichtung, hoben grasende Elche ihre mit mächtigen Geweihen geschmückten Köpfe, stierten auf die zwei Menschen und taten sich dann weiter am Buschwerk gütlich. Gull glitt zu Boden und streckte sich, während er die Entfernung zu den Elchen in Bogenschußweiten abschätzte. Der Mann fragte: »Gut, üben könnte ich mit... nein, Tomas ist tot. Mit Bardo, vielleicht. Aber ich habe im Moment kaum Zeit...« »Nein!« Rakel fuhr herum und fand, daß der Holzfäller beunruhigend dicht bei ihr stand. Sie bemerkte erneut, wie gut er aussah. Seine Haut war von einem Leben im Freien braungebrannt wie Mahagoni, sein lockiges dunkles Haar im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden, und seine Augen leuchteten in einem klaren Grün. Der kleinere, dunklere und trotz seiner sternförmigen Narbe gutaussehende Garth verblaßte in ihrer Vorstellung, bis sie sich kaum noch erinnerte, wie er aussah. Unsicher fuhr sie fort: »Nein. Ich muß dich ausbilden. Es ist ein... Geschenk. Bevor ich...« Gull wartete. »Bevor was?« Seltsam, dachte er, wie verwundbar Rakel aussah, unter ihrer Lederrüstung, ihrer Soldatinnentätowierung und ihren Waffen. Ihr kurzgeschorenes schwarzes Haar war inzwischen fast auf Schulterlänge gewachsen, und ihr Gesicht war hart ein Kriegerinnengesicht -, doch tief in ihren Augen war die Zärtlichkeit einer Frau zurückgeblieben. Die Frau wandte sich ab. »Bevor ich… gehen muß.« Gull war nun neugierig geworden und folgte ihr. »Warum gehen?« Rakel winkte ab. Es war eine sanfte, fast zärtliche Geste, von der sie nicht einmal wußte, daß sie sie be131
herrschte. »Ich kann nicht für immer bei deiner Armee bleiben. Das ist der Grund, warum ich dich und die anderen ausbilden will. Ich wurde im militärischen Denken unterrichtet, bevor ich sprechen konnte. Deine Weibel Varrius und Neith haben einige Fähigkeiten, aber nicht die Ausbildung von Offizieren. Sie haben keine Ahnung von Logistik und Taktik.« »Was ist das?« fragte Gull, neugierig auf alles, was die Kampfkraft seiner Armee verbessern konnte, und auf die Frau, die dieses bewirken wollte. Sie fuhr herum und stellte fest, daß er nahe genug für einen Kuß war, doch statt dessen fauchte sie: »Siehst du?! Logistik und Taktik sind die beiden Stützpfeiler einer Armee, die Dinge, die für die Kampfkraft einer Truppe am entscheidendsten sind, und du weißt nichts darüber! Da, wo ich herkomme, wird jedem Kind beigebracht...« Doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Gulls Anblick wurde durch das Bild ihres lachenden Sohns Hammen verdunkelt. Sie würde ihn niemals wiedersehen, denn wenn sie Gulls und Greensleeves' Armee ausbildete - ihr Geschenk, um ihnen das Leben zu retten und die Zauberei zu bekämpfen -, entschied sie sich dafür, ihr Leben und alles, was sie liebte, fortzuwerfen. Ihr Sohn würde von einem grausamen und gefühllosen Staat aufgezogen werden und seine Mutter niemals wiedersehen. Plötzlich schluchzte sie. Gull handelte instinktiv, denn er konnte sich nicht in seiner eigenen Hilflosigkeit suhlen, wenn eine Frau weinte, und zog sie an seine Brust. Wie Frauen binnen Sekunden in Tränen ausbrechen konnten, würde er nie verstehen, ebensowenig, warum sie so viele geheime Sorgen in ihren Herzen trugen. Diese hier - die harte traurige, süße Rakel - schien mehr als nur ihren Teil zu tragen. Rakel klammerte sich an die Brust des Mannes, und ihre Tränen rannen ihm die Hirschledertunika herab. Er 132
war so freundlich, so feinfühlig, so aufmerksam. Wie lange war es her, seit Garth sie gehalten hatte? Geküßt hatte? Sie sah zu ihm auf: Er schien so groß zu sein wie die Eichen, die er einst fällte. Grob packte sie ihn am Nacken und zog ihn zu sich hinunter, um ihn zu küssen. Gull erwiderte den Kuß. Er wunderte sich ein wenig, doch wirklich überrascht war er nicht. Kurz dachte er an Lily, die sich erst in ihn verliebt, dann aber ihre Gefühle für ihn vergessen hatte (wirklich?), um die Magie zu erforschen. Nun würde er sich wahrscheinlich in Rakel verlieben, obwohl er nicht wußte, warum sich Frauen an ihn hängten. Doch wenn sie es taten, dann erwiderte er ihre Umarmungen und verliebte sich in sie. Aber dies war ein weiteres Geheimnis, genauso geheimnisvoll wie die Tatsache, daß Frauen zugleich zäh und weich, hart und sanft, freundlich und wild sein konnten. Die ältere und weisere Rakel wußte, daß dies weder Liebe noch Lust war. Es war nur Traurigkeit, Kummer und der Wunsch, jemanden festzuhalten. Sie würde Gull umarmen, ihn mit ihrem Körper lieben, ihn zur Befriedigung und zum Trost benutzen und versuchen, ihre Traurigkeit zu verdrängen, während ihr das Herz blutete. Denn noch bevor der nächste Mond käme, würde sie tot sein. Allein und hilflos vor Angst, wußte Greensleeves nichts anderes zu tun, als die alte Frau flach auf den Stein zu legen - sie wog nicht mehr als ein Korb voller Blumen -, den Mund auf Chanis Lippen zu pressen und fest genug zu blasen, um die Lungen der Druidin mit Luft zu versorgen. Nach vier kräftigen Versuchen schluckte Chani, zitterte und atmete wieder von selbst. Ausgelaugt von ihren Sorgen setzte sich Greensleeves zurück und verbarg das Gesicht in den Händen. So fanden sie Gull und Rakel einige Zeit später. Greensleeves bemerkte, daß ihr Bruder ihr nicht in die Augen sah, sondern geradewegs über ihren Kopf hin133
weg blickte, während Rakel zum ersten Mal, seit sie aus heiterem Himmel aufgetaucht war, entspannt und zufrieden wirkte. Greensleeves dachte sofort an ihre Freundin Lily und was sie darüber denken würde - oder ob sie es überhaupt bemerkte. Lily war in letzter Zeit ebenfalls oft abgelenkt, verzaubert von der Magie und verärgert von ihrer Unfähigkeit, diese zu beherrschen, so wie Greensleeves in ständiger Furcht lebte, erneut den Verstand zu verlieren. Aber dieses Mal wischte Greensleeves ihre Sorgen beiseite. Sie rannte zu ihrem Bruder und ergriff seine verkrüppelte linke Hand. »Gull! Du mußt uns helfen! Der Mana-Speicher - es ist gar kein Mana-Speicher, sondern ein grünes Gehirn mit Tentakeln! Es ist weggelaufen!« Eine Sekunde lang dachte Gull, daß seine Schwester sechzehn Jahre lang gar nicht gesprochen hatte und nun die verlorene Zeit wohl aufholen wollte. »Langsam, Greenie. Was... ein Gehirn? Mit Tentakeln?« Eilig erklärte ihm das Mädchen die seltsame Wandlung des Speichers. Rakel ging zu Chani und stellte fest, daß die alte Frau zwar erschöpft, aber wohlauf war. Die Druidin ärgerte sich darüber, daß sie sich so hatte überrumpeln lassen, und murmelte: »... aber es ist ein mächtiges Artefakt, kein Zweifel. Das mächtigste, das ich jemals gesehen habe...« Greensleeves schob sich an ihrem Bruder vorbei. »Ich muß es finden! Es ist...« Überrascht fühlte sie Gulls harten Griff an ihrem Handgelenk. »Bleib hier! Ich denke nicht, daß du ihm nachjagen solltest! Es hätte beinahe diese Druidin umgebracht! Wenn seine Macht wirklich so groß ist, dann kann es aus dir Wurmfutter machen, ehe du es dich versiehst!« Greensleeves zog an ihrem Handgelenk, doch er hielt es fest in seinem harten Griff. »Laß mich los! Es ist nicht gefährlich! Es hat vielleicht nur Angst! Ich...« Doch ihr Bruder ließ sie nicht los. Er hatte durch die 134
Hand von Zauberen so viel Leid erfahren, daß er grundsätzlich alle Magier haßte, und es gefiel ihm ganz und gar nicht, daß sich auch seine Schwester dieser Kunst widmete. Irgendwann einmal hatte er ohnehin mit ihr über den Gebrauch und den Mißbrauch von Magie reden wollen, und nun - entschied er stur - war es Zeit dafür. »Nein, ich denke nicht. Es ist besser, daß es im Augenblick bleibt, wo es ist. Du kannst nicht einfach...« Aber sie hörte nicht einmal zu. »Ich sagte: >Laß los<, Bruder! Ich will dieses Artefakt! Ich weiß, was gut für mich ist, du nicht!« »Ich habe jeden Tag seit deiner Geburt auf dich aufgepaßt! Ich mußte mich um dich kümmern und mich um dich sorgen, seit ich denken kann. Und ich werde nicht...« Gulls Zorn wuchs, aber auch der seiner Schwester. Greensleeves zog erneut und schrie: »Laß mich los!« Gull brachte noch ein einziges »Nein!« heraus, bevor ... ... seine Hand von ihrem Handgelenk gerissen wurde. Ein Blitz oder ein Schlag fegte ihn von seiner Schwester fort, warf ihn gegen Rakel und dann gegen einen Baum. Gulls Kopf krachte geräuschvoll gegen das harte Holz, und er fiel benommen auf den Bauch. Als er sich unter schlimmsten Maultiertreiberflüchen den schmerzenden Kopf rieb, stellte er fest, daß seine Hand verletzt war: Die Haut war rot und verbrannt, als hätte er einen Ofen berührt. Wütend sah er seine Schwester an: »Was hast du mit mir gemacht?« Greensleeves starrte nur auf ihr Handgelenk. Ihre Haut war an der Stelle, an der er sie umklammert hatte, leicht gerötet doch darüber lag ein grünes Glühen - wie ein Armband. Chani schob sich von ihrem Felsen, humpelte auf einem gesunden und einem steifen Bein auf sie zu und untersuchte den verblassenden grünen Ring. »Hmmm... Eine weitere Variante des Schild-Spruchs. 135
Bald wirst du fähig sein, deinen ganzen Körper damit einzuhüllen. Niemand wird dich dann mehr mißhandeln.« Sie rümpfte die Nase in Richtung Gull und schlurfte zu ihrem Felsen zurück. Gull stand auf und leckte sich die Handfläche, um das Brennen zu mildern. »So. Greensleeves tritt in die Reihe der wahren Zauberinnen ein und benutzt die Magie, um Sterbliche zur Seite zu fegen. Was wird sie als nächstes lernen, und wie wird sie uns beherrschen, jetzt, da sie nicht länger ein einfaches Bauernmädchen ist?« Greensleeves starrte auf ihre Hände, als seien es die einer Fremden. »Das ist nicht wahr. Ich habe mich nicht verändert...« Doch tief in ihrem Inneren wußte sie, daß Gull recht hatte, und es machte ihr angst. Erschreckt machte sie einen Satz nach vorn - wie alle anderen auch -, als eine quäkende hallende Stimme, die keinem bekannten Laut ähnelte, hinter ihnen erklang. »Gerannt ich bin weil Gedanken vermischen mein Geist hat Angst aber sehe nicht böse gut so zurückkommen ich tat was ist es wollen ihr von ich?« Die Menschen starrten entsetzt: Auf seinen sich windenden Tentakeln balancierte das kaum drei Spann hohe grüne Gehirn auf den winterlichen Blättern. Die Stimme kam geradewegs aus seinem winzigen roten Mund. Genau wie Greensleeves verstummte das grüne Gehirn niemals, wenn es erst einmal zu sprechen begonnen hatte. Weder in dieser Nacht noch am nächsten Tag, und auch nicht in der Nacht danach. Es gab nur dann Ruhe, wenn seine nach Wissen gierenden Zuhörer so müde wurden, daß sie auf der Stelle in tiefen Schlaf sanken. Es war nicht gerade hilfreich, daß das Gebrabbel des sprechenden Gehirns fast unverständlich war: »...Minen auf jeder Seite mit hohen Türmen über 136
großen Löchern unter Elfenbeintürmen ganz weiß und Höhle wie Mund mit Augen darüber Zwerge reiten hinein in Karren gehen tief hinunter bringen Mana benutzen Mishra gegen Ashnod fragen warum grünes Zeichen fallen vom Himmel ich gelegt in Käfig Gitterstäbe aus Rost pressen gegen Augen kann nicht sehen lange Zeit kalt im Raum nicht kalt aber leer kein Essen sehe Sterne werden weiß purpur blau rot explodieren krachen gelegt in Schachtel und geschickt in Raum jeder will ich nicht können haben Rat entschied Weise rannten schreiend der Große fällt hinunter Augen zerplatzen Blut Messer fliegen machen Geräusch wie Platschen rennen in Dunkelheit Sonnenschein heiß große Vögel essen Zauberer streckt Arme aus gehört zu mir Sonne dörren uns dunkle Frau Geruch nach Sand kommt nicht will gehen mit ihr machen wie Geist finden...« Greensleeves rieb sich die schmerzenden Augen und streckte eine einhaltgebietende Hand aus. »Bitte, mach langsam! Was war das für eine Geschichte? Jemand hat dich gestohlen und floh in die Wüste? Oder war es diese Frau Karli, die dich gerade vergangenen Mond zu stehlen versuchte? Über welche Zeit sprechen wir? Und wie kamst du in den Himmel, um herunterzufallen und diese großen Krater zu schlagen?« »... Weise sagen wenn jemand hat alles würde wollen und zwingen alle anderen tun was sagen so sagt niemand kann haben mich so gelegt in Schachtel und kann nicht sehen es dunkel in Schachtel aber fühle großes Gewicht und geschoben geworfen geflogen durch Himmel und finden es kalt un-kalt und schwebende Arme gehen über alles kein Halt so angenommen Form von Schachtel...« »Bei den Waffen von Axelrod, Greenie!« nörgelte Gull. »Würdest du das verdammte Ding endlich zum Schweigen bringen, damit wir schlafen können? Es muß ein Folterwerkzeug gewesen sein, das man mit dir in einen 137
Raum eingesperrt hat, damit es dich in den Wahnsinn treibt!« »Du plapperst, Gull!« neckte Rakel. Sie alle - Greensleeves, Gull, Rakel, Chani und die Späher außer einer umherstreifende Wache - hatten Chanis in den Hügel geschnittene Höhle belegt. Die acht lagen von Kopf bis Fuß in Decken gehüllt auf dem sandigen Boden. Rakel und Gull teilten sich ein Lager, und die Frau hielt die ganze Nacht die breite Brust ihres neuen Geliebten fest umschlungen. Chani döste nur, denn sie schlief niemals länger als eine Stunde, doch Greensleeves bemühte sich, wach zu bleiben, um das wirre Geplapper der quäkenden Stimme zu enträtseln. Die Schachtel lag auf einem groben Tisch neben einer Talgkerze, deren winzige Flamme auf ihrer gefurchten Fläche flackernde Schatten tanzen ließ. Die fleischigen Tentakeln wanden sich unaufhörlich wie ein Nest voller Schlangen. Doch die junge Zauberin saß kaum drei Spann entfernt wie versteinert vor der Schachtel und stützte den müden Kopf auf die Hand. »Warte, warte«, flehte sie. Sie brauchte dringend Schlaf, doch das Bedürfnis nach Wissen war stärker. »Warum wollen alle dich besitzen? Was kannst du tun, außer dich in eine rosafarbene Schachtel und zurück zu verwandeln?« »...rosafarbene Schachtel Form von Schachtel halten ich gequetscht hinein geschoben gematscht in Raum wenn weggeschickt Schachtel nicht wahre Gestalt jede Form gut...« »Warte, warte! Du nahmst die Form dieser Schachtel an, in die sie dich einschlössen, richtig? Du hast keine eigentliche Gestalt? Du kannst aussehen, wie du willst? Wie wäre es mit einem... Frosch?« Sie wich zurück, als die sich windende Masse ihre Tentakeln einzog, ein wenig wackelte, sich dehnte und quetschte und schließlich die Form eines katzengroßen Frosches annahm. Sie veränderte sich binnen eines 138
Augenblicks, hörte jedoch nicht einen Moment mit dem Reden auf. »...macht Zauberer tun was Zauberer wollen tun Weise sagen nicht gut machen jemanden tun was tun müssen wegschicken kann nicht werden zerstört weil gemacht von allen für alle...« Greensleeves erschrak erneut, als ein >Geist< sich neben ihr materialisierte: Chani, die im flackernden Kerzenlicht weiß und ausgedörrt wie ein Leichnam aussah. Die Frau streckte die Hand aus - Greensleeves hätte schwören können, daß das Licht durchschien - und legte sie dem Nicht-Frosch auf den Kopf, dessen gefleckte Kugelaugen sich weder verengten noch blinzelten, wie das bei einem richtigen Frosch zu erwarten gewesen wäre. »Kind der Weisen«, sagte die Druidin, »wiederhole bitte deine letzten Worte.« »...nicht gut zu machen jemanden tun irgend etwas jemand will so ich muß gehen aber kann nicht zerstört werden weil gemacht von allen...« »Ahhhhh!« hauchte die Druidin, und Greensleeves fürchtete, daß sie unter einer weiteren Attacke litt, doch es waren nur Verwunderung und Ehrfurcht, die die Druidin bewegten. »Siehst du, Kind? Dies ist eine Konstruktion der Weisen von Lat-Nam! Sie...« »Die was?« »O Liebling! Es ist so lange her. Die Weisen von LatNam- Ein uraltes Kollegium von Magiebegabten, gegründet von Drafna und dem Ziel gewidmet, die Zauberei zu entschlüsseln, aber auch, um die noch älteren Artefakte zu verstehen, die aus ungenannten Zeiten übriggeblieben waren... und um die Brüder Urza und Mishra aufzuhalten. Ich werde dir später mehr erzählen, aber viel mehr ist es nicht. Die Weisen waren das größte Konklave von Zauberern, das jemals einberufen wurde, und sie tagten... jahrzehntelang - so glaubt man. Sie versuchten, Magie handhabbar zu machen, und stellten viele, viele wundervolle und tödliche 139
Artefakte her. Die meisten wurden zerstört, als Urza und Mishra sie im Krieg der Brüder fanden. Aber das ist nicht so wichtig. Dies«, sie tätschelte das Artefakt, das immer noch weiterredete, »ist eine ihrer Konstruktionen! Und wenn ich es recht verstanden habe, kann es einen Zauberer dazu zwingen, einem anderen zu gehorchen! Ich weiß nicht, ob es entworfen wurde, um andere zu beherrschen, oder ob es zur Bestrafung und Fesselung unbotmäßiger Zauberer diente. Vielleicht war es auch ein Bindeglied, das die Angehörigen der Versammlung dazu benutzen konnten, ihre Macht zu vereinigen. Aber merke dir: Es sagte, es könne nicht vernichtet werden, da es zu mächtig ist und von so vielen Zauberern in Zusammenarbeit gefertigt wurde. Also mußten sie es wegschicken.« Langsam dämmerte es Greensleeves, und als sie die Erkenntnis durchfuhr, setzte sie sich, nicht länger schläfrig, kerzengerade hin. »Du meinst...« »Dieses Spielzeug«, schloß Chani, »ist das einzigartigste und mächtigste Artefakt der gesamten Domänen.« Greensleeves' Gedanken wirbelten durcheinander, als sie versuchte, die Verwirrungen zu begreifen. Gull und Rakel hatten sich von ihrem Lager erhoben, um das Artefakt zu untersuchen. »Es war zu mächtig«, keuchte die junge Frau, »denn es kann... jede Zauberin und jeden Zauberer beherrschen ...« »Und wir beherrschen es!« unterbrach Gull. »Was?« fragten die anderen. »Seht ihr es nicht?« Der Holzfäller richtete sich auf und stieß mit dem Kopf gegen die niedrige Steindecke, doch er bemerkte es nicht einmal. »Seht ihr es nicht? Es war zu gefährlich, um es hierzubehalten, denn ein Zauberer kann es dazu benutzen, andere dazu zu zwingen, seine Anordnungen zu befolgen! So wie die Zauberer 140
nun ihren Bauern befehlen. Es ist die Antwort auf unsere Gebete! Mit diesem... Ding... können wir endlich diese herumtobenden Magier fangen und ihnen ihre Macht entreißen. Es ist der Schlüssel, den die Armee zum Erfolg braucht.« Es war fast still, als die Leute über Gulls Worte nachdachten - fast, denn der >Frosch< plapperte wispernd weiter. »So einfach kann es nicht sein«, murmelte Greensleeves. »Nichts ist einfach in der Zauberei.« Rakel fragte: »Gull, ich dachte, du haßt die Magie!?« »Das tue ich ja auch!« protestierte der Holzfäller. »Aber dieses Ding kann die Willkür all jener brechen, die die Zauberkraft mißbrauchen! Endlich eine Art gute Magie!« »Oder schlechte!« krächzte Chani. Sie stützte sich mit der gesunden Hand auf den Tisch und starrte tief in die Augen des >Froschs<. »Ein so mächtiges Artefakt wirkt wie ein Magnet auf jede Magierin und jeden Zauberer dieser Sphäre. Ihr werdet jeden Tag von jemanden heimgesucht werden, der darauf aus ist, es zu stehlen.« Rakel schnappte nach Luft. »Ja! Das war das Ding, das Karli suchte, als sie euer Lager angriff! Sie warf alle anderen Artefakte zur Seite, ohne sie zu untersuchen, nur um dieses hier aufzuheben. Aber sobald sie es gepackt hatte, wurde es unberührbar wie die Erscheinung eines Geistes und entglitt ihren Fingern. Sie heulte, als sie es zurücklassen mußte, und floh.« »Warum hast du uns das nicht früher erzählt?« fragte Greensleeves. »Was? Oh.« Sie hatte es nicht, weil sie damals ihre Feindin gewesen war. »Ich habe es vergessen.« »Macht nichts«, sagte Gull. »Greenie, was sagst du dazu? Könnt ihr, du und Chani, genau rauskriegen, wie man dieses brabbelnde Ding gegen Zauberer einsetzt?« »Ich... ich weiß nicht. Es ist alles so neu, so plötzlich. Chani?« 141
Die alte Druidin grübelte. »Wenn man uns Zeit gibt, können wir alles herausfinden. Aber...« »Wir müssen lernen, was es kann«, sagte Gull, »und zwar bald. Bevor ein anderer Zauberer kommt, es wegnimmt und uns damit beherrscht.«
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»Bei der Heiligen Frau Evangela, willst du wohl diesen Axtgriff hochnehmen!?« Gull packte den Axtgriff fester und hielt ihn seitwärts vor die Brust. »Ich denke nicht..,« Er fuhr erschreckt zurück, als Rakels Schwertklinge auf sein Gesicht zuraste. Mit einem Sprung und einer Drehung schlug er die kurze Klinge nach oben, doch die Kriegerin sprang zurück, peitschte das Kurzschwert unter seiner Axt durch und schlug sie ihm gegen die Brust. Obwohl sie die Spitze mit Birkenrinde umhüllt hatte, stöhnte Gull auf. Die beiden übten abseits von Chanis Höhle auf einer Lichtung, wo die beißende Kälte des Winters ihre ganze Kraft entfaltete und ihren Atem in der Luft gefrieren ließ. Ihre Füße huschten über das raschelnde Laub. »Du bist langsam.« Aber Rakel keuchte selbst, denn die Arbeit auf dem Hof und den Weinbergen hatten sie zwar in guter Form gehalten, jedoch eher für die Landarbeit als für den Kampf. Ihre Arme und Beine waren schwer wie Blei, und ihre Bauchmuskeln waren schlaff geworden, doch sie konnte das Kribbeln ihrer alten Kraft fühlen, als diese langsam wieder zurückkehrte. Nun mußte sie ihren Körper stählen, so wie sie ihr Schwert schärfen mußte. Gereizt ließ Gull die Axt sinken. »Ich habe nie behauptet, daß ich einer dieser Helden aus den alten Legenden bin, der Hydras und Medusen bereits vor dem Frühstück erschlägt. Ich bin ein Holzfäller, bei den Unsterblichen! Bäume ducken sich nicht, wenn man nach ihnen schlägt!« 143
Rakel starrte ihm direkt in die Augen, ergriff dann ihr am Boden liegendes Schwert, um erneut anzugreifen, doch dieses Mal schlug er ihr die Klinge aus der Hand. Er sprang ihr nach und schlug mit dem Axtgriff nach ihrem Gesicht, so daß sie sich ducken mußte. Aber sie ging in die Knie, ließ die linke Hand blitzschnell zu Boden sinken und schlängelte ihr Schwert hinter sein ungeschützes Bein. »Das war deine Sehne! Bei den Zähnen der Götter, innerhalb einer Stunde habe ich dich Dutzende Male getötet und dich zweimal so oft verstümmelt! Und in Benalia war ich nicht einmal eine anerkannte Schwertmeisterin, nur Durchschnitt!« Gründlich verärgert ließ Gull seine Axt fallen, packte Rakel an beiden Armen und schleuderte sie über seinen Kopf. Sie landete auf dem Rücken, wälzte sich aber sofort auf einer Hand herum, bereit zu einem weiteren Angriff. Er fragte sie: »Kannst du mir bitte mal sagen, warum du so scharf darauf bist, mich auszubilden? Ich habe es bislang ganz gut gemacht...« »O Gull. Erkennst du es denn nicht? Du hast bislang Glück gehabt, hast bisher nur blauen Barbaren, Trollen oder Schweinemenschen - oder was auch immer sie waren - gegenübergestanden. Aber ein richtiger Krieger wird dich in Stücke hauen, bevor du diesen Baumstutzer überhaupt hochziehen kannst.« Gull runzelte die Stirn. Sie hatte seine Frage nicht beantwortet, doch er ließ es auf sich beruhen. Sie barg mehr Geheimnisse als eine Schachtel in einer Schachtel. Er schüttelte seine Axt: »Ich habe diese Axt geschwungen, seit ich sie mit zwölf Jahren selbst geschmiedet habe. Ich werde sie nicht für ein Käsemesser wie deines weglegen! Ich habe bis jetzt überlebt... Ich habe sie wochenlang gesucht, als ich sie im Meer verloren hatte, und bis heute habe ich den verdammten Griff sechsmal ersetzt, weil irgendwelche verdammten Schwertschwinger nicht aufhören, daran herumzuschnitzen!« 144
Rakel konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Sie ließ ihr Schwert fallen, kam auf ihn zu und preßte die Hüfte gegen ihn. »Gut, gut, so lange niemand an deiner anderen Waffe da unten herumschnippelt, ist ja alles in Ordnung!« Spottend und lachend zugleich, ließ Gull die Axt fallen und drückte Rakel so fest an sich, daß sie quietschte. Doch er wunderte sich darüber, daß ihre Stimmung so schnell wie der Sommerhimmel wechselte: In einem Moment war sie glücklich, im nächsten weinte sie. Aber warum sprach sie nicht mit ihm darüber? Dann aber schmolz die Frau in seinen Armen dahin, und er vergaß alles andere. Ein Hornsignal rief die Kriegerin und den Holzfäller zurück ins Lager. Die zusammengewürfelte Armee hatte endlich das Plateau erreicht. Bardos Späher führten die trödelnde Gruppe auf eine Lichtung, auf der die verkümmerten Eichen kaum zehn Schritt hoch wuchsen, und bald hatten sie sie gefällt. Alle gingen entweder zu Fuß, ritten oder führten Packtiere, denn eine von Gulls ersten Regeln hatte jegliche Wagen verboten. Die Söldlinge trugen Bündel auf dem Rücken und Speere über der Schulter, ihre Ehefrauen und -männer schleppten Säcke mit Lebensmitteln und Lagerausrüstung, die Samitischen Heilerinnen trugen Rucksäcke mit Heiltränken, Verbandsmaterial und Kräutern. Liko mühte sich mit seiner festgezurrten langen Keule ab und schleifte noch eine weitere mit sich, während Stiggur auf seinem klappernden, surrenden Holzpferd ritt, das mit Ballen, Zelten, Kochgeschirr, überzähligen Waffen, allerlei Seltsamkeiten und Kindern überladen war, die auf ihm wie Möwen auf einem Pier saßen. Helki und Holleb trabten mit ihren säuberlich über ihr glänzendes rötliches Fell geschnallten Rüstungen und Waffen wie Pferde bei einer Parade einher. Tybalt, Kwam und die beiden Magie-Studentin145
nen zerrten ein Travois hinter sich her, auf dem sich abgenutzte Kisten, Truhen und Taschen türmten, angefüllt mit magischem Allerlei und Krempel. Die brandvernarbten Köchinnen trugen Weizenmehl in den Taschen ihrer Hemden, während ein Betrunkener, der schief auf einem Maultier hing, den Schluß bildete. Der Goblin EggSucker war in ein Nest über dem Schweif des mechanischen Holzpferdes gezwängt worden und schlief. Ein verrückter muronischer Derwisch stapfte barfuß und mit sich selbst redend durch den Schnee. Es folgten noch verschiedene halbwilde Hunde, drei rotbraune Kühe an Haltestricken und etliche Hühner in kreuz und quer auf den Lasttieren festgezurrten Käfigen. Sechs Kartographen und Bibliothekare zogen ein Travois, das mit Fernrohren auf Dreifüßen, ledernen Kartenrollen, Schriftrollen und in Ölpapier gehüllten Pergamenten beladen war. Der Rest von Bardos Spähern ritt in einigem Abstand neben dem Zug her. Dieser bunte Haufen nahm gemächlich die Lichtung in Beschlag: Die Leute ließen ihre Bündel fallen, errichteten Zelte, hoben die Röcke oder knöpften die Hosen auf, um sich zu erleichtern, gruben Feuergruben, fällten Bäume für Feuerholz, schlachteten das auf der Reise erbeutete Wild, erforschten die Wälder, spielten ihren Freundinnen und Freunden Streiche und machten sich eifrig an die hundert anderen Aufgaben, die nötig waren, damit die Armee einen weiteren Tag überlebte. Rakel stand auf einem niedrigen Hügel, die behandschuhten Hände in die lederverstärkten Hüften gestemmt, und schüttelte vor Abscheu den Kopf. Sie wandte sich an Gull: »Was für ein schamloser, verrotteter, lausiger Haufen von Vogelscheuchen! Eine richtige Armee würde sie lebendig auffressen und nichts als ihre Schreie übriglassen!« Mißmutig verteidigte Gull seine Leute. »Wir haben gegen Karlis fliegende Teppichreiter und diese blaue Kavallerie ganz gut ausgesehen.« 146
»Was!?« Rakel starrte ihn an, als sei er verrückt geworden. »Du hast zehn Soldaten verloren, ein Drittel deiner Armee! Das ist eine Niederlage, ganz egal wie du es drehst und wendest. Noch so ein Sieg, und du wirst nicht einmal mehr einen lahmen Hund zum Kommandieren haben!« »Gut, daß du sie ausbildest. Darüber sind wir uns wohl einig, oder?« Tatsächlich war er sich nicht sicher, worauf sie sich geeinigt hatten, außer daß sie behauptet hatte, die Armee in eine schlagkräftige Kampfgruppe verwandeln zu können. Das paßte ihm ganz gut, denn er war nicht einmal in der Lage, auch nur die geringste Kleinigkeit zu planen. »Gib ihnen Zeit, sich niederzulassen, dann werden wir...« »Nein. Wir haben keine Zeit. Dieses schleimige grüne Ding zieht Schwierigkeiten nur so an, und jede Sekunde könnte die Katastrophe über uns hereinbrechen. Es würden nicht genug Leute übrigbleiben, um die Toten zu begraben. Nein. Wir beginnen jetzt. Jetzt... sofort!« Gull winkte ab. Rakel schob sich das Schwert in den Gürtel und rückte ihren Dolch zurecht, bevor sie den Abhang hinunterstapfte, um die Armee in Empfang zu nehmen - ihre Armee! Rakel befahl der Trompeterin, kräftig in das gekrümmtes Widderhorn zu blasen: »Ta-ruuu! Ta-ta-taruuuu!« Dann legte sie die Hände an den Mund und brüllte: »Sammeln! Alle! Und zack-zack! Rasch!« Gull mußte sich eingestehen, daß niemand das Signal sonderlich ernst nahm und sofort angerannt kam. Die Leute schauten sich an, zuckten mit den Schultern, legten ihre Arbeiten beiseite und schlenderten näher. Die Kriegerin stand auf einer Truhe mit Kochgeschirr, und die Menge fragte sich schwatzend und scherzend, was hier gesagt werden sollte. Eine Soldatin mit einem langen blonden Zopf rief: »Wer bist du? Ich kann mich nicht 147
daran erinnern, daß wir Tänzerinnen angeheuert hätten!« Der Scherz löste lautes Gelächter aus, bis Rakel einen behandschuhten Finger gegen die Spötterin erhob. »Du wirst es herausfinden, wenn du endlich die Klappe hältst. Inzwischen wird dir ein halber Tageslohn gestrichen, weil du unsere Zeit verschwendet hast. Wo ist der Schreiber? Wie heißt du? Niederhäuser? Gut, ab jetzt bist du der Quartiermeister, denn so nennt man in einer Armee den obersten Schreiber. Schreib dir den Namen der Frau auf. Denn ab sofort seid ihr eine Armee, und ich bin die Kommandeurin!« Die Leute wisperten und stießen einander an. Eine Frau fragte: »Was soll das, Gull?« Um zu antworten, stellte sich Gull neben Rakel, aber er stieg nicht auf die Kiste. Er war groß genug, daß ihn alle sehen konnten. »Ich bin der Anführer oder der General, oder wie auch immer sie mich nennen mag. Die Gallionsfigur, egal. Rakel wird ab sofort die Befehle geben. Sie kann das besser. Ich werde im Moment nur abwarten.« »He!« rief die große Possenreißerin mit wackelndem Zopf. »Was ist an ihr so besonders? Ich könnte es besser machen! Jede von uns könnte es!« Als Antwort sprang Rakel von der Kiste. Die Menge ließ sie durch, bis sie vor der blonden Frau stehenblieb. Sie war einen ganzen Kopf größer als Rakel, hatte große Brüste und Schultern so breit wie ein Scheunentor. Ihre Lederrüstung war zerschlissen, und die nackten Arme waren mit Dutzenden von Narben übersät. Rakel sah mit ihren zerzausten schwarzen Haaren und ihrer sauberen Lederkleidung vor dieser Amazone wie ein Kind aus. Sie erklärte der Spötterin: »Ich übernehme die Verantwortung, weil ich die beste Kriegerin in dieser Armee bin. Ich kann jeden von euch Bastarden fertigmachen. Hast du Lust, es auszuprobieren?« Die große Frau trat zurück, streckte vorsichtig den 148
Arm aus und legte eine Hand auf den Griff des riesigen Schwertes an ihrer Seite... ... und Rakel handelte blitzschnell. Ihr stiefelbewehrter Fuß schoß hoch, schwang sich in Hüfthöhe herum und traf den Ellbogen der Frau so hart, daß sie halb um ihre Achse gedreht wurde. Die Possenreißerin röhrte vor Schmerz und plötzlicher Wut und schlug mit der anderen Hand nach Rakel, doch diese duckte sich unter dem Hieb hinweg und schoß nach oben, so daß ihre Schulter von unten gegen den anderen Ellbogen der Frau krachte und diesen ebenfalls außer Gefecht setzte. Rakel schmetterte die Hand gegen die Kehle der Frau und erstickte deren Schmerzensschrei im Ansatz. Würgend taumelte sie nach hinten, und Rakel schlug ihr eine Faust gegen das Knie, um sie endgültig zu Boden zu werfen. Sie fiel auf den Rücken... Doch ein Mann, ein Freund der Amazone, riß das Schwert aus der Scheide und schlug johlend über Kopf nach Rakel... ... als deren Schwert aufblitzte und mit einem gewaltigen Klirren gegen die andere Klinge schlug. Das Schwert entglitt den tauben Händen des Angreifers. Rakel überwand seine schwache Verteidigung mit einem Sprung und ließ die Handkante unter sein Kinn krachen, so daß sein Mund mit einem trockenen Knirschen zufiel. Mit einem fürchterlichen Schlag gegen den Brustkorb warf Rakel ihn einen Schritt zurück. Überrascht stöhnte die Menge auf. Da nun beide am Boden lagen, packte Rakel den Arm der Amazone und drehte ihn nach hinten, bis sie schrie. Sie zerrte die Blonde wie einen Ballen Heu nach oben und schleuderte sie neben ihren Freund. Als sich ihr Blick klärte, sahen die beiden Söldlinge Rakels schimmernde lange Klinge vor ihren Augen. »Nun«, keuchte sie, »ich sagte, ich bin die Kommandeurin dieser Armee. Noch weitere Fragen?« 149
Die beiden schüttelten die Köpfe, vorsichtig darauf bedacht, nichts anderes zu bewegen. »Also schön. Aufstehen. Wir haben eine Menge Arbeit zu erledigen.« Sie schob ihr Schwert in die Scheide und erhob die Stimme. »Ich will, daß alle Kämpferinnen und Kämpfer mit einer Waffe ihrer Wahl sich hier in einer Stunde einfinden. Und wenn dieses Horn bläst, dann kommt ihr angerannt! Ist das klar!?« Murmelndes Einverständnis und Gebrumm war zu hören: »Ja.« »Schon gut.« »Klar.« Ihre Stimme wurde noch lauter. »Wenn ich eine Frage stelle, dann will ich ein >Ja, Frau Kommandeurin< hören! Laut und klar! Ist das klar!?« »Ja, Frau Kommandeurin!« schrien ein Dutzend Leute. »Waas!?« »JA, FRAU KOMMANDEURIN!« schrie ein halbes Hundert. »Gut. In einer Stunde. Und tretet im Laufschritt an! Wer als letzter ankommt, bekommt heute keinen Sold!« Als sie sich diesmal umdrehte, sprangen die Leute zurück. Einige halfen den beiden am Boden liegenden Söldlingen auf. Trotz allem, was sie hatten einstecken müssen, hatten sie weder Wunden noch Brüche davongetragen. Rakel trat an Gulls Seite: »Komm. Wir gehen mittagessen.« »Ja, Frau Kommandeurin!« brüllte der Holzfäller. Sie funkelte ihn an, und er grinste, doch sein Grinsen bröckelte. »Oh, sicher. Hier lang... äh... Rakel. Frau Kommandeurin...« Nach dem Mittagessen ließ Rakel das Horn erschallen, und die Söldlinge rannten Hals über Kopf herbei. Auch die Troßleute kamen heran, um die neue Anführerin bei der Arbeit zu sehen. Rakel verschwendete keine Zeit. Sie zählte neunzehn Söldlinge, darunter acht Frauen und vier der Wüstenka150
valleristen, die in der Schlacht in der Taiga gefangengenommen worden waren. Obwohl sie keine geläufige Sprache beherrschten, machten sie ihre Wünsche mit Zeichensprache deutlich. Alle nahmen an, daß sie nun zur Armee gehörten und behandelten sie wie Kameraden. Selbst wenn jemand von Gulls Leuten wegen des Angriffs Groll gegen die Soldaten hegte, mußte er sich doch danach richten. Rakel stellte immer zwei beliebige Söldlinge gegeneinander auf und ließ sie - drei Paare gleichzeitig - mit frei gewählten Waffen kämpfen, wobei jedoch Blutvergießen auf alle Fälle vermieden werden sollte. Neben ihr stand eine von Niederhäuser >ausgeborgte< Schreiberin, eine junge Frau namens Frida, die eine Feder, ein Pergament und ein Tintenfaß bei sich trug. Mit geübtem Auge beobachtete die neue Anführerin die Kämpfenden, studierte Stärken und Schwächen und sah, wobei sie sich auszeichneten und was sie zu verbergen suchten. Nach jedem Kampf nahm sie die Namen auf, ordnete sie auf einer Liste ein, gewährte ihnen ein wenig Ruhe und rief die nächsten Paare auf. Gull stand die ganze Zeit hinter ihr, beobachtete und lernte. Am Nachmittag ließ sie Gewinner gegen Gewinner antreten und stufte alle auf ihrer Liste ein, vom tölpelhaftesten selbstherrlichsten Neuling bis zur ältesten, härtesten und gewieftesten Veteranin. Selbst dieser konnte sie jedoch noch einige Kniffe beibringen, was ihr widerwilligen Respekt einbrachte. Kurz vor Sonnenuntergang ließ sie die Übungskämpfe beenden, und die Leute machten es sich aufseufzend bequem, stöhnten jedoch erneut auf, als Rakel die nächste Aufgabe in Angriff nahm. Über die Hälfte der Söldlinge hatten Anhang im Lager: Ehefrauen und Ehemänner sowie Kinder, vom Säugling bis zum Halbwüchsigen. Viele von ihnen waren Handwerker, die ihre Güter und Dienste an die Armee verkauften: Schmiede, Köchinnen, Sattler, Kessel151
flickerinnen. Einige Männer stellten sich als Bettgenossen heraus, und die große blonde Witzdrossel hatte nicht nur eine, sondern zwei Gefährtinnen, die bei ihr im Zelt lebten. Einige Krieger waren nichts als Söldner auf Beutesuche, und es gab etliche Jungen und Mädchen, die von ihren langweiligen Höfen fortgelaufen waren. Viele von ihnen waren entwurzelte Familien, die von Kriegen, Zauberern, Seuchen oder brutalen Tyrannen verjagt worden waren. Für Rakel war es nicht wichtig, warum jemand der Armee beigetreten war, wichtig war nur, daß sie freiwillig gekommen waren. Sie erklärte es Gull: »Freiwillige können sich über Befehle, die ihnen nicht passen, nicht beklagen, denn sie können die Schuld niemand anderem als sich selbst zuschieben.« Als nächstes ordnete sie an, daß das Lager niedergerissen und neu errichtet werden sollte. Die Männer und Frauen hatten ihre Zelte nach Belieben aufgestellt, wie es ihnen gerade gefiel: um etwas von der Sonne abzubekommen, den Sonnenuntergang betrachten zu können, mit der Nachbarin gegenüber zu plauschen oder aus anderen nichtigen Gründen. Kochfeuer, Dunghaufen, Müllberge und Abfall waren überall willkürlich verstreut, doch Rakel unterband all das. Sie spazierte herum, zerrte Zeltpflöcke heraus, kickte Bündel zur Seite und borgte sich dann ein Seil vom Pferdetreiber. Sie stellte Frida an das eine Ende, zog es straff und markierte eine Linie zwischen den Blättern, dem Dreck und den niedrigen Büschen der Lichtung. Alle Zelte mußten in einem militärischen Schritt Entfernung genau neunzig Finger - von dieser Linie errichtet werden. Unter neuerlichem Stöhnen, aber mit widerwilliger Bewunderung bauten die Söldlinge das Lager neu auf. Aber es gab noch mehr zu tun. Genau hundert Schritt von der letzten Reihe entfernt wurden im Wald die Latrinen ausgehoben. Einfache Löcher wurden gegraben, neben denen eine Schaufel bereitgelegt wurde, um Erde über die Exkremente zu werfen. Alle, die dabei erwischt 152
wurde, daß sie die Latrinen nicht benutzen, sondern sich statt dessen hinter Büschen oder einem Baum erleichterten, sollten mit nacktem Hintern über einen Stapel Klafterholz gelegt und geprügelt werden, bis die Hinterbacken bluteten, egal ob Mann, Frau, Kind, Söldling, Troßangehöriger oder Offizierin. Der Armee wurde eine Stunde Zeit für das Abendessen gewährt. Bislang hatten sich alle am Ende des Tages zum Ausruhen und Schwatzen niedergelassen, ihre schmerzenden Stellen massiert und sich entspannt, doch nun erklang das Horn erneut: Die Leute murrten, rannten aber los. Die Schreiberin der Obristin, Frida, verlas die Ernennungen der Offiziere. Ließ man die Späher und die Kavallerie (Kavallerie?!) außer acht, gab es drei Kompanien: die Roten, die Blauen und die Grünen. Hauptmann Varrius würde die Rote Kompanie führen, Hauptmann Neith die Blaue und Hauptfrau Ordando die Grüne. Ordando war mehr überrascht als alle anderen, denn sie war der große blonde Spaßvogel, den Rakel diesen Morgen verprügelt hatte. Als Rakel ihr gratulierte, brachte Ordando nur ein Stammeln wie ein Bauernmädchen beim Tanz heraus. Rakel machte noch weitere Ankündigungen. Da Uniformen mehr als nur Uniformen waren, hatten alle Söldlinge eine gefärbte Kokarde am Hut zu tragen. Sie erwartete, daß die Kokarden beim morgendlichen Frühappell (Appell?!) an ihrem Platz waren. Sie schloß mit den Worten, daß sie stolz auf ihre Kriegerinnen und Krieger sei und daß diese recht viel versprächen, doch noch ein weiter Weg zurückzulegen sei, bis die Armee in einem ernsten Gefecht nicht Gefahr lief, aufgerieben zu werden. Die Lichter sollten in einer Stunde gelöscht werden, und danach waren Gespräche verboten. Ihre Schreiberin verlas die Namen der Wachtposten - nicht nur einen, wie Gull es immer angeordnet hatte, sondern vier auf sich überschneidenden Routen. 153
Benommen taumelten die Leute zu ihren Zelten, nur eine kleine Gruppe von Soldaten sammelte sich um ein Feuer, um Branntwein zu trinken, über ihre neue Kommandeurin zu mutmaßen und ihre Zukunft in dieser Armee zu besprechen. Eine Stunde später wurde ihnen klar, daß Rakel ihre Arbeit sehr ernst nahm, denn sie kam mit einem vollen Eimer herbei und schüttete das Wasser ins Feuer, so daß die Soldaten mit heißer Asche und dreckigem Ruß bespritzt wurden. Rakel beendete ihren Dienst, indem sie mit der Schreiberin die Befehle des nächsten Tages durcharbeitete und dann das erschöpfte Mädchen entließ. Auf leisen Sohlen patrouillierte sie durch das Lager, erschreckte mindestens zwei Wachen und erwischte ein junges Paar, das sich in den Büschen vergnügte. Sie riß die beiden auseinander und warf den jungen Mann drei Schritt durch die Luft, so daß er schmerzhaft auf seinem nackten Bauch landete. Schuldbewußt schlichen sie zu den Zelten ihrer Eltern zurück. Sie erwischte eine Frau, die gerade ihre Röcke lüftete, und obwohl diese klagte, daß es zu weit und zu dunkel sei, um zu den Latrinen zu laufen, verpaßte ihr Rakel da, wo es weh tut, einen Schlag mit der flachen Seite des Schwertes und beobachtete, wie sie eilig davonhinkte. Endlich, als die Nacht am dunkelsten war, taumelte sie den Abhang zu ihrem eigenen Zelt hinauf, vor dem Gull saß, seine Axt mit einem Stein schärfte und die durch den Himmel wandernden Wintersterne beobachtete. »Du bist erstaunlich, Rakel«, flüsterte er, »du hast in einem Tag mehr erreicht als ich in sechs Monden.« Sie blieb nicht stehen, sondern öffnete nur ihr Wehrgehenk, kroch unter die Decke und legte ihre Waffen in Reichweite neben sich. »Ich habe noch nichts erreicht. Aber ich werde es.« Dann war sie eingeschlafen, so schnell wie eine erfahrene Soldatin es nur konnte, und überließ es Gull, sich 154
zu fragen, was es war, das sie so antrieb. Dann kroch auch er ins Zelt, legte sich neben sie und schlief ebenfalls ein. Die nächsten Tage verliefen alle gleich. Die Befehle prasselten so schnell und so heftig auf die Leute ein, daß ihnen die Köpfe rauchten. Aber Rakel ließ die Zügel niemals schleifen, im Gegenteil: Je schlagkräftiger die Armee wurde, um so strengere Vorschriften führte sie ein, bis die Söldlinge sogar für das Ausspucken um Erlaubnis fragten. Die drei Kompanien - Grün, Rot und Blau - waren klein, nur sechs oder sieben Soldaten in jeder, aber Rakel versicherte ihnen, daß sie mit der Zeit aufgestockt würden (wie, wußte niemand, aber niemand widersprach). Sie ließ jede Kompanie in Linie antreten, stellte die erfahrensten Kriegerinnen und Krieger an den Flanken auf und staffelte die frischen Rekruten in der Mitte, so daß die Veteranen verhindern konnten, daß sie in einer Schlacht davonrannten. Sie rekrutierte ohne Verzug und bot jedem Troßjungen oder -mädchen über Dreizehn einen Kadettenrang zum halben Sold, und konnte so sechs von ihnen gewinnen. Des weiteren gewährte sie allen erwachsenen Troßleuten den halben Sold und begründete dies damit, daß sie die Armee unterstützten und deshalb Lohn verdient hatten, was sie bei allen sehr beliebt machte. Rakel veränderte die Kampftaktik, denn sie erinnerte sich gut daran, wie die Söldlinge in der Taiga-Schlacht von der Kavallerie niedergemetzelt worden waren. So war es ihre erste Handlung, aus jedem Söldling einen Pikenträger zu machen. In den Wäldern wurden dünne Baumstämme geschnitten, und den zwei Schmieden der Armee wurden alte Schwerter und Eisenreste zum bearbeiten gegeben. Nach Rakels Anweisungen fertigten sie abnehmbare Speerspitzen, die auf die geschnittenen Stangen paßten. Alle Söldlinge mußten eine Stange tra155
gen, wenn sie reisten, und konnten, wenn nötig, ihr Geschirr daran aufhängen. Wenn zur Schlacht gerufen wurde, mußten sie die Spitzen befestigen und einen Wall aus erhobenen Lanzen bilden, die Enden fest in den Boden gerammt. Sie versicherte ihnen, daß kein Pferd, egal wie gut es ausgebildet war, eine solche Linie aus Stahl durchbrechen würde. Dann führte sie es ihnen vor, indem sie auf einem Schlachtroß gegen die Linie anritt. Das Pferd stemmte alle viere in den Grund, so daß Rakel kopfüber aus dem Sattel flog und schwer auf die Erde krachte. Zu ihrem und aller Erstaunen rannten gleich ein Dutzend Söldlinge auf sie zu, um ihr aufzuhelfen. Alle lachten, und der Zusammenhalt der Armee war enger als jemals zuvor. Aber es gab noch weitere Veränderungen. Alle Söldlinge mußten entweder einen Kurz- oder einen Langbogen mit sich tragen. Armbrüste hielt sie für zu langsam und zu schwer und überantwortete sie einem lodernden Feuer. Alle Soldaten mußten mit einem Schild parieren können, außer sie bewiesen ihr, daß sie ohne den Schild besser kämpfen konnten, wie zum Beispiel die Axtschwinger. Diese wurden zusammen mit einem Kameraden oder einer Kameradin aufgestellt, der oder die sie verteidigen sollte, wenn sie ihre Waffen gegen den Feind einsetzten. Einfache Hornsignale für Vormarsch, Rückzug, Angriff und andere Befehle wurden ausgeklügelt, in stundenlangem Drill eingeprägt und geübt. Als die Kompanien endlich schlagkräftig waren, ordnete Rakel an, daß sie sich nun gegenseitig ausbilden und herausfordern sollten, und der Wettbewerb, das Spotten und Necken trieb die Männer und Frauen dazu, sich mehr anzustrengen als je zuvor. Sie prüfte die etwa fünfzig Pferde im Lager und wählte einige davon aus - gleichgültig, wem sie gehörten -, um eine Kavallerie aufzustellen. Die vier Wüstenreiter - drei Männer und eine Frau, die langsam die ört156
liche Sprache erlernten - sowie zwei Männer und eine Frau, die bewiesen hatten, daß sie gut reiten konnten, ließ Rakel aufsteigen und rüstete sie mit Stiefeln und Säbeln aus. Um noch mehr Reiter zu bekommen, >stibitzte< sie Bardo zwei Späher, Channa und Givon, und stellte ihm dafür den männlichen Kentaur Holleb zur VerfügungSeine Gefährtin Helki wurde zur Hauptfrau der Kavallerie ernannt. Gefühlsduselig und sentimental wie immer, rannte sie zu Gull und beklagte sich jammernd, daß sie von ihrem Geliebten getrennt worden war, doch der Holzfäller weigerte sich, Rakels Befehle rückgängig zu machen. Der Kavallerie wurden gelbe Kokarden und Armbänder zugeordnet, und sie beschlossen, diese lang zu tragen, damit sie im Wind flatterten. Die an militärische Zucht gewöhnte Helki schluckte ihren Ärger hinunter und drillte ihre kleine Truppe den ganzen Tag und die halbe Nacht lang, bis sie so eng nebeneinander angreifen und abdrehen konnten wie ein Sperlingsschwarm. Bardo, seine verbliebenen vier Späher und nun auch Holleb wurden nicht mit einer speziellen Uniform ausstaffiert, denn sie sollten im Dunkel des Waldes nur schwer auszumachen sein. Statt dessen ordnete Rakel an, daß sie schwarze Federn an den Schultern tragen sollten, und erklärte ihnen, daß diese das Zeichen des Rabens seien. In Wirklichkeit wollte sie nur, daß auch diese Gruppe ein gemeinsames Emblem trug, denn die verschiedenen Einheiten der Armee waren in freundschaftliche Rivalität getreten, die, wie Rakel wußte, die Einigkeit verstärkte. Als weiteren Anreiz tüftelte sie eine Soldliste aus, die auf Beuteanteilen beruhte. Gull hatte die Beute immer zu gleichen Teilen aufteilen lassen - wenn es überhaupt welche gab -, doch Rakel änderte dies. Rekruten bekamen einen Teil pro Tag, Veteranen je nach Dienstjahren zwei oder drei, die Hauptleute fünf Teile, die Komman157
deurin zehn und Gull als General fünfzehn. Als Gull protestierte, daß er so viel nicht brauchen würde, erklärte ihm Rakel, daß Soldaten von Natur aus faul seien und selbst bescheidenste Ziele brauchten. Wenn ein Soldat den gleichen Sold wie ein Weibel oder eine Hauptfrau bekäme, wäre eine Beförderung wenig erstrebenswert für ihn, und er würde sich kaum anstrengen, um zum Offizier ernannt zu werden. Der ohne jegliche militärische Kenntnis ausgestattete Gull mußte zustimmen, denn auf einmal traten einige Söldlinge hervor und erzählten von ihren bis jetzt unerkannten Fähigkeiten. Doch niemand beklagte sich, daß dieser außergewöhnliche Sold zum größten Teil nur auf dem Papier bestand, denn die zusammengewürfelte Armee zog oft mondelang durch das Land, ohne eine Kupfermünze zu Gesicht zu bekommen. Rakel hatte noch mehr anzuordnen. Sie erklärte Niederhäuser, jetzt Quartiermeister, und Gull, daß zwei grundlegende Punkte für die Schlagkraft einer Armee zu berücksichtigen waren: die Logistik und die Taktik. Die Taktik behandelte den Kampf: wie man den Feind aufspürte, ihn in eine Schlacht verwickelte, ihn vernichtete und verfolgte. Die Logistik beschäftigte sich mit den tausend Dingen, die eine Armee für ihre Ausstattung brauchte, damit sie überhaupt einsatzfähig war. Es durfte keinen Mangel an Nahrung, Zelten, Pfeilen, Kerzen oder anderen Vorräten geben. Niederhäuser, begeistert von den Zahlen, mit denen er jonglieren durfte, heuerte zusätzlich drei Troßleute an, die schreiben und rechnen konnten, um die Ausrüstung zu erfassen. Er kümmerte sich auch um Details bei der Jagd und bei der Vorratshaltung, damit immer genug Wild und Tierfutter vorhanden war. Nach einer Woche war das Lager blitzblank und quoll über vor Nahrung und Kameradschaft. Die Leute sprachen über nichts anderes als über Rakels Ideen, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten und über neue Vorschläge, 158
die sie vorbringen konnten. Sie versicherten sich gegenseitig, daß sie so etwas noch nie gesehen hatten, und daß diese Frau wahre Wunder wirken konnte. Doch Gull, der sie nachts unter der Decke im Arm hielt, wußte, wie zerbrechlich und ernst sie sein konnte. Manchmal weinte sie aus Gründen, die er nicht erriet, doch sie weigerte sich, ihm Antworten oder Hinweise zu geben. Außer einem Mal. Vollkommen erschöpft fragte ihn Rakel, wie viele Tage es noch dauern würde, bis der Nebelmond voll sei. »Warum ist das so wichtig für dich?« fragte er. »Gibt es eine Berufung, der du folgen mußt? Oder ist es dein Ziel, die Armee bis zu einem festgesetzten Tag in Schwung zu bringen?« »Sag es mir einfach«, seufzte sie. »Wie lange?« Gull spähte durch den Zelteingang und zählte mit den Fingern. »Vielleicht... acht Tage, oder sieben. Warum?« Aber sie rollte sich nur herum, drehte ihm den Rücken zu und schluchzte leise, bevor sie einschlief. Gull blieb zurück und wanderte leise durch das Lager, um auf den Mond zu starren und sich über die Undurchschaubarkeit von Frauen zu wundern. Nachdem sie die Soldaten, das Lager und die Troßleute in Form gebracht hatte, unternahm Rakel den nächsten Schritt. Die Wachen trieben alle Leute im Lager vor einer Phalanx von Schreibern zusammen, die ihre Namen und Berufe aufnahmen. Diese Zählung brachte einige erstaunliche Ergebnisse zum Vorschein. Zunächst einmal stellten sie fest, daß es im Lager fünf halbwilde Waisenkinder gab. Ohne daß es jemand bemerkt hatte, hatten sich diese Kinder aus Städten und Dörfern in die Armee eingeschlichen und ihren eigenen Clan gebildet. Sie lebten teils von Diebereien, teils indem sie bei wichtigen Aufgaben halfen: Sie sammelten Holz und holten Wasser oder bewachten die Feuer 159
und verdienten sich so eine Mahlzeit hier und eine Münze dort. Rakel setzte diesen Zuständen ein Ende. Die beiden jüngsten Kinder wurden Familien übergeben, die sie aufnehmen wollten, zwei weitere wurden den Köchinnen unterstellt, und die älteste, ihre Anführerin, ein noch nicht zehnjähriges Mädchen namens Dela, sollte Stiggur und seinem mechanischen Untier helfen. Und selbst das riesige Holzpferd wurde zur Arbeit eingesetzt. Stiggurs großes seltsames Tier war wie ein riesiges Maultier zum Tragen der Vorräte benutzt worden. Es war wie ein wandelnder Basar mit eisernen Kesseln, Zwiebelnetzen, überzähligen Waffen, Kisten, Kleidersäcken, trocknender Wäsche und anderem Kram behängt worden. Stiggur war stolz auf die Last, die es trug, denn die mechanische Konstruktion scheute nie und wurde niemals langsamer, doch Rakel gefiel dieser Zustand nicht. Sie entschied, daß das Un-Tier als Kriegsmaschine zu wertvoll war, um als Kleiderständer dienen zu müssen. Schmiede und Zimmerleute wurden gerufen, um es wieder in Schuß zu bringen. Da es wie ein Kriegselefant gebaut war, ordnete Rakel die Errichtung einer Plattform auf dem Nacken und dem Rücken des Holzpferdes an. Sie schützte den Steuermann vor Pfeilen und bot Platz für ein halbes Dutzend Bogenschützen. Der vor Ideen überschäumende Stiggur schlug vor, eine Ballista, eine riesige Armbrust, am Rumpf des Tieres zu befestigen. Der Junge war eingedenk der sich drehenden Getriebe und Seilzüge im Inneren der Konstruktion davon überzeugt, daß es ein leichtes sein müßte, ein weiteres Tau, einen Haken und einen Seilzug daran zu befestigen, die die schwere Bogensehne unter volle Spannung setzen konnten. Rakel hatte eine bessere Idee und kommandierte Liko zur sogenannten >Holzpferd-Truppe< ab. Wenn die Ballista gebraucht wurde, konnte der Riese ganz einfach die Sehne zurückziehen. Unterdessen wurde Liko beige160
bracht, mit dem Un-Tier zusammenzuarbeiten. Er sollte auf der rechten Seite des Holzpferdes kämpfen, so daß sein gesunder linker Arm geschützt war und sein rechter Keulenarm frei schwingen konnte. Stiggur und Liko übten voller Eifer - ein hölzernes Riesenpferd und ein holzköpfiger Riese, beide plump wie wandelnde Bäume, doch Rakel störte sich nicht daran. Sie hatte den Eindruck, daß allein der Anblick eines riesigen Holzpferdes und eines zweiköpfigen Giganten eine ganze Armee in die Flucht schlagen konnte. Nachdem drei Ochsen geschlachtet worden waren, kleidete man Liko außerdem in einen ledernen Kittel aus getrockneten Ochsenhäuten. Die Versuche zeigten, daß das Leder die meisten Pfeile abprallen ließ und so vielleicht sein Leben retten konnte. Rakel durchquerte das Lager und überprüfte die anderen Gruppen. Einige arbeiteten so gut, daß sie nicht mit Lob sparte. Die samitischen Heilerinnen in ihren blauen Gewändern und weißen Hüten verstanden sich auf ihr Handwerk und konnten mit jeder Wunde und jedem Unglück fertigwerden, indem sie Kräuter, Wissen und Magie mit freundlicher Aufmunterung und Gebeten verbanden. Ihre Sprecherin Amma erklärte, daß sie als umherreisende Heilerinnen der Armee beigetreten waren, da sie sich mit ihrer Mission einverstanden fühlten. Aus dem gleichen Grund hatten sich die Kartographen und Bibliothekare unter der älteren und ernsten Kamee der Truppe angeschlossen. Sie waren von Gull eingeladen und unter den Schutz der Armee gestellt worden. Oft waren sie tagelang abwesend, um das Land zu vermessen, Ruinen, Höhlen und Türme zu untersuchen, Karten zu zeichnen, Schäfer und Bauern zu befragen und wichtige Kleinigkeiten aus der Geschichte und Geographie des Landes auszusieben. Soweit sie konnten, zeichneten sie die ersten Karten und Geschichten dieses Kontinents auf, auf der Suche nach Hinweisen auf die 161
verlorenen Heimatländer von so vielen Mitgliedern der Armee. Im Augenblick waren die Bibliothekare mit Greensleeves unterwegs, um zusammen mit Tybalt, Kwam, Daru und Ertha Dutzende von Geschichten zu sammeln. Rakel ordnete sie im Geiste Greensleeves' Befehl unter und vergaß sie gleich wieder. Die Köchinnen, die unter dem direkten Befehl des Quartiermeisters standen, lebten auf durch die Abordnung zusätzlicher Hilfe und durch die Verbesserung der Jagd und der Vorratsbeschaffung. Rakel bestand nur darauf, daß sie die Lagerfeuer, die Schlachtplätze und die Kochstellen sauber und ordentlich hielten. Die meisten hatten entweder Arbeit, führten eine Waffe oder hatten andere wichtige Aufgaben zu erfüllen, so daß sich Rakel endlich um die Nichtsnutze kümmern konnte. Ihre Zählung hatte einen alten Mann ausfindig gemacht, der nichts anderes als ein stets betrunkener Säufer war und sich die ganze Zeit nur Schnaps kaufte oder erbettelte. Er wurde an einen Baum gebunden und mit Wasser überschüttet, doch er weigerte sich, in Zukunft den Alkohol zu meiden, so daß er schließlich vor die alte Chani geführt wurde, die ihn in eine ferne Stadt beschwor, in der das Bier sehr beliebt war. Der letzte überlebende muronische Derwisch wurde so lange zum Schweigen gebracht, bis er begriff, daß seine >Mission< über den Untergang der Welt herumzukreischen, Sünder zu verdammen, den Mangel an Glauben und Hoffnung zu beklagen und zu prophezeien, daß die Armee in Schrecken und totaler Vernichtung untergehen würde keine Arbeit war. Er erhielt eine Verwarnung und wurde aufgefordert, sich entweder nach einer Arbeit umzusehen oder die letzten Zuckungen der Schöpfung irgendwo anders abzuwarten. Er entschied sich zum Reisigsammeln in den Wäldern, wo er unablässig finstere Prophezeiungen ausstieß. Der graugrüne Goblin Egg-Sucker, der von Diebereien 162
lebte, blieb bis zum Schluß übrig, da er ein Experte im Sich-verstecken und Sich-vor-der-Arbeit-Drücken war. Rakel wollte, daß Chani ihn in eine andere Dimension verbannte, doch dieses Mal widersprach Gull. Er erklärte, daß Egg-Sucker ihr >Glücks-Maskottchen< sei und seit dem ersten Angriff auf Weißfels bei ihnen gewesen war. Er war nun der letzte Überlebende seines Clans und verdiente eine Chance, sein Heimatland zu suchen. Rakel ließ sich erweichen und wies ihn den Spähern zu, was bedeutete, daß er den ganzen Tag im Wald umherstreifen und Vogelnester und Ameisenhügel ausplündern konnte. Nachts schlief er in einem selbstgebauten Nest auf dem mechanischen Holzpferd. Die einzigen, die zu leiden hatten, waren die Lagerhunde. Rakel erklärte, daß sie die Kinder bissen, Nahrung aus den Küchen stahlen, überall ihre Haufen hinterließen und mit ihren nächtlichen Kämpfen den Schlaf der Leute störten. Da niemand sie zu Kriegshunden ausbilden konnte, bedeuteten sie nichts als Ärger. Die Leute waren entsetzt, als Rakel sie zusammentreiben, schlachten und kochen ließ, doch die wichtigere Lehre war klar: Alle, die nur herumstreunen wollten, mußten dafür bezahlen. Die Lektion wurde noch drastischer vorgeführt, als Rakel eines Tages allen Angehörigen des Heeres befahl, ihre Habseligkeiten auf ihren Mänteln auszubreiten, damit sie sie in Augenschein nehmen konnte. Gnadenlos ordnete sie das Anzünden eines großen Feuers an, stöberte durch die Sachen der Leute und warf alles in die Flammen, was sie als > überflüssigen Ballast< ansah. Zerrissene Kleidung, zerlumpte Decken, überflüssige Werkzeuge, abgetragene Stiefel, Plunder und sogar die Puppe eines Kindes (es besaß zwei) wurden verbrannt. Diese Armee, verkündete sie, würde schneller marschieren können, wenn sie keine überflüssige Last mit sich herumschleppte. Während der ganzen Neuordnung der Armee folgte 163
Gull Rakel auf dem Fuß und beobachte sie ehrfürchtig. Auch er trug seinen Teil zur Arbeit bei: Er tröstete verletzte Gefühle, erteilte Ratschläge, beruhigte Gemüter und traf Entscheidungen, wenn Rakel beschäftigt war. Er entschuldigte sich selbst bei den Wächtern, die er beschuldigt hatte, beim Dienst eingeschlafen zu sein, als Greensleeves verschwand. Rakel lobte ihn dafür: Ein General sollte eine Vaterfigur mit menschlichen Fehlern sein, während die Kommandeurin eine kaltblütige, gnadenlose Schleiferin sein mußte, die die Söldlinge auf dem Zahnfleisch daherkriechen ließ, um sie zu formen und zu stählen. Aber am meisten war Gull von seiner neuen Freiheit fasziniert. Ohne die kleinlichen Details, die ihm die Zeit stahlen und ihn in seinen Träumen heimsuchten, fand er nun endlich Muße, um über ihre große Aufgabe nachzudenken. Er konnte den nächsten Zug planen - wie auch immer der aussehen mochte -, wenn er erst mit Greensleeves, Rakel und Chani geredet hatte. Und mit Lily.
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Gull fand eine Menschenmenge vor, die es sich in Chanis Tal vor dem Berg bequem gemacht hatte. Neben seiner Schwester, Lily und der Druidin waren alle Bibliothekare versammelt. Sie waren zu viert, geführt von Kamee, einer älteren Frau mit ernsten Gesichtszügen und schimmernden silbernen Strähnen im blonden Haar. Die Bibliothekare trugen alle ähnliche Kleidung: einfache, kräftig gefärbte Jacken mit vielen Taschen für Federkiele, Tintenfäßchen, Rollen aus Pergament und Velin, sowie ausgebeulte Röcke oder Hosen. Ihre Finger waren zierlich, aber kräftig und tintenbefleckt Greensleeves umarmte ihren Bruder zur Begrüßung, und Gull war überrascht, als man ihm sagte, daß er für Tage - nicht mehr als eine halbe Meile entfernt - verschwunden gewesen war. Er bemerkte noch etwas anderes: Greensleeves hatte immer den selben zerfetzten grünen Schal getragen, den ihr ihre Mutter zum zwölften Geburtstag gestrickt hatte. Doch nun war er mit winzigen Objekten aller Formen und Größen übersät. Einige erkannte er: eine Uferschneckenschale, ein getrocknetes klumpiges Austernpilzstück, einen Kiefernsamen, eine verdrehte Weinranke, eine Strähne graues Pferdeschweifhaar, eine ausgetrocknete Weizenhülse, ein Spinnennetz. Bei einigen Dingen fragte er sich, wie sie diese wohl bekommen hatte: der Zahn eines Bären, eine Löwenkralle, eine wie ein Dolch geformte Nadel, eine Perle, eine grünblaue Gemme. Er griff nach einem Zipfel des geflickten Schals und fragte: »Was ist...« »Oh!« Greensleeves schüttelte ihre wilden braunen 165
Locken und spähte flüchtig auf ihre Schultern. »Das ist mein Katalog.« »Dein Kata...« »Mein Grimoire! Mein Magiebuch! Jede Zauberin braucht am Anfang eines, sagt Chani. Erinnerst du dich daran, daß Towser ein kleines Buch an seinen Gürtel gekettet trug? Und daß Dacian, die braungewandete Zauberin, eine Tasche über der Schulter hatte? Nun, dieses hilft mir, mich an meinen Katalog von Monstern und Sprüchen zu erinnern. Schau, das ist ein Pilz für den Fungusaurus. Und diese Nadel...« Sie hielt inne und folgte seinem Blick. Sie sah Lily, die ganz allein im winterlichen Wald verschwand. Greensleeves führte ihren Bruder zu der Versammlung. Chani saß noch immer auf dem sonnenbeschienenen Stein, doch sie teilte sich den Platz mit dem grünen Gehirn, das heute wie eine Schildkröte aussah. Um den Stein hatten sich vier Bibliothekare versammelt, die flüsternd miteinander berieten, zuhörten und den unaufhörlichen plappernden Strom an Worten mitkritzelten, den das lebende Artefakt von sich gab. »Wie kannst du es nur aushalten, diesem Ding da zuzuhören?« wollte Gull wissen. »Ich würde verrückt werden.« »Das würden wir alle«, stimmte Greensleeves zu. »Wir wechseln uns ab und gehen dann weg, um das zu besprechen, was wir gehört haben. Dann formulieren wir Fragen, um zu sehen, ob wir es zu einem bestimmten Thema hinführen können. Aber das ist schwierig. Es hat den Verstand eines Papageis. Es kann dir erzählen, was es gesehen und gehört hat, aber es kann dir nicht erklären, was es bedeutet. Wir...« Gull hielt seine zweifingrige Hand in die Höhe, um sie zu unterbrechen. »Hast du schon irgend etwas Vernünftiges aus ihm herausbekommen? Etwas, das wir gebrauchen können?« Greensleeves biß sich auf die Unterlippe. »Nun... ein 166
Teil seiner Macht liegt darin, daß es seine Form verändern kann, so daß man es vielleicht verstecken könnte. Es war so lange in einen Steinbehälter gestopft gewesen, bis es dessen Form angenommen hatte. Erinnerst du dich, daß das Ding umbunden und ausgebeult aussah? Chani glaubt, daß das ein Abdruck der alten Riemen war, mit der man die Schachtel zugebunden hatte. Und es hat ein Gespür für seine Zuhörer, denn es arbeitet nicht für alle Zauberer. Für Towser blieb es verschlossen, und für Karli wurde es zu einem Geist, so daß sie es nicht stehlen konnte. Aber liegt es daran, daß es uns mag? Wir haben erfahren, daß die Weisen von Lat-Nam darum kämpften, wer es besitzen dürfe. Irgendwann hat es aber jemand gestohlen, ist in eine Wüste geflohen und dort von den Geiern gefressen worden. Wir wissen aber nicht, wer es war. Schließlich hat das Konklave der Weisen das Artefakt in die rosafarbene Schachtel eingeschlossen und es zum Himmel geschickt, so vermuten wir.« »Was? Wie denn?« »Das wissen wir nicht. Es sagt, daß es in der Schachtel dunkel war, aber es flog über den Himmel hinaus. Ich hätte nie gedacht, daß der Himmel eine Decke hat, aber es muß wohl so sein. Es war da draußen, mitten unter den Sternen, wo es kalt ist oder nicht kalt, nur... leer?« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber wie benutzt du es, um andere Zauberinnen zu beherrschen? Zeigst du nur auf sie und sagst >Ich befehle so und so Oder verwandelt es sich in Ketten und fesselt jemanden?« Ein weiteres Achselzucken antwortete ihm. »Das haben wir noch nicht herausgefunden. Wir hoffen, daß es uns das erklären wird.« Gull schüttelte den Kopf. »Ich bin froh, daß du damit arbeitest und nicht ich. Hast du irgendwelche neuen Tricks gelernt? Hat Chani dir schon beigebracht, ein Kaninchen aus dem Ärmel zu ziehen? Oder wie du Kreide 167
in Käse verwandeln kannst? Oder wie du Leute mit dem Höllenfeuer verbrennst, damit sie deinen Arm loslassen?« Seine Schwester runzelte ärgerlich die Stirn, doch sie war auch zerknirscht. »Ich weiß. Du bist immer noch sauer, weil ich dir diesen... Blitzschlag verpaßt habe. Aber das war ein Unfall, und du solltest andere Leute nicht am Arm festhalten. Und außerdem kann Magie auch Gutes vollbringen. Ich habe Chani alles über dich erzählt, wie du dich um mich gekümmert hast...« »Gekümmert hast?!« »Unterbrich mich nicht. Und daß du der Holzfäller des Dorfes warst, der stärkste Mann im Tal, aber daß du ein verkrüppeltes Knie hast...« »Warum sollte sie das interessieren?« »Still! Weil sie dein Knie heilen kann!« »Pfff!« schnaubte Gull. »Nicht sehr wahrscheinlich. Ich hab das vor drei Jahren abbekommen. Wenn es bis heute nicht geheilt ist...« Greensleeves stritt nicht weiter, sondern nahm seine Hand und führte ihn um die Bibliothekare und das Ding auf dem Felsen herum. »Sie hat mein gebrochenes Fußgelenk über Nacht geheilt! Und Füße sind schwieriger zu heilen als Knie: Sie haben mehr Knochen und sind kleiner. Also, hör nur zu. Chani?« Die alte Druidin öffnete langsam wie eine Kuh die Augen und brauchte eine kleine Weile, um klar sehen zu können. Sie holte zitternd Luft. Gull unterdrückte einen Schauer. Diese Frau war mehr tot als lebendig, und ohne Magie wäre sie längst Wurmfutter... wie lange schon? Jahre? Jahrzehnte? Doch ihr Tonfall war heiter. »Ah, ja. Der große Bruder. Der Holzfäller. Greensleeves hat mir von dir erzählt.« Gull fühlte sich wieder wie ein kleiner Junge. Diese Frau war so alt, daß sich eine tausendjährige Eiche neben ihr wie ein Samenkorn fühlen würde. »Sie erwähnte deine Hand. Darf ich sehen?« 168
Mein Knie, berichtigte Gull in Gedanken, doch er legte seine verstümmelte Hand in ihre gesunde. Drei seiner Finger waren sauber an der Handfläche abgetrennt worden: Als die Finger durch den stürzenden Baumstamm zerschmettert worden waren, hatte seine Mutter, Bittersweet, sie säuberlich mit einem Schälmesser an den Gelenken abgetrennt und die Haut über den Wunden gefaltet. Sie hatte sich zu weißem Narbengewebe verhärtet, das niemals braun wurde. Gull hatte schon vor Jahren aufgehört, sich wegen seiner Verstümmelung zu schämen. Dennoch verursachte es ihm ein seltsames Kribbeln im Bauch, als die Druidin so einfach darüberstrich, fast so, als würde der grauenvolle Schmerz der Wunde durch ihre schlangentrockene Berührung wiederkehren. Die alte Frau murmelte: »Leicht genug, wenn du weißt wie. Ja, ich kann dafür sorgen, daß sie nachwachsen, obwohl es...« Gull riß unwillkürlich seine Hand zurück. »Nachwachsen? Bist du verrückt? Das schaffst du doch niemals...!« Die alte Frau verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. Der Blick aus ihrem starren Auge durchbohrte ihn, während ihn das andere anblinzelte. Gull bemerkte, daß Chanis Augen so hellblau waren, daß sie fast farblos schienen. »Nein, ich kann sie nicht nachwachsen lassen. Aber du kannst es. Mit meiner Hilfe. Hast du noch nie davon gehört? Ein Salamander kann seinen Schwanz nachwachsen lassen, oder nicht?« Gull knetete seinen Handstumpf. »Na klar. Aber ein Mann ist kein Salamander.« Ein schiefes Schulterzucken antwortete ihm. »Richtig, nur ein Verwandter. Wenn du willst...« »Vielleicht könntest du dich um sein Knie kümmern, Chani«, warf Greensleeves leise ein. »Mein Bruder... äh... hält nicht so viel von der Zauberei.« Als Gull der Druidin sein verletztes Knie zeigte, kam er sich vor wie ein dummes Maultier auf dem Markt. 169
Das Knie sah völlig normal aus, doch nachdem es ihm einst durch einen umstürzender Baum gebrochen worden war, war es steif verheilt, so daß seine Beweglichkeit arg einschränkt war. Zudem schmerzte es bei schlechtem Wetter und ermüdete leicht. Wieder berührte die schlangenkalte Hand seine gebräunte Haut und ließ ihn erschauern. Die Druidin schloß die Augen, um besser fühlen zu können, und grub ihre überraschend starken Finger tief in seine Muskeln. »Ah, ja. Ein Unfall. Ein Baum. Eine schwarze Ulme, in deren Krone der Blitz eingeschlagen hatte, so daß sie aus dem Gleichgewicht geriet und umstürzte.« Sie kicherte, als sie das Erstaunen auf seinem Gesicht sah. »Es könnte fast wieder wie neu gemacht werden. Die Knochen haben Überbeine bekommen, tief drinnen. Wir müssen sie auflösen und dann die Sehnen entspannen...« Sie sang in einer altertümlichen Sprache leise und wiederholt ein einfaches Lied. Gull wartete ausdauernd, wurde dann aber ungeduldig, als sie weiter- und weitersummte. Er war nicht für >Hokuspokus< hierhergekommen, er war gekommen, um mit seiner Schwester zu reden. Und mit Lily... Eine Welle von Müdigkeit überflutete ihn plötzlich, er schwankte und fiel beinah um. Chani beendete ihren Gesang und nickte. Greensleeves blickte verwirrt. »Bist du in Ordnung, Bruderherz?« Gull faßte sich mit der Hand an den Kopf, schwankte noch mehr und mußte sich hinsetzen. »Nein. Ich fühle mich... schwach.« Ein Funken von Angst rührte sich in ihm: Es fühlte sich an wie die tödliche Schwäche, die so viele aus seiner Familie dahingerafft hatte. »Normal«, raspelte Chani, »völlig normal. Dein ganzer Körper muß Kraft opfern, um das zu heilen, was gebrochen war. Iß kräftig und schlafe, dann wird es dir gutgehen.« Gull glaubte kein Wort davon. Bei den Göttern, wie er die Magie und alle ihre verkommenen Anwendungen 170
haßte! Er torkelte auf die Füße, fand, daß sein Knie wackelig wie immer war, nur daß es tief im Inneren brannte. »Nein. Es geht mir jetzt gut. Ich werde gehen und nach... Lily sehen.« Er stolperte von dannen, und die beiden Druidinnen sahen ihm nach. Nachdem er im Wald verschwunden war, fragte Greensleeves: »Wird er gesund werden?« Chani nickte. »Ja. Sowohl im Kopf als auch am Körper.« »Im Kopf?« »Mhm. Der Zwiespalt zwischen der Magie und seinen Überzeugungen muß überbrückt werden. Aber jetzt zurück an die Arbeit. Sag mir, wie würdest du einen Baum dazu bringen, schneller zu wachsen?« Schmerzhafte Erschöpfung übermannte Gull, als er schlimmer denn je hinkend - Lily einholte, die durch gelbbraune Eichen- und Buchenblätter dahinschlenderte. Sie trug noch immer das weitgereiste Winterkleid und ihre Weste, die mit gelben, blauen und roten Blumenverzierungen bestickt war. Auch der Saum ihres weißen Umhangs war mit Blumenornamenten geschmückt. An den Füßen trug sie empfindliche Schuhe aus Ochsenleder, und ein weißer Hut verbarg ihre dunklen Locken. Als Gull näher kam, versteifte sie sich. »Äh... wie geht's dir, Lily?« »Ich fühle mich vernachlässigt«, schmollte sie, und ihre dunklen Augen unter den langen Wimpern blitzten auf. Sie hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen, so daß Gull sich bücken mußte, um sie anzusehen. »Chani hat keine Zeit, um mich zu unterrichten, Greensleeves ist mit Lernen beschäftigt, die Studentinnen und Studenten untersuchen das grüne Gehirn, die Bibliothekare kritzeln, du übst bei Tag und ringst in der Nacht mit deiner Amazone, und ich... tue nichts.« »Ich... äh... ich dachte, du übst dich in der Zauberkunst? Du lernst fliegen!« 171
»Hast du mich fliegen sehen?« Sie fuchtelte mit den Händen durch die Luft. »Irgend etwas beschwören? Durch das Nichts reisen? Ich werde vielleicht niemals richtig fliegen können oder irgendwas beschwören. Chani hat eine Minute gebraucht, um mich zu untersuchen, hat aber nur gesagt, daß meine und Greensleeves' Magie unterschiedlich ist. Greensleeves nutzt die Naturmagie, und ich nutze... nur wenig. Chani glaubt, daß ich die Zauberkraft des Himmels nutzen kann, oder Wolken-, oder Nebel-, oder Sonnenmagie. Deshalb ist sie so schwer zu greifen, sagt sie. Ein Baum ist fest und randvoll mit Magie, aber Sonnenlicht, das sich auf dem Klee spiegelt, ist verstreuter Kleinkram, nur Tropfen und Pfützen. Und ich bin hier unten, und der Himmel ist da oben, und wie kann ich ihn anzapfen? Eine Pilgerfahrt auf einen Berggipfel unternehmen? Immer wenn ich denke, daß ich kurz vor dem Durchbruch stehe, verpulvere ich das Mana. Ich müßte eine Honigbiene sein, die Tonnen von Mana wie Nektar für einen Humpen voll Honig sammelt. Ich...« Sie verstummte plötzlich, denn sie verabscheute Weinerlichkeit, ganz besonders ihre eigene. »Chani nennt mich Lily, die Weiße. Kannst du dir das vorstellen? Das Symbol für Reinheit für einen Bastard und eine Hure! >Weiß< paßt genauso gut zu mir wie >Lily<.« Wieder einmal fiel Gull auf, daß er immer noch nicht wußte, ob sie einen anderen Namen besaß, und daß er sie noch nie danach gefragt hatte. Der Holzfäller rieb sich das brennende, schmerzende Knie. Er war müde bis auf die Knochen und hungrig wie ein Bär. »Ich habe niemals über dich als Hure nachgedacht, Lily, selbst damals nicht, als du für Towser... gearbeitet hast. Das Leben ist hart, und du hast ums Überleben gekämpft, so wie ich. Ich habe den heiligen Eid geleistet, Zauberer zu töten, und am Ende habe ich doch für einen gearbeitet. Wenn man irgendwas sagen kann, dann, daß du ehrlicher warst als ich. Und Lilien sind 172
schön und rein, egal wo sie nun wachsen, selbst wenn sie auf einem Misthaufen blühen. Ich weiß, daß dein Herz rein ist...« »Still!« Sie trat auf ihn zu und legte ihm einen Finger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Doch als er nach ihrer Hand griff, wich sie zurück. Trotz ihrer selbstauferlegten Trübsinnigkeit heiterten sie seine freundlichen Worte auf. Aber Komplimente lösten ihre Probleme nicht, und so wechselte sie das Thema: »Wie geht es dir, Gull? Wie behandelt dich deine Männerfresserin? Ich wette, sie hat mehr Haare auf der Brust als du.« Gull überhörte ihre Stichelei. »Rakel wird von Sorgen bedrängt, die ich nicht ergründen kann. Sie stirbt innerlich, glaube ich, und verzweifelt vor Einsamkeit. Es ist nicht Lust oder Liebe, was sie sucht, nur... Nähe, Zuneigung. Du warst auch einmal so, du hast mich gebraucht. Dann hast du die Zauberei entdeckt...« Lily blickte zur Seite, doch Gull sah, wie Tränen von ihren Wimpern fielen. Er streckte die Hände aus, und dieses Mal glitt sie in seine Arme und weinte leise an seiner Brust. »Ich weiß nur nicht, was ich tun soll, Gull. Ich habe Magie in mir, aber ich kann sie nicht richtig anwenden. Als wäre ich ein unpassendes Gefäß, alt und zerbrochen und undicht...« Der Holzfäller schob ihren weißen Hut zurück und strich über ihr parfümiertes Haar. »Du bist weder alt noch zerbrochen, Lily. Du bist jung und stark und süß. Wenn überhaupt, würde die Magie nur deshalb nicht in dir bleiben, weil du zu rein dafür bist. Magie beschwört das Böse und den Ärger herauf und verdirbt alles, was sie berührt, nach allem, was ich gesehen habe.« Sie schniefte und schüttelte den Kopf, lächelte jedoch: »Du weißt, daß das nicht wahr ist, denn deine Schwester hat Magie in sich, und sie tut Gutes damit. Ich wünschte, ich könnte es auch.« Gull seufzte. Wieso war das Leben nur so schwierig 173
geworden? »Ich behalte Greenie im Auge, um sicherzugehen, daß sie nicht verdorben wird. Und ich denke noch immer, daß du die Magie nicht unbedingt anwenden mußt. Nur weil jemand gut darin ist... ich weiß nicht... Schweine zu schlachten, muß er noch lange nicht Metzger werden. Du wolltest einen Laden eröffnen, erinnerst du dich?« »Ja, aber ich würde verdammt wenig Kunden finden, hier draußen.« Sie gluckste. »Oh, du schaffst es, mich aufzuheitern, Gull, sei es auch nur, weil du genauso durcheinander bist wie ich. Aber zumindest dein Weg in diesem Leben ist klar...« »Ist er das? Manchmal frage ich mich... Es wäre schön, wenn du eines Tages wieder meinen Weg kreuzen würdest, dann, wenn du bereit bist. Du bist immer noch hier in meinem Herzen.« Obwohl Rakel seit neuestem auch dort war. Verstanden Frauen mehr von der Liebe als Männer? Lily spürte den Kampf in ihm und schob ihn sanft von sich weg. »Schön, das freut mich. Aber es ist immer noch mein Herz, das enträtselt werden muß. Ich weiß immer noch nicht, wer ich bin, oder was meine Bestimmung oder der Sinn meines Lebens ist.« Gull hob zu sprechen an, doch sie brachte ihn mit einem schnellen Kuß zum Schweigen und schenkte ihm ein tapferes Lächeln. »Kein Widerspruch! Ich streite genug mit mir selbst. Du kümmerst dich um die Armee, und ich kümmere mich um... mein Fliegen. Und wir werden sehen, wo das alles enden wird. Du kamst, um mit Greensleeves über den Aufbruch zu sprechen, oder?« »Nun, ja!« Er starrte ihr in die Augen. »Aber woher weißt du das? Sind alle Frauen Zauberinnen?« »Das ist ein Geheimnis.« Sie nahm seine Hand und führte ihn zur Senke zurück. Greensleeves aß gerade Suppe und Kekse und unterhielt sich leise mit den anderen über das grüne Gehirn und 174
seine wirren Aussagen, als sie ein lauter Schrei aufspringen ließ. Gull schoß aus Chanis Höhle wie von einer Ballista abgefeuert. Er war erschöpft, gähnend und mit schweren Augenlidern zur Senke zurückgekehrt, war in die Höhle gekrochen und wie ein Kind zusammengekrümmt auf einem Bärenfell eingeschlafen. Nun johlte und lachte er, ruderte mit den Armen in der Luft und vollführte einen Freudentanz. »Seht nur!« keuchte er. »Schaut her! Chani, vielen Dank!« Bevor noch irgend jemand blinzeln konnte, rannte Gull nach vorn, packte Chanis weißen Kopf und küßte sie auf die Lippen. Die alte Druidin lachte und versprühte Speichel, doch Gull kümmerte sich nicht darum. Er lachte vor Begeisterung aus vollem Hals, während er das rechte Bein zurück, vor und von Seite zu Seite schwang. »Das ist wundervoll! Keine Schmerzen! Und es ist so beweglich! Ein bißchen hart vielleicht...« Chanis Lächeln hielt an. »Das ist ganz natürlich. Deine Muskeln wurden jahrelang nicht benutzt. Mit der Zeit, in ein paar Monden, wird dein Knie so gut wie neu sein.« Greensleeves freute sich über die Begeisterung ihres Bruders und sagte: »Siehst du? Ich habe es dir gesagt! Sie kann Wunder wirken! Und wenn ich weiterstudiere, werde ich eines Tages auch solche Wunder vollbringen können. Hoffe ich...«, fügte sie hinzu. »Ich glaube dir, Greenie! Ich bin bekehrt! Es gibt auch gute Zauberei!« Er zauste ihr braunes Haar, so wie früher, als sie noch klein gewesen war, und beide lachten. »Ich werde von jetzt an gerecht sein! Ich werde nicht länger alle Magier beschuldigen, nur Böses zu verbreiten und nach Macht zu gieren!« Chani murmelte: »Das werden wir ja sehen.« Doch sie schmunzelte nichtsdestoweniger. 175
Die gute Laune verbreitete sich in der Gruppe, als sie nachts um das Lagerfeuer herum saßen und eifrig miteinander redeten. Das Wetter war so mild wie im Vorfrühling geblieben, und Greensleeves wußte, daß dies Chanis Verdienst war. Sie hatte die Hochebene verzaubert - oder, wie sie sagen würde, >das Wetter dazu ermutigt, mild zu bleiben< -, denn sie übte niemals Zwang aus. Greensleeves liebte die Vorstellung, die Astralkraft immer nur friedlich einzusetzen, doch manchmal machte sie sich Sorgen, ob sie diesen Grundsatz einhalten konnte. »Es gibt vier Stufen der Beschwörung, erklärte uns Chani...« »Ich glaube es, Liebling. Andere würden etwas anderes sagen«, warf die alte Druidin ein, die mit geschlossenen Augen dasaß, als sei sie eingeschlafen. Sie gluckste: »Sicherlich würden viele widersprechen. Nichts provoziert einen Streit mehr als die Entschlüsselung der Magie.« »Ja, gut...«, fuhr Greensleeves fort. »Auf der ersten Stufe kann man etwas, das weit entfernt ist, herbeibeschwören, etwas, das man berührt hat, mit dem man umgegangen ist und das man kennt. Auf der nächsten Stufe kann man sich selbst dorthin beschwören, wo man selbst einmal gewesen ist: Ihr Studenten nennt das >teleportieren<. Danach kann man vielleicht lernen, etwas zu beschwören, das man zwar nicht berührt hat, sich aber vorstellen kann. Und schließlich kann man sich an einen Ort beschwören, an dem man noch niemals war: Das nennt man >Dimensionsreisen<.« Sie sah sich im Kreis der durch das Feuer geröteten Gesichter um: Chani, Gull, Lily, Tybalt, Kwam, Daru, Ertha, Kamee und einer ihrer Bibliothekare. Rakel, keine Studentin der Magie oder der Volkskunde, saß allein am Rande des Lichtscheins und starrte in den Nachthimmel. Während die Gesichter der anderen durch den flackernden Schein des Feuers beleuchtet wurden, ließ der volle Mond, der ihr ins Gesicht schien, sie bleich aussehen, als 176
sei sie ein Gespenst, das zwischen ihnen saß - ungesehen, ungehört. In der Mitte saß das grüne Artefakt auf einem Felsen und hatte die Gestalt einer grün und braun gesprenkelten Laterne angenommen. Selbstverständlich plapperte es weiter, doch zum Glück flüsterte es nur. Tybalt hatte es um diese Form gebeten und erfreute sich daran, die Fähigkeiten des >Gehirns< auszuprobieren. Er stupste die Laterne an und sagte »Schwert«. Zischelnd wie eine Schlange zerschmolz die Laterne, als sei sie zu dicht ans Feuer geraten, verlängerte sich und floß in die Form eines Schwertes. Doch an seinem Ende war ein winziger flüsternder roter Mund. Tybalt gluckste vergnügt, doch die anderen beachteten seine Vorführung gar nicht. Greensleeves beendete ihren Vortrag. »Ich kann vertraute Dinge beschwören. Lily hat es erst einmal geschafft, etwas zu beschwören, doch sie kann auch fliegen, etwas, das sonst niemand von uns kann. Oder kannst du es, Chani?« Die alte Druidin schüttelte nur den Kopf. »Chani glaubt, daß ich für die nächste Stufe bereit bin... mich selbst irgendwohin zu beschwören. Bald. Ich bin mir da nicht so sicher, aber...« »Aber was?« fragte Gull. »Du schweifst ab, Greenie. Worüber bist du dir nicht sicher?« Greensleeves wurde still. Die Unsicherheit, die Furcht, die niemals weit weg war, kehrte zurück. Sie hatte Angst davor, ihren Geist auszusenden, denn sie fürchtete, ihn zu verlieren. Der Wahnsinn schwebte über ihrer Schulter wie eine Harpyie, doch sie hatte genug über sich selbst und die Magie gelernt, um zu wissen, daß sie niemals eine richtige Zauberin werden würde, solange sie diese Furcht nicht bezwungen hatte. »Greenie?« drängte Gull. Greensleeves rüttelte sich selbst aus ihren Träumen. Dies war nicht die Zeit, ihre Furcht vor dem Wahnsinn zur Schau zu stellen, nicht, wenn alle auf sie zählten. Doch oft kam sie sich wie eine Schwindlerin vor, die 177
Hoffnungen weckte, die sich vielleicht nie erfüllen würden. »Äh... jedenfalls, wenn ich mit meinen... Studien vorankomme, werde ich in der Lage sein, die ganze Armee irgendwohin zu... beschwören.« »So?« fragte Gull. »Wie wird uns das helfen, Zauberer zu fangen? Vergiß nicht unser Ziel! Wenn du uns irgendwohin beschwörst, kannst du uns dann neben so einem eisenbeschlagenen Bastard herunterfallen lassen, damit wir ihn ein wenig in Schwierigkeiten bringen können?« Greensleeves ärgerte sich nicht über die unterschwellige Kritik. Sie war die unverblümte Ausdrucksweise ihres Bruders gewohnt. »Vielleicht. Wenn du ein Objekt hast, das eine Zauberin >eingefangen< hat, dann kannst du manchmal die Spur aufnehmen und sie finden. Aber mal angenommen, wir finden eine Zauberin, dann... wenn wir das grüne Gehirn dazu benutzen können, sie zu fangen...« »Wie denn?« Greensleeves schmollte. »Würdest du mich bitte nicht immer unterbrechen? Wir... wissen es noch nicht. Wir wissen, daß das Ding mächtig ist. Es kann die Monde vom Himmel holen, wenn du den richtigen Befehl kennst! Aber wir müssen immer noch herausfinden, wie man Zauberer und Zauberinnen unterwirft...« »Das ist so, wie einen Zehn-Tonnen-Stein auf einem Katapult zu haben, doch den Hebel nicht zu finden. Was Gutes...« »Gull, halt die Klappe! Wir werden den Hebel finden! Wir brauchen Zeit! Magie ist eine sehr ungenaue Wissenschaft!« Ihr Bruder ließ ein lautes Seufzen ertönen, wandte sich jedoch dem nächsten Thema zu. »Sieh mal, selbst wenn du uns irgendwo hinbringen kannst und wir einen Zauberer schnappen, ist das so, wie eine Kakerlake auf dem Abtritt zu zertreten. Wir hätten dann einen aufgehalten, während hundert andere immer noch das Leben von Leuten zerstören.« 178
»Irgendwo müssen wir anfangen.« Greensleeves seufzte. Tybalt hob das grüne Schwert auf, untersuchte es im gelben Fackelschein und legte es wieder hin. »Kriegshammer.« Sich faltend und fließend verwandelte sich das Gehirn in einen langstieligen Kriegshammer mit einem quadratischen Kopf, einem Dorn und einem plappernden roten Mund. Tybalt packte die >Waffe< und vollführte einen Schlag gegen einen nicht vorhandenen Feind. Stille breitete sich aus. Die Jubelstimmung der Versammlung löste sich auf, als sie die Hoffnungslosigkeit ihrer Aufgabe erkannten. Die Nacht schien ihnen zuzuflüstern, daß sie blind umhertapsen, eine Armee anführen und Zauberer jagen konnten, bis sie alt und grau waren. In die Stille hinein fragte Greensleeves: »Tybalt, was tust du?« »Häh? Oh! Ich experimentiere nur!« antwortete der langnasige Student begeistert. »Vielleicht ist es eine Waffe, die wir brauchen. Ein Schwert oder ein... Speer. Vielleicht wird ein Zauberer gezwungen, dir zu gehorchen, wenn du ihn damit schlägst oder es nach ihm wirfst? Es gibt solche Legenden!« Niemand erinnerte sich an eine solche Geschichte, doch niemand widersprach. Gull bog das rechte Knie durch, denn er konnte kaum dem Drang widerstehen, seine neue Bewegungsfreiheit auszukosten. »Wir können nicht darauf warten, bis du durch die Dimensionen reist oder was auch immer tust, Greenie. Es ist Zeit weiterzuziehen. Zu marschieren.« »Weitermarschieren?« fragten mehrere Leute. »Ja. Rakel hat die Armee fabelhaft ausgebildet. Sie ist scharf wie ein Schwert und angriffslustig wie eine Viper. Alles, was wir brauchen, sind Drill und Verstärkung. Aber wir sind für jede Gruppe unserer Größe, oder sogar für noch größere, ein ebenbürtiger Gegner, sagt 179
sie. Und sie muß es ja wissen. Und wir haben jeden Fetzen Fleisch auf dieser Hochebene gegessen, gesalzen und gedörrt. Also ist es jetzt an der Zeit weiterzuziehen. Du kannst deine Studien unterwegs fortsetzen. Aber wir müssen uns für eine Richtung entscheiden, in die wir ziehen wollen.« »Es gibt keine Wahl.« Chanis rauhes Flüstern erschreckte sie alle. »Ihr kamt von Süden. Die Berge im Westen sind zu hoch, als daß ihr sie überqueren könntet, und die Hochebenen im Osten bieten gar nichts, also müßt ihr weiter nach Norden. Das Land fällt dort langsam ab und geht in die Ödlande über.« »Ödlande?« fragte ein halbes Dutzend. »Mhm. Tiefe Schluchten und steile Berge, einige eine halbe Meile hoch. Mittlerweile seit Jahren unberührt, wahrscheinlich randvoll mit Mana. Greensleeves und Lily könnten es für zukünftige Zwecke anzapfen. Und es gibt dort Ruinen und Höhlen zu erforschen, die wohl so manches Geheimnis bergen.« Tybalt kauerte über dem in einen Kriegshammer verwandelten Gehirn und sagte leise: »Helm.« Gull bemerkte: »Darf ich mal fragen, was eigentlich unser Endziel ist? Haben wir überhaupt eines? Wie lange sollen wir umherziehen, Mana einsammeln und hoffen, einen Zauberer fertigzumachen?« Greensleeves schürzte die Lippen. Gull starrte sie an, immer noch überrascht, wie groß und reif sie geworden war, seit er auf diese verzauberte Hochebene gekommen war. Wie eine ganz andere Person, und doch war sie dieselbe. Sie war wie sein Knie, zugleich alt und neu. »Letztendlich müssen wir ein Zuhause finden, einen Platz, an dem wir uns niederlassen und uns eine Gefolgschaft aufbauen können. Wenn wir in einer bewohnten Gegend siedeln und dort eine Burg oder eine Festung errichten, können wir die Einheimischen auf unsere Seite ziehen, und unsere ...« »Bist du verrückt?« Gull fuchtelte mit den Händen. 180
»Das würde uns zu Kriegsherren machen, bei den Unsterblichen! Sollen wir Menschen so versklaven, wie es die anderen Zauberer tun? Wie kann es richtig sein, wenn du es tust, aber falsch, wenn andere es tun?« Greensleeves rollte mit den Augen. »Bruder, denk nach! Wir können nicht ewig umherstreifen. Das hast du selbst gesagt! Und wenn wir Leute finden, die uns willkommen heißen, nicht als Eroberer, sondern als Freunde, können wir in einem Tal oder vielleicht sogar in einem Land für Ruhe sorgen, den Menschen den Frieden bringen und ihn aufrechterhalten.« Gull gab den Widerspruch auf. Er rieb sich das Gesicht mit beiden Händen. Das Narbengewebe seiner linken Hand fühlte sich kalt an. Konnte Chani wirklich seine Finger nachwachsen lassen? Er lebte nun schon so lange mit sieben, er würde sich mit zehn recht unbeholfen fühlen. Tybalt kicherte. Das grüne Artefakt hatte sich in einen schlichten Rundhelm verwandelt, war jedoch oben gefurcht, als sei es noch immer ein Gehirn. Beiläufig hob er den Helm auf, blickte hinein und stülpte ihn sich auf den Kopf - allerdings hatte er übersehen, daß dem Gehirn der rote Mund fehlte und daß es das erste Mal, seit sie es entdeckt hatten, schwieg. Gull stand auf. »In Ordnung. Laßt uns nicht länger über unsere Zukunftspläne streiten. Morgen können wir die Armee abrücken lassen. Rakel... Wo ist Rakel eigentlich?« Die Gruppe blickte sich um, sah sie jedoch nicht. Sie war verschwunden wie ein Gespenst. Dann sprangen alle auf, als Tybalt zu schreien begann - ein durchdringendes Kreischen, das anhielt, bis er heiser wurde. Er packte den Helm auf seinem Kopf, schlug um sich, heulte und trat um sich, so daß Gull fast zu Boden gegangen wäre. Schaum stand ihm vor dem Mund, seine Augen rollten in den Höhlen, und er schrie und schrie und schrie. 181
Fluchend riß Gull Tybalts Hände von dem Helm, ergriff ihn an der Krempe und zog. Er zerrte aus Leibeskräften und fluchte erneut - dieses Mal vor Angst. »Er klebt fest! Er geht nicht herunter! Greenie, hilf mir!« Aber die junge Zauberin saß nur zitternd und gelähmt vor Angst da. Da war es: roher Wahnsinn, ihre größte Angst, verursacht durch das mächtigste Artefakt aller Zeiten. Und sie war damit umgegangen, hatte es gar berührt! Gull zog und fluchte. »Dann eben Rakel! Verdammt! Wo ist Rakel?« Die Kriegerin war nicht weit entfernt, kaum eine viertel Meile. Sie kniete auf den durchnäßten Winterblättern, zog ihr Kurzschwert und drehte es um. Mit beiden Händen packte sie es fest am Heft und setzte es sich an die Brust, direkt unter die Rippen auf der linken Seite. Ihre Arme spannten sich, als sie sich bereit machte, sich die Klinge direkt ins Herz zu stoßen. Durch die Bäume erhellte der aufsteigende volle Mond den blauen Nachthimmel. »Meine Arbeit ist getan. Leb wohl Hammen, mein Sohn. Werde stark.« Sie stieß sich die Klinge in die Brust.
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Scharf wie der Zahn einer Viper durchschnitt die Schwertspitze Rakels lederne Weste, teilte ihre Haut, kerbte eine Rippe… ...und ein behender Fußtritt ließ das Schwert durch die Luft wirbeln. Gull hatte Leder von seiner Stiefelspitze eingebüßt, während Rakels linker Unterarm bis zum Knochen eingeschnitten war: Sie blutete wie ein abgestochenes Schwein. Aber sie lebte... noch. »Hast du den Verstand verloren?!« Gull packte sie an den Armen und riß sie in die Höhe. Fuchsteufelswild vor Zorn schüttelte er sie wie einen jungen Hund, doch sie hing nur schlaff in seinem Griff und nahm es hin. »Was tust du!? Willst du dich etwa umbringen!?« Was für eine alberne Frage, dachte Rakel. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Was würde Garth sagen, wenn er es wüßte? Überhaupt, wo war er? Würde es ihn überhaupt kümmern? Er hatte seine Magie. Aber warum sollte es Gull interessieren? O ja, er behauptete, sie zu lieben. Aber was bedeutete schon Liebe? Sie liebte ihren Sohn, und doch ließ sie ihn allein in einer Welt... »Antworte mir! Warum tust du das!?« Gull schüttelte sie so heftig, daß ihr Kopf wackelte. Da sie nicht antwortete, ließ er sie schließlich fallen wie einen Fisch auf den Bootssteg. Langsam wischte sie sich über die kalte Stirn. Ihr ganzer Körper war eiskalt, aber das war auch zu erwarten, denn schließlich sollte sie eine Leiche sein. Aber über ihre erhobene Hand strömte heißes Blut. Es war 183
überall: Es lief ihr den Arm herab, über das Gesicht und sprudelte unter ihren Rippen hervor. Der vor Wut zitternde Gull beugte sich über sie. Ein einziges Wort drang an ihre Ohren: »Warum!« Auch ihre Antwort bestand nur aus einem Wort, das den Sinn ihres Lebens ausdrückte: »Aus Pflichtgefühl!« »Pflichtgefühl? Wie bitte?« Mit den ratlos ausgestreckten Armen sah Gull in der Dunkelheit aus wie ein Baumriese zwischen den anderen Stämmen: groß, braun und vernarbt. »Mein Pflichtgefühl... als Mutter.« Beiläufig wischte sie sich den blutigen Arm an der Brust ab. Ihr Geist war benebelt, als sei sie bereits auf dem Weg in die ewige Dunkelheit. »Mutter!?« Das Wort ließ Gull aufhorchen. Er fiel vor Rakel auf die Knie, schnitt mit seinem Messer seine Tunika in Streifen und verband ihr den Arm. Sie hatte ein Kind? Hieß das, daß sie auch einen Gemahl hatte? »Ich habe einen Sohn, Hammen. Er wird vom Rat als Geisel festgehalten. Sie werden ihn töten, wenn ich meine Mission nicht ausführe. Ich hatte Zeit bis zum Vollmond, und ich habe versagt. Doch wenn ich tot bin und der Beschwörungsmagier mich nicht finden kann, denken sie vielleicht, daß ich beim Versuch, meine Pflicht zu erfüllen, umgekommen bin.« Plötzlich waren sie von Leuten umringt, die sich geschäftig um sie kümmerten, während sie fortfuhr. Greensleeves und Lily schnitten Stoff in Streifen und verbanden die Wunde unter ihren Rippen. Sie versuchte, sie wegzustoßen, aber sie schoben ihre Hände beiseite und arbeiteten eifrig weiter. »Falls ich im Kampf getötet worden wäre, würden sie vielleicht nicht die Schande meines Versagens an Hammen auslassen. Die Tutoren würden ihn nicht zu Tode quälen. Sie würden meinem Kind erlauben, in den Rang eines Kriegers aufzusteigen. So könnte er weiterleben im Gegensatz zu mir...« 184
»Ich verstehe das nicht!« fauchte Gull. »Ein Rat hat dich hergeschickt? Du hast doch erzählt, du bist von Karlis Armee aufgegriffen worden! Und was ist das für eine verdammte Mission?« Rakel legte sich auf den Rücken und starrte in die Dunkelheit, während die Menschen um sie herumstanden. Der Himmel war tiefschwarz, bis auf den hellgrauen Flecken des Nebelmondes. »Ich sollte dich und Greensleeves töten und eure Köpfe mit zurückbringen.« Die drei starrten sich fassungslos an. Gull bückte sich, schob die Arme unter Rakels Rücken und hob sie an die Brust. Niemand hatte sie so getragen, seit sie ein Kind gewesen war. So wie sie ihr Kind getragen hatte, vor langer Zeit, ihn in seine Krippe gelegt und ihn angelogen hatte, daß sein Vater bald zurückkehren würde. Wenn sie noch weiter darüber nachgrübelte, konnte sie vielleicht an gebrochenem Herzen sterben... Eine Stunde später hatten sie Rakel in Chanis Höhle auf ein zimtfarbenes Bärenfell und einige Decken gebettet. Das Feuer, eine einfache Grube in der Mitte der Höhle, war angefacht worden, so daß das gelbe Licht tanzende Schatten an die Wände warf. Sie nippte bedächtig an einem Krug mit Quellwasser, das Chani mit Hagebutten, Fieberklee und irgendeinem roten Pulver angereichert hatte. Sie sprach, aber nur mit dem Verstand, denn ihr Herz war weit entfernt auf der Suche nach Hammen und Garth. Tybalt, der noch immer wegen des Helmes, der auf seinem Kopf festsaß, wie von Sinnen schrie, war in Decken gewickelt und zum Krankenzelt geschleppt worden. »...und so war ich mitten in eure Schlacht mit jener Zauberin geraten. Ich half euch, um mich bei euch beliebt zu machen, um euch näherzukommen, um euch beide zu töten...« Greensleeves beugte sich auf ihrem dreibeinigen klei185
nen Hocker nach vorn. Ihr weißhaariger Dachs schob den Kopf neugierig unter ihrem Rock hervor, und sie kraulte ihm beiläufig den verfilzten Schnauzbart. »Aber Rakel, warum hast du nicht gleich von Anfang an um Hilfe gebeten?« Die Kriegerin starrte in die Flammen und trank einen weiteren Schluck Wasser: Sie war entsetzlich durstig nach dem starken Blutverlust. »Mein Auftrag war klar. Ich sollte euch töten. Ich dachte, ihr wäret wie jede andere Armee. Grausam, abgebrüht und raubgierig. Aber beinahe sofort erkannte ich, daß es nicht so war. Daß alles, was Sabriam und der Rat gesagt hatten, eine Lüge war - obwohl ich eine Närrin sein muß, um darüber überrascht zu sein. Jeder Rat eines jeden Clans lügt heutzutage. Benalia ist so sehr in Intrigen und Lügen verwickelt, daß die Stadt nicht einmal die Wahrheit erkennen würde, wenn sie nackt vor ihr stünde. Oder Anständigkeit. Oder Gerechtigkeit. Die Säulen eures Kreuzzuges. Ich hatte meine Aufgabe zu erfüllen, aber ich konnte es nicht, und ich wußte nicht, was ich tun sollte. Und so entschied ich mich, euch zu helfen, aber das bedeutete meinen Tod. So oder so...« Für eine Weile herrschte Stille bis auf das Knistern des Feuers. Lily, die im Elend aufgewachsen war und stets praktisch dachte, sprach als erste. »Ich sehe da keine Schwierigkeiten. Wir reisen einfach in diese Stadt, Benalia, und holen deinen Sohn zurück.« Rakel antwortete mit einem müden Schnauben. »Du hast Benalia noch nie gesehen. Es ist eine Stadt mit mehr als zweihunderttausend Einwohnern, die größte Stadt in den Domänen - zumindest behauptet man das -, und jeder Mensch dort ist ein ausgebildeter Soldat oder eine geübte Kriegerin. Wir haben Großmütter, die Gull mit einer Hand die Axt entreißen könnten, während sie ihn mit der anderen verprügelt.« Sie trank noch einen weiteren Schluck Wasser: Es war eis186
kalt und jagte ihr Schauer durch den Körper. Doch vielleicht lag es nur am Blutverlust, daß sie sich so leer fühlte. Gull bemerkte: »Lily hat recht! Wir haben genug Krieger und Zauberinnen, um diesen verdammten Rat zu stürmen und ihn dazu zu zwingen, deinen Sohn freizulassen.« Rakel schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich unendlich müde. »Der Rat tagt in der Großen Halle, und der Stolz der Benalischen Armee steht Schulter an Schulter um sie herum. Du kannst dich auch nicht hineinbeschwören, denn es gibt Wächterinnen gegen jede Art von Magie, es sei denn, sie wurden von irgendeinem anderen Magier außer Gefecht gesetzt. Benalia ist kein Ort, weißt du. Es ist eine riesiges Monster, das den Krieg ausspuckt. Sein Panzer besteht aus unzähligen Schichten von Lügen, Muskeln, Stahl, Gold...« Chani schnaufte. »Wo Menschen leben, kann eine Zauberin hingehen. Wächter hin, Wächter her.« »Ja«, bestätigte Greensleeves. »Wenn wir nur ein paar Leute auswählen, und uns den Rat packen...« »...an ihren Kehlen!« grollte Gull. »...und uns dann wieder hinausblinzeln...«, fügte Lily hinzu. »Aber wer von uns soll gehen?« »Ich!« rief Gull, »Und Rakel! Laß mal sehen... Bogenschützen ... Liko vielleicht... ?« Rakel zitterte am ganzen Körper. »Ihr redet... ihr diskutiert ... ihr... ihr meint es ernst! Ihr wollt es mit der ganzen Stadt aufnehmen? So viele Leben aufs Spiel setzen, nur um meinen Sohn zu befreien? Obwohl ich doch geschickt wurde, um euch umzubringen?« »Natürlich«, sagte Greensleeves. »Du bist unsere Freundin.« Rakel war überrascht, als ein lautes Schluchzen tief aus ihrer Brust hervorbrach. Dann weinte sie hemmungslos, und die anderen versuchten sie zu trösten. 187
Doch ihre Pläne verliefen bald schon im Sande. Sie wußten nicht genug, um eine Entscheidung zu treffen. Rakel berichtete, daß Guyapi, der Beschwörungsmagier, sie und ihre Trophäen bei Vollmond zurückholen sollte. Doch der Mond war bereits voll, ohne eine Spur des Zauberers. Was hatte die Verspätung zu bedeuten? Hatte er sich hierherbeschworen, sie beschattet, gesehen, daß Gull und Greensleeves noch lebten, und war wieder verschwunden? Nein, entgegnete Chani mit ihrer ruhigen Stimme. Sie hätte es gespürt, wenn irgend jemand so nahe durch die Dimensionen gereist wäre. Und dennoch: Warum hatte er sich verspätet? Und was konnten sie tun, wenn er schließlich ankam? Konnten sie ihn gefangennehmen? Ihn dazu zwingen, sie nach Benalia zu bringen (niemand von ihnen - nicht einmal Rakel wußte genau, wo es lag, nur daß es irgendwo im Westen war)? Und dann, konnten sie einfach Hammen packen und losrennen? Oder sich wegbeschwören? Sie wußten es nicht. Also mußten sie warten. Chani konnte sie warnen, wenn Guyapi ankam, und dann konnten sie ihre Pläne so gut wie möglich in die Tat umsetzen. Außerdem mußten sie weiterziehen. Überraschenderweise wollte Chani sie begleiten. Sie wollte ihre Höhle und ihre verzauberte Hochebene verlassen, ertragen, was nur ein Krüppel ertragen konnte, und mit der Armee ziehen. Es gab - so sagte sie - noch so viel, was sie Greensleeves beibringen wollte, danach würde sie >weiterziehen<, doch nicht durch diese Welt. In der Morgendämmerung, als sie noch immer um das Feuer herumsaßen, beschlossen sie aufzubrechen - in die Ödlande. Die Ödlande trugen ihren Namen zu recht. Vom Rande der Hochebene, an dem der Eichenwald endete, konnte die Gruppe das Land schon von Ferne erkennen. Das Buschland fiel zu einer Schlucht hin ab, von der Chani erzählte, sie sei einst ein gewaltiger Strom ge188
wesen. Das Wasser hatte sich einen Weg durch die zerklüfteten Ödlande gebahnt, so daß sie wie der Boden eines Flußbettes gefurcht waren. Sie erstreckten sich weiter, als das Auge reichte, verschmolzen mit den schroffen Sierras im Westen und ließen die Hochebenen im Osten hinter sich. Nun, vom Grunde des Flußbetts, konnten die Offiziere der Armee und die Zauberinnen sie aus der Nähe betrachten. Die Ödlande bestanden eigentlich aus zwei Landschaften: hohe Bergspitzen, Gebirgskämme und Tafelberge, die an vielen Stellen von Schluchten, Abflüssen und Flußbetten unterbrochen wurden - einige über eine Meile breit und andere zu schmal für ein Pferd. Direkt vor ihnen lag ein einzelnes Tal von etwa einer halben Meile Breite, von dem sich unzählige weite und enge Ausgänge abteilten. Die höheren Regionen lagen sicherlich zwanzig oder dreißig Schritt über ihnen, und es war sinnlos, hinaufzuklettern, es sei denn, man wollte noch mehr Ödland sehen. Einige der Gipfel boten gerade einmal dem Horst eines Adlers Platz, während andere an rasiermesserscharfe Schwertklingen erinnerten. Einige der Plateaus der Tafelberge maßen vielleicht eine viertel Meile im Quadrat, doch sie standen nur einzeln und ohne Verbindung zu den anderen Hochflächen, so daß man nur hinaufklettern konnte, um wieder hinabzuklettern. Die Armee mußte sich durch Schluchten, Abflußrinnen und Felsspalten schlängeln, und Gull freute sich über seine Entscheidung, zu Pferd und zu Fuß vorwärtszuziehen, da dieses Gelände für Wagen unpassierbar war. Es gab keinen flachen Boden breiter als eine Tischplatte, überall hob und senkte sich das Land, ein ständiges Auf und Ab. Oftmals war es so tief eingeschnitten, daß man sich leicht mit dem Bein darin verfangen konnte, und überall lagen Steine und Felsblöcke in allen erdenklichen Größen und Formen herum. Wir sind Mäuse, die durch eine Kiesgrube kriechen, 189
die von zerklüfteten Steinwällen umgeben ist, dachte Gull entmutigt. Falls wir überhaupt jemals hindurchkommen ... »Wenn es da kein Wasser gibt...« »Es gibt Wasser«, sagte Greensleeves. Gull blickte seine Schwester und deren Lehrmeisterin erstaunt an. Greensleeves ritt auf einer lohfarbenen Stute, der sie den Namen >Goldenrod< gegeben hatte. Die alte Chani saß in einem bequemen Sitz aus Brettern, Tierhäuten und Segeltuchplanen auf einem kleinen Pferd. Dem Pony machte die Last nichts aus, da Chani so leicht wie ein Spatz war. Gull fragte: »Woher weißt du das?« Sie blinzelte. »Man kann es riechen. Und die Pflanzen.« Gull biß sich auf die Innenseite seiner Wange. »Wenn du es kannst, reicht das.« Verwirrt blickte Greensleeves Chani an, aber die Druidin lächelte nur und schüttelte den Kopf über die Beschränktheit von Nicht-Druiden. Greensleeves war überrascht, daß niemand sonst das Wasser bemerken konnte. Seit sie die Hochebene verlassen hatten, waren all ihre Sinne feiner geworden. Sie wußte, daß das Wasser vor ihnen in kleinen Tümpeln und winzigen Rinnsalen plätscherte. Zwar war es versetzt mit Blei und Alkalien, aber trinkbar. Die Flora bestand aus verkrüppelten Eichen, Kastanienbäumen und gelbem Gras, das in Spalten und auf schmalen Simsen wuchs. Sie konnte die schlafenden Dohlen in ihren Nestern auf den Felsvorsprüngen hören. Sie spürte, daß die Maultiere vor ihnen - sie waren klüger als die Pferde - durch eine fremdartige Wesenheit viele Meilen weiter im Land beunruhigt waren. Sie merkte, daß sich im Südwesten ein Sturm am Horizont zusammenbraute. Sie hörte, wie die Präriehunde unter der Erde Schutz suchten, und sie wußte, daß die Felsen zum größten Teil aus Kalkstein, Feldspat und Quarz bestanden. Als sie Gull davon erzählte, murrte dieser über die 190
neuen Fähigkeiten seiner Schwester und fuhr fort. »Fein, Wasser gibt es also, jetzt brauchen wir als nächstes Futter für die Pferde. Kannst du oder Chani einen Heuschober beschwören?« Er war sich selbst nicht sicher, ob er scherzte oder es ernst gemeint hatte. »Das ist kein Problem«, antwortete Chani. Die verwelkte Dame thronte auf ihrem luftigen Sitz wie eine alte Eule, nur mit einem dünnen Umhang um die Schultern und einem geflochtenen Weidenkorb unter dem Arm: dies war alles, was sie besaß. Aber eine Sache störte Gull am meisten: Die Stille in diesem Land. Außer den Flügelschlägen von kreisenden Falken und Geiern war kein Geräusch zu hören, nicht einmal das Pfeifen des Windes, da die Bergkämme ihn ausschlössen. Gulls Atem dampfte nicht in der trockenen kühlen Luft dieses frühen Nachmittages. »Ich will das mal überdenken!« verkündete Gull der Menge. »Wo ist die Hornbläserin? Wir können...« Neben ihm räusperte sich Rakel. Ach ja, Rakel war die Kommandeurin, die für die Details zuständig war, während er sich um die Strategie des Feldzugs zu kümmern hatte. »Äh... gib den Befehl zur Rast, bitte, Frau Kommandeurin. Ich werd mit den Spähern reden.« Rakels einziger Kommentar zu Gulls neuer Wichtigtuerei war ein kurzes Nicken. Tiefe Sorgenfalten hatten sich entlang ihrer Augen und ihres Mundes eingegraben, da sie in letzter Zeit nur wenig Schlaf fand. Aber sie wußte, wie man Befehle erteilte. Energisch befahl sie der Trompeterin, zur Rast zu blasen. Als das Signal erklang und als Echo von den Felswänden zurückgeworfen wurde, glitten die Soldaten und Soldatinnen, die Troßleute, die Kartographen, die Bibliothekare, die Kavalleristen, die Köchinnen und der Riese aus den Sätteln und ließen ihre Bündel fallen. Sie rieben sich die Bäuche, schwatzten mit ihren Kameraden, gruben in ihren Taschen nach gedörrtem Fleisch oder getrockneten Früchten und entfernten sich scherzend vom 191
Lager (>Ich muß mir dringend die Beine vertreten<), um sich in einer Felsspalte zu erleichtern. Rakel befahl Varrius, Wachen aus seiner Roten Kompanie aufzustellen, und verbot den Köchinnen, ein Feuer zu entfachen. Gull war erfreut über diesen reibungslosen Ablauf, da er nun die Möglichkeit hatte umherzustreifen. Er wendete sein Pferd, den Apfelschimmel Ribbons, und ritt auf Bardo und Holleb zu, den Hauptmann und den Weibel der Späher. Ihre vier Kundschafter waren bereits bei Tagesanbruch zu zweit vorgeschickt worden. Der Paladin trug seine Kettenhaube über den Ohren und darüber einen Hut mit brauner Krempe, während der Kentaur seinen Helm und seinen Brustpanzer angelegt hatte. Er deutete mit seiner gefiederten Lanze auf die Schluchten. Sie rechnen mit Ärger, dachte Gull, aber haben mir noch nichts davon gesagt - interessant. »Was denkt ihr darüber?« rief er ihnen zu. Bardo runzelte die Stirn und tätschelte seinem Pferd beruhigend den Hals, da das Tier offensichtlich nervös war. »Es gefällt mir nischt. Da draußän ist etwas. Isch brauchä mähr als fünf Spä'er. Isch 'abe Ländär wie diese schon frü'är gese'än. Ein breitär Wäg könnte sisch als Sackgassä erweisan. Odär wenn man sisch dursch eine Spaltä quetscht, entdeckt man plötzlisch ein grünäs Tal. Man findät sie nur, wenn man den Wildpfadän folgt: Es wandärt von Grün zu Grün. Abär bei dieser Bewölkung kannst du disch leischt verirrän und du müßt wartän, bis die Sternä 'ervorkommän.« Sie schauten zum Himmel. Eine dichte Wolkendecke war herangezogen, und es sah nicht so aus, als wollte sie sich bald wieder auflösen. Gull drehte sich um und blickte zu der weit entfernten eichenbestandenen Hochebene zurück, über der sich die Wolken teilten und das fahle Licht der Wintersonne hindurchließen. War es Chanis Magie, fragte er sich, oder nur ein verzauberter Ort auf dem Tafelberg? Holleb grollte: »Dies Land wie unser Steppenland. 192
Größter Feind ist Wetter. Einen Moment Sonne, dann Regen wie Bindfäden. Oder Hagel, der töten kann. Oder Schnee bis zum Bauch. Keine Möglichkeit zum Vorhersagen bis zu spät.« »Außer die Druidin warnt uns«, sagte Gull und berichtigte sich rasch. »Druidinnen. Wir müssen aufpassen, daß wir nicht getrennt werden. Das ist das Wichtigste. Wir müssen Binsenbündel schnüren, irgendwas, das beim Verbrennen stark raucht. Einfetten vielleicht. Und darauf achten, daß jede Gruppe eins hat. Und Feuerstein und Stahl. Wenn sich jemand verirrt - hmm, wie sollen wir das machen -, soll er zwei Rauchsäulen hochschicken und an Ort und Stelle bleiben, bis wir ihn finden.« »Gut, wenn jemand fliegen kann«, grübelte Holleb. »Kann deine Freundin dort? Weiße Frau?« Gull schüttelte den Kopf. Lily konnte nicht mehr als ein bißchen schweben. Magie war eine verdammt unzuverlässige und unpraktische Sache, ärgerte er sich. »Warum glaubst du, daß da draußen irgendwas ist, Bardo? Greensleeves hat das auch gesagt. Sie meinte, die Maultiere könnten es spüren. Woher weißt du es?« Bardo zuckte mit den mächtigen gepanzerten Schultern. »Aber was? Eine Klapperschlange? Oder eine Horde Orks auf Kriegsmammuts?« Ein weiteres Schulterzucken antwortete ihm. »Man könntä eine 'erdä von Mammuts 'intär dieser 'ügelkettä versteckän. Abär sie nischt ernährän, und doch...« »Er recht«, krächzte Holleb. »Ich spüre vielleicht nur ein großes Ding und viele kleiner. Ich kann nicht sagen mehr.« Gull unterdrückte ein Seufzen. Er haßte es, aufgrund von unbestimmten Vermutungen und Vorahnungen Entscheidungen zu treffen. »Na schön. Wir werden bereit sein. Bardo, nimm einige von Ordandos Grünen, damit du mehr Späher hast...« 193
Greensleeves kam auf Goldenrod herangetrabt. »Irgend jemand nähert sich!« Sie deutete auf zwei winzige tanzende Punkte in der Ferne. Alle blinzelten in die Richtung und waren überrascht, daß sie sie als erste bemerkt hatte. Bardo schaute äußerst mißmutig drein. Es waren die mit Rabenfedern gekennzeichneten Späher Givon und Melba in ihrer ausgeblichenen graubraunen Kleidung auf ihren beiden schlammfarbenen Wallachen. Die beiden Geschwister hatten die gleiche dunkle Hautfarbe, und ihr gelocktes schwarzes Haar war kurz geschnitten. Melba erstattete Bardo Bericht. »Wir sind etwa vier Meilen vorgeritten. Keine Spur von Menschen. Einige Antilopenpfade überqueren ein Plateau und teilen sich dann. Es gibt dort vier Wege, die wir begehen können. Das Land fällt steil ab, vielleicht dreißig Schritt pro Meile. Wir werden dort nicht mehr als acht Meilen am Tag schaffen. Wahrscheinlich eher sechs.« Sie zögerte und schaute kurz zu Givon, der ihr zunickte. »Und wir sahen ein fliegendes Pferd.« Bardo schnaubte: »Ein Pegasus? 'at jemand darauf gesessän?« »Nein. Es flog sehr hoch, aber es war mit Sicherheit ein Pferd. Schmutzigweiß mit gelber Tönung. Es hatte Schwingen wie ein Geier, aber weiß. Und eine Mähne aus Federn, glauben wir.« Greensleeves trabte davon, um zu sehen, wie es Tybalt bei den Heilerinnen erging, doch Rakel gesellte sich zu ihnen und fragte: »Hat es irgendwas getan, als es euch sah? Ist es zurückgeflogen, um jemanden zu warnen? Oder näher herangekommen, um euch in Augenschein zu nehmen?« »Nein. Es verschwand im Norden. Es ist schwer, etwas am Himmel zu verfolgen, bei diesen ganzen Bergketten.« »Das wissän wir. Gutä Arbeit! Wartät!« Bardo fragte Gull: »Wie lange werdän wir 'ierbleibän?« Gull verrenkte sich im Sattel. Es war später Nachmit194
tag, und die Armee hatte bereits einige Zelte aufgeschlagen. »Laßt uns hier lagern. Das wird uns genug Zeit geben, uns an diese Berge zu gewöhnen und Marschpläne auszuarbeiten. Außerdem können wir unsere Wasservorräte auffrischen. Bardo, du nimmst dir Ordandos Leute und erforschst die Gegend. Fertige bis zum Morgengrauen eine Wegskizze. Ich werde dafür sorgen, daß die Köchinnen Holz sammeln...« Rakel räusperte sich, und Gull verstummte. »Äh... mach weiter, Bardo. Und du Rakel, wenn es dir nichts ausmacht.« Verdrießlich wendete er sein Pferd und galoppierte davon, bis er feststellte, daß er nicht wußte, wohin er gehen oder was er tun sollte. Er war der einzige Müßiggänger in der Armee, doch seine Aufgabe war es zu denken, erinnerte er sich. Also würde er denken. Gull übergab sein Pferd einem Jungen und einem Mädchen, die von dem Pferdetreiber zu den Stallknechten der Offiziere ernannt worden waren. Dankbar nahm er einen Weinschlauch von einer Köchin entgegen. Als er umherwanderte, freute er sich darüber, daß sein >neues< rechtes Knie, das inzwischen beinah so kräftig wie das andere war, ihn ohne zu humpeln vorwärtskommen ließ. Dann machte er es sich an einem sonnenbeschienenen Felsen bequem, nahm einen Schluck Wein, verschloß den Schlauch und starrte auf die Bergwände, um darüber nachzudenken, wie man sie am besten einnehmen konnte... und schlief prompt ein. Der erste Angriff erfolgte nach drei Tagen in den Ödlanden. Tagsüber gewährte ihnen die Marschordnung Sicherheit. Weit voran und für gewöhnlich außer Sichtweite ritt Bardos verstärkter Spähtrupp. In der Armee selbst bildete Helkis Kavallerie die Vorhut und schwärmte aus, wo immer es möglich war. Als nächstes folgte eine Kompanie Soldatinnen und Soldaten, hinter ihnen stelzte das 195
mechanische Holzpferd, das auf diesem abfälligen Terrain in Schieflage geraten war. Es wurde von Stiggur und seiner zehnjährigen >Knappin< Dela geritten, während Egg-Sucker in der Nähe des Schweifes schmollte. Liko stampfte auf der rechten Seite des Holzpferdes entlang, ein Kopf beobachtete die Landschaft, der andere erging sich in Tagträumen. Danach kamen die Offiziere und Zauberinnen, die an dieser Stelle der Marschkolonne am besten Ausschau halten konnten und dennoch geschützt waren. Hinter ihnen marschierte der Pulk der Troßleute, der Handwerker, der Forscher und der übrigen Nichtkämpfer. Die letzte Kompanie bildete die Nachhut, denn ein Angriff konnte jederzeit aus irgendeiner der hundert umliegenden Schluchten erfolgen. Die Kompanien ritten in einer geordneten Linie, weit auseinandergezogen, um Platz zu haben und müßiges Schwatzen zu unterbinden, denn ihre Aufgabe war es, das Land zu beobachten und die Befehle der Offiziere zu befolgen. Aber sie wurden nicht am Tag angegriffen. Als die Nacht hereinbrach, lagerten sie in einer riesigen Schlucht mit zwanzig Schritt hohen Wänden, die von mindestens dreißig oder vierzig Felsspalten durchzogen waren. Die drei Kompanien und die Kavallerie hatten in den Ecken eines Quadrates Aufstellung genommen, um die Nicht-Kämpfer in ihrer Mitte zu beschützen. Eine hohe Stange mit einer Fahne daran kennzeichnete die Zelte der Offiziere, und in dem Zelt daneben wohnten das Mädchen, das zur Hornbläserin ernannt worden war, und der Junge, der als Trommler arbeitete. Die Nacht war bereits weit fortgeschritten, und die Feuer erstarben langsam. Befehlsgemäß befanden sich fast alle entweder in einem Zelt oder unter ihren Decken. Nur Gull war noch wach, da Rakel nicht schlafen konnte und ihn damit ebenfalls am Einschlafen hinderte. Die beiden standen am größten Kochfeuer und 196
tranken mit Honig gesüßten Kräutertee aus ihren Bechern. Gull hoffte, daß Rakel bald zur Ruhe kommen würde und ihre Alpträume besiegte, so daß er vielleicht doch noch ein wenig Schlaf abbekam. Es war schwierig, im Sattel zu dösen. Er hatte seine eigenen Sorgen. Givon und Melba, die kundschaftenden Geschwister, waren bei Einbruch der Nacht noch nicht zurückgekehrt. Sie würden wohl eher in der Wildnis lagern, als eine vielversprechende Route zu verlieren, oder vielleicht orientierten sie sich mit Hilfe der Sterne. Aber dennoch sorgte sich Gull um seine Schutzbefohlenen, die allein da draußen waren. Gleichzeitig ärgerte er sich darüber, daß er sich so viele Sorgen machte, und fragte sich, ob es schlecht war, zuviel persönliche Anteilnahme am Schicksal seiner Soldaten zu zeigen. Aber er kannte es nicht anders, und so mußte er damit leben. Er riß den Kopf hoch, als ein blendend heller Stern durch die Nacht raste - nein, keine Sternschnuppe, es war zu nah! Direkt über seinem Kopf funkelte ein verschwommener gelbroter Fleck und schoß so schnell an ihm vorbei, daß er ihn kaum erkennen konnte. Er landete in der Feuerstelle und explodierte. Heiße Asche und glühende Kohlen wurden in Gulls Gesicht geschleudert und sengten Löcher in seine Kleidung und seine Haut. Er schlug nach den schwelenden Stellen und rieb sich die Augen, um wieder klar sehen zu können. Der Lärm hatte ihn für einen Moment taub gemacht. Das erste, was er sah, war Rakels brennendes Haar, und während sie sich kalten Tee in die Augen schüttete, schlug er die Flammen aus. Überall im Lager schrien die Leute, aber es gab bei weitem weniger Tumult als erwartet. Über dem Geschrei tönten die Rufe der Offiziere - Varrius, Neith, Ordando, Bardo und Helki. Rakel, deren Auge noch immer von der Asche geblendet war, brüllte die Troßleute an, >das 197
Maul zu halten<, und befahl der Hornbläserin und dem Trommler >Zu den Waffen! < zu rufen. Aber alle Kämpfer im Lager waren bereits aus ihren Decken und Zelten gestolpert. Sie hatten ihre Waffen bereit, noch bevor sie sich mit Stiefeln oder Helmen wappneten. Gull fühlte eine Welle des Stolzes: Zwar war diese Armee nur klein, doch sie konnte gegen jeden Feind bestehen! Zumindest glaubte er das. Irgend jemand brüllte und deutete in die Luft. Hoch oben auf einem Felsgrat stand er... ... eine riesige gerüstete Gestalt, die von einem roten Glühen umwabert wurde. Die ganze Gestalt glänzte über und über vor Silber und golddurchsetztem Stahl, und riesige Hörner ragten aus seinem geschlossenen Helm über die mit Stahlspitzen bewehrten Schultern hinaus. Seine Arme waren weit ausgebreitet - eine Beschwörung! »Bei Boris' Klöten!« tobte Gull. »Ich kenne diesen Schweinehund! Er hat uns in dem verbrannten Wald am Sternenkrater erwischt! Er hat eine Horde von...« Plötzlich erhob sich eine Kakophonie aus Flüchen, gellenden Schreien, Wehklagen und Geheul. Aus jeder Klamm brachen Horden von hüpfenden, springenden, zappelnden und stolpernden Dämonen hervor. Vor sich her trugen sie angespitzte Pfähle, auf die die Köpfe der vermißten Späher Givon und Melba gespießt waren. »Bastarde!« fluchte Gull. »Verdammte hinterlistige Bastarde!« »Halt's Maul!« Rakel rannte zu ihrem Zelt, zerrte ihren Helm und ihr Wehrgehenk heraus und brüllte: »Wir machen sie fertig! Endlich! Endlich eine Schlacht!« Sie stieß einen beeindruckenden Kriegsschrei aus, so daß Gull erschreckt zurückfuhr. »Juchuuu! Jaaaahaa! Kompanien! Zu den Waffen!«
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»Aufstellung!« brüllte Rakel. »Hauptleute, macht eure Linien bereit! Du! Weiche keinen Fingerbreit zurück, oder ich nehm deine Eingeweide als Strumpfbänder! Antreten! Zittert nicht vor diesen Dämonen, zittert besser vor mir! Aufstellung, habe ich gesagt!« Rakel kehrte der heranwogenden Schar von Dämonen den Rücken und warf einen raschen Blick auf das Lager. Auch Gull blickte in diese Richtung und sah, daß die Troßleute ihre Pflichten erfüllten. Anstatt zu glotzen, zu schreien oder davonzurennen, machten sich die meisten daran, das Lager abzubrechen. Die Schmiede, die Köchinnen und die Schreiber stolperten in die Dunkelheit und bauten die Zelte ab, verstauten das Kochgeschirr, sattelten die Pferde und beluden die Maultiere, während Mütter ihre Säuglinge in Tragetücher hüllten oder ihre kleinen Kinder, die ihnen am Rockzipfel hingen, in Sicherheit brachten. Die Anordnungen der neuen Kommandeurin der Armee, daß im Falle eines Angriffs alle Nicht-Kämpfer das Lager abbrechen sollten, sollte zweierlei bewirken: Einerseits konnte die Armee so schneller vorrücken oder sich zurückziehen, und andererseits wurde durch die Beschäftigung der Leute eine Panik vermieden. »Schließt die Reihen! Sie können uns nichts tun! Das sind nur Dämonen, bei den Geistern!« Rakels Worte waren eher dazu gedacht, ihren Schutzbefohlenen die Angst zu nehmen, als sie zu belehren. Die Kommandeurin zog ihre dürftige Streitmacht aus den vier Ecken der Schlucht zu einem dünnen Ring um das Lager zusammen. Die beinahe fünfzig Krieger und Kriegerinnen trugen die Schilde auf dem Rücken, die 199
Äxte oder Schwerter an den Gürteln und die Köcher und Bögen über den Schultern. Zusätzlich hatte jeder und jede von ihnen eine Lanze aus Eichenholz mit einer tückischen stählernen Spitze, die sie nach außen richteten wie die drohenden Stacheln eines Stachelschweins. Die Kavalleristen und die Späher warteten ungeduldig im Inneren des Ringes. An Rakels Seite standen die jungen Signalgeber. In der Mitte wartete Stiggur auf dem Rücken seines mechanischen Holzpferdes neben Liko, der mit zwei Keulen bewaffnet war. Sie waren bereit, in jede erdenkliche Richtung vorwärtszustampfen. Es war eine kleine aber schlagkräftige Armee, die sich nun Hunderten von kreischenden Dämonen stellte. Die Dämonen sahen sich sehr ähnlich, soweit man dies im immer schwächer werdenden Feuerschein - ein Kochfeuer nach dem anderen wurde gelöscht - überhaupt erkennen konnte. Gull fragte sich, ob sie eine Art von Goblins waren, da sie ihm kaum bis zur Brust reichten. Einige hatten große spitze Ohren, manche überhaupt keine, anderen ragten gedrehte Hörner wie die einer Ziege aus dem Kopf und wiederum andere hatten kahle glatte Köpfe. Sie alle glichen ausgetrockneten Mumien: Ihre Eingeweide waren verschrumpelt, und ihre Haut spannte sich so fest über die Knochen, daß man jede Rippe zählen konnte und jedes Gelenk so deutlich wie bei einem Skelett hervortrat. Ihre verdorrte, dunkle nackte Haut erinnerte an verbranntes Schlangenleder, und ihre langen weißen Reißzähne glitzerten bedrohlich in der Dunkelheit. Am schrecklichsten war der Anblick ihrer runden roten Augen, die wie Kohlen aus der tiefsten Hölle glühten. Und es sind so viele! wollte Gull aus purer Überraschung aufschreien. Die wild tanzenden und kreischenden Kreaturen quollen aus den Felsspalten hervor wie Ameisen aus einem verrotteten Baum. Dann blieb keine Zeit mehr nachzudenken, denn die erste Welle der Dämonen traf auf die Linien. 200
Unmittelbar vor Gull war Hauptfrau Ordandos Grüne Kompanie postiert. Die Männer und Frauen standen breitbeinig und mit gebeugten Knien da und spannten die Muskeln an, als wollten sie gegen einen Sog ankämpfen. Sie hielten ihre Lanzen bereit, und Gull fragte sich, warum Rakel ihnen nicht befohlen hatte, die Bögen zu spannen und zu schießen. Aber vielleicht hielt sie das Licht für zu schwach, oder sie dachte, daß die Dämonen zu schnell herankamen, oder daß Fehlschüsse die Moral der Armee beeinträchtigen konnte. Was auch immer der Grund war, die Linie sah mitleiderregend dünn aus, aber die Kämpferinnen und Kämpfer wichen nicht. Dies war teilweise der Verdienst von Rakels Schleiferei und erbarmungsloser Disziplin, und teilweise der ihres gezogenen Kurzschwertes direkt hinter ihnen. Alle wußten, daß sie den ersten Soldaten, der fliehen wollte, niederstrecken würde, und obwohl etliche weiche Knie hatten, blieben sie standhaft. Die lederhäutigen Dämonen warfen sich heulend, kreischend, jaulend und meckernd gegen die Linien. Einer von ihnen setzte zu einem Sprung an, wurde jedoch von einer eisernen Speerspitze aufgehalten. Der heulende Mund des Dämons schloß sich mit einem >Klack<, als sich die eiserne Spitze tief in seinen sich windenden Körper bohrte und sich zwischen den morschen Rippen verkeilte. Als der Soldat seine lange Lanze schüttelte, um den ledrigen schuppigen Unhold abzustreifen, verlor er die abnehmbare Spitze. Sofort war ein weiterer Dämon zur Stelle, doch auch dieser starb rasch: gesplittertes grünes Holz durchdrang seine vertrockneten Innereien. Einer der Dämonen huschte wie eine gigantische Küchenschabe mit weit aufgerissenem Rachen herbei, entblößte die weißen Zähne wie eine Bärenfalle und schnappte nach dem Bein einer Kriegerin. Diese Monster trugen keine Waffen, sondern griffen wie riesige Ratten nur mit ihren langen Klauen und scharfen Zähnen an. 201
Die dunkle tätowierte Soldatin riß ihre Lanze zurück, wie es ihr beigebracht worden war, und schmetterte das Ende auf den Kopf des Finsterlings. Benommen biß dieser in den steinigen Boden, und sie stampfte seinen Schädel zu Brei, während sie, ohne hinzuschauen, zwei weitere Dämonen auf einmal aufspießte. Gull, der von Rakel die Anweisung erhalten hatte, zurückzubleiben, die Schlachtlinie auf Lücken zu überprüfen und den Feind zu beobachten, bemerkte eine zweite Reihe von Widersachern, die aus den Felsspalten hervorkrochen. Orks! Gull hatte auf der Tropeninsel, auf die er verbannt worden war, bereits einige gesehen. Diese hier waren jedoch nicht dunkel- sondern hellhäutig, und der Feuerschein ließ ihre Leiber grünlich schimmern. Aus ihren kahlen Köpfen ragten spitze Ohren empor, und ihre Unterkiefer waren mit mächtigen Hauern bestückt. Trotz der winterlichen Kälte trugen sie lediglich Geschirriemen und rattenzerfressene Kilts aus Leder oder Fell. Die meisten von ihnen waren mit obsidianbeschlagenen Keulen oder kurzen Steinspeeren bewaffnet. Ein halbes Dutzend von ihnen schleppte lange Röhren, die an hohle Baumstämme erinnerten. Einer der Orks hob einen solchen Baumstamm auf seine Schulter, und die Öffnung des Rohres spuckte Feuer. Eine Flammenspur zog in weitem Bogen über ihre Köpfe und traf eine weit entfernte Felswand. Die erschreckten Pferde scheuten, als der Feuerball dort fauchend und funkensprühend verlosch. >Kanonen< hatte Rakel sie genannt: Sie wurden mit irgendeinem schwarzen Pulver gefüllt, explodierten wie Blitze und töteten den Schützen genauso oft wie den Feind. Von dieser Art mußten auch die Feuerbälle gewesen sein, die in den Lagerfeuern niedergegangen waren. Gull überschlug grob die Zahl der Orks, beschloß, daß es mindestens hundert sein mußten, und trabte dann zu Rakel, um ihr zu berichten. 202
Sie drehte sich nicht einmal um, sondern behielt ihre gegen die Dämonen kämpfenden Soldatinnen und Soldaten im Auge. »Orks!? Sie sind nichts! Beachte sie gar nicht! Hauptmann Neith! Schließ die Lücken!« Gull, der sich wie ein Narr vorkam, weil er sich Sorgen gemacht hatte - einhundert bewaffnete Orks waren nichts? -, trottete zurück und schwenkte müßig die Axt. Überall entlang der Kampflinie stapelten sich Dämonenleichen. Einer der Kämpfer hatte drei wie Karpfen zappelnde Höllenwesen auf seine Lanze gespießt und konnte sie nicht länger halten. Also schleuderte er sie einigen weiteren entgegen, zog sein Schwert und legte seinen Schild an. Mit lautem Gebrüll schlug er einen Unhold zurück, während er den Schädel eines weiteren spaltete. Ähnliche Scharmützel tobten überall entlang der Front. Weitere Lanzen wurden nach den zuckenden Körpern geworfen. Ein Axtkämpfer rief seiner Partnerin etwas zu, einer stämmigen Frau mit vier roten Tressen unter ihrem stählernen Helm, und sie griffen gemeinsam an. Mit beiden Händen riß er seine Kriegsaxt hoch und hackte in eine dämonische Dreiergruppe, während seine Partnerin sich duckte, mit ihrem Schwert nach den Bäuchen und Kehlen der Kreaturen schlug und sich und ihren Partner mit ihrem Schild schützte. Immer mehr Höllenwesen stürmten aus der Dunkelheit in den ersterbenden Feuerschein. Ihr unheimliches blutrünstiges Kreischen, das wie Schreie von aufgebrachten Adlern oder Wildkatzen klang, brach sich wieder und wieder an den Felswänden. Ein Pulk von Dämonen durchbrach die Linie direkt vor Gull und stieß dabei zwei der Kämpfer beiseite. Einer von ihnen ging zu Boden, und ein Dämon schlug ihm die rasiermesserscharfen Zähne in den Arm. Doch der tapfere Krieger geriet nicht in Panik, sondern versuchte, sich unter dem Unhold wegzurollen, auf die Füße zu kommen und weiterzukämpfen. 203
Gull konnte nicht länger nur dastehen und die Szenerie betrachten, also packte er seine Axt fester und griff an. Doch irgend jemand rempelte ihn so heftig an, daß er beinahe hinfiel: Rakel! Sie schnauzte: »Halt dich von der Linie fern! Behalt die Schlacht im Auge! Von hinten!« Dann stieß sie ihr Kurzschwert vor. Sie hackte nicht blindlings drauflos, wie Gull es getan hätte, sondern teilte schnelle, genau gezielte Hiebe aus, die das Genick, den Arm und das Rückgrat eines Dämonen zerteilten gewandt wie eine Fischhändlerin, die eine Flunder ausnimmt. Dann zerrte sie mit ganzer Kraft den blutenden Mann auf die Füße, rief ihm »Tapferer Junge!« zu und schob ihn zurück auf seinen Posten. Dann war sie bereits wieder verschwunden und stürmte dahin, wo sie gebraucht wurde. Der zur Untätigkeit verdammte Gull fühlte sich hilflos und schlurfte mißmutig zurück, während die Axt wie ein nutzloses Gewicht an seinem Arm zerrte. Er versuchte, seine Aufgabe zu erfüllen, indem er die überall tobende Schlacht überwachte, doch es fiel ihm schwer, einfach nur zusehen zu müssen. Er blickte sich um. Die Dämonen stürzten aus allen Richtungen auf die Verteidigungslinien zu, doch an der Stelle, an der Rakel >arbeitete<, stapelten sie sich geradezu. Sie hatte der Kavallerie bedeutet, daß sie paarweise vorrücken sollte, und so lehnten sie sich aus den Sätteln und schlitzten das Geschmeiß mit ihren langen Säbeln auf. Stiggur rangierte sein Holzpferd vorwärts, um eine Lücke zwischen der Roten und der Blauen Kompanie zu stopfen. Er zerrte an den Hebeln und manövrierte die Konstruktion vorwärts und rückwärts, so daß etliche Dämonen unter den baumstammdicken Hufen zu Brei zerstampft wurden und somit Dutzende von anderen davon abhielten, eine Bresche in die Front zu schlagen. Dicht daneben hämmerte Liko mit seinen zwei Keulen auf die Dämonen ein, als klatsche er Fliegen. 204
Im Zentrum war das Lager inzwischen abgebaut und verpackt worden, so daß nur noch schwelende Kochfeuer zurückblieben. Während die Troßleute ängstliche Pferde und Kinder beruhigten, hatten die Kartographen, die Pferdetreiber und einige Köchinnen ihre eigenen Schwerter gezogen und einen zweiten Ring gebildet, falls Verstärkung benötigt wurde. Die Heilerinnen schleppten Verwundete in ein behelfsmäßiges Krankenzelt. Ein weiterer Feuerball schoß ins Lager und explodierte neben der aufgeregten Pferdeherde. Zwei der Tiere wurden zu Boden geschleudert, und die anderen schrien vor Angst, so daß der Pferdetreiber und seine kleinen Pferdeknechte viel Mühe hatten, sie zu halten. In kaum dreißig Schritt Entfernung erblickte Gull seine Schwester. Ihr Zelt war abgebrochen und zusammen mit ihrer Ausrüstung von zwei jungen Mädchen, die sie sich zu Helferinnen auserkoren hatte, zusammengepackt worden. Chani, die Druidin, saß auf einer Kiste und stützte ihre verwelkte Gestalt auf die gesunde Hand. Lily beobachtete Greensleeves, aber die frischgebackene Druidin stand nur unbeweglich da. Ihr unbedecktes braunes Haar war zerzaust, und sie hatte die Arme um die Schultern geschlungen, als fröre sie. Sie stand still da und starrte auf die Klippe, auf der sich der gerüstete Magier befand, der von einem geisterhaften Feuer von hinten erleuchtet wurde. Gull befürchtete, daß seine Schwester vor Angst gelahmt war. Sollte er ihr zu Hilfe eilen? Sollte er einfach hier stehen bleiben und nicht kämpfen? Was sollte er tun? Greensleeves hatte keine Angst. Tatsächlich war sie wahrscheinlich die ruhigste Person in der gesamten zusammengewürfelten Truppe, wenn man die alte Chani nicht mitrechnete. Die Zauberin konzentrierte sich. Sie mußte etwas beschwören, was dem Kampfmagier zu schaffen machen würde. Riesig wie er war, konnten nur wenige Dinge aus 205
ihrem >Katalog< Eindruck auf ihn machen. Außerdem wollte sie sich selbst beeindrucken. Unter Towsers Habseligkeiten hatte Tybalt eine blaue Gemme entdeckt, die sich selbst am heißesten Sommertag eisig anfühlte. Tybalt hatte tagelang mit dem Stein herumexperimentiert und schließlich eine Vermutung geäußert, was das Artefakt bewirken konnte. Ob Greensleeves den Stein benutzen konnte, wußte niemand, aber schließlich wollte sie ihre Angst besiegen, den Verstand zu verlieren, und dies war ein guter Anfang. Das Ding, das von dem Stein >eingefangen< worden war, war ihr völlig fremd, aber sie war entschlossen, es dennoch zu versuchen. Ihre rechte Hand berührte den Stein, der an dem zerrissenen grünen Schal festgenäht war. Die Kälte der Gemme ließ ihre Fingerspitzen zu Eis gefrieren, aber sie ließ nicht los. Das Wesen, das durch den Edelstein verkörpert wurde, war weit, weit entfernt - es lebte in einer Dimension, die von Menschen nicht betreten werden konnte. Es war ein Ort eisigster Kälte und wirbelnder Winde, ohne festen Untergrund. >Komm!< lockte Greensleeves das uralte Nicht-Wesen, >Komm! Wir brauchen dich! Für unsere Sache! Für das Gute...< Greensleeves erschauerte, als sie ihre Gedanken in das unendliche Blau der Gemme aussandte. Ihr Geist schwebte einen geheimen Pfad entlang, und ihr Herz flog durch den Äther. Ihre pure Lebenskraft schien an unsichtbaren Linien entlangzuströmen, an Spinnenfäden über unglaubliche Höhen zu huschen und am Abgrund steiler Bergpfade entlangzuschlittern. Vielleicht war sie ein Vogel, der zu hoch hinauf geflogen war, oder ein Käfer, der vom Seewind zu weit auf den Ozean hinausgetrieben worden war, oder ein Fisch, der zu weit einen eisigen Fluß hinaufgeschwommen war. Mit ihrem Geist - zart wie die Flaumfeder einer Kohlmeise - griff sie nach dem Wesen, weit, weit in die 206
blaue Leere hinein, in der sogar die Luft zu gefrieren schien... ... und berührte eine Hand kälter als uraltes Gletschereis. Erschauernd fühlte Greensleeves, wie ihr Geist ihrer Beherrschung zu entgleiten drohte. Eine unbeschreiblich mächtige Kraft zog an ihr und versuchte, ihr Hirn aus ihrem Schädel zu reißen wie einen Zahn aus dem Kiefer. >Nein!< schrie sie in der Stille. >Nein! Ich... bleibe... hier... und du mußt kommen! Jetzt!< Verbissen klammerte sie sich an ihren Geist und an die Erde unter ihren Füßen. Sie war warm, lieblich, voller Lebenskraft und Wachstum, während der ferne Äther kalt, häßlich, still und tot war. >Nein!< kämpfte die Frau, >Nein! Du kommst hierher!< Der Sog verstärkte sich, und im Inneren ihres Körpers fühlte sie, wie ihr Herz aussetzte, einmal, zweimal. Sie wollte schreien, doch sie benötigte ihre gesamte Kraft. Tief grub sie die Fersen in den warmen Mutterboden und fühlte, wie die Magie sie durchflutete: Überall saugte sie das Mana auf, und es strömte warm durch ihre Glieder, so als badete sie in heißer Lava. Zähneknirschend nahm sie all ihre Kraft zusammen und zog an der eisigen Hand. Plötzlich gab sie nach und glitt durch den Äther. Durch Schnee und Hagel stürzte das Eiswesen heulend durch den Himmel auf sie herab wie ein Komet. Greensleeves öffnete die Augen - selbst sie schmerzten vor Anstrengung: Sie war zurück in der trockenen Schlucht der nördlichen Ödlande, die von ersterbenden Lagerfeuern erhellt wurde. Die Winterluft war frostig, aber sie kam ihr tropisch vor, verglichen mit den Gefilden, in denen sie gerade gewesen war. Doch wo war...? »Ah«, keuchte Chani hinter ihr, »sehr gut! Lenke dein Geschoß!« »Oh, mein...«, staunte Lily. >Das ist es!< sang eine Stimme in Greensleeves. Sie hatte etwas aus der fernsten Ferne beschworen! Sie 207
wollte, daß es herabstieg - ihr Blick schweifte über die Klippe und blieb an dem gerüsteten Magier hängen genau dort! Hoch oben, wo er sich in Sicherheit geglaubt hatte, stellte der Kampfmagier fest, daß das magische Feuer um ihn herum zu flackern begann. Ein einfacher Leuchtzauber umrahmte seinen Körper wie ein Irrlicht, um Furcht in den Herzen seiner Feinde zu säen. Doch nun schmolz das Licht wie Kerzenwachs, als die fremdartigen Winde ihn umheulten. Der gerüstete Magier hörte ein Pfeifen, als käme ein Wirbelsturm über ihn. Als er sich umwandte, sah er, wie ein auf den Kopf gestellter Kegel ins Dasein flimmerte: braun am Boden, darüber grün, blau und schließlich gelb. Dann schien die schiere Kraft eines Tornados an ihm zu zerren. Eine Frau aus Eis, so schien es ihm zuerst: Ihr schneeweißer nackter Körper war langgestreckt mit fließenden Umrissen aus Wasser oder Eis. Aber dieses Wesen bestand aus reiner in höheren Luftschichten gefrorener Luft, so daß sein bloßer Atem töten konnte. Das wirbelnde zerfließende Luftwesen sah weiblich aus - ein Tornado von der Hüfte abwärts, eine Meerjungfrau aus Luft - doch es besaß weder Geschlecht noch Seele. Gerade schwebte es über die Fläche der Hochebene und erspähte den Gerüsteten. Spielerisch, mit dem Verstand eines jungen Hundes, wirbelte das Luftwesen näher an den Magier heran, um ihn in Augenschein zu nehmen. Es bahnte sich seinen Weg durch die Luft, einen gefrorenen Sturm hinter sich herziehend, sauste unter einem der schweren gepanzerten Arme hindurch, glitt seinen Rücken entlang und kreiselte an seiner Schulter. Greensleeves konnte von unten alles deutlich erkennen. Sie war stolz darauf, es gewagt zu haben: Sie hatte ihre Furcht bezwungen und richtig gewählt! Das eigensinnige Elementarwesen, das sie hierhergeholt hatte, 208
würde an diesem großen, warmen, silbernen Spielzeug seine helle Freude haben. Der Zauberer schwankte bei der Berührung des Wesens und stolperte rückwärts, um der entsetzlichen Kälte auszuweichen. Bereits halb erfroren torkelte er auf den Rand des Abgrunds zu, doch er konnte sich gerade noch rechtzeitig fangen. Er fuhr herum und stürzte fast, als er wild um sich schlug, um das Luftwesen abzuwehren, doch dieses glitt freundlich wie ein Delphin noch dichter an ihn heran. Neckisch huschte es zwischen seinen Beinen hindurch und wirbelte Schmutz- und Staubwolken auf. Als ihn der Kälteschock an seinen empfindlichsten Teilen traf, sprang der Gepanzerte in die Höhe und fiel auf die Knie, während ihm der messerscharfe Schmerz fast die Sinne raubte. Doch bald schon war die luftige Nixe zurückgekehrt und wuselte über seinen mit Kettenzeug geschützten Bauch. Verzweifelt stemmte sich der Kampfzauberer auf die Beine, sprach rasch einen Zauber und rannte auf den Abgrund zu. Greensleeves schnappte nach Luft, als sich der Magier von der Felskante abstieß und sich wie ein Vogel hoch in die Luft erhob. Doch er flog nicht, sondern sprang nur in einem Bogen auf einen Felsvorsprung auf der anderen Seite der Schlucht. Für den Augenblick ist er davongekommen, murmelte Greensleeves zu sich selbst, doch er rannte um sein Leben - dicht gefolgt von dem eisigen Luftgeist. Vor Hauptfrau Ordandos Grüner Kompanie stapelten sich die Dämonenleichen kniehoch, und Gull stellte fest, daß es überall im Lager genauso aussah. Glücklicherweise hielten ihre Linien stand, dank Rakels gründlicher Lagebeurteilung und gelegentlichen Schwertstößen. Der Angriff der Dämonen war zusammengebrochen, und viele der Unholde lagen wimmernd mit zerschmetterten Schädeln, zerbrochenen Kiefern oder abgerissenen Gliedmaßen herum. Über ihnen standen die schwer 209
atmenden Kämpferinnen und Kämpfer, schweißüberströmt und mit dem dunkelroten Blut der Dämonen, ihrem eigenen oder dem ihrer Kameraden bespritzt. Doch sie lächelten ein grimmiges Söldlingsgrinsen und lechzten nach einer weiteren Gelegenheit, sich zu beweisen. Weiter hinten hatten die zurückgeschlagenen Dämonen innegehalten. Hinter ihnen duckten sich die feigen Orks in einer schwankenden krummen Linie. Es waren nicht mehr hundert, sondern vielleicht zweihundert Dämonen und Orks, die die Nacht verschandelten. Die Monster zitterten vor der Armee, die sie nicht in die Flucht schlagen konnten. Rakel gab ihren Söldlingen, wonach sie dürsteten - ein wenig mehr Aufregung. Sie befahl der schwitzenden Hornbläserin, >Zu den Waffen< zu blasen, räusperte sich und brüllte mit sich überschlagender Stimme: »Langsamer Vormarsch! Voran!« Gull schüttelte den Kopf. Gegen den Feind anzurücken war ein Angriff, obwohl seine Kommandeurin es nicht so nennen würde. Sie rückten vor. Mit einem einstimmigen Kriegsruf marschierte Rakels Armee langsam über tote und sterbende Dämonen. Ordando rief: »Hooo!«, und irgend jemand antwortete mit einem »Hooo!« Bald schon riefen alle: »Hoooo! Hooo! Hooo!« und dann »Hooooooooo!« Das Singen brachte sie außer Atem, aber sie unterbrachen es nicht, als sie mit schlagbereiten Schwertern und Äxten auf die dunkle Horde zumarschierten. Ohne auf Rakels Zustimmung oder Ablehnung zu warten, lief Gull zur Linie und reihte sich neben einer Kriegerin ein. Sie blickte sich um und grinste ihn mit blutverschmierten Lippen an. Sie waren etwa fünfzig Schritt vorgerückt und hatten dabei unbewußt ihre Marschgeschwindigkeit erhöht, wodurch die Linie in Unordnung geriet. Ihre Schritte klangen hart auf dem unebenen steinigen Boden, als die 210
Dämonen in heilloser Flucht davonstürzten. Die Orks waren bereits lange verschwunden und hatten sich wie erschreckte Ratten zurück in die Felsspalten und Risse verkrochen. Die Männer und Frauen grölten, lachten und johlten wie noch kurz zuvor ihre Widersacher. Sie warfen ihre Waffen in die Luft, weinten vor Freude, brüllten Flüche, Beleidigungen und Drohungen. Zwar brüllte Gull mit ihnen, doch ein Teil von ihm war betrübt, denn er hatte nichts zu diesem glorreichen Sieg beigetragen. Diese Armee, bemitleidete er sich, brauchte jeden und jede - nur mich nicht. Oben auf dem Felsvorsprung kam der gerüstete Magier mit einem harten Schlag auf. Der weitaus schnellere Luftgeist war hinter ihm hergeweht und sandte eisige Kälte durch seine Rüstung. Verzweifelt schlug der Magier nach dem Ding, doch seine Hand traf nur eisige frostige Luft. Schließlich schob er eine behandschuhte Hand in eine Tasche aus Kettenzeug an seinem Gürtel und holte einen orangerot glühenden Stein hervor. Er ballte seine Faust fest um den Stein, hob ihn hoch vor sein gepanzertes Gesicht und blies über ihn hinweg in Richtung des Luftgeistes. Das nicht-menschliche Gesicht des Wesens gefror zu einer Maske aus Reif und Angst, als es sich in immer kleiner werdenden Spiralen auflöste und verschwand. Tief unter ihm sah Greensleeves den Zauberer herumfahren und den nächsten Angriff vorbereiten. Doch seine rechte Hand, die noch immer den Stein umklammert hielt, hing steif und bewegungslos herab. Die uralte Chani krächzte: »Urzas Stein der Macht! Wiedergefunden! Ich hatte mich gefragt, wohin es ihn verschlagen hatte. Doch er ist nicht stark genug, ihn zu benutzen. Siehst du, wie sein Arm schlaff herabhängt? Ein Spruch zuviel, und er wird ihm sein gesamtes Leben aus dem 211
Herzen saugen. Ich bezweifle, daß er um diesen Preis siegen will.« Tatsächlich benutzte der Zauberer nur eine Hand für die Beschwörung. Im Tal unter ihm hinderte Rakel ihre jubelnden Truppen daran, die fliehenden Dämonen zu verfolgen, und stieß sogar einen Soldaten zu Boden, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Mit lautem Gebrüll befahl sie Homsignale und formierte den geschwächten Ring um das Lager herum neu. Sie trabte von Hauptfrau zu Hauptmann, verteilte Lob und ermahnte die Soldatinnen und Soldaten, die Linien auszurichten. Lautstark lobte sie die Troßleute dafür, daß sie das Lager so rasch abgebrochen hatten, und befahl ihnen, die Feuer anzufachen. Sie brauchten Licht, denn die Schlacht war noch nicht vorbei. Ein sich nutzlos vorkommender Gull folgte ihr wie ein Hündchen und schmollte. Als der Ruf eines Mannes erklang, fuhren die beiden herum. Greensleeves fühlte als erste die Kälte, und ihre Nase nahm angewidert den Gestank von fauligem, frisch dem Grab entstiegenen Fleisch wahr. Dann sah sie sie! Aus der Dunkelheit schlurfte eine Reihe Zombies heran - von Scathe, erinnerte sich Gull! Er hatte sie schon früher einmal gesehen, in dem verbrannten Wald. Die erbärmlichen Kreaturen, die dem Tode abgerungen und frisch aus ihren Gräbern gezerrt worden waren, schwankten auf sie zu. Die meisten trugen noch die Leichentücher, in denen sie begraben worden waren, viele waren nackt. Einige der faulig grauen Leichen waren unversehrt, doch etlichen fehlten Glieder, Hautfetzen oder sogar die Köpfe. Die tumben toten Gestalten stolperten immer wieder gegeneinander, taumelten jedoch unaufhörlich voran. Ihr Anblick verursachte unaussprechlichen Schrecken und gleichzeitig tiefstes Mitleid. Einige der Soldaten jammerten und begannen leise zu beten. Rakel war bleich geworden und versuchte, sich einen Angriffsplan auszudenken: Für gewöhnlich kämpfte sie gegen Lebende, nicht gegen Tote. Als sich 212
ein paar Soldaten aus der Reihe lösten, redete sie beruhigend auf sie ein, doch ihre Stimme war nur ein heiseres Krächzen. Aber Gull wußte, was zu tun war. Er brüllte quer durch den Kreis: »Greenie! Den Wall!« Aber seine Schwester war ihm bereits zuvorgekommen. Beinahe mühelos berührte sie einen Zweig, der in ihren Schal gewebt war. Sie atmete zischend, die Geräusche des Windes in den Baumwipfeln nachahmend, und zeichnete vor ihrem geistigen Auge ein Bild des Flüsterwaldes, den sie so gut kannte - eine Stelle, an der die Natur verrückt gespielt hatte und die Bäume so dicht wuchsen, daß ihre Äste untereinander und mit denen ihrer Nachbarn verwachsen waren. Sie sandte ihren Geist aus und zwang einen Streifen des Flüsterwaldes zu erscheinen - dort! Die Frauen und Männer seufzten, als sich ein lebender Zaun aus dicht miteinander verwachsenem Holz nur einen Steinwurf von ihnen entfernt unter grünbraun-blau-gelbem Leuchten materialisierte. Anders als bei Greensleeves' früheren Bemühungen verlief dieser Holzwall in einer eleganten Biegung, die sich der Frontlinie der Armee anpaßte und sich dicht und breit von Felswand zu Felswand quer durch die gesamte Schlucht erstreckte. Jegliche Sicht auf die Zombies war ihnen nun versperrt, und die Armee atmete auf. Greensleeves lächelte glücklich und entspannt, und ein zufriedenes Seufzen entrang sich Chanis rauher Kehle. Eines Tages würde Greensleeves eine Legende unter den Zauberinnen und Zauberern sein - falls sie überlebte! Stiggur, der auf dem Rücken seines mechanischen Holzpferdes saß, stieß einen gellenden Schrei aus und zerrte wild an den Hebeln. Die hölzerne Konstruktion drehte sich surrend und klappernd im Kreis und schob dabei mit ihren eisenbeschlagenen Flanken den Riesen Liko 213
herum, damit er sich der neuen Bedrohung stellen konnte. Helki, die Kentaura, Hauptfrau der Kavallerie, hatte aus ihrem höheren Blickwinkel die Gefahr ebenfalls erspäht und stieß ein schrilles Wiehern aus - ein Freudenschrei, denn nun war die Stunde der Kavallerie gekommen. Die gelben Bänder der Kavalleristen flatterten an ihren Ärmeln, als sie sich unter Jubel und Gejohle in die Steigbügel stellten. Rakel lachte, als sie ihre Begeisterung sah. Unten, in der Schlucht, flackerte etwas, das wie aufgewirbelte Asche aussah, doch der tanzende graue Nebel verdichtete sich zu einer Kompanie von Reitern - und Gull erkannte sie! Die von Pferd bis Bart schwarzen Reiter trugen lange Schwerter und schräggeteilte große Wappenschilde, die eine halb silberne Teufelsfratze zeigten - ihre einzige Farbe. An kurzen Riemen auf ihrem Rücken waren Wurfspieße befestigt, und Gull wußte, daß sie hakenbesetzte Kettenseile an ihren Sattelknäufen trugen. Letzten Frühling hatte er gegen diese Marodeure kämpfen müssen, als sie Towsers Wagenzug angegriffen hatten. Drei von ihnen hatten Lily geraubt, er hatte sie gejagt und mit der Gnade der Götter - töten können. Es waren dreißig oder mehr auf stampfenden, schnaubenden Schlachtrössern. Ihr Anführer hob sein Schwert und brüllte etwas in einer rauhen Sprache, offensichtlich spornte er seine Leute an, keine Gnade walten zu lassen. Doch sein harscher Befehl verkümmerte zu einem Stottern, als er sah, was sich gegen ihn formierte. Gull brach in lautes Gelächter aus und schrie vor Freude. Die schwarzen Ritter waren nun an ihresgleichen geraten: Hauptfrau Helki in bemalter geriefter Rüstung mit einer gefiederten Lanze, die genauso lang wie ihr rötlicher Körper war, vier Wüstenreiter, die schon so lange im Sattel lebten, daß sie beinahe Kentauren waren, und weitere Reiterinnen und Reiter, die rasch herankamen die mit Rabenfedern gekennzeichneten Späherinnen und 214
Späher in erdfarbener Kleidung, Holleb, noch gewaltiger als Helki, Bardo, der gepanzerte Paladin auf seinem rauchfarbenen Schlachtroß, das Holzpferd mit dem jubelnden Stiggur auf dem Rücken und Liko, der mit seinen zwei Keulen vorwärtsstampfte. Rakels kampfeslustige Kavallerie donnerte johlend und brüllend mit angelegten Lanzen die Schlucht entlang. Sie waren vierzehn gegen dreißig, doch um so heftiger griffen sie an, begierig, dem Rest der Armee ihren Wert zu beweisen. Der schwarze Ritterführer krächzte Befehle, schwang sein Schwert nach rechts und links, um seine Linie zu ordnen, und gab seinem schwarzen Roß die schwarzen Stahlsporen. Die beiden Einheiten donnerten aufeinander zu - die eine vor gieriger Vorfreude ungeordnet, die andere so präzise ausgerichtet, daß die Nasen der Tiere auf gleicher Höhe waren. Der Lärm war ohrenbetäubend, als die Truppen aufeinandertrafen. Schwerter krachten auf Schilde, stählerne Lanzenspitzen durchbohrten Brustpanzer, Klingen schnitten durch Pferdekehlen, Reiter wurden aus ihren Sätteln geworfen und krachten scheppernd wie Tonkrüge auf ihre Rücken. Ein Späher ging zu Boden, von einem Schwerthieb geköpft, zu Boden, und eine schwarze Ritterin keuchte auf, als Helkis Lanze ihre Brust durchbohrte. Sie stürzte kopfüber und riß die Waffe mit sich. Bardo, der Paladin aus dem Norden, warf seinen Schild auf den Rücken, stemmte sich in die Steigbügel und schlug beidhändig mit einem Bastardschwert zu, das beinahe so groß wie er selbst war. Die Klinge durchtrennte den Oberschenkel eines Mannes und fuhr tief in den Körper des Pferdes hinein, so daß es zusammenbrach und den sterbenden Ritter vier Schritt weit durch die Luft schleuderte. Da die Bösewichte Gulls Kavallerie zahlenmäßig überlegen waren, kamen auf jeden Verteidiger zwei der schwarzen Ritter. Zwei der Unholde nahmen Holleb in die Zange, doch dieser nahm seine blutige Lanze quer in 215
die haarigen, schwieligen Hände und schmetterte die dicke Stange gegen die Kehlen der finsteren Reiter. Sie polterten zu Boden, doch nicht ohne vorher den mächtigen Oberarm des Kentaurs bis zum Knochen aufzuschlitzen. Die Wunde war so tief, daß Holleb seine zerbrochene Lanze fallenließ, seinen Arm umklammerte und aus der Schlacht davongaloppierte, um nicht ohnmächtig zu werden und vor die Hufe seiner Kameraden zu fallen. Die blaugewandeten Wüstenreiter umkreisten die Feinde auf ihren tänzelnden kleinen Ponys wie ein Wirbelwind. Sie durchbohrten einen Oberschenkel hier, die Flanke eines Pferdes da und ein schwarzes Gesicht dort. Allein durch den Angriff dieses Quartetts starben in der ersten Minute des Zusammenpralls sechs der schwarzen Ritter oder wurden zu Krüppeln. Von ihrem eigenen Gewicht vorangetrieben, durchbrachen die Pferde die beiden Linien und spalteten sie in ein Dutzend verbissener Einzelkämpfe auf. Zwei Wüstenreiter verwickelten drei der schwarzen Unholde in ein wildes Scharmützel. Helki zog ein Schwert mit bronzenem Heft aus ihrem Kriegsgeschirr und verteilte schmerzhafte Hiebe nach rechts und links. Die Linien lösten sich in Schnauben, tanzende Hufe, Schreie und Fontänen von Blut auf. Dann bekamen die Finsterlinge noch mehr Ärger. Die dem Schlachtfeld am nächsten befindliche Rote Kompanie des Hauptmanns Varrius erhielt den Befehl vorzurücken. »Hooohooo! Hoohooo!« brüllend, stürmten sie auf die Ritter ein und nahmen ihnen den Platz, ihre Pferde herumzuwerfen, indem sie sie mit Lanzen aus Eichenholz bedrohten. Das mechanische Holzpferd stampfte geradewegs in ihre Mitte und versetzte die schwarzen Pferde in Panik, genau wie der Anblick und der Geruch des fremdartigen Giganten. Liko hatte gerade noch Zeit, einmal zuzuschlagen und mit seiner mächtigen Keule einen Reiter 216
mitsamt seinem Pferd zu Brei zu zermalmen, bevor der schwarze Leutnant - der Hauptmann der schwarzen Ritter hatte auf Helkis Lanze sein Leben ausgehaucht - den Rückzug befahl. Die schwarzen Reiter wirbelten herum und schlugen wild nach dem lästigen Feind, der sie wie ein wütender Wespenschwarm bedrängte. Sie formierten sich zu einer ungeordneten Linie und donnerten südwärts davon. Greensleeves sah, wie sie wieder zu Asche wurden, als würde ein unsichtbares Feuer sie verschlingen. Sie blickte nach oben, um herauszufinden, wie der gerüstete Magier sie >entschworen< hatte, doch die Klippe war leer und wurde nur von dem grauen Licht der trügerischen Morgendämmerung erhellt. Gull und Rakel gesellten sich zu Greensleeves, Chani, Lily und den anderen. »Was bedeutet das?« fragte Gull. »Wo bleibt sein nächster Angriff?« »Es gibt keinen mehr!« rief Rakel. »Wir haben gesiegt!« Hinter ihnen kam die Armee zu derselben Erkenntnis und stieß einen frohlockenden Jubelschrei aus, der immer lauter wurde, bis er die Wände der Schlucht erschütterte. »Aber wir haben ihn nicht gefangengenommen«, piepste Greensleeves. »Das ist unser Ziel.« Rakel seufzte und ärgerte sich ein wenig darüber, daß ihre Bemühungen als Soldatin so wenig anerkannt wurden. »Wir haben ihn aufgehalten, ihn besiegt und wir sind gesund und munter. Sei froh darüber! Alles zu seiner Zeit, in Ordnung? Dieser gerüstete Hundesohn ist noch immer da draußen. Wir werden ihn kriegen und ihn dann in seiner Schale langsam über dem Feuer rösten.«
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Der gerüstete Magier kam zurück - wie Rakel es vorhergesagt hatte -, aber nicht so, wie sie es vermutete. Die Armee erholte sich und zog weiter, doch nicht alle konnten aus eigener Kraft weitermarschieren. Der Arm des Kentaurs Holleb war so schlimm verwundet, daß die Samiten ihn abnehmen wollten, doch Helki verbot es. Chani kümmerte sich aufopferungsvoll um die Verletzung, legte ihre gute Hand darauf, murmelte Sprüche und ordnete an, daß der Arm dicht an Hollebs Brust gebunden und sich selbst überlassen wurde - damit er in Ruhe heilen konnte. Der durch Schmerzen und Kräutermedizin außer Gefecht gesetzte Kentaur stolperte benommen vorwärts, gestützt von seiner zärtlichen Gefährtin Helki. Rakel teilte die Kompanien neu ein, denn sie hatten Verluste erlitten: vier Tote, zwei Schwerverwundete, die vermutlich nicht gerettet werden konnten, und vier Leichtverletzte. Unter den Toten war einer der Wüstenreiter, und seine Kameraden beweinten ihn die ganze Nacht mit hohem Wehklagen, um seine Seele in die paradiesische Oase zu geleiten, die sie sich als Himmel vorstellten. Einer der Feinde, ein schwarzer Ritter, war mit einer Kopfwunde von seinen Mitstreitern zurückgelassen worden. Verdrießlich und überheblich schwor er, daß er niemals in einer solchen >Witzarmee< dienen würde. Also befahl Rakel, ihn zu enthaupten, woraufhin er nachgab und sich der Kavallerie anschloß. Sein Name war Karon und, wie viele andere seiner Kompanie, war er ein Söldner aus den Ebenen von Wrenna. Er wußte nichts über den Kampfmagier, außer daß er in Gold be218
zahlte, wann immer er die Schwarzen Ritter von Jenges beschwor. Als die Armee tiefer und tiefer in die Ödlande vordrang, begannen die Angriffe. Die Schluchten wurden tiefer und breiter, und eines Morgens, als sich die Armee durch ein schattiges Flußbett quälte, krachte eine Steinlawine auf den Troß nieder. Eine Köchin und ein Bibliothekar wurde getötet, ein Dutzend weitere verletzt, unter ihnen eine Heilerin, deren Bein zerschmettert worden war und abgenommen werden mußte. Außerdem mußten vier Pferde und Maultiere mit gebrochenen Beinen notgeschlachtet werden. Die Armee mußte sich in offenes Gebiet zurückziehen und bis Einbruch der Nacht warten, bevor sie die felsenübersäte Engstelle passieren konnte, wobei durch das Umherstolpern in der Dunkelheit zwei weitere Pferde verletzt wurden. Irgend jemand hatte graugrüne Kahlköpfe erspäht, die auf sie herabgrinsten - hinterlistige Orks unter dem Kommando des gepanzerten Zauberers. Die heimtückische, feige Attacke fachte den Zorn der Kriegerinnen und Krieger, ihrer Familien und der übrigen nur noch mehr an. Als es dunkel war, warf ein junges Paar Wurfanker die Klippe hinauf und erklomm lediglich mit Kurzschwertern bewaffnet die Höhen, um den Feind zu suchen. Sie fanden zwar keine Orks, wurden aber für ihre Bemühungen sehr gelobt. Nach diesem Zwischenfall hielt sich die Armee an die breiteren Durchbrüche und lagerte mehr auf offenem Gelände. Trotzdem sauste in der folgenden Nacht ein neuerlicher Feuerball vom Himmel herab. Glücklicherweise wußten alle um dessen Gefährlichkeit und krochen rechtzeitig von den Lagerfeuern weg. Die folgende Explosion warf gelbrote Flammen auf und schleuderte das eiserne Kochgeschirr zehn Schritt durch die Luft, so daß es wie tödlicher Hagel auf die Erde niederprasselte. Die Armee bereitete sich auf einen Angriff vor und verbrachte eine schlaflose Nacht des Wartens, nur um mit 219
verquollenen Augen einer friedlichen Morgendämmerung entgegenzusehen. Eines Morgens wurde eine Gruppe Späherinnen von riesigen sandfarbenen Katzen angegriffen. Einer der Frauen wurde das Bein aufgerissen, doch sie hatte Glück im Unglück, da die Raubtiere sich lieber über ihr Pferd hermachten. Gull kannte den Namen dieser Tiere Löwen -, denn auch sie waren vor Monden schon einmal von dem gerüsteten Magier beschworen worden und hatten seine Pferde- und Maultierherde angegriffen. Ein weiterer Kundschafter, Dinos, wollte eine Höhle erkunden und kam nicht mehr heraus. Seine Partnerin berichtete, sie habe seltsame Musik gehört und ihn davor gewarnt hineinzugehen, doch er war wie gebannt gewesen und hatte ihre Warnung mißachtet. Als sie endlich die Höhle erreicht hatte, war er bereits tot. Sein Hinterkopf war von einer Steinkeule zerschmettert und sein Körper in blutige Klumpen gehackt worden. Die Söldlinge dürsteten inzwischen nach Rache, und Gull und Rakel konnten das sehr gut verstehen. Doch es gab nur wenig, was sie tun konnten, außer wachsam zu bleiben. Einzeln oder in kleinen Gruppen vorzustoßen würde nur sinnlos Leben vergeuden und die Armee schwächen. Einmal, als erneut ein Feuerball in ein Lagerfeuer fauchte, sprangen ein halbes Dutzend Söldlinge spontan auf und stürmten in die Nacht davon. Dieses Mal kehrten sie hinkend, aber zufrieden grinsend zurück, in ihren Händen die graugrünen plattnasigen Köpfe von drei Orks und einem hölzernen feuerspuckenden Rohr. Gull lobte ihre Heldentat, während Rakel sie für ihre Befehlsmißachtung bestrafen mußte. »Im Grunde genommen«, vertraute sie Gull eines Nachts im Zelt an, »bin ich froh darüber, daß sie so kampfeslüstern sind, daß sie Eisen fressen und Feuer spucken. Nach diesem großen Triumph ist ihre Moral verdammt gut. Sie sind heiß auf eine weitere Schlacht. 220
Wenn wir nur einen Feind zu fassen bekämen, würden wir ihn zerstampfen.« »Das werden wir schon«, antwortete Gull. »Hab Geduld. >Dem Geduldigen gehört die Welt<, sagte mein Vater immer.« Rakel verdrehte ihre Augen. »Du wirst ja 'n richtiges trotteliges, quasseliges Großväterchen in letzter Zeit. Noch mehr Weisheiten, Graubart?« Gull kicherte und umschlang ihre Hüfte mit einem Arm. »Komm nur näher, Kindchen, und ich geb dir mehr als nur guten Rat.« Die ganze Zeit hörte Chani nicht auf, Greensleeves' Wissen zu mehren. Oft zogen sich die beiden an einen abgelegenen Ort zurück - unter einen Baum, neben eine Felswand, unter einen schützenden Überhang oder neben ein Felsbecken. Chani wisperte dann immer einen Zauber, der die anderen unbewußt fernhielt. Die beiden konnten sich dann ungestört unterhalten und sich stundenlang alte Legenden, Pflanzenkunde, Volkssagen, Lieder und Sprüche einprägen, obwohl sie niemals lange fortzubleiben schienen. In diesen Lektionen lernte Greensleeves von Urza und Mishra, vom Stein der Macht und vom Stein der Schwäche, vom Krieg der Brüder, von den Elfenbeintürmen und von den meilentiefen Minen, von ganzen Kontinenten, die verödet wurden, um Kriegsmaterial zu beschaffen, von Monstern, die in den dunkelsten Tagen des Krieges beschworen oder erschaffen worden waren, von den Sklaven, die, dem Untergang geweiht, in Ashnods >Hirnmühlen< geformt wurden, von der verfluchten Folterbank und vom Su-Chi, dem allesheilenden Amulett von Kroog, einer Stadt, die so gründlich zerstört worden war, daß niemand mehr wußte, wo ihre Ruinen standen, vom grinsenden Atog, der sich durch Leichenfelder grub und die Sünden der gepeinigten Seelen mit sich zerrte. Es war faszinierend, von den ruhmreichen und dunklen . 221
Tagen der vergangenen Zeiten zu hören. Doch jede Geschichte warf hundert neue Fragen auf, auf die weder Chani noch irgend jemand anders Antworten wußte. Nach jeder Lektion stolperte Greensleeves in ihr Zelt zurück und brach auf ihrer Decke zusammen, sowohl körperlich als auch geistig völlig ausgelaugt. Wenn sie erwachte, barst ihr Geist vor Wissen, manchmal vergaß sie die Namen von Leuten - selbst ihren eigenen - und verlor die Wirklichkeit des Tages und ihr Ziel aus den Augen. An manchen Tagen war sie so trunken von dem Erlernten, daß Lily und ihre Dienstmädchen sie den ganzen Tag im Lager herumführen mußten. Wenn es darum ging, einen Spruch von den Hunderten, die sie gelernt hatte, auszuwählen, kam sie sich oft vor wie eine verhungernde Frau an einer Festtafel, überwältigt von der schieren Zahl der Wahlmöglichkeiten. »Wie«, fragte sie Chani, »soll ich mich in einem Magieduell für einen Spruch entscheiden, wenn es doch so viele gibt?« Chani kicherte nur. »Es wird sich von allein klären. Deinen Geist mit Wissen vollzustopfen, ist so, als fülle man einen Korb mit Korn. Man muß es schütteln und drücken und ihm Zeit lassen sich zu setzen. Du wirst es wissen, wenn die Zeit gekommen ist. Du wirst dann in der Lage sein, die Umgebung, das Mana, deinen Feind und deine Reserven einzuschätzen, genauso wie eine Bardin weiß, welches von den hundert Liedern ein König zu hören wünscht.« »Aber wann werde ich mich teleportieren können?« fragte Greensleeves. »Du hast gesagt, daß dies nur die zweite Stufe wäre, und ich habe es noch nicht einmal versucht, geschweige denn, daß ich eine Ahnung hätte, wie ich es überhaupt anstellen sollte. Auf all die Dinge, die ich gelernt habe, kommen tausend Fragen ohne Antworten. Tausend ungefüllte Lücken.« Aber insgeheim fürchtete sich ein Teil von ihr davon, diese Erfahrung zu machen. Falls irgend etwas ihre gei222
stige Gesundheit aus dem Gleichgewicht bringen konnte, dann wäre es, sich selbst aufzulösen und in Fetzen durch den Äther zu fliegen. Erschreckt fuhr sie auf, als die Druidin sie mit ihrer eiskalten Hand tätschelte. »Alles zu seiner Zeit.« Eines Morgens meldete Amma erleichtert, daß Tybalt genesen war. Erfreut eilten Greensleeves, Lily, Kwam und die Studentinnen an sein Krankenbett - eine einfache Matte im Schatten einer Zitterpappel. Die Nase des elfischen Mannes schien noch größer als zuvor, da er so bleich und hohlwangig war. Das grüne Gehirn, das jetzt ein steinerner Helm war, war, wie Amma berichtete, letzte Nacht einfach abgefallen und lag nun nicht weit entfernt auf einem Felsen. Doch Tybals eingesunkene Augen blickten schon wieder klar. »Willkommen daheim«, versuchte Greensleeves zu scherzen, obwohl ihr nicht danach zu Mute war. Wachsam behielt sie den Steinhelm im Auge. »Wie... was... ist passiert?« Tybalt schloß die Augen, noch immer ausgelaugt von der Tortur. »Der Helm... muß das Objekt sein, das wir suchen. Die Waffe... die gegen Zauberer benutzt wird... um sie zum Gehorsam zu zwingen. Wißt ihr, als es mir nicht gelang... es hat keinen Mund... es flüstert nicht...« Sie alle schauten und sahen, daß er recht hatte. Das Ding wirkte so leblos wie ein Stein und war ebenso still. »Als ich es aufsetzte... konnte ich ein Stimmengewirr fühlen, hören. Dutzende von Stimmen, alle forderten, daß ich mich unterwerfen solle, abschwören, aufhören, Magie anzuwenden. Aber... ich habe gar keine magischen Kräfte. Es gibt keine Sprüche, die ich wirken könnte. Oh, es hat so weh getan.« Die anderen nickten verständnisvoll. Tybalt, Kwam, Daru und Ertha waren Studentinnen und Studenten der Magie, weil sie sich für diese Kunst begeisterten und 223
von ihr fasziniert waren - doch sie selbst waren nicht von magischer Energie durchdrungen. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, daß sie eines Tages nach langen Studien irgendwie das Beschwören lernen könnten. Tybalt krächzte weiter: »Es waren die Stimmen der Weisen von Lat-Nam, Dutzende von ihnen, und sie brüllten mich nieder. Ohne Schild, ohne Schutz, ohne die Möglichkeit, meinen Verstand zu verschließen, rannte ich schreiend davon und versteckte mich in einer dunklen Ecke meines eigenen Gehirns.« Er zitterte wie Espenlaub, und Amma zog seine Decke höher. Seine Stimme war nur noch ein Wispern. »Ich dachte, ich würde nie wieder entkommen...« Greensleeves Hände zitterten, als sie Tybalt tröstend über das Haar strich. »Aber du hast es geschafft. Du warst sehr, sehr tapfer. Einem solchen... Hagelsturm von Befehlen zu trotzen. Sehr tapfer, daß du versucht hast...« - sie konnte die Worte >bei Verstand zu bleiben< nicht aussprechen - »... zu dir selbst zurückzukehren. Alles ist wieder gut, und du solltest dich jetzt ausruhen.« »Ja«, entgegnete Tybalt. »Ich denke, das werde ich.« Schon begann er einzunicken, als er plötzlich wieder auffuhr und Greensleeves' Hand ergriff. »Aber du weißt es! Es gibt mehr! Da sind Geheimnisse im Inneren des Helms! In ihm sind Legenden und Geschichten... und Sprüche, Hunderte davon! Es ist so, als könne man die Gedanken aller Zauberer lesen. Denk nur, was man lernen könnte...« Greensleeves schüttelte den Kopf und entzog ihm sanft ihre Hand. »Du wirst niemals aufhören, der Magie nachzujagen, nicht wahr, Tybalt? Ja, wir werden die Geheimnisse erforschen. Aber nicht heute. Schlaf jetzt.« Erschöpft und ausgelaugt schloß Tybalt die Augen und schlief ein. »Nun«, grübelte Lily und heftete den Blick auf den Steinhelm, »jetzt wissen wir, wie man ihn benutzt, um 224
Magier unseren Willen aufzuzwingen, aber wagen wir das?« Greensleeves wußte keine Antwort. Am nächsten Tag galoppierte ein Späher an den Wachen vorbei geradewegs in das Lager auf Rakels Zelt zu. Er sprang aus dem Sattel und keuchte: »Ich habe es gefunden ... Frau Kommandeurin! Ein... ausgehöhlter Felsturm... wie ein... eine Fledermaushöhle! Keine drei Meilen... im Nordosten! Da hat er sich verschanzt... der Gerüstete!« Rakel schlug sich mit der behandschuhten Faust in die Handfläche. »Ich wußte es. Seine hinterhältigen kleinen Angriffe haben immer mehr zugenommen. Er bekommt immer mehr Angst, je näher wir seinem Rattenloch kommen. Sprich weiter!« Die Kommandeurin ergriff ihren ledernen Helm und einen grauen Umhang. »He, du! Hol mir Seile! Treib den General auf, und beschaff mir ein paar faulenzende Späher! Du, führ uns!« Die Feste des Kampfmagiers glich einem umgedrehten Kartoffelstampfer: Wie viele der seltsamen vom Wind geformten Felsnadeln, die sie in diesen Schluchten gesehen hatten, war er oben breiter als unten - eine einzige spitz zulaufende Säule aus rotem Stein, die völlig frei in der Mitte eines kleinen Tales stand. Chani hatte erklärt, daß die Felstürme aus Feuerstein oder Kieselschiefer bestanden, Gesteinsadern, die vom Mittelpunkt der Erde emporgeschleudert worden waren. Da sie härter als die Kalkscheinschichten waren, die sie umgaben, hatten Wind und Wasser sie über Jahrhunderte freigelegt. Die Spitze der Felsnadel war flach wie eine Tischplatte und vielleicht fünfzehn Schritt breit. Sie war durchlöchert wie ein Vogelbrutplatz, und tatsächlich flatterten riesige Fledermäuse mit gelbgesprenkelter Brust träge um den Turm herum. Viele Löcher waren vergrößert worden, so daß sie einem großen Mann Platz 225
boten - einem Zauberer in einer Rüstung mit langen Hörnern. Neben dem natürlichen Schutz des isolierten Steins die Löcher begannen erst zehn Schritt über dem Boden war ein Graben um die Säule herum ausgehoben worden. Eine einzelne flache Steinbrücke überspannte den Burggraben, und vom untersten Loch hing eine Kettenleiter herab. Im Tal lungerten Hunderte von Orks herum, das stehende Heer des Zauberers. Sie dösten in der Sonne wie Eidechsen, balgten sich um Mahlzeiten und um die Beute wie Bussarde oder wühlten wie Ratten im Unrat. Die Wände der Schlucht waren von Höhlen durchlöchert: elende Löcher, in denen sich die Kreaturen verkriechen konnten. Das Fehlen von Wachposten zeigte, wie nutzlos und schlampig die Orks waren. »Wann sollen wir angreifen?« wisperte Gull. Die Spione - Gull, Rakel, Bardo, Kamee, die oberste Kartographin und zwei Späher - kauerten in einer hochgelegenen Felsspalte, von der aus man das gesamte Tal überblicken konnte. Rakel hatte fast den ganzen Tag gebraucht, um sie hierherzubringen. Sie waren in erdfarbene Decken gehüllt über das Geröll gekrochen, und die Kommandeurin hatte den Kundschaftern befohlen, sich aller Ausrüstungsgegenstände zu entledigen, die vielleicht verräterische Geräusche von sich geben konnten. Außerdem hatte man glänzende Rüstteile und Waffen mit Ruß bestrichen. Der Spähtrupp hatte allein zwei Stunden dafür gebraucht, durch die Klamm zu kriechen, da sie immer darauf achten mußten, sich nicht gegen den Horizont abzuheben. Rakel antwortete: »Der gepanzerte Bastard greift immer nachts an, also werden wir bei Tag zuschlagen. In der Morgendämmerung, wenn diese Nachtschwärmer besonders müde sind. Das gibt uns einen ganzen Tag, um einen Feldzugsplan auszuarbeiten.« 226
Dann fragte sie Kamee: »Du hast gesagt, drei Zugänge führen ins Tal?« Die dunkle Frau nickte. »Vier, wenn man diesen mitzählt. Aber er liegt so hoch, daß wir Seile brauchen. Die anderen drei können wir zu Pferd passieren, obwohl wir auf Erdrutsche achtgeben müssen.« »Wir werden schneller sein, als die Erde rutschen kann.« Rakel dachte eine Weile nach. »Wir nehmen alle drei. Dann haben wir mehr Platz für den Angriff, und wir können sie als Fluchtlöcher nutzen, wenn etwas schiefgeht.« »Es wird nichts schiefgehen«, versicherte ihr Gull. »Unsere Soldaten sind wild darauf zu kämpfen, und du hast den Befehl. Wir werden diese Schlacht gewinnen ein guter, sauberer Sieg, den wir einfahren können. Unsere Familien werden stolz auf uns sein.« Doch dieser beiläufige Satz ließ ihn zornig und traurig werden. Seine Eltern waren tot, Opfer der Zauberei. Er täte gut daran, in der kommenden Schlacht daran zu denken. Es würde ihm die Kraft geben, gegen den gepanzerten Zauberer zu bestehen. »Also dann, übermorgen bei Sonnenaufgang«, beschloß Rakel. »Keine Feuer bis dahin, und kein Lärm. Wir werden morgen in Stellung gehen, früh ruhen und um Mitternacht aufstehen.« Insgeheim freute sie sich trotz ihrer Sorgen. Wenn ihre alten Ausbilder aus der Schule sie jetzt nur sehen könnten! Wie sie eine Armee kommandierte und tief in feindlichem Gebiet einen Angriff plante. Und wenn nur Garth hier wäre... und Hammen. Um seine Mutter um Ruhm und Ehre streiten zu sehen. Dieses Mal war es die Armee von Gull und Greensleeves, die einen heimtückischen Angriff ausführte und ihr Ansturm wurde von zorniger Wut beflügelt. Die drei Eingänge zum Tal des Zauberers lagen im Norden, im Osten und im Südwesten. Rakels Truppen 227
waren bereits am Tag vorher in Stellung geritten, ihre klirrenden Waffen hatten sie festgebunden, die Hufe der Pferde mit Lumpen umwickelt. Die Troßleute waren ihnen gefolgt und hatten unter Felsvorsprüngen und wenn möglich - in Höhlen ihre Lager aufgeschlagen, und selbst die Kinder lärmten bei ihren Spielen nicht. Schließlich, in tiefster Nacht, schlichen die Fußsoldaten aus dem Lager, und die Pferde wurden in einer Linie aufgestellt. Rakel beobachtete den Himmel und lauschte den Vorbereitungen ihrer Armee. Dann sprach sie rasch ein Gebet zu ihrem Kriegsgott und befahl den Angriff. Der Schall des Widderhorns ließ die Morgendämmerung erzittern. Als die Sonne blutrot über den Ödlanden aufstieg und das Land in lange rote und schwarze Schatten teilte, strömte die Armee schreiend, brüllend und johlend in das Tal. Aus dem Norden kamen die Kavallerie und die Späher: Sie hatten ihre Lanzen dicht neben den Köpfen ihrer Pferde angelegt, und ihre gelben Bänder flatterten im Wind. Vom Südwesten her kamen die Roten und die Grünen angerannt. Sie hatten den kürzesten Weg, während Rakel, Gull und Neiths Blaue von Osten kamen und somit die größte Entfernung zurückzulegen hatten, da sie erst die Schlucht umgehen mußten. Obwohl sie kaum mehr als dreißig Leute waren, machten sie einen Lärm wie dreihundert Berserker, und das Donnern der Hufe und Stiefel in den drei engen Schluchten war ohrenbetäubend. Der schläfrige Feind wurde eiskalt erwischt. Nun fanden sich die hinterhältigen Orks, die selbst so oft von oben und von hinten zugeschlagen hatten, zwischen drei Phalanxen wutschnaubender Kriegerinnen und Krieger eingekesselt. Die olivfarbenen Unholde brüllten, rannten los, krachten ineinander, stolperten und purzelten übereinander und tauchten so schnell in ihre winzigen Höhlen, daß ihre Köpfe gegen die Felswände 228
knallten. Zwei von ihnen versuchten gleichzeitig, die Steinbrücke zu überqueren, die sich über den Graben um den Turm des Magiers spannte, doch sie behinderten sich dabei so sehr, daß sie beide unter wilden Flüchen in den Graben fielen. Doch allzulange mußten die Grünpelze ihre schändliche Niederlage nicht erdulden, denn die meisten von ihnen starben innerhalb von Minuten. Der aus Kavallerie und Spähern zusammengesetzte Trupp, der den Angriff führen durfte, formierte sich unter Helkis Kommando zu einem Doppelkeil, der durch die Reihen der Orks schnitt wie eine Sichel durchs Getreide. Ihre Lanzenspitzen durchbohrten die Widerlinge, und wenn die Schäfte splitterten oder zu schwer wurden, spalteten ihre Säbel grüne Köpfe oder fuhren durch ledergeschützte Arme. Die Fußsoldaten spannten ihre Bögen - Sehnen sangen, Pfeile schwirrten -, und wieder starben Orks. Die entsetzten Kreaturen stürmten mal in die eine, mal in die andere Richtung, um dem allgegenwärtigen Tod zu entrinnen, doch die Ausgänge des Tals waren ihnen versperrt. Nach und nach verebbten die Schreie, und grünschwarzes Blut strömte in Bächen über den steinigen Boden des einsamen Tals. Es war ein einziges Schlachtfest, doch Rakel, Gull und all die anderen waren übereingekommen, daß die Armee es verdiente, und so wurden die hinterhältigen Attacken der Orks bitterlich gerächt. Die Hälfte seines stehenden Heeres war bereits tot, bevor der gerüstete Magier auf der Bildfläche erschien. Greensleeves und ihre Studentinnen und Studenten, der wacklige Tybalt eingeschlossen, waren den Offizieren und den Blauen dicht auf den Fersen gefolgt. Sie erspähten eine stämmige nackte Gestalt an einem der oberen in den Fels geschnittenen Fenster, doch der Mann verschwand gleich wieder. Wenige Minuten später erschien er erneut, nur mit der Hälfte seiner prächtigen Rüstung: dem Brustpanzer, dem gehörnten Helm, den Stulpen229
handschuhen und dem Gürtel. Darunter trug er einen schmutzigen Wollkittel. Der Magier winkte mit beiden Händen und verstreute weiße Späne wie Samenkörner. Sie rieselten aus dem Fenster, und dort, wo sie landeten, drehten sich spiralförmige Aschewölkchen aufwärts, die sich zu etwa fünfzig oder mehr Goblinskeletten verdichteten. Gull und Greensleeves hatten diese winzigen hüpfenden Gestalten aus vergilbten Knochen vor langer Zeit in dem verbrannten Wald gesehen, und sie waren damals von Furcht ergriffen worden. Doch am Tag ähnelten die Goblinskelette eher alten Hühnerknochen auf einem Misthaufen, und der erste Säbelhieb eines Kavalleristen zerstreute die Knochen wie Kleinholz. Die Goblinskelette wurden gemeinsam mit den sterbenden Orks in den Boden gestampft. Greensleeves lachte lauthals, denn dieses Mal befand sich das Glück auf ihrer Seite. Sie wußte, daß Beschwörungen Zeit brauchten, einige Sprüche nur Sekunden, andere Minuten. Aber dieser halb angekleidete und verwirrte Magier hatte keine Zeit mehr zur Verfügung. Greensleeves würde schon dafür sorgen. Die junge Druidin glitt von ihrer Stute Goldenrod, hob eine Hand, deutete auf den hochgelegenen Raum, in dem der Kampfmagier sich damit abmühte, einen weiteren Zauber zu wirken und dachte an einige ihrer ältesten Freunde, die in diesem Moment im Hochland des Flüsterwaldes ihren Winterschlaf hielten. »Helft mir, meine Freunde, und ich werde dafür sorgen, daß ihr belohnt werdet...« Selbst durch den Schlachtenlärm hindurch hörte sie das entsetzte Kreischen des halbgerüsteten Kampfmagiers, das sich an den Felswänden brach. Er torkelte zum Fenster, wälzte sich über die Fensterkante, hielt sich eine Weile verzweifelt mit den Händen fest und glitt dann in ein weiteres Fenster, das unmittelbar darunter lag. Am Fenster der Kammer, die er gerade geräumt hatte, er230
schien der Kopf eines riesigen Graubären und blickte sich hustend und brummend nach dem Mann um, der so unverschämt in seine Höhle eingedrungen war. Greensleeves sah, wie sich aus dem unteren Fenster behandschuhte Hände hervorstreckten. Müßig fragte sie sich, was der Zauberer als nächstes beschwören wollte. Sie würde ihn später fragen, wenn er erst einmal gefangengenommen worden war... Dann raffte sie ihre Röcke, kauerte sich hin und legte beide Hände flach auf die Erde. Sie hatte gestern mit der Erde gesprochen, hatte mit einem Ohr am Boden gelauscht und ihren Herzschlag und ihre Laune erkundet. Wenn sie sie nun anzapfen könnte... Währenddessen war die Schlachterei im Tal noch immer im Gange. Überall lagen mit dunklem Blut bespritzte Körper grüne wie zerbrochene und verdrehte Puppen herum. Einige Kriegerinnen und Krieger durchschnitten die Kehlen der verwundeten Orks, während andere die geflohenen Unholde aus den Höhlen zogen und niederstachen. Danach wischten sie ihre Klingen an den zerrissenen Kilts der Orks ab. Rakel befahl der Hornbläserin >Sammeln< zu blasen, denn die Offiziere hatten sich darauf geeinigt, sich vom Turm zurückzuziehen und Greensleeves die Arbeit zu überlassen. Die Armee nahm in einer weit auseinandergezogenen Linie Aufstellung, damit sie im Falle eines Feuerballangriffs nur ein verstreutes Ziel bot. Alle lachten vor Freude über den leichten Sieg. Die Kavalleristen vollführten dramatische Wendungen auf der Hinterhand und galoppierten zu zweit oder zu dritt zu den Ausgängen des Tals, um sie zu bewachen. Viele beschatteten ihre Augen gegen das morgendliche Licht, um zu erkennen, was als nächstes geschah. Sie sahen, wie der teilweise gerüstete Magier seine geballte Faust, aus der es rot glühte, hoch in die Luft hob. Da inzwischen allen bekannt war, daß dies der Stein der Macht war - eine geheimnisvolle tödliche Waffe -, wi231
chen die Söldlinge unwillkürlich zurück, so daß Rakel brüllend >Stillstehen< befahl. Nur Greensleeves war nicht beeindruckt. Sie saß zusammengekauert auf der Erde und drückte die Handflächen fest auf den steinigen Boden. Ihre Augen waren geschlossen, und sie richtete all ihre Sinne in die Tiefe. Auf seinem erhöhten Balkon drohte der Kampfmagier mit dem Stein der Macht und schrie einen uralten Fluch, der sich wieder und wieder an den Wänden der Schlucht brach. Ganz langsam begannen die Felswände zu zerfließen. Die Menschen starrten entsetzt nach oben, als sich riesige Tropfen massiven Steins aus den Wänden lösten und auf den felsigen Boden niederregneten. Die rostroten, ockerfarbenen, schmutzig weißen oder schiefergrauen >Tropfen< warfen Blasen wie geschmolzener Stahl und flossen langsam in eine neue Form. Aus der Mitte einer jeden kochenden Steinpfütze stieg ein Kopf empor, dann ein Hals, dann ein Rumpf, aus dem Arme wuchsen. Die riesigen Gestalten verdichteten sich zu Männern und Frauen, zu Lehmgiganten - weich, gesichtslos und scheinbar genauso mächtig wie die Erde selbst. Der Siegesrausch der Soldaten war wie weggeblasen, und sie gerieten in Panik, als sie von Dutzenden dieser Lehmwesen umringt wurden. Rakels Hauptleute brüllten sich heiser, um die Linien geordnet zu halten, und klatschten mit den flachen Seiten ihrer Schwerter auf die Rücken und Schultern ihrer Leute. Die plumpen Gestalten - so groß wie der Riese Liko - ragten überall drohend über ihnen auf. Die Armee wußte, daß derartige Monster sie wie Ameisen zertreten konnten, ohne daß sie eine Möglichkeit hatten zurückzuschlagen. Die Männer und Frauen traten unruhig auf der Stelle und blickten sich ängstlich um. Einige flehten Greensleeves an, sie zu retten, und selbst die Magiestudenten zitterten vor Angst. 232
Während der ganzen Zeit preßte Greensleeves die Hände fest gegen den Boden. Ihr Geist und ihre Seele drangen in die Erde ein. Wie ein blinder Maulwurf durchpflügte ihr Geist das Innere der Welt, und mit unsichtbaren Fingern aus purem Mana versuchte sie, die Stärken und Schwächen des Tals zu ergründen und zu erspüren. Nur schwach vernahm sie ängstliche Stimmen von Menschen, die ihren Namen riefen. Doch ihr Geist war tief unter der Erde verloren. Vergessen und abseits saß die uralte Druidin Chani auf dem schwankenden Sattel ihres Ponys. Sie räusperte sich und hustete trocken, bevor sie mit krächzender Stimme zu singen begann. Rakel lief auf Gull zu. Sie mochte zwar tapfer sein, doch Dutzende von Lehmriesen waren einfach zuviel für dreißig Söldlinge. Sie war bereit, den Rückzug anzuordnen, und zermarterte sich bereits das Hirn über den besten Fluchtweg. Sie fluchte. Warum konnten diese verdammten nutzlosen Handwedler diese magische Bedrohung nicht abwenden? Sie sah, wie die Lehmkreaturen ihre ersten großen Schritte aus den Pfützen taten, die sie hervorgebracht hatten, und gewaltige irdene Fäuste über die Köpfe erhoben, um das Leben aus den Lebenden zu prügeln... Chanis seltsamer wilder Gesang erhob sich, brach sich an den Wänden... ...und ganz allmählich verlangsamten die Lehmgolems ihre Schritte und blieben dann wie eingefroren stehen. Als jeder von ihnen nach kaum drei Schritten zum Stillstand gekommen war, brach der Gesang der Druidin ab. In der Stille atmeten die Söldlinge aus und lachten vor Erleichterung. Tybalt, der inzwischen von seiner geistigen Umnachtung genesen war, schlich sich auf Zehenspitzen voran. Er hob eine Kriegskeule auf und stahl sich an den nächsten Lehmgolem heran, der wie das Abbild des Steinturms vor ihm aufragte. Die Keule auf Armes233
länge von sich gestreckt, stieß Tybalt zunächst prüfend gegen ein ausgestrecktes, eingefrorenes Bein, dann schlug er zu. Wie eine Sandburg zerbröselte das Bein und rieselte in Krümeln zu Boden. Die Armee brüllte vor Begeisterung. Auch Rakel lachte und ließ mit einer Handbewegung die Soldatinnen und Soldaten wegtreten. Die Infanteristen rannten mit erhobenen Waffen auf die Golems zu und zerschlugen sie zu Haufen aus getrocknetem Lehm. Nun, da die Furcht von ihnen abgefallen war, lachten sie lauthals wie Kinder. Dann bebte der Boden unter ihren Füßen. Als Greensleeves weit in die endlose Tiefe der Erde vorgedrungen war, hatte sie eine Schwachstelle gefunden und sie bis dicht unter die Erdoberfläche verfolgt. Sie stieß ihre magischen Finger in den Riß und setzte genug astrale Kraft frei, um das Gleichgewicht der Erde zu stören. Es genügte, um ihr Vorhaben gelingen zu lassen: Der Erdstoß riß den Boden der Schlucht wie einen Teppich unter dem Steinturm weg. Felsen polterten von den Wänden und zerbarsten am Boden. Die Soldatinnen und Soldaten versuchten schwankend, das Gleichgewicht zu halten, während die Kavalleristen die Zügel kürzer faßten, um ihre ängstlichen Pferde davon abzuhalten durchzugehen. Die Hornbläserin ließ ihr Instrument fallen, und irgend jemand schrie. Chani lächelte zufrieden, als der Steinturm des Zauberers erzitterte und sich zur Seite neigte. Fasziniert von ihrem Erfolg beobachtete Greensleeves, wie die kaum vier Schritt breite Felsnadel, die den Turm stützte, zerbrach. Einen Augenblick lang blieb der Steinturm noch aufrecht stehen, doch dann siegte die Schwerkraft, und er geriet aus dem Gleichgewicht. Ganz langsam kippte er und fiel - geradewegs auf Greensleeves zu. Die Augen der Druidin weiteten sich. Sie rappelte sich 234
von ihren schmutzigen Knien auf, raffte ihre Röcke und rannte los. Als der Schatten des fallenden Turms sie einholte, sah sie, wie ihr kräftiger Bruder zu ihrer Rettung herbeieilte. Doch er war zu weit entfernt. Zu spät! Dann ertönten schwere Schritte neben ihr, und sie hörte keuchenden Atem. Starke, aber schlanke Hände legten sich um ihre Hüfte. Der geheimnisvolle Jemand hob sie an seine Brust und rannte auf einen steilen Abhang zu. Sie wurden von den Füßen gerissen und auf die Erde geschleudert, als der mächtige Steinturm auf den Boden des Tales krachte. Ein gewaltiges Donnern dröhnte in aller Ohren, gefolgt von einem Knirschen und Bersten, als die steinernen Kammern und Wände zertrümmert wurden. Steine flogen durch die Luft, so daß einige Leute zu Boden geworfen wurden, und erstickende Staubwolken wirbelten durch das Tal und legten sich wie ein Schleier über die Augen der Söldlinge. Es dauerte Minuten, während derer sich der Steinstaub langsam setzte, bis Greensleeves ihren Retter erkannte. Als die Steinsäule sich dem Boden entgegenneigte, sah Gull ein Aufblitzen in einem der oberen Fenster. Dann sprang der teilweise gerüstete Zauberer in einem großen, magisch erweiterten Bogen aus dem Turm. Aber der Sprung reichte nicht bis zum Rand der Schlucht oder auch nur bis zu einem erhöhten Felssims, so daß der Magier in sieben Schritt Höhe geradewegs gegen die Steinwand krachte. Mit ohrenbetäubendem Scheppern prallte er - durch die Rüstung und einen Zauberspruch teilweise geschützt - schmerzhaft gegen die Felswand und purzelte in einer Geröllawine nach unten. Dort rappelte er sich mühsam auf und fingerte an seinem Gürtel nach einem weiteren Artefakt. Gull kam gerade rechtzeitig. Blinzelnd sprang er in die Staubwolke, die der Kampf235
magier aufgewirbelt hatte, und schwang seine doppelköpfige Axt hoch über seiner rechten Schulter. Bevor der Magier sich ducken konnte, war die Axtklinge bereits in seinen Brustpanzer gekracht und warf ihn zurück gegen die Felswand. Ein weiterer gutgezielter Hieb beulte ihm den Helm ein, und als Gull die Axt wieder zurückriß, wurde er ihm vom Kopf gezerrt und polterte zwischen die Felsen. Beidhändig schwang Gull die Axt über dem Kopf, bereit, den Magier wie einen Hartholzklotz zu spalten. Doch der benommene Kampfzauberer machte keine Anstalten sich zu wehren, also rief der Holzfäller: »Ergibst du dich, du Bastard?« Der Zauberer hob die leeren Hände. »Ja, ja! Ich ergebe mich... mich! Tötet mich nicht... nicht! Ich werde nichts beschwören... ren!« Der Holzfäller senkte die Axt und grinste. »Na, also. Bin ich also doch noch zu was nutze!« Hinter ihm überschlug sich die Armee mit Jubelrufen. Aber es dauerte eine Weile, bevor Greensleeves die Gefangennahme oder die Jubelrufe bemerkte, denn sie lag in den schlanken Armen eines Mannes, der sie nur widerwillig losließ. »Kwam?« Ohne eine Antwort stand der hochgewachsene Jüngling linkisch auf und schlug den Staub von seiner Kleidung. Vor Verlegenheit fehlten ihm die Worte, aber seine Augen leuchteten vor Freude: Er hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt, um sie zu retten, und er hatte es vollbracht. Zum ersten Mal nahm Greensleeves von diesem Mann Notiz. Seit Monden war er - wie ihr jetzt erst auffiel um sie herumgeschlichen, und nie war er ihr von der Seite gewichen. Sie hatte immer geglaubt, er interessiere sich nur für die Kunst der Magie, aber jetzt wurde ihr der wahre Grund seiner Anhänglichkeit klar: Er interessierte sich für... sie! 236
Selbst sprachlos, konnte sie ihn nur anlächeln. Er lächelte zurück. Niemand achtete auf den Mann, der am Rand der Klippe ins Dasein flimmerte. Es war ein dunkler Bartträger mit einer zweckmäßigen schlichten dunklen Weste, die mit Sternen- und Mondmotiven quer über der Brust und den Rippen bestickt war. Auf seiner Weste glühte sanft eine rotumrandete schwarze Rune - ein Verschleierungszauber, ein Schutz vor Entdeckung -, denn er spürte, daß zwei mächtige Zauberinnen in der Nähe waren. Es war Guyapi, der Zauberer aus Benalia, der Rakel im vergangenen Mond zu ihrer unheilvollen Aufgabe quer durch die Dimensionen geschickt hatte. Niemand sah ihn, aber er sah Rakel. Er beobachtete, wie sie die Kriegerinnen und Krieger in die Reihen befahl und wie sie sich mit einem großen Mann, der eine Holzfälleraxt trug, und mit einer kleinen, schäbigen, grüngekleideten Frau mit einem zerrissenen Schal beriet. Die Frau und der Mann sahen sich sehr ähnlich - ohne Zweifel waren sie Schwester und Bruder. Sie lebten also noch, und Rakel half ihnen. Nachdem er all das gesehen hatte, blinzelte sich der Magier wieder davon - zurück nach Benalia.
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»Du heißt Haakonkon?« »Nein, Wir werden Haakon genannt... nannt. Haakon der Erste, König der Ödlande... lande. Wie ist dein Name... Name, Bohnen-in-den-Ohren... ren?« Gull ließ die Beleidigung auf sich beruhen, denn der Sprachfehler des Magiers verwirrte ihn zu sehr. Nun, da er sich sicher war, daß sie ihn nicht töten würden, war der Tonfall des nicht länger gerüsteten Magiers mürrisch und verdrießlich geworden wie der eines verwöhnten Kindes. Die Armee war in eine andere Schlucht gezogen, eine Meile von dem zerstörten Turm des Magiers entfernt In dem Tal, das sie hinter sich gelassen hatten, taten sich bereits Geier, Ratten und Kojoten an den Orkleichen gütlich. Auch die Rüstung des Magiers hatten sie zurückgelassen, da Chani sie für zu gefährlich hielt - sie konnte jemanden dazu zwingen, sie sich anzulegen. Also hatten sie die Teile in den Graben rings um den zerstörten Turm geworfen und sie unter Steinen und Geröll begraben. Den Stein der Macht aber hatten sie behalten. Ein kleiner Wasserfall rauschte am Nordende dieses mit grasbedeckten Tales über die Felsen, und Chani berichtete, daß die Ödlande nun lieblicher werden würden. Haakons Turm bildete sozusagen eine Art Eingang zu dem dahinterliegenden fruchtbaren Land. Während Geräusche des Abendessens, Gelächter und Siegeslieder um sie herum erklangen, versuchten Gull, Rakel, Greensleeves, Bardo, Helki und die anderen Offiziere, den selbsternannten >König der Ödlande< Haakon 238
zu befragen, der wie eine häßliche Wüstenkröte auf einem Felsen hockte. Der >König< war ein großer Mann, kräftig, aber inzwischen fett geworden, mit einem gewaltigen Doppelkinn, einem massigen Bauch und Wurstfingern. Seine Krone bestand aus einem ergrauenden strähnigen Haarkranz, der seine Ohren bedeckte und bis auf seinen schmutzigen Hals herabhing. Er stank und hätte ein Bad dringend nötig gehabt, denn in den letzten Wochen hatte er seine Rüstung nur selten abgelegt. Gull schätzte, daß er einst ein brutaler Leibwächter gewesen war und irgendeine wichtige Funktion innegehabt hatte, aber nun war er nur noch ein aufgedunsener, stinkender Gefangener in einem schmutzstarrenden Wollkittel. Außerdem war er sehr widerspenstig. Gull hatte ihm schon die verschiedenste Fragen gestellt, doch bis jetzt hatte er nur schnippische Antworten erhalten. Einmal versuchte er, an die Eitelkeit des Mannes zu appellieren. »Wie lange herrscht... Ihr denn schon über diese Ödlande?« fragte er. »Ich kann mich erinnern, daß Ihr Euch in der Nähe des Sternenkraters gezeigt habt...« »Laß das Grunzen... zen, Schwein!« knurrte der Magier. »Wir werden dir keines... nes Unserer Geheimnisse enthüllen... hüllen. Alles, was Wir dir gewähren... ren, ist eine Warnung... nung. Achte auf die Geschehnisse hinter deinem Rücken... ken. Du wirst Uns nicht lange gefangenhalten können... nen.« Rakel spottete und warf ihm einen finsteren Blick zu. Wie beiläufig schwenkte sie das Kurzschwert an ihrer Seite. »Wenn er nicht reden will, nützt er uns nichts. Laß mich ein bißchen Fett aus ihm herausschneiden und ihn für die Geier anpflocken. Zumindest ist er dann für sie von Nutzen.« Der Zauberer starrte nur vor sich hin, doch auf seiner gerunzelten Stim sammelten sich Schweißtropfen. Gull überlegte, was zu tun sei. Ihre eigentliche Sorge war es, daß dieser Hexer die ganze Zeit von mindestens zwei 239
Leuten bewacht werden mußte, damit er nicht plötzlich einen Spruch murmelte, mit den Händen wedelte, sich davonbeschwor und im Äther verschwand. Nun haben wir endlich einen Zauberer gefangen, grübelte Gull, aber keine Möglichkeit, ihn festzuhalten. Um den Mann zu verunsichern, fügte Gull hinzu: »Das wäre wohl das Beste. Mit Sicherheit können wir ihn nicht mitschleppen. Dieser Fettsack frißt wahrscheinlich mehr als drei Männer zusammen. Stell ein Exekutionskommando auf. Aber bring ihn ein Stück die Schlucht hoch. Ich kann das Gekrächze der Bussarde nicht ausstehen.« Er zwinkerte, als er seine Rede beendete. Doch noch bevor der Bluff sich entfalten konnte, näherte sich Greensleeves mit dem grünen Helm unter dem Arm. Ihr folgten die beiden Magiestudentinnen Ertha und Daru, der immer noch zitternde Tybalt und der stille Kwam. Immer öfter ertappte sich die junge Frau dabei, daß sie Kwam mit eindringlichen Seitenblicken bedachte wenn er sich dessen nicht bewußt war. Er war hochgewachsen, dunkel und schlank, mit sanften braunen Augen, so tief und unergründlich wie ein Brunnen. Greensleeves mochte sogar seine festen gelassenen Schritte und seine langen kräftigen Finger, die so behutsam sein konnten. Zum ersten Mal in ihrem Leben tanzten wegen eines Mannes Schmetterlinge in ihrem Bauch. Sie fühlte sich abwechselnd betrübt, unbeholfen und dann wieder überglücklich. Kwam mußte sie schon lange Zeit bewundert haben, ohne daß es ihr aufgefallen war. Sie war zu beschäftigt gewesen, um diese... ganz besondere Aufmerksamkeit zu bemerken. Doch bis jetzt konnte sie ihre Gefühle noch nicht mit dem Wort >Liebe< in Verbindung bringen. Gull runzelte die Stirn, als er den Helm erblickte, und Rakel klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden und spielte an ihrem Schwertgriff herum. Sie wollte end240
lieh Ergebnisse sehen, während die anderen Offiziere zwar neugierig, aber nicht recht bei der Sache waren. Am liebsten hätten sie geschlafen, da sie die ganze letzte Nacht damit verbracht hatten, Pläne für den Feldzug zu schmieden, und den halben Tag gekämpft hatten. Der fette Magier starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Helm. Trotz seiner ungewöhnlichen braunen Färbung und der grünen Flecken sah er mit den Furchen, die sich über seine Oberfläche zogen, mehr als sonst wie ein Gehirn aus. Offensichtlich wußte der Zauberer nicht, was er davon halten sollte. Ohne Vorwarnung nickte Greensleeves in Richtung des sitzenden Magiers. »Haltet ihn fest, bitte.« Bardo, Rakel und Helki, die daran gewöhnt waren, Befehle entgegenzunehmen, packten mit kräftigen Händen zu. Nur Gull stutzte. »Greenie, was...« Greensleeves setzte den Helm auf Haakons Kopf. »Jaaaaaaaahhhhhh!« Der Magier sprang auf wie von der Tarantel gestochen. Überrascht lockerte Helki den Griff, aber Rakel und Bardo hielten ihn unnachgiebig fest. Der fette Körper des Mannes krampfte sich zusammen, als er nach dem Helm griff und daran zerrte. Stöhnend und zitternd wand er sich in dem harten Griff. »Greenie, was zur Hölle tust du!?« brüllte Gull. »Experimente, Studien.« Die junge Druidin trat einen Schritt von dem sich windenden und wild um sich tretenden Haakon zurück. »Wir wissen, was es mit Tybalt gemacht hat, also wollten Wir...« Gull wedelte aufgeregt mit seiner langen Axt in der Luft herum. »Allerdings wissen wir das! Es hat ihn verdammt noch mal beinahe umgebracht! Es hat ihn eine Woche lang in den Wahnsinn getrieben!« »Ich...« Greensleeves hielt inne. Das Wort Wahnsinn dröhnte wie eine Glocke in ihrem Kopf. »Ich... Wir wissen, wozu der Helm geschaffen wurde und wie man ihn benutzt. Also werden Wir ihn benutzen. Das ist doch 241
unser Ziel, nicht wahr? Magier unter unseren Bann zu zwingen?« Verblüfft über die gelassene Grausamkeit seiner Schwester stotterte Gull: »Ja, klar, aber... wir wollten doch nicht... Menschen quälen!« Greensleeves rümpfte die Nase, und ihr Tonfall klang trotzig - der Beweis dafür, daß sie sich auf unsicherem Boden befand. »Haakon hat Menschen gequält! Wie viele unserer Leute hat er durch seine heimtückischen Angriffe auf dem Gewissen? Der arme Dinos wurde durch Sirenenklänge angelockt, und sein Schädel wurde zerschmettert! Lahela hat ein Bein in einer Geröllawine verloren. Wenn er also leidet, dann geschieht es ihm recht.« Doch ihre Stimme zitterte. »Außerdem wird er nicht leiden. Nicht lange. Tybalt hat keine Astralkraft in sich, keine, die er anzapfen kann, also hat ihn der Helm beinahe zum... ist nicht so wichtig. Aber Haakon ist angefüllt mit Mana, und es beschützt ihn. Deshalb sind die Befehle auch so stark, so vermuten Chani und ich. Um alle Schutzschilde zu durchbrechen, die ein widerspenstiger Zauberer errichten könnte. Und wenn wir seine Untaten beenden wollen - und das ist unser Ziel! - müssen wir einige Risiken eingehen.« »Wenn der Helm doch so harmlos ist«, äußerte ihr Bruder langsam, »warum hast du ihn dann nicht dir selbst auf den Kopf gesetzt?« »Ich...« Doch die Druidin hatte darauf keine Antwort. Gull wandte sich ab und ging davon. Rakel ließ Haakon los und folgte ihm. Greensleeves und ihre Studentinnen und Studenten warteten. Langsam und allmählich brach Haakons Widerstand zusammen, und er hörte auf, sich zu wehren. Grunzend und gurgelnd ließ er den Helm los, wurde steif und glitt von dem Felsen herab auf den Boden. Greensleeves biß sich auf die Lippe. Dies war der entscheidende Augenblick, die letzte Prüfung. Falls sie versagte, hatten sie vielleicht einen Mann ganz umsonst in 242
den Wahnsinn getrieben, und Wahnsinn, das wußte sie, war schlimmer als der Tod. Sie lehnte sich über den schlaffen Körper des Gefangenen und fragte ihn mit zitternder Stimme: »Kannst du mich hören?« »Ich höre Euch... Euch.« Haakons Verdrießlichkeit war wie weggeblasen. Er starrte blicklos geradeaus und sprach mit der leeren Stimme eines toten Mannes. »Wem... wem dienst du?« fragte die Frau. »Euch, Herrin... rin.« Greensleeves schloß die Augen und schickte ein stilles Dankgebet zu den Göttern. Sie drehte sich zu den Magiestudenten um, die das Geschehen unbehaglich betrachteten. Selbst Kwam sah entsetzt aus. »Seht ihr? Wir hatten recht. Tybalt, ist das nicht großartig? Endlich wissen Wir, wie Wir einen Zauberer beherrschen können! Wir können seine Kraft für unsere Zwecke benutzen oder ihn einfach freilassen und ihn mit einem Bannspruch belegen, damit er nur noch gute Ziele verfolgt. Das ist es, wofür wir die ganze Zeit gekämpft haben!« Tybalt rieb sich mit den knochigen Fingern über die lange Nase. »Nun, Herrin... wenn Ihr meint...« Greensleeves runzelte verwirrt die Stirn. Langsam wurde sie wütend, doch niemand sah sie auch nur an. Als sie sich Bardo und Helki zuwandte, ergriffen diese ihre Waffen und gingen davon. »Was ist denn los mit euch?« fragte Greenie. »Sind denn zwei Siege an einem Tag nicht genug?« Der einzige, der antwortete, war der flach am Boden liegende Haakon: »Doch, Herrin... rin.« Seine Worte klangen wie ein schmerzhaftes Stöhnen. Greensleeves seufzte und deutete auf den Gefangenen. »Holt Ammas Heilerinnen, damit sie ihn in das Krankenzelt bringen. Sorgt dafür, daß sie den Helm nicht abnehmen. Falls nötig, bindet ihn mit einem Tuch unter seinem Kinn fest.« »Ja, Herrin«, antwortete Tybalt geistesabwesend. 243
Greensleeves fuhr auf: »Und nennt mich nicht so!« Sie blinzelte, über sich selbst überrascht und entsetzt über die Angst in Kwams Augen. Dann wandte sie sich mit tränenverschleiertem Blick ab und stolperte auf ihr Zelt zu. Trotz der allgemeinen Erschöpfung summte das Lager in dieser Nacht wie ein Bienenstock. Gespräche über die siegreiche Schlacht gegen die Orks, die Zerstörung des Turms, das Erscheinen der Lehmriesen, die Gefangennahme des Magiers, den bannenden Helm und die Pläne für die Zukunft machten die Runde. Gull und Rakel saßen im Schneidersitz auf einem ausgefransten Teppich vor ihrem Zelt und starrten ins Lagerfeuer. Rakel schleifte ihr Schwert, um eine Kerbe zu entfernen, die es an diesem Morgen erhalten hatte, während Gull seinen Axtgriff polierte. Sie sprachen mit gedämpfter Stimme, damit niemand mithören konnte. »Sie macht mir Sorgen, Rakel, da gibt es gar keinen Zweifel. Sie wurde bereits mit großer magischer Kraft geboren, und nun hat sie eine ganze Kiste voller Tricks von Chani gelernt. Jetzt kann sie sogar andere Zauberer unter ihren Bann zwingen. Also ist sie eine Oberzauberin, eine Herrscherin über andere Zauberer. Wenn sie deren Kräfte auch benutzen kann, wird sie wie ein Wolf sein, der schwächere Wölfe frißt, so eine Art Götterwolf...« Rakel strich fester als nötig mit dem Wetzstein über die Klinge. Sie hörte Gulls Worte kaum. Den ganzen Tag war sie von ihrem Sieg aufgewühlt gewesen, von der Hitze der Schlacht, aber nachdem sie erst einmal zur Ruhe gekommen war, dachte sie wie jede Nacht an ihren Sohn, und ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Hammens Mutter betete, daß ihr Sohn irgendwie durchhielt, der Gehirnwäsche der Tutoren widerstand, auf seine Mutter vertraute und auf Rettung wartete. >Gib nicht auf<, flehte sie über die Meilen hinweg. Warum nur 244
war Guyapi nicht gekommen, um sie zu holen? Chani hatte gesagt, daß sie es spüren würde, wenn ein Zauberer in ihrer Nähe auftauchte. Der Mond nahm längst wieder ab. Wo also blieb er? War dies nur eine weitere Teufelei von Sabriam, der sie warten ließ, bevor er sie nach Benalia zurückrief? Und wenn Guyapi schließlich doch ankam und herausfand, daß sie die Köpfe von Gull und Greensleeves an ihrem Platz gelassen hatte, konnten sie ihn dann wirklich packen und ihn zwingen... Auch Gulls Gedanken schweiften ab, während er mit seinem Monolog fortfuhr. Er hörte mit dem Polieren auf und starrte nur noch ins Feuer, »...hast du bemerkt, wie sie das königliche >Wir< benutzt hat? Genau wie dieser fette Hexer? Früher war Greenie so lieb. Ein Strauß Gänseblümchen konnte sie stundenlang glücklich machen. Nun ist sie wie jeder andere Zauberer nur hinter der Macht her. Unsere Mission wird bitter.., Was ist denn los!? Wir wollen nicht gestört werden!« Gull meinte die drei Leute, die von der abgelegenen Seite des Lagerfeuers herangekommen waren. Da er so lange in die Flammen gestarrt hatte, konnte Gull sie nicht genau erkennen. Waren es Grüne? Sie trugen enganliegende Lederwesten und -hosen und Stulpenstiefel, ungeeignet gegen die winterliche Kälte. Sie beschleunigten ihre Schritte und kamen auf ihn zugerannt. Gull packte seine Axt. Rakel erkannte die Tätowierungen auf ihren linken Unterarmen: die Muscheln des Clan Deniz. »Gull, paß auf!« Rakel zog die Beine unter den Körper und sprang auf wie ein Grashüpfer. Ohne weitere Erklärung stieß sie einen gellenden Schlachtruf aus und schwang ihr Kurzschwert. Die erste der drei Fremden war eine hochgewachsene Frau mit blondem Haar, das zu einem Zopf geflochten war, der ihr den Rücken herabhing. Sie und die anderen trugen Kurzschwerter an den Seiten und hölzerne, eineinhalb Schritt lange Stäbe mit Seilschlingen an jedem 245
Ende. Die Blonde lachte lauthals und schlug mit dem Stab nach Rakels Kopf. »Ha, Norreen! Fett und langsam wie immer...« Die Worte erstarben ihr auf den Lippen, als Rakel angriff. Sie hatte sich mit Absicht langsam bewegt und einen unbeholfenen Hieb angetäuscht, bevor sie ihre Klinge dann schneller nach vorn stieß, als das Auge folgen konnte. Die Schwertspitze glitt an dem abwehrbereit erhobenen Stock der Blonden vorbei - gerade weit genug: Der unerbittliche Stahl drang tief in den Körper der Frau und zerteilte ihre Leber. Sie würde tagelang dahinsiechen, bis sie an der grausamen Stichwunde starb. »Schwafle nicht, kämpfe!« knurrte Rakel. Die Blonde keuchte und trat einen Schritt zurück. Instinktiv versuchte sie sich zu verteidigen, aber es war bereits zu spät. Zu Tode erschreckt heulte sie los: »O nein! Nicht ich! O nein!« Die zwei Männer waren an ihr vorbeigestürmt und hatten Rakel in die Zange genommen, doch die Kriegerin griff mit der freien Hand nach dem Stab der Blonden und zerrte ihn nach links, um sich so auf dieser Seite zu schützen. Lauthals >Ha!< brüllend stemmte sie die Beine in den Boden, stieß die Klinge nach dem Mann zu ihrer Rechten und zwang ihn so zurückzuweichen. Seitdem sie in diesem Teil der Domänen ausgesetzt worden war, hatte sie sich wieder an zahlreiche Kampftechniken erinnert. Sie stieß die sterbende Blonde in Richtung des Mannes zu ihrer Linken und brüllte: »Ha! Gull, beweg dich!« Innerhalb der drei Sekunden, seit Rakel aufgesprungen war, hatte sich der Holzfäller gerade auf die Füße gerappelt. Er hob die Axt quer vor die Brust, um einen Stockhieb des rechten Helden abzuwehren. Das Holz krachte gegen den Axtgriff, und Gull schoß der beiläufige Gedanke durch den Kopf, daß er doch gerade erst die Kerben herauspoliert hatte. Dank Rakels Ausbildung konnte er den Mann hoch an 246
der Brust - eine schwer zu schützende Stelle - erst mit dem einen, dann mit dem anderen Ende der Axt treffen. Der Held wich vor Überraschung zurück, als er eine benalische Kampftechnik bei einem Fremden sah. Gull trat fluchend zu, und sein Stiefel fegte das Knie des Mannes zur Seite. >Leg alles, was du hast, in den Angriff< hatte Rakel ihn gelehrt, >und halte dich niemals zurück.< Gull ließ seinen Finten eine direkten Schlag folgen und stieß den dicken Hickoryholzgriff geradewegs in das Gesicht des Mannes. Er traf ihn genau zwischen die Augen, so daß der Benalier schwer zu Boden krachte. Doch Rakel war in Schwierigkeiten, denn die Blonde, die zwischen Verzweiflung und rotglühendem Zorn hinund hergerissen war, warf sich mit Todesverachtung auf sie. Die Seile des hölzernen Stabes - Fangschlingen für entlaufene Sklaven, wie Rakel wußte - legten sich um den stählernen Griff ihres Schwertes. Nachdem sie so einen weiteren Hieb verhindert hatte, stach sie mit den Fingern nach Rakels Augen. Um nicht geblendet zu werden, drückte Rakel die Augen zu und war zornig darüber, daß sie beim Versuch, ihr Schwert zu befreien, kostbare Sekunden verlor. In diesem Augenblick versetzte ihr der links stehende Held einen Schlag gegen den Kopf. Benommen versuchte Rakel, ihr Gleichgewicht zu bewahren, konnte jedoch keinen festen Stand gewinnen. Um sie herum drehte sich alles, und sie fiel zu Boden, während sie noch immer versuchte, ihr Schwert freizubekommen. Gull hörte den Aufschlag und das Stöhnen seiner Geliebten. Er packte einen im Feuerlicht schimmernden blonden Zopf und riß die Heldin von Rakel weg nach hinten. Der letzte noch stehende Angreifer hatte eine Schlinge um Rakels Kehle gelegt und zugezogen. Dann zerrte er sie mit sich zurück und benutzte dabei ihren Körper als Schutzschild. »Guyapi! Ich hab sie!« brüllte er in die Dunkelheit. 247
>Wer?< fragte sich Gull. Und wo waren diese Angreifer hergekommen? Da sie gekleidet waren wie Rakel, mußten sie benalische Helden sein, kombinierte der Holzfäller. Aber wie waren sie an den Wachposten vorbeigekommen? Zu spät wurde ihm klar... Jenseits des Feuerscheins lauerte eine dunkle Gestalt, deren Wams mit einem Mond und Sternen verziert war. Der Mann streckte beide Hände vor, und Funken sprühten von seinen Fingerspitzen. Gull brüllte: »Neeeeiiiinnn! Rakel!« Aber um seine Geliebte, den Helden, der sie festhielt und die beiden anderen, die am Boden lagen, knisterte es, als stünden sie in Flammen. Funken stoben in alle Richtungen. Gull sprang, stolperte vom Feuerlicht geblendet in der Dunkelheit und griff nach Rakel - doch seine Hand fuhr ins Leere! Dann waren sie verschwunden. Gulls Gebrüll schreckte das ganze Lager auf. Wächterinnen und Soldaten rannten aus allen Himmelsrichtungen herbei. Greensleeves kam aus ihrem Zelt getaumelt und glättete die Falten ihres Rockes. Helki kam polternd auf die Hufe und ergriff ihre Lanze. Die allgemeine Verwirrung lenkte die Wachen ab, die Haakon bewachen sollten. Der fette Magier saß wie zuvor zusammengesunken gegen einen Felsen gelehnt in der Nähe des Krankenzeltes. Er war von einer Heilerin in eine Decke gewickelt worden und hatte noch immer den Helm auf dem Kopf. Im Schein des Wachfeuers glänzte sein ausdrucksloses Gesicht vor Schweiß. Er sah aus, als habe er mit der Welt abgeschlossen, ein gebrochener Mann mit weniger Verstand als ein Ochse. Und doch war er weder völlig umnachtet, noch hatte er sich aufgegeben. Drängend und fordend verlangten die gellenden Stimmen in seinem Schädel seine Unterwerfung, und er hatte gehorcht. Kein einzelner Magier konnte sich diesem An248
sturm von Befehlen widersetzen, doch in all diesem Aufruhr, diesem Tornado in seinem Hirn, hatte Haakon sich einen winzigen Teil seines Verstandes bewahrt. Es war ihm unmöglich, den Befehlen nicht zu gehorchen, sich fortzubeschwören oder sich auch nur zu bewegen. Aber er konnte eine Nachricht aussenden, konnte sich an dünnen unsichtbaren Kraftfäden entlanghangeln und eine mächtige Kraft herbeirufen, eine, die vielleicht stark genug war, selbst diese vielen Stimmen zu bekämpfen. Während die zwei Wächter durch das Durcheinander beim Lagerfeuer vor dem Offizierszelt abgelenkt waren und sich darüber stritten, ob einer von ihnen oder beide hierbleiben sollten - falls es nun ein weiterer Überfall war? -, murmelte Haakon eine alte magische Beschwörungsformel. Plötzlich raschelten huschende Gestalten wie Asche in einem Luftwirbel aus dem Boden ins Dasein. Die Wirbel zogen sich in die Länge und verfestigten sich zu spindeldürren hüfthohen Wesen mit rotglühenden Augen und langen weißen Zähnen. Unzählige Dämonen überrannten die Wachen, warfen einen Mann zu Boden und rissen ihm mit kräftigen Bissen der spitzen Fangzähne das Fleisch von den Knochen. Der andere Wächter konnte gerade noch einen Schrei ausstoßen, ehe sich die Unholde in seinen Körper verkrallten. Er versuchte zu fliehen, doch er kam nur drei Schritt weit, bevor er starb. In der Tiefe seines Geistes lachte Haakon, als Dutzende von Dämonen mit gierigen Augen zu seinen Füßen ihre Kapriolen schlugen. >Laßt sie nur versuchen, mich gefangenzuhalten<, höhnte er. Er würde dieses Lager überrennen, das Blut dieser Armee in den staubigen Grund sickern lassen, irgendwie diesen Helm entfernen und dann entkommen... Sein Triumph verwandelte sich erst in Verwirrung, dann in schieres Entsetzen, als die kleinen Dämonen plötzlich über ihn krochen wie Ratten über einen Dung249
häufen. Der gefangene Magier, der keinen Finger rühren konnte, fluchte, schrie und wimmerte, doch unbeirrbar krochen die Unholde an seinem Körper hinauf: Jeder von ihnen gierte nach dem grünen Helm auf seinem Kopf. Ein Dutzend Klauen ritzten und kratzten über Haakons Kopf. Eine rasiermesserscharfe Kralle spaltete sein Ohr, eine andere seine Wange. Ein Finger quetschte ihm ein Auge aus und puhlte in seiner Augenhöhle, er schrie und wurde in die Zunge gestochen. Plötzlich fühlte sich sein kahler Kopf eiskalt an - der grüne Helm war heruntergerissen worden. Die Wachen waren schon lange tot, und so gab es niemanden, der sah, wie die Dämonen den Helm von Haakons blutüberströmten Kopf zerrten, ihn kratzten, traten und schlugen. Der blinde fette Kampfmagier schrie aus Leibeskräften, und seine Schreie wurden gehört. Greensleeves, Gull und einige andere kamen gerade rechtzeitig angerannt, um zu sehen, wie der Helm und die Dämonen zu Aschewölkchen schrumpften, die sich zusammenkräuselten und sich dann in Nichts auflösten. »Verschwunden!« keuchte Greensleeves. »Einfach... verschwunden! Und wir brauchen ihn so dringend! Er ist die Antwort auf alles! Aber wo ist Rakel? Wer waren diese schwarzen Krieger?« »Drecksäcke, das waren sie!« Tränen der Wut rannen über Gulls Wangen. »Helden nennen sie sich, ein Kriegerrang in ihrer Heimatstadt Benalia! Aber sie sind eher gemeine Meuchler! Sie haben sie wie eine Sklavin eingefangen und fortgezerrt in ihre verfluchte Stadt! Wir müssen hinter ihnen her!« Greensleeves schüttelte den Kopf, so daß ihre wirren braunen Locken nur so flogen. »Nein, wir müssen das Hirn zurückholen! Es ist das mächtigste Artefakt, das es jemals gab! Wir brauchen es, oder wir sind nichts!« »Wir sind nicht nichts!« Das Gebrüll ihres Bruders ließ sie zusammenfahren. »Du hast dich zu sehr an dieses 250
Ding gewöhnt. Es ist nur ein... Spielzeug! Wir kommen auch ohne es aus. Wir brauchen Rakel und müssen sie zurückholen!« »Du brauchst Rakel hier. Du hast dich zu sehr an sie gewöhnt!« »Das ist nicht wahr! Ich meine... sie ist die Kommandeurin dieser Armee, bei Gabriels Feuer! Wir brauchen sie, um noch mehr Schlachten zu gewinnen!« In der Tat war Rakel mehr für Gull als eine fähige Befehlshaberin, doch er konnte mit dem Wort >Geliebte< in der Öffentlichkeit nicht herausplatzen. Heilerinnen eilten zu Haakon, um sich um ihn zu kümmern, und stöhnten entsetzt auf, als sie sein ausgestochenes Auge und sein zerrissenes Gesicht sahen. »Schon gut, du hast recht«, japste Greensleeves. »Wir brauchen sie beide. Aber wie können wir sie finden? Wir wissen weder, wo Benalia liegt, noch wohin die Dämonen verschwunden sind.« Zahlreiche Söldlinge waren herbeigelaufen, Dutzende von Leuten, die versunken zuhörten. Plötzlich erklang eine rauhe Stimme, so als wolle eine über ihren Köpfen kreisende Eule zu ihrer Unterhaltung beitragen. »Wenn ich unterbrechen dürfte?« Chani lehnte schief an Kwam. Sie mußte die Stimme erheben, um das Gewimmer des blinden Magiers zu übertönen. »Ich glaube, ich weiß, wohin die Dämonen dein grünes Spielzeug geschleppt haben. Nach Phyrexia.« »Phyrexia?« fragte Greensleeves. »Was ist...« »Derzeit bist du so ungestüm wie dein Bruder, Greensleeves. Hör mir zu und lerne. Phyrexia ist eine Dimension, die so weit entfernt ist, daß die meisten Zauberer nicht einmal wissen, daß sie existiert, geschweige denn, daß sie sie bereist hätten. Viele glauben, sie sei im Krieg der Brüder zerstört worden. Eine Dimension der Dämonen, wie Ashtok und andere. Doch die Dämonen von Phyrexia dienen einem Zweck, sie gehorchen einem Bann, der noch im Krieg gewoben wurde. Sie stehlen 251
empfindungsfähige Artefakte und zerfetzen sie, zerlegen sie vollständig. Eine belebte Horde, die belebte Artefakte tötet. Eine weitere >Waffe<, die außer Kontrolle geraten ist, kein Zweifel, denn noch immer suchen und zerstören sie solche Artefakte. Das ist der Grund, warum es nur noch so wenige gibt. Der arme Haakon hat dieses Mal die falsche Horde beschworen. Wenn dein grünes Gehirn länger als einen Tag in Phyrexia - der >Hölle der Artefakte< - bleibt, wird es keinen Weg mehr geben, es zu retten.« »Dann«, sagte Greensleeves, »müssen wir sofort aufbrechen.« »Bist du verrückt?« widersprach ihr Bruder und fuchtelte wild mit seiner Axt, so daß die Leute ängstlich zurückwichen. »Hast du nicht zugehört und nichts kapiert? Sie sagt, es gibt dort nichts außer Dämonen, und sie zerlegen magischen Krimskrams! Wie lange, denkst du, wird es bei dir dauern? Und in der Zwischenzeit werden die Hurensöhne in Benalia Rakel zerlegen, weil sie es nicht geschafft hat, uns umzubringen. Dringt das in deinen Schädel, oder bist du wieder zu einem Schwachkopf geworden?« Die Leute hielten die Luft an, und Lily, die hinter Greensleeves stand, keuchte auf. Gull hatte sich selbst erschreckt, doch Greensleeves errötete weder, noch weinte sie. Stur wie ihr Bruder schrie sie zurück: »Brauche ich irgendeinen Rat von dir? Du hast so lange mit Rakel herumgelungert, daß dein Hirn zu Mus geworden ist! Wie lange...« »Herumgelungert? Ich sag dir, wer hier herumlungert! Wer hat große braune Kuhaugen und läuft dir mit heraushängender Zunge wie ein liebskranker Köter hinterher?« Er deutete auf Kwam, der Chani stützte, und der Junge wurde knallrot. »Und das erinnert mich an etwas! Bleib weg von meiner kleinen Schwester!« »Du läßt ihn in Ruhe!« Greensleeves Stimme klang tödlich ruhig. Sie war in kalte Wut geraten. »Bist du der 252
einzige hier, dem Liebe erlaubt ist? Du kannst dich ja noch nicht mal entscheiden, wen du auf deine Decke zerrst, die arme mißachtete Lily hier oder dein schwertschwingendes Mordsweib!« Gull schnaubte, spuckte aus und wedelte mit den Händen. Greensleeves hatte ihn festgenagelt, und er hatte keine passende Antwort bereit. Seine kleine Schwester funkelte ihn an, mit Blicken, die heiß genug waren, die Schneide seiner Axt zum Schmelzen zu bringen. »Wenn ich unterbrechen dürfte?« erklang ein sanftes Krächzen. Chani machte eine Pause, bis sie sich sicher war, daß alle zuhörten. »Danke schön. Ihr beide habt etwas vergessen. Ihr sprecht darüber, hinter Rakel oder dem grünen Gehirn >herzurennen<. Soweit ich weiß, bin ich die einzige Zauberin hier, die andere durch die Dimensionen schicken kann. Lily hat es einmal getan, doch sie hat keine Ahnung, wie sie es noch einmal schaffen könnte. Bei Greensleeves sind andere Gründe - oder Ängste - dafür verantwortlich, daß sie es nicht kann, und sie muß diese Stufe erst noch erreichen. Doch meine Tage des Dimensionsreisens sind vorbei. Ich finde es schwierig genug, mich in dieser Dimension zusammenzuhalten, geschweige denn in irgendeiner anderen. So wird niemand, und das steht fest, irgendwo hinreisen. Außer«, fügte sie hinzu, »Lily und Greensleeves sind dazu bereit, es zu lernen. Heute nacht...«
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Wieder einmal lag Rakel gefesselt in dem kleinen Vorraum, dessen steinerne Wände mit Wandteppichen verhängt waren. Stundenlang ließ man die Gefangene dort warten, mit dem Gesicht nach unten an den Steinboden gekettet. Dann, spät am nächsten Vormittag, wurde sie wieder einmal in Würgefesseln vor den benalischen Rat gezerrt, dessen Vorsitz der hochnäsig grinsende Sabriam innehatte. Aber dieses Mal war sie eine andere. Die Norreen, die man damals hierhergeschleppt hatte, war eine fette verweichlichte Bäuerin und Mutter gewesen, mit milchschweren Brüsten und dem Kopf voller Gedanken über Gärtnerei, Viehhaltung, Kochen und Kinderaufzucht. Jetzt, als Rakel, war sie wieder eine Kriegerin, für die tödliche Hiebe, Logistik, Taktik, Hinterhalte, Kampfübungen und Disziplin im Vordergrund standen. Sie konnte die Sprungkraft ihrer Beine und die Kraft ihrer Muskeln fühlen, und trotz der würgenden Sklavenschlinge um ihren Hals waren ihr Rücken gerade und ihre Haltung stolz. Aber sie konnte nicht verhindern, daß ihre Augen suchend umherschweiften, da sie hoffte, ihren Sohn hier zu finden. Mein kleiner Hammen, dachte sie besorgt. Wie ist es dir ergangen in den Händen dieser liederlichen Hunde? Nur zwei Helden, die beiden Männer, hielten sie fest, denn die Blonde mit der Leberwunde war in das Hospital gebracht worden, wo sie den Tod erwartete. Rakel fühlte sich dem starken Griff der beiden Männer gewachsen, verbarg jedoch ihre Kraft, denn so hatte sie es 254
Gulls und Greensleeves Armee beigebracht: >Zeige dem Feind niemals deine wahre Stärke, bis es zu spät ist - für ihn.< Der lange Saal sah noch genauso aus wie vor zwei Monden, denn Veränderungen waren in Benalia selten geworden - die Stadt ruhte selbstgefällig in ihrer Dekadenz. Die zahlreichen Hofschranzen, die sich neben dem langen blauen Läufer mit den rosafarbenen Muschelverzierungen aufgereiht hatten, warteten wie immer auf die nächste Zerstreuung, während auf dem Podium die sieben Ratsmitglieder mit unbewegten Gesichtern an der glänzenden Tafel thronten. Sie alle waren ihre Todfeinde, Angehörige des Clan Deniz. Der Schatzmeister stand mit seiner rotgesäumten Schriftrolle da, als habe er sich in den letzten fünfzig Tagen nicht von der Stelle bewegt, und in der Mitte thronte der Sprecher der Kaste, der teiggesichtige Sabriam, der noch verlebter aussah als je zuvor. Die Orgien, die er Nacht für Nacht veranstaltete auf Kosten der Stadt - mußten inzwischen Legenden sein. Die Nase des Mannes leuchtete fettigweiß, und Rakel erlaubte sich ein Grinsen. Sabriam hatte sich also die Nase wieder richten lassen, nachdem sie sie ihm mit jenem Tritt - dem besten, den sie je ausgeteilt hatte - zerschmettert hatte. Sie war selbst überrascht über ihr Lächeln und fühlte sich ermutigt. Sie hatte einen eigenartigen Frieden gefunden. Noch vor Wochen hatte sie versucht, sich umzubringen, und ein Teil ihrer Seele schwebte noch immer wie eine verlorengegangene Flaumfeder mit Garth und Hammen durch den Äther. In der Zwischenzeit hatte sie ihr Bestes getan. Was auch geschah, diese Schweine konnten nicht mehr tun, als sie zu töten, und der Tod war nicht so grausam wie manch anderes Schicksal. Sie war zu den Grundsätzen einer Kriegerin zurückgekehrt. Wenn sie nur noch ein paar Feinde mit sich in die ewige Dunkelheit nehmen könnte... »Rakel, Tochter der Dasha, Tochter der Argemone, 255
Tochter der Kynthia«, leierte der Schatzmeister herunter und begann mit seiner Aufzählung, »du wirst angeklagt des höchsten Verbrechens: Hochverrat gegen den Stadtstaat von Benalia! Es wurde dir befohlen, die Köpfe von Gull, dem Holzfäller, und Greensleeves, der Druidin, General und Zauberin der im Osten versammelten Armee, die den Stadtstaat von Benalia mit Krieg droht, seine Grenzen und sein souveränes Volk bedroht...« »So ein Haufen Scheiße!« brüllte Rakel laut und deutlich. Die Stimme des Schatzmeisters erstarb quäkend. Das Gefolge raunte, und die Ratsmitglieder runzelten die Stirn und tuschelten miteinander. Das Sprechen während der Anklageverlesung war ein Verstoß gegen die Regeln, genauso wie das Plädieren auf >unschuldig<. Aber Rakel war keine Heldin von Benalia mehr. Sie war die Kommandeurin einer weit entfernten Armee, ein rebellischer Pöbel zwar, aber einer gerechten Sache verschrieben. Diese Krötengesichter sollten das schon bald merken. »Deine Anklagen sind ein Haufen Lügen! Gull und Greensleeves sind ehrliche und anständige Leute! Sie haben es sich zum Ziel gesetzt, die Welt vor den Verheerungen der Zauberer zu schützen! Und sie haben Hunderte von Anhängern - Freiwillige, keine Sklaven! Und während diese Jauchegrube von einer Stadt langsam verfault, das Land mit Unheil überzieht und das Gute zerstört, gibt es jemanden, der versucht, aus den Domänen einen sicheren Platz für die einfachen Leute zu machen. Es gibt... aaah!« Auf ein Zeichen von Sabriams knochiger Hand hin hatten ihr die Wächter die Schlinge um die Kehle zugezogen, doch es störte sie nicht weiter. Obwohl die Leute mit finsterem Blick vor sich hinmurmelten, hätte Rakel genauso gut in den Wind rufen können. Niemals würden Gefühl, Verstand oder Anständigkeit in diesem Dreckhaufen Blüten treiben. Sabriam erhob sich unter Schmerzen aus seinem Stuhl 256
hinter dem Ratstisch - er war durch irgendeine Fäulniskrankheit verkrüppelt - und gab dem Schatzmeister ein Zeichen. »Füg Er ein Schuldgeständnis hinzu. Rakel, erwarte deine Strafe!« Dann torkelte er um den Tisch herum und stieg auf den Boden der Kammer hinunter schon mit dreißig war er ein alter Mann. Sabriam kam auf Rakel zu, hielt gerade außerhalb ihrer Trittweite an und versicherte sich, daß die Wächter sie festhielten. Er wischte sich einen Speichelfaden vom Kinn. »Rakel, du hast wieder versagt, und dieses Mal wird es keine rettende Gnade für dich geben. Wenn der Mond das nächste Mal aufgeht, wirst du sterben, als ein Exempel für andere, damit niemand es wagt, Unsere Mutterstadt im Stich zu lassen. Doch der Schmerz, den du an deinem Körper erleidest, wird niemals dem nahekommen, den deine Seele erleiden wird. Wir haben eine kleine Überraschung für dich.« Sein höhnisches Grinsen wurde von einem Husten erstickt. Wieder winkte er mit seiner gichtigen Hand. Rakel hätte ihn anspucken mögen, doch das war unter ihrer Würde. Er hatte keine Möglichkeit, sie jetzt noch zu verletzen... Sie schluckte, als ein kleiner Junge von einem Stadtgardisten hereingeführt wurde. Obwohl er kaum älter war als zwei Jahre, war der Kopf des Jungen kahlgeschoren, und er war von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet - die Karikatur eines Helden, bis hin zu dem kleinen Dolch an seinem Gürtel. »Hammen«, keuchte sie und schämte sich für das Schluchzen in ihrer Stimme. »Nein!« schnappte der Junge, dessen eisblaue Augen sie anfunkelten - Garths Augen! »Das nicht mein Name! Ich jetzt S'briam! Wie er.« Er deutete auf den hohnlächelnden Sprecher. »Meine Eltem waren böse und starben, weil sie böse waren. Nun ich ein Held. Ein Sieger. Ich werde stark werden und die Feinde meiner Stadt töten.« 257
Die Leute kicherten über seine fehlerhafte Aussprache und klatschten seinem Mut und seiner Hingabe Beifall. Jetzt haben sie mir sogar meinen Sohn genommen, dachte Rakel bitter, ihn pervertiert, ihn seine Eltern und seine Herkunft hassen gelehrt. Also gibt es doch Schicksale, die schlimmer sind als der Tod. Doch dann richtete sich die Mutter des Jungen kerzengerade auf und sprach mit ruhiger, ein wenig zitternder Stimme: »Ich verstehe... Sohn. Ich freue mich darüber, daß es dir... gutgeht. Ich möchte, daß du weißt, daß... was auch geschieht... deine Eltern dich immer lieben werden.« Sie senkte die Stimme, so daß das Kind, Sabriam und selbst die Höflinge entlang der Wände sich vorbeugten. »Und ich will, daß du dich an noch etwas anderes erinnerst, Kind. Ein Bild der Stärke. Eine Lehre, die du nie vergessen wirst. Etwas, was deine Mutter tat.« Noch immer funkelten die Augen des Jungen, doch nun vor Neugier. Wißbegierde wurde aus benalischen Kindern schon früh herausgeprügelt, denn sie sollten lernen zu gehorchen, ohne Fragen zu stellen. Durch dieses Zeichen von angeborener Klugheit ermutigt, fuhr sie fort: »Erinnere dich hieran...« Ihre Wächter hatten den Griff ein wenig gelockert, und das genügte der neugestählten Rakel. Brüllend sprang sie vor und schmetterte ihre Schädeldecke geradewegs in Sabriams Gesicht. Der Mann heulte, als sein noch nicht ganz verheiltes Nasenbein in winzige Splitter zerbarst und rotes Blut aus seiner Nase hervorspritzte. Dann wurde Rakel auf die Knie geprügelt und beinahe bis zur Bewußtlosigkeit gewürgt, während die Menschen wie aufgescheuchte Hühner durch die Ratshalle liefen. Sie krächzte ihrem Sohn zu: »Hör niemals auf zu kämpfen, Hammen! Was immer sie dir auch antun! Oder mir! Da draußen gibt es anständige Leute, die für das Gute...« 258
Weiter kam sie nicht, denn die Schlinge schnürte ihr fest die Kehle zu und raubte ihr den Atem. Auf die Zehenspitzen gerissen, zerrte man sie rückwärts aus dem Saal. »Ins Verlies!« geiferte Sabriam. »Schafft sie...« Die Wächter zogen Rakel an der Drosselschlinge mit sich, schlugen einen Wandteppich am Ende des Raumes zur Seite und warfen sie halb eine Wendeltreppe hinunter. Doch sie hatte gesehen, wie ihr schwarzgekleideter kahlköpfiger Sohn ihren Bück erwidert hatte - er würde sich erinnern. Der General und die Zauberinnen standen wie erstarrt von den Worten der alten Druidin da. Greensleeves murmelte: »Ich? Mich an einen Ort beschwören? Den ich noch nicht einmal vorher gesehen habe? Aber... ich kann nicht!« Lily schüttelte nur den Kopf. »Ich auch nicht!« Chani humpelte vorwärts und streckte die welke Hand aus. Zögernd ergriffen die beiden Frauen sie. »Ihr könnt, und ihr werdet! Aus unterschiedlichen Gründen und aus den gleichen. Kommt mit mir, meine Kinder, und wir werden reden. Unter sechs Augen.« Lammfromm folgten die beiden jungen Frauen der alten schlurfenden Druidin. Die Frauen saßen im Halbdunkeln in einem Steinkreis in einiger Entfernung vom Lager, wo ihnen der kühle Wind um die Ohren pfiff. Lilys vom Reisen beschmutzter blumenbestickter Rock und Umhang leuchteten hell im Feuerschein, und Greensleeves sah wie immer zerzaust aus, mit Blättern übersät und unordentlich wie ein Kind. Beide fühlten sich auch wie Kinder, als sie vor dieser Frau saßen, die so alt war wie die Felswände. Chani trug ihren geflochtenen Korb an ihrem gesunden Arm, und er knirschte, als sie sich vorbeugte. »Nun 259
hört gut zu, denn unsere Zeit verrinnt - meine, Rakels und die unserer Armee. Dies sind Dinge, die ich euch die ganze Zeit zu erklären versuchte, aber keine von euch war bereit, mir zuzuhören. Ihr hattet beide zuviel Angst.« »Angst?« fragte Lily. »Ich habe keine...« »Ich schon!« erwiderte Greensleeves. »Aber ich...« »Seid still und hört zu!« schnitt Chani ihnen das Wort ab. »Beschwören und Dimensionsreisen sind zwei Äste am selben Baum. Die beiden Seiten eines Blattes. Mit dem einen Zauber rufst du den Gegenstand, den du willst, zu dir. Mit dem anderen Zauber rufst du dich selbst an einen Ort, den du kennst oder erspürst.« »Aber wir kennen diese Orte doch gar nicht!« widersprach Greensleeves. Die Druidin erhob die verwelkte Hand und wisperte trocken: »Ich habe lange über eure Schwierigkeiten nachgedacht und glaube, daß ich einen Teil der Lösung gefunden habe. Greensleeves, mein Kind, du hast ein sehr starkes Gespür für Orte. Du lebst im Hier und Jetzt, im Einklang mit der Erde und dem Himmel um dich herum. Es fällt dir schwer, dir vorzustellen, woanders zu sein. Und so sollte - muß - sich eine Druidin auch zu Hause fühlen, aber das macht es uns so schwer, durch die Dimensionen zu reisen. Das ist der Grund, warum ich mich nicht mehr damit abgebe. Lily, du hast dich niemals geliebt, dich niemals zu Hause gefühlt, seit dem Tag, an dem du in die Sklaverei verkauft wurdest. Deshalb hast du dich immer weit weg gewünscht - egal wohin, so lange es nur weit entfernt war. Während Greensleeves ihre Umgebung bis in die Tiefen der Erde, in den Mittelpunkt einer Blattader oder in die Eingeweide eines über ihrem Kopf fliegenden Falken kennt, berührst du deine Umgebung nicht mehr als ein Schmetterling im Wind. Deshalb zapfst du die Magie der Sonne, der Wolken und des Himmels an. Und doch 260
haben wir ein Gleichgewicht: Eine von euch wünscht sich zu bleiben, die andere wünscht sich zu gehen. Wieder die zwei Seiten des selben Blattes. Und ihr habt Ängste. Greensleeves fürchtet, den Verstand zu verlieren, sich selbst. Die ersten sechzehn Jahre ihres Lebens lebte sie ohne Geist, ihre Gedanken waren so bruchstückhaft wie die eines kleinen Eichhörnchens. Die Vorstellung, ihren Geist auf die Suche in den Äther zu schicken und ihn vielleicht zu verlieren, ängstigt sie - und hält sie verwurzelt. Lily hat sich immer zu sehr in ihren Gedanken verfangen, denn sie waren alles, was sie hatte. Nichts, nicht ihre Kleidung, nicht ihr Essen, nicht ihr Geld, nicht einmal ihr Körper hat jemals ihr gehört. Deshalb hat sie stets ihre Gedanken auf die Suche geschickt, und doch kann sie die Magie um sich herum nicht festhalten oder sich von ihr wegtragen lassen. Ist es Zufall, meine Kinder, wie sich eure magischen Kräfte in euch offenbaren? Habe ich euch beiden nicht erzählt, daß die Magie nicht von außen, sondern von innen kommt? Könnt ihr erkennen, warum Greensleeves einen Gegenstand an ihre Seite beschwören kann, hierher, wo sie sich geborgen und glücklich fühlt, sich jedoch nicht selbst fortbeschwören kann? Oder daß Lily sich danach sehnt, weit fort zu fliegen, und niemals wieder auf die Erde zurückkehren möchte?« In der Dunkelheit starrten die jungen Frauen in das zerfurchte Gesicht der Druidin und schwiegen. »Es gibt nur eine einzige Lösung: Ihr müßt euch selbst befreien. Einst wart ihr Säuglinge und konntet euch überhaupt nicht bewegen. Dann habt ihr gelernt, euch herumzurollen, zu krabbeln, zu gehen und schließlich zu rennen. Nun müßt ihr beide lernen zu fliegen. Aber ihr werdet niemals durch die Dimensionen reisen, niemals fliegen, wenn ihr das Gewicht der Angst mit euch schleppt.« Langsam begriff Greensleeves. Es machte Sinn. Die 261
Furcht zu erkennen war nicht schwer, sie zu überwinden war jedoch vielleicht unmöglich. »Nicht unmöglich«, sagte Chani, und Greensleeves sprang auf. »Nein, ich lese nicht deine Gedanken. Dein Gesicht spricht Bände. Ich habe hier... bei mir... hilf mir, diesen Korb zu öffnen, Liebling. Danke. Etwas für jede von euch. Dinge, die ich für einen bestimmten Augenblick bei mir getragen habe. Ein Augenblick, der nun gekommen ist...« Sie griff in den Korb, und Greensleeves durchfuhr der frivole Gedanken, daß sie für jede von ihnen einen Apfel hervorholen würde. Chani war keine, die mit Artefakten herumspielte, das wußte sie. Aber sie hatte sie nie gefragt, was sie in jenem Korb verborgen hielt, ihrer einzigen Reiseausrüstung außer ihrem abgetragenen Umhang. »Lily«, raschelte die trockene Stimme in dem dämmrigen Zwielicht, »streck die Hand aus.« Die ehemalige Tänzerin und Liebsdienerin tat wie ihr geheißen, und die Druidin legte etwas Kleines und Kaltes in ihre Handfläche, das sich anfühlte wie die Spitze eines Eiszapfens. Als sie es gegen das schwache Licht hielt, erkannte Lily, daß es ein kleiner Anhänger an einem Lederband war: ein winziges Ei, hellblau mit dunklen Flecken, wie das Ei eines Rotkehlchens, und doch so hart wie Stein. »Es ist ein Stein«, erklärte die Druidin, »oder eher ein Ei, das so alt ist, daß es zu Stein geworden ist. Der Lehrmeister, der es mir gab, nannte es ein Dingus-Ei, denn selbst er konnte sein Alter nicht erfassen. Stellt euch nur vor, wie lang ein Ei unberührt in der Erde ruhen muß, bis es zu Stein wird.« Lily hielt das Ding an der Schnur in die Höhe, so als fürchte sie, ihre Hände könnten es beschmutzen. Es war nicht größer als eine Eichel. »Aber... wie soll ich es benutzen?« »Aus diesem Dingus-Ei sollte einmal in grauer Vorzeit eine Kreatur schlüpfen, ein ledriges fliegendes Ungetüm, 262
aber keine Fledermaus, denn die gab es damals noch nicht. Diese Kreatur und all seine Artgenossen lebten lange bevor die Menschheit von den Göttern erschaffen wurde. Doch dieses Ei wurde niemals ausgebrütet, also ist der Geist der Kreatur für immer darin gefangen. Er wird niemals sterben, aber auch niemals geboren werden. Durch die Jahrtausende hat er Kraft angesammelt, Mana, aus Zeiten vor der Menschheit und ihren Taten. Deshalb kann er alles rückgängig machen, was Menschen anrichten.« Sie lächelte über ihre eigene Langatmigkeit. »Eine Wirkung besteht darin, daß er alle Bannsprüche, alle magischen Schirme und alle Sphären durchbrechen kann. Kurz gesagt, er kann dich an jede Stelle reisen lassen, die gegen Dimensionsreisende bewacht wird.« »Oh«, sagte die junge Frau. Sie hatte Rakels Warnung vergessen, daß die Ratshalle von Benalia gegen Teleportation und andere Magie geschützt war. Ansonsten hätte Greensleeves Rakel wahrscheinlich einfach wieder zurückbeschwören können. »Aber das sind nur Nebensächlichkeiten«, fuhr die Druidin fort, »wichtiger als Rakels Rettung ist eure eigene.« »Was?« Lily schüttelte den Kopf, unsicher, ob sie richtig gehört hatte. »Ich muß mich selbst retten?« Chanis Hand umschloß Lilys Hand mitsamt dem uralten Steinei. »Du behältst deine Geheimnisse für dich, Lily. Zu sehr für dich. Aber ich kann sie erkennen, denn ich habe Augen. Dieses Artefakt kann jede menschliche Tat rückgängig machen, die von Männern und von Frauen. Es war eine Frau, deine Mutter, die dich in die Sklaverei verkaufte. Es war eine Frau, die dich kaufte und dich dazu ausbildete, den Männern Vergnügen zu bereiten. Es waren Männer, die dich aufsuchten, dich benutzten und dich von deinem Körper entfremdeten. Dieses Ei, Weiße Lily, ist von einem vogelartigen Tier, das durch die Lüfte flog, lange bevor die ersten Men263
scheu über die Domänen wanderten. Seine über die Jahrhunderte angesammelte Kraft kann jegliches Leid, das dir von Männern und Frauen zugefügt wurde, wiedergutmachen. Glaubst du das, mein Kind?« Lily nickte. Das Ei fühlte sich nicht mehr kalt in ihrer Hand an, sondern wärmte sie wie ein glühendes Feuer. »Ich... ich glaub schon, Meisterin.« Lily hängte sich das lederne Band um den Hals, zog ihr Haar darunter hervor und fühlte das Ei an ihrer Brust warm pulsieren wie ein zweites Herz. Chani lehnte sich mit einem schiefen Grinsen zurück »Glaube daran, meine Tochter, und es wird so sein.« »Aber«, warf Lily ein, »was ...« »Na, na«, murmelte Chani, als sie in ihrem Korb herumwühlte. »Greensleeves... ah, hier ist es.« Sie drückte der jungen Frau etwas in die Hand. »Weißt du, Druidinnen verspotten Artefakte normalerweise als von Menschen gemachte Spielzeuge. Aber einige erweisen sich als nützlich. So wie dieses.« Greensleeves erhielt einen glitzernden Gegenstand, einen Stern, so groß wie ihre Hand. Er bestand aus verschiedenen Materialien und trug in der Mitte eine Ameise. Die Kette bestand aus kleinen kupfernen Gliedern, die von einer Schnur aus Leinen durchflochten waren. Chani erklärte: »Es ist ein zerbrechliches Ding, also laß es nicht fallen. Ich vermute, daß es außerordentlich schwierig herzustellen war. Schau dir an, wie es gemacht ist: Die Zacken des Sternes sind aus Holz und werden von einem Metallring zusammengehalten. Im Inneren befindet sich ein Ring aus rotem Edelstein, und in der Mitte ein einstmals lebendiges Wesen. Holz von einer Baumwurzel, Silber aus tiefen Bergminen, ein Edelstein aus der Wüste und eine Ameise, die unter der Erde lebte - die Elemente der Erde, zusammengefügt zu diesem Stern, in sich ruhend und zu einem einzigen Stück fest miteinander verbunden. Viele Aspekte vereint, wie bei dir, mein Kind.« 264
»Was?« fragte Greensleeves, die gebannt auf den Stern mit seinen verschiedenartigen Ringen starrte. »Du bist wie dieses Pentagramm, Greensleeves. Tief in dir ruht große Macht und Stärke, die sich aus verschiedenen Quellen speist: Freude, Liebe, Wahnsinn, Mut und Furcht. All diese Gefühle werden von deiner Angst unterdrückt, aber fürchte dich nicht mehr. Dieses flammende Pentagramm wird dich von nun an beschützen, ohne dich zu behindern. Es wird deinen Geist und deinen Verstand an dich binden, so daß du sie nicht verlieren kannst. Mit diesem Stern kannst du zu den Sternen reisen.« Greensleeves schüttelte den Kopf. Das Artefakt schien sehr schwach zu sein und ihr nur wenig Schutz zu bieten, allerdings mußte sie zugeben, daß auch ihr Verstand oft sehr flüchtig zu sein schien - nicht fester an ihren Körper gebunden als eine Feder, die zu Boden niedersinkt, wenn der Wind sich gelegt hat- Mit klopfendem Herzen zog sie sich die Kette des Pentagrammes über den Kopf und legte es auf ihre Brust. Chani holte keuchend Atem, so als sei sie zehn Meilen gerannt. »Das ist alles, was ich euch geben kann. Nun ist es Zeit zu gehen.« »Aber...«, widersprachen beide Frauen. Lily sagte: »Du hast uns noch nicht gezeigt, wie man durch die Dimensionen reist.« Chani seufzte. »Da rede ich nun, und sie hören einfach nicht zu. Dies sind nichts als Nebensächlichkeiten, sagte ich doch. Richtet euren Verstand auf das Wichtige, und laßt den Rest beiseite. Schaut in eure Herzen, denn darin liegt die Wahrheit. Jetzt kommt, meine kleinen Vögelchen. Es ist Zeit zu fliegen.« Niemand fand es seltsam, daß Chani das Kommando übernahm. Mit Greensleeves und Lily, die sie auf beiden Seiten stützten, humpelte sie zurück zu dem großen Lagerfeuer, an dem Gull und seine Offiziere warteten. Die 265
Druidin schickte die Trompeterin aus, um Rakels Stulpenhandschuhe zu holen, die sie in ihrem Zelt zurückgelassen hatte, und bestand darauf, daß Lily sie an sich nahm. Doch Lily sträubte sich. »Ich... ich kann das nicht tun. Ich kann kaum einen Schritt über dem Boden schweben. Ich kann nicht...« Chani sagte: »Kind...« Gull, der normalerweise vor dem Alter großen Respekt hatte, schnitt der Druidin mit sanfter Stimme das Wort ab. »Wir befehlen dir nicht, es zu tun, Lily. Wir bitten dich nur darum. Wir brauchen Rakel, damit sie diese Armee anführt. Ich schaffe es nicht, und auch sonst niemand. Es war allein Rakel zu verdanken, daß wir unseren ersten Sieg über Haakon errungen haben.« Lily sagte nichts, sondern zupfte nur an einem Faden, der vom Saum ihres Hemdes herabhing. Sie fragte sich, wie sehr Gull Rakel wirklich liebte, falls es denn Liebe war, die er für sie empfand. »Ich will nur nicht... daß wir alle... verletzt werden.« Oder noch schlimmer, zwischen den Sphären verlorengingen. Lily blickte zu Boden, schaute jedoch auf, als Gull sich vor ihr auf die Knie fallen ließ. Sie war so klein und er so groß, daß sie sich nun geradewegs in die Augen sehen konnten. Sanft nahm er ihre schmale Hand in seine riesige knorrige, verstümmelte Pranke. Die junge Frau protestierte. »Was tust du denn? Steh auf!« »Lily, ich flehe dich an, sei tapfer und hilf uns, Rakel zu retten! Nicht nur für die Armee oder für mich oder für ihr Kind, das als Geisel gehalten wird, sondern auch für dich, Lily.« Verwirrt entzog ihm die Frau ihre Hände und stieß ihn von sich. »Hör auf damit! Steh auf! Das ist ja peinlich! Was meinst du damit? Für mich?« Warum redete Gull plötzlich wie Chani? Kannten denn alle ihre verborgensten Geheimnisse? Gull nahm erneut ihre Hände, und sie ließ es gesche266
hen. Da er mit dem Rücken zum Feuer kniete, konnte sie sein Gesicht nicht genau erkennen, aber seine Stimme war voll sanfter Zärtlichkeit, wie damals vor langer Zeit, als sie sich in ihn verliebt hatte. »Lily, ich weiß, daß du eine große Last auf deiner Seele trägst. Selbst ich blinder Tölpel kann das erkennen. Du wurdest sehr verletzt, ich weiß. Ich weiß, daß du deswegen niemanden dicht an dich herankommen läßt. Du denkst, daß du nicht lieben kannst, daß du es nicht wert bist, geliebt zu werden. Aber das bist du. Du bist so sanft, so lieb und so rücksichtsvoll. Du darfst deine Scheu nicht zu stark werden lassen. Wie ein gutmütiges Pferd, das man schlecht behandelt hat, hast du Angst davor, wieder loszugaloppieren. Und deshalb bitte ich dich darum, es zu tun, uns zu helfen. Weil es dir guttut, anderen zu helfen, geliebt, geachtet und umsorgt zu werden.« Lily fühlte eine verräterische Träne an der Seite ihrer Nase entlangrinnen. Wie konnte Gull einerseits so dumm und tölpelhaft sein und dann wieder so lieb und verständnisvoll? Aber Gull und Chani hatten recht. Sie selbst hielt die Menschen von sich fern. Sie wich ihnen aus, und nicht umgekehrt. Und vielleicht konnte sie tatsächlich der Armee und ihren Freunden helfen - ihren Freunden, die sie um ihrer selbst Willen liebten. Als Antwort glühte das Dingus-Ei warm an ihrer Brust. Sie schniefte. »In Ordnung, ich werd's versuchen! Aber steh auf! Steh endlich auf!« Die Menschen um sie herum lachten glücklich und spendeten Beifall, als Gull sie plötzlich küßte. Lily schniefte vernehmlich und wischte sich mit dem Handgelenk die Nase. »Aber ich warne dich! Ich könnte uns eine Meile in den Himmel beschwören!« Gull lachte und drückte sie, bis sie quiekte. »Dann werden wir zusammen fliegen!« Die Armee jubelte. 267
Schließlich war es Zeit zum Aufbruch. Die Vorbereitungen waren abgeschlossen, und alle trugen Bündel mit Proviant und hatten die Waffen geschärft. Etliche Freiwillige, meist Frauen, sollten mit Greensleeves gehen. Helki, die Kentaura, hatte ihre Rüstung angelegt, frische Federn an ihre lange Lanze gesteckt und sich mit Kriegsbemalung in Form von Schnörkeln, Runen und Handabdrücken verziert. Mit dem Vollhelm sah ihr langes Gesicht grimmig aus, und ihre Augen hinter dem Visier blickten herrisch. Sie hatte darauf bestanden mitzukommen, obwohl Holleb noch immer an seiner Armverletzung kränkelte. Greensleeves, die die Intensität ihrer Gefühle zueinander kannte, war beeindruckt. In ihrer Begleitung war des weiteren eine Späherin namens Channa, eine stämmige Frau mit roten Pausbäckchen, die mit einem blauen Hemd, einer ledernen Hose und hohen Stiefeln bekleidet war, einen grauen Umhang mit Rabenfedern über die Schultern geworfen hatte und ein gebogenes Schwert in der Faust hielt. Sie war die Geliebte von Givon gewesen, dem Späher, der mit seiner Schwester Melba von der Dämonenhorde geköpft worden war: Sie hatte noch eine Rechnung zu begleichen. Die oberste der Heilerinnen, Amma die Samitin, hatte ebenfalls darauf bestanden mitzukommen. In enggegürtetem blauen Gewand und weißem Turban stand sie wartend bereit. Der einzige Mann der Gruppe, Kwam, schwieg beharrlich und wich Greensleeves nicht von der Seite. Greensleeves blickte ihre treuen Gefolgsleute erwartungsvoll an und fragte: »Fertig?« Sie alle nickten ernst, denn sie fühlten sich unbehaglich bei dem Gedanken an eine Dimensionsreise. Es erinnerte sie daran, daß man sie bereits früher beschworen und aus ihrer Heimat fortgerissen hatte - vielleicht für immer. Aber niemand sträubte sich. Greensleeves fragte Chani: »Wir sind bereit, aber wie soll ich... das Steinhirn finden?« 268
Als Antwort legte ihr die Druidin die gesunde Hand auf die Schulter. Der Feuerschein rötete Chanis altes Gesicht und verbarg die Runzeln und Falten, so daß Greensleeves für einen Moment die junge Frau in ihr erkennen konnte, die, wie sie vermutete, ihr selbst sehr ähnlich sah. »Denk daran, als wolltest du es beschwören. So wie du es eingefangen hast, hat es auch dich eingefangen.« Greensleeves mußte sich an die Vorstellung gewöhnen, daß auch sie eingefangen werden konnte, und blinzelte kurz. Dann suchte sie in ihrem Geist und stellte fest, daß Chani die Wahrheit gesagt hatte: Sie waren alle da, ihre >eingefangenen< Schutzbefohlenen - die Wölfe, die Graubären, der Schwertwall und vieles mehr. Und in weiter Ferne plapperte das fremde Steinhirn wie ein Papagei auf der Stange. »Ja, es ist da!« hauchte die junge Frau. »Dann schließe die Augen, sammle deine Gedanken und deine Freunde und fang an. Ich werde dir dabei helfen.« Unvermittelt stimmte die Druidin einen uralten Gesang an, der durch die Nachtluft schnitt und die Haare der Söldlinge zu Berge stehen ließ. Während die Melodie rhythmisch auf- und abschwang, schloß Greensleeves die Augen und richtete ihre Sinne nach innen. Eine Hand umklammerte das Pentagramm, ihre andere Hand zitterte sichtlich. Zum ersten Mal fühlte sie, daß die Magie in sie hineinströmte und nicht durch sie hindurch. Das Mana des Landes, das vermutlich von Chani und einem Teil ihrer selbst herbeigerufen worden war, floß in ihre Füße, in ihren Kopf, in ihre Hände und in ihr Herz. Gull starrte verdutzt, als der zerrissene Saum von Greensleeves Kleid zu glühen begann: zuerst braun, dann grün, dann blau und schließlich gelb wie die aufsteigende Sonne. Nach und nach umflossen die Farben die ganze Gruppe, bis sie in der Dunkelheit der Nacht 269
leuchteten wie ein Sonnenaufgang. Und über allem schimmerte Helkis Helm in einem goldenem Licht. Die zurückbleibende Armee mußte die Augen zusammenkneifen, um nicht von dem grellen Schein geblendet zu werden. Als sich ihre Sicht wieder klärte, waren Greensleeves und ihre Freunde verschwunden. Aus den Kehlen der Beobachter entrang sich ein vielstimmiger Stoßseufzer. Gull drehte sich um, packte Varrius Hand und drückte sie fest. »Wenn wir nicht zurückkommen, bist du der General. Mögen die Götter dir beistehen!« Gull versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. Aber der schlanke schwarzbärtige Soldat ließ Gulls Hand nicht los, sondern umklammerte sie mit dem Griff eines Schmieds. Ernst blickte er in die Augen des Generals. »Du wirst zurückkehren. Diese Armee braucht dich, deine Schwester und Rakel, um Gutes zu tun, die Zauberer aufzuhalten und uns alle wieder heimzusenden. Du wirst nicht versagen, weil du nicht versagen darfst.« »Äähh... ja, gut. Ich danke dir, Varrius.« Gull, der Holzfäller, warf sich den Langbogen und den Köcher über die Schulter, schob seine Maultierpeitsche und einen Dolch mit schwarzem Griff in seinen Gürtel und packte seine schwere zweischneidige Holzfälleraxt fester. An seiner Seite stand die weißgewandete Lily. Rakels Handschuhe hingen schlaff in ihrer linken Hand. Bardo, der Paladin aus dem Norden, stand mit ernstem Gesicht da, von Kopf bis Fuß in Kettenzeug gehüllt und einer gigantischen Schlange nicht unähnlich. Sein Waffenrock, der in der Farbe von altem Gold erstrahlte, hing über seinen Schultern, und auf seiner Brust hob sich der rotumrandete geflügelte Stab ab. Er trug einen großen Dreiecksschild und sein Bastardschwert, dessen Klinge so lang war, daß er den Schwertgürtel hoch oberhalb der Hüfte trug. Mit ihnen ging Ordando, 270
in eine abgewetzte Lederrüstung gehüllt. Auf ihrer gebräunten Haut leuchteten unzählige Narben, und ihr langer, blonder Zopf hob sich von ihrem blutroten Umhang ab. Sie trug ein langes Schwert und einen Rundschild mit einem hervorstehenden Buckel in der Mitte. Sie hatte darauf bestanden, bei der Rettung dabei zu sein, und hatte es gewagt, Gull zu einem Zweikampf zu fordern, dessen Siegesspreis diese Ehre sein sollte. Der Holzfäller hatte aber nur lächelnd genickt. Stiggur nahm seine Zurückweisung enttäuscht zur Kenntnis. »Bitte, Gull, laß mich mitgehen! Ich werd auch nicht im Weg sein! Und ich kann helfen! Wirklich, das kann ich!« »Zum letzten Male: Nein!« Gull versuchte, sanft zu bleiben, aber er mußte den Jungen auf Armeslänge von sich entfernt halten. »Lily hat gesagt, sie hat schon genug Schwierigkeiten damit, uns vier durch die Dimensionen reisen zu lassen. Fünf sind eindeutig zu viele!« Stiggur versuchte, seine heißen Tränen zurückzuhalten. Er will so gerne ein Mann sein, dachte Gull, dabei ist er gerade erst dreizehn und so ein netter Kerl. Stiggur hatte Gull auf jegliche Weise nachgeahmt: Er hatte das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, trug Hemd und Kilt aus Leder und lernte, mit der Peitsche umzugehen. Aber er weinte nicht, sondern stürmte nur in die Nacht davon. Lily fragte: »Sind wir fertig, Gull?« Der Holzfäller zuckte mit den Schultern und lächelte, um seine Furcht zu überspielen. »Wir warten nur auf dich.« Lily nickte und schluckte. Von allen Leuten der Armee fand sie selbst es noch immer am unglaublichsten, daß sie tatsächlich zaubern konnte. Sie schüttelte den Kopf, um diese Zweifel abzuschütteln. Obwohl es ihr schwerfiel sich vorzustellen, daß sie überhaupt die Macht dazu besaß, mußte sie es versuchen. Ich tue es für Gull, ermutigte sie sich, und für die 271
Armee und den Kreuzzug. Und für Rakels Sohn. Denn Kinder sollten nicht von ihren Eltern getrennt sein. Und für mich selbst. Es war nun an der Zeit, daß sie aufhörte, nur an sich selbst zu denken, und endlich Rücksicht auf andere nahm. Niemand war wirklich machtlos. Falls irgend jemand ihr das beigebracht hatte, dann war es diese winzige Armee, die so viel bewirkt hatte, und die so viel mehr verkörperte. Chani hatte ihr das Dingus-Ei gegeben, das sie nun mit einer Hand umklammert hielt. Das Ei erwärmte sich, und unter seiner steinernen Oberfläche fühlte Lily, wie sich etwas bewegte. Sie hob die Handschuhe. »Ich fühle mich wie ein Jagdhund, der den Geruch eines Stoffetzens aufnimmt.« Chani legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es ist auch nicht viel anders. Diese Handschuhe wurden in ihrer Stadt hergestellt, und sie hat sie getragen. Ihr Schweiß und ihr Blut kleben daran.« Chani holte rasselnd Atem und stimmte einen Gesang an. Lily dachte an Rakel und rief nach ihr, so wie sie einst quer durch die Domänen nach Gull gerufen hatte, als sie ihn so verzweifelt brauchte. Ordando war die erste, die das weiße Glühen an den Händen bemerkte. Das Licht breitete sich aus, bis sie alle am ganzen Körper glühten, dann wurde es heller. Lily bemerkte, daß ihr Gesicht und ihre Hände wie die winterliche Sonne leuchteten, und auch ihre Augen schienen zu glühen, denn ihre Sicht verschleierte sich, so als wäre sie in eine Nebelbank gelaufen. Jetzt geschieht es also wirklich, dachte sie... Gull grunzte, als sich ein Gewicht an seine Hüfte klammerte und nicht mehr losließ. Stiggur war geradewegs in ihn hineingelaufen. »Ich komme mit! Du kannst mich jetzt nicht allein lassen!« »Verdammt, Kleiner, wir können nicht...« Ein ohrenbetäubendes Zischen erfüllte ihre Köpfe, während sie 272
alle ganz in weißes Licht getaucht waren und allmählich durchsichtig wurden. Dann versank die Welt in unendlichem Weiß. Sie waren verschwunden. Neith, Varrius' ältester und bester Freund und seit dem Tode des großen Tomas seine einzige Verbindung zu ihrem südlichen Heimatland, fragte: »Was jetzt, Var?« Der schlanke Mann ließ den Blick über den gebirgigen Horizont schweifen. »Zunächst einmal nennst du mich Oberst, denn dazu hat General Gull mich gemacht, und die Kommandeurin Rakel würde es befehlen. Wir werden in ihrem Sinne weitermachen, damit sie stolz auf uns sein können, wenn sie zurückkehren. Da sowieso alle wach sind und es bald hell werden wird, laß die Hornbläserin Signal zum Wecken geben. Wir können dann frühstücken und den Tag zeitig beginnen.« Neith wollte protestieren >Warum nicht noch etwas schlafen und erst am Nachmittag aufbrechen? <, aber dann überraschte er sich damit, daß er antwortete: »Jawohl, Herr Oberst!«
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Durch einen roten Nebel des Schmerzes hörte Rakel, wie sich die schwere Verliestür krächzend öffnete. So schlimm die Dinge bisher gelaufen waren, sie wurden noch schlimmer. Der Folterknecht, der vor seinem tragbaren, mit rotglühenden Kohlen angefüllten Becken stand, drehte sich um und erhob den weißglühenden Schürhaken. Dieser stämmige vierschrötige Mann mit den mächtigen Schultern und Oberarmen hatte Rakel pausenlos bearbeitet vielleicht erst seit wenigen Minuten, vielleicht seit Tagen. Rakel wußte nicht, wie lange sie bereits hier in den eisernen, tief in ihre Handgelenke schneidenden Handfesseln hing. Der Folterknecht war kein Sadist. Schrecklicher noch: Er führte seine Arbeit mit der gelangweilten Gleichgültigkeit eines Metzgers aus. Er hatte Hautstreifen von ihren Rippen gezogen, sie zu Boden geschnippt, so daß sie unter seinen schmutzstarrenden Stiefeln in den Dreck getreten wurden, und die Bäche aus Blut zum Versiegen gebracht, indem er die Wunden mit einem heißen Eisen ausbrannte. Von dem fettigen Gestank nach verkohlter Haut hatte sie sich übergeben müssen. Sie war vor Schmerzen ohnmächtig geworden, doch bis jetzt hatte sie nicht geschrien - noch nicht. Falls sie aufgab - dessen war sie sich sicher -, würde sie kreischen und schreien und nie wieder aufhören können. Sie würde ihre Ehre und ihren Verstand verlieren. Also widerstand sie auf die einzig mögliche Weise. Im Gegensatz zu den meisten Alpträumen war es hier sehr hell. Entlang der geschwärzten Steinwände des Ver274
lieses hingen Fackeln, denn der Folterknecht brauchte Licht für seine Arbeit. Sie war bis zur Hüfte nackt, nachdem man ihre lederne Kleidung mitsamt der Haut vom Körper geschnitten hatte. Die blutüberströmte Kriegerin hing in ihren Handfesseln von der Decke, so daß ihre Füße kaum den schmutzigen Boden berührten. Sie versuchte, ihre Umgebung aus ihrem Geist zu verdrängen und statt dessen in einen Nebel zu fliehen. Vielleicht konnte sie mit purem Willen ihren Tod erzwingen... Ein sengender Schmerz an der Hüfte weckte sie. Als er ein wenig nachließ, hörte sie in der Ferne Stimmen. Nein, sie waren unmittelbar neben ihr. Der Alptraum erwachte zu neuem Leben. Im Eingang des Verlieses stand Sabriam, von zwei Leibwächtern mit Fackeln flankiert. Sein Gesicht war unter Binden verborgen, und seine Stimme lallte von den Drogen und dem Schnaps, der den Schmerz seiner zerschmetterten Nase betäuben sollte. Ein gedämpftes Stammeln drang an ihre Ohren: »...etwas anderes! Tu ihr richtig weh!« Der Folterknecht breitete die speckigen schwarzen Hände aus und antwortete mit unterwürfiger, weinerlicher Stimme: »Sie ist stark, eine Kriegerin, an Schmerzen gewöhnt. Sie wird nicht schreien. Gebt mir ein paar Tage...« »Tage?! Ich habe einen anderen Vorschlag!« zeterte Sabriam. »Stich ihr ein Auge aus!« Der Folterknecht zuckte zurück. »Ihr kennt das Gesetz! Keine Male, die die Menge sehen kann...« »Verdammt sei der Pöbel! Er kümmert mich nicht!« Rakel hörte so unbeteiligt zu, als lauschte sie einem Gespräch zwischen Fremden. Obwohl der Schmerz wie ein schweres brennendes Gewicht an ihr zerrte, bemerkte sie die Heuchelei: Der Rat ordnete die Folter zwar an, gab es jedoch nicht zu. Alle, die zum Hängen verurteilt waren, mußten bei ihrem Gang zum Galgen 275
gesund und gut behandelt aussehen. Also stand den Folterknechten in bezug auf die zu bearbeitenden Körperstellen nur eine begrenzte Auswahl zu. Rakel jedoch erlitt mehr als nur körperliche Verletzungen. Ihre Seele erhielt Narben, die niemals wieder heilen würden. Sie würde niemals wieder einer anderen Person erlauben, sie zu berühren, würde vermutlich schreien, falls ihr jemand zu nahe käme. Der Folterknecht feilschte wie auf dem Fischmarkt. »Wenn ich ihre Füße bearbeiten dürfte, ihre Zehennägel ausreißen oder ihr Späne unter die Nägel treiben...« »Das ist nicht genug! Ich will, daß sie leidet!« Sabriams Stimme wurde plötzlich fröhlich. »Wie wäre es mit Ratten?« Ratten? Das Wort ließ Rakel erschauern. »Ha!« ertönte Sabriams Lachen. »Siehst du, das mag sie gar nicht! Bring ein paar Ratten! Ich möchte sie schreien hören, bis ihr die Lunge platzt!« Schulterzuckend schob der Folterknecht seinen Schürhaken ins Feuer und drängte sich an Sabriam vorbei aus der Tür. Rakel versuchte, nicht an die Ratten oder an andere Grausamkeiten zu denken, aber Sabriam trat vor sie, nahm mit einer gezierten Bewegung den Schürhaken aus dem Kohlebecken und berührte damit ihre Brust. Ihr ganzer Körper zog sich vor Schmerzen zusammen. Sabriam lachte. »Es gibt kein Entkommen, Rakel. Du wirst hierbleiben und unerträgliche Qualen erleiden, bis du schließlich hängen darfst. Dann werden die Massen lachen, wenn du in der Schlinge tanzt. Und dein Sohn wird an meiner Seite stehen, damit er sieht, was mit Verräterinnen geschieht. Wer weiß? Vielleicht werde ich ihn adoptieren.« Von all den Qualen, die sie bis jetzt erlitten hatte, schmerzte sie dieses am meisten: Hammen sollte so werden wie Sabriam! Also gab es Dinge, die schlimmer waren als der Tod, und der Tod war ihr einziges 276
Entkommen. Sie würde ihn mit offenen Armen empfangen. Grunzend schob sich der Folterknecht wieder in den winzigen, vor Blut, Schweiß und Feuer dampfenden Raum. In den Händen trug er zwei Drahtkäfige. Der erste war vollgestopft mit Dutzenden von huschenden, quiekenden, grauen Gestalten. Er setzte diesen Käfig auf den Boden und machte sich am zweiten zu schaffen. Ein Ende war geöffnet, nach innen gebogen und mit robusten Lederriemen versehen. Sabriam kratzte sich an den juckenden Bandagen in seinem Gesicht und leckte sich die Lippen. »Wie funktioniert es?« Er grinste höhnisch und gemein, als er Rakels hemmungsloses Zittern bemerkte. Der Folterknecht drückte das offene Ende des Käfigs gegen Rakels nackten Bauch. »Wir binden diesen Käfig an ihr fest, öffnen das andere Ende und stecken die Ratten hinein. Sie sind hungrig, also werden sie an ihrem Fleisch nagen. Um sie zu töten, würden wir ein Feuer an einem Ende entfachen. Dann würden sie sich durch ihren ganzen Körper graben, um zu entkommen.« Tod, wo bist du? flehte Rakel stumm. Essa, Göttin des Todes, nimm mich zu dir! Jetzt, bitte, bevor ich den letzten Rest Ehre verliere, der mir noch geblieben ist... Ein Wächter murmelte etwas, und Sabriam fluchte: »Ich muß jetzt gehen! Der Rat tagt, aber ich werde zurückkommen. Stecke jeweils nur eine Ratte in den Käfig und sieh zu, daß es nicnt zu schnell geht. Und bei der Liebe der Götter, bring sie nicht um, oder ich werde dir antun, was du mit ihr getan hast.« »Ja, Herr«, betonte der Folterknecht. Er hatte es so oft schon gehört: Laien, die ihm seine Arbeit erklärten. Rakel erlitt weitere Schmerzen, als der kalte Eisenkäfig um ihren Rumpf gebunden wurde. Jeder Muskel ihres Körpers wurde hart wie das Eisen des Käfigs. Ratten, die an ihrem Bauch nagten! Was konnte schlimmer sein? Wenigstens hatte man ihr Gesicht verschont. Sie hatte 277
Menschen mit Segeltuchkapuzen über dem Kopf blind die Stufen zum Galgen hinauftaumeln sehen. Man hatte gemunkelt, sie seien von Stand, und die Kapuze verberge ihre Identität und schütze die Familienehre. Nun kannte sie die Wahrheit... Der Folterknecht legte einen dicken ledernen Handschuh an und holte eine kleine Ratte mit schmutzstarrendem Fell aus dem Käfig. Plötzlich hielt er inne und grunzte mißmutig. Draußen im dunklen Gang schimmerte ein schwacher Lichtschein. Kam Sabriam zurück? Aber dieses war kein flackernder gelber Fackelschein, sondern reinweißes, helles, strahlendes Licht. Es war so grell, daß es Rakels fest zugekniffene Augenlider durchdrang. Was... Oder wer? Der Folterknecht hielt erschreckt die Luft an, als er die weißen Gestalten bemerkte. Es mußten Geister sein, die Seelen der Menschen, die er gequält hatte, denn niemand konnte sich in das Ratshaus hineinbeschwören, da es gegen Magie und Dimensionsreisende gesichert war. Während seine eine Hand noch immer die sich windende Ratte umklammerte, wich der Mann zurück und griff nach dem heißen Schürhaken. Rakel keuchte: Umrahmt von weißem Licht, doch so stofflich wie die Steinwand, stand dort - Gull! An seiner Hüfte klammerte sich Stiggur wie ein kleines Äffchen fest. Neben ihm standen Bardo und die Hauptfrau der grünen Kompanie, Ordando - und Lily, die in weißem reinen Licht wie ein Engel erstrahlte. Langsam verblaßte das Leuchten, und die durch die Sphären gereiste Gruppe blinzelte aus der rauchgeschwängerten Dunkelheit des Ganges in das gelbe Fackellicht des Verlieses. Dann geschahen ein Dutzend Dinge gleichzeitig. Der Schwierigkeiten gewöhnte Folterknecht stürzte mit seinem rotglühenden Schürhaken auf die nächstbe278
ste Gestalt zu. Gull sah sich rasch um und schrie: »Rakel!« - der wundervollste Ruf, der je an das Ohr der Kriegerin gedrungen war. Lily erbleichte und hielt sich die Hand vor den Mund, während Stiggur nach einem kurzen Blick auf die Knie fiel und sich heftig übergab. Ordando fluchte wie eine Eselstreiberin. Bardo, der sich seit seiner Kindheit dem heiligen Kampf gegen das Böse verschrieben hatte, riß sein Bastardschwert hoch. Mit einem Klirren traf es den Schürhaken, der in hohem Bogen durch die Luft flog und von der Wand abprallte. Klappernd fiel er zu Boden, und der Geruch von verbrannter Erde stieg auf. Der Paladin hatte erst angegriffen und dann erst die Umgebung wahrgenommen. Nun erkannte er, daß der Mann ein Folterknecht war, und seine heilige brennende Inbrunst verwandelte sich in kalte Wut. »Der Arm des einzisch wahrän Gottäs ist lang und mächtisch und fordärt Vergeltung von den Sündärn!« Mit dieser Verkündung schlug er den Folterknecht mit der flachen Seite seines Schwertes nieder, so daß der Mann der Länge nach auf die schmutzigen Steinplatten krachte. Gull fluchte wie ein Söldner, als er auf Rakel zuging. Er zerrte an den Ketten, die über ihrem Kopf befestigt waren, wobei die Handfesseln unabsichtlich noch tiefer in ihre aufgeschürften Handgelenke schnitten. In ohnmächtigem Zorn befahl er den anderen zurückzutreten und schmetterte dann seine Axt gegen die Ketten. Die Fesseln zerrissen, und Rakel brach auf dem Boden zusammen. Zu ihrer Schande weinte sie laut - vor Erleichterung und wiedererwachter Angst um ihr Kind, denn die Rettung bedeutete eine Rückkehr ins Leben und seine unzähligen Fährnisse. Sie war mehr tot als lebendig und wollte nur noch in die Dunkelheit davonkriechen. Gull versuchte sie aufzuheben, doch sie war schlaff wie ein nasser Sack. Energisch schob Lily ihn zur Seite 279
und sah nach, ob sie tödliche Verletzungen erlitten hatte. »Du armes Ding, du armes Ding...« Doch ein Teil von Lilys Geist jubelte. Sie waren rechtzeitig gekommen, um Rakel zu retten, und es war allein ihr Verdienst: der Verdienst von Lily, der ehemaligen Hure. Gull tobte so laut, daß sie sich die Ohren zuhalten mußten. »Wer hat dir das angetan!? Wer!? Ich werde ihn töten! Ich werde jeden in dieser verdammten Stadt töten!« Während Gull sich weiterhin in nutzlosen Flüchen erging, zerriß Lily ihren Unterrock, um Rakel zu verbinden. Ordando hatte inzwischen an der Wand die Schlüssel zu den Handschellen entdeckt und öffnete sie. Bardo war damit beschäftigt, den grausamen Folterknecht ins Jenseits zu befördern, damit die Götter ein gerechtes Urteil über seine Seele fällten. Wieder und wieder ließen das Entsetzen und die Erschöpfung Rakel in Bewußtlosigkeit sinken, aber sie schaffte es dennoch zu erklären, daß Sabriam die Folter angeordnet hatte, daß er in dem Ratsraum im obersten Stockwerk saß und daß er ihren Sohn gefangenhielt. »Seine Nase ... ist verbunden. Sabriams. Holt ihn euch... macht ihn fertig... aber findet... meinen Sohn..,« »Xira sei uns gnädig!« wisperte Lily, während sie Rakels Wunden verband. »Du mußt nicht mehr kämpfen, Rakel. Wir werden deinen Sohn retten und euch hier herausholen. Ich schwöre es.« »Kannst du uns in diesen Ratsraum bringen?« fragte Gull. »Beschwören?« »Ich... äh...« Lily hielt den Atem an. »Äh... nein, nein. Ich kann keine Magie mehr fühlen. Sie ist aufgebraucht. Oder irgendwie abgeschirmt, oder wir sind zu tief unter der Erde. Oh, ich werde ohnmächtig...« »Nein, wirst du nicht!« brüllte Gull. »Niemals war ich stolzer auf dich! Aber wir brauchen...« Rakel murmelte: »Tür... Ende des Ganges ... Treppe geradewegs in den Ratsraum.« 280
Ordando rannte los, um nachzusehen, und kam zurück. »Sie hat recht. Da ist eine Wendeltreppe, die bis zum Himmel reicht.« »Wohl eher zur Hölle! Aber da werden wir hochgehen!« Gull nahm die verbundene Rakel in die Arme, da sie nicht stehen konnte. Sie murmelte etwas von Hammen und von irgend jemanden namens Garth. Der Holzfäller befahl Stiggur: »Hör auf zu kotzen und trag sie! Du wolltest ein Abenteuer? Jetzt hast du eins!« Unbeholfen trug der Junge den schlaffen Körper der Kriegerin, die trotz all ihrer Kraft kleiner war als er. Er rümpfte die Nase, als ihm der Gestank von blutiger, verbrannter Haut in die Nase stieg, aber er ließ sie nicht fallen. Sie waren bereit. Bardo warf noch einen Blick auf den toten Folterknecht und stieß dann mit seinem Schwert den Rattenkäfig um, so daß die Tiere in einem schmutzigen grauen Haufen herausquollen. Dann zog er die Tür fest hinter sich zu und brach den Schlüssel im Schloß ab. Gull warf seinen Umhang ab, da es ihm in dem engen Raum zu heiß wurde. Dann schob der Holzfäller seine lange Axt in den breiten Gürtel, zog den Bogen von der Schulter und prüfte die Sehne. »Jetzt holen wir uns diesen Sabriam. Und diesen Jungen. Seid ihr bereit?« Ordando wischte sich die Hände an der Wollhose ab, packte ihren Schwertgriff fester und grinste freudlos. »Uns mit einem Raum voller Höflinge und ihren EliteLeibwächtern anlegen? Es wird mir ein Vergnügen sein!« Im Gänsemarsch trotteten sie zur Treppe und schlichen hinauf. Oben angelangt stieß Gull eine gut geölte Tür auf und betrat einen Raum mit steinernen Wänden und Wandteppichen. Durch ein Guckloch zwischen den Gobelins studierte er gerade den Ratssaal, als die Gefährten sich hinter ihm in die Kammer drängten: Lily in blutbefleckter, abgetragener weißer Reisekleidung, Stiggur, der 281
die bleiche, blutüberströmte und schmutzige Rakel schleppte, die in seinen Umhang gewickelt war, Ordando, begierig darauf, die Leiden ihrer Kommandeurin zu rächen, und Bardo, der sein Schwert erhob und auf Gulls Zeichen wartete. Der Holzfäller legte einen langen Pfeil an und nickte. Bardos lange stählerne Klinge durchschnitt die Wandteppiche wie Spinnweben, so daß die staubigen Streifen vor ihren Füßen zu Boden fielen. Das Sonnenlicht fiel durch breite Fenster am anderen Ende des Raumes und ließ den blauen Läufer in lebhaften Farben erstrahlen. Entlang der Wände lungerten gaffende Höflinge herum, und in der Türöffnung zu ihrer Rechten standen die überrumpelten Wächter, die sich nicht rührten, sondern nur fassungslos auf die Eindringlinge starrten. An der entfernten Tafel auf dem Podium erhoben sich sechs Ratsmitglieder, während ein siebtes sitzenblieb - geschwächt durch eine entzündete Nase und zuviel Drogen. Unmittelbar hinter ihm rief ein zwei Jahre alter Junge in schwarzer Lederkleidung ein einziges Wort. Alle starrten auf die dreckigen Gestalten, die hinter den durchtrennten Wandteppichen erschienen waren trotz der besten Wächter, die man für Geld kaufen konnte. Der narbige, in Hirschleder gekleidete Mann hob seinen Langbogen, zielte und schoß. Bereits als Kind hatte Gull im Flüsterwald auf Kaninchen geschossen, und nun tat sein weißglühender Rachedurst ein übriges: Sicher und genau raste der Pfeil auf sein Ziel zu. Das Geschoß durchschnitt die Luft des Ratssaales, bohrte sich durch Sabriams Schulter und nagelte ihn an die Lehne seines schweren Eichenstuhles. Die Leute hielten die Luft an. Die Wächter versuchten anzugreifen, doch die trunkene Menge versperrte ihnen den Weg. Neugierig starrten die Höflinge auf den bedrohlichen Bardo und die finstere Ordando, die mit erhobenen Schilden und Schwertern auf sie zukamen. 282
Gull rannte durch den langen Ratssaal auf das Podium zu, während die Ratsmitglieder erschreckt das Weite suchten. Er warf sich den Bogen über die Schulter und sprang auf das Podest. Mit beiden Händen packte er die Unterseite der schweren glänzenden Tafel, hob sie an und warf sie zur Seite. Jetzt stand nichts mehr zwischen ihm und dem zusammengesunkenen Sabriam, der mit weit aufgerissenen Augen auf den tobenden Riesen starrte. »Ich bin Gull, der Holzfäller!« rief der Mann und zog seine lange zweischneidige Axt aus dem Gürtel. »Der Mann, den du umbringen lassen wolltest, zusammen mit meiner Schwester! Der Freund von Rakel!« Mit diesen Worten riß Gull die Axt hoch, als wolle er Feuerholz spalten, und schmetterte sie dann mit aller Kraft herab. Das schwere Blatt spaltete Sabriam in zwei Hälften und zertrümmerte seinen Stuhl. Blut, Hirnmasse, Eingeweide, Rippen und Organe klatschten in einem glitschigen dunkelroten Mischmasch zusammen. Gull riß die blutige Axt aus den Überresten des Ratsvorsitzenden, fuhr herum und starrte den entsetzten Höflingen und Wächtern ins Angesicht. »Hier ist eine von euch, und seht, was ihr ihr angetan habt! Zeig es ihnen, Stiggur!« Der Junge hatte alle Hände voll damit zu tun, Rakel zu tragen, also zog Lily den Umhang fort und zeigte den wie gelähmt dastehenden Zuschauern die Schnitt- und Brandwunden auf Rakels Körper. Langsam drehte sich Stiggur zu dem liederlichen Abschaum aus Sabriams Clan herum. Einige übergaben sich, einige fielen in Ohnmacht, einige wandten sich nur ab. »Seht ihr!?« donnerte Gull von dem blutigen Podium herab. »Dies hier wird ein Ende haben, oder diese Stadt wird in Schutt und Asche gelegt! Dies schwören Gull, der Holzfäller, und Greensleeves, die Druidin!« Geflüster, Gewimmer und Gebete antworteten seiner Drohung. In der Stille ergriff Gull den Arm des zittern283
den, kahlgeschorenen Jungen. »Deine Mutter braucht dich, Hammen.« Die blauen Augen des Jungen blitzten den großen Mann haßerfüllt an, aber als Stiggur mit seiner bleichen Last auf das Podium stieg, brach das Herz des Knaben, und er erkannte die Wahrheit. »Mutter!« Er klammerte sich an die eingehüllte Gestalt, während Stiggur unter dieser zusätzlichen Last schwankte. Durch dieses einfache Wort aufgerüttelt, öffnete Rakel die blutunterlaufenen Augen, lehnte sich vor und küßte den geschorenen Kopf ihres Sohnes. »Hammen!« Bardo und Ordando hatten sich dicht nebeneinander der Menge genähert und trieben sie auf Gull zu. Die Wächter folgten ihnen mit angelegten Hellebarden, machten jedoch keine Anstalten anzugreifen. Dann stürmte ein erzürnter Hauptmann der Wache in den Saal und brüllte: »Worauf wartet ihr noch? Ergreift sie!« Der Holzfäller blickte sich um und wich dann zu den offenen Fenstern zurück. Er hielt die Luft an, denn unter ihm ging es mindestens hundert Schritt in die Tiefe. So weit das Auge reichte, breitete sich der Stadtstaat von Benalia bis zum Fuße der weit entfernten Blauen Hügel aus: mehr Häuser, Gebäude, Straßen und Menschen als Bäume in einem Wald, als Schneeflocken in einem Wintersturm. Als die Wächter auf sie losstürmten, drängten sich Gulls Gefährten auf dem Podium um Sabriams zermatschten Körper zusammen. Bardo ergriff die schwere Tafel und stellte sie auf die Kante, um eine Barriere zu bilden. Gull fragte Lily: »Kannst du uns hier raus beschwören? Oder wird das hier unser letztes Gefecht sein?« Die Zauberin faßte sich an den Kopf. Die Dinge geschahen einfach zu schnell. »Ich weiß nicht... ich brauche Zeit...« 284
Gull nickte nur. Er fühlte sich seltsam ruhig und gelassen. Sie hatten Rakel und ihren Sohn gerettet. Wenn sie nun starben, umringt von Dutzenden von Feinden, würden sich dereinst Legenden um sie ranken. Man würde sich erzählen, daß sie ihren Auftrag erfüllt und ihr Bestes gegeben hatten. Doch als er auf die Stadt starrte, kam ihm plötzlich ein Gedanke. »Könnten wir vielleicht fliegen?« »Fliegen?« Die Frau blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »O nein... äh... ich weiß nicht ob...« »Zeit, es herauszufinden!« Gull drehte sich um, schlang die Arme um Stiggur und Lily, rief Bardo und Ordando zu sich heran, trat auf die riesigen Fenster zu und setzte sich auf das breite Fensterbrett. Der Wind peitschte ihm Haarsträhnen ins Gesicht und zerrte an seinem Umhang. Er legte einen Arm um Lily. »Laß uns fliegen, Lily!« Lily wollte schreien. »Ich kann nicht!« Noch immer erfüllt von seiner seltsamen schicksalsergebenen Ruhe beugte sich Gull über sie und küßte sie aufs Haar. »Du kannst. Ich weiß, daß du es kannst. Ich glaube an dich, Lily. Wir alle glauben an dich.« Sie streifte ihre Gefährten mit einem raschen Blick: Bardo und Ordando standen an ihrer Seite und drohten mit erhobenen Schwertern in den Ratssaal hinein, um die verwirrten Wächter zurückzuhalten. Stiggur hielt Rakel und ließ seine Augen nicht von Gull, seinem Helden, der ihm Kraft gab. Hammen hatte die Hand seiner Mutter umklammert. Lily biß sich auf die Lippe, spreizte die Arme, als wolle sie fliegen, und betete. »Ich kann nicht!« Gull griff mit beiden Händen nach Bardos und Ordandos Umhängen. »Du kannst.« Er krallte sich an seinen Gefährten fest, lehnte sich vor und - sie fielen. 285
Der braun-grün-blau-gelbe Nebel vor ihren Augen teilte sich, und Greensleeves fand sich in kniehohem gelben Gras wieder. Erleichtert atmete sie aus und hatte dabei nicht einmal bemerkt, daß sie die Luft angehalten hatte. »Ich hab's geschafft!« Eifrig blickte sie sich um und ließ den Blick an ihren Freundinnen vorbei über den Horizont schweifen. Ihr Bruder, die Armee, die Schlucht und die Nacht waren verschwunden. Statt dessen breiteten sich unter der hoch über ihren Köpfen stehenden Sonne sanfte, grasbewachsene Hügel in alle Richtungen aus. »Ich hab's geschafft«, wiederholte sie aufgeregt. »Ich habe uns alle hierherbeschworen und...« >habe nicht den Verstand verloren< wollte sie nicht hinzufügen, also schwieg sie. Ihre Reisebegleiterinnen schauten auf die gelben Hügel und in den leeren Himmel, denn etwas anderes gab es hier nicht zu sehen. Schließlich fragte Helki: »Aber wo wir seien, Greensleeves?« »Was?« Die Druidin blickte sich genauer um, aber es gab tatsächlich nicht viel zu sehen. »Ähhmm... ist dies hier nicht Phyrexia? Die Sphäre der... Dämonen?« Helki deutete nach oben. »Einige Vögel. Hoch. Das sein alles.« Die Menschen konnten sie nicht einmal erkennen. Greensleeves bückte sich und riß ein Grasbüschel aus. Es war süß duftendes Timotheusgras mit flaumigen reifen Köpfchen. Die Sonne schien warm, und eine milde Brise wehte. Dies war wohl kaum ein dämonenverseuchtes Ödland. »Was soll das bedeuten?« fragte sie ins Leere. Amma schlug vor: »Stehst du noch immer in Verbindung mit dem Artefakt?« Greensleeves runzelte die Stirn und richtete ihre Sinne nach innen. Tief im Inneren ihres Geistes hörte sie den Gesang des Hirns, sein sinnloses Geplapper, und ein 286
Hauch von Angst streifte sie. Aber es war nicht in der Nähe, vermutete sie, geschweige denn auf in dieser Welt. »Ich verstehe es nicht! Ich hätte geradewegs zu ihm kommen müssen.« »Vielleicht«, überlegte Kwam, »haben wir irgendeine Zwischenebene erreicht. Kannst du es hierherbeschwören?« Greensleeves befragte die Stimme in ihrem Kopf. »Nicht besser als vorher. Diese Dämonen müssen es irgendwie an sich gekettet haben. Chani hat mir erklärt, daß manch eine mächtige Zauberin so etwas vermag.« Sie suchte vergebens nach einer Erklärung. »Ich verstehe es immer noch nicht. Ich schätze, wir müssen es noch einmal versuchen.« Dieses Mal ließ sie, um sicherzugehen, ihre Gruppe einander an den Händen halten: Amma, Helki, Channa, Kwam und sie selbst. Diese zweite Dimensionsreise fiel ihr leichter. Ihr Pentagramm (und ihren Verstand) fest umklammernd, konzentrierte sich Greensleeves, beschwor Mana aus allen Richtungen in ihren Körper und in ihren Geist und fühlte, wie das Glühen an ihr emporstieg und sie alle umschloß. Sie landeten auf einer schlammigen Fläche, auf der kleine Salzwasserwellen in ihre Schuhe und Stiefel schwappten. Der Ort stank nach angeschwemmten Seegras, und in der eisigen Luft dampfte ihr Atem. Weit draußen, eine Bogenschußlänge entfernt, brandete das Meer an eine schlammige Küste. Jenseits davon bliesen Wale Gischtfontänen in die frostige Luft. Hinter ihnen dehnte sich das Watt meilenweit aus, bis hin zu einer mit salzigem Gras bewachsenen Ebene. Am seltsamsten war der Anblick der untergehenden Sonne, die in tiefes Rot getaucht war. Greensleeves hatte keine Ahnung, was das bedeutete - nichts in ihren bisherigen Erfahrungen erklärte eine rote Sonne. Niemand brauchte es zu erwähnen: Sie waren wieder 287
einmal im Nirgendwo. Dennoch fand Greensleeves die Stimme des Hirns. Waren sie ihm nähergekommen? Sie unterdrückte ein Seufzen, bat die anderen, sich wieder an den Händen zu halten, richtete erneut ihre Sinne auf ihren Geist und beschwor kräuselnde farbenprächtige Wellen in diese graue Landschaft. Noch bevor sich die regenbogenfarbenen Nebel vor ihren Augen gelichtet hatten, spürten sie unzählige Stiche und Bisse auf der Haut. Die Gruppe konnte sich zwischen den dicken fleischigen Blättern, die sie umfangen hatten, kaum bewegen. Sie konnten nicht einmal ihre Füße sehen, denn sie standen inmitten eines Dickichts aus verfilztem dichten Farnkraut. Einige der Blätter hatten scharfe Ränder, die wie Holzspäne Helkis rötlichgraues Fell ritzten. Sofort wurden sie von Millionen riesiger braungestreifter Moskitos heimgesucht, die ihre Rüssel in jede Pore ihrer Haut bohrten. »Rasch! Au! Greensleeves!« flehte Amma. Wild um sich schlagend und mit den EseltreiberFlüchen ihres Bruders auf den Lippen nahm die Druidin die Spur des Artefakts auf. Es war zwar nicht auf dieser Ebene, aber entschieden näher bei ihnen. Eilig versenkte sie sich in sich selbst, murmelte eine Formel und beschwor sich und die anderen fort, nur Fußabdrücke und etliche Tropfen Blut zurücklassend. Die zerstochene Gruppe fand sich in einer Geröllwüste wieder, die mit flachen Steinen übersät war, auf denen grünes Moos und winzige gelbe Knospen wuchsen. Der Himmel war mit schwarzen Regenwolken bedeckt, und der Wind zerrte an ihren Rockschößen und säumen und wickelte sie ihnen um die Beine. Helki tänzelte nervös, so daß ihre Hufe auf den spröden Felsen klapperten. Ihr Schweif wehte wie eine Fahne im Wind. »Wind wird stärker. Jagt durch Land. Wirft Felsen um. Sehen?« Sie klopfte mit dem Huf gegen einen Felsen, und sie 288
erkannten, daß er auf beiden Seiten mit frischem Moos bewachsen war: ein Zeichen dafür, daß er vor kurzem erst umgedreht worden war. Und hier gab es nichts außer dem Wind, der dies hätte tun können. Von einem nahegelegenen Abhang polterte ein Felsen herab, und ein Windstoß warf Amma um, so daß Kwam ihr aufhalf und sich schützend vor sie stellte. Im nächsten Augenblick mußte er sich bereits an Helki festklammern. Greensleeves stöberte in ihrem Geist. Das Steinhirn war noch näher gekommen, aber hier war es nicht. Vielleicht auf der nächsten Ebene. Sie würde Chani viele Fragen stellen müssen, wenn sie wieder zu Hause war falls sie jemals wieder nach Hause käme. »Noch einmal!« brüllte sie. »Haltet euch fest!« Greensleeves trug ein Gebet auf den Lippen, als sie verschwanden. Die ganze Welt bestand aus schwarzem, verbranntem und geschmolzenem Gestein. In ihrer Nähe befand sich die geschwärzte Ruine eines Steingebäudes, dessen Wände zerschmettert oder zusammengeschmolzen waren. Überall in diesem öden Tal standen weitere zerstörte Gebäude, die sich an die kahlen Berghänge drückten. Kein einziger Vogel flog am düsteren stahlgrauen Himmel, und die einzigen Gerüche, die sie wahrnahmen, waren die von Rost, abgestandenem Wasser und Staub. Trotz der freudlosen Umgebung jubelte Greensleeves kurz. »Ich hab's geschafft! Das muß der richtige Ort sein! Es muß Phyrexia sein!« Die anderen beglückwünschten sie und klopften ihr auf die Schultern und auf den Rücken, verstummten dann jedoch. Dieser feindliche, ungastliche Ort ließ sie erschauern, und sie drängten sich schutzsuchend aneinander. Die stets praktisch denkende Helki fragte: »Ist vielleicht schlechte Frage. Aber wo sein Dämonen und Steingehirn?« 289
Greensleeves runzelte die Stirn. Nach dem heftigen Wind der letzten Sphäre herrschte an diesem Ort Grabesstille, so als seien sie bei lebendigem Leibe begraben - tot und vergessen. Lauschend suchte sie nach dem Steinhirn. Dann fluchte sie. »Verdammt, es ist nicht hier!« Channa hatte sich aus Gewohnheit ein wenig von der Gruppe entfernt, um zu kundschaften. Nun kehrte sie mit schußbereitem Bogen zurück. »Ist das nicht Phyrexia?« Greensleeves seufzte. »Ich fürchte nein. Obwohl es wirklich so aussieht wie ein verwüstetes Ödland.« »Von Menschen verwüstet«, murmelte Kwam und hielt eine geschmolzene stählerne Pfeilspitze in die Höhe. »Du uns fortbringen. Nicht? Greensleeves?« fragte Helki. »Natürlich.« Die Druidin ballte die Fäuste und suchte nach dem Mana dieses Ortes, um es in sich aufzusaugen. »Dieses... Steinhirn muß... es muß... o mein...« »Was denn?« fragten vier Leute gleichzeitig. »O nein!« stöhnte Greensleeves. »Wir hätten nicht hierherkommen dürfen. Es gibt kein Mana hier. Es ist aufgebraucht. Verschwunden. Wir kommen hier nicht mehr weg!«
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Lilys Flugzauber traf sie wie ein Schlag in den Magen. Sie fühlten sich, als würden sie von einer gigantischen Hand am Nacken gefaßt und in die Luft gehoben. Ihre Beine hingen gewichtslos herab, und sie schwebten wie in einem Traum - zwar fielen sie, aber langsam. Gull fand das Gefühl sowohl aufregend als auch erschreckend. Einerseits fühlte er sich frei wie ein Vogel oder wie ein Schmetterling, aber andererseits wußte er, daß er ohne irgendeinen Halt in der Luft hing - weder an einem schwingenden Seil noch an einem ausladenden Ast. Alles, was sie hielt, war Magie. Mit Erleichterung, aber auch ein klein wenig Enttäuschung fühlte Gull, wie seine Füße die Pflastersteine berührten. Dann kehrte sein normales Gewicht so plötzlich wieder, als habe ihm jemand zwei Kornsäcke auf die Schultern geworfen. »Lily, du hast es geschafft!« krähte Gull. Auch Bardo, Ordando und Stiggur landeten, letzterer unter seiner schweren Last schwankend. Lily setzte so leicht auf wie ein Reh, das über einen Zaun springt - erst mit einem, dann mit dem anderen Fuß. Sie lächelte Gull zaghaft an. Der Holzfäller ergriff Hammens knochigen Oberarm und hielt ihn fest. Er wollte verhindern, daß der Junge jetzt noch seine Meinung änderte und ihnen davonlief. »Was nun?« fragte der praktisch denkende Bardo. Hinter ihnen stand das Ratshaus, dessen ersten vier Stockwerke aus Stein und Mörtel und die höhergelegenen Etagen aus gelbem Backstein bestanden. Ganz hoch oben, in einem massiven quadratischen Turm, lag der Raum, den sie gestürmt hatten. Gull sah Gestalten, die 291
sich hinauslehnten und auf die Flüchtlinge herabstarrten. Der Holzfäller aus Weißfels konnte die gigantischen Ausmaße des Gebäudes kaum fassen. Für ihn war eine Scheune schon riesig, und dieses Gebäude war höher als einhundert aufeinandergestapelte Scheunen. Zum ersten Mal wurden ihm die Größe und die Macht Benalias richtig bewußt, denn dies war nur ein einzelnes Gebäude, wie es in dieser Art noch dutzend Mal - von Hunderten kleinerer Gebäude umgeben - im Zentrum der Stadt zu sehen war. Sie waren umzingelt. Ein weitläufiger mit Kopfsteinen gepflasterter Platz umgab das Ratshaus, und entlang seiner äußeren Begrenzungen waren dicht gedrängt Marktstände, Buden und Verkaufstische aufgebaut, an denen es einfach alles zu kaufen gab: schimmerndes Porzellan, polierte Waffen sowie haufenweise einheimisches und exotisches Essen. Die wie Ameisen herumwimmelnden Menschen bildeten eine undurchdringliche dichte Mauer, als sie stehenblieben, um die Freunde anzustarren. Hinter ihnen erspähte Gull unzählige Straßen, die von drei- oder vierstöckigen Häusern gesäumt wurden. Er wußte, daß die Gebäude sich bis zum Horizont erstreckten, denn er hatte alles von oben gesehen. Die Feldmäuse mußten also in einer Stadt überleben, während ihnen die gierigen Katzen dicht auf den Fersen waren. Aus dem Rathaus stürmte eine Horde von Wächtern heran, Elitesoldaten einer Stadt, in der jedes Kind mit einer Waffe umgehen konnte. Sie trugen die schwarzen Uniformen der Heldinnen und Helden von Benalia: lederne Hosen und Westen, eng anliegende Helme und mit Nieten besetzte Gürtel. Bewaffnet waren sie mit stählernen blankpolierten Hellebarden und Kurzschwertern sowie Rundschilden, die auf ihren Rücken tanzten. Es waren Frauen und Männer in gemischten Paaren, die dazu ausgebildet waren, zusammen in einer Schlacht zu kämpfen und aufeinander achtzugeben. 292
Fünfzig Wächter und Wächterinnen rannten auf Gulls kleine Gruppe zu - fünfzig der besten Kämpfer Benalias gegen eine unerfahrene Zauberin, einen Knaben, der sich mit einer Schwerverletzten abmühte, und gerade einmal zwei kampferprobte Recken, denn irgend jemand mußte auch auf Hammen achtgeben... Es war die große blonde Ordando, die die Träumereien des Holzfällers unterbrach. Da sie an Städte gewöhnt war, zerrte sie an Gulls Arm und brüllte: »General! Los! In die Gasse - der Durchgang zwischen den Häusern! Dann können sie nur jeweils zu zweit angreifen, und wir können uns in diesem Labyrinth verstecken. Aber lauft, so schnell ihr könnt!« »Genau!« Gull nahm sich Hammen unter den Arm, drehte Stiggur herum und scheuchte die ganze Gruppe in raschem Lauf über den Marktplatz. Die Benalier, die an angreifende Soldaten gewöhnt waren und wußten, daß man ihnen besser aus dem Weg geht, sprangen zur Seite und drängten sich dann schnell wieder zusammen, um die Beute bei der Flucht zu beobachten. Es war, wie Ordando gesagt hatte. Zwischen zwei hohen Gebäuden verlief eine mit Backsteinen gesäumte Gasse, die am Ende eine Biegung machte. Es stank entsetzlich, da die Bewohner der Häuser sie als öffentlichen Abtritt mißbrauchten. Schreiend stieß Gull seine Gefährten in den Durchgang. »Bardo! Nimm den Jungen und mach Platz! Lily, sieh zu, ob du einen Dimensionsreisenzauber hinkriegst! Stiggur, laß Rakel nicht fallen! Ordando, lauf schon! Ich werde sie aufhalten ...« Doch statt dessen drängte die große Frau Gull mit ihrem Körper in die Gasse und wich dann in einen abzweigenden Torweg zurück. Sie ließ den Umhang fallen, zog das Schwert, hob den Schild und brüllte über die Schulter: »Du gehst! Das war meine Idee! Ich werde sie aufhalten!« Gull packte die Frau an ihrer narbigen Schulter. »Aber 293
du hast gesagt, sie können nur jeweils zu zweit angreifen!« »Zwei sind immer noch zwei! Los, ich halte sie auf! Küß Rakel von mir... und meine Frauen!« »Aber Ordando...« Gulls Stimme versiegte wie Wasser in der Wüste. Die tobenden Soldaten waren jetzt nahe genug, daß man sie mit Steinen bewerfen konnte. Ordando stemmte die Füße in den Boden, spuckte aus und hob das Schwert. »Geh schon! Und viel Glück für deinen Kreuzzug! Jeder Zauberer, den du besiegst, bedeutet ein Dutzend geretteter Dörfer!« Gull dachte verzweifelt nach, um Worte der Ermutigung zu finden, doch sein Kopf war leer. Er verfluchte sich selbst als Feigling und Versager, drehte sich um und hetzte die Gasse entlang. Hinter sich hörte er Gebrüll, das Krachen von gehärtetem Stahl auf einen eisernen Helm und ein gewaltiges Gelächter, so stürmisch wie der Nordwind. »Ha! Kommt schon und holt mich, ihr Schweine! Nehmt das! Meßt euch mit der Hauptfrau der Armee von Gull und Greensleeves! Haha!« »Es ist sinnlos!« Channa und Helki waren von dem Platz ausgeschwärmt, während sich die anderen ausruhten und Greensleeves nachdachte. Die dunkle Späherin trug einen Kurzbogen und hielt einen Pfeil bereit. So wie sie es gelernt hatte, hatte sie sich sofort zwischen den zerstörten Gebäuden umgesehen, um nach Feinden und Fluchtwegen Ausschau zu halten, und danach die Umgebung erkundet. Helki kam vorsichtig aus einer anderen Richtung herangetrippelt, denn ihre Hufe glitten auf dem glänzenden, obsidianartigen schwarzen Boden aus. »Ich nichts gefunden was lebt. Keine Pflanzen. Kein Moos. Vielleicht da drüben Wasser - vielleicht Norden wo Land sich senkt. Aber ich sehen keine Zeichen in halber Meile.« Wieder ließ sie den Blick über den stahl294
grauen Himmel schweifen und suchte nach Vögeln oder Insekten, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Ich nicht glauben ein Land kann so tot sein...« Ihre Worte verhallten in der Grabesstille, ohne ein Echo zu erzeugen. Selbst die unbewegte Luft roch nach Tod. Dieser Ort war eine einzige graue Ödnis aus Stein, Steinruinen und bleierner Leere. Außerdem war er, wie Greensleeves wußte, bar jeglicher Magie. Das Mana des Landes war aufgesaugt und abgeschöpft worden, als die Stadt in einer entsetzlichen Katastrophe untergegangen war. War dies ein Ort, an dem Urza und Mishra sich bekämpft hatten? Konnte irgend jemand außer den Brüdern eine solche Verwüstung angerichtet haben? Amma saß geduldig wartend auf dem Boden und zog sich den Umhang über die Knie, während Kwam ein Pergament entrollte und die Runen von den rußgeschwärzten Mauern der zerstörten Gebäude abmalte. Helki richtete ihr Kriegsgeschirr, und Channa verschwand in der Ferne, um sich umzusehen. Greensleeves hätte schreien mögen. Die anderen beherrschten ihre Angst so gut, weil sie darauf warteten, daß sie ein Wunder wirkte. Verzweifelt wünschte sie sich, daß sie das tatsächlich konnte. Fragen rasten durch ihren Verstand. Warum hatte die Spur des Gehirns sie hierher geführt? War es einst hier gewesen? War es bei der letzten Vernichtungsschlacht dabei gewesen? Warum war es ihr nicht gelungen, nach Phyrexia, in die Nähe des Artefakts, zu kommen? Und vor allem, wie konnte sie sich und ihre Gefährtinnen aus diesem Loch, das sie selbst gegraben hatte, wieder herausziehen? Was würde Chani sagen? Was hatte sie sie gelehrt? Hatten sie jemals darüber gesprochen, was zu tun sei, wenn es kein Mana gab? >Magie kommt von innen<, nicht von außen. Chani hatte dies hundertmal gesagt, und jedesmal hatte Green295
sleeves gehorsam genickt, aber nun erkannte sie, daß sie diese Wahrheit nicht verstanden hatte. Man brauchte Wissen, um die Unwissenheit zu enthüllen - ihre Unwissenheit. Es gab Mana hier, natürlich! Es war in ihr selbst verborgen, tief in ihren Chakra-Punkten, und ein zusätzlicher Vorrat summte in dem Pentagramm auf ihrer Brust. Auch in ihren Gefährtinnen, so wie in allen Lebewesen, brannte ein mattes Glühen wie die Glut eines in Asche erstickten Feuers. Falls es also sein mußte, konnte sie dieses Mana nutzen - ihr eigenes. Aber was geschah, wenn sie zuviel verschwendete? Die Antwort lag zu ihren Füßen. Ein Lebewesen, dem man das Mana aussaugte, würde so tot und leblos enden wie diese einstmals große Stadt. Beschwören und Dimensionsreisen waren zwei Seiten des gleichen Blattes. Wenn sie hineingekommen war, konnte sie wieder hinauskommen. Falls sie sich jedoch nicht hinausbeschwören konnte, konnte sie vielleicht...? Irgend etwas dazu bringen, sie an einen anderen Ort zu beschwören? »Ja!« »Was?« fragte Amma. Greensleeves begann zu verstehen. Wenn sie an Ort und Stelle kein Mana sammeln konnte, konnte sie vielleicht ein Objekt aufspüren und dessen Mana benutzen, um sie wieder auf den Weg zu bringen. War nicht das Steingehirn das mächtigste Artefakt der Domänen? Sie verschloß Augen und Ohren gegen äußere Einflüsse und schickte ihren Geist auf Wanderschaft, um den Rufen des Steinhirns zu folgen. Dann fand sie es. Ein winziger Funke in der Dunkelheit. Ganz sanft, um den hauchdünnen Faden nicht zu zerreißen, griff sie nach ihm... ... und fühlte, wie es wie eine riesige Spinne aus den Tiefen des Waldes nach ihr griff. Die übermächtige Kraft des Artefaktes schloß sich um ihren Geist und zog. 296
Mit keuchendem Atem rief sie: »Rasch! Zu mir!« Greensleeves kämpfte darum, die Beherrschung über ihren Geist nicht zu verlieren, damit sie nicht entzweigerissen wurde. Hier war sie wieder, die alte Angst, den Verstand zu verlieren, wahnsinnig zu werden, in einen Nebel der Verrücktheit abzugleiten. Doch mit unsichtbaren Fesseln half ihr das Pentagramm, ihren Verstand festzuhalten. Und weit in der Ferne schien ihr Chanis sanfte trockene Stimme Mut zuzuwispern. Aus Angst, zurückgelassen zu werden, krallten sich die anderen an ihr fest. Der Sog war so gewaltig wie ein Strudel, der sie mit sich riß und sie zu verschlingen drohte. Doch sie blieb fest in dieser Welt verwurzelt, da sie hier kein Mana anzapfen konnte - außer der Quelle in ihrem Inneren... Verzweifelt und mit dem Gefühl, als zerrten tausend Arme sie in verschiedene Richtungen, dachte die Druidin nur noch daran, ihre Freundinnen zu retten, auch wenn es ihr Leben kostete. Sie suchte in den Tiefen ihrer Seele und ergriff das Mana, das darin verborgen lag, mit beiden Händen. Ihre Knie gaben nach, ihr Herzschlag setzte einen Augenblick lang aus, und ihr Verstand umnebelte sich. Noch während sie ohnmächtig wurde, entdeckte sie farbige Wellen, die sich um ihre Füße kräuselten und langsam nach oben stiegen... Mit einem Brausen wurden Greensleevees und ihre Begleiterinnen durch das Nichts geschleudert. Gull stellte fest, daß sich die Gasse tatsächlich wie ein Kaninchenbau zwischen den Häusern hindurchschlängelte und zahlreiche Abzweigungen aufwies. Es war ein einziges Durcheinander: Bretterzäune, Steinmauern, winzige Gärten, Weinstöcke, Dunghaufen, Unrat, Leinen mit flatternder Wäsche, alles so dicht aufund nebeneinander, daß man den Boden und die Hauswände kaum erkennen konnte. 297
Vor ihm rannte Stiggur um die nächste Biegung, die Gull wie durch einen Tunnel in dem bedrohlichen Irrgarten erspähte. Keuchend gelang es ihm beinahe, den Jungen einzuholen, aber er flitzte bereits wie von Furien gehetzt durch eine weitere Gasse. Gull fragte sich, was er mit Rakel gemacht hatte - war sie gestorben? Hatten sie ihre Leiche weggeworfen? -, bis er schließlich in der Ferne einen Blick auf Bardo erhaschte, der Rakels schlaffe Gestalt mit einem kräftigen Arm umschlungen hielt und sein Bastardschwert in der anderen Hand schwang. Neben ihm stand Lily an einer Kreuzung aus mehreren Gassen. Sie berieten sich, welche Richtung sie einschlagen sollten. Gull erreichte sie mit einer einzigen Frage auf den Lippen: »Kannst du uns hier rausbeschwören?« »Nicht von hier unten, ich glaube nicht!« In ihrer Verzweiflung zerrte die junge Frau an dem winzigen Dingus-Ei, das ihr um den Hals hing. »Es gibt kaum Mana hier am Boden! Ich muß meine eigenen Quellen anzapfen!« »Schaffst du das?« »Ich gl-glaube...« Gull machte sich Sorgen. Lilys Augen lagen tief in den Höhlen, ihre Lippen waren vor Anspannung gekräuselt, und ihre Hände zitterten. Sie sah aus, als habe sie wochenlang nicht geschlafen - vielleicht mußten sie bald zwei Frauen tragen. »Wie geht es Rakel?« »Lebendisch abär bewußtlos«, sagte Bardo geradeheraus. »Sie 'at Glück. Ordando?« »Hält die Gasse!« Stiggur schluckte. »Gegen fünfzig?« Gull nickte grimmig. »Ihr Opfer darf nicht umsonst sein. Wir müssen Rakel hier rausbringen, in Sicherheit. Und euch.« »Und dich!« fügte Lily hinzu. »Ich bin nicht wichtig.« Doch der Holzfäller blinzelte. Trotz ihrer Erschöpfung dachte Lily an andere, so als sei 298
sie an der Verantwortung gewachsen. Sie dachte an sein Wohlergehen. Was war aus dem Funken geworden, der zwischen ihnen übergesprungen war? War er verloschen oder nur kurzfristig begraben worden? Bardo fragte: »Welschär Weg? Führe uns, General!« Trotz der vielen Feinde, die ihnen auf den Fersen waren, zwang Gull sich dazu, ruhig nachzudenken. »Lily, was brauchst du, um uns hier rauszubeschworen?« Sie ließ den Blick über die dunklen, drohend aufragenden Hauswände schweifen. »Einen Ort ganz oben. Wo ich Wolkenmagie anzapfen kann, glaub ich.« »Kann dein Flugspruch uns nicht...« »Das ist ja das Problem. Auch dazu brauche ich Magie, und ich kann sie hier unten nicht bekommen. Außerdem ist es eher ein Sprungzauber.« Die Zauberin beruhigte sich langsam, da Gull und der Paladin ihr Kraft gaben. Sie versuchte, nicht über eine mögliche Gefangennahme oder über die Qualen, die Rakel erlitten hatte, nachzudenken. »Er läßt deinen Füßen Flügel wachsen, aber löst sich sofort auf, wenn du den Boden berührst. Wir sollten an einem sicheren Platz landen.« »Ääh, ääh...« Gull dachte laut nach. »Scheint nicht sehr viel Sinn zu machen, über die Dächer zu hüpfen, aber wir können uns genausowenig durch die Straßen kämpfen.« Bardo schlug vor: »Wenn wir eine Tür aufbreschän, könnän wir bis zürn Dach 'inaufklettärn...« Niemand wollte es sagen, aber falls Lily sie nicht bald fortbeschwor, war ihre Lage hoffnungslos. Eine ganze Stadt und tausend Soldaten lechzten, nur wenige Schritt entfernt, nach ihrem Blut. »Gull!« rief Stiggur. »Ich höre Schritte!« Schwere Schritte dröhnten aus einer Gasse, doch nicht aus der Richtung, die Stiggur beobachtete, sondern von hinten. Entweder hatten die Soldaten sie umkreist, oder es hatten sich noch weitere der Jagd angeschlossen. 299
Sofort warf der Paladin Rakel in Stiggurs Arme, zog sein Schwert und stellte sich dem Ansturm. Gull nahm zu seiner Rechten Stellung, da er seine Axt besser mit der rechten Hand schwingen konnte. Er grunzte vor Überraschung, als der kleine Hammen seinen Heldendolch zog und sich links neben Bardo aufstellte: Er wirkte so harmlos wie ein Stachelschweinjunges. Gull verzweifelte aufgrund des Verlusts von Ordando - nun waren sie nur noch zwei richtige Kämpfer und eine erschöpfte Zauberin. Doch bald schon würden ihre Sorgen ein Ende haben ... »Lily!« Gull zog seinen schwarzen Dolch aus dem Gürtel und warf ihn der jungen Frau vor die Füße. »Laß nicht zu, daß sie Rakel wieder gefangennehmen. Oder dich lebendig kriegen!« »Gull!« brüllte Bardo. Der angreifende Haufen bestand aus sechs Leuten, vier Männern und zwei Frauen in schwarzem Leder mit Kurzschwertern und Rundschilden: ein Wachtrupp, der die richtige Gasse erraten hatte. Sie grinsten, denn die Belohnung war ihnen schon sicher - dachten sie. Doch sie hatten Pech, denn sie trafen auf Bardo, den Paladin aus dem Norden, und auf Gull, den Holzfäller. Die Patrouille teilte sich auf, zwei Paare rückten langsam vor, während zwei junge Soldaten als Reserve zurückblieben. Das Paar vor Bardo kam nur zögernd heran, aber die beiden Soldaten, die sich Gull näherten, grinsten höhnisch, als sie sahen, daß er keinen Schild trug. Gull täuschte einen Hieb an, sprang dann plötzlich vorwärts und schmetterte seinen Axtgriff geradewegs in das erste Grinsen. Überrascht jaulte der Mann auf und krachte auf den Rücken. Gull hatte ihn an der Oberlippe getroffen, so daß einige Zähne abbrachen und ein Blutschwall aus seinem Mund schoß. Doch nun mußte der Holzfäller darauf achten, nicht zum Ziel der Angreiferin zu werden. Die Frau mit dem 300
eisernen Helm benutzte die Deckung ihres stürzenden Kameraden, um nach Gulls Oberschenkel zu schlagen. Vielleicht haben sie den Befehl erhalten, uns lebend zu fangen, schoß es dem Holzfäller durch den Kopf, um uns für die Folter aufzuheben. Falls dem so war, hatte er einen Vorteil - er konnte sie töten! Und er tat es. Mit einer schlangengleichen Bewegung, die er von Rakel gelernt hatte, schlug Gull die Schwertklinge mit dem Axtgriff beiseite und sprang dicht an seine Gegnerin heran. (Im Kopf hörte er Rakels kühle Stimme: >Unsere Instinkte drängen uns dazu, vor einem Angriff zurückzuweichen, aber du mußt dich ihm stellen, deinen Gegner bedrängen und dich in seinen Schlag werfen<.) Er krachte mit der Hüfte gegen ihren Schild und schlug ihr den Axtgriff quer ins Gesicht. Benommen und geblendet taumelte die Frau zurück. (>Schlag immer zweimal zu! Zwei schnelle Hiebe! Auch Blitze gabeln sich!<) Aber Gull zögerte vor dem tödlichen Hieb. Er tötete niemals, außer er war dazu gezwungen - und falls dies bedeutete, daß aus ihm niemals ein guter Soldat wurde, und daß er vielleicht eines Tages durch die Hand eines Gegners starb, den er verschont hatte, dann sollte es eben so sein. Er machte sich bereit, ihr wieder einen Schlag auf den Kopf zu verpassen, damit sie bewußtlos wurde. Der besser ausgebildete und bewaffnete Bardo hatte seine zwei Gegner bereits blutend in den Staub geworfen. Einer starb an einer Bauchwunde, der andere lag mit durchschnittener Kehle da. Der junge Hammen hielt seinen winzigen Dolch vorgestreckt und starrte entsetzt auf das Gemetzel. Die beiden noch verbliebenen Soldaten nickten einander zu und gingen zum Angriff über. Gull brüllte ihnen etwas zu, um sie abzulenken, sprang über seine beiden bewußtlosen Feinde hinweg und - etwas anderes blieb ihm nicht übrig - schwang seine Axt mit aller Kraft. Zu spät senkte die angreifende Soldatin ihren Schild, um 301
den Hieb zu parieren - doch nichts hätte das schreiende Metall abwehren können. Die zweischneidige Waffe des Holzfällers ließ den Eisenbeschlag am unteren Schildrand abspringen, drang in die Hüfte der Kriegerin und trennte ihr beinahe das Bein ab. Noch im Fallen riß Gull die tief eingedrungene Klinge aus ihrem Körper heraus. Der Holzfäller beobachtete, wie sie stürzte, ihre Waffen fallenließ und dabei wie ein kleines Mädchen weinte. Gull verschloß sein Herz und versuchte, sich daran zu erinnern, daß es diese Leute gewesen waren, die Rakel und unzählige andere gefoltert und versucht hatten, ihn und Greensleeves zu ermorden. All das für ihre miesen kleinen Ränkespiele. Doch als die Soldatin zum letzten Mal die Augen schloß und das Blut unter ihrer zitternden Hand hervorquoll, zerbrach etwas in Gulls Herz. Ein Teil von ihm starb. Wie viele mehr mußte er noch töten, philosophierte der Holzfäller, bis er kein Mann mehr war, sondern nur noch ein mordendes Ungeheuer? »Laßt uns ge'en!« Bardos Stimme krächzte vor Kampfeswut. Er hatte den anderen Soldaten schon längst getötet. »Wir 'aben nischt viel Zeit.« Der unter Rakels Gewicht taumelnde Stiggur rief; »Es kommen wieder welche!« Gull schüttelte seine Axt, und blutige Klumpen troffen vom Stahl herab. »Wir können hier nicht stehenbleiben und den ganzen Tag töten! Lily, benutz deinen Flugspruch! Bring uns auf ein Dach rauf!« »Ich kann das Mana nicht hier herunterziehen...« »Tu es!« Die Schärfe seines Tonfalles traf sie wie eine Ohrfeige. Beschämt fügte er hinzu: »Bitte, Lily! Mir fällt langsam nichts mehr ein!« Lily nickte geistesabwesend, umklammerte ihr Dingus-Ei und starrte nach oben, um einen Streifen Himmel zu erspähen. Dann hob sie die Hände wie eine Sonnenpriesterin und betete. 302
»He! Wir müssen hoch!« kreischte Stiggur, als ein Dutzend Soldaten um eine Ecke bogen. An ihren Schwertern und ihrer Kleidung klebte Ordandos Blut. Aber sie blieben ruckartig stehen, als Lily gellend schrie: »Springt! Da hin!« Gull erkannte das Gebäude, auf das sie deutete. Es war so weit entfernt, daß er es mit einem Pfeilschuß nicht hätte treffen können, aber dennoch spannte er die Muskeln und sprang. Plötzlich fühlte er, wie sein Körper leicht wurde. Seine Beine zitterten, als stolpere er von einer Sanddüne hinab. Unter ihm wurden die Soldaten immer kleiner und verschwanden schließlich. Neben ihm schwebten die anderen: Lilys Umhang blähte sich im Wind, bis sie einem Luftgeist glich. Trotz ihrer mißlichen Lage lachte Stiggur aus purer Freude über dieses neuerliche Abenteuer - er hatte keine Zeit gehabt, den Sprung aus dem Fenster zu genießen. Gull war erleichtert darüber, daß die benalischen Soldaten nicht mit Pfeil und Bogen bewaffnet waren. Das Gebäude, auf das sie zuflogen, bestand unten aus Granit und oben aus Sandstein. Es ragte wie ein kleiner Berg vor ihnen auf. Lily vollführte tastende Gesten in der Luft und steuerte die Gruppe nach unten. Für Gull war es das erste Mal, daß er sah, wie sie ihren Flug lenkte. Hinter einer niedrigen Brüstung erkannte er das leicht abgeschrägte und mit Schieferplatten gedeckte Dach. Dachrinnen aus Blei ließen das Regenwasser durch die Münder von Wasserspeiern in den Ecken abfließen. Lily landete als erste mit der Anmut einer Tänzerin. Neben ihr kam Gull hart auf, brach in die Knie, als er sein Gewicht plötzlich wieder spürte, und verstauchte sich beinahe die Fußgelenke. Der beladene Stiggur landete auf seinem Hinterteil, aber er schaffte es zu verhindern, daß Rakels Kopf auf das Dach knallte. Der junge Hammen hatte sich an dem Umhang festgekrallt, in den seine Mutter gewickelt war. 303
Bardo richtete seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf das Wesentliche, entfernte das klebrige Blut von seinem Schwert, indem er es an seinem Umhang abwischte, und stieß es zurück in die Scheide. Dann zerrte er den Langbogen von der Schulter, überprüfte die Sehne und zog einen Pfeil aus dem Köcher. Er rief Gull zu: »Mach disch bereit züm Schießän!« Gedankenverloren schob Gull die Axt in seinen Gürtel und bemerkte nicht, wie das Blut auf seine Hirschledertunika tropfte. Er hantierte mit seinem Langbogen herum, während er ihre neuen Verteidigungsmöglichkeiten überschaute. Sie standen auf einem kahlen Dach, das mit vier Lagen von schrägen Dachschiefern gedeckt war und nur eine hölzernen Falltür in der Mitte aufwies. Vier Stockwerke unter ihnen liefen schwarze Gestalten wie Söldnerameisen um das Gebäude zusammen. »Worauf sollen wir denn schießen?« Bardo leckte über das Pfeilende, um die Federn zu glätten, und nickte in Richtung Osten, wo die Stadt mehr auseinandergezogen dalag. In dieser Richtung mußten die größten Kasernen und die Übungsgelände liegen. Gull schluckte. Ein Schwarm Flugdrachen segelte auf sie zu - ochsengroße dunkelgraue Drachen mit schmutziggelben Bäuchen, platten Nasen, scharfgeschnittenen schuppigen Gesichtern und langen, sichelförmigen schlagenden Flügeln. Auf den Rücken der Drachen saß die benalische Version der Kavallerie: neun Pikeniere, die mit den Lanzen in ihre Richtung zielten. Vom Boden und aus der Luft bedrängt, verzweifelte Gull. Sie saßen wirklich in der Falle. »Bei Liebe von Götter...«, flüsterte Helki und hustete. Greensleeves blinzelte durch einen ätzenden Nebel, der ihr in den Augen und in der Lunge brannte. Sie stand bis zu den Fußgelenken in Asche und Teilen von verbogenem verbrannten Metall. Als sie sich bewegte, 304
raschelten die Haufen, als seien sie mit metallischen Ratten verseucht. Sie konnte nicht weiter als drei Schritt in jede Richtung sehen, denn der Nebel waberte wie Rauch von einem Waldbrand um sie herum. Selbst die Atemluft schien ihnen feindlich gesonnen. Channa hustete und sah sich überwältigt um. »Dieser Ort läßt den vorherigen wie ein Paradies aussehen!« Die anderen krächzten zustimmend. Mit zusammengekniffenen Augen packte die Späherin ihren Kurzbogen und zog aus, um die Lage zu erkunden. »Aber was dieser Ort ist?« schnaubte Helki und beschrieb mit ihrer langen gefiederten Lanze einen Kreis, als käme die Gefahr aus allen Richtungen. Sie blickte von oben auf den knirschenden Unrat unter ihren Hufen herab: Das meiste davon waren alte zersplitterte Knochen. Aus den Augenwinkeln sah Greensleeves einen Schatten vorbeihuschen und erschrak. Sie rieb sich den Sand aus den Augen und redete sich gerade ein, daß es nur Einbildung gewesen war, als plötzlich ein weiterer Schatten auftauchte: eine schmale, dunkle, kaum hüfthohe Gestalt mit glänzenden weißen Zähnen und rotglühenden Augen. So rasch wie sie aufgetaucht war, war sie auch wieder verschwunden. »Wir sind da!« murmelte die Druidin. »Die Hölle der Artefakte... die Sphäre der Dämonen, Phyrexia... Das Hirn ist hier... ich fühle es.« Aber das war das letzte, was sie fühlte, denn ihre Kraft war aufgebraucht. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie stürzte kopfüber in die Asche.
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Gull und Bardo spannten ihre Bögen und zielten auf den vordersten der fliegenden Kavalleristen. Der Holzfäller fragte: »Drache oder Reiter?« »Egal«, gab der Paladin zurück. »Einär ist nützlos ohnä den anderän. Schieß ärst, wenn du sischär bist.« »Jetzt!« schrie Gull. Er holte tief Atem und zielte auf eine schmutziggelbe Brust, so daß er, wenn er verfehlte, den Reiter dahinter traf. Komisch, dachte der Holzfäller, sie kommen ohne Furcht vor Geschossen heran, ohne zu schwanken, ohne auszuweichen, abgesehen von schwerfälligen Auf- und Abbewegungen. Wie Enten taten sich die geflügelten Drachen mit dem Fliegen schwer, und sie mußten mächtig mit den Flügeln schlagen, um oben zu bleiben, um so mehr, da sie schwere Lasten auf dem Rücken trugen. Mit angehaltenem Atem ließ Gull seinen Pfeil los. Bardo schoß in der gleichen Sekunde. Die Pfeile schwirrten durch die Luft, trafen die schuppige Haut der Drachen und prallten ab, um tief unten auf das Kopfsteinpflaster zu klappern. »Verzaubärt!« brüllte Bardo. »Ein Schützzaubär gegen Geschossä!« »Macht Sinn«, zeigte sich Gull einsichtig und legte einen neuen Pfeil auf. »Ich würde nicht auf ein Ding klettern, das von einem Pfeiltreffer abstürzt. Aber mal sehen, wie's mit den Reitern aussieht!« Er spannte den Bogen. Die neun waren nahe genug herangekommen, so daß Gull und Bardo die Widerhaken an den Lanzenspitzen und die Edelsteine erkennen konnten, mit denen das Zaumzeug über den platten 306
Nasen der Reittiere besetzt war. Gull zielte und blickte in geschlitzte gelbe Katzenaugen, die ihn kalt anstarrten. Er wechselte sein Ziel, nahm die leicht gepanzerte Brust des Reiters ins Visier und ließ los... ... doch der Drache warf sich geschickt in die Flugbahn des Pfeiles, so daß dieser erneut von seiner schuppigen Brust abprallte und als Querschläger verlorenging. Eine endlose Reihe von Eseltreiberflüchen ausstoßend warf sich Gull den Bogen über die Schulter und riß die blutige Axt aus dem Gürtel. Bardo hatte bereits sein Schwert gezogen. Der Holzfäller wischte sich die Hände an der Tunika ab und packte die Axt fester. Er hatte keine Ahnung, wie er einen Angriff der furchterregenden Untiere und ihrer lanzenbewehrten Reiter abwehren sollte. Sie waren nur noch Sekunden von ihnen entfernt... Er scharrte mit den Füßen, die auf den verrußten Schieferdachplatten abrutschten. Kein fester Halt, dachte er, was für ein verfluchter Platz für einen Kampf! Und vier seiner Gefährtinnen und Gefährten waren hilflos... Bardo befahl den Nichtkämpfern, hinter die Brüstung zu kriechen. Lily duckte sich und nahm die blutüberströmte Rakel entgegen, als Stiggur sie vorsichtig auf den warmen Dachziegeln absetzte. Der kleine Hammen blieb bei seiner Mutter und umklammerte ihre regungslose Hand. Bardo stellte sich schützend vor die Wehrlosen, und Gull war froh, daß der Paladin hier war, der instinktiv immer wußte, was zu tun war. Die niedrige Steinbrüstung bot ihnen etwas Schutz, denn die Reiter würden es nicht wagen, mit ihren Lanzen nach ihnen zu stoßen: Wenn die Spitzen auf Stein trafen, konnten sie leicht abgeworfen werden. Gull stellte sich auf die andere Seite der Gruppe und grinste finster auf die ängstliche Lily hinunter. »Versuch das was du kannst, falls du es kannst. Bring wen auch immer hier lebend raus, Lily. Ich weiß, daß du es kannst.« 307
»O Gull«, hauchte die weißgekleidete Frau. »Ich liebe dich so...« Sein Totenkopfgrinsen verwandelte sich in ein sanftes Lächeln. »Und ich liebe dich, Schätzchen. Ich habe dich immer...« Bardo brüllte »Bleibt üntän!«, denn der Angriff begann. Als Lily mit den anderen in Deckung gekrochen war, hatte der Schwarm der neun Drachenreiter sich aufgeteilt und umkreiste nun das Gebäude. Gull erkannte mit Entsetzen, daß sie dem Untergang geweiht waren, denn es war unmöglich, sich nach allen Seiten gleichzeitig zu verteidigen. Die ungeheuerlichen Flugtiere schlugen kräftig mit den Schwingen, und trotz ihrer Behäbigkeit waren ihre Bewegungen gut aufeinander abgestimmt. Gull fluchte, als der Flugwind ihn taumeln ließ, sein wirres Haar zerzauste und am Saum seines Umhangs zerrte. Obwohl die Reiter den Bogenschützen ein leichtes Ziel boten, würde der Sturm, den die flatternden Drachenflügel erzeugten, jedes Geschoß ablenken und unbrauchbar machen. Die geflügelten Drachen flogen kaum vier Schritt vom Rand des Gebäudes durch die Luft, doch die Lanzen reichten weit über ihre Köpfe hinaus. Ihre Spitzen bestanden aus poliertem Stahl und waren wie Fischhaken mit Zacken und Dornen versehen. Sie würden sich wie eine riesige Häkelnadel in den Körper eines Menschen bohren und beim Herausziehen grauenhafte Wunden reißen. In diesem Augenblick raste eine Lanze genau auf ihn zu. Beiläufig fragte sich der Holzfäller, ob auch diese Soldaten den Befehl hatten, sie lebend zu fangen, doch er schob diesen Gedanken schnell beiseite, als aus zwei Richtungen gleichzeitig mehrere schwarzgekleidete Reiter auf ihren dunkelgrauen Drachen auf ihn eindrangen. Instinktiv duckte sich Gull und schwang seine Axt, um eine Lanze abzuwehren, doch dann brach er sich fast das 308
Rückgrat, als er dem Stoß einer zweiten Lanze auswich, die aus der entgegengesetzten Richtung nach ihm zielte. Aber das Ducken nutzte nicht viel, denn ein weiterer Drachentöter zischte durch die Luft auf ihn zu. Bei Boris' Klöten, waren die schnell! Er traf den Schaft einer Lanze, als sie an ihm vorbeistieß, doch das Holz war so hart und leicht, daß er es beiseite schlagen konnte, ohne es zu zerbrechen. Dann fühlte er einen Schmerz wie den eisigen Kuß eines Vampirs. Eine gezackte Lanzenspitze ritzte seinen rechten Arm auf und drang in den Muskel an der Schulter. Der eisige Stich ließ Gull aufheulen und zur Seite springen. Seine Axt klackte gegen die Schieferplatten, als seine rechte Hand taub herabsank. Sein Gegner flog weiter - ein Schwanz, fast so dick wie eine junge Eiche, hätte ihm fast den Schädel zertrümmert - doch ein weiterer stieß auf ihn herab, um ihn aufzuspießen. Nur dadurch, daß er sich rückwärts gegen die Brüstung warf und dabei fast in den Abgrund stürzte, konnte Gull dem Stich der tödlichen Spitze ausweichen. Sie sind wie riesige Bienen, dachte er, und wir sind die Blumen, angewurzelt und hilflos. Bis jetzt hatte er noch nicht einen Schlag anbringen können. Während Gull wild um sich trat, um wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, schob sich Bardo zwischen die Zusammengekauerten, um sie gegen Angriffe aus allen Richtungen zu verteidigen. Gulls Arm brannte wie Feuer, als er sich mühsam mit Hilfe einer - leeren - Hand wieder aufrappelte. »Du bist der... Held, Bardo...« Bardo hörte ihn nicht. Der Paladin schrie vor Zorn und Wut, schlug nach einer heranstoßenden Lanze und parierte sie mit seinem Schild. Er schmetterte sein Schwert gegen das Bein eines Drachen und zerteilte die Schuppen auf der Unterseite des Oberschenkels. Das erste Blut... 309
Gull schrie auf, doch es war zu spät. Bardo keuchte, als eine Lanzenspitze sein Rückgrat zerteilte und seine Brust durchstach, in der Mitte seines Wappenbildes, das den geflügelten roten Stab zeigte. Ein höhnisch lachender Reiter hatte ihn von hinten aufgespießt. Der Soldat keuchte, als Bardo von den Füßen und vom Dach gerissen wurde. Als der Paladin nach der Lanzenspitze tastete, die ihm aus der Brust ragte, fiel sein an einem ledernen Riemen hängender Schild in den Abgrund - er würde niemals, selbst im Tode nicht, sein geheiligtes Schwert loslassen. Doch er konnte die stählerne Spitze nicht mehr herausziehen, denn er lag bereits im Sterben. Der Reiter, der von der zusätzlichen Last beschwert nach unten gezogen wurde, senkte die Lanze. Erneut durchströmten den Paladin grauenhafte Schmerzen, als die dornenbewehrte Spitze durch seine Lungen aus seinem Körper fuhr. Befreit vom tödlichen Stahl stürzte er vier Stockwerke in die Tiefe. All das geschah binnen Sekunden, bevor Gull überhaupt schreien konnte. Fluchend, heulend und bitterste Drohungen ausstoßend kam der Holzfäller auf die Füße und packte seine Axt mit der linken Hand. Seine rechte Hand hing blutend und nutzlos herunter, doch das störte ihn jetzt nicht. Bald schon würde er die Hallen des Todes betreten, aber er wollte noch einige dieser fliegenden Kavalleristen mitnehmen. Er brüllte seinen Schlachtruf: »Für Lily!«, bäumte sich auf und drosch mit der Axt auf einen angreifenden Drachen ein. Doch geschickt warfen sich Reiter und Drache zur Seite, um dem Axthieb zu entgehen, und stießen erneut zu. Gull beobachtete, wie eine Lanze auf seine Eingeweide zielte, und erwartete angespannt den zerreißenden Schmerz. Doch jemand sprang vor ihm in die Höhe: eine kleine Gestalt, die bis zu ihrem von einem Lederband zusam310
mengehaltenen Pferdeschwanz wie die jüngere Ausgabe von Gull aussah. Stiggur schrie gellend und schrill und schnippte seine Maultierpeitsche so gekonnt, wie es ihm sein Meister beigebracht hatte: sein Held, Gull, der Holzfäller. Das geflochtene Leder wickelte sich unmittelbar unterhalb der Spitze um die Lanze, und der Junge zog. Gull sah, wie der Widerhaken weit zur Seite gerissen wurde und die Augen der Drachenreiterin plötzlich vor Angst unter einem kleinen schwarzen Helm aufleuchten. Wenn der Junge weiterzog, würde sie vielleicht aus dem Sattel gerissen werden und vier Stockwerke in die Tiefe stürzen. Um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, riß die Reiterin Stiggur von den Füßen - und vom Dach. Schreiend ließ Gull seine Axt fallen, griff mit der unverletzten Hand nach dem Stiefel des Jungen und packte ihn am Fußgelenk. Die Reiterin über ihm riß die Lanze zurück, und der Stahl schnitt durch das geflochtene Leder. Stiggur kippte über den Rand des Daches nach unten. Gull hing mit dem Bauch über der Brüstung, spannte die Muskeln an und erwartete den Schmerz. Das Gewicht des Jungen drückte ihn so hart gegen die Steine, daß seine Rippen brachen. Gull verlor den Halt auf den schlüpfrigen Dachplatten und blickte geradewegs fünfzehn Schritt in die Tiefe. Der Kilt des hin- und herschwingenden Stiggur hing ihm über die Brust, doch er hielt noch immer seine Peitsche fest, die wie eine schlaffe Papierdrachenschnur herunterhing. Gull war wie gelähmt, und er wagte kaum Luft zu holen, aus Angst, über die Brüstung zu rutschen. Er wußte, daß sein Rücken schutzlos war, ein einladendes Ziel, um das sich nun neun Kavalleristen streiten konnten. Wie durch einen Nebel aus tanzenden Sonnen vor den Augen und mit sengendem Schmerz im Arm hörte er Lily schreien, und er fühlte, wie ihre sanften Hände 311
seine Füße umklammerten, um ihn festzuhalten. Selbst Rakel hörte er stöhnen. Unter ihm jammerte Stiggur und flehte um Vergebung. Gulls Blut fiel in dicken glänzenden Tropfen nach unten. Der Himmel verdunkelte sich, als die Drachenreiter erneut näher kamen. Ihr Grau verdeckte die Sonne, ihr Braun, das sich zu einem Grün kräuselte, dann blau und gelb wurde... Nein, Augenblick mal, dachte Gull, das war... Die Welt verschwamm vor seinen Augen. Greensleeves seufzte erleichtert, als sich die Gruppe ihres Bruders in dem ätzenden wabernden Nebel materialisierte. Als ihre Gefährtinnen sie aus der Bewußtlosigkeit geweckt hatten, hatte sie sofort an Gull und seine Freunde denken müssen und sich gefragt, ob sie bei ihrer Mission erfolgreich gewesen waren. Aber als sie versuchsweise ihren Geist durch die Sphären geschickt hatte, hatte sie festgestellt, daß etwas furchtbar schiefgegangen war. Aber jetzt waren sie hier, in Sicherheit... Ihre Freude verwandelte sich in Verwirrung, als sie zählte. Es war die richtige Zahl, aber nein, nicht wenn sie... Sie wimmerte, als sie all das Blut und Leid erkannte. Gull umkrallte seine Schulter, als er in die Knie sank. Stiggur, mit knallrotem Gesicht und verrutschter Kleidung, hielt sich den Kopf, fiel dann auf Hände und Knie und kroch zu Rakel, um nachzusehen, wie es ihr ging. Die Kriegerin war unter dem Umhang halbnackt, und Greensleeves sah, das ihr Körper teilweise mit notdürftig angebrachten blutdurchtränkten Bandagen umwickelt war. Lily war so blaß wie ihre Namensvetterin, die weiße Lilie. Verwirrung, Schreie und Fragen brandeten in dem Nebel auf, als alle gleichzeitig versuchten, sich um die Verwundeten zu kümmern und Antworten zu erhalten: 312
Ordando >hatte die Gasse gehalten< und Bardo war >Drachenfutter<. Mit klaren deutlichen Anweisungen ordnete Amma, die Samitin, das Chaos. Die Heilerin machte sich zusammen mit Greensleeves und Lily an die Arbeit und breitete Decken über die Haufen aus Asche und verbogenem Metall. Sie verbanden Wunden, stillten Blutungen und schnürten Gulls verwundeten Arm fest an seine Brust und seine zitternden Rippen. Doch Rakel bekam den Löwenanteil der Aufmerksamkeit. Amma sog zischend die Luft ein, als sie die behelfsmäßigen Bandagen durch trennte. Greensleeves sah hin und wünschte sich dann, es besser nicht getan zu haben: Rakels Körper war überzogen von langen, geraden, breiten Schnitten und Verbrennungen - Zeichen der wohlüberlegten Folter. Amma reinigte und schloß die Wunden, so gut sie konnte, doch ohne die Hilfe ihrer Heilerinnen und in dieser vergifteten Luft war es ihr nicht möglich, die fehlende Haut zu ersetzen. Rakels Körper würde für immer von weißen Narben übersät bleiben. Doch als Amma ihr eine große Phiole Schmerzmittel anbot, um sie einschlafen zu lassen, lehnte die Kriegerin ab. Mühsam blinzelnd hielt die Benalierin Tränen des Schmerzes und der Freude zurück und bestand darauf, hier mit ihrem Sohn wach bleiben zu dürfen. Die schluchzende gefühlsduselige Helki war so gerührt, daß sie es gestattete, daß Rakel und ihr kleiner Sohn auf ihren Rücken gehoben wurden. Dies war eine sehr großzügige Geste, denn Kentauren verabscheuten es, als Tragetiere mißbraucht zu werden. Rakel wurde hinaufgesetzt, den winzigen Hammen vor sich, doch die Beine der Kriegerin mußten mit Stoffetzen am Kriegsgeschirr der Kentaura verschnürt werden, damit sie nicht herunterfiel. Während Amma ihre Vorräte wieder in ihrem Bündel verstaute und Gull sich gegen Kwam lehnte, kam die Geschichte nach und nach ans Tageslicht. Der Holzfäller 313
schloß: »Immer sterben nur die falschen Leute! Ich bin hingefallen, nutzlos wie ein Haufen Hundedreck, und Bardo hat den Befehl übernommen. Er starb, als er uns rettete, so wie Ordando vor ihm. Ich habe zwei Soldaten verloren und nichts getan!« Auch Lily schluchzte. »Das gilt auch für mich! Ich habe nur dagestanden und konnte kaum helfen...« Vom Rücken der Kentaura ertönte eine sanfte Stimme, und die ganze Gruppe drehte sich um, um Rakel zuzuhören. »Lily ist nur... in die Folterkammern von Benalia eingedrungen... aus denen noch niemals jemand entkommen ist. Gull hat nur den heiligen Ratssaal gestürmt ... den Sprecher wie ein Stück Feuerholz gespalten ... und die gesamte Stadt herausgefordert, ihre Taten zu überdenken, sonst... Lily hat meinen Sohn gerettet und uns fliegen lassen... sie hat alle, die du hier sehen kannst gerettet. Sonst... nichts.« Alle beide, Lily und Gull, schauten betreten wie Schafe zu Boden. Greensleeves legte ihnen die Hände auf die Schultern. »Bardo und Ordando haben sich freiwillig gemeldet, um Rakel und ihren Sohn zu retten, und sie haben es geschafft. Wenn du behauptest, daß sie versagt haben, entehrst du ihr Opfer.« Der Holzfäller schwieg, dann hustete er und ächzte, als sich seine Rippen schmerzhaft bemerkbar machten. »Na schön. Ich werd mir das später überlegen. Jetzt will ich nur eins wissen: Wo zur Hölle sind wir?« »Im Vorhof der Hölle!« antwortete seine Schwester. Die bittere rauchige Luft ließ sie husten. Aus ihren entzündeten Augen quollen Tränen und hinterließen helle Spuren auf ihren schmutzigen Wangen. »Phyrexia. Die Hölle der Artefakte. Das Steinhirn ist hier, ganz in der Nähe. Seine Lockung zieht mich an wie ein Strudel. Als wir hier ankamen, habe ich so viel Mana gespürt, daß ich es schmecken konnte - und ich habe euch hierherbeschworen.« Gull runzelte die Stirn. Er konnte nicht weiter als fünf 314
Schritt weit sehen. Vor lauter Rauch konnte man nicht sagen, ob es eine Stunde vor Sonnenuntergang oder Mittag war. »Also, wo ist dieses seltsame Ding?« Greensleeves drehte sich im Kreis, und ihre Schuhe knirschten auf der Asche. »Eine gute Frage...« Alle hörten die schweren Schritte. Irgend jemand stolperte schwer atmend durch die Aschehaufen. Channa, ihre Kundschafterin, schälte sich vor ihnen aus dem Nebel. Trotz ihrer unzähligen blutenden Wunden fand sie noch die Kraft für eine letzte Warnung. »Däm...« Das Wort wurde ihr abgeschnitten, als dunkle Gestalten sie ansprangen und zu Boden zerrten. Mit einem ohrenbetäubenden Geheul brach die Dämonenhorde aus dem wabernden Nebel. Es war weder genug Zeit, um einen Plan zu schmieden, noch um einen Verteidigungsring aufzubauen. So konnten sie nur entsetzt schreien, als Dutzende, nein, Hunderte von Dämonen wie Ratten über sie schwärmten. Die Monster krallten sich in Kleidung und Haut, rissen Mäuler wie Bärenfallen auf und bissen in Waden, Knie, Füße und Hände. Die scharfen Zähne schnitten wie Messer in ihr Fleisch und durchbohrten ihre Haut wie spitze Nadeln. Helki war mit Rakel und Hammen auf dem Rücken nach vorn geprescht, um die zu Boden gefallene Channa zu retten. Die Kentaura schwang ihren Speer in einem weitem Bogen, so daß ein Dutzend Dämonen durch die Luft geschleudert und zwei weitere aufgespießt wurden. Doch sofort stürzten mindestens zwanzig weitere heran, um ihre Plätze einzunehmen. Helki wieherte vor Schmerz, als sich ein Dämon in ihre Kruppe verbiß und die scharfen Zähne bis auf den Knochen drangen. Ein Unhold huschte an ihren stampfenden Hufen vorbei und schlug ihr die Zähne in die Flanken, ein weiterer biß in ihr Vorderbein. Die Kentaura bockte, trat aus und sprang hoch in die Luft, so daß ihre Reiter auf und ab315
tanzten, doch es gelang ihr nur, einen Dämon abzuschütteln. Als sie zwei Schritt entfernt wieder aufkam, wurde sie sofort von weiteren Kreaturen angefallen. Halb blind vor Nebel und Rauch, bemühte sie sich verzweifelt, nicht die Orientierung zu verlieren. Aber auch Greensleeves' Gruppe wurde von den Dämonen heimgesucht, und Channa bestand nur noch aus einem Haufen Kleidung, einem dunklen Haarschopf und einem weißglänzenden Brustkorb. Urplötzlich mußte Helki an Holleb denken und wie sehr er sie vermissen würde... Die zu Tode erschöpfte Rakel begrüßte den Ansturm beinahe, denn der Tod würde ihrem Leid und ihren Qualen endlich ein Ende setzen. Allerdings hatte sie gerade erst ihren Sohn zurückgewonnen und beabsichtigte nicht, ihn so bald wieder zu verlieren. Der fest vor sie gebundene Hammen schmiegte sich dicht an sie, und sein knochiger Rücken drückte schmerzhaft gegen ihre Brust und in ihre brennenden Wunden. Doch der Junge machte einem benalischen Helden alle Ehre, denn er hatte sein winziges Messer gezogen, beugte sich vor, rammte die Klinge in den weißzahnigen Rachen eines Dämons und stieß sie nach oben durch die Schädeldecke. Aber diese Dämonen waren zäh wie Leder nichts als Sehnen, Muskeln und straffe durchscheinende Haut, die sich über ihren Knochen spannte -, und so klammerte sich der sterbende Unhold noch lange Zeit an das Kriegsgeschirr, bis Rakel nach dem Heft des Dolches griff und ihn herumdrehte, um das winzige Gehirn der Kreatur zu zerteilen. Von nun an behielt Rakel das Messer in der Hand und hielt die Dämonen durch wohlgezielte, gekonnte Stiche in Schach. Sie durchbohrte ein rotes Auge, trieb die Klinge durch ein spitzes Ohr und stach tief in eine knorpelige Kehle. Aber tief in ihrem Herzen wuchs die Verzweiflung, denn sie fühlte, wie die Kentaura durch die vielen Wunden ihre Kraft verlor und zusammenzubrechen drohte. 316
Armer Hammen. Sie beschloß, ihn zu töten, bevor er von diesen entsetzlichen Zähnen zerfetzt wurde. Doch sie mußte es bald tun. >O mein liebes Kind<, dachte sie, >dein junges Leben so früh schon beendet, und du kannst doch nichts dafür. < Vielleicht ist es auch besser so, philosophierte sie, als sie wieder zustach, denn diese Welt ist ein schlechter und grausamer Ort. Zumindest war sie es gewesen, bis sie Greensleeves, Gull und ihre Gefährten gefunden hatte. Und Garth? Würde er es jemals erfahren? Würde es ihn überhaupt kümmern? Beim ersten Anzeichen der Gefahr - dem grauenhaften Kreischen, Fauchen und Jammern wie von einem Wirbelsturm - hob Gull instinktiv die Axt, keuchte jedoch auf, als ihm der Schmerz durch den rechten Arm fuhr. Mit seinen zerschnittenen tauben Muskeln gelang es ihm nicht, den Arm höher als bis zur Hüfte zu heben. Also wechselte er die Waffe in die linke Hand, die jedoch kraftlos war, weil ihr drei Finger fehlten. Seltsam, es hatte sich nie die Gelegenheit ergeben, daß Chani sie heilte. Jetzt war es zu spät. »Lily, bleib hinter mir! Stiggur, du auch! Ich versuche ...« Während er Befehle brüllte, köpfte er einen Dämon. Sie waren nur klein, aber so zahlreich. Einem anderen zerstampfte er mit einem kräftigen Tritt die Brust, doch schon wirbelten drei weitere heran und zielten auf seine Beine. Einer der Unholde krallte sich in seinen Hirschlederkilt und stach mit den Fingernägeln vier Löcher hinein. Gull dachte gerade darüber nach, wie leicht sie wohl Haut durchstoßen konnten, als er es auch schon zu spüren bekam: Eines der Monster schlug ihm die Zähne durch die roten Beinkleider in die linke Wade. Die Wunde brannte und stach und fühlte sich gleichzeitig durch das herausströmende Blut kühl an. Was würde mit Lily geschehen? Konnte er sie retten? Und den Jungen? Lily stand auf Gulls rechter Seite. Verzweifelt verfluchte sie ihr mangelndes Können und ihr Versagen 317
beim Erlernen von Verteidigungs- oder Angriffszaubern. Alles, was sie konnte, war fliegen - manchmal. Aber konnte sie all diese Menschen irgendwo hinfliegen wohin? Gab es überhaupt einen sicheren Ort? Sie sprang auf, als ein Dämon wie eine Kobra vorschnellte, sich in ihrem dunklen Haar verkrallte und nach ihrem Hals schnappte. Kreischend drängte sie sich an Gull, als wäre er eine Schutzmauer, und versuchte, das Monster abzuschütteln. Die Zähne drangen wie Splitter durch ihre Haut und in ihr Fleisch. Sie unterdrückte ihre panische Angst, damit Gull sich nicht für sie schämen mußte, griff nach dem Unhold auf ihrem Rücken und wurde in die Finger gebissen. Ein weiterer sprang sie an, packte ihren Gürtel und grub ihr die Fingernägel durch die Kleidung in die Haut. >O Gull<, wollte sie sagen, >ich liebe dich so sehr..,«, aber es blieb ihnen keine Zeit mehr für ihre Liebe - der Tod wartete... Stiggur hatte weder Gelegenheit, mit der Peitsche auszuholen, noch das Messer zu ziehen, denn die winzigen Dämonen sprangen aus allen Richtungen herbei und griffen nach seinen Armen. Er fühlte, wie sich ihre Zähne tief in seine Haut bohrten, und konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Er stolperte rückwärts und prallte gegen seinen Helden Gull, der gerade mit der Axt in der linken Hand auf die anstürmende Dämonenhorde eindrosch. Der dicke Holzgriff der Axt fuhr nach hinten und traf den Jungen am Schädel: Stiggur ging zwischen einem Haufen von magerer, hungriger Bösewichter zu Boden. Von der gesamten Gruppe entging nur Greensleeves dem Gemetzel - vorläufig -, denn der ruhige starke Kwam umfing ihre Hüften und hob sie hoch in die Luft. »Ich werde dich beschützen!« rief er aus, und trotz der tödlichen Gefahr, in der sie schwebten, fühlte sich Greensleeves durch den warmen Klang seiner Stimme seltsam beruhigt. Aber der Magie-Student keuchte auf, 318
als sich die Dämonen mit Klauen und Zähnen auf ihn stürzten und versuchten, wie an einer Leiter an ihm hinaufzuklettern, um Greensleeves zu packen. Er wußte nicht, wie lange er sich noch auf den Füßen halten konnte, denn er taumelte bereits vor Schmerz und wurde immer schwächer... Verzweifelt zermarterte sich Greensleeves das Hirn, während sie gleichzeitig Mühe hatte zu atmen, da Kwam sie so fest drückte. Sie wußte, daß sie als einzige die Gruppe retten konnte - aber wie? Etwas beschwören? Selbst ein Schwarm fliegender Teppiche konnte ihnen nicht helfen. Ein Fungusaurus? Ein Dachs? Aber die Fäden, die sie mit ihren Schutzbefohlenen verbanden - ihren > Eingefangenen < -, waren schwach und dünn, da sie so weit von allem entfernt war, was sie kannte. Aber da gab es etwas... Greensleeves fand den Faden wieder, der sie mit dem Steinhirn verband. Wie ein im Mondlicht silbern glänzender Fluß durchzog er ihren Geist. Zwar krümmte und wand er sich, aber er leitete sie unbeirrbar zum Ziel und zog an ihr wie der Sog eines nahen Strudels. Aber sie konnte das Artefakt genausowenig zu sich beschwören wie sie einen Wasserfall hinaufschwimmen konnte. Sie mußte zu ihm gehen... Und ihre Gefährtinnen und Gefährten zurücklassen? Während sie dies dachte, strauchelte Kwam und fiel zu Boden. Obwohl seine Kraft versagte, bemühte er sich noch immer, Greensleeves in die Luft zu halten. Nicht weit entfernt im Nebel erledigte ihr Bruder gerade ein Dutzend Dämonen, aber Lily und Stiggur waren unter einem Haufen der Unholde begraben, und selbst Helki war vornübergestürzt. Alle, die noch nicht tot waren, würden es innerhalb von Minuten sein. >Ihr Götter, laßt mich den Verstand verlieren, laßt mich in den Wahnsinn fliehen<, flehte die Druidin stumm. Sie konnte nichts mehr tun. Plötzlich kreischte sie, als ein Dämon sie in den Fuß 319
biß, dann schloß sie die Augen und ließ sich treiben warf ihren Geist, ihren Körper und ihre Seele in die Leere. Blinzelnd stürzte Greensleeves in einen Haufen aus Asche, Knochen und Staub. Sie war allein, in einiger Entfernung von der Dämonenhorde, doch nicht sehr weit, denn sie hörte ein Gezwitscher wie von zankenden Spatzen: Es waren die Unholde, die ihren Bruder und ihre Freunde und Freundinnen in Stücke rissen. Aber wo war...? Etwas bohrte sich in ihren Rücken. Ein Stein? Ein Schädel? Tastend rollte sie sich halb herum und griff nach dem Ding. Der steinerne Helm - weggeworfen wie Unrat. Sie wußte nicht warum. Das älteste und mächtigste aller Artefakte, randvoll mit Geheimnissen, Mysterien und Wundern, aber so durchtränkt von Mana und so unwiderstehlich in seiner Macht, jemanden zum Gehorsam zu zwingen. Es konnte eine geübte Zauberin in den Wahnsinn treiben - selbst sie, die schon einmal den Wahnsinn überwunden hatte... Aber ihre Freunde brauchten sie, und sie hatte keine andere Wahl. Sie konnte beinahe das Gelächter der Götter hören, die sich über ihr Dilemma lustig machten. Sie hatte den Helm bei Haakon benutzt, aber nicht gewagt, ihn bei sich selbst zu benutzen, und nun gab es kein Zurück mehr... »Ach, ich Arme...«, jammerte sie. »Nun, ja... was ist schon Wahnsinn außer einer anderen Bewußtseinsebene.« Greensleeves biß sich auf die Lippen, als sie sich mit haltlos zitternden Händen den Helm auf den Kopf setzte. Er war überraschend leicht und wog sicherlich nicht mehr als ein Strohhut. Er saß wie angegossen und paßte sich vollkommen ihrem Kopf an, fest, aber ohne zu drücken. 320
Dann prasselten die Gedanken und die Befehle auf sie ein, und ihr Gehirn drohte unter dem boshaften Lärm des Helmes zu zerspringen. Hundert Stimmen schrien gleichzeitig auf sie ein, daß sie abschwören solle, dem Übel entsagen, gehorchen. Stimmen von Männern und Frauen, von Greisen und Kindern und fremdartige Laute, die sie nie zuvor gehört hatte: das Grollen eines Giganten, das schrille Wiehern eines Kentauren, das Zischen eines Echsenwesens. Alle befahlen ihr, die Zauberei aufzugeben, wenn sie nicht dem Wahnsinn verfallen wollte. Unaufhörlich dröhnten die Befehle, bis Greensleeves fürchtete, ihr Verstand löste sich auf. Sie wußte, daß sie den Helm erst eine Sekunde lang trug, aber in ihrem Geist stand die Zeit still. Die Stimmen würden ihr solange zusetzen, bis sie sich unterwarf - eine Lawine aus Drohungen, um sie zu zermürben. Kein Wunder, daß Tybalt und Haakon verrückt geworden waren: Tausend Stimmen, die in deinem Kopf durcheinanderbrüllen und dir Wahnsinn androhen... Aber Greensleeves war einst wahnsinnig gewesen. Als habe sich der Nebel gelichtet, konnte sie dies zum ersten Mal klar und deutlich erkennen. Die meiste Zeit ihres Lebens war sie ein Schwachkopf gewesen, Tausende von Gedanken waren ihr jeden Tag durch den Geist gehuscht, und sie hatte nur die Gedanken beachten müssen, die ihr gefielen. Sie entschied, daß diese Stimmen nicht zwingender oder bedrohlicher waren als das zischende Geblubber des Flüsterwaldes. Sie hätte über die Ironie lachen mögen: Sie hatte gefürchtet, wahnsinnig zu werden, wenn sie den Helm aufsetzte, nur um herauszufinden, daß der Wahnsinn sie zur geeigneten Trägerin gemacht hatte. Die letzen Ketten um ihren Verstand hatten sich gelöst und waren für immer zerschlagen. Und, wie Tybalt gesagt hatte, bewachten diese Stim321
men große Geheimnisse. Die Gesamtheit der Gedanken aller großen Zauberinnen und Zauberer lagen wie ein offenes Buch vor ihr. Sie konnte lesen, was sie wollte, und auswählen, was sie brauchte. Bilder rasten durch ihren Verstand wie durchgehende Pferde, wie ein Tornado, wie eine Flutwelle. Bilder aus längst vergangenen Zeiten: Gestalten in dunklen Roben, die anstelle von Köpfen weinende Pferdeschädel trugen, ein einäugiger Goblin mit langen Fangzähnen, der eine Krone aus rotglühenden Nägeln trug, ein Elfenbeinturm, der hoch über einem goldenen Herbstwald aufragte, ein regenbogenfarbenes Echsenwesen in einem dampfenden Sumpf, ein Monster, dessen gellende Schreie Berge zerschmetterten, blaugekleidete Frauen, die sich selbst vervielfältigten, bis sie eine ganze Villa füllten und durch die Türen hervorquollen, Kobolde, die über Blumen tanzten und gemeinsam einen Fetzen blutiger Hundehaut hinter sich herzerrten, ein denkendes Wesen mit einem Gesicht wie geschmolzenes Wachs, Phantasiegestalten mit Uhren in den Bäuchen, Schmiedefeuer, so heiß wie die Sonne, die Schätze hervorbrachten, Worte, Gesang, Schlachtrufe, Schluchzen und... Zaubersprüche. Sie lernte, wie man unsichtbar wird, wie man das Herz eines Feindes zum Stillstand bringt, wie man Bäume im Mondlicht tanzen läßt, wie man einen Berserker beruhigt, wie man einen Leviathan aus den Tiefen des Ozeans lockt, wie man einen Komet auf die Erde fallen läßt, wie man die Zeit anhält, wie man Metall zum Schmelzen bringt, wie man ein Heiligtum verzaubert, wie man Feuerbälle wirkt und unendlich viel mehr... Und tief im Inneren des Tumults hörte sie das Plappern des Steinhirns, eine vertraute Stimme, die dahinsprudelte wie die Quelle eines Gebirgsbachs. Und in seinen Worten war ein Hinweis, ein Pfad, ein Weg, eine Hoffnung... Von Kopf bis Fuß in Mana getaucht, mußte Green322
sleeves sich nur ihren Bruder und ihre Gefährten, die gegen die Dämonenhorde kämpften, vorstellen... ... und sie war bereits unter ihnen. Trotz des Helms hörte sie das Kreischen und Jaulen, hörte einen schrillen Schmerzensschrei, als jemand besonders heftig gebissen wurde. Jemand, der noch lebte. Und dort, im wirbelnden Malstrom der Geheimnisse lag das Werkzeug: ein Schutzzauber, eine zweite Haut aus Mana, die jegliche Gefahr abwehrte. Flüsternd beschwor sie seinen magischen Namen und zog ihn aus dem Wirbelsturm von Stimmen, die in ihrem Kopf widerhallten ... ...dann blinzelte sie überrascht, als jeder einzelne Dämon wie von einem gewaltigen Sturm davongeblasen wurde. Sie landeten kopfüber mit ausgestreckten Gliedern in Staub und Schutt. Keiner von ihnen erhob sich zum nächsten Angriff, sie lagen nur zuckend wie vom Blitz getroffen da. Doch sie lernte noch mehr. Durch die Augen ihres Bewußtseins sah Greensleeves Blut aus einer durchtrennten Kehle schießen - es war Kwam! So leicht wie einen Seidenvorhang... ...schloß Greensleeves die Wunde, entfernte alle Anzeichen der Verletzung, ließ das Blut wieder in die Adern des Mannes strömen und hörte, wie das Herz wieder stark und regelmäßig schlug. Gull war auf ein Knie gesunken, sein anderes hing gelähmt unter ihm, denn ein Dämon hatte ihm mit scharfen Zähnen die Sehnen durchtrennt. Mit einem Zwinkern machte sie das Bein wieder heil. Ein bößartiger Biß hatte Lily die Schädeldecke abgerissen, doch Greensleeves schloß die klaffende Wunde. Ammas Arm war halb abgerissen, aber Greensleeves schob Muskeln und Sehnen wieder zurück an ihren Platz. Dann machte sie ihre Runde und heilte Helki, Rakel, Hammen und Stiggur. Aber für die arme Channa kam jede Hilfe zu spät, denn außer verstreuten Knochen 323
und einigen Haarsträhnen war nichts mehr von ihr übrig. Die Stimmen in ihrem Kopf waren zu einem Brausen angeschwollen, zu einer Sintflut, die drohte, sie zu ertränken. Ihre Knie gaben nach, mochte sie es noch so sehr versuchen... sie konnte nicht den Hinweis erhaschen ... sich selbst zu heilen... Sie sollte sich besser auf den Weg machen, bevor ihr die Sinne schwanden... Sie stellte sich den Weg vor, wie weit sie gereist waren, und stöhnte laut auf, als sie die Entfernung erkannte. Sie hatten den größten Teil der Domänen durchquert, denn sie konnte ganz in der Ferne die letzten Grenzen erkennen, den Rand der Welten. All das Wissen der Welt lag ihr zu Füßen, aber es zerrte an ihr und versuchte, ihr den Verstand aus dem Schädel zu winden... Ja, natürlich, sie mußten durch die Dimensionen reisen, seltsam, daß sie das vergessen hatte. Sie mußte ein wenig... wirr sein. Mit äußerster Anstrengung versuchte Greensleeves wachzubleiben, breitete die Arme und den Geist aus, sammelte ihre Gefährtinnen und Gefährten dicht bei sich, und... innerhalb eines Herzschlags beschwor sie sie an einen Ort tief in ihrer Seele. »Nach Hause!«
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Ein Wispern weckte Greensleeves. Als sie mühsam die Augen aufschlug, stellte sie fest, daß sie durch kahle Äste geradewegs in die fahle Wintersonne blickte, die hinter einem Dunstschleier verborgen war. In ihrer Nähe krächzte eine Krähe und erhob sich flatternd aus dem schwankenden Wipfel einer hohen Fichte. Sie landete in den Zweigen einer ehrwürdigen Eiche und nickte Greensleeves zu, als wolle sie ihr ein Zeichen geben. Aber woher kam das Gewisper? Wer sprach hier? Warum kam es ihr so vertraut vor... Die Druidin schnellte wie eine Feder in die Höhe, während Helki sich benommen aufsetzte und sich mühevoll auf die zitternden Beine quälte. Lily hatte sich den Umhang bis zum Kinn hochgezogenen und lag zusammengerollt wie ein Säugling da. Die Lippen hatte sie im Schlaf zu einem Schmollmund verzogen. Rakel sah rosig und erholt aus und gar nicht mehr wie eine wandelnde Tote. Ihren Sohn Hammen, der friedlich an seinem Daumen nuckelte, hielt sie eng an den Bauch gedrückt. Neben ihr lagen Amma und der sanfte Kwam. Stiggur murmelte und griff nach einer nicht vorhandenen Decke, während sein Held Gull mit ausgestreckten Armen und Beinen flach auf dem laubbedeckten Boden lag, als sei er von einem Baum gestürzt. Unmittelbar neben ihrer Hand lag der steinerne Helm, der wieder zu einem Gehirn geworden war. In diesem Augenblick kehrte ihre Erinnerung zurück, und sie wußte, wo sie sich befanden. 325
»Gull! Wacht alle auf! Wir sind zu Hause! Zurück im Flüsterwald!« Innerhalb der nächsten zwei Tage beschwor Greensleeves auch alle anderen herbei. Unter Varrius' Befehl war die Armee aus den Ödlanden bis an die Ufer eines breiten Flusses gezogen, der sich zwischen hohen Klippen hindurchschlängelte. Dort hatten sie gelagert, als Greensleeves plötzlich bei ihnen auftauchte, mit den Händen gestikulierte und sie mit Leichtigkeit in die Tiefen des Flüsterwaldes beschwor. Der erleichterte Varrius wollte gar nicht mehr aufhören, Gulls Hand zu schütteln. »Ich habe gesagt, ihr würdet erfolgreich sein und ihr wart es! Und das beinahe über Nacht!« Gull war überrascht, als er erkannte, daß sie nur einen oder zwei Tage fortgewesen waren. Wie viele Länder hatten sie in diesem winzigen Zeitraum durchquert? Es war unheimlich - die Magie würde ihm niemals behagen. Varrius klopfte Greensleeves so heftig auf die Schulter, daß sie beinahe in die Knie ging, doch sie lächelte nur. Chani begrüßte sie stiller, aber nicht weniger begeistert. Sie legte den gesunden Arm um ihre zwei Adeptinnen und flüsterte: »Ich wußte, es würde Verluste geben, aber ich wußte auch, daß ihr beide Erfolg haben würdet. Eure Herzen sind zu groß, als daß ihr versagen könntet.« Greensleeves und Lily erröteten, als die Druidin sie mit ihren verwelkten Lippen küßte. Mit der Disziplin und Ordnung, die Rakel ihnen eingebleut hatte, schlugen die Söldlinge das Lager in den Wäldern auf und machten sich an die Arbeit: Ausrüstung mußte instand gesetzt und die Truppen neu eingeteilt werden. Da Bardo gefallen war, wurde Holleb zum neuen Hauptmann der Späher ernannt, und er wählte zwei weitere Soldaten aus, um Channa und den toten Paladin zu ersetzen und seine Truppe wieder auf volle 326
Stärke zu bringen. Für die ebenfalls gefallene Ordando bestimmte Rakel ihre ehemalige Weibelin, eine stämmige Frau namens Mulya, genannt >Muli<, die während der Ausbildung einen guten Eindruck gemacht hatte, zur Hauptfrau der Grünen Kompanie. Trotz der winterlichen Kälte erklangen schon bald Rufe, Lachen und Gesang im Lager, und erst im roten Schein der ersterbenden Glut der Lagerfeuer sprachen die Menschen über ihre verlorenen Gefährten und Gefährtinnen. Gull und Greensleeves berieten sich, streiften auf ihren Pferden durch die Gegend, suchten nach Landmarken und entschieden schließlich, daß sie wahrscheinlich nordnordwestlich von Weißfels, aber vermutlich noch im Nordosten des Sternenkraters gelandet waren. Als ihr Bruder sie fragte, warum sie gerade an diesen Ort gelangt waren, wußte die Druidin keine Antwort. »Inmitten jenes Angriffs an diesem entsetzlichen Ort hab ich uns nach Hause gewünscht, und so sind wir hier gelandet, zurück in meiner Heimat - und deiner. Du warst mehr ein Teil dieses Waldes als ein Teil von Weißfels. Du hast jeden Tag hier verbracht. Also sind wir einfach zurückgekehrt, so wie Gänse im Frühling zu ihren Nistplätzen zurückkehren.« Gull wickelte die Zügel um den Sattelknauf und klopfte den Hals seines Apfelschimmels Ribbons. »Aber wir können hier nicht lange bleiben. Es hat früher nicht einmal genug Wild in diesen Wäldern gegeben, um unser Dorf zu ernähren, geschweige denn eine hungrige Armee. Außerdem gibt es kein Futter für die Tiere. Wir könnten hier nicht einmal im Sommer überleben, und nun ist tiefster Winter.« »Wir werden es schaffen.« Greensleeves strich sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht und zog sich den >Grimoire-Schal< fester um die Schultern. »Chani hat mir erklärt, wie man die Bäume verzaubert. Nicht indem man sie zwingt zu wachsen, sondern indem man sie bittet, ihr 327
Äußerstes zu geben. So wie sie es in den Ödlanden getan hatte, auf der Hochebene unter den Eichen. Ich werde nicht lange brauchen, um das Gleichgewicht zu verschieben, damit wir alle genug zu essen haben - wenn wir genügsam sind.« Gull schüttelte den Kopf. Für einen Augenblick hielt er inne, um dem Flüstern der Zweige zuzuhören, diesem unaufhörlich wie ein Bach dahinplätschernden Gemurmel, das ihn an das Geschnatter der Marktfrauen erinnerte - oder an das Steinhirn. Das Rauschen und Säuseln war im Winter leiser und schien weniger bedrohlich als zuvor. Es störte niemanden im Lager, aber vielleicht hörten sie nur einen Hauch der Stimmen. Gull entschied, daß er sich gar nicht erst bemühen wollte, es herauszufinden: Es war Magie, und die überließ er besser seiner Schwester. Er mußte kichern: »Es ist seltsam, dich da sitzen zu sehen, Greenie, ganz und gar Herrin deiner Sinne. Als wir noch hier lebten, benebelten die Wälder deinen Verstand und beherrschten dich. Nun beherrschst du sie und kannst die Bäume dazu zwingen, das zu machen, was du willst.« Sie schüttelte die wirren braunen Locken. »Nicht zwingen, nicht einmal überreden. Ich helfe ihnen nur. Aber ja, du hast recht. Früher hatte mich die Magie im Griff, aber nun... kann ich sagen, habe ich die Magie im Griff?« Bevor Gull antworten konnte, erklang ein Dröhnen aus der Richtung des Lagers. Als sie sich umdrehten, sahen sie, wie Holleb und Jayne, seine neuernannte Späherin, sich ihnen im raschen Galopp näherten. Während der letzten vier Tage war der Kentaur einem Wagenzug durch den Wald gefolgt, und nun kam er mit angelegter Rüstung zurück. Der Holzfäller befürchtete das Schlimmste und stöhnte: »Oje...« »Gull! Greensleeves!« gurgelte die harsche Stimme. 328
»Im Westen wir finden Zauberin! Dacian! Sie, die mich und Helki zu Sklaven machen! Und mit deinem Towser gekämpft und dein Heim hat zerstört.« Dacian, die Rote, warf sich unruhig auf ihrem Bett zwischen den parfümierten Kissen hin und her. Sie war allein in ihrem Pavillion, einem geräumigen und bequemen Zelt, das an der Seite ihres Wagens befestigt war. Da ihr Gefolge bereits seit vierzehn Tagen hier lagerte, hatte sie weitere Zelte aufbauen lassen, um ihre unzähligen Kisten und Truhen unterzubringen, so daß dieses Zelt zum größten Teil leer war, bis auf die flauschigen Teppiche, die den Waldboden bedeckten, das riesige zusammenklappbare Feldbett und die zahllosen Kissen und Decken. Selbst im Schlaf schwelgte sie in unmäßigem Prunk und begrub sich unter Stapeln weicher Polster. Müßig lag sie wach, obwohl es tief in der Nacht war und der Rest des Lagers außer den Wachposten selig schlummerte. Sie wußte nicht, was sie geweckt hatte, aber sie nutzte die Zeit, um ihre nächsten Schritte zu planen. Noch ein oder zwei Tage, dann hatte man die ganze Erde aus dem Sternenkrater ausgehoben und durchwühlt. Vor Wochen hatte sie aus dieser Richtung Mana gespürt und den Krater als die Quelle gedeutet. Ihre Enttäuschung war riesig gewesen, als sie herausgefunden hatte, daß das Objekt, das vom Himmel gefallen war, verschwunden war. Aber dennoch hatte sie ihre Arbeiter weitergraben lassen. Ein Ort, der solchermaßen von Mana durchtränkt war, wäre eine geeignete Quelle zum Anzapfen. Sie könnte bis in alle Ewigkeit ihre Kraft aus diesem Gelände ziehen. Doch das Mana hier war alt und fremdartig. Außerdem, warum sollte ein fallender Stern so voller Macht sein... Es war nicht wichtig. Von hier aus würde sich ihr Wagenzug ostwärts wenden, dicht an jenem kleinen Dorf in 329
der Nähe der weißen Kalksteinklippen vorbei, das in der Schlacht mit diesem gestreiften Zauberer zerstört worden war. Damals hatte sie fliehen und einige ihrer bevorzugten > Schachfiguren < zurücklassen müssen. Sie erinnerte sich, daß die Wälder in der Nähe des Dorfes flüsterten - sicherlich gab es dort viel Mana. Unzufrieden warf sie sich herum, schleuderte ein Dutzend Decken beiseite und richtete sich auf. Irgend etwas störte sie, irgend etwas lag in der Luft. Vielleicht hatte sie sich nur beim Antreiben der Sklaven verausgabt. Vielleicht sollte sie sich einen der Wächter zur lustvollen Zerstreuung in ihr Zelt rufen. Oder zwei Wächter... Oder ein Dienstmädchen, das ihr das Haar bürstete. Dacian war sehr stolz auf ihr dichtes glänzendes Haar, das ihr den Rücken hinabfloß. Ja, sie konnte das Lager aufwecken und alle mitten in der Nacht zum Arbeiten zwingen. Wenn sie schon nicht schlafen konnte, dann brauchte es auch sonst niemand... Mißgestimmt und ärgerlich zündete Dacian eine Lampe an, zog ihr braunes gelbgesäumtes Gewand über das Untergewand und glitt in ihre weichen Stiefel. Zuletzt griff sie nach ihrem Beutel mit Artefakten. Niemals ging sie irgendwohin, ohne ihn mitzunehmen, nicht einmal zum Abtritt. Sie schlug die Plane des Zelteingangs zurück und trat hinaus in die eisige Nachtluft. »Wache! Weck das Lager auf! Wache!« Keine Antwort. Der tumbe Tor mußte sich weggeschlichen haben, um ein Schläfchen zu halten. Sie würde ihn dafür auspeitschen müssen, daß er ihr Lager ungeschützt zurückgelassen hatte... Moment mal, was war das für ein Geräusch? Stimmen! Die eines Mannes und die einer Frau. Ach. Die Ratte machte wohl mit einer der Küchenmägde herum. Nun, sie würde ihnen beiden eine Lehre erteilen. Leisen Schrittes schlich Dacian in ihren weichen Stiefeln über die mit Frost bedeckten Blätter, dem Geräusch hinterher. Dort, neben einem Baum, erkannte sie im 330
Mondlicht die Silhouette ihres Wächters Rida und... wer war die andere? Sie erkannte eine hochgewachsene, schlanke, geschmeidige Frau. Sie war vollkommen nackt, ihre weiße Haut so hell wie Birkenrinde und ihr Haar glänzte wie gesponnenes Silber, falls das Licht des Mondes ihr nicht einen Streich spielte. Dacian glitt näher heran. Rida war ein großer Mann, doch die Frau überragte ihn noch. Es gab keine Frau im Lager, die so groß war... Dann wich die Frau in den Schatten der Birkenhains zurück und verschwand zwischen den Bäumen. Rida stolperte hinter ihr her, rannte in einen Baumstamm, als sei er halbblind, beschrieb einen Kreis und krachte wieder gegen den Baum. Ohne Zweifel war er verhext. Aber wodurch? Dann fiel es Dacian ein. Sie hatte die Legenden von den shanodinischen Dryaden gehört, hinterhältigen Baumgeistern, die jegliche Form annehmen konnten, selbst die einer wunderschönen hochgewachsenen Frau. Aber wie konnte es geschehen, daß es hier Dryaden gab, Kreaturen von großer Zauberkraft, ohne daß Dacian sie spürte? Was sollte sie tun? Dadurch, daß die Dryadin jegliche Form nach Wunsch ihres Betrachters annehmen konnte, konnte es ihr gelingen, all ihre Diener in den Wald zu locken. Tatsächlich... Dacian stolperte zurück ins Lager und stieß in ihrer Eile beinahe einen Klafter Feuerholz um. Sie fand den Wagen der Köchin und trat dagegen. Ein überraschtes Grunzen und Fluchen belohnte sie. »Erheb dich, du faule Ratte! Rida ist von einer Koboldin verhext worden, und du wirst die nächste sein! Du wirst bei lebendigem Leibe gehäutet und verspeist werden, wenn du dich nicht beeilst« Während Dacian mit einem Tritt das Feuer wieder anfachte, krochen ihre Diener aus den Zelten oder taumelten schlaftrunken aus den Wagen. Sie überschlugen sich 331
fast vor Eifer, denn sie fürchteten Dacians Wutausbrüche. Zweimal bereits hatte die Zauberin Diener, die ihren Befehlen zu langsam gefolgt waren, einfach fortbeschworen. Ein Koch rieb sich das Gesicht und fluchte leise, um dann plötzlich laut aufzuheulen. »Seht! Dort!« Ein Rudel riesiger Grauwölfe, die Augen im Feuerschein rotglühend, hetzte auf das Lager zu. Die zottigen Tiere sprangen in den Feuerkreis, und Dacians schläfriges Gefolge stob wie Hühner auseinander. Die Dienerinnen kreischten und versuchten verzweifelt, in die Fuhrwerke zurückzuklettern, während die Männer sie von hinten anschoben oder die Wagen an den Seiten erklommen. Dacian drängte sich gegen eine Wagenwand und kramte verzweifelt in ihrem Beutel nach dem richtigen Artefakt: Feuer würde die Wölfe vertreiben. Die Wölfe, die mindestens genauso verwirrt waren wie die Dienerschaft, trabten durch das plötzlich wie ausgestorben daliegende Lager und verschwanden auf der anderen Seite wieder in der Dunkelheit. Sie kämpften nur gegen Feinde, die sich ihnen in den Weg stellten. Aber Dacian bemerkte ihren Rückzug nicht, da sie gerade nach einem Feuersteinsplitter tastete, der scharf genug war, ihr einen Finger abzuschneiden. Licht! Sie brauchte Licht! Und sie würde es bekommen, auch wenn sie dafür diesen Wald bis zum Boden abbrennen mußte! Murmelnd rieb sie den Feuerstein an ihrem wollenen Kleid. Immer schneller und schneller rasselte sie einen Spruch herunter und sandte Fäden an einer dünnen Spur bis in die entferntesten Gebiete der Domänen, bis zu ihrem glühendem Mittelpunkt, in dem... Mit einem Zischen und Fauchen sprang der Feuergeist in voller Größe aus dem Feuerstein ins Leben. Das aus wabernden Flammen geformte Wesen war größer als die Wagen und erinnerte an die Gestalt einer Frau, aber Dacian wußte, daß Geister weder menschlich noch überhaupt wirklich lebendig waren. Aber sie konnte sie beherrschen. Die Flamme des Feu332
ergeistes versengte die Nacht, spiegelte sich glänzend in den kahlen Zweigen und taute den Frost von den Blättern des Waldbodens. Halb geblendet beschrieb Dacian mit ihrem Finger einen Kreis durch die Luft. »Hebe dich hinfort, und zeige mir meine Feinde. Suche...« Doch die Worte blieben ihr im Halse stecken, als aus dem Süden, aus der Richtung des Kraters, ein Windstoß heranfegte, so daß sie nach hinten taumelte und sich an der Wagenwand festhalten mußte. Der Sturm wehte ihr das lange glatte Haar ins Gesicht, zerrte am Saum ihres Kleides und drohte sie mit aufgewirbelter Holzasche aus der Feuerstelle zu ersticken. Sie fegte sich das Haar aus der Stirn, und während sie verzweifelt versuchte, in dem eisigen Wind nicht das Gleichgewicht zu verlieren, sah sie, wie ihr Feuergeist mit einem ähnlichen Wesen kämpfte. Das gespenstische weiße Luftwesen stürzte auf seinen >Spielkameraden< zu. Sein langer Schwanz peitschte die Nacht, als es verspielt wie ein Welpe, doch gefährlich wie ein Tornado heranfegte. Dacian hielt den Atem an und zitterte wie Espenlaub. Der Geist brachte eisigen Wind aus den höchsten Schichten der Atmosphäre mit sich, der weder von der Sonne noch von der Erde gewärmt wurde. Dacian hatte das Gefühl, pures Eis zu atmen und darin zu ertrinken. Aber es dauerte nur einen kurzen Augenblick, denn der Feuergeist flackerte auf, wirbelte herum und stürzte auf den Luftgeist zu. Als die beiden aufeinanderprallten, wurde die Feuerkreatur von dem stärkeren Mana des Luftwesens ausgelöscht wie eine Kerze in einem Wirbelsturm. Dacian sah, wie der Feuergeist in tausend winzige Flämmchen zerbarst, die wie die Funken eines Lagerfeuers auf den Waldboden niederregneten. Dann war er verschwunden, und die Dunkelheit kehrte zurück. Das verwirrte Luftwesen wehte auf der Suche nach seinem Freund dreimal durch das Lager und bedeckte die Ausrüstung, die Wagen und Dacian mit Reif, bevor 333
es geradewegs zum Himmel emporschoß und verschwand. Mit klappernden Zähnen blickte sich Dacian in der Dunkelheit um. Wo waren ihre Diener? Ihre Wächter? Waren sie alle davongerannt? Verflucht sollten sie sein! Sie würde den ganzen Haufen einfach hier in diesem winterlichen Wald auf sich gestellt zurücklassen. Fluchend griff sie in ihren Beutel. Ihre Hände waren so kalt, daß sie die Finger nicht mehr fühlte, und es gab außer dem schwachen Schein des Mondes keinerlei Licht, um den geheimnisvollen Inhalt zu beleuchten. Sie wühlte darin herum und zog schließlich das erstbeste Ding, das sie fassen konnte, hervor: eine rotbemalte Muschel. Die halberfrorene Dacian stimmte einen Gesang an, um die Wesen herbeizurufen, die mit der Muschel verbunden waren. Sie brauchte Schutz, sehr viel Schutz, denn wer auch immer da draußen war, verfügte über mehr Mana als sie, und sie benötige Zeit, wenn sie mit den Wagen und der Beute entkommen wollte. Nachdem sie den Zaubergesang beendet hatte, schnippte sie die Muschel etwa vier Schritt beiseite. Zwischen den im Wind raschelnden Blättern knisterte es, und eine Reihe kleiner Gestalten, nicht höher als Pilze, schoß zwischen den Blättern empor. Aber die Gestalten wuchsen und streckten sich wie Drachenzähne, so daß innerhalb von Sekunden eine Reihe Soldaten zwischen ihr und dem geheimnisvollen Angreifer stand. Es waren vierundzwanzig, so wie sie es befohlen hatte. Die braungebrannten schwarzbärtigen Männer waren in silberne Schuppenpanzer, rote Kilts und rote Umhänge gekleidet und trugen Sandalen an den Füßen. Jeder von ihnen war mit einem runden Buckelschild, einem Kurzschwert und zwei Wurfspeeren bewaffnet, die mit Riemen auf dem Rücken befestigt waren. Während die Männer unsicher blinzelnd in die Dunkelheit spähten, marschierte der Hauptmann - wie war 334
noch sein Name? - auf sie zu, um Befehle entgegenzunehmen. Er war kaum zwei Schritt weit gekommen, als plötzlich ein Feuerball die Nacht erhellte und aus zwei Richtungen Kriegsrufe ertönten. Die Soldaten duckten sich, um nicht getroffen zu werden, und blinzelten in das gleißende Licht. Ein weiterer zischender Feuerball schoß in einem Bogen kaum fünfzehn Schritt über ihren Köpfen auf das Lager zu und explodierte in einiger Entfernung auf dem Waldboden. Eine Esche flammte wie eine Fackel auf, als eine pechartige Substanz brennend an ihrer Rinde herabtropfte. Wenige Sekunden später fauchte ein dritter Feuerball aus der Richtung des Kraters heran, und dieser explodierte so nahe, daß die Männer zur Seite springen mußten. Die trockenen Blätter fingen Feuer. Wieder erklang das vielstimmige Kriegsgeschrei, vermischt mit gellendem Johlen und den Triumphrufen von Männern und Frauen. Der rote Hauptmann ließ Dacian einfach stehen, sprang ans Ende seiner Linie und befahl den Soldaten, Paare zu bilden. Die Männer gehorchten instinktiv, obwohl das siegesgewisse Gebrüll ihrer Feinde sie vor Angst erbeben ließ. Am anderen Ende der Linie brüllte ein Weibel dem Hauptmann entgegen, daß die Flanken ebenfalls in Gefahr waren. Ein Pulk Kavallerie donnerte aus dem Osten heran. In vorderster Front galoppierte ein riesiger muskelbepackter Kentaur mit geriffeltem Brustpanzer und geschlossenem Helm. Obwohl einer seiner Arme in einer Schlinge vor der Brust lag, grollte er aus Leibeskräften und legte seine zwei Armspann lange Lanze an. Neben ihm ritten Kriegerinnen und Krieger mit schwingenden Säbeln, Äxten und Langschwertern. Außer zweifarbigen um den Oberarm gewickelten Tuchfetzen trugen sie keine besondere Uniform. Nein, dachte Dacian, das war unmöglich! Niemand 335
konnte eine so große Streitmacht so rasch beschworen haben, ohne daß sie die Störung im Manafluß bemerkt hätte! Es war unmöglich! Der rote Hauptmann verschaffte sich einen schnellen Überblick: Sie standen zwanzig in drei Linien gestaffelten Feinden gegenüber. Falls die Angreifer an den Flanken genauso viele waren... Sie waren es. Ein weiterer Kentaur, schlanker, aber genauso groß, führte einen Trupp Männer und Frauen in grauen mit Rabenfedern besetzten Umhängen an, und hinter ihnen kamen weitere Soldaten mit grünen Armbändern, sicherlich ebenfalls zwanzig. Als Veteran mit jahrzehntelanger Schlachterfahrung wußte der Hauptmann, wann es Zeit zum Rückzug war. »Geht in Deckung! In Paaren! Rette sich, wer kann! Nehmt im Morgengrauen neu Aufstellung! Im Norden!« Wie Kaninchen, die vor einem Rudel Löwen davonstoben, stürmten die roten Soldaten jeweils zu zweit auf die nächstbeste Deckung zu: hinter Bäume, unter Wagen, hinter Zelte und in dichtes Buschwerk. Die Kavalleristen auf ihren vor Aufregung schnaubenden und schäumenden Pferden teilten sich auf, um ihnen nachzusetzen, und johlten, während sie die Männer tiefer in den Wald hineinjagten. Dacian ballte so fest die Fäuste, daß sie sich mit den langen Fingernägeln in die Handfläche schnitt. Bei Shaitans blutiger Stirn, das waren ihre Kentauren! Sie hatte sie in den grünen Landen nahe des Honigmeeres angeworben - sie hatte sie >eingefangen< -, und nun führten sie den Angriff auf ihre roten Soldaten an und verscheuchten sie wie Mäuse! Bei den Augen der Götter, sie würde irgend jemanden für diese Erniedrigung töten... Ein knirschendes Krachen und ein quietschendes Stampfen ließen die Erde unter ihren Füßen erbeben, und Dacian fuhr herum. Sie hielt sich am Wagen fest und wagte einen Blick. Im Licht der brennenden Esche sah sie zwei riesige Gestalten aus der Dunkelheit auf sie 336
zupoltern. Einer von ihnen hatte zwei Köpfe - der tumbe Riese, den sie für ein Faß Wein gekauft hatte! Ihm war doch der Arm abgebissen worden! Doch hier kam er, mit einer langen Keule an seinem Stumpf, und neben ihm stelzte - verdammt, dreizehnmal verdammt! - das mechanische Untier, das sie in einer Schlucht in den Hochebenen gefunden hatte! Und jetzt wagten die beiden es, sie anzugreifen! Aber wie hatte man sie beschworen? Es war unmöglich! Doch in Wahrheit konnte Dacian es nicht fassen, daß diese Truppen aus freiem Willen hier waren, begeisterte Freiwillige, weder beschworen noch zum Kampf gezwungen. Zu spät bemerkte die Zauberin, daß sie allein war. Ihr Gefolge war verschwunden, und die roten Soldaten waren zwischen den Bäumen untergetaucht. Es war Zeit, das Weite zu suchen, solange sie noch konnte. Sie kannte einen Ort, an den sie sich zurückziehen konnte, einen ihrer Lieblingsplätze: eine mittelgroße Stadt in den Tieflanden, in der jeder Mensch mit einem vollen Geldbeutel willkommen war. Zu dumm, daß sie die Wagen nicht mitnehmen konnte... Als sie in ihrem Beutel wühlte, fand sie eine Münze, die sie aus dem Springbrunnen der Stadt gefischt hatte. Um ihre Gedanken zu ordnen, blickte sie starr geradeaus und spürte, wie sie eine wohltuende Ruhe überkam. Es war nur ein kurzer Sprung, und schon fühlte sie, wie ihre Füße kribbelten und sie langsam schrumpfte... Dacian fielen fast die Augen aus den Höhlen, als irgend etwas vor ihr aufflackerte: Ein Streifen Mondlicht verdichtete sich plötzlich zu einer Gestalt, und vor ihr standen - zunächst grau wie die Nacht, dann plötzlich in allen Farben aufleuchtend - zwei Gestalten: eine kleine Frau mit zerzaustem Haar, schlichten, ausgeblichenen Kleidern und einem zerrissenen Schal, der mit ihren Artefakten verziert war, und ein riesiger Mann in Hirschle337
dertunika und engen roten Beinkleidern, mit einer schweren zweischneidigen Holzfälleraxt in der Hand. Sie tauchten kaum zwei Schritt von Dacian entfernt auf. Ein Tarnzauber, dachte sie. Sie hatten die ganze Zeit in der Nähe gestanden und mich beobachtet, und ich habe nichts davon bemerkt! Die kleine Frau mit dem wilden Aussehen einer Druidin trug einen Steinhelm unter einem Arm und legte die freie Hand sanft auf Dacians Schulter. Die Zauberin war zu überrascht, um sie abzuschütteln, und mit dieser leichten Berührung löste sich Dacians Zauber wie ein angenehmer Traum auf. Knurrend schlug die Magierin die Hand der Druidin von sich, doch der große Mann packte sie an den Oberarmen und hielt sie in die Luft. Gefangen! Während Dacian sich wehrte, setzte die Druidin ihr den Steinhelm auf das glänzende schwarze Haar, und plötzlich brach eine Lawine aus Tausenden von Bildern auf sie nieder, und tausend Befehle, sich zu unterwerfen gellten in ihrem Kopf... Dann verlor sie das Bewußtsein. »Also haben wir wieder einmal gesiegt!« stellte Greensleeves fest. »Es fühlt sich gut an. Endlich haben wir etwas Handfestes vorzuweisen.« »Ich bin zufrieden«, brummte ihr Bruder, als er die erstarrte Dacian absetzte, »aber nicht glücklich. Diese Hexe hat gegen Towser gekämpft und dabei geholfen, unsere Heimat zu zerstören. Genausogut hätte sie es sein können, die den Steinregen niedergehen ließ und die Pestratten auf uns ansetzte!« Greensleeves schüttelte belustigt den Kopf. »Du hast am lautesten protestiert, als ich denselben Helm Haakon aufgesetzt habe.« »Na ja...« Gull wurde kleinlaut. »Aber ich hab geglaubt, du warst einfach nur hochmütig und gefühllos und wolltest den Helm ausprobieren, ohne Rücksicht 338
darauf zu nehmen, ob dein Opfer dabei den Verstand verliert, wo du ihn doch selbst noch nicht ausprobiert hattest.« »Ich war tatsächlich hochmütig und gefühllos, und ich hatte unrecht, aber die Götter haben es mir mit Güte vergolten, denn später mußte ich den Helm aufsetzen, um euer aller Leben zu retten. Eine passende Strafe für Hochmut und eine sichere Heilung. Sprich jetzt nicht mehr davon!« »Trotzdem! Wir sollten nicht vergessen, was Dacian uns angetan hat. Wir schulden ihr wirklich keine Freundlichkeit.« »Aber Freundlichkeit ist alles, was wir haben«, widersprach Greensleeves. »Wenn die Magier so auf Macht und Zerstörung aus sind, müssen wir ihnen mit Milde und Nachsicht begegnen. Das ist der einzige Weg, wie wir unsere Feinde besiegen und die Domänen zu einer besseren Welt machen können.« Gull nickte langsam. »Du hast wohl recht. Leuten den Schädel einzuschlagen hilft sicherlich nicht... viel. Ich bin ja nur froh, daß du nicht wie sie geworden bist. Davor hatte ich am meisten Angst - daß du, indem du zaubern lernst, deine Seele verlierst.« Greensleeves lachte - ein fröhliches Geräusch in der klirrenden Nachtluft - und legte die Hand auf den Arm ihres großen Bruders. »Hab keine Angst. Bevor ich wie sie werde, würde ich mein Fleisch in Erde verwandeln und damit den Boden düngen.« Gull grinste und wuschelte ihr durchs Haar. »Vater und Mutter und ganz Weißfels wären stolz auf dich. Aber was machen wir jetzt mit dieser hier?« »Sie auf den rechten Weg bringen oder sie zumindest an die kurze Leine legen.« Greensleeves drehte sich um und rief in die Dunkelheit: »Kwam?« Wie ein Schatten huschte der dunkle Magiestudent an ihre Seite. In letzter Zeit ließ er sie kaum aus den Augen. Sanft legte die Druidin Dacians schlaffe Hand in 339
Kwams. »Bring sie zu Amma, bitte. Sieh zu, daß sie gut zugedeckt wird. Paß auf sie auf.« Der Student lächelte und nickte. Aber Gull hielt ihn zurück, indem er ihm die Hand auf den Arm legte und ein widerwilliges Lächeln zustande brachte. »Der Befehl gilt auch für meine Schwester. Ich will, daß du gut auf sie aufpaßt, ansonsten...« Kwams Lippen verzogen sich zu einem verlegenen Lächeln. Er brachte kein Wort über die Lippen, also führte er Dacian schweigend davon. Ihr Gespräch wurde von einer Reiterin unterbrochen, die auf sie zutrabte. Es war die wiedereingesetzte Kommandeurin Rakel, die allerdings ihre schwarze Lederkluft mit wollenen Gewändern vertauscht hatte. Sie sprang aus dem Sattel. »Holla! Habt ihr gesehen, wie sie gelaufen sind? Und wir mußten nicht einen von ihnen töten!« Rakel freute sich darüber, allen Gefahren glücklich entronnen zu sein und nun wieder ihre Armee befehligen zu dürfen. Sie lachte vor Freude, daß ihr Plan so reibungslos aufgegangen war. Als ihnen klargeworden war, daß es Dacian, die Rote war, die sie angreifen mußten, hatte Greensleeves darauf bestanden, daß so wenig Blut wie möglich vergossen wurde. Denn mit Sicherheit würde Dacian die roten Soldaten beschwören - alte Kameraden von Varrius, Neith und dem verstorbenen Tomas - oder sogar kentaurische Späher, Freunde und Verwandte von Helki und Holleb. Und nach dem Blutvergießen und den großen Verlusten, die die Armee vor kurzem erlitten hatte, verlangte es niemanden nach mehr. »Das hast du gut gemacht, Rakel. Wie üblich.« lobte Gull. »Ich bin froh, daß du den Oberbefehl hast und nicht ich. Ich hätte die Hälfte der Armee in den Krater geführt und die andere Hälfte in den Wäldern verloren.« Rakel stellt sich auf die Zehenspitzen und gab Gull einen schwesterlichen Kuß auf die Wange. »Du hättest es 340
genauso gut gemacht. Wir alle haben unsere Aufgaben zu erfüllen, und in den Maschen...« Sie verstummte, als sich kaum drei Schritt entfernt aus dem Nichts ein schwarzer Kokon formte. Wie aus dem Hinterleib einer Spinne schossen seidene Fäden in die Höhe, und das ebenholzschwarze Knäuel wuchs zu der Gestalt eines Menschen heran. Greensleeves tastete nach ihrem Schal, Rakel zog ihr Schwert, und Gull packte seine Axt fester. Der Kokon verfestigte sich und riß dann an einer Seite auf, als wolle er einen riesigen Schmetterling in die Freiheit entlassen. Aber es war ein schlanker Mann in schäbigen Wollhosen und einem blaubestickten schwarzen Hemd. Ein zerrissener Lederumhang hing ihm über den Schultern, und an seiner Hüfte trug er einen Schmuckdolch und einen verzierten Beutel. In seinem knochigen, von der Sommersonne tief gebräunten Gesicht leuchteten zwei grünblaue Augen. Um das linke Auge kräuselte sich ein alte sternförmige Narbe. Sein Blick flammte auf, als er der Szenerie gewahr wurde, und sein Mund verzog sich zu einem häßlichen zornigen Strich. Rakel stockte der Atem. »Garth!«
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»Norreen!« keifte der dunkle Fremde. »Wo ist mein Sohn!?« »Wer ist Norreen?« fragte Gull Rakel und stellte sich schützend vor sie. »Du? Wer ist er?« »Mein Gemahl«, wisperte Rakel. »Gemahl?!« »Du!« Garth deutete auf Gull. »Halt dich von meiner Frau fern!« »Garth!« knurrte Rakel. »Benimm dich!« »Schweig, Verräterin!« donnerte der Magier. Der Hochmut des Mannes entfachte Gulls Zorn. >Schon wieder so ein verdammter Hexer<, dachte er, >der glaubt, wo auch immer er hinkommt, herumkommandieren zu können! < Gull fuhr ihn an. »Ich habe deine Frau aus stinkenden Höllenlöchern gezogen, und sie hat uns zum Sieg verhelfen! Und wo warst du die ganze Zeit!?« »Gull...«, warnte Greensleeves. »Garth...«, warnte Rakel. Aber die beiden sturen kräftigen Männer hatten sich vom ersten Augenblick an nicht leiden können, und beide stürmten aufeinander los, bevor sie noch richtig nachdenken konnten. Garths Hand zuckte zu seinem Beutel, während Gull die Axt hob und angriff. Noch bevor der Holzfäller zuschlagen konnte, hatte Garth bereits einen schwarzen Kokon aus purem Mana vor sich erschaffen und schleuderte ihn wie einen Stein auf Gull. Als habe er sich aus der schwarzen Wolke herausgedreht, stand der Leichnam eines längst verstorbenen Zauberers vor ihm, der so verwest war, daß nur 342
noch vereinzelt Muskelfasern an den modernden Knochen klebten. Er trug eine lange blaue, überraschend gut erhaltene und saubere Robe, die im Fackellicht aussah, als sei sie aus unzähligen kleinen Wellen gewoben. Das Ding hob eine grüne verfaulte Hand, die von eitrigen Geschwüren und Maden durchzogen war, und beschwor einen Feuerball von kränklich grüner Farbe. Doch welchen Spruch er auch immer zu weben gedachte, er blieb unvollendet. Greensleeves berührte ein Spinnennetz an ihrem Schal, streckte deutend einen Finger aus, und der Feuerball verflüchtigte sich in einer gelbgrünen Wolke. Gull hatte seinen Ansturm nicht einmal verlangsamt. Seine unbändige Wut verstärkte seine Kraft nur noch. Er spannte die Muskeln und schlug die Axt in einem schimmernden Bogen nach unten. Der untote Zauberer wurde in zwei Hälften gespalten. Ein Knacken wie von Reisig und ein überraschtes Quietschen wie von einer gefangenen Ratte ertönten, als das Ding zu einem Haufen aus Knochen und schimmerndem blauen Stoff zusammenfiel. Aber auch Garth bewegte sich. Er warf eine Handvoll von etwas, das aussah wie schwarze Murmeln, vor sich auf den Boden und brüllte einen Befehl. Bevor der Holzfäller ihn erreichte, krachte er geradewegs in einen unsichtbaren undurchdringlichen Schild. Mit blutender Nase schrie der Holzfäller: »Verrat!« und schlug benommen gegen die Wand, um eine Lücke darin zu finden. Greensleeves berührte ein Büschel Seegras an ihrer Schulter, machte in der Luft eine hohle Hand und neigte sie. Garth wurde von einer Woge aus Seewasser überflutet, die von oben über ihn hereinbrach. Das Wasser füllte den kreisförmigen Schild, den er beschworen hatte, bis zum Rand, denn die unsichtbare Kraftlinien hielten das Wasser wie in einem Glas zurück. Garth schob sich einen glatten Kieselstein in den Mund und atmete das Wasser. Dann zog er einen klumpigen gelbweißen Gegenstand 343
aus seinem Beutel: einen Zahn. Er blies darüber und zielte seinen Atem auf einen nicht weit entfernten Trupp von Reitern. Zwischen den Pferden erhob sich plötzlich ein baumgroßes Monster. Äste brachen, und Blätter regneten zu Boden, als der Koloß den massigen Körper kräftig schüttelte, mit den vier mächtigen Füße auf den Boden stampfte und einen haarigen Rüssel nach vorn schleuderte - ein Kriegsmammut! Es maß sicherlich sieben Schritt Schulterhöhe, so daß selbst Stiggurs mechanisches Holzpferd neben ihm wie ein Zwerg wirkte, und war am ganzen Körper mit zottigem Haar behangen. Das kurzsichtige, durch die wuselnden Gestalten zu seinen Füßen verwirrte Mammut stampfte zweimal auf, so daß der Boden erbebte, hob dann den Rüssel und trompetete so ohrenbetäubend laut, daß ihnen beinahe die Köpfe zersprangen. Die bereits von den gewaltigen Ausmaßen und dem fremden Geruch des Tieres verängstigten Pferde bäumten sich auf, sprangen zurück, fuhren herum, stießen gegeneinander und gegen die Soldaten und galoppierten dann so schnell davon, als wären sie von einem Rudel Löwen gehetzt. Greensleeves dachte einen Moment nach und überlegte, wie sie mit möglichst wenig Aufwand das beste Ergebnis erzielen konnte. Das Mammut durfte auf keinen Fall das Lager und die Troßleute überrennen. Stiggur lenkte sein Holzpferd seitwärts auf das Mammut zu, während Liko neben ihm herstapfte. Greensleeves befürchtete, daß sie vielleicht verletzt werden könnten, also entschied sie, das Tier nach Westen zu treiben. Sie berührte einen Klumpen aus verbranntem und verdrehten Metall auf ihrem Schal, schnippte mit den Fingern und warf einen Feuerball, der zwischen den toten Ästen einer weißen Eiche explodierte. Die winzigen schwarzen Augen des Mammuts glitzerten, als Äste, Blätter und alte Vogelnester kaum vier 344
Schritt über seinem Kopf Feuer fingen. Funken regneten auf das fettige stumpfe Fell des Tieres, flammten kurz auf und verloschen. Aber das Feuer und der kurze, sengende Schmerz reichten aus, um das Tier in Panik zu versetzen, so daß es sich umdrehte und zurückwich, einen kleinen Birkenhain in den Boden stampfte und schließlich nach Westen in die Nacht davonstürmte. Mit einer raschen Handbewegung löste Garth den unsichtbaren Schild wieder auf, so daß ihm das Seewasser um die Füße schwappte. Alle wurden naß, bis auf den Magier, der durch seinen > Kieselstein-Zauber< geschützt war. Rakel zog ihr Schwert halb aus der Scheide, befahl den Streithähnen, den Kampf einzustellen, und fluchte, wie nur eine Armeekommandeurin fluchen konnte. Wütend und angeekelt entschied sie sich schließlich dafür, sie kämpfen zu lassen, damit sie Dampf ablassen konnten, schob das Schwert zurück in die Scheide und stemmte wütend die Hände in die Hüfte. Gull hob die Axt, um sich ein wenig zu schützen, packte Garth am Kragen und schüttelte ihn wie einen jungen Hund. Dabei war er sich nicht sicher, was er überhaupt von diesem Mann wollte. Er wußte nur, daß er ihn nicht töten durfte, da er offenbar Rakel viel bedeutete. Ein kräftiger Faustschlag aufs Kinn jedoch... Der in der Luft zappelnde Garth berührte Gull mit einem Finger, der in getrocknete Aalhaut gewickelt war. Der Zauber erschütterte Gull bis ins Mark. Stromstöße schossen durch seinen Körper, die Haare standen ihm zu Berge, die Augen traten ihm aus den Höhlen, Funken sprangen zwischen seinen Zähnen über, und all seine Muskeln zuckten in irrwitzigen Krämpfen. Doch er hielt verbissen fest, so daß Garths Kopf von Gulls Zuckungen wild hin und her geschüttelt wurde und die Konzentration ihn verließ. Der Zauber brach zusammen. Knurrend packte der zittrige Holzfäller die Kehle des Magiers und drückte zu. Rakels Gemahl hin, Rakels Ge345
mahl her, er würde diesem Zauberlehrling ein paar Knochen brechen und ihm eine Lektion erteilen... Ein Hieb warf ihn zur Seite, und tierisches Geheul drang an seine Ohren. Neben ihm standen zwei Berserker, ein riesiger Mann und eine ebenso große Frau. Ihr zottiges Haar war notdürftig mit Leder- und Fellfetzen bedeckt, und in den Händen hielten sie riesige Steinkeulen schlagbereit erhoben. Der Wahnsinn flackerte in ihren Augen - sie hatten darauf verzichtet, einen tödlichen Hieb gegen Gulls ungeschützte Seite anzubringen, sondern hatten ihn lediglich mit den Schilden beiseite gestoßen. Gull roch den fauligen Atem des Mannes, als sich dieser gegen ihn drängte und mit seinen abgebrochenen Zähnen nach dem Gesicht des Holzfällers schnappte - nur einen Fingerbreit näher, und er hätte ihm die Nase abgebissen. Gull knurrte ebenfalls und riß die Axt hoch, um den Hieb einer Steinkeule zu parieren. Er trat nach der Frau, um sie von sich abzudrängen, doch aus den Augenwinkeln sah er, wie die Keule über seinem Kopf kreiste, um ihm den Schädel zu zerschmettern... Rakel brüllte auf und riß ihr Schwert aus der Scheide. Sie schmetterte die Klinge gegen die Keule der Frau, doch der Berserkermann warf sie mit seinem Lederschild um, als sei die Kriegerin ein morscher Baum... Garth sah, daß seine Gemahlin jeden Augenblick durch einen Keulenhieb getötet werden konnte, und brüllte eine Warnung... In dem Augenblick klatschte ein ganzer Ozean auf die Menschen herab und warf sie flach zu Boden. Greensleeves hatte diesmal etwas beschworen, das einer Flutwelle alle Ehre machte: Blätter wurden davongespült, und Lehm spritze nach allen Seiten, als der verbissene Kampf ein nasses Ende fand. Der ganze Boden war ebenso wie die wütenden Streithähne mit schäumendem Seewasser bedeckt. Selbst die am Rande stehende Greensleeves war bis zu den Knien durchnäßt. 346
Ein Oktopus wickelte seine Tentakeln um den Fuß der Druidin. Sie bückte sich, berührte ihn und beschwor ihn nach Hause. Die halb ertrunkenen und völlig durchweichten Menschen schnappten nach Luft wie Fische auf dem Trockenen. Greensleeves berührte eine Feder an ihrem Schal und wirkte einen Schlafzauber über das Berserkerpaar. Als sich Gull, Garth und Rakel mühsam auf die Knie rappelten und sich instinktiv nach ihren Feinden umsahen, rief Greensleeves: »Keine weiteren Torheiten, bitte! Es ist an der Zeit zu reden!« Zitternd funkelten sich die drei finster an und nickten. Garth, Rakel, Gull, Lily und Greensleeves saßen in Decken gehüllt am Lagerfeuer und sprachen miteinander, während der Rest der Armee - außer den Wachtposten - in respektvollem Abstand ihren Worten lauschte. Sie warfen sich gegenseitig Anschuldigungen, Beleidigungen und Drohungen an den Kopf, und es dauerte eine Weile, bis sich die Gemüter beruhigten und gemäßigtere Töne angeschlagen wurden. Rakel - oder Norreen, wie Garth sie nannte -, die daran gewöhnt war, eine ganze Armee zu befehligen, ergriff das Wort. Der in einen wollenen Umhang gehüllte Hammen saß während der ganzen Zeit auf ihrem Schoß und starrte mit weitaufgerissenen Augen auf seinen Vater, der wie ein Gespenst aus dem Äther zurückgekehrt war. »Garth, du hast deinen Hof und deine Weinstöcke und mich und Hammen verlassen, um deiner verdammten Magie nachzujagen, und das weißt du! Du hast mir deine Liebe entzogen und sie dafür der Magie geschenkt, und auch das weißt du verdammt genau! Du weißt es genauso wie ein Trunkenbold es weiß, daß er den Wein liebt und alles andere nur für eine weitere Flasche aufgeben würde! Du hast allzu lange mit der Magie gespielt, dich darin gesuhlt, sie gegessen, sie getrunken 347
und mit ihr geschlafen, und immer noch wolltest du mehr! Und während du die Dimensionen nach Magie durchwühlt hast wie eine Ratte den Unrat, haben ich und Hammen gelitten! Dank deiner >Hilfe
kam sich deswegen wie eine Närrin vor, konnte jedoch nicht aufhören. »Gull, Greensleeves, Lily, Stiggur, Varrius, Neith und alle anderen, vom kleinsten reisigsammelnden Kind bis zur teppichwebenden Greisin, haben gearbeitet, sich geschunden, geübt, gekämpft und sind fast dabei umgekommen - und viele sind es auch! -, um die Domänen vom Hochmut, von der Herrschaft und der Grausamkeit der Zauberer, die ihre Zauberkraft für dunkle Zwecke mißbrauchen, zu befreien. Und was finden sie, nachdem sie gerade eine weitere gemeine Hexe unschädlich gemacht haben?! Ausgerechnet dich! Du platzt hier herein und wirfst mit Anschuldigungen und Sprüchen um dich, um deine eigene Schuld zu vertuschen! Denn du bist schuldig, hochmütig und gefühllos! Und tief im Inneren weiß dies auch der Held, der damals nach Estark zurückkehrte, um die hochmütigen Bastarde, die sich gegenseitig die Astralkraft stehlen, für ihre Sünden zu bestrafen! Also«, schloß sie heiser, »wirst du nun zugeben, daß du mich und Hammen im Stich gelassen hast, und nur danach gierst, dich selbst zu erhöhen!? Willst du dich nun bei dieser Armee - unseren Freunden - für deine Schikanen entschuldigen!? Oder willst du weiterhin deine erhobene Nase zwischen den >besseren Leuten< spazierentragen, die Menschen als Vieh und >Schachfiguren< verachten und sich selbst als Götter verherrlichen?« Eine lange Pause folgte, so still wie die Nacht vor Tagesanbruch, und die gesamte Armee schien den Atem anzuhalten. Rakels Worte klangen in Garths Ohren. Einst war er beinahe ein Gott gewesen. Er hatte um das Vorrecht gekämpft und es dann aufgegeben, um wieder ein Mensch zu werden. Was hatte er seitdem falsch gemacht? Der schwarzgekleidete Magier mit der sternenförmigen Narbe dachte lange Zeit nach. Dann setzte er 349
den Tonbecher ab und stand auf. Gull, dem die drohende Stille nicht gefiel, packte seine Axt fester und spannte die Beine zum Sprung. Aber Garth drehte sich zu seiner Frau und seinem kleinen Sohn um. Ernst sprach er: »Du hast recht, Norreen, und ich hatte unrecht. Ich bin durch den Äther gereist und habe zwischen den Welten geschwebt. Es gibt Wunder da draußen, die du dir niemals vorstellen könntest. Geheimnisse, jenseits von Schönheit und Tod, Dinge... Aber lassen wir das. Wenn ich in dein wunderschönes Gesicht schaue und in die neugierigen Augen meines Sohnes, wird mir klar, daß es nur Dinge und Orte sind. Doch was wirklich zählt in dieser und in allen anderen Welten, sind Menschen. Es tut mir leid, daß ich dich im Stich gelassen habe, Norreen, und dich, Hammen. Es ist... so lange her... seit ich mich als menschliches Wesen gesehen habe, und nicht als Zauberer, so lange her, seit ich in den Sumpf der Magie gezogen wurde. Aber ich werde abschwören, ein für allemal und bitte dich um Vergebung...« Der Rest seiner Worte war nicht mehr zu hören, denn Rakel warf sich ihm in die Arme und drückte ihn fest an sich. Der Junge küßte den dunklen Kopf seines Vaters und rief: »Papa!« Rakel weinte vor Glück, und aus Garths beiden Augen, dem gesunden und dem nachgewachsenen, flössen Tränen seine schmale Nase herab. Alle im Lager lachten, jubelten, schnieften und wischten sich die Augen. Während Greensleeves still lächelte, nahm Lily Gulls Hand, und er drückte sie sanft. Aber wie stets bei einer Armee, gab es noch tausend Aufgaben zu erfüllen und tausend Fragen zu klären. Da Garth in frühen Jahren als einäugiger Vagabund weit durch die Domänen gewandert war, konnte er viele Lücken in den Karten der Kartographen füllen und viele Fragen beantworten. Auch waren ihm die meisten Geschichten und Legenden, die die Bibliothekare aufge350
zeichnet hatten, bekannt, und er konnte einige Ungereimtheiten ausräumen. Den Kentauren Helki und Holleb machte Garth eine besondere Freude, denn er kannte die Länder südlich von Gish und das Honigmeer, so daß er ihre Heimat - die Grünen Lande - auf der Karte einzeichnen konnte. Eines Nachmittags verabschiedete sich das eheliche Spießgespann unter strömenden Tränen, mit ausgiebigem Händeschütteln und zahlreichen Umarmungen. Garth hob die Hände, wob schwarze Netze um die beiden und schickte sie heim. Er hatte versprochen, die Kentauren nach einer Woche zurückzubeschwören, um zu überprüfen, ob sie tatsächlich ihr Heimatland und ihren Stamm wiedergefunden hatten, aber Greensleeves und Gull glaubten, daß sie ihre vierbeinigen Freunde nie wiedersehen würden, und waren darüber zu Tode betrübt. Da Garth unzählige Länder bereist hatte, konnten noch viele Entwurzelte in ihre Heimat zurückkehren. Auch Dacian und Haakon, die durch den Steinhelm zum Gehorsam gezwungenen waren, wurden vor die Karten gezerrt, damit sie die Gegenden benannten, die sie erkundet hatten. Die Kopfwunden des >Königs der Ödlande< waren durch die Pflege der Heilerinnen gänzlich verheilt, und er hatte seine alte Stärke wiedererlangt. Jedoch fehlte ihm ein Auge - für immer. Verdrießlich knurrend zeichnete er die meisten Gebiete im Norden des Kontinents ein, während Dacian mit den glänzenden Haaren, die aus dem Nordosten stammte, verbittert die Lage von Hügeln und Gebirgen jenseits von Weißfels erläuterte. Viele weitere Inseln und Kontinente wurden eingezeichnet, obwohl die beiden Zauberer sie nur >übersprungen< hatten und daher nur wenig über sie zu berichten wußten. Dacian zeigte ihnen die südliche Halbinsel, auf der sie die roten Soldaten Varrius, Neith und den verstorbenen Tomas angeheuert hatte, sowie das Archipel, auf dem sie Liko gefunden hatte 351
und auf dem - wie sie berichtete - noch weitere Riesen lebten, allerdings nur einköpfige Riesen. Dann wurden viele treue Weggefährten und tapfere Kriegerinnen unter Tränen und herzlichen Umarmungen verabschiedet. Mit einer Handbewegung ließ Garth wieder schwarze Spinnennetze entstehen, sandte die roten Soldaten, den Riesen und viele weitere Soldaten und ihre Familien heim, die in den Kriegen der Magier gestrandet waren. Eines Nachts saß Gull stirnrunzelnd vor dem Zelt seiner Schwester und polierte seine Axt. »Merkst du das? Wir waren zu erfolgreich. Unsere Armee hatte zwei Ziele: Magier von ihren Verwüstungen abzuhalten und die Heimatländer unserer Freunde zu finden. Wir finden also ihre Länder, schön, und sie trotten heim wie Kühe zum Melken. Bald werden du und ich alles sein, was von dieser Armee übrigbleibt - nicht gerade eine große Streitmacht.« Da sie nicht genau wußten, was sie mit den gefangenen Zauberern machen sollten, beschloß Greensleeves schließlich, sie gehen zu lassen. »Bist du wahnsinnig!?« fragte ihr Bruder sie eines Nachts am Lagerfeuer, als sie beratschlagten. »Nach all dem Ärger, den wir hatten? Nach all den Verlusten, die wir erlitten haben, als wir sie gefangensetzten? Und du reibst dir nur die Hände und läßt sie gehen? Das ist so, als würde ein Schafhirte Wölfe befreien!« Greensleeves schüttelte den zerzausten Kopf. »Es gibt keinen Grund, sie festzuhalten. Wir haben ihnen Fußeisen angelegt und sie meinem Willen unterworfen, und ich mag beides nicht, obwohl es nötig war. Wir können sie sicherlich nicht töten. Aber da sie meinem Willen unterworfen sind, kann ich sie jederzeit zurückholen und sie Zeugnis darüber ablegen lassen, was sie getan haben. Falls es Unheil war, können wir uns darum kümmern. Wir werden ihnen die Möglichkeit geben, sich zu 352
bewähren, und wir werden sie wohl oder übel von Zeit zu Zeit überprüfen. Wer weiß? Vielleicht lernen sie tatsächlich Demut, sehen die Dinge aus der Sicht derjenigen, die sie versklavt haben, und entschließen sich, uns zu helfen. Ich würde also sagen, wir lassen sie gehen.« Gull nörgelte. »So lange Wölfe Zähne haben, werden sie Fleisch fressen. Aber schön, ich hasse Magie. Das ist deine Aufgabe.« Auf der Stelle wurden Dacian, die Rote, und Haakon, der selbsternannte >König der Ödlande<, herbeizitiert. Wie eine gnädige Königin befahl Greensleeves den Zauberern, >sich zu benehmen< und ließ sie frei. Dacian und Haakon waren völlig überrascht über ihre Freilassung, denn beide hatten gefürchtet, zuerst ihres Manas und ihres Wissens beraubt und danach hingerichtet zu werden. Nun machten sie sich so schnell sie konnten aus dem Staub. Um die Wirksamkeit ihres Banns zu überprüfen, beschwor Greensleeves sie in der nächsten Nacht wieder herbei. Der erdbeschmierte und wütende Haakon erklärte, daß er nach seiner Rüstung gegraben habe, und Dacian war stockbetrunken, da sie versucht hatte, die Sorgen über ihre unsichtbaren Ketten in irgendeiner mittelländischen Stadt in Wein zu ertränken. Gull war nun teilweise zufriedengestellt, und Greensleeves >entschwor< die beiden wieder. »Verrückt«, brummte ihr Bruder. »Irgend jemand ist hier verrückt wie eine Eule. Aber ich will verflucht sein, wenn ich weiß, wer.« Genau sieben Tage später erwartete die Armee eine Anzahl von Überraschungen. Garth ging zu einer Lichtung, und Gull, Greensleeves, Lily, Rakel und Hammen sowie viele Mitglieder der kleiner gewordenen Armee folgten ihm, um ihn zu beobachten. Alle hofften, Holleb und Helki wenigstens ein 353
letztes Mal zu sehen und zu erfahren, daß sie glücklich waren. Aber aus dem schwarzen seidigen Nichts materialisierten sich zuerst ein, dann zwei und schließlich fünfzig schnaubende, stampfende, bemalte und glänzende Kentauren mit gefiederten Lanzen. Zwei der Stammesmitglieder lösten sich sofort aus der Gruppe und galoppierten auf die erstaunten Betrachter zu. Helki und Holleb sahen in ihrem neuen Kriegsgeschirr, ihren frisch bemalten Speeren, den polierten Rüstungsteilen und ihrem glänzenden rotbraunen Fell prächtig aus. Sie hielten vor Gull an und salutierten förmlich, grinsten jedoch verschmitzt, als sie die Helme abnahmen. »Greensleeves, Gull, Lily! Rakel, du besonders! Sieh, was wir bringen! Wir finden unseren Stamm, Windreiter von Grünlanden! Und machen viel Weinen und Freude! Sehen Eltern, Brüder, Schwestern! Erzählen unsere Abenteuer und von Mission! Wie ihr Opfer macht um Zauberer aufhalten! Und unser Volk, alle, wünschen, mit Armee kämpfen!« Ein überraschtes Schweigen folgte diesen Worten, bis Stiggur plötzlich seinen Kriegsschrei ausstieß und alle damit erschreckte: »Jucheeee!!! Nichts kann uns mehr aufhalten!! Wir können jede Armee in den Domänen besiegen!« Dann brüllten alle, einschließlich der Kentauren, so laut durcheinander, daß der Schnee von den kahlen Ästen der winterlichen Bäume herabrieselte. Einige Zeit später beschwor Garth Varrius und Neith, und sie berichteten die gleiche Geschichte. Allzu lange waren die Berufssöldner von Magiern belogen und ausgenutzt worden, und nun wollten die roten Soldaten für einen Lohn, der gerade zum Leben reichte, Greensleeves und Gulls Armee beitreten. Wie viele? Wie viele wollten sie? Varrius hatte mit fünf Zenturien - Kompanien aus jeweils hundert Männern - gesprochen und hatte die Freiwilligen kaum noch zählen können. Gull konnte nur 354
noch grinsend den Kopf schütteln und äußern, daß er darüber nachdenken müsse. Viele Soldaten kehrten mit ähnlichen Neuigkeiten zurück. Wo auch immer sie auftauchten, wollten sich einfache Leute einer Armee anschließen, die sich dem Ziel verschrieben hatte, Zauberer aufzuhalten, und sie unterstützen, denn alle hatten unter der Tyrannei der Magier gelitten. Einige Rückkehrer versprachen nur fünf oder sechs Freiwillige - all die gesunden und kräftigen Männer und Frauen ihres Dorfes -, während andere berichteten, daß sie von hundert waffenschwingenden, kampfeslustigen Freiwilligen beinahe überrannt worden wären. Gull legte die Stirn in tiefe Falten und versuchte die Zahlen, die Kwam als Schreiber zusammenrechnete, sich überhaupt nur vorzustellen. »Wie sollen wir all diese Leute nur durchfüttern?« Auch Liko kam mit tränenüberströmten Gesichtern zurück. Er war einsam zu Hause und vermißte seine Freunde - ob er bleiben dürfe? Gleichzeitig weinend und lachend tätschelte Greensleeves ihm die verbliebene Hand und versicherte ihm, daß sie sich darüber freute. Aber dann, wie zum Ausgleich für all die guten Neuigkeiten, machte eine traurige Nachricht die Runde. »Wir werden euch verlassen«, teilte Rakel Gull und Greensleeves in der Zurückgezogenheit des Druidinnenzeltes mit. »Verlassen?!« brüllten die Geschwister. In Rakels Augen standen Tränen, als sie nickte. »Ja. Garth und ich und auch der kleine Hammen haben bis tief in die Nacht hinein geredet. Ich habe das Söldnerinnenleben satt. Nie habe ich mehr als nur ein paar friedliche Jahre erlebt, und ich möchte endlich zur Ruhe kommen. Aber ich werde nicht wieder fett werden und aus der Übung kommen, schließlich muß ich meinem Sohn beibringen, ein Krieger zu werden. Und meinen anderen Kindern, wenn wir welche bekommen.« 355
»Ich«, fügte Garth hinzu, »werde, wie versprochen, der Magie abschwören. Nun ja, ich werde vielleicht die Weinstöcke etwas antreiben oder ein bißchen Regen herbeizaubern. Außerdem muß ich Schutzzauber um unser Haus errichten, falls Benalia mal auf einen Besuch vorbeikommt - obwohl ich das bezweifle, nach Gulls Lektion im Holzfällen.« Er grinste und tätschelte den Kopf seines Sohnes. Mit mühsam zurückgehaltenen Tränen nahm Rakel Gulls rauhe Hände in die ihren. »Danke für deine Hilfe. Bei allem. Danke, daß du dich um mich gekümmert hast und mich... liebst. Mehr kann ich dazu nicht sagen.« Gull schluckte und tätschelte ihre schwieligen kräftigen Hände. »Danke, daß du unsere Armee auf Vordermann gebracht hast. Ohne dich hätten wir keinen Sieg errungen. Die Armee wird dich vermissen. Sie lieben dich... auch«, fügte er hinzu. Rakel zuckte mit den Schultern und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Kommandeure wechseln wie das Wetter. Jeder kann Befehle geben. Es ist das Herz einer Armee, das zählt. Und diese Armee kämpft in einem Kreuzzug, wie ihn die Domänen noch nie gesehen haben. Mögen die Götter eure Wege segnen.« Garth räusperte sich und hob seinen stoppelhaarigen Sohn auf die Schultern. Der Junge jauchzte vor Vergnügen. »Wir müssen gehen. Es gibt viel zu tun, bevor die Frühlingsregen einsetzen.« Gull streckte ihm die Hand hin, und nach kurzem Zögern ergiff Garth sie und schüttelte sie kräftig. Der Holzfäller sagte: »Solange es Kriege gibt, setzen sich alte Soldaten niemals zur Ruhe, habe ich gehört.« Garth lachte leichtherzig. »Dann hast du was Falsches gehört, denn alte Soldaten setzen sich dauernd zur Ruhe. Entweder auf einem Hof oder im Grab, und dennoch gehen die Kriege weiter. Aber wenn du uns brauchst, ruf uns. Wir würden uns geehrt fühlen, euch zu helfen. Aber vielleicht könnt ihr hiermit etwas anfangen.« 356
Er verlagerte das Gewicht seines Sohnes, zog seinen magischen Beutel über den Kopf und reichte ihn Greensleeves. Auf ihre erstaunten Einwände antwortete er: »Behalte ihn. Er ist größer, als er aussieht und enthält vieles, was dir vielleicht bei eurer Mission hilfreich ist. Ich brauche ihn nicht mehr. Ich habe alles, was ich brauche, bei mir.« Während Hammen auf ihm herumturnte, nahm er Rakels Arm und zog sie sanft an seine Seite. Rakel sagte mit erstickter Stimme: »Auf Wiedersehen, ihr alle!« »Auf Wiedersehen!« antworteten der General der Armee und die Wächterin der Magie. Garth schnippte mit den schlanken Fingern, und schwarze Spinnweben sponnen sich um die drei. Als der seidige Kokon auseinanderfiel, war er leer. Als Gull aus dem Zelt heraustrat, wartete Lily bereits auf ihn. »Ist sie weg?« Gull nickte. »Zurück auf ihr Weingut. Mit ihrer Familie. Ich hoffe, sie sind glücklich.« »Das hoffe ich auch.« Lily nahm seine Hand und führte ihn weg vom Zelt und außer Sichtweite des Lagers. »Ich möchte, daß sie glücklich bleibt, so daß ich mich an dir erfreuen kann.« Gull kicherte, wurde dann aber wieder ernst. Er hatte Mühe, ihr Gesicht im fahlen Mondschein zu erkennen. »Oh, hast du dich plötzlich entschlossen, mich zu lieben? Und dich zuerst zu lieben?« »Ja, zweimal ja. Jetzt, wo ich fliegen kann und die Fesseln der Erde nach Belieben abstreifen kann, fühle ich mich frei. Also bin ich frei zu lieben. Dich zu lieben.« Gull lächelte. »Ich bin einfach nur froh, daß du glücklich bist.« »Ich weiß. Das macht dich zu einem so besonderen Mann.« »Was meinst du?« Er blieb stehen und starrte auf das 357
Weiß ihrer Kleidung und auf ihr im Schatten liegendes Gesicht. »Daß du dich um Gefühle von anderen sorgst. Ganz besonders um meine. Ich war ziemlich durcheinander, aber du hast die ganze Zeit geduldig gewartet, bis ich meinen Kram sortiert hatte.« Gull zuckte mit den Schultern, aber plötzlich lag Lily in seinen Armen und hielt ihn fest, während ihr parfümiertes Haar seine Nase kitzelte. »Ich werde dich festhalten, Gull, und dich nie gehen lassen! Niemals! Aber halt mich auch, bitte! Manchmal habe ich Angst davonzuschweben.« »Du wirst nicht davonschweben«, flüsterte er sanft. »Du bist stark und rein und gut. Aber ich werde dich so lange festhalten, wie du willst.« »Und ich werde zufrieden sein, dir soviel zu helfen, wie ich kann. Und die Geliebte des Generals zu sein.« Er schmunzelte. »Wie wär's mit der Gemahlin des Generals?« Die junge Frau warf den Kopf zurück. »O Gull! Was für eine Frage!« »Willst du?« Sie starrte ihn an. »Du würdest eine frühere Tänzerin heiraten, eine Hure, die nun auch noch eine Zauberin ist?« »Nein, ich würde dich heiraten, süße liebe Lily, oder... wie heißt du eigentlich richtig?« »Danke daß du fragst.« Lily lachte. »Ich heiße Tirtha. Aber ich mag es, wenn du mich Lily nennst.« Sie lehnte den Kopf gegen seine Brust und umarmte ihn heftig. »Kein Mann hat mich je zuvor darum gebeten, seine Frau zu werden.« »Willst du, daß ich noch mal frage?« drängte er. »Nein! Ich meine ja! Ja, ja, ja, ja, ja!« Dann küßte sie ihn, und er erwiderte ihren Kuß zärtlich. 358
Amma weckte Greensleeves mitten in der Nacht. »Beeil, dich, meine Liebe! Chani stirbt!« Eilig schlüpfte Greensleeves in ihre Pantoffeln, wikkelte sich Umhang und Schal um die Schultern und lief zum Krankenzelt. Vor dem Zelt lag Chani auf einem Lager aus Fichtenzweigen. Amma flüsterte: »Sie hat darauf bestanden, nach draußen getragen zu werden. Sie wollte nicht im Zelt sterben.« Die Worte schnitten tief in Greensleeves Herz, und sie fiel neben den mit Leintüchern bedeckten Zweigen auf die Knie. Im Kerzenlicht sah die alte Druidin noch eingefallener, zerfurchter und bleicher aus denn je. Aber das sanft flackernde Licht enthüllte ebenso, daß Chani einst eine wunderschöne Frau gewesen war - vielleicht vor Jahrhunderten. »Meisterin Chani!« sagte Greensleeves steif. »Bleibt bei uns! Wir brauchen Euch!« Die alte Druidin öffnete nicht einmal ihre Augen. »Wir gehen, wenn wir gerufen werden, Kind. Niemand kann es verhindern, nur hinauszögern. Obwohl das Alter ein hoher Preis dafür ist.« Ihr übliches Krächzen war nur noch ein Wispern wie das Säuseln von Blättern im Wind. »Aber Chani...« Greensleeves begann zu weinen. Die Erzdruidin tätschelte die warme Hand der jungen Frau mit ihrer trockenen rauhen Klaue. »Du weißt viel, Greensleeves. Du wirst einmal eine mächtigere Erzdruidin sein als ich. Man wird Balladen über dich singen, bis die Domänen dereinst in sich zusammensinken und im Feuer vergehen. Du wirst über die Stufe einer Druidin und die einer Erzdruidin hinauswachsen, bis zu... ich weiß nicht was. Gebrauche deine Fähigkeiten weise, nutze die Kraft des Steinhirns und bringe die Domänen wieder ins Gleichgewicht. Aber vergiß niemals, daß auch die kleinste Ameise genauso wichtig ist wie du... nicht mehr, nicht weniger...« Greensleeves wußte nicht, was sie sagen sollte, und so schwieg sie. Tränen rannen ihr über die Wangen und 359
tropften auf ihre und Chanis Hand, die sie fest umklammert hielt. Plötzlich öffnete Chani die Augen und blickte starr geradeaus. Greensleeves schaute auf und erkannte einen Streifen fahlen silbrigen Lichtes. Die Druidin hauchte: »Ich gehe mit dem abnehmenden Mond, aber ich werde über dich und die deinigen wachen. Küß mich nun, Kind, und laß meinen letzten Atem dich durchströmen. Du wirst ihn gebrauchen.« Schluchzend küßte Greensleeves die trockenen, verwelkten Lippen. Und als sie es tat, hörte sie Chani keuchen, sah, wie ihre schlaffe Brust zusammensackte, und sie sog den letzten Lebenshauch der mächtigen Druidin in sich ein. Sie schwankte, denn ihr wurde plötzlich schwindelig. Greensleeves fühlte, wie das Mana sie durchflutete, benebelnder als jeder Wein, betäubender als jeder Schlag und beißender als jeder Schmerz. Nie hätte sie geglaubt, daß überhaupt soviel Mana existierte. Das Brennen strömte von den Lungen durch den ganzen Körper, in die Chakra-Punkte, hinter die Stirn, in die Brust, in die Lenden und in den Bauch: sie quoll über vor Macht! Ja, sie konnte Berge bewegen mit soviel... »Sie ist tot«, stellte Amma fest. Sie dachte an die Wünsche der sterbenden Frau, verzichtete darauf, ihr eine Decke über das Gesicht zu ziehen, und legte ihr statt dessen nur einen Stechpalmenkranz auf die Brust. Greensleeves fühlte, wie die Kraft mit einem Schlag aus ihrem Körper entwich und sie erschöpft und ausgebrannt zurückließ - einsamer, als sie es je zuvor gewesen war. Sie legte den Kopf auf die Brust der alten Druidin und schluchzte hemmungslos. Als ihre Tränen versiegt waren, hörte sie ein Rascheln hinter sich: Es war der sanfte Kwam, der wie stets in ihrer Nähe war. Mit einem leisen Schluchzen stand Greensleeves auf und warf sich in seine Arme. 360
Karli räkelte sich in ihrer Hängematte und ließ die winzigen Füße müßig herabbaumeln. Ihre Haut schimmerte so dunkel wie die von Kerzen erhellte Nacht, und ihr weiches weißes Haar glänzte im Schein des flackernden Lichtes. Gedankenverloren lauschte sie dem Wüstenwind, der seufzend um ihr Zelt strich. Ihre Karawane hatte für die Nacht in einem Wadi haltgemacht, um vor Sandstürmen geschützt zu sein, aber selbst hier unten heulte der Wind. Oft wünschte sie sich, die Kraft dieses Windes einzufangen. Er würde ihr genug Mana liefern, um sie durch das gesamte Wüstenland zu bringen und darüber hinaus. Aber den Wind festhalten zu wollen... Plötzlich war sie hellwach und schoß in die Höhe. Was war das für ein Fauchen? Ein raschelndes Geräusch ertönte in ihrem Zelt. Ihre aufgerissenen dunklen Augen suchten aufgeregt im Licht der drei roten Kerzen die Teppiche und Truhen ab, die um sie herum verstreut lagen. Eine Schlange zischte so, kurz bevor sie zubiß... Nein, was war... Zwei kleine dunkle Gestalten wuchsen zwischen ihren bunten Läufern, als wäre ein Baumstumpf durch den Zeltboden gebrochen... Karli sprang aus der Hängematte und wickelte ihre schmale Gestalt in einen seidenen Morgenmantel. Das Zischen bedeutete, daß sich jemand in ihr Zelt beschwor! Mit einem lauten Schrei rief sie ihre Wächter herbei, und sechs kräftige Teppichreiter stürmten mit gezogenen Säbeln ins Zelt. 361
Inzwischen waren die kleinen Gestalten gewachsen und verfestigten sich zu zwei merkwürdigen Gestalten. Sie entpuppten sich als ein Paar Zauberer, die dicht nebeneinander standen und ihre rechten Hände zum Zeichen des Friedens erhoben hatten. Ein Paar Zauberer? wunderte sich Karli. Wo doch alle Magier miteinander im Wettstreit lagen? Sie ersuchten um einen Waffenstillstand? Wozu? Dies bedurfte weiterer Studien. Mit einer Handbewegung hielt sie ihre Wachen vom Angriff ab. Die schwarzhaarige Frau in dem braunen, gelbgesäumten Gewand sprach Karli in einer ihr bekannten Sprache an. »Seid Ihr die, die man Karli nennt?« »Karli vom Singenden Mond ist mein voller Titel.« »Karli vom Singenden Mond also. Ich bin Dacian, die Rote. Mein Gefährte hier...« Sie deutete auf den riesigen Mann in gold- und silberziselierter Rüstung mit einem gigantischen gehörnten Helm auf dem Kopf - trotz des geschlossenen Visiers konnte Karli erkennen, daß ihm ein Auge fehlte. »... ist Haakon der Erste, König der Ödlande. Wir alle sind Zauberer, und wir sollten miteinander reden.« »Worüber?« fragte Karli und zog den Gürtel ihres Morgenmantels fester. Sie war mißtrauisch, beschloß jedoch, höflich zu sein, und so befahl sie einem Diener, eine Kanne gebutterten Tee zu bringen. Vielleicht erfuhr sie etwas Nützliches - schließlich brauchte eine Zauberin Wissen mehr als alles andere. »Aber setzt Euch doch und sprecht. Ich werde zuhören.« Dacian ließ sich mit verschränkten Beinen auf einem Teppich nieder und nahm eine kerzengerade Haltung ein, während Haakon sich auf ein Knie fallen ließ und einen dornengespickten Handschuh darüberlegte. Die Frau sprach: »Ihr habt in der Vergangenheit gegen die Armee von Gull, dem Holzfäller, und Greensleeves, der Druidin oder Erzdruidin, gekämpft. Haakon und ich haben ebenso eine Schlacht gegen sie geschlagen. Ihr 362
habt nichts gewonnen, und wir haben alles verloren. Wir schlagen vor...« »Woher wißt Ihr das alles?« wollte Karli wissen, während sie auf ihrer Hängematte hin und her schaukelte. »Weil sie es uns erzählten, nachdem sie uns gefangengenommen hatten«, erklärte Dacian geduldig. »Wir erfuhren von Eurem Angriff auf das Lager und daß Ihr fliehen mußtet. Und wir wußten, daß Ihr zu irgendeinem Zeitpunkt das Steinhirn berührt habt...« »Das was? Ich habe kein solches Ding berührt. Ich suchte nach... nun, lassen wir das. Aber...« »Ihr suchtet eine rosafarbene umbundene Kiste, von der Ihr annahmt, daß sie ein Mana-Speicher sei. Sie ist es nicht. Sie ist ein steinerner Helm, der von den Weisen von Lat-Nam erschaffen wurde, um die Brüder zu bezwingen und ihre Raubzüge zu beenden. Natürlich kamen die Narren alle dabei um.« Karli hielt den Atem an, als sie die uralten, für Zauberer heiligen Namen hörte. Verbittert erinnerte sie sich daran, daß sie jene Quelle der Macht nur einen winzigen Augenblick lang festgehalten hatte, bevor sie ihr entglitten war - sie zurückgewiesen hatte. Aber Fragen quälten sie. »Wie...« »Ich werde alles erklären, nachdem...« Dacian hielt eine Hand hoch, »...wir uns geeinigt haben.« »Worüber?« »Haakon und ich wurden von der Armee besiegt, aber noch mehr von jenem Steinhelm, diesem einzigartigen Kunstwerk, dem mächtigsten Artefakt, das je erschaffen wurde. Greensleeves besitzt es nun, denn aus irgendeinem Grunde antwortet es ihr - keine Magierin kann es wirklich beherrschen -, und sie benutzte es, um mich und Haakon >einzufangen<. Und Ihr habt es berührt, denn sonst könnten wir mit Euch nicht in Verbindung treten.« »Mit mir in Verbindung treten?« 363
Dacian nahm eine Tasse Tee von einer zitternden Dienerin entgegen, aber Haakon lehnte ab. Die Magierin fuhr fort. »Nachdem ich von dem Steinhirn eingefangen worden war, konnte ich es spüren, genauso wie Haakon und Euch. Es ist ein Nebeneffekt. Alle, die von ihm eingefangen wurden, können miteinander in Verbindung treten. Ich weiß nicht warum, und ich bezweifle, daß Greensleeves etwas davon weiß, aber wir können es zu unserem Vorteil nutzen.« »Wie? Oh, ich verstehe...« Dacian nippte am Tee und nickte. »Genau. Die Armee von Gull und Greensleeves, dieser Kreuzzug, wie sie ihn nennen, ist zu erfolgreich. Wo auch immer sie hingehen, sammeln sie weitere Freiwillige, genug, um jede beschworene Armee oder selbst eine Horde von Dämonen zu bekämpfen. Haakon verlor ein Auge, als er diese bittere Lektion erhielt. Sie werden damit fortfahren, Zauberer so leicht einzufangen, wie wir schwarzen Lotus einfangen. Könnt Ihr Euch das vorstellen? Wenn sie unsere Kraft unter ihrer Beherrschung haben und es nur noch wenige gibt, die sich ihnen entgegenstellen, werden sie sich zum Kaiser und zur Kaiserin der gesamten Domänen aufschwingen und jedes Lebewesen unter den zwei Monden versklaven. Sie werden wie Götter auf der Erde wandeln, und wir werden weniger als Sklaven sein schlachtreife Kaninchen.« Karli biß sich auf die Unterlippe und nickte. Das war es, was sie mit all dieser Macht täte - nur ohne Kaiser. »Aber was können wir tun?« »Wir können uns vereinigen. Wir können unsere Kräfte bündeln und sie aufhalten, bevor es zu spät ist. Wir können ihre Bücher und Artefakte erbeuten und uns ihre Troßleute gefügig machen. Einzeln schaffen wir es nicht - das wurde uns nun dreimal deutlich vor Augen geführt. Also bleibt uns nur die Einigung oder der Tod. Wir müssen eine Zusammenkunft der Magierinnen und Magier einberufen, um die schlimmste Bedrohung zu 364
beseitigen, die die Domänen je gesehen haben. Seid Ihr dabei?« Karli zögerte und schlürfte nachdenklich ihren Tee, aber Dacian wußte, daß sie einverstanden war. Sie mußte es sein, wenn sie überleben wollte. Dann fügte die schwarzhaarige Magierin hinzu: »Das ist noch nicht alles. Es gibt noch andere Zauberer, die sie bekämpft und denen sie übel mitgespielt haben. Einer von ihnen heißt Towser, und ich glaube, ich weiß, wo wir ihn finden können...«