JOHN E. STITH ZEITSCHICHTEN Roman Aus dem Amerikanischen von NORBERT STÖBE Deutsche Erstausgabe
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JOHN E. STITH ZEITSCHICHTEN Roman Aus dem Amerikanischen von NORBERT STÖBE Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/5968 Titel der amerikanischen Originalausgabe REDSHIFT RENDEZVOUS Deutsche Übersetzung von Norbert Stöbe Das Umschlagbild ist von doMANSKI Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1990 by John E. Stith Erstausgabe: Ace Books, published by The Berkley Publishing Group, New York Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Paul & Peter Fritz AG, Literarische Agentur, Zürich Copyright © 1999 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany Februar 1999 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-13991-7
Für Jean Archibald, Margie und Pete Cotton, Rita und Northwood Kenway und Julie und James Peace. Und für Anette.
Inhalt Hinweise für Passagiere Vorspiel zum Hyperraum Ein Fischessen im Hyperraum Tod im Hyperraum Jäger auf der Redshift Die Tür zum Hyperraum Hyperraumschwimmer Gefangene der Redshift Reise durch den Hyperraum Zielpunkt Xanahalla Odyssee im Hyperraum Vorstoß nach Xanahalla Jasons Flucht Im Untergrund von Xanahalla Die Fallen von Xanahalla Wer kommt denn da gesprungen? Rund um die Redshift ANHANG: Phänomene an Bord der Redshift Wie ich die Redshift erfunden habe Zeichnung Tabellen
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Hinweise für Passagiere ACHTUNG: Lesen Sie vor Betreten der Redshift diese Hinweise. Die Umgebung an Bord eines Hyperraumschiffs ist völlig sicher, solange Sie achtsam sind. Die Direktion weist Sie darauf hin, daß die Lichtgeschwindigkeit an Bord dieses Schiffes zehn Meter pro Sekunde oder etwa ein Dreißigmillionstel des Normalwerts beträgt. Daher werden Sie häufig mit relativistischen Effekten und optischen Sinnestäuschungen zu tun haben. SPIELEN SIE NICHT AN IHREM LIFEBELT HERUM UND VERSUCHEN SIE KEINESFALLS, IHN ZU LÖSEN. DAS FELD, DAS ER ERZEUGT, GESTATTET ES DEN NEUROTRANSMITTERN, MIT NORMALGESCHWINDIGKEIT ZU ARBEITEN, DESHALB IST ER UNVERZICHTBAR FÜR IHRE GESUNDHEIT. 1. Orientieren Sie sich ausschließlich an den offiziellen Borduhren. Verlassen Sie sich nicht auf Ihre Armbanduhren; diese messen zwar Ihre persönliche, subjektive Zeit, stimmen aber erst dann wieder mit anderen Zeitanzeigen überein, wenn Sie sie bei Verlassen des Schiffes neu einstellen. 2. Vergessen Sie nicht, daß alles, was Sie sehen und hören, zumindest der nahen Vergangenheit angehört, in Abhängigkeit von der Ausbreitungsgeschwindigkeit von Schall und Licht. Räumlich nähere Ereignisse sind auch die jeweils aktuelleren. 3. Vertrauen Sie eher den Informationen Ihrer Hände als denen Ihrer Augen. Aufgrund der Lichtbrechung kann es vorkommen, daß Ihnen ein konvexer Boden konkav erscheint. Die Farben können verschoben, die Formen der Gegenstände verzerrt werden. 4. Gehen Sie langsam. Bewegen Sie sich solange, bis Sie mit der Umgebung vertraut sind, nur im Schritttempo. Bitte beachten Sie die Verkehrsregeln. Beim Laufen kann unter Umständen die Schallgeschwindigkeit überschritten werden, da diese lediglich 6,7 Meter pro Sekunde beträgt. 5. Verlassen Sie sich nie auf den Augenschein. 6. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Reise. In dem Leitfaden >Phänomene an Bord der Redshift< am Schluß finden Sie weitere Informationen sowie die leider unumgängliche Nichthaftungserklärung.
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Kapitel 1
Vorspiel zum Hyperraum Entweder sie wollte gefunden werden, oder ich hatte einfach Glück, sie gerade im richtigen Moment anzutreffen. Da ich mit dem Glück noch nie auf sonderlich gutem Fuß gestanden habe, nahm ich natürlich an, Jenni Sonders habe auf jemanden gewartet. Ich befand mich auf Ebene Zwei der Redshift und machte gerade meine Runde, um mich mit eigenen Augen zu vergewissern, was ich den Schiffsinstrumenten entnahm oder vom Rest der Besatzung erfuhr. Nicht, daß ich den Anzeigen oder den Menschen mißtraut hätte - ich verließ mich bloß nicht gern ausschließlich auf mittelbare Beobachtungen, auch wenn meine Augen wegen der optischen Sinnestäuschungen an Bord der Redshift weniger verläßlich als die Sensoren waren. Im starken Schwerefeld der Ebene Zwei schlurfte ich den Äquatorialkorridor entlang. Dicht hintereinander angeordnete Deckenlampen erhellten die grauen Wände und den pechschwarzen Decksboden. Die Frachträume, die ich bislang überprüft hatte, waren vollgestopft mit wertvollem Gerät, mit Containern voll seltener Metalle, exotischer Nahrungsmittel, kostbarer Stoffe… die typische Ladung bei einem Hyperraumflug: Waren, die nicht überall erhältlich und teuer genug waren, um die Transportkosten zu rechtfertigen. Bis jetzt hatte es keine ungewöhnlichen Vorkommnisse gegeben, doch vor mir auf der rechten Seite war eine Frachtraumtür nicht ganz geschlossen. Die Tür stand einen Handbreit offen. Ich spähte durch den Spalt und drückte dann die Tür ganz auf. Der Frachtraum war mit etikettierten Kisten gefüllt, die meisten davon rechteckig, in unterschiedlichen Größen. Etwa in der Mitte des Frachtraums saß auf einem hohen Kistenstapel ein weiblicher Passagier, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, verloren und müde wirkend, wie ein Kind, das sich verlaufen hat. Mit dem Kopf stieß die Frau beinahe an die Decke. Sie mußte mehrere Kisten als Treppe benutzt haben, um zu dem Sitzplatz nahe dem Mittelgang zu gelangen. Die Frau war Jenni Sonders. Ich erinnerte mich, sie beim Einschiffen gesehen zu haben, und einmal hatte ich kurz beim Essen mit ihr gesprochen. Sie schien Ende Zwanzig zu sein, etwa in meinem Alter. Sie hatte rotes Haar, schmale Hüften und wirkte ständig traurig - zumindest hatte ich sie nicht lächeln sehen, seit sie auf Megorath an Bord gekommen war. Das rotgelockte Haar hing ihr in der hohen Schwerkraft etwas weiter hinunter als gewöhnlich. Sie trug eine Hose in gebrochenem Weiß und eine dazu passende langärmlige Bluse. Hosenbeine und Ärmel waren in einem schicken paramilitärischen Stil mit violetten Bändern gesäumt, was ihr gut stand. Jenni war so weit von mir entfernt, daß ich an der Tür stehenblieb und abwartete, bis sie mein Eintreten bemerkte. Nachdem das Licht einmal hin und zurück gewandert war, wandte sie den Kopf in meine Richtung. Plötzlich regte sie sich, kletterte von ihrem Ausguck und versteckte sich hinter einer Kiste, die fast an die Decke stieß. Ich runzelte die Stirn und versuchte mir vorzustellen, was sie dort oben machte und was wohl in ihrem Kopf vorging. Stehlen wollte sie bestimmt nichts; jede einzelne Frachtkiste war
gesichert. Außerdem war sie mit der Hyperraumumgebung anscheinend schlecht vertraut; ansonsten hätte sie gewußt, daß ich sie sehen würde, bevor sie Zeit hatte, sich zu verstecken. Ich wartete eine Weile schweigend, einerseits weil ich nicht wußte, was ich sagen sollte, andererseits weil ich neugierig war, was sie als nächstes tun würde. Sie ließ sich nicht blicken. Schließlich rief ich: »Ich weiß, daß Sie da sind, Ms. Sonders. Weshalb kommen Sie nicht raus?« Es entstand eine Pause, die länger währte, als die Schallübermittlung dauerte, woraus ich schloß, daß sie sich Gedanken über ihr weiteres Vorgehen machte. Dann streckte sie den Kopf hinter der Kiste hervor. Sie sagte nichts. »Was machen Sie da oben?« fragte ich und setzte mich in Bewegung. Ihr Gesicht nahm einen erschreckten Ausdruck an, und ihre Lippen bewegten sich, bevor ich sie sprechen hörte. »Kommen Sie nicht näher.« Ihre Stimme schwankte, als stünde sie kurz vor einem Tränenausbruch. Ich blieb stehen. Die Situation entwickelte sich ganz anders, als ich erwartet hatte. »Ich bin Jason Kraft, der Erste Offizier, Ms. Sonders. Ist etwas nicht in Ordnung?« »Gehen Sie weg«, sagte sie, mehr nicht. Ich hatte den Eindruck, selbst diese drei Worte kosteten sie einige Mühe. Sie kletterte wieder auf die oberste Kiste und rutschte näher an den Rand. »Gehen Sie weg.« »Hören Sie, ich kann nicht einfach wieder weggehen. Ich bin verantwortlich für…« »Gehen Sie weg, sonst springe ich.« In ihrer Stimme lag soviel Schmerz, daß ich einen Moment lang erwog, ihrer Aufforderung nachzukommen, doch ich konnte es nicht. Nach einer Weile wurde mir klar, worum es überhaupt ging. Anscheinend stand sie kurz davor, sich umzubringen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte. Ich hätte den Schiffsarzt rufen können, doch bis dahin wäre sie womöglich schon von dem Kistenstapel gesprungen. Vielleicht hätte jemand, der sich mit derartigen Dingen auskannte, anders gehandelt. Ich tat das einzige, was mir einfiel; ich beschloß, sie von ihren Problemen abzulenken. »Ich hätte eigentlich gedacht, die Betten in den Passagierkabinen wären bequemer als ein Stapel Kisten.« Ungeduldig wartete ich auf ihre Antwort. Sie blieb stumm am Rand der Kiste hocken. Mit ruhiger, leiser Stimme sagte ich: »Die Pausen zwischen den Sätzen erschweren die Unterhaltung. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich näher komme?« »Bleiben Sie weg«, erwiderte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Ich wich an die Wand zurück und verharrte dort eine Weile, ohne mich zu rühren. Schließlich sagte ich: »Kommen Sie oft hierher? Wie ein regelmäßiger Besucher wirken Sie nicht gerade.«
Jenni schluchzte einmal auf, dann war sie wieder still. Ihr Mund ging mehrmals lautlos auf und zu, dann sagte sie so leise, daß ich sie kaum verstand: »Das ist nicht komisch.« »Ms. Sonders, ich weiß, wie man ein Besatzungsmitglied feuert, wenn es seine Aufgaben nicht erfüllt. Ich weiß, wie ich’s der Skipperin beibringen muß, wenn sie mal eine falsche Entscheidung getroffen hat. Aber ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie ich mich einer Person gegenüber verhalten soll, die sich umbringen will.« Stillschweigend bestätigte sie ihre Absichten dadurch, daß sie meine Unterstellung nicht zurückwies, sondern mich anstarrte, als sollte ich wissen, wie man mit einem Selbstmörder umging, als gäbe es für dieses Problem eine ebenso praktische Lösung wie künstliche Beatmung bei einem komatösen Patienten. Ich kam mir unzulänglich vor und fühlte mich gleichzeitig wie ein Störenfried. Vielleicht hätte jemand anders an meiner Stelle es für ratsam gehalten, sie einfach in Ruhe zu lassen, doch das konnte ich nicht. Während sie dort nervös auf der Kiste herumrutschte und über den Rand in die Tiefe sah, verlagerte ich ein wenig mein Gewicht, um notfalls möglichst rasch bei ihr sein zu können. Ich zerbrach mir den Kopf nach einer Möglichkeit, sie von den Problemen, die sie bedrückten, abzulenken. »Wissen Sie«, sagte ich schließlich, »ein Sturz aus dieser Höhe muß keineswegs tödlich sein. Womöglich handeln Sie sich bloß eine Menge Schmerzen ein.« Entweder sie sprach zu leise, oder ihre Aussprache war undeutlich. »… herablassend…« »Ich war nicht herablassend«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Sie haben doch bestimmt die Broschüre gelesen, in der es heißt, die Schwerkraft betrüge auf dieser Ebene zweieinhalb Ge, aber das gilt nur am Boden. Nach oben hin nimmt die Schwerkraft ab. Dort, wo Sie sind, beträgt sie nur noch eins Komma fünf bis eins Komma sieben Ge. Das heißt, der Durchschnitt von Ihnen bis zum Boden liegt bei zwei Ge. Deshalb wird Ihre Endgeschwindigkeit lediglich um den Faktor der Quadratwurzel aus der Differenz größer sein als ein Sturz bei einfacher Erdgravitation. Glauben Sie im Ernst, Sie werden garantiert tot sein, wenn Sie einskommaviermal schneller aufprallen als normal?« Meine Absicht dabei war, sie mit meiner Fachsimpelei gedanklich in ein anderes Fahrwasser zu bringen. Man konnte die Zahlen auch so interpretieren, daß die Aufprallgeschwindigkeit von ihrer gegenwärtigen Position aus einem Fall aus doppelter Höhe unter Normalschwerkraft entsprochen hätte, doch diese Ermutigung brauchte ich ihr nicht zu geben. Während sie offenbar über das Gesagte nachsann, überlegte ich, ob ich zu ihr hinlaufen sollte. Da die Lichtgeschwindigkeit in dieser Schicht des Hyperraums so niedrig war, hätte ich nahezu Lichtgeschwindigkeit erreichen können. Mit Sicherheit konnte ich die Schallmauer durchbrechen. Wenn ich nun so schnell lief, wie ich konnte, hätte ich die junge Frau wahrscheinlich erreicht, ehe sie reagieren konnte. Ich zögerte, denn ich hielt es für besser, ihr ihren Plan auszureden oder sie solange zu beschäftigen, bis ihre Stimmung verflogen war. «Fühlen Sie sich schon lange so?« fragte ich, das Thema wechselnd. Nach langem Schweigen sagte sie: »Wie meinen Sie das?« »Ich weiß nicht, wie Sie sich fühlen. Über Selbstmord hab ich mir noch nie Gedanken gemacht. Ich hatte schon mal den Wunsch, jemand anders umzubringen, aber das ist wohl nicht das gleiche. Weshalb sind Sie dort oben?« »Weil ich nicht mehr leben will.«
Ich war mir nicht sicher, ob die Tatsache, daß sie dies laut aussprach, einen Fortschritt bedeutete. »Warum wollen Sie nicht mehr leben?« »… geht Sie nichts an.« Mit noch größerer Unsicherheit sagte ich: »Das geht mich nichts an? Wie kommen Sie darauf? Haben Sie etwa eine Ahnung, wie viele Formular ich ausfüllen muß, wenn Sie Ihr Vorhaben ausführen? Und ich war dabei?« Abermals schluchzte sie. Sie war eine Weile still, dann holte sie tief Luft. Mit klarer Stimme sagte sie: »Ich verstehe Sie. Aber ich muß es tun.« »Ms. Sonders, als ich den Gang entlangkam, stand diese Tür offen. Ich weiß nicht, ob es Ihr ausdrücklicher Wunsch war, mit jemandem zu reden, oder ob es sich dabei um eine unbewußte Absicht handelte. Aber irgendwo in Ihrem Kopf ist eine Stimme, die Ihnen sagt, daß Sie reden möchten. Hier bin ich. Das ist vielleicht Ihre letzte Gelegenheit. Wie wär’s, wenn Sie’s mir erzählen würden?« Verstörend lange Zeit schwieg sie, sagte aber schließlich: »Es ist wegen allem. Eins kam zum anderen. Das sollte meine Hochzeitsreise sein.« Ihre Stimme brach. Sie schluckte mühsam und fuhr dann fort: »Zwei Tage vor der Abreise eröffnete er mir, er halte alles für einen Fehler. Er ist immer noch auf Megorath.« Sie holte tief Luft. »Zuerst dachte ich, es würde mir helfen, wenn ich allein losfliegen und mich ohne ihn amüsieren würde, aber da hab ich mich getäuscht.« Das alles bloß, weil man sie sitzengelassen hatte? Mit schuldbewußter Genugtuung sagte ich mir, daß ich mich niemals so verletzen lassen würde. »Und das bereitet Ihnen solchen Kummer, daß Sie nicht mehr weiterleben wollen?« fragte ich schließlich, darum bemüht, sie zu verstehen. »Oder wollen Sie ihn wiederhaben?« Ihr Kopf ruckte zu mir herum, als meine Worte sie erreichten. »Wie können Sie sagen, ich täte dies, um…« Sie brach ab und starrte mich eine Weile an, dann senkte sie den Blick. Sie ballte die Fäuste und sagte: »Er ist nicht der Grund. Er nicht.« Ihre Stimme klang undeutlich, da sie mich beim Sprechen nicht ansah. »Also, ich habe eine Idee«, sagte ich, in dem Bewußtsein, daß es einer meiner schlechteren Einfälle gewesen war, dieses Thema anzuschneiden. »Ich komme um vor Hunger. Lassen Sie uns zur Küche hochgehen und einen Spätimbiß einnehmen. Layne Koffer macht einen exzellenten Kaffee.« Als ich geendet hatte, schüttelte sie den Kopf und rückte näher zur Kante. »Warten Sie«, sagte ich rasch. »Fast hätte ich’s vergessen. Übers Netzwerk ist soeben eine Nachricht für Sie eingetroffen. Sie lautet…« Ich brachte die Lüge nicht zu Ende. Statt dessen rannte ich los. Ich stieß mich von der Wand ab und beschleunigte, so rasch es mir unter der hohen Schwerkraft möglich war. Hätte ich ohne Verzögerung Lichtgeschwindigkeit erreicht, würde Jenni erst dann gemerkt haben, daß ich unterwegs war, wenn ich sie erreichte. Wie die Dinge lagen, überholte ich ein paar meiner Worte, ließ ihr aber trotzdem einen kleinen Vorsprung. Ich rannte geradewegs zwischen den Kistenstapeln entlang, während ich Jenni erst blau und
dann violett wahrnahm, da ich mittlerweile so schnell war, daß sich die Umgebung aufgrund des Dopplereffekts verfärbte. Die Kistenstapel zu beiden Seiten schienen zu schrumpfen. Jenni mußte wohl einen violetten Schemen wahrgenommen haben, denn während ich mich ihr näherte, stieß sie sich vom Kistenstapel ab, wobei sie sich nach hinten neigte, weil sie mit dem Kopf aufschlagen wollte. Beinahe wäre ich zu spät gekommen. Im Laufen streckte ich die Arme aus. Es würde schwer sein, sie aufzufangen, wenngleich ich mich für das erhöhte Gewicht auf dieser Ebene zu wappnen versuchte. In dem Moment, als mir der Überschallknall, den ich selbst hervorgerufen hatte, in den Ohren dröhnte, schlug sie auch schon in meinen Armen auf. Zunächst glaubte ich, ich hätte sie, doch dann ließ ich sie doch noch fallen. Zumindest hatte ich ihren Fall verlangsamt und sie so gedreht, daß sie mit Fersen und Hintern gleichzeitig auf dem Boden aufprallte. Ich stürzte seitlich hin. Von dem Moment an, da ich sie berührte, hatte sie geschrieen. »Gehen Sie weg. Was sind Sie doch - autsch!« Der Aufprall ließ sie einen Moment lang verstummen; als sie weitersprach, klang ihre Stimme schmerzverzerrt. »Sie haben kein Recht dazu. Verschwinden Sie!« Ihr verbliebener Widerstand war gebrochen, und sie trommelte mir mit den Fäusten auf die Brust. Ich packte sie bei den Handgelenken und zwang sie, damit aufzuhören. Selbst auf diese kurze Distanz machte sich die Lichtverzögerung bemerkbar, und es fiel mir schwer, Jennis Bewegungen vorherzusehen. Meine ersten Versuche, sie zu bändigen, schlugen fehl, denn sie ahnte meine Absicht und änderte ihre Taktik. Sie schlug mir ins Gesicht, und im nächsten Moment spürte ich die feuchte Spur ihrer vier Fingernägel, mit denen sie mir die Wange blutig gekratzt hatte. Endlich bekam ich sie richtig zu packen, so daß sie mich nur noch treten oder mit dem Knie bearbeiten konnte. Sie zögerte nicht. Zum Glück brachte sie nur zwei Tritte an, dann zwang ich sie aufs Deck nieder, setzte mich rittlings auf sie und drückte sie mit den Händen zu Boden. Sie lag schwer atmend auf dem Rücken und sah zu mir auf, denn etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Während sich mein Adrenalinspiegel allmählich wieder normalisierte, erwiderte ich ihren Blick. Was aus der Ferne wie Sonnenbräune gewirkt hatte, stellte sich nun als Sommersprossen heraus. »Zum Teufel mit Ihnen!« schimpfte sie. Während sich ihre Stirn vor Zorn in Falten legte und sie mich wütend anfunkelte, verharrte sie lange Zeit regungslos. Dann auf einmal wurde sie wild, bewegte die Hüften, wand sich, versuchte, ihre Arme meiner Umklammerung zu entziehen. Ich kam mir vor wie ein Vergewaltiger und wußte nicht, was ich tun sollte. Es gelang Jenni nicht, sich zu befreien. Es dauerte eine Weile, dann dämmerte ihr, daß sie solange in der Falle saß, bis ich sie freigab. Sie lag still und sah zu mir auf, während ihr die Tränen kamen. Sie wandte den Blick ab, biß die Zähne zusammen und atmete mehrmals tief durch, wobei sie an meinem Kopf vorbei ins Leere starrte. In ihrem Gesicht spiegelte sich die Anstrengung wider, die es sie kostete, nicht zu weinen. Im nächsten Moment schien sie sich wieder zu fassen, und gerade als ich dachte, sie würde vielleicht doch nicht weinen, entspannte sie sich unvermittelt, und die Tränen strömten ihr aus den Augenwinkeln.
Ich war ärgerlich auf mich, weil ich geglaubt hatte, auf jede mögliche Frage eine Antwort zu wissen, und jetzt vergrößerte ich ihren Schmerz womöglich noch, anstatt ihn zu lindern. Ich lockerte meinen Griff, und Jennie begann zu schluchzen. Als ich ein Handgelenk vollständig freigab, blieb ihr Arm schlaff, während ihr Schluchzen heftiger wurde und sich jeder einzelne Muskel in ihrem Gesicht anzuspannen schien. Ich lehnte mich zurück und ließ ihre beiden Arm ungehindert über ihrem Kopf liegen. Ich wich noch ein Stück zurück, und nach einer Weile bedeckte sie die Augen. Als wollte sie nicht, daß ich sie weinen sah, hob sie Kopf und Oberkörper und schlang die Arme um mich, vergrub ihr Gesicht an meiner Brust. Sie schluchzte krampfhaft. Ich nahm sie in die Arme und ließ sie sich ausweinen. Sie weinte lange und hielt hin und wieder inne, um Atem zu schöpfen, bis ihr Schluchzen allmählich schwächer wurde. Als sie eine Weile ruhig gewesen war und ich den Eindruck hatte, sie werde nicht wieder anfangen zu weinen, sagte ich in sanftem Ton: »Der Boden hier bietet wahrscheinlich auch keine bessere Unterlage als die Kisten. Ich bringe Sie besser in Ihre Kabine, dann können Sie sich ausschlafen.« Sie nickte an meiner Brust. Dann trocknete sie sich die Augen mit meinem Hemdsärmel trocknen. Als ich ihr beim Aufstehen half, hatte ich weiche Knie. Ich schrieb das der erhöhten Schwerkraft zu. »Wie lautet Ihre Kabinennummer?« fragte ich. Sie ließ nicht erkennen, ob sie mich verstanden hatte. Als ich die Frage wiederholte, bekam ich wiederum keine Antwort. Sie schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein. Ich geleitete sie langsam zur Tür. Auf dem Gang rief ich von einem Komm-Terminal aus Bella Fendell, die Skipperin, an. Aufgrund der unterschiedlichen Lichtgeschwindigkeiten auf dem Frachtdeck der Ebene Zwei und der Brücke auf Ebene Vier klang Bellas Stimme mädchenhaft und erregbar. Beides traf auf Bella nicht zu. »Ist der Doc in der Nähe?« sagte ich. »Was gibt’s?« fragte Bella. »Ein unbedeutender Zwischenfall. Alles unter Kontrolle. Ich erklär’s Ihnen, wenn ich wieder auf der Brücke bin, aber würden Sie ihn bitten, sich in der Kabine von Jenni Sonders mit mir zu treffen? Ich bin schon unterwegs.« »Mach ich. Noch etwas?« »Ja. Wie lautet ihre Kabinennummer?« Es dauerte eine Weile, bis Bella die Nummer nachgeschaut hatte. Sie verstand es
hervorragend, ihre Neugier in Zaum zu halten. Im Aufzug drückte ich den Schalter zur fünften Ebene, auf der die meisten Passagiere untergebracht waren und die weiter vom Zentrum der zwiebelförmigen Redshift entfernt lag. Jenni lehnte sich an die Kabinenwand. Als ich sie ansah, wich sie meinem Blick aus. Ich hatte keine Ahnung, ob ich mir nun einen Feind fürs Leben gemacht hatte - ganz gleich, wie kurz ihr Leben auch sein würde -, oder ob sie zwischen Dankbarkeit und Verlegenheit schwankte. Statt dessen blickte ich an die Aufzugdecke. Als wir auf Ebene Zwei eingestiegen waren, hatte es so ausgesehen, als sei sie an den Ecken nach oben gewölbt. Als wir aus dem Bereich mit erhöhter Schwerkraft herauskamen und das Licht sich wieder gerade ausbreitete, senkten sich die Ecken nach und nach, bis die Decke nahezu eben wirkte. Da die Schwerkraft auf Ebene Fünf weniger als ein halbes Ge betrug, hatte ich auch dann noch den Eindruck, der Aufzug werde abgebremst, als die Türen sich bereits auf einen breiten, grauen, mit schwarzen Handläufen versehenen Gang öffneten. Der Gang senkte sich in beide Richtungen immer weiter ab, bis er außer Sicht verschwand. Die Redshift war ein kugelförmiges Schiff, dessen Gravitationsfalte in der Mitte lag. Hier waren wir weit genug davon entfernt, um eine angenehme Schwerkraft zu haben. Jenni ging neben mir, starr geradeaus blickend, ein recht attraktiver Zombie mit blutunterlaufenen Augen. In der Ferne sah man Köpfe und Schultern mehrerer Passagiere, doch wir erreichten Jennis Kabine, ohne jemandem so nahe zu kommen, daß wir ihn hätten grüßen müssen. Jenni zögerte am Tastenfeld so lange, daß ich schon den Generalschlüssel benutzen wollte, doch dann öffnete sie die Kabinentür. Das schien mir ein gutes Zeichen zu sein. Das Licht aus dem Gang strömte in die Kabine und wurde solange von den Wänden reflektiert, bis ein Gleichgewicht erreicht war. Das gleiche Phänomen wiederholte sich, als ich die Deckenbeleuchtung einschaltete. Auf den ersten Blick wirkte die Kabine unbewohnt; offenbar hatte Jenni ihre Habseligkeiten in den Einbauschränken untergebracht. »Jenni, ich möchte, daß Sie sich hinlegen«, sagte ich in meinem schönsten Befehlston. Ich ging zum nächsten Nachttisch und öffnete die Schublade. Abgesehen von der Guten Nachricht für Reisende war sie leer. Jenni trat lustlos an das breite Bett und ließ sich langsam rückwärts darauf fallen. Ihr schlaffer Körper prallte einmal ab, bevor er zur Ruhe kam. Die Arme hatte sie über den Kopf gelegt, und die violetten Bänder an ihren Ärmeln wirkten einen Moment lang wie Handschellen. Ich setzte die Durchsuchung fort, während mein Schatten an der Wand hinter meinen Bewegungen zurückblieb. Auch im zweiten Nachttisch und in den Wandschubladen waren weder Medikamente noch Waffen. Ich wollte gerade ins Bad gehen, als ein akustisches Signal einen Besucher meldete. Ich öffnete Rory Willett die Tür. Er stand da mit seinem Koffer in der Hand. Seine langen Koteletten und der kahle Fleck auf seinem Schädel deuteten darauf hin, daß er bald eine Glatze bekommen würde. In den Augenwinkeln hatte er auffallende Lachfältchen. Das weiße Jackett war für seine kräftige Figur etwas zu klein. Er wirkte eher wie ein gealterter Spieler als wie ein fähiger Arzt. »Kommen Sie rein, Doc«, sagte ich.
»Was ist denn mit Ihnen passiert?« fragte er und blinzelte mehrmals; wahrscheinlich hatte er gerade geschlafen, als ich ihn hatte rufen lassen. Zunächst begriff ich nicht, was er meinte, dann erinnerte mich sein Blick, der auf meiner Wange verharrte, daran, wie scharf Jennis Fingernägel waren. »Mir fehlt nichts«, sagte ich. »Die Dame hier braucht Ihre Hilfe.« Ich erklärte ihm kurz, was sich im Frachtraum zugetragen hatte. Rory nickte wiederholt und blickte an mir vorbei zu Jenni Sonders, die auf dem Bett lag. Rory war für mich ein guter Bekannter; man konnte auch sagen, uns verband eine flüchtige Freundschaft. Wenn keine Spannung in der Luft lag, war er stets humorvoll; war rasches Handeln gefragt, bewahrte er einen kühlen Kopf, ohne distanziert zu wirken. Als ich mit meinen Erklärungen fertig war, sagte ich: »Ich weiß nicht, was Sie für sie tun können, aber ich hab mir gedacht, hier sind eher Sie gefragt.« »Das möchte ich wohl meinen.« Rory neckte mich bisweilen wegen meiner angeblichen Unnahbarkeit, wußte aber, daß ich ihn mochte. Er trat ans Bett, und ich ging ins Bad, um die Durchsuchung abzuschließen. Vor dem Spiegel stellte ich fest, daß die Kratzer an meiner Wange schlimmer aussahen, als sie sich anfühlten. Ich wusch das geronnene Blut ab. Wie erwartet gab es nichts in der Kabine, das als Waffe hätte dienen können, es sei denn, sie verfiel darauf, sich mit einem Kleidungsstück zu erdrosseln. Falls sie sich den Tod tatsächlich so sehr wünschte, würde ich ihr dabei nicht im Weg stehen. Als ich wieder in die Kabine trat, saß Rory neben ihr auf der Bettkante und redete leise mit ihr. Jennis Blick wanderte von Rorys Gesicht über seine Schulter zu mir. Anscheinend fiel es ihr schwer, ihren Blick scharfzustellen, außerdem machte sie einen verwirrten Eindruck. »Was immer er Ihnen sagt«, meinte ich zu ihr, »hat bestimmt Hand und Fuß. Der Doc kennt sich mit derlei Dingen aus.« Rory holte eine Injektionspistole aus der Tasche, die wohl einen Tranquilizer enthielt. Er sagte etwas Unverständliches zu Jenni, worauf sie ihn wieder ansah. Sie reichte ihm den Arm, und er spritzte ihr das Medikament nahe der Ellenbeuge unter die Haut. Als sie wieder zu mir aufsah, wirkte sie immer noch verwirrt. Sie wandte erst dann den Blick von mir, als sie die Augen nicht mehr offenhalten konnte. Gleich darauf entspannte sich ihr Gesicht. Rory nahm den Deckel von einem Gläschen ab. Er strich Jennis Haar beiseite und rupfte ihr das Medikament hinters Ohr. Als er fertig war, sah er zu mir hoch. »Was für eine Nacht, finden Sie nicht auch, Jason?« »Was tun die Frauen nicht alles, um in meine Nähe zu kommen.« Rory nickte, als habe er eine solche Bemerkung erwartet. Er wühlte kurz in seiner Tasche und reichte mir eine kleine Tube. »Tun Sie sich davon zweimal täglich was auf die Wange. Dreimal täglich, wenn Sie sich lange auf Ebene Zwei aufhalten. Dann heilt es schneller.«
»Und was haben Sie mit ihr vor?« »Ich werde mit ihr reden, wenn sie ausgeruht ist. Ich weiß nicht, ob das bei ihr chronisch ist, oder ob es das erste Mal für sie war. Jedenfalls behalte ich sie im Auge.« Er hob die Augenbrauen und sah mich fragend an. »Es sei denn, Sie möchten diese Aufgabe übernehmen. Entweder sie haßt Sie, weil Sie ihr in die Quere gekommen sind, oder sie ist Ihnen dankbar, weil sie eher Aufmerksamkeit erregen als sich umbringen wollte.« »Versuchen Sie gar nicht erst, mich da reinzuziehen. Von Medizin habe ich keine Ahnung.« »Darum geht es nicht, und das wissen Sie auch. Wahrscheinlich würde es ihr gut tun, wenn Sie sich etwas engagieren würden. Und ein bißchen menschliche Nähe würde Ihnen auch nicht schaden.« Darüber wollte ich nicht reden. Statt dessen grinste ich ihn an und sagte mit tiefer Stimme: »Ein Mann muß tun, was er tun muß.« »Stimmt nicht, Jason. Ein Mann tut, was er tun will.«
Ich ließ mir Zeit auf dem Weg zur Brücke. Offiziell war ich sowieso nicht im Dienst. Als ich dort eintraf, saß Bella Fendell zurückgelehnt in einem bequemen Sessel, den sie vor langer Zeit aus ihrer Kabine auf die Brücke geschafft hatte. Sie hatte die Füße auf die Steuerkonsole gelegt und blickte auf die kreisförmig angeordneten Statusanzeigen, die den Zustand sämtlicher Systeme an Bord der Redshift anzeigten. Wir bewegten uns mit neun Metern pro Sekunde durch die Hyperraumschicht Zehn, was neun Zehnteln der in dieser Schicht geltenden Lichtgeschwindigkeit entsprach. Im Verhältnis zur Nullschicht flogen wir mit tausendfacher Lichtgeschwindigkeit. Und der Fahrtwind zauste mir nicht mal das Haar. »Sie sehen heute ja richtig hübsch aus«, meinte sie zu meinen frischen Kratzern. »Ich nehme an, Ihrem Gegner ist es auch nicht viel besser ergangen.« Sie erkundigte sich nicht direkt, was vorgefallen war, sondern tat so, als interessiere es sie gar nicht. Ich verzichtete darauf, ihr freiwillig die gewünschten Informationen zu geben, so daß sie gezwungen war, mich danach zu fragen. Das war eins unserer Rituale. Bella Fendell war eine hochgewachsene Frau, die manche als mütterlich bezeichneten. Da ich meine Mutter nie kennengelernt habe, kann ich mich dazu schlecht äußern, aber Bella hatte eine Riesenscheu davor, persönliche Fragen zu stellen, ganz gleich, ob sie nun zudringlich waren oder nicht. Dabei war ihr die Neugier deutlich anzumerken. Sie wartete noch einen Moment auf meine Erwiderung, dann schüttelte sie amüsiert den Kopf. Sie grinste, wobei ihre rundlichen Wangen noch weiter hervortraten, dann sagte sie: »Schießen Sie schon los. Worum ging es bei dem unbedeutenden Zwischenfall?« »Eine Passagierin, Jenni Sonders, wollte sich umbringen.« Ich berichtete ihr, was vorgefallen war. Als ich fertig war, fragte Bella: »Glauben Sie, sie wird es noch mal versuchen?« »Fragen Sie Rory. Ich kann dazu nichts sagen. Wie weit fliegt sie mit?«
»Bezahlt hat sie bis Far Star.« Bella wußte das, ohne extra nachgesehen zu haben. Als ich um Jennis Kabinennummer nachgefragt hatte, hatte sie offenbar über Jenni in Erfahrung gebracht, was es zu wissen gab. Ich schaute auf den Flugplan auf einem der Wandmonitore. »Noch zehn Tage. Ich nehme an, Rory würde Schwierigkeiten bekommen, wenn er sie solange mit Beruhigungsmitteln vollstopft.« Bella grinste gequält. »Sie ist eine zahlende Passagierin. Wir können sie nicht wie ein krankes Haustier behandeln.« »Aber sie ist doch krank, oder? Ich meine, schließlich wollte sie sich umbringen.« »Wer kann schon sagen, was krank ist und was nicht? Sogar Sie könnten so etwas tun, wenn Ihnen jemand so nahe stünde und Sie dann fallenließe. Bei Ihnen steht da natürlich ein großes Fragezeichen dahinter.« »Heute nacht sind Sie und Rory zuständig. Ich hab nicht mal Dienst.« Bella blickte nachdenklich zu mir hoch. »Das ist eben Ihr Problem, Jason. Sie sind immer im Dienst.« Am nächsten Tag sollte die Redshift auf Vestry andocken. Ich war auf der Brücke, um das Manöver zu überwachen. Die Anzeige mit der Schicht-Zehn-Geschwindigkeit hatte jetzt, da wir uns dem Dock näherten, von Lichtgeschwindigkeit in Prozent auf Mikrometer pro Sekunde umgeschaltet. Die Nullschicht-Anzeige zeigte die Normalraumgeschwindigkeit im Kilometer-pro-Sekunde-Maßstab an. Razzi Luxon, die Zweite Offizierin, hatte sich das blonde Haar hinten mit einer Spange festgesteckt. Wenigstens sie stellte meinen Lebensstil nicht in Frage. Abgesehen davon, daß sie im Moment mit dem Andockmanöver beschäftigt war, erteilte sie mir nur selten Ratschläge. Razzi hatte sich erwartungsvoll vorgebeugt, obwohl ihre Steuerbrille die Effekte der Lichtverzögerung eliminierte. Es wunderte mich immer wieder aufs neue, daß Razzi so energisch und kompetent war, nicht weil sie unprofessionell gewirkt hätte, sondern weil sie ihre Aufgaben an Bord lediglich als Mittel zum Zweck betrachtete, nämlich um zu reisen. Sie genoß es, Sternsysteme zu besuchen, wohin wir auch kamen und wann immer es die Aufenthaltsdauer des Schiffes erlaubte. Auf der Zentralanzeige sah man das Orbital-Dock von Vestry, dem wir uns näherten. Ein Scanner wechselte ständig zwischen der Redshift in der Schicht Zehn und dem Normalraum, Schicht Null, hin und her. Die Funkfeuer des Docks brachten unser Raumschiff allmählich in Position. Das Dock von Vestry bestand aus einem langen, schmalen Gang in einer Raumstation. An Bord der Redshift wurden Luken und Türen selten gebraucht. Da man einen Passagier oder ein Frachtstück unmittelbar von einer Ladeplattform der Nullschicht in den gewünschten Gang an Bord des Schiffes befördern konnte, mußte man lediglich darauf achten, daß Ausgangs- und Zielpunkt überlappten. Allerdings hätte ein ungeschützter Passagier, der vom komfortablen Ladedock ins Vakuum der Schicht Zehn trat, den Vorgang kaum wiederholen können.
In Wirklichkeit verfügten die Passagiere über einen gewissen Schutz, genau wie die Besatzung. Wir alle trugen Lifebelts, die ein Feld erzeugten, das es dem Körper ermöglichte, mit Normalgeschwindigkeit zu funktionieren. Hätte man einen Menschen ungeschützt nach Schicht Zehn verfrachtet, wo die Geschwindigkeit der Synapsenübertragung durch die Lichtgeschwindigkeit begrenzt wurde, wäre er gestorben. Auch die Standarduhren und bestimmte Geräte an Bord wurden durch solche Felder geschützt, doch wäre der Aufwand, die ganze Redshift zu schützen, viel zu groß gewesen. Razzi drückte einen Schalter, lehnte sich zurück, schob sich die Brille in die Stirn und wandte sich zu mir um. »Scheint alles glatt zu laufen.« Die Redshift glitt langsam in Position, wobei sie sich mit Rückstoßdüsen der Bewegung des Docks anpaßte, da das Schiff in Schicht Zehn nicht die Planetenmasse in Schicht Null dazu benutzen konnte, in einen natürlichen Orbit einzuschwenken. »Wir sind synchron«, sagte Razzi, als die Instrumente vollständige Überlappung anzeigten. Das Kontrollsystem des Schiffes würde die Redshift so manövrieren, daß sie sich mit dem Dock im Orbit überlagerte. »Danke«, sagte ich. »Ich überwache den Ladevorgang, falls Sie mich brauchen.« Razzi nickte und konzentrierte sich wieder auf den Monitor, auf dem man gerade sah, wie sich das Portal, das im Moment mit Ebene Sieben der Redshift überlagerte, für den Frachtverkehr öffnete. Ich verließ die Brücke und überlegte, wie es kam, daß sich der eine das Leben nehmen wollte, während ein anderer anscheinend glücklich war mit den Zufallsbeziehungen, die sich auf den Welten ergaben, auf die es ihn verschlug.
Ich überlegte, ob es überhaupt notwendig war, auf Ebene Sieben nachzuschauen, da die meiste Fracht an Bord blieb, ging jedoch trotzdem hin. Die Entladung machte gute Fortschritte, daher wechselte ich bald darauf zu Ebene Sechs über. Die Decken der Ebene Sechs waren über fünfzig Prozent höher als die Decken der anderen Ebenen, und in dieser Entfernung vom Schiffsmittelpunkt herrschte nur etwa ein Drittel Ge, daher wurde hier der Großteil der Fracht normalerweise in riesigen Containern verstaut. Die Frachtcontainer verschwanden einer nach dem anderen durch das Portal, das zum Dock in der Nullschicht führte. Sobald alle Ebenen vollständig entladen waren, würde das Portal umgepolt werden, damit es die von Vestry stammende Ladung aufnehmen konnte. Wir hätten auch ein in beide Richtungen durchlässiges Portal einrichten können, doch konnten wir nur eine beschränkte Anzahl von Leuten für den Ladevorgang abstellen, daher war es übersichtlicher, wenn wir Schritt für Schritt vorgingen. Da es auf Ebene Sechs keine Probleme gab, ging ich zu Ebene Fünf hinunter, wo die meisten Passagiere untergebracht waren. Bensode, der Dritte Offizier, hatte Dienst. Obwohl ich mir sicher war, daß ihm die Arbeit Spaß machte, wirkte er nie sonderlich glücklich. Seine großen, dunklen Augen erweckten den Eindruck, er wolle sich ständig entschuldigen. Er erinnerte mich an einen Nachtmenschen, der nach zu wenig Schlaf früh hatte aufstehen müssen. Mit seinem angegrauten Haar wirkte er um Jahre älter als ich, obwohl das nicht stimmte.
»Sind nur zwei Passagiere von Bord gegangen«, berichtete er, als er mich sah. »Wir sind gerade dabei, das Portal umzupolen.« »Nur zu.« Ich hatte den Moment gut abgepaßt, denn mir war wohler, wenn ich die neuen Passagiere an Bord kommen sah. Die erste Passagierin auf Bensodes Liste war eine gewisse Marj Lendelson. Als ich zum Portal blickte, schob sich gerade eine spitze Schuhkappe in die Schicht Zehn. Wie jedesmal begann die Oberfläche des Portals zu leuchten, als sie durchdrungen wurde. Als die Passagierin vorwärtstrat, breiteten sich von der Schuhkappe irisierende Wellen aus. Weitere Wellen gingen von Marj’ Umriß aus, als diese vollständig zum Vorschein kam und dann ins Stolpern geriet. Conrad Delingo, der verhältnismäßig neu an Bord war, faßte sie beim Arm und sagte mit einem breiten Lächeln: »Willkommen an Bord der Redshift, Ms. Lendelson. Darf ich Ihnen zeigen, wie Sie zu Ihrer Kabine kommen.« Normalerweise tat Conrad woanders Dienst, doch er war so umtriebig und interessiert an allen Vorgängen an Bord, daß Bensode ihn wohl als Freiwilligen eingeteilt hatte. Bensode und Conrad wirkten zusammen wie ein Invalide, der ein neues Hündchen an der Leine spazieren fuhrt. Conrad hatte offenbar viel Zeit auf Ebene Sieben verbracht, denn in seinem Gesicht zeigten sich bereits dunkle Stoppeln. Marj Lendelson gab keine Antwort, da sie anscheinend von der vorübergehenden Desorientierung betroffen war, die sich beim Durchtritt durchs Portal bisweilen einstellte. Sie schien um die fünfundvierzig zu sein - mindestens fünfundvierzig, wenn sich das anhand ihres Aussehens beurteilen ließ. Ihr Kleid hatte einen schlichten Schnitt, bestand aber offenbar aus einem teuren Material. Ihre Augen wirkten klar und wachsam. Das Kinn hatte sie stolz gereckt. Geistesabwesend kratzte sie sich an der Hüfte. Das tat fast jeder als erstes, denn man mußte sich an die Lifebelts, die auf der nackten Haut getragen wurden, erst gewöhnen. Schließlich nickte sie Conrad zu, und dieser führte sie davon - ein junger Schnösel, der eine Königin zu ihren Gemächern geleitete. Als nächstes erschien ein kleiner, dunkelhäutiger Mann namens Daniel Haffalt. Er trat gewandt durch das Portal und zeigte keinerlei Anzeichen von Desorientierung. Sein kurzgeschnittenes Haar lag flach an und bedeckte seinen Schädel wie kurzes, niedergetrampeltes Gras. Seine durchdringenden dunklen Augen vermittelten mir das Gefühl, er könne eine Münze auf hundert Metern Entfernung erkennen. Als ihm ein Besatzungsmitglied anbot, ihn zu seiner Kabine zu geleiten, sagte er: »Ich finde schon allein hin« und schritt über den Gang dem sich absenkenden Horizont entgegen. Man merkte ihm den erfahrenen Reisenden auf den ersten Blick an. Auf der Passagierliste war noch ein Ehepaar ausgewiesen, das Haffalt folgte. Der Mann, Wade Pesek Midsel, kam als erster. Er war stämmig gebaut und blinzelte ein paarmal mit schweren Lidern, dann drehte er sich zum Portal um, durch das er soeben gekommen war. Er bewegte sich gewandt, als wäre auch er häufig unterwegs, doch wirkte sein Gesicht offener und neugieriger als das von Haffalt. Er lächelte nicht richtig, doch schien ein verborgenes Lächeln unter der Oberfläche zu warten, so als habe er angenehme Gedanken. Midsels Frau, Tara Pesek Cline, folgte ihm. Als erstes zeigte sich ihre Hand, während sich schimmernde Wellen über das Portal ausbreiteten. Sie trat unerschrocken lächelnd hindurch und strich sich Strähnen ihres langen, schwarzen Haars aus den blauen Augen. Tara ergriff die
ausgestreckte Hand ihres Mannes, obwohl sie sichtlich keinen Beistand brauchte. Sie war mit einem kurzärmligen Pullover und Hose bekleidet. Im Unterschied zu den anderen Neuankömmlingen nahm sie mehr wahr als das nächststehende Besatzungsmitglied und den vor ihr liegenden Gang. Als ihr Blick mich streifte, nickte sie mir lächelnd zu. Ihr Lächeln wirkte irgendwie schelmisch und ließ sie jünger erscheinen, als sie wahrscheinlich war. Fast ohne eigenes Dazutun lächelte ich zurück, sie aber setzte ihre Musterung so rasch fort, daß ihr die Geste aufgrund der verlangsamten Lichtgeschwindigkeit wahrscheinlich entging. »Komm schon, Liebling«, sagte Wade Midsel zu ihr, während er das Angebot eines Besatzungsmitglieds, ihnen behilflich zu sein, mit einer Handbewegung ausschlug. Er legte Tara den Arm um die Taille. Während sie sich entfernten, blickten beide eifrig umher. Sie wirkten noch begeisterter als Conrad Delingo an seinem allerersten Arbeitstag. Ich beobachtete versunken, wie sie entlang des Gangs verschwanden. Auch später hätte ich nicht sagen können, ob ich nun einfach von der Energie gefesselt war, die Tara Cline ausstrahlte, oder ob irgend etwas an ihr mir eine Vorahnung vermittelte, daß meine Routine ein Ende haben sollte.
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Kapitel 2
Ein Fischessen im Hyperraum Ich sah Jenni Sonders früher wieder, als ich erwartet hatte. Da ich meinen rituellen Machtkampf mit Bella verloren und die Skipperin darauf bestanden hatte, daß ich mit den Passagieren speiste, begab ich mich in den Speisesaal auf Ebene Vier. In dem Raum gab es etwa zwei Dutzend Tische für jeweils zehn Personen. Da das Schiff fast vollständig belegt war, waren die meisten Stühle besetzt. An meinem Tisch war ein einziger Stuhl frei: meiner. Der Rest des Tisches war üblicherweise den zuletzt eingetroffenen Passagieren vorbehalten, doch hatte es über Nacht anscheinend Umbesetzungen gegeben. Am Tisch saß nicht nur Jenni Sonders, sondern auch Amanda Queverra. Und Amanda saß unmittelbar neben mir. Am Rand des Speisesaals spielte ein junges, blondes Mädchen, wahrscheinlich um sich vor dem Essen die Zeit zu vertreiben, vor einem der Spiegel. Sie drehte sich genau mit der richtigen Geschwindigkeit um die eigene Achse, so daß sie sich jedesmal, wenn sie in den Spiegel blickte, von hinten sah. Während ich mich dem Tisch näherte, bemühte ich mich, mein Unbehagen über die Sitzordnung zu verbergen. Daß Jenni bei mir saß, machte mir weniger aus; das hatte wahrscheinlich Rory so arrangiert. Mit Amanda hatte ich jedoch bereits mehr Zeit verbracht, als mir recht war. Amanda war hübsch und die ersten zehn Minuten über auch ganz amüsant, flirtete aber zwanghaft und schien zu glauben, das Wörtchen >Nein< bedeute das Gegenteil. Vielleicht betrachtete sie mich auch als Herausforderung. Wenn dem so war, so hatte sie recht. Entweder sie war nicht besonders helle, oder sie verstand es ausgesprochen gut, Männern das Gefühl zu geben, sie seien ihr überlegen. Mir war es egal, ob sie nun schauspielerte oder nicht. Wenn einem jemand einen schweren Gegenstand auf die Finger fallen ließ, dann war es erst einmal zweitrangig, ob es sich um Vorsatz oder einen Unfall handelte. Natürlich bemerkte Amanda mich als erste. »Hallo, Jason«, begrüßte sie mich freundlich. Sie trug eine schlichte, allerdings tief ausgeschnittene Bluse und einen dazu passenden Rock. Die mäßige Schwerkraft auf dieser Ebene kam ihrer Figur ausgesprochen gut zustatten. Ich rang mir ein schwaches Lächeln ab und ging tapfer weiter. »Wir dachten schon, Sie kämen nicht mehr«, sagte sie und strich sich das lange blonde Haar über die Schulter zurück. Ihre Lider waren dunkelblauviolett angemalt. »Sie sind ziemlich spät dran.« »Tut mir leid. Ich hatte zu tun«, sagte ich und blickte mich am Tisch um. Eigentlich kam ich immer zu spät und ging so früh wie möglich. Jenni Sonders saß mir gegenüber am anderen Tischende. Sie sah blaß aus, reagierte aber, als ich ihr zunickte. Ihr rotes Haar wirkte hübscher in der besseren Beleuchtung der Ebene Vier. Sie schaute gleichgültig drein, so daß ich nicht erkennen konnte, ob sie beschämt, dankbar, verlegen, zornig, benommen oder was auch immer war.
Amanda übernahm die Rolle der Gastgeberin und stellte mich den anderen Gästen am Tisch vor. Einige kannten mich bereits. Neben Amanda saßen Emil Frankton, ein älterer, beleibter Geschäftsmann, und sein Assistent Juan Absome, der zu jung schien für sein sauertöpfisches Gesicht. Zwischen ihm und Jenni saß ein lächelnder, stattlicher Mann Mitte Zwanzig, der Karl Welmot hieß. Vielleicht sollte ich ihn auf Amanda ansetzen, damit sie mich endlich in Ruhe ließ. Auf Jennis anderer Seite waren Tara Pesek Cline und ihr Gatte, Wade Pesek Midsel, plaziert. Tara schaffte es, noch immer schelmisch auszusehen, und Wade wirkte immer noch ein wenig blasiert. Ich fragte mich, worüber sie wohl gerade gesprochen hatten. Beide nickten mir zu, nachdem man sie vorgestellt hatte, und ich hatte Mühe, den Blick von Tara loszureißen. Neben Wade saß ein junger Mann mit sandfarbenem Haar namens Merle Trentlin, der kaum alt genug schien, um allein zu reisen. Er war der einzige am Tisch, der nervös auf dem Stuhl rumrutschte. Zwischen Merle und mir saß Daniel Haffalt, vollkommen entspannt, wenn nicht gar gelangweilt. Als er die Kratzer auf meiner Wange bemerkte, lächelte er allerdings sarkastisch. Als die Vorstellungen beendet waren, brachte ich einen Toast auf unsere neuen Passagiere und neue Anflughäfen aus - die Standardsprüche, die Bella vom Stapel gelassen hätte, wäre sie selbst erschienen. Das aber tat sie nie. Auch aus diesem Grund beneidete ich sie um ihren Job; in ihrer Stellung konnte ihr niemand vorschreiben, sich unter die Passagiere zu mischen. Die erhobenen verschüttsicheren Becher wurden den Tisch entlang nacheinander wieder abgesetzt. Ich sah die mir Nächstsitzenden trinken, bevor mich das Geräusch des Anstoßens als Abfolge von Klickgeräuschen erreichte. Zwei Becher stießen so fest zusammen, daß einer aus der Hand fiel; wahrscheinlich hatte einer der Anstoßenden die Verzögerung aufgrund der niedrigen Lichtgeschwindigkeit unterschätzt. Jenni trank scheinbar als letzte, da sie am weitesten wegsaß. Da Neuankömmlinge sich zunächst einmal an die wahrnehmbaren Zeitverzögerungen an Bord der Redshift gewöhnen mußten, wirkten sie bisweilen etwas verkatert. Ein Paraderegiment hätte unter diesen Bedingungen wahrscheinlich die Versetzung in den Ruhestand beantragt. Jenni machte heute einen entspannteren Eindruck. Ich beobachtete sie eine Weile und fragte mich dabei, ob es ihr wirklich besser ging, oder ob sie ihrer Umgebung bloß etwas vormachte. Im nächsten Moment blickte Jenni verwundert in meine Richtung. Ich sah weg, denn ich wußte, daß sie mich noch den Gutteil einer Sekunde lang zu ihr hinschauen sehen würde. Zum Glück kam das Essen pünktlich, daher waren die Leute vorübergehend beschäftigt. An Bord der Redshift sahen die meisten Speisen scheußlich aus und schmeckten köstlich. Es dauerte eine Weile, bis sie sich daran gewöhnt hatten, daß sämtliche Speisen entweder grau oder schwarz aussahen, doch schon bald machten sie sich klar, daß der Farbverlust eine Folge der bizarren Umgebung war und der Geschmack davon unberührt blieb. Genau wie alle anderen Gegenstände an Bord der Redshift, die durch kein Feld geschützt waren, reflektierten die Nahrungsmittel den größten Teil des Lichts, das darauf fiel. Ich nahm an, daß Laynes neue Assistentin für das Abendessen verantwortlich war. Layne, der Chefkoch, bevorzugte die üblichen drei Gänge. Seine Assistentin zog vier Gänge vor und neigte zu exotischeren Gerichten als Layne. Wahrscheinlich würde es nicht lange dauern, und
Layne würde sich herausgefordert fühlen und seinerseits für mehr Abwechslung auf dem Speiseplan sorgen. Heute gab es Tiefseefisch von einem Wasserplaneten namens Misty. Der Fisch war mit Röhrenpflanzen von Archon gefüllt. Layne sollte besser auf der Hut sein. Während wir aßen, beobachtete ich gelegentlich die Passagiere. Ich blickte häufiger in Jennis als in Amandas Richtung, ertappte mich aber immer wieder dabei, wie ich Tara aus den Augenwinkeln beobachtete und daß mir ihre Sommersprossen und ihr flüchtiges, spielerisches Lächeln auffielen. Und daß sie ebenfalls bisweilen zu mir hersah, wobei ihre dunkelblauen Augen beinahe schwarz wirkten. Tara führte ein kleines Stückchen Fisch mit der Gabel an den Mund. Als der Happen zwischen ihren Lippen verschwand und dabei in ihr Körperfeld eindrang, wurde er indigoblau. »Wo haben Sie eigentlich gesteckt, Jason?« fragte Amanda, während sie mit dem Knie >zufällig< mein Bein streifte. Ich hatte mich vom Passagierdeck ferngehalten. Ich zog mein Bein zurück. »Ich war ziemlich beschäftigt.« »Das bezweifle ich nicht«, sagte Daniel Haffalt, der Amanda gegenüber saß. Grinsend fixierte er meine Kratzer. »Bloß ein Unfall«, meinte ich leise, ohne Jenni anzusehen. Während Daniel Haffalt das Thema anscheinend nicht weiterverfolgen wollte, fragte Amanda plötzlich: »Wovon sprechen Sie eigentlich?« Ich bemerkte, daß Tara auf einmal ernst wurde. Daniel sagte: »Über nichts Besonderes. Der Erste Offizier hat bloß ein paar Schrammen auf der Wange. Ist wahrscheinlich gegen eine Tür gerannt.« Ich bemühte mich, die Angelegenheit ins Scherzhafte zu ziehen. »Eigentlich«, sagte ich, »habe ich mich mit meiner Enthaarungscreme geschnitten.« Daniel lächelte vielsagend und nickte. Wade kicherte blasiert. Amanda legte ihre Hand auf mein Kinn und drehte meinen Kopf herum, bis sie die Kratzer sehen konnte. »Jason«, sagte sie mit einer Mischung aus Belustigung und Erstaunen, »das ist ja die reinste Kriegsbemalung. Also sind Sie doch nicht so schüchtern, wie Sie immer tun.« Sie lächelte mich an. Es war das Lächeln eines Raubtiers. »Es war bloß ein Unfall«, sagte ich ruhig. »Sollen wir nicht über etwas anderes sprechen?« »Aber, Jason, ich…« »Haben Sie denn keine Fragen mehr zum Schiff, Amanda? Mir scheint, daß jeder, der zum erstenmal im Hyperraum reist, mehr Fragen hat, als die Broschüre beantwortet.« Ich verschwieg, daß sie weniger Fragen gehabt hätte, wenn sie die ganze Broschüre gelesen hätte. Ich versuchte, nicht an Jenni zu denken. Amanda interessierte sich offenbar mehr für meine Kratzer als für die Phänomene des
Hyperraums, doch im Moment gab sie Ruhe. »Na schön. Als wir an Vestry angedockt haben, hatte ich nicht das Gefühl, daß wir abbremsen, und anschließend habe ich nicht gespürt, daß wir uns in Bewegung gesetzt haben. Bewegen wir uns überhaupt?« Ich setzte gerade zu einer Antwort an, als mir Merle Trentlin, unser jüngster Passagier, zuvorkam. »Ich weiß, warum das so ist. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich darauf antworten würde, Mr. Kraft?« Merle interessierte sich für dieses Thema offenbar weit mehr als für meine Kratzer. Er sah erst mich, dann Amanda und dann wieder mich an, ohne zu blinzeln. Sein dunkles Haar war in die Stirn gekämmt und zu einem dermaßen perfekten Bogen geschnitten, daß man unwillkürlich meinte, man habe einen Kompaß dazu benutzt. Er hatte stark abstehende Ohren. Froh darüber, endlich nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen, sagte ich: »Sicher. Schießen Sie los.« »Das kommt daher, daß der Raum gekrümmt wird. Ich weiß - das klingt seltsam, aber das ist es nicht. Man projiziert eine Raumkrümmung außerhalb des Schiffes, wissen Sie. Die ist wie Gravitation - oder wie ein Tümpel. Und wenn man neben einem schwimmenden Holzstück Wasser aus dem Tümpel schöpft, dann wandert das Holzstück zu der Stelle hin. Der Raum außerhalb des Schiffes wird deshalb gekrümmt, damit sich eine Senke bildet und das Schiff in diese Richtung wandert. Wenn man nun die Raumkrümmung in eine fixe Entfernung projizieren würde, würde sich das Schiff nicht darauf zubewegen, denn das wäre so, als hielte man sich einen Magneten vor die Gürtelschnalle, um sich vorwärtszuziehen. Deshalb wird eine Raumkrümmung erzeugt und freigegeben, denn es dauert eine gewisse Zeit, bis sie sich auflöst. Während sie sich auflöst, zieht sie das Schiff an. Und wenn das Schiff erst einmal in Bewegung ist, bewegt es sich aufgrund seiner Trägheit auch weiter.« Er hielt inne und wandte sich fragend zu mir um. »So in etwa«, sagte ich. »Aber man kann das Vakuum doch nicht wie Wasser ausschöpfen«, bemerkte Amanda. »Ich meine, es gibt da doch nichts, das man schöpfen könnte.« »Das ist bloß eine Analogie«, erwiderte ich. »Das Schiff wendet Energie auf, um außerhalb des Schiffes eine Gravitationssenke zu erzeugen - die gleiche Art Senke, die von einem nahen Objekt von großer Masse erzeugt würde. Wir erzeugen eine Senke und fallen ein Stück weit hinein, ehe sie zusammenbricht. Die gleiche Technik benutzen wir dazu, um an Bord Schwerkraft zu erzeugen. Auf der Ebene Null befindet sich eine Raumkrümmung, eine Gravitationssenke, welche die gleiche Wirkung hat, als wenn sich ein kleiner, sehr dichter Planet im Mittelpunkt des Schiffes befände.« »Okay«, meinte Amanda. »Aber weshalb merken wir nichts davon, wenn das Schiff beschleunigt oder abbremst?« Auch darauf hatte Merle eine Antwort parat. »Das liegt daran, daß wir alle zusammen fallen - das Schiff und wir, alles bewegt sich, als befänden wir uns in freiem Fall. Die interne Schwerkraft des Schiffes wird davon nicht betroffen.« Ich war beeindruckt. Die meisten Passagiere kamen nicht mal so weit, daß sie verstanden, weshalb man beim Laufen einen Überschallknall erzeugen konnte, und es verwirrte sie, daß ihre Armbanduhren niemals mit der Bordzeit übereinstimmten.
Amanda hatte wohl meine Gedanken gelesen. Ihre nächste Frage lautete: »Wieso stimmt meine Armbanduhr eigentlich nie mit den Borduhren überein?« Auf einmal war ich heilfroh, daß Merle bei uns am Tisch saß. Als ich merkte, daß er mich ansah, nickte ich ihm aufmunternd zu. Merle beugte sich vor. »Das liegt daran, daß die Zeit an Bord ortsabhängig ist. Entsprechend der allgemeinen Relativitätstheorie verlangsamt sich die Zeit, je näher man dem Schiffsmittelpunkt kommt. Und zwar weil die Gravitation die Zeit verlangsamt.« »Aber die Zeit scheint nicht mal dann konstant zu sein, wenn ich auf einer Ebene bleibe.« »Natürlich nicht. Ich meine, die Zeit ist nicht mal innerhalb einer Ebene konstant. In Fußnähe verstreicht sie langsamer als in Kopfhöhe, weil die Schwerkraft nämlich nach unten hin zunimmt. Wenn Sie Ihre Armbanduhr über den Kopf halten, wird sie schneller. Das gilt im Grunde auch für den Normalraum, aber da dort die Lichtgeschwindigkeit viel größer ist, ist der Effekt nicht so leicht zu messen.« »Stimmt das auch wirklich, Jason?« fragte Amanda, deren Skepsis sich an ihrem schiefgelegtem Kopf und den gespitzten Lippen deutlich zeigte. »Ganz genau. Aus demselben Grund muß man sich hier die Fußnägel auch nicht so oft schneiden wie die Fingernägel.« Sie musterte mich scharf. »Ich mache keine Witze. Oder zumindest sage ich nicht die Unwahrheit. Allerdings gibt es noch andere Gründe, weshalb Ihre Armbanduhr nicht richtig geht.« »Das stimmt«, nahm Merle den Faden wieder auf. »Wenn Sie rennen - oder wenn Sie auch nur schneller gehen - verlangsamt sich Ihre Eigenzeit. Das kommt alles daher, daß die Lichtgeschwindigkeit so niedrig ist. Bei niedriger Lichtgeschwindigkeit kommt es halt zu relativistischen Effekten.« Einigen der Anwesenden war anzusehen, daß dies nicht nur für Amanda neu war. »Das stimmt«, sagte ich. »Je schneller man geht, desto langsamer verstreicht für einen die Zeit, deshalb kann man sagen, Joggen verlängert das Leben.« Einige Passagiere nickten ernst. Lediglich Daniel Haffalt lächelte. Amanda waren anscheinend die Fragen ausgegangen, und sonst meldete sich auch keiner zu Wort. Die Passagiere begannen sich über ihre Arbeit, ihre Reiseziele und das Essen zu unterhalten. Ich dachte schon, es wäre mir gelungen, vom ursprünglichen Thema abzulenken, als Amanda sagte: »Jetzt hab ich’s!« Ich blickte alles mögliche an, bloß nicht Amanda oder Jenni. Amanda legte mir die Hand auf den Arm. »Heute morgen hat mir ein Steward gesagt, es habe heute nacht einen Zwischenfall mit einem der Passagiere gegeben. Ich wette, daher haben Sie die Kratzer.«
Wenn das alles war, was Amanda wußte, hätte ich das Thema wohl auch diesmal abwürgen können, doch im nächsten Moment setzte Jenni ihren Becher auf Taras Becher ab, von wo er lautstark herunterkippte. Jenni wurde blaß. Amanda wußte entweder mehr, als sie gesagt hatte, oder sie hatte Jennis Reaktion richtig gedeutet. »Das waren Sie, hab ich recht?« fragte sie, beugte sich vor und blickte Jenni direkt an. Ich sagte: »Das reicht jetzt. Würden Sie bitte aufhören?«, doch Jenni hatte bereits genickt, bevor meine Worte sie erreicht hatten, so als bliebe ihr keine andere Wahl; wie ein ungezogenes Kind, das von seiner Mutter mit unwiderleglichen Beweisen überführt worden war. Alle Köpfe am Tisch wandten sich Jenni zu. Die am anderen Tischende Sitzenden hatten ihr Nicken zuerst gesehen, mich jedoch erreichte ihre Reaktion als letzten. Lange Zeit sagte niemand etwas. »So«, meinte Amanda gedehnt und sah wieder mich an. Sie blinzelte mit ihren tiefblauen Lidern. »Amanda«, sagte ich, »jetzt reicht’s. Es war bloß ein kleiner Zwischenfall, der keinen der Anwesenden etwas angeht.« »Ach, hören Sie doch auf!« sagte Jenni plötzlich mit erstaunlicher Lebhaftigkeit. »Hören Sie auf, dem Mann zuzusetzen. Er ist zu sehr Gentleman, um zuzugeben, daß ich es war.« Jenni sah auf ihren Schoß hinab, dann blickte sie wieder zu mir und in acht erwartungsvolle Gesichter. Tara hob die Augenbrauen. Jenni fuhr fort: »Es war anders, als Sie denken. Mr. Kraft - Jason - hat mir einen Gefallen getan.« Vielleicht hätte sie es dabei belassen sollen, doch da bemerkte Wade Midsel: »Hat er Ihnen einen Gefallen getan, oder eher sich selbst?« Er grinste Tara breit an, doch seit sie ihr schelmisches Lächeln abgelegt hatte, blieb sie ernst. Ich war froh, daß ihr eisiger Blick nicht mir galt. Jennis gequältem Gesichtsausdruck nach zu schließen, hatte sie nicht die geringste Lust, neun Fremden ihre persönlichen Probleme zu schildern. Sie sagte: »Ich brauchte - das heißt, ich war - ach, zum Teufel damit! Ich war in Schwierigkeiten und bin in Panik geraten. Jason hat mir geholfen.« Den letzten Satz hatte sie an mich gerichtet, zusammen mit einem derart sanften Lächeln, daß ich Mühe hatte, mir die Wildheit in Erinnerung zu rufen, die vergangene Nacht in ihren Augen gelegen hatte. Layne Koffers würde betrübt sein; niemand aß. Jetzt sahen alle mich an, als sei dies ein bizarrer Wettkampf und die Reihe sei nun an mir, den Ball zu Jenni zurückzuschlagen, damit sich die acht Köpfe wieder umwenden und das Spiel seinen Fortgang nehmen konnte. Da Jenni die geballte Aufmerksamkeit meiner Ansicht nach nicht gut tat, sagte ich: »Morgen ist die Sache wieder vergessen. Ich glaube, wir haben uns jetzt eingehend genug mit Jennis persönlichen Angelegenheiten beschäftigt. Falls sich jemand nach dem Essen entspannen möchte, steht Ihnen der Salon zur Verfügung.« Wade Midsel schnaubte vernehmlich. Offenbar hätte ich ihn nicht mehr verärgern können, wenn ich meinen Schläger hingeworfen und vom Tenniscourt gestürmt wäre, doch verzichtete
er darauf, die Aufmerksamkeit wieder auf Jenni zu lenken. Niemand machte Anstalten, sich zu erheben. Das Schweigen währte eine Weile, dann platzte Amanda heraus: »Wollten Sie sich umbringen?« Vom wem sie die Informationen auch bekommen hatte, er mußte ihr einen Hinweis gegeben haben. Jenni warf Amanda einen eisigen Blick zu, den ich mühelos deuten konnte: Was geht dich das an? Emil Frankton, der Geschäftsmann, nahm meine Anregung endlich auf. Er stand auf und bedeutete seinem Assistenten Juan Absome, ihm zu folgen. »Ich glaube, wir gehen mal in den Salon hinüber. Kommt jemand mit?« Emil schien sich unwohl zu fühlen, doch konnte ich nicht erkennen, ob der Grund dafür die Spannungen während des Essens waren, die Schwierigkeit, sich an den Tag-und-Nacht-Zyklus an Bord zu gewöhnen, oder das Leiden, das so manchen in dieser ungewohnten Umgebung befiel: die C-Krankheit. Niemand nahm Emils Einladung an. Emil jedenfalls trug sein Teil dazu bei, die Situation zu entspannen. »Dann vielleicht später«, sagte er und ging mit seinem Assistenten hinaus. »Sie haben doch bestimmt noch mehr Fragen zum Schiff«, wandte ich mich an die verbliebenen Passagiere. Wade Midsel hatte sich offenbar entschieden, nicht kooperativer als Amanda zu sein. Wahrscheinlich war ihm klargeworden, daß Jenni mit ihrem Schweigen ihre Selbstmordabsichten eingestanden hatte. »Sie haben unsere Neugier geweckt, Jenni. Stimmt das, was Amanda gesagt hat?« Einen Moment lang war ich angesichts seiner Taktlosigkeit sprachlos, doch dann wurde mir klar, daß er lediglich dieselbe Frage stellte, die auch ich mir in der vergangenen Nacht gestellt hatte, und diesmal hörte ich die unterschwellige Botschaft heraus, die auch ich wahrscheinlich ausgesandt hatte: Sie wollen sich das Leben nehmen? Wie kommen Sie dazu, etwas derart Abwegiges tun zu wollen? Ich wollte gerade meine Bitte, das Thema zu wechseln, wiederholen und diesmal darauf bestehen, als Jenni ruhig antwortete. Vielleicht mußte sie darüber reden, auch wenn es bedeutete, es in Gesellschaft zu tun. Möglicherweise fiel es ihr jetzt, da die Gruppe kleiner geworden war, auch leichter. »Hatten Sie noch nie solche Anwandlungen - zumindest hin und wieder?« fragte sie. »Zeiten, in denen Sie einfach nicht mehr weiterleben wollten? Bisweilen wird das Leben einfach zu kompliziert.« Jenni sah mich an, als wäre ich ihr einziger Gesellschafter bei Tisch. »Diese Stimmungen kommen und gehen, mich aber begleiten sie jetzt schon so lange, daß sie mir ganz normal vorkommen.« Sie blickte wieder zu Wade, als wollte sie ihm bedeuten, daß die Antwort an ihn gerichtet gewesen war, auch wenn sie mich dabei angeschaut hatte. Ich wußte nicht, ob sie weiter über den Schmerz sprechen wollte, der sie soweit gebracht hatte, oder lieber darüber, wie es weitergehen sollte. Ich stellte mir vor, daß ich an ihrer Stelle lieber vorwärtsblicken würde, deshalb sagte ich: »Weshalb ist der Tod eine Lösung?« Sie sah mich verwundert an, dann antwortete sie: »Es stimmt nicht, daß der Tod eine Lösung wäre; das Leben ist es aber auch nicht. Es ist nicht so, daß ich mir wünschen würde, tot zu sein; ich will manchmal bloß nicht mehr weiterleben.«
Anscheinend stand ich unter dem Zwang, ihr das Vorhaben ausreden zu wollen. Ich wußte genug über das Thema, um zu wissen, daß es dabei um ein emotionales Problem ging, doch hielt mich das nicht davon ab, es rationalisieren zu wollen. »Aber einmal angenommen, nach dem Tod wird es nur noch schlimmer?« sagte ich. »Sind Sie mit einer Religion großgeworden, die an ein Leben nach dem Tod glaubt?« Sie nickte. »Haben Sie sich jemals gefragt, ob diese Vorstellungen vielleicht bloß dazu dienen, den Menschen die Angst vor dem Sterben zu nehmen? Und ihnen womöglich eine um so größere Angst davor zu machen, anderen Leid zuzufügen, weil sie dafür später bestraft werden? Wenn aber das Leben nach dem Tod in Wahrheit noch schlimmer ist als das Leben davor? Es könnte nämlich durchaus sein, daß es das gleiche ist, als müßten wir im Wartezimmer eines Arztes auf die Ewigkeit warten, während wir gezwungen sind, uns alte Vorsorge-Videos anzuschauen.« Jennis Augen umwölkten sich. »Sie verstehen mich einfach nicht.« »Das stimmt. Ich verstehe Sie nicht. Aber ich bemühe mich. Wenn Ihnen das Leben nun nicht gefällt, wenn Sie nicht mehr weiterleben wollen, wenn Sie aufhören wollen, Anteil zu nehmen, aufhören zu fühlen, weshalb gehen Sie dann nicht nach Xanahalla?« An Bord der Redshift, bei der dort herrschenden niedrigen Lichtgeschwindigkeit, waren die Verzögerungen in den Unterhaltungen zumeist lästig. Diesmal kam mir die Verzögerung gerade recht. Ich hatte bereits aufgehört zu reden und beobachtete Jenni, als ich bemerkte, wie sich zwei Köpfe zu mir umwandten, jäh innehielten und sich dann wieder beiläufig zu Jenni herumdrehten. Es handelte sich um Wade und Tara. »Was ist Xanahalla?« fragte Jenni. Tara öffnete langsam den Mund, als wollte sie antworten, doch Karl Welmot kam ihr zuvor. »Ich dachte, davon hätte jeder schon gehört.« Er blickte erst uns an, dann sah er wieder zu Jenni. »Xanahalla ist ein religiöser Zufluchtsort. Ich weiß nicht, wo es liegt, doch hin und wieder höre ich davon. Anscheinend muß man sich dort einkaufen - entweder durch großzügige Spenden, oder indem man eine Menge gemeinnützige Arbeit leistet. Angeblich ist es eine Art Paradies, eine Belohnung für Leute, die ihren Beitrag geleistet haben. Jedermann führt dort ein angenehmes Leben, meditiert über die Mysterien des Universums und betet zu Gott.« Karl schwenkte die Hände, als riefe er Gott an. Jenni sah mich an. »Ich verstehe Sie nicht. Wieso vergleichen Sie das mit dem Selbstmord?« Ich erwiderte: »Ich habe bloß gesagt, es gäbe eine ganze Gruppe von Menschen, die sich aus dem Universum abgemeldet haben. Sie haben genug davon, ihre Lebensqualität zu verbessern oder was es an trivialen populären Zwecken sonst noch gibt. Sie haben eine ähnliche Entscheidung getroffen wie die, mit der Sie sich herumschlagen, aber sie haben den Vorteil, es sich später wieder anders überlegen zu können. Sie sind nichts weiter als Selbstmörder, denen es an der Kraft mangelt, ihre Entscheidung unumkehrbar zu machen.« »Sie scheinen ja ein richtiger Experte für Xanahalla zu sein, Mr. Erster Offizier«, bemerkte Tara Cline ruhig. Sie hatte eine angenehme Altstimme, doch ihre Wortwahl und ihr Tonfall verrieten mir sogleich, daß ich wohl einen wunden Punkt getroffen hatte. »Sie scheinen ja gut Bescheid zu wissen über die Leute, die dorthingehen, daß Sie so viele Menschen mit ein paar
kurzen Sätzen verurteilen.« Ich blickte ihr tief in die Augen. »Ich möchte mich entschuldigen, falls ich Ihnen zu nahe getreten sein sollte, Mrs. Cline. Manchmal sage ich etwas, weil ich auf die Reaktion gespannt bin, und zwar eben deshalb, weil ich nicht alles weiß. Aber mir scheint, daß Sie auf diesem Gebiet vielleicht Expertin sind.« Wade machte eine Handbewegung, als wollte er seine Frau von einer Antwort abhalten, doch Tara ließ sich dadurch nicht beirren. »Das mag schon sein. Ich war nämlich schon auf Xanahalla, wissen Sie.« In dem Moment, als Tara zu sprechen begann, fühlte ich eine Hand auf meinem Bein. Ich nutzte die Gelegenheit, meinen Stuhl ein Stück zurückzuschieben und mich bequemer hinzusetzen, weiter von Amanda weg. Als ich aufsah, hatten sich alle Gesichter Tara zugewandt. »Ich habe noch nie jemanden getroffen, der auf Xanahalla war«, sagte ich. »Haben Sie gesündigt oder einen Wochenpaß bekommen oder was?« Wade blickte mich finster an. »Sie ist aus eigenem Entschluß gegangen. Die Gründe gehen nur sie etwas an.« Auch Tara schaute finster in meine Richtung. Ob das an mir lag oder daran, daß ihr Mann Fragen beantwortete, die an sie gerichtet waren, konnte ich nicht sagen. Was immer der Grund war, es störte mich. Karl Welmot beugte sich vor. »Wir brauchen nicht zu wissen, weshalb Sie von dort fortgegangen sind. Aber erzählen Sie uns von Xanahalla, würden Sie das tun?« Tara zögerte, war aber schon zu weit gegangen, und so entschloß sie sich, seiner Bitte zu entsprechen. »Es ist eine idyllische Welt, vollkommen friedlich. Die Gründer haben jedes einzelne Bauwerk unter dem Aspekt errichtet, daß es in Einklang steht mit der Schönheit der Pflanzen von Dutzenden von Welten«, sagte sie, wobei sich ihre Miene wieder aufhellte. Während mich ihre Worte erreichten, merkte ich, wie sie sich für das Thema allmählich erwärmte. Offenbar konnte sie einem nicht lange böse sein. »Wenn man in der Nähe des Turms der Verehrung steht, erstreckt sich das tiefe Grün und Blau bis zum Horizont; dort leben Tausende von Menschen, ohne die Schönheit der Natur zu zerstören. Gepflasterte Wege verbinden die Gebäude, und jedes einzelne davon ist exakt an die lokalen Gegebenheiten angepaßt. Wollten die Erbauer ein Gebäude in einem Fluß haben, dann haben sie es auf Stelzen gesetzt, damit der Fluß darunter hindurchfließen kann, oder aber sie haben es so konstruiert, daß der Wasserlauf durch ein großes Atrium führt. Ich habe noch nirgends so viele Atrien und Oberlichte gesehen wie dort. Ein Netzwerk von unterirdischen Gängen verbindet den Turm der Verehrung mit allen anderen Gebäuden.« Taras Augen hatten einen träumerischen, vielleicht auch wehmütigen Ausdruck angenommen. Ich fragte mich, ob sie gern wieder dorthin zurückgekehrt wäre. Vielleicht stellte einem auf Xanahalla niemand unangenehme Fragen. Oder vielleicht hatten sie dort auch schon alle Antworten gefunden. »Was ist der Turm der Verehrung?« fragte Karl. »Der größte Tempel, den ich je gesehen habe. Er ist großartig. Er hat die Form einer
Pyramide, und es gibt Aufzüge und Treppen, die fast bis in die Spitze führen. Der Turm ist so hoch, daß oben ein anderes Wetter herrscht als am Boden, Er ist bestimmt fünfhundert Meter hoch.« Wade blickte Tara an, und diese setzte ihre Beschreibung fort. »Es ist einfach ein wunderschöner und heiterer Ort.« Das nachfolgende Schweigen war drückend. Als klar war, daß Tara nichts mehr hinzufügen würde, kam Amanda wieder auf die Andeutungen zu sprechen, die ich gemacht hatte, als ich nicht über die Kratzer hatte sprechen wollen. »Wissen Sie«, sagte Amanda, »eigentlich habe ich schon noch ein paar Fragen zu diesem tollen Schiff, Jason. Hätten Sie heute abend vielleicht Zeit, sie mir zu beantworten?« Die Tische in unserer Nähe leerten sich bereits. Wenn ich jetzt nicht ging, lief ich Gefahr, bei Amanda hängenzubleiben, wenn ich nicht grob weiden wollte. Ich erhob mich abrupt. »Tut mir leid, Amanda. Ich glaube, ich muß mich entschuldigen, meine Damen und Herren. Wenn Sie noch weitere Fragen zur Redshift haben, wird sie Ihnen Merle bestimmt beantworten können. Oder wenden Sie sich an ein Besatzungsmitglied. Ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Reise. Guten Abend.« Amandas Augen verengten sich fast unmerklich, als sie die verborgene Botschaft begriff, dennoch lächelte sie freundlich in Merles Richtung. Ich bemerkte, daß Wade jetzt entspannter wirkte als noch vor wenigen Minuten. Merle senkte verlegen lächelnd den Kopf, bevor er sich am Tisch umsah, ob noch jemand Fragen habe. Ich zog mich zurück. Der Andrang am Ausgang war jetzt so groß, daß ich nicht rennen konnte, daher zwängte ich mich behutsam durch eine Gruppe plaudernder Passagiere hindurch und wandte mich zur Tür. Ich hatte sie fast erreicht, als jemand meinen Namen rief. Ich drehte mich um und stellte fest, daß Jenni Sonders unmittelbar hinter mir war. »Ich wollte… mich wegen gestern bei Ihnen entschuldigen«, sagte sie. »Und dafür, daß Sie wegen mir in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt wurden. Dank Doktor Willetts Medikamenten kann ich jetzt wieder klarer denken.« Sie faßte sich hinters Ohr. Jenni wirkte nüchtern, doch der Schmerz, den ich gestern in ihren Augen gesehen hatte, war verschwunden. Sie wirkte hübscher, wenn sie sich nicht so quälte. »Lassen Sie uns auf den Gang hinausgehen«, schlug ich vor. Auf dem Äquatorialkorridor wandten wir uns nach rechts und gingen schweigend ein paar Meter. Ich wußte nicht so recht, was ich sagen sollte. »Sie brauchen sich nicht bei mir zu entschuldigen, Ms. Sonders. Eher müßte ich mich entschuldigen. Kein Gesetz verbietet Ihnen, Selbstmord zu begehen, wenn Sie es wünschen. Ich weiß immer noch nicht, ob ich richtig gehandelt habe.« »Sagen Sie Jenni zu mir. Und in einer ähnlichen Situation würden Sie wieder genauso handeln.« »Ja«, gab ich zu. »Wahrscheinlich haben Sie recht.« Wir gingen weiter. Wir kamen am Serviceeingang vorbei, der zur Küche führte, und wandten uns am nächsten Nord-Süd-Korridor nach rechts. Von der Mitte der Kreuzung aus
betrachtet senkten sich alle vier Gänge ab, bis sie außer Sicht verschwanden, was einem das Gefühl vermittelte, am höchsten Punkt der Welt zu stehen. Auch wenn es eine kleine Welt war. Ich musterte Jenni eingehender, als ich es am vergangenen Abend getan hatte. Ihre Augen waren grün, mit blauen Sprenkeln darin. »Geht es Ihnen heute besser?« fragte ich, da ich annahm, es werde ihr gut tun, das zuzugeben. »Ja. Und nein. Ich bin immer noch sehr durcheinander. Vielleicht fühle ich mich etwas besser. Ja, ich glaub schon.« »Und das alles wegen der Ereignisse der letzten Zeit?« Sie schüttelte den Kopf. »Das hab ich eine Weile gedacht. Aber ich glaube, da steckt mehr dahinter. Ich war schon lange nicht mehr glücklich.« »Seit wann nicht mehr? Seit früher Kindheit?« »Sie auch?« fragte sie und sah mich unvermittelt an. »Volltreffer«, antwortete ich und schluckte. Als wir einem Passagier begegneten, verfielen wir in Schweigen. »Aus welchem Grund sind Sie gestern ursprünglich zur Ebene Zwei runtergegangen?« wechselte ich das Thema. »Wenn Sie wissen wollen, ob ich in der festen Absicht hinuntergegangen bin, mich umzubringen, dann lautet die Antwort nein. Ich erkunde gern meine Umgebung. Ich fühlte mich sehr niedergeschlagen und dachte, das würde mich aufmuntern. Aber es hat nicht gereicht.« Sie lächelte kläglich. »Erzählen Sie mir von Ihren Eltern.« Jenni verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schwenkte die Schultern beim Gehen hin und her. Ich interpretierte ihre Haltung dahingehend, daß sie lässig wirken wollte, doch ihr Tonfall klang angespannt, gehetzt. »Auf einer Skala für Strenge, die bis zehn geht, hätte sie vielleicht eine Elf verdient gehabt. Oder eine Zwölf. Ich war das erste von drei Kindern, daher war ich das Testobjekt. Mein Bruder und meine Schwester wurden ein wenig mehr als eigenständige Persönlichkeiten behandelt, aber erst nachdem ich gekämpft hatte - gekämpft und gekämpft. So lange, bis ich alle Bindungen zwischen mir und meinen Eltern zerstört hatte. Einmal schloß mich mein Vater zur Strafe in ein leeres Zimmer ein. Ich hatte eine Schulveranstaltung und war zu spät nach Hause gekommen. Haben Sie eine Ahnung, wie lang vierundzwanzig Stunden sein können, wenn man nichts weiter spürt als den Haß, der sich in einem aufbaut?« Jenni wäre an den letzten Worten fast erstickt, daher sagte ich längere Zeit nichts. Der weiche, verzögerte Widerhall unserer Schritte war das einzige Geräusch. »Wissen Sie«, sagte ich schließlich, »die Botschaft, die empfangen wird, ist häufig eine andere als die, die man gesendet hat.«
»Bis jetzt habe ich das meiste von dem, was Sie sagt haben, verstanden.« »Ich weiß, ich sollte eigentlich nicht spekulieren. Aber wenn Sie sich umbringen, dann könnte es doch teilweise deshalb sein, weil Sie Ihren Eltern eine Botschaft übermitteln wollen. Etwa: >Seht nur, was mit mir passiert ist, weil ihr mich so schlecht behandelt habt.<« Jenni blieb abrupt stehen. Auf ihrer Stirn bildete sich eine kleine Falte, und es war ihr deutlich anzumerken, daß ihre Neugier geweckt war. »Reden Sie weiter.« »Denken Sie einen Moment darüber nach. Wie, glauben Sie, würden sie reagieren, wenn sie von Ihrem Selbstmord erfahren? Glauben Sie, sie würden sagen: >O je, was waren wir doch für böse Eltern, daß wir unsere Tochter so weit getrieben haben?< Oder würden sie eher sagen: >Jenni hat sich umgebracht, und all unsere Opfer waren umsonst. Das ist also der Dank dafür? <« Jenni sah mich lange Zeit starr an, dann wanderte ihr Blick zwischen meinen Augen hin und her. Leise sagte sie: »Mir scheint, wir haben ganz ähnliche Eltern gehabt.« »Wenn Sie Ihre gekannt haben, nicht«, setzte ich an und brach ab, bevor ich noch mehr sagen konnte. »Was…« »Nichts. Hören Sie, ich wollte damit nur sagen, daß Sie hingehen und sich umbringen können, wenn Sie unbedingt wollen; davon kann Sie niemand abhalten. Aber vielleicht erreichen Sie damit nicht Ihr Ziel.« Jenni holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. »Sie geben einem eine Menge Stoff zum Nachdenken.« »Wenn Sie das gut finden, bedanken Sie sich, indem Sie mir einen Gefallen tun.« »Und der wäre?« Ihrem geringfügig härteren Tonfall entnahm ich, daß sie von Männer keine sonderlich gute Behandlung gewöhnt war. »Rufen Sie mich auf der Stelle an, wenn Sie das Gefühl bekommen, Sie müßten es tun. Sie erreichen mich von jedem Terminal aus über die Brücke. Jederzeit.« Ihr Blick wurde milder, und sie entspannte sich ein wenig. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich das tun kann. Ich denke nicht besonders klar, wenn es mir so schlecht geht. Aber ich werd’s versuchen, das verspreche ich.« Ich nickte. »Wo sind wir eigentlich?« fragte sie, zur nächsten Kreuzung blickend. »Wir haben das Schiff beinahe umrundet. Vor uns liegt der Äquator, wo wir gestartet sind.« Jenni schaute zurück und dann wieder nach vorn zur Kreuzung. Sie nickte, als habe sie die Orientierung wiedergefunden. Ich begleitete sie bis zur Kreuzung und machte Anstalten, nach links abzubiegen. »Werden Sie mich anrufen?« fragte ich.
»Ja. Ich werd’s versuchen.« Jenni wandte sich nach rechts zum Speisesaal und zum Salon, als sie mitten auf der Kreuzung stehenblieb. Sonst war niemand in der Nähe. »Jason, ich…« Ihre Stimme brach, und sie grinste allzu breit, während sie die Luft durch die Nase einsog, als wollte sie einen klaren Kopf bekommen. »Ich weiß nicht, was an Bord dieses Schiffes alles zu Ihren Aufgaben gehört, aber ich bin sicher, man zahlt Ihnen nicht genug.«
Müde ging ich zurück zu meiner Kabine, um mich hinzulegen. Die Angelegenheit mit Jenni Sonders und das Essen hatten mich nicht nur physisch erschöpft. Trotzdem nahm ich mir Zeit, das einzige Bild zu betrachten, das bei mir an der Wand hing. An Bord der Redshift waren ohne Schutzfeld nur Schwarzweißabbildungen möglich, und selbst diese mußten speziell gefertigt sein, damit sie an den richtigen Stellen Licht absorbierten. Dieses spezielle Foto zum Beispiel wirkte aufgrund der langen Brennweite flach. Die Anpassung an die Erfordernisse dieser verrückten Umgebung hatten es auch noch der letzten Tiefenschärfe beraubt, die es je besessen hatte. Ich starrte das Bild meines Vaters so lange an, daß ich ein negatives Nachbild sah, als ich den Blick abwandte. Bisweilen fragte ich mich, weshalb ich das Bild überhaupt behielt. Mittlerweile hätte ich es aber wohl selbst dann nicht mehr vergessen können, wenn ich es weggeworfen hätte. Außerdem fragte ich mich, ob er noch am Leben war.
Am nächsten Morgen war ich gerade auf dem Weg von meiner Kabine zum Frühstück, als das nächste Terminal meinen persönlichen Rufton von sich gab. Gleich darauf erreichten mich die leisen Echos der weiter entfernten Terminals. Ich drückte die Taste und sagte: »Hier Jason.« Razzi war auf der Brücke. Sie klang beunruhigt. »Sie werden auf Ebene Sechs gebraucht.« Sie nannte mir eine Frachtraumnummer. »Können Sie mir mehr sagen? Ich bin allein.« »Wir haben einen Todesfall zu verzeichnen. Es handelt sich um einen Passagier. Der Name lautet…« Der Lautsprecher blieb einen Moment still, während Razzi wahrscheinlich zu dem Schluß kam, daß irgendwer es mir schließlich sagen mußte. »Jenni Sonders.«
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Kapitel 3
Tod im Hyperraum »Eine teuflische Art, sich umzubringen«, sagte Bella. Sie und Bensode, der Dritte Offizier, standen neben Jenni Sonders’ Leichnam, während Rory die Untersuchung durchführte. Ich war als letzter eingetroffen. Conrad Delingo hatte den Leichnam entdeckt. Jetzt stand er vor der Tür des Frachtraums auf Ebene Sechs, um umherstreunende Passagiere fernzuhalten. Dies war das erste Mal, daß ich ihn in gedämpfter Stimmung erlebte. Bensode und ich erwiderten nichts; Bensode war wahrscheinlich ebenso klar wie mir, welche ihrer Bemerkungen rhetorisch gemeint waren und welche nicht. Bensode schaute noch bekümmerter drein als sonst, und mir schien, er hätte nicht betrübter sein können, wenn jemand bei einem Familientreffen die Hälfte seiner Angehörigen umgebracht hätte. Rory kniete auf der anderen Seite von Jennis Leichnam, so daß ich freie Sicht hatte. Sie hatte noch dieselben Sachen an, die sie am Abend zum Essen getragen hatte: eine leichte Bluse und eine weite, tiefblaue Hose. Sie lag auf dem Rücken, mit gespreizten Beinen. Ein Seil war ihr einmal um den Hals geschlungen und vorne verknotet. Die Schlinge war kaum zu sehen, da sie tief in das Fleisch einschnitt, dafür aber der Knoten, der einen kleinen Bluterguß bedeckte. Jennis Gesichtsausdruck wirkte gelassen, doch die bläuliche Färbung der Lippen und Ohren legte Zeugnis ab von den Qualen des Erstickens. Mit einer Hand umklammerte sie das eine Ende des Seils. Das andere Ende schlängelte sich über den Boden wie eine durchtrennte Nabelschnur. Die Augen hatte sie geschlossen. Auf dem Weg hierher hatte ich Wut verspürt - flammenden Zorn, gegen den ich eigentlich schon immun zu sein geglaubt hatte. Ich war wütend auf Jenni, weil sie mich nicht angerufen und ihr Versprechen gebrochen hatte. Ich war wütend auf sie, weil sie sich das angetan hatte. Und ich war wütend auf mich, weil ich sie so nahe an mich herangelassen hatte. Jasons erstem Gesetz der Bewegung zufolge verharrt alles solange in geradliniger Bewegung, bis eine äußere Kraft darauf einwirkt, Jenni hatte mich aus meiner bequemen Bahn geworfen. Hätte ich Jenni jetzt zum erstenmal gesehen, wäre es mir gelungen, gleichgültig zu bleiben. Sie wäre bloß irgendeine Fremde gewesen, die auf ihrem Weg hierhin und dorthin schwankte. Bloß irgendein beliebiger Leichnam am Rande der Straße, die ins Jenseits führte. Doch das war sie nicht. Ich blickte wieder auf ihr Gesicht, und ich sah die Traurigkeit darin, die zuvor gefehlt hatte, und das tat mir weh. Ich starrte immer noch auf Jennis Gesicht, als jemand an meinem Ellbogen zupfte. »Jason, alles in Ordnung?« Neben mir stand Bensode und musterte mich besorgt. »Wie? Oh, ja sicher. Mir fehlt nichts.« Bensode zögerte, als wäre er sich nicht sicher, ob er mir glauben könne, dann sagte er: »Ich habe jemanden eine Bahre holen lassen. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« Seine Augen
wirkten dunkler als gewöhnlich. Unter etwas anderen Umständen hätte er ein Gläubiger sein können, der einen günstigen Moment abwartete, um seinen Anspruch bei der trauernden Familie geltend zu machen. Ich sah Bella an. Sie hatte Bensodes Frage gehört und schüttelte den Kopf. Ich sagte: »Nein, danke.« Ich zwang mich, nicht zu Jenni hinzusehen. Statt dessen lenkte ich mich damit ab, daß ich mich ein wenig im Frachtraum umschaute. Große, verschlossene Kisten, die an manchen Stellen fast bis zur hohen Decke reichten. Ein gerader Gang führte von der Tür bis zur gegenüberliegenden Wand, und von diesem Mittelgang gingen vier Seitengassen ab. Jennis Leichnam lag im Schnittpunkt zweier dieser Gänge auf dem Boden. Rory hatte offenbar die Voruntersuchung abgeschlossen. Jennis Bluse hatte er hochgeschoben, so daß man den Lifebelt sah, der um ihre Taille befestigt war. Er schaute zu Bensode hoch. »Wie lautet ihr Code?« Nach einem kurzen Rückruf bei der Brücke nannte Bensode ihm eine fünfstellige Zahlenreihe, die Rory in das Tastenfeld an der Vorderseite des Gürtels eintippte. Als er fertig war, piepste der Lifebelt mehrmals laut. Rory gab die Nummer ein zweites Mal ein, worauf sich der Gürtel abschaltete und öffnete. Es dauerte eine Weile, bis sich das Feld abgebaut hatte; währenddessen verflüchtigte sich das Rot von Jennis Haar, und auch die letzte Farbe wich aus ihrem Gesicht. Das Blau ihrer Hose verblaßte jetzt, da es nicht mehr dem Feld ausgesetzt war, zu Grau. Rory holte eine scharfe Klinge aus seinem Koffer und schnitt damit das Seil von Jennis Hals los. Er entfernte es behutsam. Auch anschließend blieb die Kerbe an ihrem Hals unverändert tief. Rory löste das Ende des Seils von Jennis rechter Hand und legte es in einen Klarsichtbeutel aus seinem Koffer. Schließlich streifte er noch einen feldgeschützten subjektiven Zeitmesser über Jennis Handgelenk. Langsam richtete er sich auf. Da hier lediglich ein Drittel Ge herrschte, beruhte seine Schwerfälligkeit offenbar nicht auf mangelnder Körperkraft. Das Doppeldisplay des rechteckigen Streifens zeigte den Beginn des Zählens an sowie die seitdem verstrichene subjektive Zeit. Rory wandte sich zu Bella, Bensode und mir herum und sagte: »Das ist nur vorläufig.« Er kratzte sich am Kopf und seufzte. Bella nickte. »Sie ist erstickt, hat sich offenbar selbst stranguliert.« Rory blickte blinzelnd zur Standarduhr bei der Tür. »Unter der Voraussetzung, daß die Zeit hier etwa zwanzig Prozent schneller verstreicht als auf Ebene Vier, würde ich sagen, daß sie um Mitternacht herum gestorben ist. Sie hat drei Blutergüsse am Hinterkopf, von denen einer wahrscheinlich vom Vortag stammt, während sie sich die beiden anderen kurz vor ihrem Tod oder während des Todeskampfes zugezogen haben muß. An Armen und Beinen hat sie mehrere kleine Kratzer, Blutergüsse und Abschürfungen, die sie sich nur beim Herumklettern auf den Frachtkisten zugezogen haben kann. Es sieht ganz nach einem vollendeten Selbstmord aus. Ich werde sie noch auf Drogen und ein paar andere Dinge untersuchen, glaube jedoch nicht, daß das zu neuen Erkenntnissen fuhren wird.«
Bella nickte. »Besteht die Möglichkeit, daß einer der Schläge auf den Hinterkopf für ihren Tod verantwortlich war?« fragte ich. Rory schüttelte prompt den Kopf. »Wenn Sie andeuten wollen, jemand habe sie mit einem kräftigen Schlag getötet und ihr dann die Schlinge um den Hals gelegt, also, das ist ausgeschlossen. Als die Schlinge um ihren Hals befestigt wurde, war sie noch am Leben, und die Verengung der Schlinge war die Todesursache. Da bin ich mir sicher. Wenn sie das Seil nicht verknotet hätte, würde sie noch leben, weil sie den Zug nicht hätte aufrechterhalten können, nachdem sie das Bewußtsein verloren hatte.« »Weshalb sind Sie sich so sicher, daß sie erstickt ist?« fragte ich. »Wegen der Blutflecken - aufgrund des erhöhten Blutdrucks platzen in den Augen Blutgefäße. Diese kleinen Flecken sind ein eindeutiger Hinweis auf einen Erstickungstod.« Bella kniff die Augen zusammen und sagte: »Worauf wollen Sie mit Ihren Fragen hinaus, Jason? Glauben Sie, jemand habe einen Grund gehabt, sie zu ermorden?« »Ganz bestimmt nicht«, antwortete ich. Zumindest keinen triftigen Grund. Jenni hatte mir versprochen, mich anzurufen, bevor sie etwas unternehmen würde, und sie hatte nicht angerufen. Das konnte allerdings auch bedeuten, daß sie mich angelogen oder es nicht über sich gebracht hatte, oder sie hatte nicht klar denken können, als es ihr schlecht ging, genau wie sie gesagt hatte. »Ich sondiere bloß die Möglichkeiten.« »Die Blutergüsse sind wahrscheinlich die Folge von Krämpfen während des Todeskampfs«, meinte Rory. »Eine Schlinge um den Hals kann einen auf mindestens zwei Arten umbringen. Wenn sie fest genug ist, bewirkt sie schwere Nervenschäden, und man stirbt rasch. Wenn sie lockerer ist, unterbindet sie lediglich die Blutzufuhr zum Gehirn oder die Luftzufuhr zur Lunge, oder beides. Auf diese Weise ist Jenni gestorben. Das ist erheblich schmerzvoller, weil es länger dauert.« Ich kniete neben Jennis Leichnam nieder und überlegte, was es wohl für ein Gefühl gewesen sein mußte, den Knoten nicht lösen zu können, falls sie es sich doch noch anders überlegt hatte. Ich fragte mich, ob sie wohl an dem Knoten herumgenestelt hatte, als ihr die Luft ausging. Legte der sengende Schmerz einem vielleicht nahe, doch noch nach einem Ausweg zu suchen, oder war er bloß eine unangenehme Zwischenstation auf dem Weg zu einem langersehnten Ziel? »Was hat die Kratzer am Hals hervorgerufen?« »Wahrscheinlich ihre Reaktion auf den Schmerz – als sie versucht hat, das Seil zu lösen. Ich habe Berichte von Leuten gelesen, die um ein Haar auf diese Weise gestorben wären. Wie gesagt, dieser Tod ist schmerzhaft.« »Dann hat sie es also wirklich getan, Doc?« fragte ich. Rory blickte mich seltsam an. »Ja, ich sagte bereits, es sieht ganz danach aus.« Ich richtete mich auf. Wahrscheinlich sollte ich anfangen, wieder meinen Kopf zu gebrauchen, anstatt aus dem Bauch heraus zu urteilen. »Danke, Doc. Ich glaube, ich bin etwas durcheinander. In ein paar Minuten bin ich wieder auf dem Damm.« Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie Bella und Bensode Blicke wechselten.
Trotz der düsteren Szenerie spielte ein Lächeln um Rorys Lippen, und er schüttelte leicht den Kopf. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Das ist eine ganz normale menschliche Reaktion.«
»Wundert es Sie, daß sich Jenni Sonders auf diese Weise umgebracht hat?« fragte ich Rory in seinem Büro auf Ebene Vier. Die Wände waren grau und von geschlossenen Schränken gesäumt. Er bot mir etwas zu trinken an, doch ich lehnte ab. Er wärmte sich die Hände an seinem Becher. »Ich weiß nicht, ob ich genug Informationen habe, um mich zu wundern. Ich habe ein paar Minuten mit ihr gesprochen, bevor ich sie sediert habe, und dann noch einmal etwa eine Viertelstunde gestern abend. Trotzdem könnte ich nicht sagen, ob sie dauerhaft suizidgefährdet war oder spontan gehandelt hat. Es gab Anzeichen in beide Richtungen. Die Medikamente hätten ihr helfen sollen - jedenfalls glaubte ich das. Wenn Sie mich nach meiner Meinung gefragt hätten, hätte ich gesagt, sie sei über den Berg und befinde sich auf dem Wege der Besserung. Aber es ist schwer, in anderer Leute Köpfe hineinzublicken. Jedenfalls haben Sie anscheinend großen Eindruck auf sie gemacht.« »Haben Sie da nicht etwas falsch verstanden?« sagte ich, mir die Wange reibend. Rory schnappte sich einen der Besucherstühle und setzte sich neben mich. »Machen Sie nur ruhig Witze, aber die halbe Zeit, die ich mit ihr zusammen war, hat sie sich nach Ihnen erkundigt. Wollte wissen, was Sie vorher gemacht haben, bevor Sie auf einem Hyperraumschiff angeheuert haben, wie es um Ihre jetzigen und Ihre früheren Beziehungen bestellt ist. Kam mir schon blöd vor, weil ich ständig >Ich weiß nicht’ sagen mußte.« Rory sah mich erwartungsvoll an, doch mir war noch weniger danach zumute, über mich zu reden, als sonst. Jennis Leichnam lag nebenan im Kühlfach, eine stete Mahnung, wie teuer es einen zu stehen kommen konnte, wenn man andere Menschen zu nahe an sich heranließ.
»Ja, ich habe gestern abend mit Jenni Sonders gesprochen - im Salon, nach dem Essen«, berichtete mir Wade Midsel. »Tara ebenfalls.« Wade und ich saßen uns im Geschäftszimmer gegenüber, das in unmittelbarer Nähe der Brücke lag. Hinter Wade war an der Wand ein riesiger Querschnittsplan der Redshift befestigt. Sie war aufgeschnitten wie eine Orange, von der mehrere Stücke fehlten, so daß ein Teil jeder einzelnen Ebene abgebildet war. Daneben gab es mehrere kreisförmige Orientierungspläne, auf denen für jede einzelne Kreisebene der Äquatorialkorridor, die Breiten- und die Längskorridore sowie jeder einzelne Raum samt Verwendungszweck verzeichnet waren. Auf Ebene Vier war ein kleiner Pfeil mit der Überschrift >Sie befinden sich hier< abgebildet. Ich wußte, daß Wade mir die Wahrheit sagte; die gleiche Information hatte ich gestern abend im Salon bereits von drei verschiedenen Personen erhalten. »Welchen Eindruck hat Jenni auf Sie gemacht?« fragte ich. Wade senkte geringfügig die Augenlider, während er sich die Antwort zurechtlegte. Aus diesem Grund wirkte er schläfrig, obwohl nichts an ihm darauf hindeutete, daß er erschöpft
war. Er wirkte ruhig, beherrscht und allen nervösen Gesten, die eine unnötige Energieverschwendung bedeutet hätten, abhold. »Deprimiert, würde ich sagen. In meiner Gegenwart hat sie nicht von Selbstmord gesprochen, doch es war nicht zu übersehen, daß sie eine unglückliche Frau war. Einmal mußte sie mitten im Satz innehalten, um die Fassung zu wahren. Sie wirkte nicht einmal dann entspannt, wenn sie lächelte. Sie zappelte ständig.« Ich war nicht der Meinung, daß seine Beobachtungen allein für Frauen typisch waren, doch er hatte meine Frage beantwortet, daher sagte ich nichts. Er fuhr fort: »Es wundert mich ein wenig, daß sie es tatsächlich getan hat, aber das kommt wahrscheinlich daher, daß ich mit Selbstmord nicht so vertraut bin. Das Verhalten mancher Frauen ist schwer vorhersehbar.« »Ich glaube, das gilt für jeden. Ich habe schon zahllose Geschichten über Leute gehört, die durchgedreht sind und einen Haufen unschuldiger Menschen umgebracht haben, und wenn man dann ihre Freunde interviewt, heißt es jedesmal: >Aber der war doch immer ganz normal. Wer hätte das gedacht?« »Das stimmt; alles ist möglich. Aber ich fürchte, das ist alles, was ich Ihnen über Jenni Sonders sagen kann.« »Ich danke Ihnen, Mr. Midsel. Vielleicht kann Ihre Frau mir ja mehr sagen. Wie ich höre, ist sie noch mit Jenni im Salon geblieben, nachdem Sie gegangen waren.« »Das wäre reine Zeitverschwendung. Tara weiß nichts, was Ihnen weiterhelfen könnte.« »Danke, aber das zu beurteilen überlassen Sie besser mir.« Noch während ich dies sagte, wurde mir bewußt, daß ich mir mein Urteil wieder einmal durch Gefühle trüben ließ. Ich wollte mehr über die Stimmung herausfinden, in der Jenni sich gestern befunden hatte, doch ich interessierte mich auch für Tara.
»Ja, ich bin überrascht, daß sie es getan hat«, erklärte Tara Cline. »Sehr überrascht. Ich hatte den Eindruck, Jenni ginge es wieder erheblich besser.« Tara saß auf demselben Stuhl, auf dem zuvor Wade gesessen hatte. Sie wirkte nicht annähernd so glücklich wie zu Anfang, als sie an Bord der Redshift gekommen war. Außerdem mangelte es ihr an Wades Gefaßtheit. Jennis Tod schien sie viel tiefer berührt zu haben als Wade. Taras dunkelblaue Augen blickten traurig, und es fehlte ihnen die muntere Wißbegier, die sich noch tags zuvor darin gezeigt hatte. In diesem Moment wirkte sie gar nicht schelmisch. Sie wirkte verletzlich. Eigentlich war ich froh, daß Wade und Tara verschiedener Meinung waren. Dies deutete darauf hin, daß sie sich nicht abgesprochen und sich keine Geschichte zurechtgelegt hatten. Dennoch weckte die Diskrepanz ihrer Schilderungen mein Interesse. »Ihr Mann hat mir gesagt, Jenni sei gestern abend immer noch sehr deprimiert gewesen. Aus Ihrer Schilderung gewinne ich eher den Eindruck, daß es so schlimm nicht war.« »Mr. Kraft…« »Jason.«
»Jason.« Sie nickte. »Wade ist nicht lange bei uns geblieben. Ich habe mich anschließend noch mindestens eine halbe Stunde mit Jenni unterhalten. Ich glaube, die Zeit reichte für ihn einfach nicht aus, um sich ein Bild von ihrem Zustand zu machen.« Tara schlug die Beine übereinander. »Sie und Jenni haben den Salon zusammen verlassen - etwa zwei Stunden vor Mitternacht?« »Das stimmt. Sie ging zu ihrer Kabine, und ich ging zu meiner. Zu unserer Kabine.« »Hat Jenni erwähnt, sie habe noch etwas vor?« »Nein. Ich glaubte, sie wolle sich schlafen legen. Sie bedankte sich bei mir für das Gespräch - ich meinte, sie brauchte sich nicht für etwas zu bedanken, das ich gern getan hätte - und sagte etwas Ähnliches wie: >Ein bißchen Schlaf würde jetzt nicht schaden.<« »Worüber haben Sie gesprochen, nachdem Wade gegangen war?« Tara verschränkte die Hände auf dem Schoß und schaute sie eine Weile an. »Wir sprachen über mehrere Dinge. Vor allem wohl über Selbstmord, über Xanahalla - und über Sie.« Sie sah mich direkt an, als versuchte sie, meine Reaktion einzuschätzen. Vielleicht bildete ich mir das auch bloß ein, doch kam es mir so vor, als sei ihre Neugier wieder erwacht. »Sagen Sie mir, was Sie von dem Selbstmord halten«, meinte ich rasch, aus Angst, das Gespräch könne sich mir zuwenden. Der Anflug eines Lächelns spielte um Taras Lippen, dann verflüchtigte es sich wieder. Oder vielleicht war das auch bloß Einbildung. In letzter Zeit zweifelte ich viel zu oft an meinen Wahrnehmungen. »Sie hat mir von den Unterhaltungen erzählt, die sie mit Ihnen geführt hat - von einigen Dingen, die sie im Zorn gesagt hat, und die Sie, Ihrer Reaktion nach zu schließen, vielleicht gar nicht mitbekommen haben.« Ich wollte gegen diese neue Wendung des Gesprächs protestieren, doch Tara redete sogleich weiter. »Sie hat mir erzählt, was Sie ihr für Fragen gestellt haben - Fragen, die sie innehalten ließen und zum Nachdenken brachten. Fragen, die sie daran zweifeln ließen, daß sie wirklich das Richtige tat. Ich glaube, im Grunde brauchte sie vor allem einen Freund. Sie bekam allmählich das Gefühl, sie sei Ihnen etwas schuldig.« Ich schluckte und zögerte dann, erstaunt darüber, daß es mich rührte, daß Jenni den Eindruck gehabt haben sollte, durch mich habe sich etwas verändert. »Wirklich, Ms. Cline, ich…« »Tara.« »Tara. Ich glaube, wir kommen vom Thema ab.« »Tatsächlich?« Abermals schien der Anflug eines schelmischen Lächelns Taras ernste Miene aufzuhellen. Sie senkte den Blick zu Boden. »Wie kam es, daß Sie sie sich über Xanahalla unterhalten haben?« fragte ich, um wieder in
sichereres Fahrwasser zu gelangen. »Wegen Ihnen.« »Ach, kommen Sie. Fangen wir noch mal von vorn an und…« »Das ist mein voller Ernst. Es war wegen Ihrer Bemerkungen beim Essen. Sie werden sich doch noch erinnern, daß Sie eine Parallele gezogen haben zwischen Xanahalla und Selbstmord.« »Deswegen habe ich mich bereits entschuldigt.« »Ich wüßte nicht, wofür. Jenni und ich haben über uns selbst gesprochen, über die Beweggründe für unser bisheriges Handeln. Wir hatten mehr gemeinsam, als wir dachten. Vielleicht bin ich wirklich ausgestiegen. So hatte ich es bislang noch nicht betrachtet, aber dorthin zurückzugehen hat wohl den gleichen Reiz auf mich ausgeübt wie der Selbstmord auf Jenni.« »Zurückzugehen?« »Habe ich das wirklich gesagt? Ich meinte, dorthinzugehen. Es war unhöflich von mir, daß ich gestern Ihre Frage nach den Gründen für meinen Weggang nicht beantwortet habe. Wenn Sie es immer noch wissen möchten, kann ich es Ihnen jetzt sagen.« Eigentlich war Wade unhöflich gewesen; Taras Loyalität war erfrischend. Ich sagte: »Bitte fahren Sie fort.« Xanahalla interessierte mich immer noch, und Tara war die letzte Person, die ich zu Jenni befragen wollte, deshalb bestand kein Grund zur Eile. Und wenn ich ehrlich war, interessierte mich Tara ebenfalls. »Ich bin von Xanahalla fortgegangen, weil ich irgendwann das Gefühl bekam, nur noch die Zeit totzuschlagen. Vielleicht hatte es etwas mit dem zu tun, was Sie gestern abend gesagt haben. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, etwas beizutragen; ich langweilte mich. Soweit ich erkennen konnte, landete ein Großteil des Geldes, das ich spendete, im Turm der Verehrung, entweder zum Zweck der Verschönerung oder im Notfallfonds - für den Fall, daß sich irgendwo eine gewaltige Katastrophe ereignen sollte. Ich hingegen fand, es sollte mehr Geld sofort ausgegeben werden; mittlerweile gibt es auf Hunderten von Welten bedürftige Menschen. Ich fand, wir hätten uns mehr um die nahe Zukunft kümmern sollen. Der Aufenthalt dort hat schon etwas von Aussteigen an sich.« »Weshalb ist die Verschönerung so teuer?« »Der Turm der Verehrung ist nicht bloß irgendein Tempel. Ich meine, man hat ja immer das Bedürfnis, das zu Ehren Gottes errichtete Bauwerk so schön wie möglich herzurichten, aber dieser Tempel ist etwas Besonderes. Ich glaube, ich erwähnte bereits, daß er wahrscheinlich der größte Tempel ist, den es gibt. Es gibt dort nicht bloß gewaltige Bleiglasfenster und das übliche Drum und Dran; im Mittelpunkt des Turms der Verehrung gibt es beispielsweise Bänke mit Einlagen aus purem Gold. Manche Bänke sind sogar mit Edelsteinen besetzt. Die Wirkung ist höchst beeindruckend.« »Hat man denn keine Angst vor Dieben?« fragte ich. »Wer sollte dort schon etwas stehlen? Die Bewohner haben keinen Bedarf für zusätzlichen Reichtum. Und sonst kommt niemand dorthin.«
Meine Skepsis war mir wohl anzumerken, denn sie fuhr fort: »Es ist ja nicht so, daß man sich Xanahalla aus einem Reiseprospekt herauspickt und einfach losfliegt. Man muß dorthin gebracht werden. Und die wenigen, die wie ich wieder fortgehen, werden von einem Schiff in aller Stille in der Nähe eines Standarddocks abgesetzt, das so weit von Xanahalla entfernt liegt, daß sie niemals zurückfinden würden.« »Wie sind Sie überhaupt dorthingekommen?« »Ich lernte einen anderen Werber kennen und erklärte mich bereit dorthinzugehen. Schließlich bekam ich Anweisung, eine Reise zu unternehmen. Bei einem der kurzen Zwischenstops sprach mich ein Vertreter von Xanahalla an, und ich brach auf der Stelle auf.« »Weshalb sprachen sie von einem >anderen< Werber? Sind Sie denn jetzt auch einer?« »Ja. Das Anwerben erscheint mir sinnvoller, als dort zu bleiben.« Tara schien sich zu entspannen, wenn sie über ein Thema sprechen konnte, das nichts mit Jenni zu tun hatte. Sie legte die Arme auf die Stuhllehnen. »Worin besteht die Aufgabe eines Werbers? Versuchen Sie auch während dieser Reise, andere Leute anzuwerben?« »Nein, nicht unmittelbar; das ist hauptsächlich eine Vergnügungsreise. Überall, wo ich hinkomme, sperre ich vor allem Augen und Ohren auf. Wenn ich von jemandem erfahre, der erhebliche Anstrengungen unternommen hat, Menschen in Not zu helfen, oder wenn ich auf eine reiche Person aufmerksam werde, die man vielleicht dazu bewegen könnte, für eine gute Sache zu spenden, dann spreche ich mit ihnen und gebe bei Interesse Anweisung, Kontakt mit ihnen aufzunehmen.« »Und was haben Sie gespendet?« Was für sie anscheinend bloß eine mittelgroße Geldsumme war, bedeutete für mich ein Vermögen. Sie nannte eine Zahl, die das überstieg, was ich in zwanzig Standardjahren verdienen würde - selbst dann, wenn ich jedesmal Überstunden berechnet hätte, wenn mich jemand fragte, weshalb die Armbanduhren nicht mit den Borduhren übereinstimmten. »Das kommt Ihnen wahrscheinlich viel vor«, sagte sie, »aber ich habe das Geschäft meiner Mutter übernommen und hatte Glück, es rasch vergrößern zu können. Ich beschloß, mein Vermögen für einen guten Zweck zu verwenden.« »Dann haben Sie Wade also erst kennengelernt, nachdem Sie von Xanahalla fortgegangen sind?« Aus irgendeinem Grund fiel mir die Vorstellung schwer, Wade könnte auf einen Teil seines Vermögens verzichtet haben. Vielleicht auch bloß deshalb, weil ich nicht sonderlich wohltätig veranlagt bin. »Ja. Er hat mir sehr gutgetan. Er interessiert sich sogar für Geschichte.« Tara strich sich ein paar schwarze Haarsträhnen aus den Augen. Irgendwie hatte sie sich seit unserer ersten Begegnung verändert. Zu Anfang war sie eine durchschnittlich attraktive Fremde für mich gewesen. Jetzt, da ich ein wenig mehr über sie wußte, oder vielleicht auch bloß deshalb, weil ich sie häufiger gesehen hatte, erschien sie mir aus unerfindlichen Gründen wunderschön. Ich war mir sicher, daß die Bezeichnung >strahlend< auf sie zutreffen würde, wenn sie erst einmal wieder glücklich war und Jennis Tod verarbeitet hatte. Im Moment wartete das Strahlen im Hintergrund auf bessere Zeiten.
»Geschichte?« wiederholte ich; das ursprüngliche Thema hatte ich für den Moment aus den Augen verloren. »Ja. Geschichte ist mein Hobby. Vor allem alte Volkssagen und Märchen für Kinder. Die Vergangenheit fasziniert mich.« »Irgendwie scheinen Sie mir eher der Gegenwart zugewandt zu sein.« »Ich wollte damit nicht sagen, daß ich in der Vergangenheit lebe. Allerdings glaube ich, daß wir alle stark von der Vergangenheit beeinflußt werden. Wir reagieren ebenso häufig auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart.« Ich stimmte darin mit ihr überein, sagte jedoch: »Dann müßten Sie sich auf der Redshift ja wie zu Hause fühlen.« »Ich kann Ihnen nicht folgen.« »Ich meine, alles, was Sie hier sehen, ist Vergangenheit. Läßt einen ganz schön alt aussehen, was?« Tara lächelte, und meine Gedanken kehrten wieder an den Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurück. Ich sagte: »Eigentlich wollte ich nicht so weit abschweifen. Fällt Ihnen noch eine Erklärung dafür ein, daß Jenni es sich anders überlegt haben könnte?« »Nein. Es bedeutete ihr viel, Sie zum Freund gewonnen zu haben.« »Ich habe wirklich nichts Besonderes getan. Es schmeichelt mir, wenn Jenni geglaubt haben sollte, durch mich habe sich etwas für sie geändert, aber ich glaube…« »Wissen Sie, ich glaube, Sie blicken leichter nach draußen als nach drinnen.« »… wir sollten… - Wie bitte?« »Sie verstecken sich hinter Ihrem Panzer, aber Sie blicken nach draußen. Jenni hat davon gesprochen, und ich verstehe, was sie gemeint hat. Sie scheuen vor allem zurück, was das Gespräch auf Sie lenken könnte - als hätten Sie keine Gefühle. Ich glaube, der Panzer bedeutet nicht, daß Sie keine Gefühle haben - Sie haben genauso viele Gefühle wie jeder andere Mensch, aber Sie fürchten sich davor.« »Ich finde wirklich…« »Sie haben gesagt, die Menschen, die nach Xanahalla gehen, begingen Selbstmord auf eine sozial verträgliche Weise. Ich glaube, Sie tun vielleicht das gleiche, indem Sie den Rest der Welt aussperren.« Ich war sprachlos. Ich machte den Mund auf, doch dann wurde mir klar, daß ich keine Ahnung hatte, was ich überhaupt sagen wollte. Tara senkte unvermittelt den Kopf und blickte auf ihre Hände hinunter, ehe sie wieder zu mir aufsah. »Tut mir leid. Ich weiß wirklich nicht, was mich veranlaßt hat, Ihnen all das zu sagen, wo ich Sie doch kaum kenne.« Sie erhob sich. »Vergessen Sie alles, was ich gesagt habe, Jason. Ich habe kein Recht dazu,
mich in Ihr Leben einzumischen. Ich… ich sollte jetzt besser gehen. Es sei denn, Sie haben noch weitere Fragen?« Noch immer sprachlos, schüttelte ich den Kopf. Tara ging hinaus und schloß behutsam hinter sich die Tür. Erst später fragte ich mich, ob ihre Bemerkungen dazu gedacht gewesen waren, mich aufzubringen, oder ob sich mich davon hatten abhalten sollen, Fragen zu Jennis Tod zu stellen.
Auf der Brücke war es ruhig, die Stimmung war noch immer gedämpft. Es kam nur selten vor, daß man einen Passagier verlor, und dies wirkte sich offenbar auf die ganze Besatzung aus. Die Leute wirkten bedrückt, nachdenklich. Ich lehnte mich im Stuhl zurück und beobachtete, wie die Sterne vorbeizogen - was nicht hieß, daß die Bewegung leicht festzustellen gewesen wäre; die augenfälligsten Veränderungen traten auf, wenn ein naher Stern einen weiter entfernten verdeckte. Die Tatsache, daß die Monitordarstellung zweidimensional anstatt räumlich war, nahm dem Sternenfeld etwas von seiner Erhabenheit. Trotzdem war der Anblick eindrucksvoll. Wir waren dem Zentrum der Galaxis so nahe, daß die Sterne dichter angeordnet waren als Schneeflocken bei einem Schneetreiben. Die Anzeige vermittelte jedoch nur einen bedingt zutreffenden Eindruck unserer Umgebung, denn sie wurde ständig anhand von Positionsdaten errechnet, die das Netzwerk übermittelte. Das Netzwerk bestand aus einer Reihe von Sendern, die in der Hyperraumschicht Fünfzehn positioniert waren. Diese Schicht war gefährlicher für Menschen als Schicht Zehn, jedoch nicht so unwirtlich, daß gehärtete elektronische und photonische Systeme nicht eine Zeitlang darin funktioniert hätten. Da die effektive Übertragungsrate dieser Schicht zweiunddreißigmal höher war als die der Schicht Zehn, konnten wir recht schnell mit Planeten der Konföderation und anderen Schiffen kommunizieren. Zu jedem Sender gehörte ein Sensor, der in rascher Folge zwischen Normalraum und Schicht Fünfzehn hin und her wechselte; an Bord der Redshift befand sich ein Sender, der zwischen Schicht Fünfzehn und Schicht Zehn oszillierte. Ein Signal weckte mich aus meinen Träumereien. Als ich aufsah, nahm Razzi gerade den Funkspruch entgegen. »Für Sie«, sagte sie. Razzi war im allgemeinen nicht viel gesprächiger als ich; an dem Tag aber war sie besonders still. Sie wirkte müde, doch das war vielleicht bloß eine Täuschung. Sie hielt sich mit Laufen fit, was den willkommenen Nebeneffekt hatte, daß sich die Schiffszeit dadurch beschleunigte. Sie hätte auch die Tretmühle im Gymnastikraum benutzen können, doch dadurch hätte sich ihre Freizeit an Bord verlängert. Sie wollte nur dann, daß ihre Freizeit langsam verstrich, wenn sie Urlaub von Bord hatte. Ich schaltete die hereinkommende Nachricht auf den Monitor. Es war die Antwort auf eine Anfrage, die ich unmittelbar nach dem Bekanntwerden von Jennis Tod losgeschickt hatte. Nein, nach Kenntnis der Angehörigen reisten keine Freunde von Jenni auf der Redshift mit. Der Name des Ex-Verlobten lautete Todd Armentio. Zum Schluß wurde die Erlaubnis zur Autopsie erteilt. Ein kurzer Blick auf die Passagierliste sagte mir, daß weder Todds noch Armentios an Bord waren. Nur zwei Passagiere hatten die Initialen T. und A. und beide waren weiblich.
Ich leitete die Nachricht an Rory Willett weiter und schaltete wieder auf das Sternenfeld um. Ich lehnte mich zurück und verlor mich in dem hypnotisierenden Anblick. Wo immer Jenni jetzt war, ich hoffte, sie hatte Frieden gefunden. Und Tara. Lange Zeit war es mir gut gegangen, ich hatte meine Einsamkeit kultiviert und Erfüllung im Beruf gefunden. Jetzt aber schien es so, als meldete sich Jasons drittes Gesetz der Emotionen zurück: für jede Emotion gibt es eine entsprechende, aber genau gegensätzliche Emotion. Ich fühlte mich erstaunlicherweise zu Tara hingezogen und hatte gleichzeitig Schuldgefühle deswegen. Sie war eine Bindung mit Wade eingegangen und schien glücklich damit. Meine Gedanken wandten sich wieder Jenni zu. Meine erste Reaktion war normal für mich gewesen; wieso hatte ich mich so engagiert? Nun aber stellte ich mir die Frage, was wohl passiert wäre, wenn ich mich mehr engagiert hätte. Selbst dann, wenn man sich dem Müßiggang hingibt, ist die Zeit relativ. Scheinbar nur einen Augenblick später unterbrach Bensodes Erscheinen auf der Brücke meine Gedankengänge. »Ich fürchte, es ergeben sich neue Probleme, Jason«, sagte er. Er nahm neben mir Platz und lockerte sich den Uniformkragen. Sein düsterer Blick erweckte den Eindruck, er sei schuld an dieser Entwicklung, obwohl er bestimmt bloß der Überbringer der Nachricht war. »Schießen Sie los«, forderte ich ihn auf. »Fenn Melgard ist der Wechselschicht auf Ebene Sechs zugeteilt. Er hat sich heute nicht zum Dienst gemeldet und meldet sich auch nicht auf Anrufe in seiner Kabine.« Bensode hatte allen Grund zur Sorge. Besatzungsmitglieder, die ihre Verantwortung nicht ernst nahmen, machten es auf der Redshift nicht lange. Fenn Melgard würde seinen Dienstantritt wohl kaum verschlafen oder vergessen haben.
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Kapitel 4
Jäger auf der Redshift »Können Sie sich das erklären, Jason?« fragte Bella. Sie lehnte sich in ihrem bequemen Sessel zurück und schüttelte den Kopf. »Bis jetzt noch nicht. Es gibt zu viele Möglichkeiten. Daß Melgard etwa zur gleichen Zeit verschwunden ist, als Jenni Sonders zu Tode kam, erscheint verdächtig, aber ich glaube, wir sollten nach allen Seiten hin offen bleiben.« Fenn Melgard hatte sich auf einen allgemeinen Rundruf hin nicht gemeldet. Das Komm-Terminal meldete sich. Razzi beugte sich vor und nahm das Gespräch entgegen. Im nächsten Moment ertönte Rory Willetts Stimme. »Würden Sie Jason bitte sagen, daß Melgard nicht in seiner Kabine ist? Das Bett ist gemacht. Alles ist ordentlich. Seine persönlichen Habseligkeiten sind anscheinend alle noch da. Keinerlei Anzeichen von einem Kampf.« »Er hat’s gehört«, sagte Razzi. »Danke.« Ohne die Instrumentenanzeigen um uns herum zu beachten, saßen wir im Kreis auf der Brücke: Bensode, Razzi, Bella und ich. Bella war zu uns gestoßen, kurz nachdem ich ihr Bensodes schlimme Nachricht übermittelt hatte. Die bedrückte Stimmung nach Jennis Tod hatte tiefer Beklommenheit Platz gemacht. Bella trommelte mit den Fingernägeln auf die Sessellehne. »Ich glaube, jetzt ist eine gründliche Durchsuchung des Schiffes angebracht. Hat irgend jemand Einwände?« »Die habe ich bereits angeordnet«, sagte ich. »Ich habe mir gedacht, wir könnten die Suche immer noch abbrechen, falls Sie die Passagiere nicht beunruhigen wollen, und die Wahrscheinlichkeit, daß Melgard einfach bloß verschlafen hat, erschien mir zu gering. Die Suche wurde auf Ebene Sechs begonnen.« Bella nickte, anscheinend ohne sich darüber zu wundern, daß ich ihrem Befehl zuvorgekommen war. »Also gut. Sie leiten die Suche, Jason. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie ihn gefunden oder eine Ebene auf Ihrer Liste abgehakt haben. Wie lange wird es dauern, was glauben Sie?« »Wir können ihn jederzeit finden. Wenn er sich aber irgendwo aufhält, wo er nicht entdeckt werden will, kann es auch mehrere Stunden dauern. Oder noch länger, falls er uns absichtlich aus dem Weg geht. Ich kann dazu noch nichts sagen.« Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, daß sich die Tür zum Gang geöffnet hatte. Conrad Delingo schritt eilig auf uns zu, und im nächsten Moment erreichte uns das gedämpfte >Plopp< des Überschallknalls, den er erzeugt hatte. »Sie haben mich rufen lassen, Sir?« sagte er und nahm Haltung an. »Richtig. Aber setzen Sie sich doch.«
Conrad holte sich einen freien Stuhl, und wir machten ihm Platz. Er nahm steif Platz und sah mich direkt an. Seine weiße Uniform war makellos, und sämtliche Taschen waren ordentlich verschlossen. Ich sagte: »Wir brauchen bloß ein paar Auskünfte von Ihnen. Für irgendwelche Formalitäten besteht kein Anlaß. Wie ich höre, sind Sie mit Fenn Melgard gut befreundet.« Nachdem Conrad genickt hatte, fuhr ich fort: »Sie haben bestimmt gehört, daß er verschwunden ist. Berichten Sie uns, was Sie über ihn wissen, alles, was uns bei der Suche helfen oder Aufschluß über sein Verschwinden geben könnte.« Conrad schluckte schwer und blickte sich im Kreis der ernsten Gesichter um. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen da weiterhelfen kann, Sir, aber ich werde Ihnen sagen, was ich weiß. Fenn… ah… Melgard ist… das sieht ihm gar nicht ähnlich. Er ist verläßlich. Freundlich. Er hat mir sehr bei der Einarbeitung in mir fremde Aufgabenbereiche geholfen. Ich habe keine Ahnung, was dahintersteckt.« »Gibt es unter den Besatzungsmitgliedern jemanden, mit dem er besonders viel Zeit verbringt?« »Nein, Sir. Fenn hat ebenso gern Gesellschaft wie jeder andere auch, aber soviel ich weiß, hat er keine feste Beziehung. Er sagt immer, er mag die Abwechslung.« »Wie steht es mit den Passagieren?« »Sie meinen, ob er sich mit einem der weiblichen Passagiere angefreundet hat? Nein, kann man nicht sagen. Er weiß, das wird nicht gern gesehen, und er findet, die Besatzung sei groß genug, um zwischen den Häfen… äh… seinen Spaß zu haben.« Conrad vermied es, Bella und Razzi anzusehen, als sei dies ein Gespräch unter Männern. »Dann hat er also nicht erwähnt, sich mit Jenni Sonders getroffen zu haben?« »Nein, Sir.« »Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?« »Gestern abend. Als die Schicht halb rum war, gegen acht. Wenn wir heute auf Tangente andocken, müssen wir Fracht entladen, die hinter Kisten verstaut war, die für Far Star bestimmt sind, daher haben Fenn, Thompsil und Hendern die Ladung umgesetzt.« Ich kratzte mich an der Stirn. »Machte Melgar einen normalen Eindruck auf Sie? Bedrückte ihn irgend etwas?« »Er wirkte normal. Vielleicht etwas stiller als gewöhnlich, aber auch nicht so still, daß ich Verdacht geschöpft hätte.« Conrad hatte seine anfängliche Nervosität anscheinend überwunden. »Steckt er in finanziellen Schwierigkeiten?« »Nicht, daß ich wüßte. Er kam mit seinem Gehalt gut zurecht.« Ich lehnte mich zurück und breitete die Arme aus. »Sonst noch jemand?« Niemand hatte noch Fragen an Conrad, daher schickte ich ihn wieder an die Arbeit.
Ich wandte mich an Bella. »Solange Melgard verschwunden ist, können wir die Passagiere auf Tangente nicht von Bord lassen.« »Das geht auf keinen Fall. Wenn wir sie hierbehalten, müssen wir solange warten, bis die Suche abgeschlossen ist, oder wir nehmen sie mit, setzen sie unterwegs ab und lassen sie von dort aus zurückfliegen. In beiden Fällen müßten wir mit einem Aufstand rechnen. Also beeilen Sie sich, Jason.« Ich saß einen Moment lang schweigend da, dann sagte ich: »Ich glaube, ich gehe mal rauf und schaue nach, welche Fortschritte die Suche macht.« »Halten Sie mich auf dem laufenden.« Bensode und ich standen auf. Ich erreichte die Tür zum Gang als erster. In dem Moment, als ich die Tür aufschob, ertönte das laute Plopp eines Überschallknalls, und ein Junge, der halb so groß war wie ich, rannte vorbei. Das tiefe Geräusch der Schritte folgte der kleinen, rotverschobenen Gestalt, die auf dem Gang verschwand. Der Schatten des Läufers folgte hinterdrein, als wäre er ein eigenständiges Wesen, ein dahingleitender dunkler Gefolgsmann, der einen respektvollen Abstand einhielt. Eigentlich hatte ich im Moment Besseres zu tun, machte mich aber trotzdem sogleich an die Verfolgung. Während ich schneller wurde, näherte sich das Laufgeräusch des Jungen wieder der gewohnten Tonhöhe an, und sein Rücken wurde erst orange, dann nahm er wieder normale Farbe an. Seine Füße, die bei jedem Schritt abwechselnd rot und blau erschienen, bewegten sich immer schneller, während sich meine Eigenzeit verlangsamte. Ich spürte, wie der Luftwiderstand zunahm, und als ich die Schallmauer durchbrach, brach das Laufgeräusch jäh ab. Rufen war zwecklos, da ihn der Schall niemals erreichen würde. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn einzuholen. Auf Ebene Vier betrug die Umlaufgeschwindigkeit etwa achtzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit, daher brauchte man sich nicht bis zum äußersten anzustrengen - es sei dann, man wollte sich in eine Umlaufbahn befördern. Das war gar nicht so schwer; komplizierter war es, wieder zu landen. Man trudelte zunächst einmal langsam dahin, und wenn man aufgrund des Luftwiderstands wieder so weit abgebremst wurde, daß man auf dem Boden landete, war kaum damit zu rechnen, daß die Füße in der richtigen Position waren. Jasons Gesetz des Orbits besagt, daß der Körperteil, mit dem man auftrifft, so gut wie immer der Hinterkopf ist. Zum Glück rannte der Junge nicht mit äußerster Kraft. Vielleicht konnte er auch nicht so schnell laufen. Ich hielt mich dicht am Boden, lief so schnell, wie ich mich traute, und holte allmählich auf. Wenn er sich nicht umsah, würde er mich nicht bemerken. Der Gang hatte mittlerweile merklich kontrahiert. Die Wände hatten eine blaue Färbung angenommen. Ich schloß immer weiter auf, bis ich einen Schritt hinter dem Jungen war. Meinen gleichmäßigen Atem hörte ich nur in meinem Kopf. Ich streckte die Hand aus, bekam den Jungen am Kragen zu packen und hob ihn hoch. Der Junge kreischte. Wir waren der Umlaufgeschwindigkeit so nahe, daß ich keine Mühe hatte, ihn hochzuheben. Während seine Beine noch in der Luft ruderten, bremste ich unvermittelt ab. Der Gang gewann seine normale Länge zurück, und der Junge wurde schwerer. Ich ließ ihn runter, hielt ihn aber weiterhin fest am Kragen gepackt.
Dann erreichte uns der Überschallknall, ein mehrere Sekunden währendes Grollen, das schließlich wie ferner Donner verhallte. Wären wir etwas langsamer gewesen, nur knapp oberhalb der Schallgeschwindigkeit, dann wäre der Knall schärfer, kürzer, lauter gewesen. So aber erschreckte er den Jungen noch mehr als mein plötzliches Erscheinen. Als ich ihn zu mir herumdrehte, merkte ich, daß ich keinem Jungen, sondern einem Mädchen nachgejagt war. Es war das Mädchen, das sich im Speisesaal vor dem Spiegel im Kreis gedreht hatte. Zwischen den Schneidezähnen hatte sie eine kleine Lücke. Ihre Sommersprossen erinnerten mich auf verstörende Weise an Jenni, doch war ihr Haar blond statt rot. Obwohl sie im Moment ängstlich dreinschaute, war ich mir sicher, daß sie in ein paar Minuten wieder ebenso sorglos sein würde wie eben noch. In ihrem Gesicht zeigte sich kein Schmerz, bloß erschrockene Verwunderung, die besagte: »O je. Jetzt hat man mich erwischt.« Ich kniete neben ihr nieder, so daß unsere Köpfe auf einer Höhe waren. »Junge Dame, an Bord gibt es Vorschriften für das schnelle Laufen. Sind dir diese Regeln bekannt?« Ihre Augen weiteten sich noch mehr, als sie das Rangabzeichen an meinem Kragen sah, doch ihre Stimme klang vollkommen unbeeindruckt. »Nein, Sir. Wie lauten die?« »Erstens, wenn man auf einem belebten Gang rennt, sollte man sich stets rechts halten. Zweitens, wenn man nicht rennen muß - wenn man es einfach so zum Spaß tut -, sollte man sich an die speziell zum Laufen ausgewiesenen Gänge halten. Oder gibt es einen Notfall, von dem ich wissen sollte?« Sie schüttelte ernst den Kopf. »Nein, Sir. Den gibt es nicht.« Ich mußte über ihre Ernsthaftigkeit lächeln. Ich konnte mir denken, daß sie weiterrennen würde, kaum daß ich ihr den Rücken zuwandte, aber sie machte ihre Sache gut. »Wie heißt du?« »Becky.« »Also, Becky, der nächste Korridor, auf dem man rennen darf, befindet sich auf Ebene Eins, zwei Abzweigungen weiter in diese Richtung. Er führt von Nord nach Süd. Wie wär’s, wenn du es mal dort probieren würdest?« »Ja, Sir. Heißt das, ich kann jetzt gehen? Sie sperren mich nicht ein?« Ich war mir immer noch nicht darüber im klaren, ob sie sich lediglich über mich lustig machte und hinterher ihren Spielkameraden erzählen würde, sie habe den Ersten Offizier zum Narren gehalten, oder ob sie bloß Angst hatte und dies nach Kräften verbarg. Ich ging auf Nummer Sicher und sagte: »Wir sperren hier keine Kinder ein, die beim Raumrennen erwischt werden. Wir wollen bloß nicht, daß jemand zu Schaden kommt. Wenn du schnell läufst, dann bleibt den Leuten vor dir womöglich keine Zeit zum Ausweichen, und du stößt mit ihnen zusammen. Deine Eigenzeit verlangsamt sich beim Laufen; deshalb scheinen sich andere Leute schneller zu bewegen. Da sich deine Eigenzeit verlangsamt hat, kannst du ihnen auch nicht mehr so leicht ausweichen. Hast du das verstanden?« »Ja, Sir. Tut mir leid, Sir. Ich werd’s nicht wieder tun - das heißt, bloß noch dort, wo es erlaubt ist.« »Diesmal ist ja gottlob nichts passiert.« Ich richtete mich auf und wandte mich zum Gehen.
»Sind Sie wirklich der Erste Offizier?« fragte sie plötzlich. »Ja. Kann ich irgend etwas für dich tun?« Becky schüttelte den Kopf und lächelte mich auf einmal schüchtern an. Sie trat drei Schritte zurück und drehte sich um. Erst wurde sie schneller, dann hielt sie inne und ging anschließend im Laufschritt weiter. Sie sah sich noch einmal zu mir um, als wollte sie mir sagen, sie habe sich meine Ermahnungen zu Herzen genommen. Während ich beobachtete, wie sie über den Gang verschwand, mit ruckartig vor und zurück rudernden Armen, die abwechselnd rot und blau gefärbt waren, verspürte ich einen schmerzhaften Stich. Ob es nun Neid auf jemandem war, der das Privileg einer glücklichen Kindheit genoß, oder der unwillkommene Wunsch, jemandem wie ihr eine glückliche Kindheit zu gewährleisten, oder ein mir noch fremderes Gefühl, konnte ich nicht sagen. Vielleicht hatte Tara auch recht gehabt, als sie gemeint hatte, es fiele mir schwer, in mich hineinzublicken.
Die Suche auf Ebene Sechs hatte bislang noch keine Hinweise auf Fenn Melgards Verbleib ergeben. Sonderlich wundern tat mich das nicht; in letzter Zeit gehörte schon mehr dazu, mich in Erstaunen zu versetzen. Die Ebene Sechs nahm etwa ein Viertel der nutzbaren Grundfläche des Schiffes ein. Hätte man sie in mittelgroße Büros von etwa zehn Metern Durchmesser unterteilt, hätten über 400 Büros hineingepaßt. Eine Menge Platz, falls sich jemand verstecken wollte. Oder falls jemand anders ihn verschwinden lassen wollte. In dem Frachtraum, in dem Jenni gefunden worden war, hielten sich keine Besatzungsmitglieder auf. Die Suchmannschaften schwärmten bereits in immer weiteren Kreisen um das Epizentrum herum aus. Ich schritt über den Mittelgang zwischen den Frachtkisten einher und überlegte, was der Grund für Melgards Verschwinden sein könnte. Vielleicht hatte er Jenni entdeckt, als es schon zu spät gewesen war, um ihr noch zu helfen, und jetzt machte er sich Sorgen, der Selbstmord könne wie ein Mord erscheinen. Vielleicht hatte Jenni ihn bei irgend etwas Verbotenem ertappt, und er hatte sie getötet. In diesem Fall würde er abwarten und sich solange verstecken, bis er beim nächsten Andocken von Bord gehen konnte. Ich trat ans Komm-Terminal und rief auf der Brücke an. Razzi ging ran. »Ich möchte, daß drei Besatzungsmitglieder am Portal Aufstellung nehmen, wenn wir heute auf Tangente andocken«, sagte ich. »Niemand verläßt das Schiff, der nicht dazu befugt ist.« Razzi bestätigte und schaltete ab. Ich wanderte langsam durch den Frachtraum, ließ die Gedanken ziellos schweifen und erwog die unterschiedlichsten Möglichkeiten. Jennis Tod war kein isoliertes Ereignis. Melgard war unabhängig von ihr verschwunden. Es gab irgendeine Verbindung zwischen Jenni und Melgard. Die stummen Kisten boten mir auch keine Hilfe. Keine von ihnen war offen, was darauf hätte hindeuten können, daß Jenni Melgard dabei ertappt hatte, wie er sich vergewisserte, daß sein Schmuggelgut noch da war. Nirgendwo gab es Blutflecken. Auf
keiner Kiste stand GEHEIME VERSCHLUSSSACHE. NICHT OHNE AUFSICHT LASSEN. Es waren halt bloß rechteckige Kisten, angefangen von kleinen Behältnissen, in denen allenfalls ein gut gepolstertes Ei Platz gehabt hätte, bis zu großen Kisten, die einem mehr als mannsgroßen Generator Platz geboten hätten, jede mit einem Sicherheitsschloß ausgestattet, jede seitlich mit einem phantasielosen Aufkleber versehen, auf dem Eigentümer, Herkunfts- und Bestimmungsort verzeichnet waren. Ich rief noch einmal auf der Brücke an. »Razzi, ich brauche eine vollständige Liste aller Frachtgutbehälter in dem Raum, in dem Jenni Sonders gefunden wurde. Nicht bloß das, was bereits in den Papieren steht. Ich brauche eine Liste der Herstellungsplaneten und der Zielorte, die Namen der Firmeninhaber, Informationen über die Geschäfte, die sie tätigen, die Namen der Firmen, die ihnen gehören, sowie eine Aufstellung der Direktoren und leitenden Angestellten. Und holen Sie diese Informationen auch für die angrenzenden sechs Frachträume ein. Gleichen Sie jeden einzelnen Namen mit der Besatzung ab - und mit der Passagierliste.« »Das dürfte eine Weile dauern. Auch die Übertragung braucht Zeit.« »Es ist mir gleich, wie lange es dauert. Aber geben Sie mir Bescheid, sobald irgend etwas vorliegt.« An der Tür schaltete ich das Licht aus. Dunkelheit strömte in den Frachtraum, wirbelte in jeden einzelnen Winkel, und zurück blieb das Nachbild einer Reihe von Särgen in unterschiedlichen Größen und Formen - als wären die Bewohner eines ganzen Zoos verstorben und würden nach Hause geschickt, um ihre letzte Ruhe zu finden.
Ehe die Suchmannschaft mit Ebene Sechs fertig war, dockten wir auf Tangente an. Tangente war ein geschäftiges Handelszentrum, das eher vom hohen Umschlagvolumen lebte als vom inhärenten Wert des Planeten selbst. Auf Ebene Fünf beobachtete ich frustriert, wie die Passagiere von Bord gingen. Emil Frankton und Juan Absome, sein Assistent, verließen uns auf Tangente. Emil wirkte immer noch ein wenig durcheinander. Auch Marj Lendelson ging von Bord, angetan mit einer tiefblauen Bluse und dazu passendem Rock, worin sie ebenso anmutig und königlich wirkte wie bei ihrer Ankunft. Noch ein Dutzend weitere Passagiere, die ich bei früheren Zwischenstops hatte an Bord gehen sehen, verließen das Schiff, doch keiner von ihnen wies auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Fenn Melgard auf. Bensode und zwei Helfer standen bereit, für den Fall, daß ein Passagier Hilfe brauchen sollte.
Die Suche wurde auf Ebene Sieben fortgesetzt, um die Passagiere auf Ebene Fünf nicht vorzeitig zu beunruhigen. Da Ebene Sieben am weitesten vom Mittelpunkt entfernt lag, war sie die größte Ebene, nämlich um die Hälfte größer als Ebene Sechs. Ich persönlich durchsuchte den Hauptraum mit den Computern und Kommunikationseinrichtungen. Der Zugangscode war ausschließlich Offizieren bekannt, und da ich nun mal gerade in der Nähe war, wollte ich mich auch nützlich machen. Der Raum war
nicht größer als das Wartezimmer des Arztes, doch anstelle von abgeschlossenen grauen Schränken war er mit halbmeterbreiten Regalen voller schmaler, horizontaler Fächer ausgestattet, die allesamt auf der Abdeckung beschriftet und mit Anzeigen versehen waren. Für jede einzelne wichtige Komponente im Raum gab es für den Notfall ein Ersatzgerät, und der ganze Raum hatte wiederum ein Gegenstück auf der anderen Seite des Schiffes, ebenfalls auf Ebene Sieben. Da die Computer auf Ebene Sieben anstatt in der Nähe der Brücke auf Ebene Vier untergebracht waren, konnten sie langsamer sein und beanspruchten daher nicht so viel Platz. Die Zeit verstrich hier um fünfundzwanzig Prozent langsamer als auf der Brücke. Die Durchsuchung dieses Raums bestand aus einer einzigen Handlung: ich blickte hinter den Schreibtisch. Fenn Melgard war nicht da, weder lebendig noch tot. Allmählich wurde ich immer skeptischer, ob wir ihn je wiedersehen würden.
Als nächstes durchsuchten wir Ebene Drei, so daß wir die Benachrichtigung der Passagiere abermals hinausschieben konnten. Ebene Drei war die seltsamste Ebene an Bord der Redshift. Ebene Drei enthielt vor allem große Frachträume. Scheinbar herrschte hier größere Betriebsamkeit, da der Korridor aufgrund einer optischen Täuschung gerade erschien und über die ganze Länge einsehbar war. Wenn ich etwa sieben Sekunden lang wartete, konnte ich mich in der Ferne sogar selbst sehen. Nach vierzehn Sekunden hätte ich ein weiteres Abbild meiner selbst gesehen, allerdings doppelt so weit entfernt. Auf Ebene Drei entsprach die Lichtgeschwindigkeit in Augenhöhe ungefähr der Umlaufgeschwindigkeit. Daher folgte ein horizontal gestartetes Photon dem Umkreis des Gangs. Da es im Auge gerade auftraf, hatte man den Eindruck, es käme von vorn anstatt von hinten. Dieses Phänomen war der Grund dafür, daß Ebene Drei flach erschien, obwohl Boden und Decke wie auf jeder anderen Ebene des Schiffes kugelförmig waren. Hätte ich ein Fernglas gehabt, hätte ich damit feststellen können, ob Melgard in letzter Zeit hier gewesen war. Seit Jahrhunderten müssen sich die Astronomen damit abfinden, daß sie durch ihre Okulare und auf ihren Bildschirmen lediglich die Vergangenheit sehen. Man brauchte eine Weile, um sich daran zu gewöhnen, aber in eingeschränktem Maße galt das auch für die Redshift. Der Gang verlor sich ebenso im Unendlichen wie ein Blick zwischen einander gegenüberstehenden Spiegeln, die Geländer verschwanden in der Ferne wie frei schwebende Eisenbahnschienen. Die Suche auf Ebene Drei ergab keinerlei Hinweise auf Melgards Verbleib, daher gab ich Anweisung, mit der Durchsuchung von Ebene Zwei zu beginnen. Ich stieg über die nächste Treppe nach unten. Die Treppenbeleuchtung bildete einen gequantelten Regenbogen, blau in der Nähe meiner Füße, grün und gelb weiter unten, bis zu einem düsteren Rot am nächsten Absatz. Der folgende Treppenabschnitt war so weit ins Schwarze rotverschoben, daß er gar nicht mehr zu sehen war. Während ich hinunterstieg, hielten die Farbtöne der Beleuchtungskörper Schritt mit mir. Sie erzeugten die Illusion, ich verharrte an Ort und Stelle, während ich in Gegenrichtung eine aufwärtsführende Rolltreppe hinunterstieg. Das Violett blieb in Augenhöhe, das Blau bei meinen Füßen, und weiter unten war es rot. Als ich mich dem Absatz von Ebene Zwei näherte, wurde die Sicht schlechter, und die Schwerkraft nahm zu.
Ich schloß hinter mir die Tür zum Treppenschacht, wandte mich seitlich und ging in östlicher Richtung am Äquator entlang. Da Ebene Zwei kleiner war als Ebene drei, gab es dort nur zwei Gänge - einen kreisförmigen rund um den Äquator und einen Meridialgang, der Nord und Süd verband. Meine Füße schlurften über den Boden, und wegen des tieferen Schwerpunkts ging ich leicht vorgebeugt. Aufgrund des Gravitationsgradienten hatte man hier das Gefühl, man wate durch Wasser. Der Gang war nach oben gekrümmt und verschwand in einiger Entfernung außer Sicht, als befände ich mich am Boden einer riesigen Schüssel, anstatt auf einer der sieben an Zwiebelhäute erinnernden Ebenen der Redshift. Aufgrund der Lichtkrümmung wirkte alles verfremdet. Die Zerrspiegel auf einem Jahrmarkt waren nichts dagegen. Die Deckenlampen waren hier dichter angeordnet als auf den höheren Ebenen. Auf den gebrochen weißen Wänden lagen in Deckennähe, zwischen den Lampen, V-förmige Schatten. Die Suchmannschaft holte gerade Taschenlampen aus einem Werkzeugschrank auf dem Gang, als ich dazukam. Conrad Delingo war der letzte in der Reihe und reichte mir eine Lampe. Er hielt die Lampe wie einen Wasserschlauch nach oben geneigt, da sich das Licht in unmittelbarer Nähe vom Mittelpunkt des kugelförmigen Schiffes rasch absenkte. Wenn man vom Boden aus mit einer gelben Lampe senkrecht nach oben leuchtete, war das Licht in Augenhöhe rot und näherte sich in Deckenhöhe bereits dem Infraroten. Leuchtete man waagerecht auf eine fünf Meter entfernte Wand, dann war das Licht bereits auf der Hälfte des Weges versiegt. Die Suche ging hier rascher vonstatten als auf Ebene Drei, da Ebene Zwei nur etwa die halbe Grundfläche aufwies; dies wurde jedoch teilweise dadurch ausgeglichen, daß die Zeit hier langsamer verstrich. Melgard war auch hier nicht zu finden, daher schickte ich alle Leute bis auf Conrad zur Ebene Vier, um dort die Suche in den nichtöffentlichen Abschnitten fortzusetzen. Am nächsten Aufzug rief ich auf der Brücke an. Bella hatte gerade Dienst. »Conrad Delingo und ich gehen jetzt zur Ebene Eins runter«, sagte ich. »Können Sie mal nachsehen, wenn wir in ein paar Minuten nicht zurück sind?« »Wird gemacht. Heißt das, die Suche auf Ebene Zwei hat ebenfalls nichts gebracht?« »Leider nein. Ich rechne auch nicht damit, daß wir dort unten etwas finden, aber nachsehen müssen wir wohl.« Bella machte Schluß, und Conrad und ich traten in den Aufzug und tippten eine >Eins< ein, gefolgt vom schiffsinternen Zugangscode. Die Schwerkraft auf Ebene Eins betrug fast viereinhalb Ge. Selbst in Augenhöhe waren es noch mehr als anderthalb Ge. Man konnte dort zwar gehen, doch das war keine leichte Aufgabe, und es war sicherer, das Buddy-System zu benutzen. Als der Aufzug auf Ebene Eins hielt, knackte es mir in den Ohren; die erhöhte Schwerkraft vermittelte mir das Gefühl, der Aufzug mache nach einem Sturz über fünfzig Stockwerke eine Notbremsung. Die Tür ging auf.
Ich hatte den Handscheinwerfer dabei, doch der war keine große Hilfe, da der Lichtstrahl selbst dann, wenn man ihn im Fünfundvierzig-Grad-Winkel nach oben richtete, nicht besonders weit reichte. Außerdem war die Decke voller Lampen. Wir schlurften auf den einzigen Gang der Ebene Eins hinaus. Der Gang schien so steil anzusteigen, daß man meinte, man brauchte eine Treppe, um hinaufzukommen. Dennoch schlurfte ich weiter, und meine Füße sagten mir, daß der Gang in Wirklichkeit abfiel, während wir den Mittelpunkt der Redshift umkreisten. Hier unten schien sich einem alles entgegenzuneigen. Der Boden war gemustert von den Fugen der Verkleidungen, die Zugang boten zu den Innereien des Warp-Generators. Ich verzichtete darauf, sie zu öffnen; jeder, der diesen Abschnitt betreten hätte, solange der Generator arbeitete, wäre auf der Stelle erst in Moleküle, dann in Atome und schließlich in subatomare Teilchen zerfallen. Selbst wenn man nur die Verkleidung abnehmen wollte, brauchte man einen Druckanzug, denn die Luft wurde in diesem Fall augenblicklich in die Gravitationssenke hineingesaugt. »Ich war noch nie hier unten«, sagte Conrad. »Kommt mir ein bißchen unheimlich vor.« Aufgrund der Schwerkraft hatte er Hängebacken. »So groß ist der Unterschied gar nicht«, meinte ich. »Es gelten die gleichen physikalischen Gesetze wie überall; aufgrund der hohen Schwerkraft treten sie bloß deutlicher hervor.« Wir gingen weiter. Es war, als befänden wir uns im Innern eines großen, gut erleuchteten Reifens, und es erforderte einige Aufmerksamkeit, das Gleichgewicht zu wahren. Möglicherweise war die Fortbewegung unter erhöhter Schwerkraft etwa so, als habe man ein gewaltiges Übergewicht, wenn es auch nicht ganz so einfach war. Einige Schwierigkeiten ähnelten sich: das zusätzliche Gewicht lastete auf Füßen, Beinen, Wirbelsäule. Der große Unterschied lag darin, wie schnell man das Gleichgewicht verlor, wenn man sich etwas zu weit vorbeugte, und wie schnell man dann hinfiel. Die Fortbewegung auf Ebene Eins vermittelte einem das Gefühl, alt und müde zu sein. Conrad griff an der Mittellinie an die niedrige Decke und zog die Hand gleich wieder zurück. »Die Decke fühlt sich warm an.« Als ich ihn von der Seite ansah, veränderte sich die Perspektive, als schwenkte man ein Fischaugeobjektiv. »Alles in Ordnung. Die Lampen geben Licht im Infraroten ab, weil sich die Wellenlänge beim Herabfallen ins Sichtbare verschiebt.« »Natürlich«, sagte er beschämt. Auf Ebene Eins gab es zwei Frachträume. Ich übernahm den Südteil, Conrad den Nordteil. Die Wände waren etwa eine Handspanne dick, und die Frachträume waren durch weitere dicke Stützwände mehrfach unterteilt. Die Kisten hier unten ähnelten denen auf den höheren Ebenen, waren allerdings auf fahrbaren Untersätzen gelagert. Als ich zwischen den Kisten herging, hatte ich das Gefühl, durch ein Visier zu blicken, das meine Sicht erheblich verzerrte. Eine Kiste, die, wie ich genau wußte, rechteckig war, hatte von vorne betrachtet eine Oberseite, doch die Kanten waren nach oben gekrümmt. Wenn ich seitlich neben der Kiste stand, wirkten die Kanten gerade, und die Vorderseite und die Hinterkanten waren noch oben gekrümmt. »Hier ist nichts«, sagte ich, als ich kurz darauf wieder auf dem Gang stand. »Hier auch nicht«, erwiderte Conrad.
Wir gingen noch ein Stück weiter und gelangten wieder zum Aufzug. Von Ebene Zwei aus rief ich Bella an. »Mit Ebene Eins sind wir fertig«, sagte ich. »Negativ.« »Die Mannschaft auf der Vier hat auch nichts gefunden. Wir müssen in Kürze die Passagiere informieren. Ach, bevor ich’s vergesse, ich habe eine Nachricht von Razzi für Sie. Sie hat gemeint, der Frachtraum südlich des Raums, in dem wir Jenni Sonders gefunden haben, enthielte Fracht einer Gesellschaft die einem gewissen Daniel Haffalt gehört, einem Passagier. Und vier Räume weiter befindet sich Frachtgut der Firma Sunrise Limited, bei der ein Passagier namens Harold Summertree angestellt ist.« »Darum kümmere ich mich später«, sagte ich. »Übrigens glaube ich nicht, daß wir Melgard finden werden.« Ich blickte Conrad an, doch der verzog keine Miene. »Es muß aber eine Erklärung geben.« »Entweder es fehlt ein Sprunganzug, oder er hat sich in einer Kiste versteckt, die für Tangente bestimmt war. Ich wette, es ist der Sprunganzug. Verstreutes Frachtgut hat niemand entdeckt.« Sprunganzüge verfügten über einen eigenen Hyperraumgenerator für den Notfall. »Klingt riskant.« »Wenn er was mit Jenni Sonders Tod zu tun hatte, war’s ihm das Risiko wohl wert.« »Wenn das so ist, dann hätte er auf Tangente aussteigen können«, meinte Bella. »Oder er fliegt auf der Außenhülle des Schiffes mit. Oder er hat sich verrechnet, treibt jetzt im Raum, in welcher Schicht auch immer, und wartet darauf, daß ihm die Luft ausgeht.« »Während Sie die Suche abschließen, werde ich die Anzüge überprüfen lassen. Und ich glaube, wir sollten allmählich die Passagiere darauf vorbereiten, daß wir ihre Räume durchsuchen werden.« Ich blickte auf die Uhr am Terminal. Noch knapp zwei Stunden bis Mitternacht. »Mir wär’s lieber, Sie würden keine offizielle Mitteilung machen. Dann würden alle auf die Gänge strömen. Was würden Sie davon halten, wenn wir von Tür zu Tür gehen und sie bitten würden, einige Stunden in ihrer Kabine zu bleiben? Das würde Melgard einen Ortswechsel erschweren, falls er sich überhaupt noch an Bord befindet.« »Zahlende Passagiere bitten, sich in ihrer Kabine einzusperren, könnte uns ein paar Stammgäste kosten, auch wenn sie wahrscheinlich sowieso schlafen würden. Was sollen wir ihnen sagen?« »Sagen Sie ihnen, ein Krügerbär sei entlaufen. Sagen Sie ihnen, der Bär sei brünstig und achtmal so schwer wie ein Mensch. Sagen Sie ihnen, während der Brunst könne er einen Menschen nicht von einem anderen Krügerbären unterscheiden, von Männlein und Weiblein ganz zu schweigen.« Der Lautsprecher blieb für einen Moment stumm. Ein Lächeln stahl sich in Conrads Züge, dann wandte er sich von mir ab und musterte angestrengt den Boden.
Schließlich sagte Bella: »Haben Sie einen Vorschlag, wie wir ihnen die Anwesenheit eines solchen Tieres an Bord des Schiffes erklären sollen?« »Klar. Sagen Sie ihnen, das sei Teil eines Trainingsprogramms für Offiziere. Warten Sie! Ich habe eine bessere Idee. Wir könnten ihnen die Wahrheit sagen.« »Dann probieren wir es halt einmal mit der Wahrheit, Jason.«
Das Pech blieb mir treu. Die nächste Passagierkabine auf meiner Liste war die von Amanda Queverra. Bedauerlich, daß wir Ebene Fünf nicht in Schutzanzügen durchsuchten. Dies war nicht die erste Schicht, doch es fühlte sich so an. Man brauchte nicht auf einem Hyperraumschiff zu arbeiten, um zu wissen, daß die erste Schicht immer länger dauerte als die letzte. Es war kurz vor Mitternacht, als ich Amandas Türsummer betätigte. Ich hoffte, sie wäre unterwegs, denn dann hätte ich den Generalschlüssel benutzen, die Kabine rasch durchsuchen und wieder weg sein können, ehe sie zurückkam. Soviel Glück hatte ich jedoch nicht. Erst bildete sich ein Spalt zwischen Tür und Rahmen, dann glitt die Tür weit auf, und Amanda erschien darin, bekleidet mit einem hauchdünnen blauen Nachthemd, das mir zunächst einmal die Sprache verschlug. »Jason, das ist aber eine Überraschung«, sagte Amanda. »Kommen Sie rein.« »Ich bedaure, aber das ist kein privater Besuch. Ich bin im Dienst, und wir durchsuchen sämtliche Kabinen nach einem Vermißten.« »Oh, Sie wollen mich durchsuchen?« meinte Amanda. Sie hob die Arme und drehte sich langsam nach rechts und wieder zurück, wobei das Licht das Nachttischlampe durch ihr Nachthemd fiel. Fenn Melgard versteckte sich offenbar nicht dahinter. Abgesehen vom Umriß ihres Lifebelts, hätte Amanda nicht mal ein Muttermal verstecken können. Einen Moment lang dachte ich, ein wenig Filzen habe noch niemandem geschadet, doch dann meinte ich zu meiner Überraschung Tara Cline anstelle von Amanda Queverra vor mir zu sehen. Der Moment ging vorüber, und ich sagte: »Tut mir leid. Es ist wirklich dienstlich. Ich bin mir zwar sicher, daß Sie keinen Flüchtigen bei sich verstecken würden, aber ich muß trotzdem nachsehen.« Amanda zog eine Schnute und machte mir Platz. Ihre Kabine wirkte bewohnter als die von Jenni. Amanda hatte doppelt soviel Gepäck dabei, wie ich für erforderlich gehalten hätte. Das Bord im Bad war mit Kosmetika vollgestellt, und an der Tür zur Dusche hingen drei Kleider. In einer Passagierkabine gab es nur wenige Stellen, an denen sich ein Erwachsener hätte verstecken können, daher war ich im Nu fertig. Als ich wieder gehen wollte, stellte ich fest, daß Amanda die Tür geschlossen hatte. »Also wirklich, Jason, Sie brauchten mir doch bloß zu sagen, daß Sie mich besuchen wollten. Diese Scharade war überhaupt nicht nötig.« Ihre Stimme klang atemlos, so als formte sie die Worte ausschließlich mit dem Mund. Bevor ich reagieren konnte, hatte sie die Arme um mich geschlungen.
Verwirrt wich ich zurück und zog sie dabei mit, wobei ich mich unabsichtlich dem Bett näherte. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb sie mir so bereitwillig folgte und sich ihr Lächeln vertiefte. »Tut mir leid«, brachte ich heraus. »Das war mein voller Ernst. Wir durchsuchen wirklich die Kabinen. Ich muß wieder an die Arbeit.« Damit löste ich mich aus ihrer Umarmung und wandte mich eilig zur Tür. »Aber, Jason…« Ich öffnete die Tür, trat auf den Gang und schob die Tür hinter mir so rasch zu, daß ich den Rest nicht mehr mitbekam. Dort blieb ich für einen Moment stehen, schwerer atmend als nach dem Wettlauf mit Becky. »Alles in Ordnung, Sir?« Eines der jüngeren Besatzungsmitglieder, eine dunkelhaarige junge Frau, deren Eltern beide bei der Handelsmarine gewesen waren, musterte mich besorgt. Ich straffte mich sogleich wieder. »Ja, sicher. Bloß ein Krügerbär«, platzte ich heraus. »Sir?« »Ach, nichts, kein Problem.« Ich durchsuchte noch vier weitere Kabinen, wobei die Reaktionen zwischen Belustigung, Abenteuerlust, Unverständnis und Verärgerung schwankten. Ich wollte mir gerade die nächste Kabine auf meiner Liste vornehmen, die von Tara Pesek Cline und Wade Pesek Midsel, als das Rufsignal ertönte. Ich trat ans nächste Komm-Terminal. Es war Rory von der Brücke. Als ich ihm sagte, er könne offen reden, sagte er: »Ich habe soeben die Voruntersuchung von Jenni Sonders’ Leichnam abgeschlossen. Bedauerlicherweise hat sie nicht Selbstmord begangen. Sie wurde ermordet.«
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Kapitel 5
Die Tür zum Hyperraum Ich traf mich mit Rory und Bella in der Abgeschiedenheit der Brücke. Ein öffentliches Terminal war nicht der passende Ort, um Rorys Nachricht zu diskutieren. Die Anzeigen meldeten ausnahmslos normale Werte, als beharrten sie stur darauf, daß ein Todesfall und eine verschwundene Person für das Geschick eines so großen Raumschiffs wie der Redshift nur von untergeordneter Bedeutung waren. Die Standarduhren zählten lautlos die Sekunden. Eine Reihe weiterer Uhren in der Nähe, die ein wenig schneller gingen, zeigten die Ortszeiten der planetarischen Docks auf unserer Route an, einschließlich der von Tangente und von Leviathan, unserer nächsten Zwischenstation. Noch bevor ich die Brücke erreicht hatte, wurde mir klar, daß ich mir wünschte, Rory möge recht haben. Aus irgendeinem Grund wollte ich gern glauben, daß Jenni mir die Wahrheit gesagt hatte, als sie meinte, sie werde mich anrufen. Die Folgerung, daß ein Mörder an Bord der Redshift war, falls man Jenni tatsächlich ermordet hatte, erschien mir im Moment weniger bedeutsam. Vielleicht mißfiel mir die Vorstellung, sie habe das Handtuch geworfen; oder aber ich wollte nicht, daß sie mich angelogen hatte. Während ich mich bemühte, meine Gefühle zu verstehen, rief ich mir noch einmal in Erinnerung, was Tara über meine Unfähigkeit zur Selbsterkenntnis gesagt hatte. Ich war zwar in der Lage, meine allgemeine Gefühlslage zu erkennen - das Resultat aus mehreren, einander überlagernden Gefühlen -, doch gelang es mir nicht, unter die Oberfläche zu blicken und die einzelnen Gefühlskomponenten herauszulösen. Das war etwa so, als wollte man das Rezept eines exotischen Gerichts dadurch herauszufinden, daß man es lediglich kostete. Vielleicht war ich in emotionaler Hinsicht ein Schwarzes Loch; ich vermochte zu erkennen, was außerhalb meines Horizonts lag, jedoch nichts von dem, was sich darin befand. An Rory gewandt, sagte ich: »Sind Sie sich auch vollkommen sicher, daß Jenni Sonders ermordet wurde?« Rory seufzte und nickte bedächtig. Er wirkte müde. Wahrscheinlich war meine ergebnislose Suche nach Melgard erheblich weniger anstrengend gewesen als die Autopsie eines Menschen, den man gekannt hatte. »Das steht völlig außer Zweifel. Die Totenstarre hat schneller als normal eingesetzt, selbst wenn man davon ausgeht, daß zwischen dem Aufsuchen der Kabine und ihrem Tod lediglich eine Viertelstunde lag. Daraus folgt, daß ihr Stoffwechsel auf vollen Touren arbeitete, als sie starb - wahrscheinlich weil sie sich wehrte, nicht bloß aufgrund der Panik des Erstickens. Außerdem ist ihr Zungenbein gebrochen. Das ist ein Knochen in der Kehle, unmittelbar über dem Adamsapfel. Der Strick kann keine solche Verletzung hervorgerufen haben, wohl aber Strangulieren mit der Hand. Jemand muß sie gewürgt, ihr das Zungenbein gebrochen und sie anschließend, als sie bereits zu schwach war, um sich zu wehren, mit dem Strick vollends erstickt haben.« Die Lufttemperatur auf der Brücke schien zu fallen, während Rory redete. Einen Moment lang war mir eiskalt, dann wärmte mich die Wut. Ich schwieg. Fenn Melgard war zu wünschen, daß ihn jemand anders fand als ich.
»Also gut«, sagte Bella. »Dann sollten wir die Suchmannschaft besser warnen.« »Genau«, meinte ich. Ich rief Bensode an. Als er sich von einem Korridor aus meldete und meinte, er sei allein, sagte ich: »Der Arzt ist der Ansicht, daß Jenni Sonders ermordet wurde. Warnen Sie die restliche Mannschaft und lassen Sie Neutralisatoren austeilen. Wenn jemand Melgard sieht, dann soll er Alarm geben; ich möchte nicht, daß sich ihm jemand allein nähert.« Während ich meine Anweisungen gab, blickte ich zu Bella, um mich zu vergewissern, ob sie irgendwelche Einwände hatte. Sie hatte keine. Als ich abgeschaltet hatte, hob Rory die Augenbrauen. Er sagte: »Ich dachte, Sie gingen davon aus, er befinde sich nicht mehr an Bord und die Durchsuchung sei bloße Formsache.« »Das glaube ich noch immer. Allerdings ist es mir lieber, die Passagiere ein wenig zu beunruhigen, als daß ich das Risiko eingehen möchte, noch jemanden zu verlieren.« »Der Meinung bin ich auch«, sagte Bella. »Ich würde auch so schon am liebsten in den Ruhestand gehen.« Bella war dem Ruhestand wahrscheinlich nicht näher als ich; solche Sachen sagte sie halt, wenn es längere Zeit schlecht lief. »Gab es sonst irgendwelche Zwischenfälle?« fragte ich mehr aus Höflichkeit. »Nein. Zumindest keinen, der mit Sonders oder Melgard vergleichbar wäre. Ein weiblicher Passagier ist auf Tangente ausgestiegen, um sich ein wenig umzusehen. Sie kam nicht mehr zurück. Jetzt können wir wohl mit einer Beschwerde wegen vorzeitigen Abflugs oder ähnlichem Unsinn rechnen.« »Wer war das?« fragte ich. Bella lehnte sich noch weiter in ihren Sessel zurück. »Marj Lendelson. Sie kam in Vestry an Bord.« Ich erinnerte mich an sie. Mittleren Alters, förmlich, frostiges Lächeln. Koinzidenzen sollte man stets nachgehen, doch bestand keine unmittelbare Verbindung zwischen Lendelson auf der einen und Fenn Melgard oder Jenni Sonders auf der anderen Seite. Außerdem erinnerte ich mich an die Anweisungen, die ich Bensode erteilt hatte. Ich stand auf, trat zum Waffenschrank und befestigte einen Neutralisator an meinem Gürtel. »Falls sonst nichts anliegt, schließe ich mich wieder der Suchmannschaft an«, sagte ich zu Bella. Bella schüttelte bedrückt den Kopf. Vielleicht dachte sie tatsächlich daran, sich zur Ruhe zu setzen. »Kopf hoch«, meinte ich und setzte leichtsinnigerweise hinzu: »Was soll denn schon noch schiefgehen?«
»Sie wollen was?« Wade Pesek Midsel spähte durch die einen Spalt weit geöffnete Kabinentür zu mir heraus. Er wirkte noch schläfriger als sonst. »Ich sagte, ich muß Ihre Kabine durchsuchen.« Ich versuchte gelassen zu bleiben, doch im Laufe des Tages war ich immer gereizter geworden. »Jenni Sonders hat sich nicht selbst umgebracht.«
»Sie meinen, sie wurde ermordet? Dann hält sich also ein Mörder an Bord auf?« »Das wissen wir nicht. Jemand, der sich mit Sprunganzügen auskennt, könnte das Schiff auf Tangente verlassen haben. Zur Sicherheit führen wir jedoch eine gründliche Durchsuchung durch.« Wade blickte auf seine Armbanduhr, dann bemerkte er seinen Fehler und sah auf die Standarduhr neben der Tür. »Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?« »Sagen Sie’s nicht; lassen Sie mich raten. Ich weiß, es ist spät. Für gewöhnlich setzen wir Notfälle für kurz nach dem Mittagessen an, damit niemand über Gebühr belästigt wird, aber unsere Schichtplanerin hat Urlaub, und ihr Ersatzmann kennt die Regeln noch nicht. Ich kann nicht solange warten, bis Marly wiederkommt.« Einen Moment lang beschränkte Wade sich darauf, mich anzublinzeln. Schließlich mußte mein Sarkasmus wohl zu ihm durchgedrungen sein, denn er sagte: »Na schön. Warten Sie einen Moment« und schloß die Tür. Von seinem Standpunkt hinter der Tür aus mußte er den Anschlag sehen können, dem zu entnehmen war, daß ich zu diesem Schritt durchaus berechtigt war. Ich wartete auf dem Gang, bis die Tür nach kurzer Zeit wieder geöffnet wurde. Wade war barfuß und mit einem türkisfarbenen Morgenmantel bekleidet. Der Saum des Mantels war so weit vom Feld des Lifebelts entfernt, daß er schmutzig wirkte. Er forderte mich höflich zum Eintreten auf. Die Kabine der Peseks war größer als die letzten paar Kabinen, die ich durchsucht hatte. Über die kleine, L-förmige Diele gelangte man in ein hell erleuchtetes Schlafzimmer. An dem zerknautschten Bettlaken an einer Seite des Bettes sah man, wo Wade sich aufgehalten hatte, bevor er mir aufgemacht hatte. Auf der anderen Bettseite saß Tara, ebenfalls mit einem türkisfarbenen Morgenmantel bekleidet. Sie wandte den Blick ab, als wäre sie verlegen, obwohl der Mantel weit weniger Haut zeigte als Amandas Dinnerkleid. Das Bett war etwa so groß wie mein eigenes, wirkte jedoch kleiner, da sich noch jemand darin aufhielt. »Bitte entschuldigen Sie die Störung«, sagte ich. Ich trat ins Bad, wo ich lediglich eine leere Dusche sowie ein Bord mit Parfüm, Seife und Zahnspray und einen Haufen Unterwäsche samt Enthaarungscreme, einem Deostift und einem Kamm vorfand. Ich bewegte mich so rasch, daß ich mich im Spiegel gerade meinen Kopf wenden sah, als ich zu meinem Spiegelbild blickte. Wieder im Schlafzimmer angelangt, öffnete ich vorsichtig den Schrank, entdeckte jedoch nichts Verdächtigeres und Gefährlicheres darin als auf Kleiderbügel gehängte Kleider. Ohne etwas zu sagen, wandte ich mich zur Tür, als mich Tara ansprach. »Sie sagten, Jenni sei ermordet worden?« Ich hätte sie fast nicht verstanden, denn gleichzeitig mit ihr hatte Wade gesagt: »Ich beabsichtige, eine Beschwerde einzureichen, damit Sie Bescheid wissen.« Ohne Wade zu beachten, wandte ich mich an Tara. »Ja, das stimmt. Der Bordarzt ist überzeugt davon. Abgesehen davon, daß ich ihm vertraue, bin ich auch erleichtert darüber. Der, nach dem die Besatzung sucht, ist möglicherweise der Mörder.«
»Suchen Sie ihn, weil er einen Passagier getötet hat, oder weil er Jenni Sonders umgebracht hat?« Unwillkürlich ärgerte mich ihre seltsame Frage. »Ich tue bloß meinen Job. Für Sie oder Ihren Mann würde ich das gleiche tun.« Na ja, für sie ganz bestimmt. Ich hob entschuldigend die Hand und wandte mich zur Kabinentür. »Bitte bleiben Sie bis um sechs in der Kabine.« Wade kam näher und sagte: »Das ist mein voller Ernst. Ich werde mich beschweren.« Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um. »Dann sollten Sie sich besser beeilen. Wenn wir tatsächlich einen Mörder an Bord haben, könnten Sie das nächste Opfer sein.« Als ich mich abwandte und hinausging, wirkte er noch aufgebrachter als zuvor. Ich schob die Kabinentür hinter mir fester zu als beabsichtigt. Mag sein, daß ich reizbar werde, wenn ich müde bin.
Eine knappe Stunde später war ich wieder auf der Brücke. Neben Bella saßen Razzi und Bensode, und alle drei schauten unglücklich drein. Die Suche hatte keinerlei Hinweise auf Fenn Melgards Verbleib erbracht. Wundern tat mich das nicht. »Nun«, sagte ich zu Bella, »das kann eigentlich nur bedeuten, daß die Überprüfung der Sprunganzüge ergeben hat: einer fehlt.« »So ist es«, sagte Bella. »Auf Ebene Sieben fehlt einer im Frachtraum in der Nähe des Nordpols.« »Dann sollte wohl mal jemand auf der Außenhülle nachsehen, um die Suche abzuschließen.« »An wen haben Sie gedacht?« erkundigte sich Bella. Nach einem solch langen Tag brachte ich es nicht über mich, jemandem eine Aufgabe zuzuweisen, die sich wahrscheinlich doch bloß wieder als Zeitverschwendung erweisen würde. »An mich.« Bella nickte, denn sie kannte mich und war sich zweifellos darüber im klaren, daß die Arbeit getan werden mußte. »In Ordnung, Jason. Solange Sie draußen sind, werden wir uns bemühen, die Kurskorrekturen auf ein Minimum zu beschränken.« Ihr angedeuteter Humor sollte mich wohl aufmuntern. »Das wäre mir recht.« »Übrigens habe ich eine Nachricht nach Tangente geschickt. Sobald man Melgard gefunden hat, gebe ich Ihnen Bescheid.« »Danke. Aber rufen Sie mich nur im Notfall an. Wenn er tatsächlich dort draußen ist, würde er mithören, und ich hätte um so größere Schwierigkeiten.«
Ich ließ den Sprunganzug unmittelbar vor der Nordpol-Schleuse auf Ebene Sieben auf den Boden plumpsen und kniete mich hin. Ich schloß die Vorderseite des leeren Anzugs, sicherte den Helm und drückte den Diagnoseschalter am Anzugkragen. Prompt wurde der Sprunganzug größer, entfaltete Arme und Beine, die Falten glätteten sich mit leisen Quietsch- und Ploppgeräuschen. Die Anzeige auf der Brust meldete, daß der Innendruck fünf Atmosphären betrug und der Anzug dicht war. Das zweiminütige Diagnoseprogramm überprüfte noch die übrigen Funktionen, dann gab es den Anzug zur Benutzung frei. Als ich den Bestätigungsschalter drückte, bildeten sich wieder Falten, und der Anzug sackte in sich zusammen. Ich legte ihn an und betrat die Luftschleuse. Ich hatte eine Taschenlampe und eine 180 Meter lange Sicherheitsleine dabei, die ich prompt an einem Ring in der Wand befestigte. Das andere Ende der Leine klinkte ich am Gürtel des Anzugs ein. Das Geräusch meines Atems, das begleitet wurde vom leisen Rauschen der zirkulierenden Luft, klang lauter im Innern des geschlossenen Helms. Eine kurze Überprüfung ergab, daß alle Innensysteme des Anzugs einwandfrei arbeiteten; die Anzeigen wurden an die Innenseite des Visiers gespiegelt, und wenn ich den Blick erst auf das Befehls- und dann auf das Ausführungssymbol richtete, reagierte der Anzug sogleich. Das Luftrauschen wurde lauter. Ich schaltete die Helmanzeige vorübergehend aus. Ich schob die Schleusentür möglichst leise hinter mir zu und verriegelte sie. Nachdem ich ein paar Tasten auf dem Bedienungsfeld der erleuchteten Schleuse gedrückt hatte, wurde die Luft aus der Schleusenkammer so langsam in das Schiff zurückgepumpt, daß keine Geräusche durch die Hülle übertragen wurden. Ich bezweifelte noch immer, daß Fenn Melgard dort draußen auf der Hülle war, und daß er unmittelbar über der Schleuse wartete, hielt ich für noch unwahrscheinlicher, doch die Vernachlässigung von Vorsichtsmaßnahmen hatte an Bord von Hyperraumschiffen schon eine erkleckliche Zahl von Menschenleben gefordert. Übrigens galt das wohl auch für Badewannen. Als Vakuum angezeigt wurde, schaltete ich das Licht aus. Innerhalb weniger Sekunden ließ die Helligkeit so stark nach, daß ich nichts mehr erkennen konnte. Ich wartete noch eine Weile, bis es in der Kammer völlig dunkel geworden war, dann öffnete ich von Hand die Ausstiegsluke an der Decke, wiederum so langsam, daß keine Vibrationen durch die Hülle weitergeleitet wurden. Falls Melgard dort draußen war, dann würde es die Suche erheblich vereinfachen, wenn er seine Position beibehielt, anstatt mir auszuweichen. Zumindest gab es draußen kein Licht, so daß er mich nicht sehen konnte. Scheinwerfer waren bei einem Hyperraumschiff ebenso überflüssig wie Scheibenwischer und Überrollbügel. Schließlich war die Öffnung groß genug und die Dunkelheit so vollkommen, daß ich nur noch die von der Netzhaut ausgelösten Lichtblitze sah, die mit der Zeit nachlassen würden. Über mir erstreckte sich die sternenlose Leere des Hyperraums der Schicht Zehn bis in die Unendlichkeit. Vom Kopf her war mir das klar; allerdings hätte ich auch dann keinen Unterschied gemerkt, wenn ich mich im Innern eines verschlossenen Frachtbehälters befunden hätte. Ich wußte bloß, daß ich nicht das geringste sah. Ich kletterte die Wandleiter hoch und vergewisserte mich, daß die Luke tatsächlich geöffnet war, dann kletterte ich wieder hinunter und stellte mich in die Mitte der Schleusenkammer. Ich holte tief Luft und sprang mit aller Kraft hoch.
Schwerelosigkeit setzte ein. Als ich den Eindruck hatte, ich sei am höchsten Punkt angelangt, schaltete ich die Manövrierdüsen ein. Noch immer in totaler Dunkelheit gefangen, ohne eine Möglichkeit, herauszufinden, ob ich mich womöglich langsam um die eigene Achse drehte, vertraute ich darauf, daß mich die vorprogrammierten Düsen in gerader Linie von der größten Masse, die der Anzug ausmachen konnte, wegbefördern würden. Der Beschleunigungsdruck drehte mich kurz auf die Seite, dann stabilisierte sich meine Lage wieder. Nach der vorprogrammierten Zeitspanne schalteten sich die Düsen aus. Ich schaltete die Helmanzeige ein und beobachtete, wie mein Abstand zum Schiff größer wurde. Als ich die gewünschte Position erreicht hatte, wies ich die Steuerung an, mich um neunzig Grad nach vorne zu drehen, und schaltete kurz die Taschenlampe ein. Zunächst sah ich nur den Lichtstrahl, der sich entlang meiner Nabelschnur ausbreitete, als wäre das Seil eine überlange Zündschnur, die rasch der Redshift entgegenbrannte und hinter sich Dunkelheit zurückließ. Während sich das Licht entfernte, wies ich die Steuerung an, mich noch weiter vom Schiff wegzubringen, um die Leine zu straffen. Kurz darauf gab es einen Ruck, und ich stellte die Düsen so ein, daß ich gerade so eben über dem Schiff in der Schwebe blieb. Nach einer guten halben Minute hatte das Licht der Taschenlampe endlich das Schiff erreicht und wurde zu mir reflektiert. Als erstes sah ich die offene Schleuse, dann breitete sich das Licht ringförmig aus. Ein paar Sekunden später hatte der Lichtkreis den Rand der Redshift erreicht, und die ganze Halbkugel unter mir war erleuchtet. Die ganze leere Halbkugel. Von hier aus war die Redshift kleiner, als wenn ich einen Basketball mit ausgestreckten Arm vor mich hingehalten hätte. Fenn Melgard wäre nurmehr ein Insekt gewesen, das auf der Oberfläche krabbelte, doch ich hätte ihn gesehen, wäre er denn dagewesen. Also war er entweder auf der anderen Seite, oder er war nicht mehr bei uns. Die mattschwarze, kugelförmige Schiffshülle gab nichts preis. Ich aktivierte wieder den Antrieb, diesmal in einem Winkel, der die Sicherheitsleine straff hielt und mich gleichzeitig in einen Orbit um das Schiff beförderte, in eine Umlaufbahn, die in dem Maße enger werden würde, wie sich die Leine um das Schiff wickelte. Ich behielt die Zeitanzeige im Auge. Zum Glück nahm die Schwerkraft nur allmählich ab, so daß ich die Zeitverschiebung aufgrund des Gravitationsgradienten ignorieren konnte. Als ich in Position war, stellte ich die Taschenlampe so ein, daß sie in Zehn-Sekunden-Intervallen blinkte. Diesmal wurde das Schiff rascher sichtbar. Es war wesentlich größer als zuvor, doch die Hülle war nach wie vor leer. Jedesmal, wenn ich die Hülle der Redshift aufleuchten sah, hielt ich aufmerksam Ausschau. Jedes Bild war näher und größer als das vorherige. Als ich die Redshift fast umrundet hatte, schaltete ich die Schulterleuchten ein und ließ sie brennen. Die offene Schleusentür lag unmittelbar unter mir, und ich schaltete noch ein letztes Mal die Düsen ein, um den Aufprall abzubremsen. Da ich mich aufgrund der für die Lichtübertragung erforderlichen Zeit verschätzt hatte, prallte ich von der Hülle ab und sank mit einem sechstel Ge dann langsam darauf hinunter.
Während meine Füße wieder Halt fanden, entwirrte ich die Sicherheitsleine. Ich ging ein paar Schritte zur Schleusenkammer zurück, wobei ich die übriggebliebenen paar Meter Leine mit einem Fußtritt aus dem Weg beförderte. Ein Druck auf einen Schalter neben der offenen Tür, und die Beleuchtung ging wieder an. Ich sprang behende in die Öffnung hinunter. In der Schleuse klinkte ich ein kürzeres Seil von meinem Anzug an einem Wandhaken ein, löste die lange Leine und wickelte sie auf. Erst jetzt ließ ich den Blick umherschweifen und entdeckte das Blut. Jedenfalls nahm ich an, daß es Blut war. So viele andere Möglichkeiten gab es nämlich nicht. Da in dieser Umgebung alles, was nicht von einem Feld geschützt wurde oder spezialbehandelt war, farblos erschien, hatten die Flecken auf dem Boden fast die gleiche graue Färbung wie der Rest, wirkten aber dennoch wie Blutspritzer - mehrere kreisförmige Tropfen unterschiedlicher Größe, ein jeder mit welligem Rand. Auf einmal revidierte ich meine Vermutungen hinsichtlich Fenn Melgards Verbleib. Wenn ich recht hatte, war er längst tot. Ich war dermaßen auf Tara Cline und Jenni Sonders fixiert gewesen, daß ich nicht alle Möglichkeiten bedacht hatte. Dabei hatte ich übersehen, daß Jenni und Fenn Melgard auch von einem dritten ermordet worden sein konnten. Oder hatte Fenn etwa ein zweites Opfer gefunden? Diese Möglichkeit ließ ich einstweilen außer acht, da niemand sonst bislang als vermißt gemeldet worden war. Wenn Fenn geblutet hatte, als er in die Schleuse gekommen war, dann hatte er mit Sicherheit keinen Sprunganzug getragen. Er mußte seinen Raumspaziergang auf Veranlassung eines Dritten unternommen haben, vorausgesetzt, daß er zu dem Zeitpunkt überhaupt noch am Leben war. Und dieser Dritte hatte entweder zusammen mit Fenn einen Sprunganzug über Bord geworfen oder irgendwo versteckt, oder er hatte die richtigen Knöpfe gedrückt und den Anzug in eine andere Schicht des Hyperraums befördert. Doch wie es sich auch zugetragen hatte, der Unbekannte hatte mit Sicherheit gewußt, daß uns ein Vermißter ohne fehlenden Sprunganzug dazu veranlassen würde, nach einem Mörder zu suchen. Somit hatten wir nicht nur einen Mörder an Bord, wir hatten auch nicht den geringsten Hinweis auf seine Identität. Während ich die verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander abwog, hatte ich die Sicherheitsleine aufgewickelt. Meine ursprüngliche Absicht, Bella auf der Brücke anzurufen und sie zu warnen, verwarf ich wieder als unklug, noch ehe ich die Schleusentür an der Decke geschlossen hatte. Wenn der Mörder zur Besatzung gehörte, würde er den Sprechverkehr überwachen. Der einzige Vorteil, den wir im Moment hatten, war, daß der Mörder möglicherweise glaubte, es habe noch niemand Verdacht geschöpft. Als die Deckenluke die ewige Nacht wieder ausgesperrt hatte, ließ ich Luft in die Schleuse. Die Digitalanzeige des Luftdrucks in Prozenten des Normalwerts kletterte rasch von 00 auf 90, dann verlangsamte sich der Anstieg, bis schließlich die 100 erreicht war. Selbst nach einem so kurzen Ausflug nach draußen war ich doch froh, wieder aus dem Sprunganzug herauszukommen. Den Oberkörper drehen zu müssen, wenn ich den Rand meines Gesichtsfelds sehen wollte, ließ mich immer leicht klaustrophobisch werden, daher löste ich den Helm, bevor ich den Schalter drückte, der die innere Schleusentür öffnete. Es gelang mir nicht mehr, die Schleusentür zu öffnen. Ich bekam nicht mal den Helm ganz
herunter. Ich hatte die Halsdichtung gelöst und wollte den Helm gerade abnehmen, als ich einen süßlichen Geruch bemerkte - einen Geruch, der nicht hierher gehörte. Ich versuchte, den Helm wieder zu befestigen, doch die Finger versagten mir den Dienst. Ein schwarzer Nebel am Rand meines Gesichtsfelds wurde immer dichter und breitete sich zur Mitte hin aus, bis er alles verdeckte. Ich glaube, ich spürte nicht mal mehr, wie ich zusammenbrach.
Ein durchdringender Schmerz seitlich am Hals war das erste, was ich spürte, als ich wieder zu mir kam. Zunächst meinte ich, wieder auf Redwall zu sein, und mich von einer Tracht Prügel zu erholen, die mir ein paar der Älteren verabreicht hatten. Ich fluchte bitterlich auf meine Eltern, weil sie mich dorthin gebracht hatten. Aber irgend etwas stimmte nicht. Ich lag auf keiner schmuddeligen Pritsche, die in einem sogenannten >Schlafsaal< untergebracht war. Das Licht, das durch meine teilweise geöffneten Augenlider drang, stammte nicht aus einem hohen, vergitterten Fenster. Schließlich wurde mir klar, daß der Schmerz vom Rand des Helms hervorgerufen wurde, der mir gegen den Hals drückte. Ich lag auf dem Boden einer geschlossenen Schleuse, einer Schleuse an Bord der Redshift. Ich richtete mich mühsam in eine sitzende Haltung auf und nahm den Helm ab, wobei ich mich wieder an den Geruch erinnerte, den ich wahrgenommen hatte, kurz bevor ich das Bewußtsein verlor. Ich wandte den Kopf zur Standarduhr. Die Schleuse drehte sich. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Kater. Dann stellten sich meine Augen wieder scharf. Ich war mehrere Stunden bewußtlos gewesen. Darauf konnte ich mir keinen Reim machen. Weshalb hätte mich jemand in der Schleuse betäuben sollen, bloß um mich dann liegenzulassen, ohne mich zu töten oder mir sonstwas anzutun? Und warum war niemand nach mir sehen gekommen, wenn ich so lange hier gelegen hatte? Vielleicht war ich ja nicht als einziger betroffen, dachte ich, als mein Kopf allmählich wieder klarer wurde. Jemanden in einer Schleuse unter Gas zu setzen und ihn dann in Ruhe zu lassen, erschien sinnlos. Vielleicht hatte man das ganze Schiff unter Gas gesetzt, und vielleicht war niemand bei Bewußtsein, der wußte, daß ich mich hier in einer geschlossenen, selten benutzten Schleuse befand. Ich stand auf und lehnte mich an die Wand. Kurz darauf hörten meine Beine auf zu zittern. Ich schüttelte den Kopf, der zum Glück noch fest auf den Schultern zu sitzen schien. Ein widerlicher Geruch hing in der Luft, doch die Überreste des Betäubungsgases waren mittlerweile anscheinend wirkungslos geworden. Ich streckte die Hand zum Komm-Terminal aus, dann zögerte ich. Nach wie vor mit der Theorie beschäftigt, die besagte, daß es keinen triftigen Grund gab, mich unter Gas zu setzen und dann untätig zu bleiben, so daß man annehmen mußte, das
ganze Schiff sei unter Gas gesetzt worden, verfolgte ich die Argumentationskette weiter. Als Luft aus dem Schiff in die Schleuse gedrungen war, hatte ich das Bewußtsein verloren. Angenommen, die Wirkung verflog nach einer bestimmten Zeitspanne, dann kam im Moment jeder zu Bewußtsein, der sich auf Ebene Sieben aufgehalten hatte. Die Menschen weiter im Innern, wo die Zeit langsamer verstrich, würden nach und nach zu sich kommen: erst Ebene Sechs, dann Ebene Fünf, bis zur Ebene Eins. Bis die Brückenbesatzung zu sich kam, würde wohl noch eine Stunde vergehen. Wenn ich also jetzt auf der Brücke anrief, würde ich nicht nur keine Antwort bekommen, sondern obendrein noch den oder die Verantwortlichen für die Gasattacke aufmerksam machen. Auf einmal schien es mir geraten, die Schleuse schleunigst zu verlassen. Der Sprunganzug wäre zu geräuschvoll gewesen, um heimlich Erkundigungen einzuholen, daher löste ich die Verbindung und schälte mich heraus. Ich konnte mir notfalls jederzeit einen neuen Anzug besorgen. Ich entriegelte die innere Schleusentür und schob sie einen Spalt weit auf. Ich lauschte mehrere Sekunden lang. Nichts. Ich schob die Tür so weit auf, daß ich einen Blick auf den Gang werfen konnte. Leer. Ich öffnete sie ganz und blickte vorsichtig erst in die eine, dann in die andere Richtung. Niemand da. Ich schloß hinter mir die Schleusentür und näherte mich behutsam der nächsten Kreuzung. Dort hockte ich mich hin, um weniger aufzufallen. In dem kreuzenden Gang war ebenfalls niemand unterwegs. Der nächste Treppenschacht war der, über den ich hergekommen war. Ich lauschte eine Weile an der Tür, bevor ich sie öffnete. Als ich den Treppenschacht betreten hatte, schloß ich sanft hinter mir die Tür und stieg so leise wie möglich die Treppe hinunter. Durch einen schmalen Spalt in der Tür zu Ebene Sechs machte ich keinerlei Bewegung aus. Ich ging weiter zu Ebene Fünf. Auf Ebene Fünf war ich noch vorsichtiger. Auf dem Gang tat sich etwas, denn im Türrahmen war eine leichte Vibration zu spüren. Dann war also jemand wach, obwohl eigentlich Schlafenszeit war. Ich öffnete einen Spalt weit die Tür und spähte hindurch. Zunächst sah ich nichts, doch dann rannten zwei schwarzgekleidete Gestalten durch mein Gesichtsfeld. Die Gesichter der Männer waren aufgrund ihrer Geschwindigkeit geschrumpft und verzerrt, dennoch war ich mir sicher, sie noch nie gesehen zu haben. Beide Männer trugen Messerscheiden am Gürtel. Und es waren bestimmt keine Besteckmesser darin. Ich drückte die Tür wieder zu und überlegte, ob ich mich solange in einem Frachtraum verstecken sollte, bis sie zu dem Schluß kamen, daß ich nicht mehr am Leben war, und mich vergaßen. Der Haken bei dem Plan war, daß >sie<, wer immer das sein mochte, dann ausreichend Zeit hätten, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Ich hielt es für angebrachter, ihre Aktivitäten zu stören, ehe sie sich völlig organisiert hatten und zur Routine übergegangen waren. In der Hoffnung, daß sie wirklich noch nicht vollständig organisiert waren, griff ich nach dem Neutralisator. Ich wartete noch einen Moment im Treppenschacht und überlegte, welche Absicht hinter alldem stecken mochte. Eine Geiselnahme? Frachtdiebstahl? Wollten sie jemanden von den
Passagieren oder der Besatzung töten? Die Tatsache, daß sie das Schiff unter Gas gesetzt hatten, kam mir möglicherweise gelegen. Das bedeutete nämlich, daß sie die Operation mit weniger Leuten ausführen konnten, als wenn sie das Schiff gewaltsam hätten übernehmen müssen. Somit brauchte ich mich mit weniger Leuten zu befassen. Und befassen wollte ich mich gründlich mit ihnen. Eine bewaffnete Gruppe, die ein Schiff übernahm, hatte keine Nachsicht verdient. Was auch immer dahinterstecken mochte, dies war weder ein Mißverständnis noch ein Unfall. Und es stand mit Sicherheit in Verbindung mit Jennis Ermordung und der mutmaßlichen Ermordung Fenn Melgards. Ich öffnete wiederum ein Stück weit die Tür und spähte hindurch. Kein Mensch zu sehen, kein Geräusch. Ich öffnete die Tür weiter und vermochte jetzt über den Gang bis zu einer offenen Kabinentür zu blicken. Mir kam die Idee, anhand des Zustands, in dem die Kabine sich befand, festzustellen, ob jemand die Kabinen plünderte. Ich wollte schon nachsehen gehen, als ich ein Geräusch vernahm. Aufgrund der niedrigen Schallgeschwindigkeit fiel die Ortung schwer, doch nach einer Weile war ich sicher, daß das Geräusch nicht von der Treppe, sondern vom Gang herkam. Gleich darauf nahm ich in der Kabinentür eine Bewegung wahr. Eine schwarzgekleidete Gestalt zog einen bewußtlosen oder toten Passagier aus dem Raum. Offenbar war es den Eindringlingen gelungen, dem Brückencomputer die Kombination des Generalschlüssels zu entlocken. Ich wartete. Entweder er kam an mir vorbei, oder er wandte sich in die entgegengesetzte Richtung. Er kam in meine Richtung. Ich packte den Neutralisator fester. Eine bessere Gelegenheit, mir einen der Eindringlinge einzeln vorzuknöpfen, würde sich kaum ergeben. Wenn sie erst einmal von mir wußten, würde ich auf erheblich größere Schwierigkeiten stoßen. Der Mann in Schwarz wandte mir den Rücken zu, während er den schlaffen Passagier über den Gang in meine Richtung schleifte. Ich schob die Tür leise auf und näherte mich ihm. Entweder er hörte das Geräusch meiner Schritte, oder sein Vorhaben hatte seine Selbstschutzinstinkte geschärft. Kurz bevor ich ihn erreicht hatte, ließ er den Passagier los und drehte sich rasch zu mir um. Ich täuschte eine Finte auf seinen Kopf und Hals vor. Neulinge an Bord hatten in der ungewohnten Umgebung meist Probleme mit der Reaktionsgeschwindigkeit und kamen daher mit Finten besonders schwer zurecht. Sie brauchten eine Weile, um sich daran zu gewöhnen, daß alles, was sie sahen, bereits Vergangenheit war. Finten verstärkten das Problem, da dann noch die Reaktionszeit zu der zeitlichen Verzögerung hinzukam. Der Mann wollte meinen Schlag abrangen, bemerkte jedoch offenbar viel zu spät, was wirklich ablief. Ich legte ihm den Neutralisator um den Leib, so daß er unmittelbar vor dem Lifebelt zu liegen kam. Sein Arm prallte zu spät seitlich von meinem Kopf ab, um mich abzulenken. Ich drückte den Schalter in dem Moment, als er sich auf einmal mit aller Macht in meiner Umklammerung drehte, doch das Überraschungsmoment hatte mir einen ausreichenden Vorsprung verschafft. Als der Neutralisator das Feld seines Lifebelts ausschaltete, sackte er in meinen Armen zusammen. Aus seinen Wangen und seiner Uniform wich alle Farbe. Im Innern seines Körpers hatte sich die Signalübermittlung zwischen den Neuronen, die über die dazwischenliegenden Synapsen
stattfand, dermaßen verlangsamt, daß sein Gehirn keine Gewalt mehr über den Körper hatte. Es sei denn, ich schaltete die Umkehrfunktion des Neutralisators ein, oder er wurde in eine niedrigere Schicht des Hyperraums befördert, würde er unweigerlich sterben. Obwohl ich den Mann in Schwarz überwältigt hatte, ohne dabei verletzt zu werden, hielt ich ihn für einen Profi. Er hatte keinen Versuch unternommen, mit mir zu reden, und hatte auch sonst keine Energie verschwendet; er hatte einfach nur sein möglichstes getan, um sein Leben zu retten. Ich blickte mich um. Soweit ich erkennen konnte, war die Rangelei unbemerkt geblieben. Rasch schleifte ich den Mann und den flach atmenden Passagier in die Kabine. Das Gesicht des Schwarzgekleideten war mir unbekannt. Ich riß ein Bettlaken entzwei und band ihm die Arme hinter dem Rücken zusammen. Dann setzte ich mich rittlings auf ihn und aktivierte seinen Lifebelt. Augenblicklich nahm sein aschfahles Gesicht wieder Farbe an, und das Grau seiner Uniform verwandelte sich in Schwarz. Seine Augen bewegten sich unter den Lidern, als träumte er, doch es dauerte noch eine Weile, bis sich seine Gehirnfunktionen wieder synchronisiert und sein Atem stabilisiert hatten. Er hustete ein paarmal, dann schlug er die Augen auf. Sie waren braun und voller Fragen. Im nächsten Moment trat Haß an die Stelle der Fragen, und er versuchte sich zu wehren, bis ihm klar wurde, wie hilflos er war. »Ich gebe Ihnen eine Chance«, sagte ich laut und deutlich. »Machen Sie keinen Fehler, wenn Sie mir antworten. Ich bluffe nicht. Ich werde genau das tun, was ich sage.« Ich hatte den Eindruck, in seinen Augen zeige sich Begreifen, während sich die Gesichtsmuskeln von dem Versuch aufzustehen entspannten. Der Einsatz war hoch, daher zwang ich mich, langsam zu sprechen. »Ich bin der Erste Offizier und möchte genau wissen, was an Bord meines Schiffes vorgeht. Bis auf weiteres muß ich davon ausgehen, daß Sie feindlich gesonnen sind und das Leben sämtlicher Anwesender an Bord gefährden. Dies gibt mir das Recht, Ihren Lifbelt abzuschalten und Sie sterben zu lassen. Wenn Sie mir beweisen können, daß ich die Situation mißverstehe, daß es sich beispielsweise um eine groteske Übung des Innenministeriums handelt, werde ich mir die Zeit nehmen, Sie so zu fesseln, daß Sie sich nicht von allein befreien können. Sollten Sie tatsächlich feindlich gesonnen sein, mir jedoch ausreichend Informationen über Ihr Vorhaben und Ihren Anführer geben - dann gilt das gleiche. Sollten Sie sich weigern, schalte ich Sie ab. Und Sie sterben.« Der Mann sah schweigend zu mir hoch. »Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?« Er nickte. »Glauben Sie, ich bluffe?« Er zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Wollen Sie reden?« Erneutes Zögern, dann schluckte er und schüttelte abermals den Kopf.
Ich seufzte. »Na schön. Wenn Sie es so haben wollen. Ich habe nicht die Zeit, Sie irgendwo einzusperren. Ich zähle bis drei, dann schalte ich Sie ab.« Er blickte mich mit seinen unversöhnlichen braunen Augen unverwandt an. »Eins.« »Zwei.« »Drei.« Ich drückte den Schalter. Zum letzten Mal wich die Farbe aus seinem Gesicht und seinen Augen, während er seine Reise zum Tod begann. In dem Moment, als sein Atem aussetzte, hielt auch ich den Atem an. Mühsam verdrängte ich den Schmerz darüber, einen Menschen getötet zu haben, zwang mich weiterzuatmen und gab mich düsteren Gedanken über Pflicht und Arbeit hin. Warum hatte er sich auch geweigert zu reden. Verdammt noch mal. Langsam richtete ich mich auf und überlegte einen flüchtigen Moment lang, wie ich meine wilde Entschlossenheit wiederfinden sollte. Allmählich begann ich mich wieder schneller zu bewegen. Ich zog dem Mann die schwarze Montur aus und legte sie über meinen eigenen Sachen an. Der Anzug färbte sich schwarz, als er in das Feld meines Lifebelts geriet. Die Tarnfarbe bot mir nur notdürftig Schutz, doch ich mußte alle Mittel nutzen, die mir zur Verfügung standen. Ich durchsuchte rasch seine Taschen, fand jedoch keinerlei Hinweise auf seine Identität, bloß einen Übersichtsplan der Redshift und ein paar Geldmünzen. Auf diesem Schiff waren sie etwa so nützlich wie ein Paar Stereolautsprecher. Erst als ich den Leichnam des Mannes hinter dem Bett versteckte, wurde mir bewußt, daß ich nicht nur verwirrt und angespannt, sondern auch mächtig aufgebracht war. Beinahe wünschte ich mir, der Typ wäre noch am Leben und leistete mir Widerstand, denn dann hätte ich einen Teil meiner Frustration an ihm abreagieren können. Sonst bin ich nicht so; ich nehme an, es lag daran, daß die Redshift meine einzige Freundin war und daß sich jemand vorsätzlich an ihr verging. Ich überprüfte mein Aussehen im Badspiegel, denn ich wollte vermeiden, daß irgendwo meine Uniform hervorlugte und mich sogleich als Hochstapler entlarvte. Ich schaute grimmig drein und betrübter, als man von einem Mann, der zum erstenmal mit vierzehn getötet hatte, hätte erwarten sollen. Ich steckte das Messer des Mannes in die Scheide an meinem neuen Gürtel. Den Passagier schleifte ich wieder auf den leeren Gang hinaus. Es handelte sich um einen älteren Mann, bekleidet mit einem langen, dünnen Schlafanzug. Ich hoffte für ihn, daß diese Tortur bald ein Ende hatte. Ich schleifte ihn in die Richtung, die mein Vorgänger eingeschlagen hatte, und überlegte gerade, wie ich weiter vorgehen sollte, als aus einer nahegelegenen Kabine ein weiterer Schwarzgekleideter trat, der ebenfalls einen Passagier hinter sich herschleifte. Diesmal handelte es sich bei dem Opfer um eine Frau mittleren Alters, deren Oberkörper teilweise eine Decke bedeckte. Ihr eine züchtige Bedeckung für den Moment des Aufwachens zuzugestehen, war eine rührende Geste, vermochte mich aber nicht sonderlich zu beeindrucken. Die beiden
Enden der Decke führten unter den Armen des Opfers und dessen Hals hindurch, so daß sie einen bequemen Tragegriff bildeten. Ich hielt den Kopf solange gesenkt, bis ich den Schwarzgekleideten beinahe erreicht hatte und er sich womöglich schon fragte, weshalb ich nichts sagte. Im stillen meinem Schützling Abbitte leistend, ließ ich Kopf und Schultern des Mannes aufs Deck fallen und machte einen Ausruf, der dazu gedacht war, den Fremden glauben zu machen, es handele sich um ein Mißgeschick, und seine Aufmerksamkeit auf den Passagier zu lenken, den ich beinahe auf seine Füße hatte fallenlassen. Während er sich anschickte, auf meinen Affront zu reagieren, zauderte ich nicht lange, sondern packte den Neutralisator. Ich drückte den Mann mit den Schultern an die Wand, kippte ihn aus dem Gleichgewicht, brachte den Neutralisator in Position und drückte den Schalter. Auch dieser Eindringling war ein Profi, jedoch weniger schweigsam als sein Vorgänger. Erst als er mich lautstark beschimpfte, wurde mir klar, daß ich es mit einer Frau zu tun hatte. Das Haar trug sie kurzgeschoren, und ihre kleinen Brüste hatte ich beim ersten flüchtigen Hinschauen übersehen. Auch diesmal fühlte ich mich schuldig, doch wer sich an einer solchen Unternehmung beteiligte, kannte das Risiko und hatte seine Wahl getroffen. Ich wollte nicht deshalb sterben, weil ich mich bemüht hatte, jemanden lediglich bewußtlos zu schlagen. Wo Messer und verzögerte Reaktionen im Spiel waren, konnte schon der kleinste Fehler tödlich sein. Ich verdrängte meine Schuldgefühle. Später würde ich noch genug Zeit haben, mich damit auseinanderzusetzen. Ich zerrte die beiden bewußtlosen Passagiere und mein Opfer in die Kabine, aus der die Schwarzgekleidete soeben gekommen war. Auch die Frau hatte ich noch nie gesehen. Ich ließ den weiblichen Passagier auf dem Boden liegen, verbarg die Schwarzgekleidete hinter dem Bett und versteckte das Messer unter dem Kissen. Als ich der Frau einen letzten Blick zuwarf, stieg mir die Galle hoch, doch ich konnte es mir nicht leisten, sie sorgfältig zu fesseln und am Leben zu lassen. Der schlafende ältere Herr beklagte sich nicht, als ich meine Wanderung mit ihm im Schlepptau wieder aufnahm. Ich hoffte, er habe angenehme Träume, doch wahrscheinlich träumte er vom Fliegen und Fallen. Auf dem Gang war niemand. Ich schleifte meinen Schützling langsam weiter, in der Hoffnung, weitere Aufschlüsse über die Vorgänge an Bord zu bekommen. Offenbar sollte die Übernahme länger dauern als nur ein paar Stunden. Ansonsten hätte kein Grund bestanden, alle Bewußtlosen einzusammeln und wahrscheinlich irgendwo einzusperren. Ich machte mir auch Gedanken über die Größe der Invasorengruppe. Mit etwas Glück hatte ich in den vergangenen paar Minuten zwei von Sechs Eindringlingen eliminiert, wahrscheinlich war jedoch, daß es zwei von zehn oder zwanzig waren, wenn man davon ausging, daß sie genug Leute hatten, um sämtliche Passagiere und Besatzungsmitglieder einzusammeln, bevor jemand erwachte. Es sei denn, sie beabsichtigten, in nächster Zeit eine weitere Dosis Betäubungsgas einzusetzen. Beinahe wäre ich stehengeblieben und hätte mir ein Versteck gesucht, doch gleichzeitig sah ich mich um und entdecke einen weiteren Schwarzgekleideten auf dem Gang. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, ging ich weiter, wobei ich den Blick abgewandt hielt.
Dieser Mann bemerkte offenbar nicht einmal, daß ich kein Kollege war, allerdings war ich gewiß nicht der, nach dem er suchte. »Wo, zum Teufel, steckt Murphy? Er sollte längst wieder hier sein.« Ich sagte nichts, aus Angst, meine Stimme könnte mich verraten. Statt dessen deutete ich mit einer rüden Geste an, Murphy nähme sich vielleicht Freiheiten bei einer Passagierin heraus, die noch bewußtlos war. »Das soll wohl ein Witz sein«, lautete der entrüstete Kommentar. «Ich werfe ihn aus dem Schiff, ohne Raumanzug. Wo steckt er?« Ich deutete auf eine offene Kabinentür und schleifte den Passagier weiter über den Boden. Der Schwarzgekleidete näherte sich energischen Schritts. Als er mich beinahe erreicht hatte, rammte ich ihn gegen die Wand und setzte den Neutralisator ein, bevor er reagieren konnte. Es machte mich immer zorniger, daß ich gezwungen war, so zu handeln. Während ich die dritte Leiche versteckte, erwog ich noch einmal die Möglichkeit, daß es sich bei den Eindringlingen lediglich um Leute des Innenministeriums handeln könnte, die unser Verhalten im Notfall überprüfen sollten. Oder aber es waren Agenten der Konföderation, die zu ungewöhnlichen Maßnahmen Zuflucht nahmen, um eines gefährlichen Verbrechers habhaft zu werden. Oder aber diese Leute handelten wirklich einfach bloß kriminell, etwa um den Medien zu demonstrieren, wie leicht eine solche Übernahme zu bewerkstelligen war. Allerdings vermochte ich an keine dieser Möglichkeiten auch nur einen Moment lang zu glauben. Besatzung und Passagiere unter Gas zu setzen und sie dann durch die Gänge zu einem unbekannten Ziel zu schleppen, bedeutete für jeden Passagier mit Gesundheitsproblemen ein schweres Risiko. Die Schwarzgekleideten nahmen dieses Risiko bewußt in Kauf, daher mußten sie auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Wenn ich einen Schwarzgekleideten lediglich fesselte, dieser sich befreite und ich anschließend getötet wurde, wäre der einzige Vorteil verspielt, den wir hatten. Und je länger ich darüber nachdachte, wie ich mich verhalten sollte, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, daß die Eindringlinge merkten, nicht mehr vollzählig zu sein, und entsprechende Maßnahmen ergriffen. Ich begab mich wieder auf den Gang und schleifte den bewußtlosen Passagier weiter. Sonst war niemand zu sehen. Ich hoffte, daß ich einen Hinweis auf die Sammelstelle für die Bewußtlosen finden würde, bevor ich die nächste Kreuzung erreichte. Als ich die Kreuzung erreichte, war ich immer noch nicht schlauer, doch nach einem raschen Blick um die Ecke wußte ich Bescheid. Dort, ein Stück weiter den Gang hinunter, hatten vor der Tür zum Bordschwimmbad zwei Wachposten Aufstellung genommen. Zwei weitere Schwarzgekleidete schleiften schlaffe Passagiere zu der Tür. Ich nahm an, daß diese Aktion so gut wie abgeschlossen war; meiner Einschätzung nach mußten die Gasopfer auf dieser Ebene bald wieder zu sich kommen. Wenn es mir gelang, ein paar Besatzungsmitglieder vor der Gefangenschaft zu bewahren, konnten wir uns ernsthaft daran machen, die Kontrolle über das Schiff zurückzuerobern. Ich verbarg den Neutralisator in der hohlen Hand. Dann packte ich vorsichtig das schlaffe Handgelenk meines Schützlings, und zwar so, daß der Neutralisator einsatzbereit war. Als die beiden Einsammler wieder verschwunden waren, bog ich um die Ecke und näherte mich den beiden Wachposten.
Ich hatte noch nie weniger Lust aufs Schwimmbad gehabt. Diese Situation erforderte eindeutig mehr als eine Schwimmweste und eine Quietschente.
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Kapitel 6
Hyperraumschwimmer Lange bevor ich die beiden schwarzgekleideten Wachposten an der Tür zum Schwimmbad erreicht hatte, bekam ich Zweifel, ob ich das Richtige tat. Vielleicht hätte ich auf weitere Gelegenheiten warten sollen, einzelne Schwarzgekleidete anzugreifen, anstatt im Schiff umherzuwandern. Vielleicht hätte ich in die Kabine zurückgehen und so tun sollen, als sei ich bewußtlos. Dann hätte ich den Mann, der die Kabine leerräumen kam, überwältigen können. Doch nun war es zu spät. Ich schlug mir die anderen Möglichkeiten aus dem Kopf und schleifte meinen bewußtlosen Passagier weiter auf die beiden Wachposten zu. Während ich mich ihnen rückwärts gehend näherte, fühlte ich mich unangenehm schutzlos. Aus den Augenwinkeln warf ich ihnen verstohlene Blicke zu, um vorgewarnt zu sein, falls sie eine plötzliche Reaktion zeigen sollten oder falls ein anderer Einsammler auftauchte. In meiner Rechten, mit der ich den Arm des Passagiers umklammert hielt, war noch immer der Neutralisator verborgen. Mit der Linken hielt ich das andere Handgelenk des Mannes, und der Manschettenknopf, den ich mit den Fingern spürte, brachte mich auf eine Idee. Während ich seine beiden Arme vorübergehend mit einer Hand hielt, holte ich eine Münze aus der Tasche. Ich preßte die Münze gegen das Handgelenk des Mannes und ging weiter. Aufgrund der Reaktion meines dritten Opfers wußte ich, daß ich von hinten zumindest eine oberflächliche Ähnlichkeit mit einem der Einsammler aufwies, wahrscheinlich mit meinem ersten Opfer, das ebenfalls dunkles Haar gehabt hatte. Dieser Vorteil und die Tatsache, daß ich das Überraschungsmoment auf meiner Seite hatte, war jedoch kein Grund für mich, leichtsinnig zu werden. Ich ging weiter. Ich befand mich fast schon auf gleicher Höhe mit dem ersten Wachposten, als einer der beiden reagierte. Er sagte: »Was fällt dir eigentlich ein? Wir sollten längst fertig sein.« Ich passierte den ersten Posten und erreichte die Position, die ich hatte haben wollen unmittelbar zwischen den beiden. Statt einer Entgegnung ruckte ich mit dem Kopf in die Richtung, aus der ich gekommen war, als wollte ich damit sagen, die Erklärung liege dort. Im nächsten Moment, als ich hoffte, er blicke in den Gang und nicht zu mir hin, warf ich die Münze mit einer raschen Handbewegung in die Richtung, in die ich mit einem Nicken gedeutet hatte. Ich wartete noch einen Moment ab, dann wurde ich aktiv. Während der Posten, an dem ich soeben vorbeigekommen war, auf mein Kopfnicken reagierte und das Klimpern der Münze hörte, die über den Boden schlitterte, rammte ich dem anderen Wachposten den Neutralisator gegen den Bauch. Mein Passagier fiel abermals zu Boden. Noch ehe der Wachposten zusammengesackt war, wich ich zurück und wirbelte zum ersten Aufpasser herum. Er hatte noch auf die Vergangenheit reagiert, schickte sich jedoch bereits an, sich zur mir umzudrehen. Ich näherte mich ihm mit dem Neutralisator, doch dieser Mann hatte sich schneller bewegt, als mir anhand des zeitverzögerten Bildes klargewesen war. Seine Hand beschrieb einen weit ausholenden Bogen. Er schlug mir den Neutralisator aus der Hand
und wich gleichzeitig zurück. Wir fixierten einander aus einem Meter Anstand. Er zog sein Messer und warf einen Blick in die Richtung, in der mein Neutralisator über den Boden schlitterte. Er beugte sich leicht vor und hielt das Messer waagerecht ausgestreckt. Ein so boshaftes Grinsen wie das meines Gegenübers war mir schon lange nicht mehr untergekommen. Im Grunde schien er froh zu sein über die Abwechslung. Ich bewegte mich weg von der Wand, in Richtung des Neutralisators, und der Mann versperrte mir den Weg. Wenn ich noch Zweifel hinsichtlich dieser ungewöhnlich gekleideten Gruppe gehabt hatte, so verflüchtigten sie sich spätestens jetzt. Als der Mann vorsprang, wich ich ihm gerade noch rechtzeitig aus. Meine Skrupel hinsichtlich meines Vorgehens schwanden. Ich täuschte Finten vor, war ständig in Bewegung und nie an dem Ort, an dem mich der Schwarzgekleidete zu sehen meinte. Mein einziger Vorteil war meine Vertrautheit mit der Umgebung, und den mußte ich ausnutzen bis zum äußersten. Der Schwarzgekleidete unternahm ein paar Vorstöße in meine Richtung und durchteilte dabei die Luft mit kräftigen, waagerechten Messerhieben. Er kam mir kein einziges Mal nahe, und zusammengepreßte Lippen traten an die Stelle seines boshaften Grinsens, was wohl bedeuten sollte, daß er nun die Lage ernster einschätzte als noch eben zuvor. Um ihn noch weiter zu verwirren, sagte ich: »Schnapp ihn dir, Harry!«, machte einen Satz auf ihn zu, täuschte nach rechts an und passierte ihn anschließend auf der linken Seite. Verwirrt von meinem Ausruf und der gleichzeitigen Finte, verteidigte er sich gegen den Angriff meines Abbilds und vernachlässigte seine Deckung. Ich legte ihm von hinten den Arm um den Hals und drückte gegen seinen Adamsapfel. Mit der anderen Hand packte ich seine Messerhand und rammte sie gegen die Wand. Das Messer traf mit der Spitze auf der Wand auf, und seine Hand glitt über das Heft und weiter zur Klinge. Das Messer fiel zu Boden. Schreien konnte er allerdings nicht, da ich ihm nämlich die Luft abschnürte. Jetzt, da das Messer keine unmittelbare Bedrohung mehr darstellte, versetzte ich dem Mann einen Fußtritt und drehte ihn gleichzeitig so, daß er mit dem Kopf heftig gegen die gegenüberliegende Wand prallte. Er erschlaffte augenblicklich. Ich nahm rasch sein Messer und den Neutralisator an mich. Als ich seinen Lifebelt abschaltete und die Farbe aus seiner Haut und Uniform wich, war er bewußtlos. Ich atmete mehrmals tief durch, dann schleifte ich die beiden Männer in einen Serviceraum und ließ sie darin fallen. Dann eilte ich zurück zu dem Gang, der zum Schwimmbad führte. Ich wäre am liebsten auf der Stelle hineingegangen, doch wenn man mich mittlerweile bemerkt hatte, wäre ich unweigerlich überwältigt worden. Daher nahm ich neben der Tür Aufstellung und blickte erst in die eine, dann in die andere Richtung. Ich sah niemanden. Wenn allerdings jemand diesen Abschnitt vor ein paar Sekunden betreten hatte, so würde mich sein Abbild erst jetzt erreichen, während er sehen würde, was ich vor ein paar Sekunden getan hatte. Die Sekunden verstrichen, ohne daß irgend etwas geschah, daher öffnete ich die Tür zum Schwimmbad und schleifte meinen bedauernswerten Passagier hinein. Sein Hinterkopf würde wund sein, wenn er zu sich kam, doch da auf dieser Ebene weniger als ein halbes Ge
herrschte, würde er wohl kaum eine Gehirnerschütterung haben. Anschließend stellte ich mich solange draußen vor die Tür, bis ich sicher war, nicht beobachtet worden zu sein, dann ging ich wieder hinein. Das Foyer des Schwimmbads war menschenleer. Seitengänge führten zu den Umkleidekabinen für Männer und Frauen. Ich schleifte meinen Passagier geradewegs durch das Foyer, bis zu dem überwölbten Gang, der zum anderen Eingang führte, und bog um die Ecke. Die sahnigweiße Wasseroberfläche des Beckens war unbewegt und verjüngte sich zur hinteren Wand hin. Um das Becken herum waren weit mehr Menschen, als ich jemals hier gesehen hatte, doch niemand hielt sich im Wasser auf. Es war vollkommen still im Raum. Die bewußtlosen Körper hatte man um das Becken herum verteilt, ein paar lagen sogar übereinander. Viele trugen Nachtwäsche; die übrigen waren in Decken oder Bettlaken gewickelt, die an Togas erinnerten. Ich sah, daß die in der Nähe flach atmeten und daß sich ihre Brustkästen hoben und senkten. Die Szenerie hätte zu einer Orgie auf einem Vergnügungsplaneten gepaßt, die bereits das Stadium völliger Erschöpfung erreicht hatte. Es war bloß eine Vermutung, doch ich nahm an, daß diese Leute stark verwirrt sein würden, wenn sie zu sich kamen. Ich legte meinen Passagier ab, froh darüber, die Last endlich los zu sein und ihn nicht länger herumschleifen zu müssen. Als ich mich wieder aufrichtete, wurde mir klar, was mich an dem Anblick verstört hatte. In dieser ganzen Ansammlung von schlafenden Männern, Frauen und Kindern gab es keine einzige Uniform. Zumindest diejenigen Besatzungsmitglieder, die im Dienst gewesen waren, hätten eine Uniform tragen müssen. Dies bedeutete, daß mit den Besatzungsmitgliedern anders verfahren wurde oder daß man sie getötet oder anderswo eingesperrt hatte. Ich vergewisserte mich rasch, daß es sich ausschließlich um Passagiere handelte. Ich sah Wade Pesek Midsel und Tara Pesek Cline. Ich sah Merle Trentlin, der im Pyjama noch jünger wirkte als zuvor bei Tisch. Ich sah ein paar Passagiere, deren Köpfe leicht zitterten, so als kämen sie gerade zu sich. Besatzungsmitglieder entdeckte ich keine. Somit lag mein Plan, ein paar Schlüsselpersonen von der Besatzung zu befreien, immer noch auf Eis. Ich ging zurück zum Haupteingang und horchte an der Tür. Nichts. Ich öffnete die Tür behutsam, darauf gefaßt, rasch zu reagieren, doch der Gang war nach wie vor menschenleer. Ich nahm wieder an der Tür Aufstellung und dachte angestrengt nach. Wo mochten sie die Besatzung wohl untergebracht haben? Ich ging gerade die verschiedenen Möglichkeiten durch, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Ein weiterer Schwarzgekleideter war im Anmarsch. Wäre ich weggerannt, hätte ich meinen Vorteil preisgegeben. Die sich nähernde Gestalt war noch zu weit entfernt, um Einzelheiten an ihr auszumachen. Daher bedeutete ich ihr, mir zu folgen, und trat wieder ins Foyer. Wenn der Schwarzgekleidete wirklich Verdacht geschöpft hatte, brauchte er lediglich Verstärkung herbeizuholen. Sein Mißtrauen hielt sich jedoch anscheinend in Grenzen, denn er folgte mir mit gezogenem Messer nach drinnen.
Mit abgewandtem Gesicht bedeutete ich ihm, mir in den nächsten Raum zu folgen. Er kam folgsam mit. Als er hinter mir um die Ecke bog, versetzte ich ihm einen harten Schlag. Mit anscheinend letzter Kraft stieß er mit dem Messer nach mir. Die Klinge drang durch meinen schwarzen Ärmel, und ich merkte am Brennen, daß er mich am Arm verletzt hatte. Dann traf ich ihn mit der Handkante hart am Hals. Er gab einen Laut von sich, der halb Keuchen, halb Würgen war. Ich packte ihn beim Arm, nahm ihn auf die Schulter und schleuderte ihn an der Treppe vorbei ins Becken. Sein Körper beschrieb einen Bogen durch die Luft und landete kopfüber im weißen Wasser. Die Spritzer flogen hoch in der geringen Schwerkraft. Reflektierte Lichtmuster kräuselten sich an der Decke. Das Messer des Schwarzgekleideten war zwar ins Wasser gefallen, lag jedoch auf einer der ersten Stufen, so daß ich mir lediglich die Hand naßmachte, als ich es herausholte. Ansonsten hätte ich es im Becken gelassen. Ich stand am Beckenrand, bewaffnet mit zwei Messern und einem Neutralisator, und überlegte, wie ich mit dem Kerl verfahren sollte. Gleich darauf stellte sich heraus, daß ich gar nichts zu unternehmen brauchte. Er trieb mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Das mußte natürlich jedem auffallen, doch fehlte mir die Zeit, den Mann herauszuholen und zu verstecken. Ich behielt ihn jedoch im Auge, für den Fall, daß er schauspielerte. Als ich mich der Tür zuwandte und den Blick kurz über die daliegenden Passagiere schweifen ließ, bemerkte ich, daß Taras Augen offen waren. Ich ging sofort zu ihr. »Was?« sagte sie, als ich mich neben sie kniete. Sie strich sich mit zitternder Hand Haarsträhnen von der Wange und blickte mich verwirrt an. Sie hatte den türkisblauen Morgenmantel an, den sie getragen hatte, als ich ihre Kabine durchsucht hatte. »Sagen Sie nichts«, meinte ich. »Hören Sie mir bloß zu. Und passen Sie auf. Es ist wichtig.« »Wo bin…?« Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, während sie sich umblickte. Die Zeit drängte. Ich faßte ihr unters Kinn und drehte ihren Kopf zu mir herum. »Hören Sie mir zu, und zwar gut. Das Schiff wurde überfallen. Man hat uns mit Gas betäubt und die Passagiere hierhergebracht. Ich versuche herauszufinden, wo die Besatzung steckt, um Hilfe zu holen. Nehmen Sie das und verstecken Sie es.« Ich gab ihr eins der Messer. Ihre Augen weiteten sich. Zunächst glaubte ich, sie überfordert zu haben, doch dann ergriff sie das Messer. Sie steckte es unter den Mantel und runzelte abermals die Stirn, als würde ihr jetzt erst klar, wie sie gekleidet war. Sie preßte die Lippen zusammen, als wollte sie damit sagen: Na schön, darum kann ich mich später kümmern. Ich bewunderte sie für ihre Gefaßtheit. »Ich werde mir jetzt den Notausgang von außen ansehen. Ich vermute, daß er verschlossen wurde.« Wade, der neben Tara lag, rieb sich die Augen. Ich fuhr rasch fort. »Sobald genügend Leute wach sind, müssen Sie sie von hier wegbringen. Von hier drinnen aus können wir uns nicht wehren. Lassen Sie den Kerl im Becken von ein, zwei Männern herausholen, für den Fall, daß jemand nachsehen kommt.« Tara nickte. Ich richtete mich auf und lief zurück ins Foyer. An der Tür zögerte ich kurz.
Wenn in der Zwischenzeit ein Schwarzgekleideter vorbeigekommen war, würde er Verdacht geschöpft haben, da die Tür ohne Bewachung war. Wahrscheinlich hätte er sie dann aber auch geöffnet, um nachzusehen. Da niemand nachschauen gekommen war, hielt sich im Moment wahrscheinlich auch niemand vor der Tür auf. Für alle Fälle verhielt ich mich so, als habe ich die falschen Schlüsse gezogen, öffnete die Tür, trat nach draußen und tat so, als spräche ich mit jemandem hinter mir. »Hm, ja. Richtig.« Ich nickte. Die Vorsichtsmaßnahme stellte sich als überflüssig heraus. Auf dem Gang war niemand. Offenbar hatten die Aufsammler ihre Arbeit beendet. Ich bewegte mich so rasch den Gang entlang, wie es mir möglich war, ohne in meiner Verkleidung Aufsehen zu erregen. Ich bog um die Ecke auf einen weiteren leeren Gang ein, der sich in die Ferne bog. Selbst wenn ich die Besatzung nicht finden würde, so mußte es in einer Gruppe von mehr als 200 Passagieren doch einige starke, tatkräftige Leute geben. Und jetzt hatten sie selbst dann eine Chance, wenn ich geschnappt wurde. Ich öffnete die Tür zu dem Gang, der zur Hintertür des Schwimmbads führte. Auf diesem leeren, türlosen Gang rannte ich. Als ich zum Notausgang gelangte, wurde mir klar, wie gut die Kidnapper vorbereitet waren. Die Tür zum Schwimmbad befand sich in der Seitenwand des Gangs, fast an dessen Ende. Zwischen der Tür, die sich auf den Gang hin öffnete, und der gegenüberliegenden Wand stand eine kastenförmige Konstruktion aus Eisenstäben. Wenn es sich um eine der üblichen Schiebetüren gehandelt hätte, wäre die Blockade wirkungslos gewesen, doch für Notausgänge wurden wenn möglich Schwingtüren verwendet. Die Kidnapper hatten offenbar gewußt, was sie erwartete. Als ich das Metallgebilde erreicht hatte, sah ich, daß es mit Flügelschrauben zusammengeschraubt war. Wahrscheinlich hatte man es in Einzelteilen hergeschafft, in Form eines Behälters voller Stangen. Ich machte mich daran, die Stangen voneinander zu lösen. Die Schrauben ließen sich nur schwer bewegen, als wäre jemand auf einen zwei Meter langen Schraubenschlüssel gesprungen, um sie anzuziehen, doch schließlich gelang es mir, einige der tragenden Elemente herauszulösen. Um nachzuschauen, wie viele Passagiere sich mittlerweile wieder erholt hatten, zog ich die Tür einen Spalt weit auf. Als mir klar wurde, was ich dahinter sah, versuchte ich, die Tür mit der Schulter wieder zuzudrücken, doch diesmal hatte ich zu langsam reagiert. Hinter der Tür stand ein Schwarzgekleideter, der soeben mit dem Stiefel ausholte, um die Tür zuzutreten. Sein Fuß trat gegen die Tür. Die Tür traf erst auf meine Schulter und dann auf meine Brust. Mein Kopf knallte gegen die Wand hinter mir. Ich verlor das Bewußtsein.
Der Kopf tat mir weh. Der Arm tat mir weh. Mein Hals fühlte sich an wie zugeschnürt. Als ich diesmal zu mir kam, lag ich jedenfalls nicht auf dem Boden. Ich saß in einem Sessel. Auf dem Gang hinter dem Schwimmbad hatte es jedoch keinen Sessel gegeben. Und auch keine Stimmen.
Ich öffnete die Augen. Ich befand mich auf der Brücke. Das wohl unbedeutendste Detail, das mir als erstes auffiel; ich trug nicht mehr die schwarze Montur über meiner Uniform. Der Neutralisator war ebenfalls verschwunden. Mein weißer Uniformärmel war teilweise schwarz von getrocknetem Blut, trotzdem schien ich nicht ernstlich verletzt zu sein. Ich fragte mich benommen, weshalb niemand meinen Arm versorgt hatte. »Dann wären Sie also wach«, sagte jemand. Ich sah auf und bemerkte, daß der Sprecher Daniel Haffalt war, mit dem ich vor ein paar Tagen zusammen zu Abend gespeist hatte. Er trug eine schwarze Montur. Aus meinem Blickwinkel wirkte er jetzt größer. An den Ringen unter seinen Augen merkte ich, daß er in dieser Nacht nicht mehr Schlaf abbekommen hatte als ich. Er sagte: »Ehe Sie an Widerstand denken, sollten Sie sich mal an den Hals fühlen.« Als ich seinen Ratschlag beherzigte, stellte ich fest, daß ich einen äußerst schweren Kragen trug. »Dieser Kragen«, erklärte Daniel, »enthält einen kleinen Empfänger und eine Spule aus monomolekularem Faden. Wenn Sie sich den Anweisungen widersetzen, schneidet der Faden bis auf Ihre Wirbelsäule durch. Haben Sie das verstanden?« »Allerdings. Pfft! Keine Kopfschmerzen mehr.« »Wie witzig. Mindestens zwei Personen verfügen über einen Sender. Sie haben Anweisung, sich an entgegengesetzten Enden des Raums aufzuhalten.« Allmählich wurde mein Kopf wieder klarer. Haffalt wollte mir damit sagen, daß selbst dann, wenn ich einen der beiden Männer mit Überlichtgeschwindigkeit angreifen sollte, der andere immer noch Zeit hatte, den Kragen zu aktivieren. »Ich verstehe.« Erst jetzt bemerkte ich, daß außer Daniel Haffalt und den beiden Bewachern auch noch andere Leute anwesend waren. In der Nähe stand Wade Midsel, ebenfalls mit einer schwarzen Montur bekleidet. Das war nun wirklich eine Überraschung. Hinter ihm saß Tara in einem Sessel und blickte ebenso belämmert drein, wie ich mich fühlte. Sie trug ebenfalls einen Kragen. Er paßte wirklich nicht gut zu ihrem Morgenmantel. Ihr Haar war ein wenig verwuschelt, da sie darauf geschlafen hatte, doch ich war froh, sie zu sehen. Sie nickte mir zu. Neben Tara saßen Bella und Razzi. Das Muster war kinderleicht zu durchschauen. Entweder man trug eine schwarze Montur oder einen Kragen. Bella und Razzi trugen Kragen und schauten grimmig drein. Bella war zudem noch in Uniform. Razzi war mit einem Jogginganzug bekleidet, der an Armen und Beinen mit grünen Streifen verziert war. Wade näherte sich Daniel. Daniels Kopf reichte Wade bis an die Schulter. Ich fragte mich, wer von beiden wohl der Boss war. »Sie haben uns eine Menge Ärger gemacht, Mr. Kraft«, sagte Daniel. »Der Mann, den Sie ins Schwimmbecken geworfen haben, ist ertrunken, und beinahe hätten Sie es geschafft, sämtliche Passagiere zu befreien. Ein Glück, daß Wade so schnell Hilfe holen konnte.« Wade trat von einem Bein aufs andere, als machte ihn das Lob verlegen. Ich an seiner Stelle hätte mich auch nicht gern loben lassen. Daniel hatte nicht erklärt, weshalb Wade bei den
übrigen Passagieren gewesen war. Vielleicht war das Absicht gewesen, bloß für den Fall, daß jemand in der Gruppe auf Ideen kam, mit denen man nicht gerechnet hatte. Ich stellte die Frage zunächst einmal zurück. Daniel fuhr fort: »Im Moment können wir jedoch auf niemanden verzichten. Ich möchte wissen, wo sich unsere restlichen Mitarbeiter aufhalten.« «Wie viele haben Sie denn?« »Ein reizender Versuch«, warf Wade ein und trat näher, »aber das brauchen Sie nicht zu wissen. Offenbar sollte man ihnen so wenig Informationen wie möglich geben.« Wades Stimme hatte sich leicht verändert, seit ich das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte. Sie wirkte natürlicher, aber auch aggressiver. So als hätte er zuvor seine unangenehmen Charakterzüge verborgen. Bis dahin hatte er den Eindruck eines besitzergreifenden Ehemanns gemacht. Jetzt lag in seinen Augen die Intensität eines Darstellers unter Adrenalin. Während wir redeten, blickte ich auf die Instrumentenanzeigen. Wir hatten unseren ursprünglichen Kurs verlassen. »Wo sind sie, Mr. Kraft?« wiederholte Wade. Sein Tonfall war immer noch ruhig, doch schien mir, er werde im nächsten Moment zu ruhigen Drohungen Zuflucht nehmen. »Also, zwei sind…« »Jason«, sagte Bella in scharfem Ton, »Sie dürfen diesen Männern nicht helfen.« »Schon gut. Zwei sind im Serviceraum gegenüber dem Gang, der zum Schwimmbad führt. Die anderen drei sind in verschiedenen Einzelkabinen untergebracht.« Ich nannte ihm die Zimmernummern. »Danke«, sagte Wade. »Sehen Sie, so schwer ist das doch gar nicht, oder?« Er gab jemandem, der hinter mir stand, Anweisung, die vermißten Schwarzgekleideten zu befreien. Während sich die Tür hinter der Person schloß, sagte Bella in erstauntem Ton: »Jason, das war ein Befehl.« Ich blickte sie an. »Sie sollten die Meinung, die Sie über mich haben, nicht voreilig revidieren, Bella. Diese Information wird ihnen nicht weiterhelfen.« Daniel näherte sich mir drohend. »Was wollen Sie damit sagen? Sind sie etwa nicht an dem angegebenen Ort?« »Aber ja. Ich will damit nur sagen, daß sie alle tot sind.« Aufgrund der unterschiedlichen Reaktionszeiten und der Übertragungsverzögerung erreichten mich die Reaktionen in abgestufter Reihenfolge. Daniel ballte die Fäuste und sagte: »Sie sind was? Die Hälfte unserer…« »Halten Sie den Mund, Daniel!« warf Wade rasch ein. Diesmal war ihm nicht nur unterschwellige Verärgerung anzumerken. Tara sog scharf die Luft ein, was in der kurzen Stille gerade so eben zu hören war.
Als ich zu Bella hinsah, nickte sie bedächtig. Razzi wirkte wie ein Passagier mit CKrankheit. Der Wachposten auf ihrer Seite des Raums biß lediglich die Zähne zusammen. Wade rückte ruhig einen Stuhl dichter zu mir heran, arretierte ihn am Boden und nahm darauf Platz. Er glättete sich sorgfältig die Hosennaht. »Wollen Sie damit sagen, Sie hätten sechs unserer Männer getötet, Mr. Kraft?« »War nicht persönlich gemeint, aber es stimmt. Das heißt, fünf Männer und eine Frau. Sonderlich zu wundern scheint Sie das allerdings nicht.« »Mich wundert eher die Anzahl, als ihr Schicksal«, sagte er. »Dann sind Sie also aus irgendeinem Grund früher zu sich gekommen als die anderen, haben gesehen, wie meine Leute im Schiff umherstreiften, und haben sie einfach getötet.« Ich starrte ihn einen Moment lang an. »Nennen wir die Dinge doch beim Namen. Ein Passagier und ein Besatzungsmitglied wurden in den vergangenen zwei Tagen ermordet. Ich muß davon ausgehen, daß entweder Sie oder einer Ihrer Leute dafür verantwortlich war. Normalerweise sehe ich jeden, der an Bord kommt. Daher müssen Sie die Männer im Innern eines Frachtbehälters an Bord geschmuggelt haben. Jenni Sonders hat sich wahrscheinlich umgeschaut und hatte das Pech, irgend etwas zu sehen, das sie sicher nicht sehen sollte vielleicht wie sich eine an Scharnieren befestigte Kistenwand bewegt hat. Daher durfte sie nicht weiterleben. Fenn Melgard, der auf Ebene Sechs Dienst tat, ist wahrscheinlich im falschen Moment dazugekommen, so daß man ihn ebenfalls zum Schweigen gebracht hat. Außerdem haben Sie unser aller Leben gefährdet, indem Sie erst das Schiff unter Gas gesetzt und dann unerlaubterweise den Kurs geändert haben. Diese Kragen sind nicht ganz ungefährlich, und ich nehme an, Sie werden sie gegebenenfalls auch einsetzen.« Ich redete mehr als notwendig. Vielleicht wollte ich mich meiner Schuldgefühle entledigen. Ich fuhr fort. »Und selbst wenn ich mir nicht sicher gewesen wäre, daß sich zwei Morde ereignet haben, so gibt es doch bestimmte Regeln für das Verhalten in einer Situation, da an Bord eines Schiffes illegale Handlungen vorgenommen werden. Eine dieser Regeln besagt, daß jeder Verdächtige bis zum Beweis des Gegenteils als schuldig gilt. Die Skipperin könnte mich wahrscheinlich vor ein Standgericht bringen, wenn ich diese Leute bloß gefesselt hätte, und sie wären anschließend wieder freigekommen und hätten weitere Besatzungsmitglieder oder Passagiere umgebracht.« »Sie wollen damit doch nicht etwa sagen, Sie hätten meine Kollegen deshalb getötet, weil Sie sich vor dem Standgericht fürchten, Mr. Kraft?« »Nein«, antwortete ich mit ruhiger Stimme. »Das meinte ich keineswegs.« »Nein«, wiederholte er. »Das scheint mir auch so.« Er sah zu Daniel auf und sagte: »Ich glaube, wir sollten sehr gut auf diesen Mann und auch auf die übrige Besatzung aufpassen, für den Fall, daß er deren typischer Vertreter ist.« Daniel erwiderte im gleichen ruhigen Ton: »Wie wär’s, wenn ich ihn mir mal für ein Stündchen vorknöpfen würde?« Wade schüttelte heftig den Kopf. »Wenn er die Wahrheit gesagt hat, und davon gehe ich aus, müssen wir unsere Pläne überdenken. Hibbard und Babcalut sind beide…«Er sah mich an und stockte, da er offenbar nicht mehr verraten wollte.
»Wohin fliegen wir?« fragte ich. »Wollen Sie das wirklich wissen?« fragte Wade. Er lächelte milde. »Ich weiß bloß, daß wir nicht mehr nach Leviathan fliegen.« Die Unterhaltung stockte, als die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. »Sie sind tot«, sagte eine weibliche, mir unbekannte Stimme. »Alle.« Offenbar gab sich die Frau keine Mühe, ihre Wut zu verbergen. Menschen, die bereit sind, um ihres persönlichen Vorteils willen gegen die geltenden Regeln zu verstoßen, reagieren häufig besonders erbost, wenn sich jemand an ihren eigenen Besitztümern vergreift oder ihnen sonstwie ins Gehege kommt. »Ja«, sagte Wade. »Das haben wir soeben erfahren. Schaffen Sie die Leichen in eine der Schleusen und gehen Sie wieder auf Posten.« Er blickte sich so lange über die Schulter um, daß ich den Eindruck bekam, seine Komplizin nehme die Dinge ziemlich persönlich. »Daran läßt sich jetzt nichts mehr ändern«, setzte Wade ruhig hinzu und lehnte sich zurück. Schließlich hörte ich, wie die Tür wieder geöffnet und dann geschlossen wurde. Sie würden die Leichen ziemlich heftig nach draußen schleudern müssen, wenn sie verhindern wollten, daß sie wieder auf die Schiffshülle zurückfielen, doch ich sagte nichts. Nach kurzem Nachdenken wurde mir jedoch klar, daß sie das bereits wissen mußten, denn Fenn Melgards Leichnam hatte nicht auf der Hülle gelegen. Ein Piepser von der Steuerkonsole veranlaßte Daniel Haffalt, sich zu einem der großen Bildschirme zu begeben. Dort beugte er sich zögernd über das Eingabefeld für die Kurskorrekturen. Eine Anzeige informierte darüber, daß der Ton auf ein eingehendes Funksignal aufmerksam machen sollte. Plötzlich hatte ich eine Eingebung. Ich wartete solange, bis Daniel sich wieder zu mir umgedreht hatte, senkte den Blick auf meine Füße und sagte: »Es heißt, Xanahalla sei sehr schön um diese Jahreszeit.« Ich zögerte solange, bis meine Worte bei ihnen angekommen waren, dann blickte ich wieder zu Daniel und Wade hin. Wade ließ keinerlei Reaktion erkennen, während Daniel augenblicklich die Augen zusammenkniff und herausplatzte: »Aber Sie haben doch gesagt…« Er brach unvermittelt ab, als habe Wade ihm das Wort abgeschnitten, doch damit hatte er es bereits zugegeben. Wade warf Daniel einen vernichtenden Blick zu, dann sah er wieder mich an. »Sie wissen anscheinend mehr, als Sie sich anmerken lassen. Woher kommt Ihr Durchblick eigentlich?« »Nichts als Vermutungen.« »Die worauf basieren?« Zunächst wollte ich nicht darauf antworten, doch je mehr ich in Erfahrung brachte und je mehr ich von meinem Wissen an Razzi und Bella weitergab, desto besser für uns alle. »Auf mehreren Dingen. Wenn Sie ein fahrplanmäßiges Ziel ansteuern wollten, wäre dieser ganze Aufwand unnötig. Somit wollen Sie an einen Ort Ihrer Wahl. Der Verantwortliche für diese Aktion ist mit einer der wenigen Personen verheiratet, die den Weg nach Xanahalla kennen, ein sehr geheimer Ort. Ein geheimer Ort mit enormen Reichtümern, wenn man dieser Person glauben darf.
Den Anzeigen nach zu schließen, folgen Sie jemandem, der über einen ziemlich raffinierten Sender für Schicht fünfzehn verfügt, der periodisch Positionsmeldungen ausstrahlt. Der einzige Passagier auf der Brücke ist eine Frau, von der man annehmen muß, daß sie Ihnen nicht viel bedeutet, und deren wahrer Wert folglich darin bestehen muß, daß sie den Weg nach Xanahalla kennt. Gibt es eine bessere Methode, eine arglose Kolonie auszurauben, als mit einer kleinen Gruppe plötzlich aus Schicht Zehn zu erscheinen, sich die Beute zu schnappen und dann gleich wieder zu verschwinden?« Tara schwieg eine Weile, dann sagte sie in gepreßtem Ton: »Sag mir, daß das nicht wahr ist, Wade.« Ihre Stimme klang verbittert und wütend, und sie war kreidebleich im Gesicht. Ihre Reaktion schien anzudeuten, daß sie aufgebrachter über das Ziel war als über die Unternehmung an sich. Wade Midsel seufzte. »Es hat wohl keinen Sinn, es zu leugnen, Liebes. Der Mann hat weitgehend recht.« »Aber wie?« fragte sie, womit sie offenbar meinte, wie er auf den Plan verfallen, und nicht, wie ich dahintergekommen sei. Bevor er antwortete, sah er auf die Uhr. »Durch Marj Lendelson. Ich weiß nicht, ob du das Vergnügen hattest, sie kennenzulernen, jedenfalls habe ich ihr eins deiner Anwerbeformulare gegeben. Während unseres Zwischenstops auf Tangente hat sie offenbar Kontakt mit Xanahalla aufgenommen, denn sie kam nicht mehr an Bord, und ein paar Stunden später begann sie Signale zu senden. Sie ist eine sehr überzeugende Schauspielerin.« »Wohl kaum besser als du«, sagte Tara. Ich konnte nicht erkennen, wie es um ihre Selbstbeherrschung bestellt war. Ihre Stimme klang so, als würde sie jeden Moment brechen, doch ihre Augen waren weit geöffnet und strahlten eine Vitalität aus, wie ich sie noch bei wenigen Leuten gesehen habe. Wade mochte zwar in der Lage sein, alle notwendigen Mittel einzusetzen, um sein Ziel zu erreichen, doch im Moment schien es mir ungefährlicher, mich mit ihm anzulegen als mit Tara. Jemand mit einer schwächeren Persönlichkeit hätte ihn beschimpft oder angespuckt. Ich bewunderte Taras Stärke. »Du siehst immer nur das Positive, Tara. Um deine Freunde auf Xanahalla brauchst du dir keine Sorgen zu machen; wir werden ihnen nichts tun. Du solltest froh sein, daß du mich jetzt los bist. Während der nächsten paar Tage wirst du unter gewissen Unannehmlichkeiten zu leiden haben, doch dann bin ich weg, und du kannst dein Leben weiterführen.« Ich glaubte ihm nicht. Wenn ich vorhätte, einer Gruppe religiöser Fanatiker gewaltige Reichtümer zu stehlen, dann würde ich keine Zeugen am Leben lassen, die mich später identifizieren könnten. Einige Bewohner von Xanahalla würden auch dann noch die Piraten jagen, wenn die Behörden die Suche längst aufgegeben hatten. Und selbst wenn ich ihm geglaubt hätte, so durfte ich mich doch nicht darauf verlassen, daß alles glatt ging oder daß keiner seiner Untergebenen einen größeren Anteil in seine Gewalt zu bringen versuchte, als ihm zustand. Es mußte einen Ausweg geben. »Genug geplaudert«, sagte Wade. »Mr. Kraft hat einige Änderungen in unserem Plan notwendig gemacht.« Er blickte mich an. »Es heißt, Sie und Ms. Luxon wären die besten Navigatoren an Bord. Da Sie einige meiner fähigen Leute ausgeschaltet haben, mußte ich nun auf Ihre Dienste zurückgreifen.« »Das werden sie niemals tun«, sagte Bella.
»O doch, das werden sie. Ich werde nämlich zu jedem Schritt zwei Meinungen einholen. Stimmen diese Meinungen nicht überein, werfe ich eine Münze und töte einen von beiden. Dann nehme ich Ihren nächstbesten Navigator und fange wieder von vorn an. Weigert sich einer von beiden, mir zu antworten, lasse ich alle zehn Minuten ein Besatzungsmitglied töten. Haben Sie das alle verstanden?« Ich schwieg. Es gab nichts zu sagen. »Noch etwas. Keinerlei Austausch zwischen Mr. Kraft und Ms. Luxon. Oder vielleicht sollte ich lieber Jason und Razzi sagen. Sie heißen doch Razzi, oder? Gut. Es liegt eine Menge Arbeit vor uns, daher sollten wir uns nicht mit Förmlichkeiten aufhalten. Also keinerlei Austausch. Sie werden sich in getrennten Räumen aufhalten, und wenn Sie auf der Brücke sind, werde ich Sie genau im Auge behalten. Sollten Sie irgendeine Botschaft austauschen, muß ich davon ausgehen, daß Sie eine geheime Absprache treffen. Und dann muß ich die Münze werfen. Kopf, und Sie sterben, Jason. Andernfalls sterben Sie, Razzi.« Wade hatte die Regeln in völlig ungerührtem Ton vorgebracht. Die Tatsache, daß diese Regeln für Besatzungsmitglieder und Passagiere über Leben und Tod entschieden, vermochte ihn nicht aus der Ruhe zu bringen. Ich hätte lieber mit jemandem zu tun gehabt, der seinen Forderungen mit geballter Faust Nachdruck verlieh und noch neu in diesem Gewerbe war, in dem es um Leben und Tod ging. Offenbar war Wade ein guter Schauspieler, doch zweifelte ich keinen Moment daran, daß er seinen Ankündigungen auch Taten folgen lassen würde. Ich hatte soeben miterlebt, wie wenig Mühe es ihn kostete, eine seiner Komplizinnen dazu zu bringen, sich damit abzufinden, daß sechs ihrer Kameraden von jemandem getötet worden waren, der sich noch zur Verantwortung ziehen ließ. Offenbar verfügte er über große Autorität. In ebenso ruhigem und sachlichem Ton wie Wade sagte Bella: »Mister, Sie sollten besser beten, daß Ihnen auch nicht der kleinste Fehler unterläuft. Eine zweite Chance bekommen Sie nämlich nicht.« Damit drückte sie genau das aus, was ich dachte. »Das Beten überlasse ich Tara. Darin ist sie gut. Aber machen Sie sich bloß keine falschen Hoffnungen. Tun Sie einfach, was man Ihnen sagt, dann geschieht Ihnen nichts, und Sie kommen bald wieder frei. Ein kleiner Fehler, und einigen von Ihnen ergeht es übel.« Bella sagte nichts, sondern warf mir einen durchdringenden Blick zu, der bedeutete: Jede Wette, Jason. Uns wird schon etwas einfallen, wie wir den Dreckskerl drankriegen. Die Tür zur Brücke öffnete sich, und ein weiterer Schwarzgekleideter trat ein. Als ich mich umsah, bemerkte ich, daß auf dem Gang ein Wachposten stand. »Alles fertig«, sagte der Neuankömmling. Es handelte sich um einen hochgewachsenen, muskulösen Mann mit angegrauten Koteletten. »Gut. Eskortieren Sie die beiden in das Büro nebenan.« Wade deutete auf Bella und Razzi. »Sie haben die Kragennummern fünf und zwei. Betätigen Sie bei der kleinsten Provokation den Auslöser. Meine Damen?« Der Mann stellte etwas an einem kleinen schwarzen Schaltkästchen ein, das er am Handgelenk trug. Bella und Razzi erhoben sich langsam, um niemanden nervös zu machen, und folgten dem Mann hinaus auf den Gang.
Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, drehte Wade sich zu mir um. »Wird allmählich Zeit, daß Sie sich Ihren Unterhalt verdienen.« Ich trat mit ihm ans Armaturenbrett. Hätte ich mich geweigert, hätte dies lediglich zu neuen Drohungen gegenüber Besatzung und Passagieren geführt,, und wenn ich mich jetzt kooperativ zeigte, verschaffte mir das möglicherweise eine Atempause für den Fall, daß es darauf ankam. Wade sagte: »Der Sender, den Marj bei sich trägt, ist ziemlich exotisch. Er erzeugt keine Signale im Normalraum. Statt dessen verlagert er einen Teil seiner Schaltungen in regelmäßigen Zeitabständen nach Schicht Fünfzehn, wo dann ein äußerst kurzes Signal ausgestrahlt wird. Für jeden anderen, der die normalen Übertragungen in Schicht Fünfzehn verfolgt, sollten diese Impulse im Hintergrundrauschen untergehen.« »Woher wissen Sie, daß Lendelson den Sender noch bei sich hat?« »Mit Sicherheit kann ich das nicht sagen, aber die Wahrscheinlichkeit spricht dafür. Als Tara nach Xanahalla ging, hatte sie für die ganze Dauer der Reise eine kleine Tasche dabei. Man bekomme neue Kleider und was man sonst noch so braucht, außerdem eine komplette Bibliothek. Kleine Erinnerungsstücke sind jedenfalls erlaubt. Marj hat einen Bildwürfel dabei - der ihr sehr viel bedeutet.« Wade grinste mich verschwörerisch an, als stünden wir auf einer Seite, obwohl ich die schwarze Montur längst nicht mehr trug. Während wir redeten, schaute ich verstohlen auf das Steuergerät an seinem linken Handgelenk. Es gab darauf sechs vertieft angebrachte Schalter, wahrscheinlich einen für jeden Kragen, sowie einen größeren Hauptschalter, der ebenfalls vertieft angebracht war. Ich hatte den Eindruck, daß der Betreffende auf der Stelle sterben würde, sollte Wade mit dem Schalter versehentlich gegen etwas stoßen, das schmal genug war, um in eine der Vertiefungen zu passen. Das Gerät selbst wirkte zu klein, um über ein eigenes Schutzfeld zu verfügen, daher nutzte es wohl das Feld, das von Wades Lifebelt erzeugt wurde. »Das ist das letzte Signal, das wir aufgefangen haben«, sagte Wade. Es bereitete ihm keine Mühe, die entsprechenden Daten auf dem Monitor anzeigen zu lassen. Ich setzte mich und berechnete unsere derzeitige Position. Seit das Signal eingetroffen war, waren wir eine halbe Stunde geflogen. Normalerweise hätte ich aufgrund der Verzögerung sowohl die Entfernung als auch die relative Richtung kennen müssen, doch wir hatten bereits den ungefähren Kurs und flogen langsam, da Wade wußte, daß ein Schiff in der Nullschicht leicht zu verfolgen war. »Soll ich eine Kurskorrektur vornehmen?« fragte ich. »Nein. Beschreiben Sie mir bloß, wie Sie uns auf Kurs halten würden. Und geben Sie sich Mühe.« Ich verstand, was er meinte. Er würde anschließend Razzi holen und sie die Kurskorrektur vornehmen lassen. Und wenn meine Antwort zu sehr von ihren Eingaben abwich, würde es Ärger geben. »Unter der Voraussetzung, daß Sie die zweite Meinung binnen einer Viertelstunde einholen, sollten Sie folgendermaßen vorgehen.« Ich beschrieb ihm die Befehle, wobei ich darauf achtete, Fehlertoleranzen einzubauen, damit niemand sinnlos sterben mußte, falls Razzis Antwort in der zweiten Dezimalstelle von der meinen abwich. Wir entfernten uns jetzt in einem Winkel von fast sechzig Grad von dem Kurs, der uns zum
nächsten planmäßigen Zwischenstopp auf Leviathan geführt hätte. Vor uns lag das nahezu massive Weiß eines dichten Sternenfelds. Ich näherte meine Hand unauffällig einer dunklen Taste mit Kreuzschraffur. Wades beiläufiger Ton wurde noch eine Spur beiläufiger. »Wozu dient diese Taste?« Beinahe hätte ich ihm gesagt, damit würde die automatische Kollisionswarnung eingeschaltet oder irgend etwas in der Art, doch dann bemerkte ich sein breites Grinsen. »Damit schaltet man den Notruf ein«, sagte ich. »So ist es«, meinte er, denn er kannte sich offenbar aus. »Streng verboten, Jason. Fassen Sie irgend etwas Verbotenes an, und Sie bekommen die Bestrafung, über die wir bereits gesprochen haben.« Wollte man es nun als Freudsche Fehlleistung, als unbewußte Einsicht oder Präkognition bezeichnen, aber bisweilen kommt es vor, daß wir Dinge sagen oder irgend etwas tun, das in einer Weise erhellend ist, die uns erst später vollständig klar wird. Auf Wades Bemerkung hin gemünzt, sagte ich: »Das ist der Fluch meines Lebens. Ich darf hingucken, aber nicht hinlangen.« Währenddessen blickte ich unwillkürlich Tara an.
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Kapitel 7
Gefangene der Redshift »Wissen Sie, die Redshift kann nicht einfach so verschwinden, ohne Aufsehen zu erregen«, sagte ich zu Wade Midsel. Die Hand, die ich unauffällig zum Notrufschalter ausgestreckt hatte, steckte nun in der Tasche, damit ich nicht wieder in Versuchung kam, irgend etwas zu tun, das Wades Mißfallen erregt hätte. »Die Netzwerkaufsicht hat offenbar bereits gemerkt, daß etwas nicht stimmt. Der blinkende Kasten in der oberen rechten Ecke des Bildschirms bedeutet, daß Nachrichten für uns vorliegen.« Er lächelte breit und sorglos. »Ich weiß. Und ich weiß ebenfalls, wie lange es dauern würde, ein anderes Schiff hierherzuschicken, und wie lange dieses Schiff brauchte, um uns aufzuspüren. Ehe die ein Radarsignal von uns auffangen, haben wir bereits sicher angedockt.« Anscheinend fühlte er sich euphorisch, nachdem er mich beim Versuch ertappt hatte, seine Pläne zu vereiteln. Vielleicht glaubte er, jeder Plan werde durch irgendein unvorhergesehenes Ereignis gefährdet, und er habe die Hindernisse damit bereits aus dem Weg geräumt. Ich mußte zugegeben, daß ich im Moment keine weiteren Schwachpunkte in seiner Planung erkennen konnte. Und daß gerade in dem Moment, als das Schiff unter Gas gesetzt wurde, jemand die Schiffshülle untersuchte, hatte man wirklich nicht vorhersehen können. Und selbst dieses Mißgeschick war lediglich die Folge eines früheren Fehlers gewesen, der dazu geführt hatte, daß Jenni Sonders irgend etwas aufgefallen war. Soviel ich wußte, rührten Wades sämtliche Probleme von dieser einen Abweichung vom Plan her: von einer Passagierin, die gern Frachträume erkundete. Und jetzt schien alles glatt zu laufen für die Schwarzgekleideten. Es deprimierte mich, daß sie anscheinend alles unter Kontrolle hatten, hatte aber noch Hoffnung, daß es zu dem einen oder anderen Fehler kommen würde. Tara raffte den Morgenmantel fester zusammen. Ihr Ärger schien teilweise verflogen, dafür wirkte sie benommen. Schließlich mußte sie mit mehr Dingen fertigwerden als ich. Wade war Taras Zustand offenbar gleichgültig. Er wandte sich an Daniel und sagte: »Wir sollten allmählich die zweite Meinung zur Kurskorrektur einholen, bevor sich die Koordinaten allzusehr ändern. Wir möchten doch nicht, daß Jason oder Razzi bloß deshalb etwas zustößt, weil wir so langsam sind. Holen Sie die beiden.« Daniel war anzusehen, daß es ihm nicht das geringste ausgemacht hätte, wäre mir etwas zugestoßen, ob es sich nun vermeiden ließ oder nicht, doch er gab den Befehl an einen der Wachposten weiter. Daniel ging Tara und mir voran, und der Posten folgte uns in einem Sicherheitsabstand. Ich hatte gehofft, ich könnte die Positionsangaben einfach mit Bella und Razzi austauschen und ihnen dabei eine Nachricht übermitteln, doch diese Möglichkeit schlössen sie aus. Und indem Tara bei mir blieb, verhinderten sie auch, daß sie eventuell Botschaften übermittelte. Wir passierten die nächste Tür hinter der Brücke, eine Tür, die in einen kleinen Raum führte, der normalerweise, in weniger aufregenden Zeiten, bei Überstunden für ein kurzes Nickerchen genutzt wurde. Dort, wo die Tür in der Wand verschwand, hatte man ein Loch hineingeschnitten oder gebrannt. In dem Loch steckte ein massiver Keil, der verhindern sollte, daß die Tür von innen geöffnet wurde. Dort hatte man offenbar Razzi und Bella eingesperrt.
Tara und ich wurden zu einer anderen Tür auf dem Gang eskortiert, die man auf die gleiche Weise präpariert hatte. »Nach Ihnen«, sagte Daniel und ließ Tara und mir höflich den Vortritt. Ich folgte Tara, und als ich mich gerade umdrehen wollte, versetzte Daniel mir einen kräftigen Tritt in den Hintern. Sein Fuß traf den Lifebelt, doch der war zu dünn, als daß er den Tritt merklich abgedämpft hätte. Noch während ich quer durch den Raum stolperte und gegen einen Tisch stieß, hörte ich, wie die Tür wieder zuglitt. Ich prallte auf den Boden, ehe das Gelächter vollständig erstorben war. »Alles in Ordnung?« fragte Tara. Sie reichte mir die Hand und half mir auf. Die Besorgnis in ihrer Stimme und das Prickeln, das ich verspürte, als ich ihre Hand berührte, wogen den Schmerz mehr als auf. Ich wollte immer noch nicht ausschließen, daß Tara in Wirklichkeit für Wade arbeitete, doch brachte ich es irgendwie nicht über mich, daran zu glauben. »Geht schon. Danke.« Ich sah mich rasch um, war mir jedoch bereits sicher, daß es keinen Fluchtweg gab, kein Terminal, keinen Notausgang. Ich hatte recht. Wir befanden uns in einem weiteren Pausenraum für verlängerte Schichten, mit sechs Schlafkojen, die in die Wände eingelassen waren, vier Stühlen, einem Tisch, einer Toilette und einem bescheidenen Eßvorrat. Als ich meine kurze Musterung beendet hatte, bemerkte ich, daß Tara mich verwundert anschaute. »Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie. »Er hat sie eben getreten, und zwar richtig fest, wie es scheint, und Sie zeigen überhaupt keinen Ärger. Weshalb tragen Sie eine solch undurchsichtige Maske?« Ich erwiderte ihren Blick, voller Bedauern darüber, daß sie ebenfalls zu Wades Opfern gehörte. »Ich wirke nicht verärgert, weil ich nicht verärgert bin. Jedenfalls nicht deswegen. Ich habe schon Schlimmeres erlebt. Außerdem ist es für uns von Vorteil, daß Daniel mit von der Partie ist. Wenn sie alle wären wie Ihr… wie Wade, alle beherrscht, ruhig, professionell, dann stünden unsere Chancen, sie aufzuhalten, schlecht. So aber gibt es einen Schwachpunkt bei ihnen. Und das sehe ich positiv.« »Sie aufhalten? Wie sollen wir das anstellen?« Taras blaue Augen waren vor Unglauben geweitet. »Ich kann das alles einfach nicht glauben. Das geht mir viel zu schnell. Und Sie haben in den vergangenen Stunden wirklich sechs Menschen umgebracht? Macht Ihnen das nicht zu schaffen?« »Die ganze Situation macht mir zu schaffen. Setzen Sie sich erst mal und entspannen Sie sich.« Ich wartete, bis sie Platz genommen hatte, dann setzte ich mich ihr gegenüber. »Ich habe nicht vor, mich mit Gewissensbissen aufzuhalten. Ich glaube, daß jeder, der unschuldige Menschen in Lebensgefahr bringt oder sie sogar tötet, sein Recht auf Leben verwirkt hat. Mit dieser Überzeugung ist es leichter oder weniger schmerzhaft. Ich werde nicht versuchen, Sie davon zu überzeugen, daß das richtig ist, und Sie werden mich nicht vom Gegenteil überzeugen. Thema beendet. Ich weiß, daß es für Sie schwerer ist. Wenn Sie also eine Weile brauchen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, oder wenn Sie vielleicht auf die Toilette gehen möchten, nur zu. Und dann möchte ich, daß Sie mir alles über Xanahalla erzählen. Und über Wade.« »Sie scherzen.«
»Sie haben zwei Minuten Zeit.« Tara sah mich an und atmete tief durch. Wortlos stand sie auf, ging ins Bad und schloß hinter sich die Tür. Als sie wiederkam, nahm sie ruhig Platz und sagte: »Erklären Sie mir, weshalb Sie das alles wissen wollen und weshalb es jetzt sein muß. Bis dorthin brauchen wir bestimmt noch ein paar Tage.« »Ich möchte alles wissen, was Aufschluß darüber geben könnte, wie man dieser Bande Einhalt gebieten kann. Wissen ist Macht - den Spruch haben Sie bestimmt schon tausendmal gehört. Wir brauchen alle soviel Macht, wie wir bekommen können. Und ich brauche sie jetzt, weil wir womöglich in fünf Minuten wieder getrennt werden und ich keine zweite Gelegenheit mehr bekommen werde. Sie sind der einzige Mensch auf unserer Seite, der Wade und Xanahalla kennt.« »Es tut mir leid.« Tara sah auf ihren Schoß hinunter. Ich bemerkte, daß sie barfuß war. »Das ist alles meine Schuld. Wenn ich nicht auf Xanahalla gewesen wäre, wenn ich Wade nicht davon erzählt hätte…« »Hören Sie auf.« »… wenn ich nicht…« »Hören Sie auf! Es ist eher meine Schuld als Ihre. Mir tut es ebenfalls leid, daß es passiert ist. Aber es handelt sich um eine Tatsache, und wir sind nicht verantwortlich dafür. Der einzige Vorwurf, den wir uns machen können, ist der Vorwurf der Untätigkeit, wenn wir bloß tatenlos zuschauen. Und jetzt erzählen Sie mir von Xanahalla.« »Nein. Es ist hoffnungslos. Wir werden ihn niemals aufhalten.« Ich hob die Stimme. »Sagen Sie nicht >nein<. Das Wörtchen >nein< will ich nie wieder von Ihnen hören. Das habe ich schon oft genug gehört. Wir werden irgend etwas unternehmen. Ich weiß noch nicht was, aber sagen Sie nicht >nein<. Ist das klar?« Tara starrte mich an. Es hätte mich nicht gewundert, hätte sie abermals >nein< gesagt, doch sie überraschte mich. »Wenn Sie mir anschließend von sich erzählen, dann sage ich Ihnen alles, was Sie wissen wollen.« »Wieso wollen Sie - wir verschwenden bloß unsere Zeit.« »Versprechen Sie’s.« In ihren klaren, blauen Augen lag keinerlei Arg, bloß eine Sturheit, die mir sehr vertraut war. »Was immer Sie wollen, wenn Sie bloß reden. Wohin bringt man die Neuankömmlinge?« Ich war mir sicher, sie notfalls so lange bequatschen zu können, bis es ihr langweilig wurde, so daß ich nicht über Redwall sprechen müßte. Tara holte tief Luft, als wollte sie lange an einem Stück reden. »Xanahalla verfügt über eine kleine Orbitalstation, wie jeder Planet abseits des Hyperraumnetzes. Aber ich sollte der Reihe nach berichten. Man trat bei einem Zwischenhalt an mich heran und brachte mich zu einem Dock, wo ich an Bord eines kleinen Hyperraumfahrzeugs ging - ein Modell mit Schwerelosigkeit an Bord, das nur wenigen Personen Platz bot. Wir waren etwa acht Stunden unterwegs. Anschließend stiegen wir auf ein größeres, konventionelles Schiff um.
Das größere Schiff brachte uns zur Orbitalstation von Xanahalla. Der Planet hat eine kurze Rotationsdauer - für eine Umdrehung benötigt er lediglich acht Stunden -, und wir flogen tief. So tief, daß der Turm der Verehrung vom Orbit aus zu sehen war. Er befindet sich ungefähr im Zentrum eines kreisförmigen, tiefgrünen Gebiets, das etwa fünf bis zehn Prozent der Planetenoberfläche umfaßt. Soviel ich weiß, ist der Rest der Oberfläche unbewohnt. Von da aus flogen wir in einem Atmosphärenshuttle mit zwanzig Sitzen zu einem Raumhafen auf der Oberfläche hinunter. Auf der Orbitalstation mußten wir uns umziehen. Sie verlangen, daß jeder ein Gewand trägt, keine normale Straßenkleidung. Aber ich komme schon wieder durcheinander.« »Das macht nichts«, sagte ich. »Erzählen Sie mir einfach, was Ihnen einfällt.« »Auf der Station ist mir etwas aufgefallen. Es war auch gar nicht zu übersehen. Man bat uns, keinem Außenstehenden davon zu erzählen, aber ich nehme an, jetzt kann es nicht mehr schaden. Xanahalla ist ein Ringplanet.« »Wie passend.« »Verzeihung?« »Nichts. Ein Ring scheint mir bloß ausgesprochen geeignet, den Menschen den Eindruck zu vermitteln, dieser Planet beherberge zu Recht eine bedeutende religiöse Institution.« »Bei Ihnen klingt das eher nach einer Geschäftsstrategie als nach einer simplen Tatsache.« »Das ist unwichtig. Was ist mit den Menschen, die dorthin gehen? Gehören sie alle derselben Religion an?« »Nein. Xanahalla steht allen Religionen offen. Die einzige Einschränkung besteht darin, daß nur zugelassen wird, wer an die Dritte Heraufkunft glaubt.« ‘ Ich machte wohl ein skeptisches Gesicht, denn sie sagte: »Was ist schon dabei? Ich werde Ihnen alles sagen, was Sie über Xanahalla wissen wollen, aber deshalb brauchen Sie nicht darüber zu urteilen, bloß weil die Menschen dort etwas anderes glauben als Sie. Woran glauben Sie eigentlich?« Ich stand auf und überprüfte die Tür, bloß auf die unwahrscheinliche Möglichkeit hin, daß sie nicht verschlossen war. Die Tür rührte sich nicht von der Stelle. »Woran ich glaube? Ich glaube, daß wir manchmal glauben, was andere uns weismachen wollen. Manchmal glauben wir, was wir glauben wollen. Und hin und wieder erhaschen wir einen Zipfel von der Wahrheit.« »Und Sie glauben an sich selbst.« Beinahe hätte sie mich damit zum Widerspruch herausgefordert. »Ja, das kann schon sein. Aber zurück zum Thema. Wie ging es weiter?« Tara zögerte, als hätte sie lieber über andere Dinge gesprochen oder Schlaf nachgeholt, doch dann fuhr sie fort. »Also gut. Wir landeten auf einem kleinen Raumhafen auf Xanahalla. Wissen Sie übrigens, woher der Name stammt?« »Nein.«
»Er ist zusammengesetzt aus >Xanadu< und >Walhalla<.« »Oh«, machte ich, nicht schlauer als zuvor. Ich hatte wohl wieder die undurchdringliche Maske zur Schau gestellt, auf die Tara zuvor angespielt hatte, oder aber sie wußte die kleinen Hinweise mittlerweile besser zu deuten, denn sie sagte: »Manchmal machen Sie den Eindruck, recht belesen zu sein, aber wenn Sie die beiden Begriffe nicht kennen, haben Sie ein paar Bildungslücken. Xanadu stammt aus einer alten Dichtung; es ist ein idyllischer, wunderschöner Ort. Walhalla ist älter; das ist ein mythischer Ort, die Heimstatt verdienter Krieger nach ihrer letzten Schlacht.« »Heißt das, Xanahalla sei ein wunderschöner Zufluchtsort für all diejenigen, welche den Kampf gegen die Sünde gewonnen haben? Daß sie den Kampf hinter sich haben und sich fortan jemand anders darum kümmern soll?« Als Tara meinen ersten Satz hörte, nickte sie, dann aber schüttelte sie heftig den Kopf. »Vielleicht sollten wir wieder aufs Thema zurückkommen.« Und eine Andeutung des früheren schelmischen Lächelns stahl sich in ihre Züge. Ich fuhr fort: »Ich muß sagen, Sie halten sich erstaunlich gut für eine Frau, die soeben von ihrem Ehemann verraten wurde.« Ich hätte hinzusetzen können: >und deren Lebenserwartung vielleicht nur noch eine Woche beträgt<, doch hätte es niemandem genützt, wenn sie sich Sorgen darüber gemacht hätte, was Wade mit der Redshift vorhaben mochte. »Da haben Sie wohl recht.« Sie schaute nachdenklich drein. Diese Stimmung hielt aber nur einen Moment vor, dann schüttelte sie leicht den Kopf. »Um die Wahrheit zu sagen, stand es nicht sonderlich gut zwischen uns.« »Aber Sie haben sich weiterhin bemüht, weil Sie nicht schuld am Scheitern Ihrer Beziehung sein wollten?« Ich dachte daran, wie glücklich sie mit Wade gewirkt hatte, wie sie ihn selbst dann verteidigt hatte, als er im Irrtum war, und ich fand, Wade müsse in mancherlei Hinsicht unglaublich dumm sein. »Vielleicht. Am meisten bedaure ich, daß Jenni wegen alldem sterben mußte.« »Dann lassen Sie uns dafür sorgen, daß ihr Tod nicht umsonst war. Erzählen Sie mir vom Raumhafen. Welche Schiffe haben Sie dort gesehen?« »Bloß drei konventionelle Schiffe, keines größer als das, mit dem ich gelandet war. Der Raumhafen liegt am Rand des kreisförmigen grünen Gebiets rund um den Turm der Verehrung.« »Es gibt also kein Hyperraumdock im Orbit?« »Jedenfalls habe ich keins gesehen. Jemand meinte mal, der Übergang vom Normal- zum Hyperraum bewirke eine Störung des Raum-Zeit-Gefüges, die sich anpeilen läßt. Ich nehme an, sie verwenden im Umkreis von Xanahalla ausschließlich konventionelle Schiffe, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.« Ich nickte. »Dann handelt es sich also nicht bloß um das kleine Versteck von irgendwelchen naiven Priestern; die Sache ist gründlich durchdacht.« »An alles werden sie wohl nicht gedacht haben. Kann Wade das Schiff wirklich so steuern,
daß es sich mit dem gewünschten Ort überlagert, mal eben rausspringen, sich die Beute schnappen und wieder verschwinden?« »Der Vorgang ist komplizierter und gefährlicher, als es klingt, aber im Prinzip geht es. Normalerweise findet der Übertritt in den Normalraum ausschließlich während des Andockens statt, und das Schiff ist dafür ausgerüstet, mit dem Dock Schritt zu halten. Im freien Raum kann man unbesorgt hin und her wechseln. Befindet sich jedoch Normalraummasse in der Nähe, kann man leicht in einem festen Körper landen. Das kann äußerst schmerzhaft sein.« »Ich nehme an, Sie scherzen.« »Ja. In Wirklichkeit ist es tödlich. Beim Übergang werden leichte Stoffe, wie zum Beispiel Luft, vom Reisenden verdrängt, doch bei Flüssigkeiten und festen Stoffen funktioniert das nicht. Die Körperatome zwängen sich in die Matrix der im Weg befindlichen Atome. Wenn dieser Vorgang abgeschlossen ist, sind Sie nicht nur tot, der Vorgang läßt sich auch nicht wieder umkehren. Auch die Sensoren, die zwischen Hyper- und Normalraum hin und her scannen, können auf diese Weise zerstört werden, daher sollte man das Schiff nur mit äußerster Vorsicht bewegen.« »Aber wie steht es mit anderen Orten - zum Beispiel Banken oder Museen? Wie schützen die sich?« »Mit Störsendern. Wir reden nicht gern darüber, um zu verhindern, daß sich die Leute allzu viele Gedanken über andere Verwendungen von Hyperraumschiffen machen. Der Störsender erzeugt ein Feld, das die Moleküle der Körper, die zwischen Normal- und Hyperraum hin und her wandern, durcheinanderbringt. Ich nehme an, Wade geht davon aus, daß Ihre Freunde nicht über derlei komplizierte Geräte verfügen, oder er beabsichtigt, in der Nähe eine schwer bewaffnete Einsatzgruppe auszusetzen, die sich gewaltsam den Weg freimacht.« Tara beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie. »Aber dort trägt niemand Waffen. Man würde sie einfach niedermähen.« »Das ist ein Grund mehr, weshalb wir sie aufhalten müssen. Aber fahren Sie mit Ihrer Schilderung fort. Wohin bringt man die Neulinge nach der Ankunft am Raumhafen?« »Vom Raumhafen gehen strahlenförmig mehrere Tunnel aus. Einer führt unmittelbar zum Turm der Verehrung. Die anderen führen zu den Wohngebieten. Ein Netzwerk unterirdischer Gänge verbindet nahezu sämtliche Gebäude, daher können die Leute sich auch bei schlechtem Wetter umherbewegen. Wann immer es geht, benutzen die meisten jedoch die oberirdischen Wege. Die Ringe sehen folgendermaßen aus…« Als die Tür aufging, brach Tara mitten im Satz ab. Wer immer uns besuchen kam, hatte ihre letzten Worte mitbekommen, doch das ließ sich nicht ändern. In der Tür stand Daniel, flankiert von zwei seiner Kumpanen, einem Mann und einer Frau. Die beiden waren soviel größer als Daniel, daß man sich unwillkürlich wünschte, Daniel stünde ein ganzes Stück vor ihnen, damit die Perspektive wieder stimmte. Er lächelte und sagte ein einziges Wort. Sein Lächeln ging mir allmählich auf die Nerven. Gleichwohl überraschte mich das Wort, denn er sagte: «Essenszeit.« »Und da sage noch einer, der Zimmerservice sei unfreundlich«, erwiderte ich. »Aber ich sehe ja gar keine Teller. Was haben Sie bestellt, Tara?«
»Wir bringen nichts«, warf Daniel ein. »Sie werden kochen.« Na großartig! Ich haßte Kochen.
Für zwei- bis dreihundert Menschen das Essen zuzubereiten, war nicht unbedingt das, was ich mir unter Kochen vorstellte. In diesem Fall wäre die Bezeichnung >Pumpen und Gießen< zutreffender gewesen. Auf den Arbeitsflächen standen die Speisen, die gerade in Zubereitung gewesen waren, als das Gas die Küche erreicht hatte. Alle möglichen Behälter standen offen, deren Eigenzeitmesser die verbliebene Haltbarkeitsdauer anzeigten. Layne Koffer wäre entsetzt gewesen, hätte sie uns bei der Essenszubereitung zugeschaut. Unter der >Aufsicht< von Daniel und seinen beiden Kumpanen schafften wir mit einem Handwagen einen großen zylindrischen Behälter aus einer der Kisten der Schwarzbekleideten auf Ebene Sechs in den Aufzug, fuhren zur Küche auf Ebene Fünf hinunter, schütteten den Inhalt in einen großen Kochkessel und gaben Wasser dazu. »Was ist das für ein Zeug?« fragte ich. »Dehydrierte Leber?« Tara rümpfte die Nase, behielt ihre Vermutungen jedoch für sich. »Das haben die Marines der Konföderation gegessen, wenn sie auf R & R waren«, antwortete Daniel aus sicherer Entfernung. Das heißt, aus sicherer Entfernung vor mir. Nicht vor dem Geruch. »Es ist nahrhaft und leicht zuzubereiten. Für richtiges Kochen haben wir keine Zeit.« »Was bedeutet eigentlich >R & R« fragte ich. »Roh und riechend?« Ich hoffte, dieser Kelch werde an uns vorübergehen. »Halt’s Maul und halt dich ran!« »Wieso kümmert Ihr Euch eigentlich nicht darum? Der Aufwand, uns zu bewachen, ist doch größer, als wenn Ihr selber kochen würdet. Das ist ja schlimmer als die Regierung.« »Wir schonen unsere Kräfte.« Daniel verschwieg, daß die eigentliche Absicht wohl darin bestand, zu verhindern, daß wir miteinander redeten oder uns ausruhten. »Mein Kragen beginnt zu scheuern«, sagte ich. »Wie wär’s, wenn ich ihn mal für ‘ne Weile ablegen würde?« »Nur weiter so, Jason, und ich nehme ihn wirklich ab.« Ich wandte mich wieder dem Kessel zu und meinte zu Tara: »Ich frag mich, was es wohl zum Nachtisch gibt. Vielleicht geschnetzelte Ratten?« Tara schüttelte den Kopf und schnitt eine Grimasse. »Was haben Sie gesagt?« fragte Daniel mißtrauisch. Entweder er wollte sich mit mir unterhalten, oder er ließ es bleiben. Der Mann war schwer zufriedenzustellen. »Ich sagte, das wird uns schwer im Magen liegen.« Ich drehte mich wieder zum Kessel um und setzte leiser hinzu: »Oder es wird denen den Mund stopfen.«
»Würden Sie bitte damit aufhören?« bat Tara. »Sonst brauche ich bald eine Kotztüte.« Ich vergewisserte mich rasch, ob sie es ernst meinte, doch anscheinend hatte sie sich auf die gleiche Strategie verlegt wie ich: Nimm’s nicht zu ernst, sonst geht’s dir nah. Sie lächelte schwach. Zum Kessel gewandt, flüsterte ich: »Wie sieht die Unterbringung aus?« Sie hatte sogleich kapiert, worum es ging. »Einzelhäuser. Man zieht immer wieder mal um, denn je länger man dort ist, desto näher am Turm darf man wohnen. Eher sind es individuell gestaltete Appartments als Häuser, denn es gibt keine Unterstellmöglichkeit für Fahrzeuge. Bloß Küche, Schlafzimmer, Bad, Wohnzimmer, häufig auch ein Atrium. Viele Vorderfronten sind mit Kletterpflanzen bewachsen.« Während ich mir die nächste Frage zurechtlegte, wurde mir bewußt, daß ich mich Tara nach nur wenigen Stunden des Zusammenseins bereits näher fühlte als je einem Menschen zuvor. »Wo werden die Wertsachen aufbewahrt?« fragte ich, doch ehe sie antworten konnte, sagte Daniel: »Wie lange dauert es eigentlich noch?« »Woran erkennt man, daß das Zeug fertig ist?« erwiderte ich. »Schmeckt es dann vielleicht, als wär’s genießbar?« »Wie hoch ist die Temperatur?« Ich sagte es ihm. »Es ist gut.« Wenn die Passagiere, die in ihren Schlafklamotten am Schwimmbecken aufgewacht waren, noch immer nicht durcheinander waren, dann würde dieses Schleimzeug den Prozeß sicherlich beschleunigen. Wäre ich ein Passagier gewesen, hätte ich mein Geld zurückverlangt. Und meine Kleider. Während die Wachposten an Ort und Stelle verharrten, holte Daniel zwei Handwagen mit großen Rädern, auf die tiefe Essenstabletts montiert waren. »Geben Sie mal zwei Drittel von dem Zeug da drauf«, sagte er. Der Schleim war nach Zugabe des Wassers erheblich schwerer geworden, daher mußten Daniel und ich den Kessel zu zweit hochheben, um den Inhalt auszugießen. Ich bemühe mich, andere Leute nicht zu unterschätzen, doch die Leichtigkeit, mit der er seine Seite des Kessels hochstemmte und mir beim Ausgießen half, ohne zu zittern, überraschte mich. Mit seiner kleinen, drahtigen Gestalt mußte er den Halbwüchsigen, die ihn in seiner Jugend getriezt hatten, ganz schön zu schaffen gemacht haben. Ich fragte mich, ob er schon mal jemanden getötet hatte. Zwei Drittel des übriggebliebenen Schleims kippten wir auf das zweite Tablett. Den Rest gaben wir in eine große Schüssel, die wir auf der Arbeitsplatte stehenließen. »Genau wie bei den Drei Bären«, meinte Tara. »Wie?« fragte ich. »Goldilocks. Die drei Schüsseln mit Porridge. Ach, schon gut«, setzte sie hinzu, als sie
merkte, daß ich ihr nicht folgen konnte. Daniel sagte: »Vielleicht liest der Erste Offizier andere Bücher als Sie. Vielleicht liest er eher die Klassiker.« Ich hatte Taras Anspielung noch immer nicht verstanden, doch die Herablassung in Daniels Stimme war mir nicht entgangen. Ich überlegte kurz, ob man Frauen gegenüber herablassend sein mußte, wenn man Wades Team angehören wollte, doch ein Blick auf die Wachposten erinnerte mich daran, daß auch Frauen zum Team gehörten. Diese Frau, eine Blondine mit kurzem, straff zurückgekämmtem Haar, das wie eine geriffelte Duschkappe wirkte, schien sich an Daniels Bemerkung nicht gestört zu haben. Vielleicht faßte sie sie eher als eine Bemerkung von Aufpasser zu Gefangenem als von Mann zu Frau auf. Vielleicht bildete ich mir bloß ein, die Bemerkung sei sexistisch gewesen. Die Frau erwiderte meinen Blick mit leidenschaftslosem Pflichtgefühl. Daniel stellte einen hohen Stapel Tassen auf die untere Ablage des Tabletts. »Na schön. Dann wollen wir mal nach nebenan gehen und die hungrigen Massen speisen.« Jetzt wußte ich also, wo die restlichen Besatzungsmitglieder eingesperrt waren, obwohl mir das im Moment nichts nützte. Wir schoben den mittelgroßen Behälter über den Gang bis zur Tür des Speisesaals. Diese Tür war mit dem gleichen Mechanismus blockiert wie die übrigen Türen: in die Oberfläche hatte man ein Loch geschnitten und einen Pflock hineingesteckt. Zusätzlich hatten die Kidnapper ein weiteres Loch ganz hindurchgeschnitten, so daß man von außen in den Raum sehen konnte. Während Tara und ich zuschauten und die beiden Wachposten uns im Auge behielten, sagte Daniel durch das Loch: »Entfernt euch von der Tür und legt euch auf den Boden. Und zwar alle. Beeilt euch, wenn ihr was zu essen haben wollt.« Die gleichen Vorsichtsmaßnahmen hätte auch ich an seiner Stelle ergriffen. Wenn sich alle hinlegten, war ausgeschlossen, daß sie die Eintretenden mit Überlichtgeschwindigkeit überrumpelten. Auf die Verhältnisse der Redshift übertragen, war dies das gleiche, als ließe man einen Verdächtigen in vorgebeugter Haltung an einer Wand Aufstellung nehmen. Offenbar gehorchten alle, denn gleich darauf bedeutete mir Daniel, den Wagen näherzuschieben. »Gehen Sie rein und lassen Sie das Tablett da. Erklären Sie ihnen, daß jeder, der einen Kragen trägt, getötet wird, sollten wir Ärger kriegen. Sagen Sie ihnen, dieses Zeug sei konzentriert, daher sollte keiner mehr davon essen als unbedingt nötig. Das muß reichen, bis sie freigelassen werden. Und in dieser Umgebung wird es ja auch nicht schlecht, oder?« »Scheint mir bloß ein bißchen eintönig zu sein«, meinte ich. »Die werden sich schon dran gewöhnen. Wir kriegen auch nichts anderes.« »Vielleicht wäre es zeitsparend, gleich ein Magenmittel darunterzumischen.« »Gehen Sie rein. Nein, warten Sie. Noch einen Moment.« Daniel schaute noch einmal durchs Loch. Niemand stach ihn ins Auge. »In Ordnung. Beeilen Sie sich.« Er zog den Pflock heraus und öffnete eilig die Tür. Tara blieb draußen, während ich das Gefängnis der Besatzung betrat. Daniel schloß hinter
mir die Tür, und ich schob den Wagen bis in die Mitte des Halbkreises, den die am Boden liegende Mannschaft freigelassen hatte. In dem Raum gab es vier Türen, die zweifellos verschlossen waren. Die Entlüftungsrohre, die hoch oben an den Wänden mündeten, waren zu eng, um einem Menschen Durchlaß zu gewähren. Die versammelte Mannschaft wirkte eher wie ein Aerobic-Kurs als wie die Besatzung eines Hyperraumschiffs. »Was geht hier vor, Mr. Kraft?« war die erste Frage, die ich zu hören bekam. Bensode lag auf dem Bauch und schaute zu mir hoch. Auch er trug einen Halskragen. Bensode wirkte noch betrübter als gewöhnlich, wofür ich Verständnis hatte. Neben ihm lag Rory Willett, die eine Braue hochgezogen. Rory trug ebenfalls einen Kragen, doch das waren auch schon die beiden einzigen, die ich sah. Vor allem sah ich zahlreiche verwirrte, wütende und unsichere Gesichter. »Das Schiff wurde von Wade Midsel, Daniel Haffalt und einer Gruppe von Leuten übernommen, die in Transportkisten an Bord geschmuggelt wurden. Tara Cline, Wades Frau, ist nicht daran beteiligt.« Ich war nicht gut darin, die grundlegenden Fakten nach Zeitungsart in der Reihenfolge ihrer Bedeutung darzulegen, doch die Tatsache, daß Tara nicht dazugehörte, war mir erstaunlich wichtig. »Sind Sie okay?« fragte Rory. Anscheinend hatte er meinen blutigen Uniformärmel bemerkt. »Im Vergleich wozu?« Ich bog den verletzten Arm. Der Schmerz hielt sich in Grenzen. »Ich glaub schon.« Ich hatte soeben die Funktionsweise der Kragen erläutert und darauf hingewiesen, daß das >Essen< eine Weile reichen mußte, als Daniel durch das Loch rief. »Das reicht, Jason. Kommen Sie raus.« Ehe ich antworten konnte, fragte eines der Besatzungsmitglieder: »Was ist mit den Passagieren? Sind sie unverletzt?« »Soviel ich weiß, wurden weder Mannschaftsangehörige noch Passagiere verletzt.« Ich erklärte, daß Bella und Razzi getrennt festgehalten wurden, da sie zum Navigieren gebraucht wurden. »Sie helfen diesen Schuften doch nicht etwa, Jason?« fragte Rory. Ich wandte mich an die ganze Gruppe. »Doch, das tue ich. Bis zu einem gewissen Grad. Entweder das, oder sie bringen einen nach dem andern um.« »Vielleicht bluffen sie nur. Wenn Sie sich völlig verweigern würden, kämen wir vielleicht alle frei«, meldete sich jemand weiter hinten zu Wort. Der Mann klang unglücklich, dabei hatte er das >Essen< wahrscheinlich noch gar nicht gerochen. »Dieses Risiko würde ich nur für mich persönlich eingehen. Nicht jedoch für andere.« Ich verschwieg, daß ich Männern wie Wade bereits begegnet war, Männern, die äußerlich ruhig wirkten, obwohl ihr Adrenalinspiegel so hoch war, daß sie ohne Hemmungen alles Notwendige tun würden, um die Situation unter Kontrolle zu behalten. Ich hatte erlebt, wie es denen erging, die sich ihnen erfolglos in den Weg stellten. Es mußte einen Weg geben, mit Wade fertigzuwerden, doch er war mir noch nicht klar. Der Geruch des Schleims war anscheinend bis zur Besatzung vorgedrungen, denn jemand sagte: »Und das gibt man uns zu essen? Wie sollen wir das runterkriegen?«
»Keine Bange«, erwiderte ich. »Geht auf Rechnung des Hauses.« »Kommen Sie auf der Stelle raus!« rief Daniel durch das Guckloch. Als ich mich der Tür näherte, wurde mir klar, daß Wade und Daniel mich offenbar nicht nur beschäftigen wollten, sondern auch Wert darauf gelegt hatten, daß mich Besatzung und Passagiere in einer offensichtlich machtlosen Position erlebten, wohl um sie in ihren unweigerlichen Fluchtplänen zu entmutigen. Ich wartete an der Tür, während Daniel sich vergewisserte, daß die Luft rein war, dann wurde die Tür jäh geöffnet. Hinter mir verrammelte er die Tür wieder. »Wenn ich Ihnen demnächst wieder einen Befehl gebe, befolgen Sie ihn gefälligst«, sagte er aufgebracht. Unter anderen Umständen hätte ich ihm geantwortet: >Den nächsten Befehl kannst du dir sonst wohin stecken<, doch einstweilen war ich eher froh darüber, daß der Gruppe der Kidnapper auch ein Hitzkopf angehörte, was uns vielleicht noch zum Vorteil gereichen würde. Allerdings mußte ich noch herausfinden, wie weit ich ihn würde bringen können, wenn es soweit war. Ich sagte: »Sie haben vergessen, >Sir< zu sagen.« Daniel packte mich bei der Kehle, unter dem Kragen, und drückte mich an die Wand. »Jetzt hör mir mal gut zu, du Arschloch. Dein Rang interessiert mich einen Scheißdreck. Der Kragen bedeutet, daß ich dein Vorgesetzter bin, und das ist alles, was du zu wissen brauchst. Und vergiß das ja nicht.« Tara und unsere beiden Bewacher waren wie erstarrt. »Außerdem haben Sie vergessen, >bitte< zu sagen.« Einen Moment lang wirkte Daniel schuldbewußt, dann lief sein Gesicht rot an. Er drückte meinen Kragen nach oben, so daß er mir in Hals und Kinn schnitt. Mit der anderen Hand boxte er mich in den Bauch. Seine Faust vermochte sich nicht schneller zu bewegen als zehn Meter pro Sekunde, doch aufgrund der veränderten Masse lag dieselbe Wucht dahinter wie im Normalraum. Es war ein kräftiger Hieb. Zum Glück hatte ich die Bauchmuskeln angespannt, daher machte es mir nicht soviel aus. Im Moment hatte ich genug dazugelernt, daher krümmte ich mich zusammen, als täte mir der Hieb richtig weh. Meine Reaktion stellte Daniel offenbar zufrieden, denn er ließ von mir ab. »Ich habe auch noch ein Messer«, sagte er, als ich wieder aufrecht stand. »Glauben Sie bloß nicht, ich würde mich zurückhalten, bloß weil wir Sie zum Navigieren brauchen.« Seine dunklen Augen wurden schmal, und er starrte mich lange an. »Hab’s kapiert.« Daniel wich zurück. Er zupfte an seinen Manschetten und zog sie sich wieder über die Handgelenke. »Gehen wir zurück zur Küche.« Die Wachen nahmen uns in die Mitte, während Daniel ein ganzes Stück vor Tara und mir ging.
Tara beugte sich zu mir und flüsterte: »Sie hätten ihn nicht reizen sollen.« »Ja. Ich weiß. Wilde Tiere soll man nicht ärgern.« Sie unterdrückte ein nervöses Lachen. Bevor Daniel sich umdrehen konnte, hustete sie laut. Daniel warf uns einen mißtrauischen Blick zu, dann wandte er sich wieder nach vorn. Unsere Bewacherin an der Spitze sah mich an, als hätte ich die Konföderationspräsidentin mit ihrem Spitznamen angeredet. In der Küche schnappten wir uns das größte der Tabletts und wesentlich mehr Tassen als zuvor. Während uns der Aufzug zu Ebene Fünf hochbrachte, hielten die beiden Aufpasser in den Ecken die ganze Zeit den Finger auf der Steuerung für die Kragen. Ich achtete sorgsam darauf, niemanden anzustoßen. Die Türen zum Schwimmbad waren ebenso präpariert wie die Küchentür. Daniel befahl den Passagieren, sich vom Eingang zu entfernen. Als er zufrieden war, schob ich den Wagen hinein, und Tara brachte die vielen Tassen mit. Als die Tür hinter uns zuglitt, meinte ich zu Tara: »Wir beide geben ein gutes Team ab, finden Sie nicht?« Das vertraute schelmische Lächeln kehrte in ihre blauen Augen zurück, als sie antwortete: »Ja, das stimmt. Wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde.«
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Kapitel 8
Reise durch den Hyperraum Ich schob das Tablett mit dem >Essen< durch das Foyer des Schwimmbads und weiter in den nächsten Raum. Tara folgte mir mit den Tassenstapeln. Die mit Schlafanzügen bekleideten Passagiere drängten sich am Ende des Gangs. Einige wirkten verängstigt, andere eher schläfrig. Die meisten wirkten erbost. Jemand hatte den Schwarzgekleideten aus dem Becken gefischt. Das weiße Wasser war unbewegt und einladend. Als die Passagiere Tara und mich sahen, drängten sie vor und bestürmten uns mit Fragen. »Was hat das alles zu bedeuten?« »Wer trägt die Verantwortung?« »Was ist das eigentlich für ein Zeug auf dem Tablett?« Ich hob die Arme, um den Fragen Einhalt zu gebieten und um anzudeuten, daß ich bereit war, einige von ihnen zu beantworten. Ich erkannte den älteren Mann wieder, den ich von der Kabine bis hierher geschleift hatte. Zu meiner Erleichterung wirkte er unverletzt. Am Beckenrand saßen zwei Kinder, die ich bereits kannte, und ließen die Füße ins Wasser baumeln. Becky, die Läuferin, die ich verwarnt hatte, trug einen langen, limonengrünen Morgenmantel. Becky wirkte wie die Teilnehmerin einer ganz normalen Pool-Party, die sich fragte, wann wohl das Essen serviert würde. Da würde sie sich noch wundern. Neben ihr saß Merle Trentlin, der gefaßt und aufmerksam wirkte. »Ich entschuldige mich für die Situation, in die Sie geraten sind«, sagte ich, als sich die Menge beruhigt und die lautesten Echos verstummt waren. »Das Schiff wurde von einer Gruppe gekapert, die beabsichtigt, es ein paar Tage lang für ihre eigenen Zwecke zu benutzen und dann alle wieder freizulassen, so daß wir den Flug fortsetzen können.« Ein aufgeblasener Mann mit einem Doppelkinn, der ziemlich weit vorne stand, fiel mir ins Wort. »Sie wollen alle wieder freilassen? Also, das ist ja wirklich zuvorkommend von ihnen. Vielleicht sollten Sie aber besser etwas unternehmen, anstatt bloß herumzustehen und zu quatschen. Ich habe in drei Tagen eine wichtige Sitzung auf Leviathan.« Auf seinem Bademantel prangte das verschnörkelte Kürzel >FDK<. Als ich ihm gerade erklären wollte, in welchem Verhältnis seine Sitzung zu den Unannehmlichkeiten und der Gefahr stand, die sämtliche Passagiere und Besatzungsmitglieder zu gegenwärtigen hatten, sprang Tara mir bei. »Zu Ihrer Information, Sir, der Erste Offizier hat weit mehr getan, als bloß herumzustehen und zu quatschen. Sechs Mitglieder der Gruppe sind bereits tot, eigenhändig getötet von diesem Mann, den Sie so leichtfertig der Tatenlosigkeit bezichtigen.« Dies war das erste Mal, daß es mir guttat, mich von jemandem verteidigen zu lassen. Becky und Merle machten große Augen. Ein Murmeln durchlief die Menge.
»Stimmt das?« fragte der Mann beschämt, offenbar aus Hilflosigkeit zur Wiederholung Zuflucht nehmend. »Sie haben sechs von ihnen getötet?« In jüngeren Jahren hätte ich vielleicht erwidert: >Klar, und daher reizen Sie mich nicht. < Statt dessen sagte ich: »Ja. Anscheinend habe ich aber nicht genug von ihnen erwischt.« Ich erklärte die Funktionsweise der Kragen, die Tara und ich trugen, außerdem wie sich die Lage darstellte und was es mit dem >Essen< auf sich hatte. Ich hatte nicht den Eindruck, daß ich damit dazu beitrug, die Stimmung zu heben. Außerdem nannte ich ihnen die gegenwärtig gültige Kombination des Waffenschranks, bloß für den Fall, daß es ihnen gelingen würde, sich zu befreien. Der selbsternannte Gruppensprecher schien besonnener geworden zu sein, seit Tara ihn zurechtgewiesen hatte. »Sollten wir tatsächlich freikommen, würden wir uns dann nicht in Gefahr bringen?« Vielleicht suchte er auch bloß eine Entschuldigung, um untätig bleiben zu können. »Möglicherweise. Allerdings müssen Sie davon ausgehen, daß auch so schon Lebensgefahr für Sie besteht. Selbst wenn diese Bande ihr Wort halten sollte, gibt es doch eine Menge Unwägbarkeiten. Wir könnten sogar unbeabsichtigt getötet werden, falls einer zufällig den Knopf auf seinem Schaltkästchen drückt. Wir können nur hoffen, daß es bald vorbei ist.« Ich brachte dieses Thema nur ungern vor Tara zur Sprache, auch wenn sie wahrscheinlich schon zu ähnlichen Schlüssen gekommen war, doch wenn die Gefangenen zu ängstlich waren, um nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau zu halten, wäre damit ebenfalls niemandem geholfen. Obwohl ich es als die Aufgabe der Besatzung ansah, die Situation zu klären, wäre es doch leichtsinnig von mir gewesen, auf potentielle Unterstützung zu verzichten. Ich beantwortete noch einige Fragen, bis von der Haupttür mehrere dumpfe Schläge zu vernehmen waren. Daniel verlor allmählich die Geduld. Wäre meine Konzentrationsspanne ebenso kurz wie seine gewesen, hätte ich mich morgens wahrscheinlich nicht mal ankleiden können. »Da ist jemand an der Tür«, meinte ich zu Tara, mit der gespielten Langeweile, mit der man auf eine lästige Störung reagiert. »Hat man denn hier niemals seine Ruhe?« erwiderte sie im gleichen Ton. Als ich mich zum Gehen wandte, bemerkte ich Amanda Queverra. Sie trug noch immer das dünne Neglige, das sie angehabt hatte, als ich ihre Kabine durchsuchte. Offenbar erregte es noch mehr Aufmerksamkeit als das tief ausgeschnittene Abendkleid, und sie schien sich durchaus zu amüsieren. Sie und die drei Männer in ihrer Nähe führten bereits die Unterhaltung weiter, in die sie bei unserem Eintreten vertieft gewesen waren. Es war ein liebloser Gedanke, doch ich fragte mich, ob Wades Kumpane ihr wohl einen Bademantel mitgegeben hatten und ob sie ihn heimlich wieder abgelegt hatte, als ihr klar wurde, was passiert war. Wir machten uns frei von den aufgebrachten, nur notdürftig bekleideten Passagieren und schärfte ihnen ein, daß sie dem Foyer solange fernbleiben sollten, bis wir draußen waren. So ernst die Lage auch war, waren einige Leute tatsächlich erbost darüber, daß sie auf ihre Badeanzüge verzichten mußten. Doch selbst diesen glücklichen Menschen, die Geschmack am Abenteuer fanden, würde die Lust am Essen bestimmt noch vergehen.
Wades Gruppe bekam keine Sonderbehandlung, als es ans Essen ging. Wir brachten die dritte und kleinste Portion des Schleims auf die Brücke, wo fast alle sogleich davon probierten. Wäre ich nicht bereits der Ansicht gewesen, daß Wades Kumpane ihm ergeben waren, so hätte mich das Ausbleiben von Klagen vom Gegenteil überzeugt. Trotz all meiner abschätzigen Bemerkungen über den Schleim, stellte sich heraus, daß er wesentlich nahrhafter war, als er aussah. Ich fühlte mich gar nicht so schlecht, obwohl ich die ganze Nacht und den vorhergehenden Tag auf den Beinen gewesen war. Das heißt, abgesehen von den beiden Phasen von Bewußtlosigkeit, die ich jedoch nicht als Schlaf bezeichnen wollte. Meine Augen waren noch fit, wenngleich mir die Brückenbeleuchtung so grell erschien, wie es häufig bei langen Arbeitsschichten der Fall ist. Wade hatte anscheinend ein wenig geschlafen, seit Tara und ich die Brücke verlassen hatten, und jetzt war Daniel an der Reihe, wo immer er sich hingelegt haben mochte. Zwei Wachposten hatten an gegenüberliegenden Wänden Platz genommen, während Tara und ich unmittelbar vor Wade saßen. Der Hauptmonitor hinter Wade bildete die Vorderansicht ab. Das dichte Sternenfeld erzeugte soviel Licht, daß wir die normale Brückenbeleuchtung ebensogut hätten ausschalten können. Tara gähnte. Ich gähnte. Wade schaute von dem Taschenrechner hoch, den er auf dem Knie balancierte. »Ich brauche ein wenig Nachhilfe, Jason.« »In Menschenführung? Liebe und Loyalität? Flugrecht? Der Kunst des Kochens?« »Im Fliegen. Im Steuern.« »Ja, klar. Es dürfte ein paar Minuten dauern, aber ich bin sicher, Sie sind ein großartiger Schüler. Sie werden uns wahrscheinlich mitten in eine Sonne hineinmanövrieren, aber dann brauchen wir wenigstens nicht lange leiden.« »Ihr Sarkasmus ist hier fehl am Platz, Jason. Ich weiß, das ist keineswegs trivial, und wie Sie ja bereits wissen, fehlen mir zwei Leute, die sich auf diesem Gebiet auskennen. Aber nur keine Bange. Es gibt einen Ausweg aus dem Dilemma. Sie und Razzi geben mir Nachhilfestunden, und ich werde Ihre Aussagen genauestens miteinander vergleichen. Abweichungen ziehen die schon erwähnten Maßnahmen nach sich.« »In der Theorie hört sich das leicht an«, sagte ich. »Tatsache aber ist, daß zum Steuern eines Hyperraumschiffs eine monatelange Ausbildung Voraussetzung ist. Und dann dürfen Sie lediglich Schiffe der Nullschicht steuern. Übrigens brauchen Sie gar keinen Piloten; Sie haben ja mich.« »Aber Ihnen vertraue ich nicht. Ach, tun Sie doch nicht so geschockt. Mit Typen wie Ihnen kenne ich mich aus. Wahrscheinlich würden Sie sich geehrt fühlen, sterben zu dürfen, solange es der Sicherheit von Besatzung und Passagieren dient.« Aus den Augenwinkeln sah ich, daß Tara unseren Wortwechsel aufmerksam verfolgte. »Wenn es so wäre, dann würde ich mich sofort auf Sie stürzen, so daß einer Ihrer Kumpane meinen Kragen aktivieren müßte. Wenn Sie soviel über die Bedienung der Redshift lernen, daß Sie meinen, Sie kämen damit zurecht, dann wäre die Situation noch gefährlicher für uns, als sie jetzt schon ist.«
Seine beiden Kumpane beugten sich leicht vor. Ich fuhr fort: »Jemand, der dadurch, daß er leichtfertig auf eine Frau wie Tara verzichtet, seine schlechte Urteilskraft unter Beweis stellt, hat nicht das Zeug zu einem guten Piloten.« Mir war sofort klar, daß dieses Argument nicht sonderlich gut durchdacht war, doch es fiel mir schwer, meinen Ärger zu bezähmen. Wade musterte mich amüsiert. »Sie hatten wahrscheinlich einen besseren Start als ich. Für mich war es verdammt schwer. Ich hatte nie Geld, mir die Dinge zu kaufen, die ich haben wollte. Seitdem habe ich zwar gewisse Fortschritte gemacht, doch anscheinend bringt jede neue Stufe des Reichtums auch neue Ziele mit sich, die wieder ein Stück weiter gesteckt sind. Mit den Reichtümern von Xanahalla ist mir nichts mehr unmöglich. Dann kann ich zehn Taras haben, wenn ich will.« Mein erster Gedanke war, daß er niemals eine Frau wie Tara finden würde, ganz gleich, wie lange er auch suchte, doch dann wurde mir klar, daß er gar keine Frauen wie Tara meinte, wenn er gleich zehn haben wollte. Ich sagte: »Sie wirken auf mich wie ein Drogenabhängiger, der die zehnfache Dosis ausprobieren will.« Wade runzelte die Stirn. »Erklären Sie mir die Instrumente, Jason.« Er drehte seinen Stuhl herum und rückte näher ans Armaturenbrett. Er bedeutete mir, zu ihm zu kommen. Ich nahm nachdenklich Platz. Ich brauchte nur einen Moment, dann wußte ich, wie ich ihn am besten in die Grundlagen einführen und von den Problemen überzeugen konnte, mit denen er sich konfrontiert sah. Ich schob meinen Stuhl neben seinen. »Also gut.« Ich erklärte ihm, was er vor sich hatte, betätigte mehrere Basisschalter und wandte mich dann der detaillierteren Erklärung der Bildschirmanzeigen zu. Wade tat so, als begriffe er alles. »Machen wir mal einen kleinen Test«, sagte ich, nachdem er mir zu verstehen gegeben hatte, dies sei einfach, wenn man ein Shuttle steuern könne. »Angenommen, unmittelbar vor uns befände sich ein Planet in Schicht Null. Zwei Ihrer Leute, nehmen wir mal an, diese beiden da…« - ich deutete auf die beiden Wachposten, die uns aufmerksam beobachteten »sind mit Raumanzügen und Luftvorräten ausgerüstet. Sie möchten sie einen Kilometer über der Planetenoberfläche aussetzen und das Ziel selbstständig ansteuern lassen, und Sie haben die Höhe nur ungefähr bestimmt. Können Sie mir soweit folgen?« Wade nickte. Ich vergrößerte die Bildmitte. Wir näherten uns einer planetenlosen Sonne, einem gelben GTyp; dies entnahm ich der Temperaturanzeige, nicht allein der Farbe. »Na schön. Angenommen, bei der vor uns liegenden Sonne handele es sich um einen Planeten. Sie brauchen bloß eine sichere Höhe zum Aussetzen anzusteuern, und wenn Sie soweit sind, tippen Sie einfach auf dieses leere Feld auf der Konsole. Das ist das Signal, daß Ihre beiden Freunde durch ein Portal in den Normalraum überwechseln. In der Realität wären sie anschließend unterwegs. Da es sich hier um eine Sonne anstelle eines Planeten handelt, ist die Höhenbestimmung etwas schwierig, deshalb steuern Sie einen Punkt in etwa hunderttausend Kilometern Abstand von der Photosphäre an, dann wollen wir davon ausgehen, Sie seien in Position. Glauben Sie, Sie schaffen das, oder ist das zuviel verlangt für den Anfang?« »Ich bitte Sie, Jason. Das ist doch leicht. Wenn Sie mich einschüchtern wollen, sind Sie schief gewickelt. Fangen wir an.« Die beiden Aufpasser waren jetzt noch aufmerksamer als in dem Moment, als ich davon
gesprochen hatte, daß ein Selbstopfer eine sinnvolle Strategie sein könnte. »Also gut«, sagte ich. »Dann mal los!« Wade machte sich begierig über die Steuerung her, wie ein Kind bei einem Reaktionstest, für den es lange geübt hat. Anstatt die Sonne auf unserem ursprünglichen Kurs zu passieren, wurden wir langsamer und steuerten allmählich auf den Stern zu. Die Scheibe wuchs dramatisch an, bis sie den ganzen Bildschirm ausfüllte, worauf Wade den Abbildungsmaßstab veränderte, so daß wir die Krümmung der Oberfläche wieder sahen. Unsere Geschwindigkeit relativ zum Normalraum sank so weit ab, daß die Anzeige von der netzwerksimulierten Sicht auf die Meßdaten der bordeigenen Instrumente umschaltete. Die Helligkeit nahm dabei dank der automatischen Filter nicht zu, so daß wir die Sonnenflecken sehen konnten. Eine Protuberanz reichte fast bis in Schiffshöhe, allerdings wies sie in eine andere Richtung. Schließlich hatte Wade die annähernd richtige Entfernung erreicht und bat mich um eine Bestätigung. »Möchten Sie die Rolle des Co-Piloten übernehmen, oder trauen Sie sich zu, selbst zu steuern?« fragte ich. »Das schaffe ich schon.« »Dann wollen wir mal sehen.« Wade nickte. Er verlangsamte das Schiff noch mehr und sagte dann: »Na schön. Das wär’s dann.« Und er tippte auf die Konsole, was für seine beiden Freunde den Beginn der imaginären Reise bedeutete. Ich blickte zu Wades Kumpanen hinüber. Sie beobachteten uns gebannt. »Und was kommt dann, wenn Sie Ihren Freunden den Befehl zum Übergang gegeben haben?« Wade sah mich stirnrunzelnd an. »Das habe ich doch schon gesagt. Worauf wollen Sie hinaus?« Die Sonnenscheibe auf dem Bildschirm begann zu schrumpfen. Ich sagte: »Schauen Sie mal auf die Anzeige rechts oben.« »Na gut. Die Anzeige lautet: >Schicht Null, null Komma null-eins-null-zwo-zwo-sieben.<« »Richtig. Unsere Translationsvorrichtung gleicht ihre Geschwindigkeit einem Objekt in Schicht Null an, das sich mit einem Prozent Lichtgeschwindigkeit bewegt. Die entsprechenden Entfernungen in unserer Schicht sind erheblich kleiner, deshalb bewegen wir uns weit unter einem Prozent c.« »Na gut. Ich bin langsamer geworden, um das Manöver zu erleichtern. Ist das ein Problem?« »Kein Problem. Sie haben bloß nicht genug abgebremst. Wenn wir ein Prozent Lichtgeschwindigkeit aufnehmen, dann gilt das auch für jeden, der in den Normalraum überwechselt.« »Reden Sie weiter.« Wade klang auf einmal vorsichtig, gedämpft. »Ein Prozent Lichtgeschwindigkeit in Schicht Null, das sind dreitausend Kilometer pro
Sekunde. Da die Schallgeschwindigkeit etwa 300 Meter pro Sekunde beträgt, heißt das, daß Sie Ihre Freunde mit zehntausendfacher Schallgeschwindigkeit ausgesetzt haben. Wären sie tatsächlich in einem Kilometer Höhe über einer Planetenoberfläche in den Normalraum übergewechselt, so wären sie zu Asche verbrannt, ehe sie auch nur hätten schreien können. Doch selbst dann, wenn sie sich irgendwie vor der Hitze hätten schützen können, so hätten Sie sie immer noch mit einer Geschwindigkeit in den Einsatz geschickt, welche die Fluchtgeschwindigkeit übersteigt. Wohlgemerkt die Fluchtgeschwindigkeit eines typischen kleinen Sterns, von der weitaus geringeren Fluchtgeschwindigkeit eines armseligen Planeten ganz zu schweigen. Daher würde die Kohlenstoffwolke, die von ihnen übrigbliebe, aus der Atmosphäre geschleudert werden. Es sei denn natürlich, ihre Flugbahn hätte zum Boden gezeigt, denn dann würden ihre Überbleibsel nach weniger als einer halben Millisekunde einschlagen. Übrigens ist das eine ganz interessante Frage. Würde eine halbe Millisekunde zum Verkohlen ausreichen, oder würden sie unversehrt am Boden auftreffen?« Ich blickte zu Wades Kumpanen hinüber. Bevor sie reagieren konnten, wirkten sie ziemlich unglücklich. Dann lehnten sie sich mit wieder undurchdringlicher Miene an die Wand zurück. Ich fuhr fort: «Hätten Sie versucht, sie in einem Gang auf der Planetenoberfläche abzusetzen, und hätten Sie ihre Bewegungsrichtung dem Gang angepaßt, dann hätten sie sämtliche auf dem Gang befindlichen Personen getötet und wären dann gegen die nächste Wand gekracht. Somit hätten Sie…« »Das reicht!« sagte Wade so erregt wie noch nie. »Ich habe Sie verstanden. Also werd ich eine Weile brauchen, bis ich’s kann. Das heißt nicht, daß es nicht möglich wäre.« »Eigentlich wollte ich damit sagen, daß Sie nicht bloß Ihre Freunde getötet hätten. Ein Hyperraumschiff zu steuern, erscheint nämlich trügerisch leicht. Bis Ihre Sinne und Instinkte sinnvolle Reaktionen auf diese Umgebung zeitigen, können Sie sich hundertmal einreden, Sie wüßten, was Sie tun, auch wenn es nicht stimmt. Denken Sie mal drüber nach. Ohne hinzuschauen können Sie nicht mal ein volles Glas Wasser durch den Raum tragen, ohne einen Tropfen zu verschütten.« »Jetzt reicht es wirklich.« Diesmal hatte er in deutlich schärferem Ton gesprochen, der einzige Hinweis darauf, daß ich seine Geduld allmählich überstrapazierte. Ich wußte, daß er ein härterer Brocken als Daniel war, doch zumindest war er auch kein seelenloser Automat. »Es reicht noch lange nicht«, sagte ich. »Solange Sie sich keiner monatelangen Ausbildung unterziehen, stellen Sie eine Gefahr für uns alle dar, Ihre eigenen Leute eingeschlossen.« Wade wandte sich an die beiden Aufpasser. »Schafft ihn hier raus.« Er hatte ganz langsam und deutlich gesprochen. Wie bei einem Diktat.
»Erzählen Sie mir mehr über die Reichtümer von Xanahalla«, sagte ich, als die Tür hinter uns zuglitt. Tara sah mich ungläubig an. Man hatte uns wieder zusammen in den Pausenraum gesperrt. Wahrscheinlich ließ Wade sich derweil von Razzi und Bella Nachhilfe geben. Der Blick, den Tara mir zuwarf, war das einzige Zugeständnis an ihre Erschöpfung. Sie setzte sich, atmete tief durch, raffte den Morgenmantel zusammen, wandte sich mir zu und sagte: »Soweit ich weiß, werden alle größeren Wertsachen im Turm der Verehrung verwahrt.
Ich glaube, ich habe bereits erwähnt, daß die Abendmahlskelche aus reinem Gold bestehen. Das ist nur ein Beispiel. An den vier Seiten des Turms führen Gänge entlang, und an jeder Seite befinden sich fünf Aufzüge. Die unteren zehn Geschosse sind in der Mitte offen, so daß man dort bis nach oben sehen kann. Mitten in der Luft, gehalten von Drähten, schweben Schmuckformen - Würfel, Pyramiden, Kugeln. Sie sind ebenfalls aus Gold. Im Erdgeschoß und in den darauffolgenden in der Mitte offenen Stockwerken sind Kirchenbänke. Die Plätze sind jeweils durch eine Armlehne getrennt, und in jede Lehne ist ein Edelstein eingelassen. Im Erdgeschoß sind es Rubine. Im ersten Stock sind es Augen Ramas. Im zehnten sind es Diamanten.« »Wie groß?« fragte ich, in der Hoffnung, man werde uns eine Weile nicht behelligen. Ich nahm in Taras Nähe Platz und beobachtete sie beim Reden. Der nervöse Humor, den sie zuvor gezeigt hatte, war nun, da sie sich offenbar Gedanken darüber machte, was passieren würden, wenn die Redshift ihr Ziel erreichte, verflogen. Sie blickte ernst, sogar traurig. Ich fragte mich, was sie wohl durchgemacht haben mochte, bevor sie Wade kennengelernt hatte. »Jeweils mehrere Karat. Die Kanzel ist mit einem Mosaik aus Edelsteinen verziert. Die Edelsteine allein sind schon einiges wert, machen aber nur einen kleinen Teil der Schätze aus. Exakt in der Mitte des Erdgeschosses befindet sich eine kreisförmige Gruft von mindestens fünf Metern Durchmesser, die mit einem großen stilisierten >X< geschmückt ist. Diese Gruft ist die eigentliche Schatzkammer.« Auf einmal sah sie mich direkt an, als sei sie sich bewußt, daß meine Gedanken nicht so unpersönlich waren wie meine ausgesprochenen Fragen. Ich stellte rasch die nächste Frage, da mir die Vorstellung, jemand könne meine Gedanken erraten oder in mein Inneres hineinblicken, unangenehm war. »Weshalb ist der Turm so protzig, und wie läßt sich die Schatzkammer öffnen?« »Der Turm der Verehrung wurde zu Ehren Gottes erbaut, um Ihm zu zeigen, wie wichtig Er für unser Leben ist. Trotzdem sind nicht einmal fünf Prozent des Vermögens von Xanahalla in den Turm geflossen. Der Großteil der Reichtümer wird entweder für den Notfall in der Gruft verwahrt oder wurde bereits für Notfälle ausgegeben. Viele Reiche haben Spenden geleistet. Und viele, die nach Xanahalla gekommen sind, um dort ihren Lebensabend zu verbringen, haben ihr ganzes Vermögen mitgebracht.« Tara schaute weg und rieb sich die Stirn. »Was wollten Sie noch gleich wissen? - Ah, ja. Wie man die Gruft öffnet. Das erfordert die Anwesenheit von zehn Kirchenältesten, die jeweils einen Teil des Zugangscodes kennen. Wenn die Tür offen ist, gleitet sie beiseite, und man sieht die Treppe, die in die Gruft hinunterführt. Rings um die Gruft sind kleine Schließfächer angebracht, daher muß sie nicht häufig geöffnet werden. Wie, glauben Sie, wird Wade sich wohl Einlaß verschaffen? Indem er wartet, bis sie geöffnet wird, und dann mit einer Gruppe Bewaffneter plötzlich auf der Bildfläche erscheint?« »Schon möglich«, sagte ich. »Wenn er Glück hat, und die Gruft wird von keinem Störfeld geschützt, könnte er auch jemanden unmittelbar darin absetzen, der die Wertsachen zu ihm durchreicht. Was befindet sich eigentlich in der Gruft? Bargeld, Edelmetalle? Und weshalb liegt es nicht auf einer Bank, wo es der Kirche zusätzlich noch Zinsen einbringen würde?« »Man hat mir gesagt, es sei von jedem etwas darin - eine nach Ansicht der Ältesten gute Mischung aus unmittelbar verfügbaren Geldbeständen und materiellen Vermögenswerten, die zu Geld zu machen zwar einige Zeit in Anspruch nimmt, die dafür jedoch inflationsbeständig sind. Teilweise nehmen sie aus diesem Grund keine Banken in Anspruch, teilweise auch
deshalb, weil das Vermögen so groß ist, daß sie es auf zu viele Banken verteilen müßten wodurch es für solche Leute wie Wade um so angreifbarer würde.« »Wie lange dürfte es dauern…« »Ist das wirklich…«, setzte Tara an. Wir hatten nahezu gleichzeitig gesprochen. In dem Moment, als ich ihr bedeutete, sie möge fortfahren, sah ich, daß sie die gleiche Geste machte. Da ich wußte, daß wir gleichzeitig reagiert hatten und daß sie meine Geste soeben erst gesehen hatte, wartete ich. Sie wartete ebenfalls. Schließlich sagte ich: »Wie lange dürfte es dauern…« Und sie sagte: »Ist das wirklich…« Wir lachten. Synkopische Bemerkungen machten die Verständigung in dieser bizarren Zeitlupenumgebung auf Dauer doch etwas mühsam. Um die Verzögerungen auf ein Minimum zu beschränken, rückte ich meinen Stuhl näher an Tara heran. Sie musterte mich aufmerksam. Einen Moment lang machte es mich verlegen, so eingehend betrachtet zu werden, doch dann schwand mein Unbehagen. Mir fiel auf, daß Taras blaue Augen golden und grün gesprenkelt waren. Blau und Violett kündeten normalerweise von der raschen Annäherung eines Objekts. Während ich in Taras tiefblaue Augen schaute, hatte ich kurzzeitig den Eindruck, ihr Gesicht stürze mir entgegen. Sie kam mir allmählich zu nahe. Ich sah weg und sagte rasch: »Wie lange dürfte es dauern, sämtliche Wertsachen einzusammeln? Und halten sich ständig Leute in der Nähe auf, oder bloß zu gewissen Tageszeiten?« Tara antwortete nicht auf meine Frage, sondern schenkte mir ein amüsiertes Lächeln, das ich eher spürte, als daß ich es sah. Dann verflüchtigte sich ihr Lächeln, und sie sagte: »Es fällt mir immer noch schwer mir vorzustellen, daß dieser schüchterne Junge soeben sechs Menschen getötet hat. Wer sind Sie?« »Jason Kraft, Erster Offizier der Redshift, Flottennummer C03E8MPS.« »Name, Rang und Seriennummer. Dahinter verstecken Sie sich, nicht wahr?« »Ich weiß nicht, wie ich mich vor Ihnen verstecken soll«, erwiderte ich ohne zu überlegen. Der Eindruck, eingehend gemustert zu werden, ging diesmal nicht mit einem Gefühl von Bedrohung einher. Schon wieder hatte diese Frau mir ein Eingeständnis entlockt, das ich keinem anderen gegenüber gemacht hätte. »Wer sind Sie, Jason? Sie sind fähig zu töten, trotzdem scheuen Sie zurück, wenn Ihnen jemand nahe kommt. Sie kennen eine bekannte Kindergeschichte nicht, sind aber offenbar intelligent und gebildet. Sie haben eine harte Schale und einen verletzlichen Kern. Sie erkennen viel bei anderen Menschen, beobachten aber eher, als daß Sie sich engagieren. Und manchmal scheinen Sie sich nicht mal selber gut zu kennen.«
Ich starrte an die Wand. »Ich muß wissen, ob sich ständig Leute im Turm der Verehrung aufhalten.« »Nein, das ist nicht der Fall. Wenngleich die Tagperiode nur kurz ist, sind die Bewohner dort gehalten, einen normalen Tag-und-Nacht-Rhythmus einzuhalten. Und weitere Fragen beantworte ich erst, wenn Sie mir sagen, wer Sie sind.« Als ich Tara ansah, merkte ich, daß es ihr ernst war. Als Antwort auf meine unausgesprochene Frage sagte sie: »Ich scherze nicht. Ich bin müde, verängstigt und gereizt. Und neugierig. Bevor ich weitere Fragen beantworte, müssen Sie mir sagen, wer Sie sind. Wenn wir in ein paar Tagen womöglich tot sind, können Sie mir zumindest soviel über sich verraten.« Während ich überlegte, wie ich mich wohl früher in einer vergleichbaren Situation verhalten hätte, kam mir ein Gedanke: nichts von dem, was ich innerhalb meines emotionalen Ereignishorizonts halten konnte, würde sich auf Menschen oder Ereignisse auswirken, die außerhalb davon lagen. Obwohl ich fest vorhatte, nichts zu sagen, hörte ich mich im nächsten Moment auch schon flüstern: »Ich bin auf Redwall aufgewachsen.« Nichts hatte mich so geprägt wie Redwall. Und ich hatte mir fest vorgenommen, Redwall niemals zu erwähnen. Sie schwieg, doch ich sah ihr an, daß sie keine Ahnung hatte, was ich meinte. Ich wünschte, sie hätte über Redwall Bescheid gewußt, denn dann hätte ich ihr nichts erklären brauchen. »Reden Sie weiter«, sagte sie. »Meine Erinnerungen setzen mit dem >Schlafsaal< ein. Das war ein unglaublich langes, barackenähnliches Gebäude, gerade breit genug für einen Mittelgang und zwei Reihen von Etagenbetten, die mit der Kopfseite zur Wand ausgerichtet waren. Unter dem unteren Bett gab es jeweils zwei Truhen, eine für den oberen und eine für den unteren Schläfer. Meine Truhe war ungefähr so groß.« Ich nahm die Hände etwa auf Schulterbreite auseinander und starrte Tara blicklos an. Statt dessen sah ich die Kratzer am Schloß der Truhe, die von den zahllosen Versuchen herrührten, die paar Habseligkeiten, über die wir an diesem Punkt des Raum-ZeitKontinuums verfügt hatten, umzuverteilen. »Ich… ich habe noch nie jemandem davon erzählt«, sagte ich mit ausgedörrter Kehle. »Irgendwie habe ich es geschärft, von dort wegzukommen, und ich habe nie zurückgeblickt. Ich… ich…« Tara berührte mich am Arm. Ihr Hand fühlte sich durch den Ärmel hindurch warm an. Ich holte tief Luft. »Meine Truhe hatte ein Kombinationsschloß. Die Aufpasser kannten die Kombination ebenfalls Sie konnten sich jederzeit nehmen, was sie haben wollten, aber wenigstens kamen die anderen Kinder nicht heran.« Als ich stockte, fragte Tara leise: »Was ist Redwall? Eine Besserungsanstalt?« »Das wär mir fast lieber gewesen.« Bitterkeit schwang in meiner Stimme mit, eine Bitterkeit, die ich bereits für überwunden gehalten hatte. Ebenso wie Redwall und meine Eltern. »Redwall ist keine Besserungsanstalt. Red wall war - und ist - ein Vergnügungsplanet. Aber alles ist relativ, denn für mich war es kein Vergnügen.«
»Allmächtiger«, sagte Tara. Während ich starr geradeaus blickte, hörte ich, wie sie scharf einatmete. Ich fuhr fort: »Auf Redwall ist man niemals zu jung. Oh, eine Zeitlang ist man vielleicht zu jung für die zahlenden Gäste, nicht jedoch für die Kameraden, die anderen Opfer. Die Sechsjährigen mißbrauchen die Vierjährigen. Die Achtjährigen mißbrauchen die Sechsjährigen. Und so weiter, die ganze Leiter hoch. Mit zehn Jahren ist man alt genug für die zahlenden Besucher.« Ich atmete heftig, und meine Stimme schwankte. Ich wollte aufhören, doch jetzt, da ich einmal angefangen hatte, schaffte ich es nicht mehr. »Zum erstenmal habe ich mit vierzehn getötet. Ein Junge, der ein Jahr älter war als ich und drei Betten weiter schlief, ließ seine Frustrationen an einem neunjährigen Mädchen aus. Ich… gebot ihm nicht rechtzeitig Einhalt. Rissa starb ein paar Tage später. Als der Junge starb, schaute ich ihm dabei zu. Ich… ich habe ihn mit bloßen Händen getötet. Und die Dankbarkeit in den Augen des kleinen Mädchens - dieses bedauernswerten, hilflosen kleinen Mädchens -, diese Dankbarkeit ließ keinen Zweifel daran, daß ich richtig gehandelt hatte.« Ich biß die Zähne zusammen, atmete schnaufend durch die Nase und bemühte mich, die Fassung zu bewahren. Ich hatte lange nicht mehr an den Jungen gedacht, doch ich sah noch sein wütendes Gesicht vor mir, das allmählich einen verwunderten, leicht verängstigten Ausdruck annahm, bevor es noch weiter erschlaffte, bis sich jeder Ausdruck daraus verlor. Offenbar hatte mein Unterbewußtsein häufiger Ausflüge an den Ort des Verbrechens unternommen; das Bild des Jungen war ebenso klar und deutlich wie das meines Vaters. »Jason«, sagte Tara. »Ich wollte nicht…« «Das macht nichts. Vielleicht tut es mir sogar gut, darüber zu sprechen. Ich habe das alles lange Zeit verdrängt. Jedesmal, wenn mich jemand darauf stößt, drückt der Knoten ein bißchen mehr. Manchmal meine ich, jeden Moment platzen zu müssen. Bis jetzt hat mich noch niemand dazu gebracht, darüber zu reden.« »Ja, ich verstehe. Ich bin froh, daß ich es war.« Ich ließ meine Gedanken einen Moment schweifen und überlegte, ob ich fortfahren sollte. »Mir scheint«, sagte sie, »daß Sie aufgrund des Vorfalls mit dem kleinen Mädchen den Wunsch entwickelt haben, Frauen beizustehen.« »Vielleicht, aber ich glaube nicht, daß der Wunsch auf Frauen beschränkt ist. Das gilt für jeden, der ausgenutzt oder mißbraucht wird.« Ich rieb die Hände aneinander, um sie zu wärmen. »Sie starb, ohne den Aufpassern gesagt zu haben, wer ihren Peiniger getötet hatte. Damit hatte sie eine der wichtigsten Regeln von Redwall verletzt. Kinder, die dem Geschäft schadeten, wurden hart bestraft, denn das bedeutete Einkommensverluste. Diebstahl und Schikanen kamen häufiger vor als direkte körperliche Gewalt. Die meisten Kinder wußten jedoch, daß es ihnen schlimmer ergehen würde als ihrem Peiniger, wenn sie ihn anschwärzten. Das Mädchen aber hatte nichts mehr zu verlieren. Ihr Peiniger konnte sich nicht mehr an ihr rächen.« Ich wechselte das Thema, denn es schmerzte zu sehr. »Die Aufpasser gaben uns einen Anteil von dem, was der Kunde bezahlte. Wir erhielten etwa zehn Prozent der Einnahmen. Gerade soviel, daß es tatsächlich möglich schien, daß wir uns eines Tages würden freikaufen können, wenn wir nur brav mitmachten.« Meine Stimme wurde hart.
»Wir konnten sogar sagen, welche Art Dienstleistungen wir bevorzugten. Die meisten Kunden, Männer wie Frauen, wollten Sex auf unterschiedliche Weise. Einige der aufrichtigeren Kunden verzichteten darauf, so zu tun, als wollten sie etwas anderes als rohe Gewalt. Unsere Bezahlung hing davon ab, wie zufrieden die Kunden waren und wie lange sie unsere Dienste in Anspruch nahmen. Ich hatte Sex mit Frauen und Männern, die meine Großeltern hätten sein können, und ich wurde von Leuten geschlagen und mißhandelt, die als ehrbare Bürger und hoch geachtet - wieder nach Hause flogen. Nachdem ich beide >Genüsse< kennengelernt hatte, entschied ich mich für die Schläge.« Meine Stimme wurde rauh. »Wenn man geprügelt wurde, bekam man eine längere Erholungszeit zugestanden, bis man dem nächsten Kunden zur Verfügung stehen mußte. Und das war keineswegs als Wohltat gemeint.« Ich brach ab und rang um Fassung. Ich mußte die Luft mit Gewalt in meine verengte Lunge hineinpressen. »Dabei hatte ich noch großes Glück. Ich wurde nicht verstümmelt wie so viele.« »Jason, wie sind Sie…« Tara schüttelte unvermittelt den Kopf und preßte die Lippen zusammen. Sie wandte den Blick ab. »Wie bin ich was?« »Nein. Ich habe schon zuviel gefragt.« »Wie bin ich was?« Tara drehte sich zu mir um. In ihren Augenwinkeln glitzerten Tränen. »Wie sind Sie dorthin gekommen? Nach Redwall, meine ich.« Ich erwog, sie in diesem Punkt anzulügen, doch was mir bei jedem anderen leichtgefallen wäre, brachte ich bei ihr nicht fertig. »Ich wurde verkauft. Von meinen Eltern.«
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Kapitel 9
Zielpunkt Xanahalla »Ihre Eltern haben Sie nach Redwall verkauft?« fragte Tara nach einem Moment der Sprachlosigkeit. Der Schmerz grub winzige senkrechte Falten zwischen ihren Augenbrauen ein. »Aber das ist doch unmöglich. Gibt es dagegen denn keine Gesetze?« »Es gibt nur wenige Gesetze ohne Schlupflöcher«, erwiderte ich. »Der Satzung von Redwall nach betreiben sie dort ein Internat. Die Schüler sollen nebenbei soviel Geld verdienen, daß die Schule den Eltern einen Anmeldungsbonus auszahlen kann.« »Das ist unmenschlich.« »Aber es kommt vor. Zumal in Gebieten der Konföderation, wo die zuständigen Beamten besonders bestechlich sind.« »Wie haben Sie es erfahren? Doch bestimmt nicht von den Leuten, die Redwall geleitet haben.« »Nein. Die hielten es für angebracht, uns zu sagen, wir seien dort geboren worden und führten für unsereins ein ganz normales Leben. Hin und wieder machten Kunden irgendwelche Andeutungen, doch die Wahrheit kannten wir nicht. Mit sechzehn hielt ich es einfach nicht mehr aus. Ich mußte entweder weglaufen oder mich umbringen. Mir gelang die Flucht. Ich tötete dabei drei Aufseher und verletzte einen Kunden schwer, doch das bedaure ich nicht.« »Aber wieso… ah… Sie wollten wissen, woher Sie kommen.« Als Tara den Gedanken weiterspann, erbleichte sie noch mehr. »Mein Gott, Jason, was haben Sie mit Ihren Eltern gemacht?« »Ihre Namen standen in den Akten, und nachdem ich mich über die reale Welt kundig gemacht hatte, beschloß ich, sie zu suchen. Allerdings fehlte mir das Geld für einen Hyperraumflug. Ich dachte mir, wenn ich einen Job bei der Wartungsmannschaft bekäme, brauchte ich kein zahlender Passagier sein, um überall hinzukommen, und so habe ich mich allmählich hochgearbeitet. Es dauerte drei Jahre, bis ich Transom Five erreichte, den Planeten, auf dem sie den Akten nach gelebt hatten. Ich brauchte mehrere Wochen, um ihren damaligen Aufenthaltsort herauszufinden. Eines späten Nachmittags kam ich schließlich zu dem Haus, in dem sie lebten. Es war noch trostloser als der >Schlafsaal<. Die Wände waren bis über Kopfhöhe mit Graffiti beschmiert. Das Gebäude hatte anscheinend einmal in einem Kriegsgebiet gelegen, denn die Außenmauern waren beschädigt und die Einschußlöcher notdürftig mit Lehm und Blättern ausgebessert. Auf der Treppe, die zu ihrer Wohnung hochführte, fehlte etwa ein Drittel der Stufen. Zunächst hatte ich mir Sorgen wegen meiner Waffe gemacht, doch in der Gegend hätte ich ohne Schußwaffe fehl am Platz gewirkt. Die Kinder, die auf der Straße spielten, beobachteten mich ebenso teilnahmslos wie ich früher die Aufpasser auf Redwall. Jedenfalls ging ich zu der
Wohnung hoch und klopfte an der Tür. Zunächst dachte ich, es sei niemand zu Hause, doch schließlich machte mein Vater auf. Ich wußte gleich, daß er mein Vater war, jedoch anhand anderer Merkmale, als die meisten anderen an meiner Stelle bemerkt hätten. Er wirkte wie ein unbehandeltes Strahlenopfer. Das Haar war ihm in Büscheln ausgefallen. Seine Zähne waren gelb. Seine Wangen waren pockennarbig, und ein Auge war zugeschwollen.« Ich mußte mehrmals tief durchatmen, bevor ich weitersprechen konnte. »Hinter ihm sah ich eine Frau, von der ich annahm, daß es meine Mutter war. Sie saß in einem Liegesessel, der so verschlissen war, daß der Rahmen so gut wie überall hindurchschaute. Sie beobachtete einen Bildschirm in einem Meter Abstand. Das Bild war schwarzweiß und völlig verzerrt. Sie starrte den Bildschirm an, als wäre sie im Koma. Sie sah keinen Moment zur Tür. Mein Vater sagte >Ja?<. Offenbar hatte er keine Ahnung, wer ich war, woraus ich schloß, daß seine geistige Verfassung ebenso schlecht wie seine körperliche war. Die Hand hatte ich in der Tasche stecken, und ich befühlte den Revolver, aber meine Finger waren taub. Ich brachte es nicht fertig. Ich murmelte irgendwas wie >Tut mir leid. Hab mich in der Adresse geirrt<, und ging weg. Am nächsten Morgen ging ich wieder hin und wartete den ganzen Tag darauf, daß sie rauskämen. Am Nachmittag kam er endlich raus und ging zur nächsten Bar. Unterwegs fotografierte ich ihn.« Nach einer langen Pause, in der ich die Fassung wiederzugewinnen suchte und überlegte, weshalb ich Tara das alles erzählt hatte, fragte sie: »Warum?« »Warum ich das Foto gemacht habe? Wissen Sie, ich bin mir immer noch nicht ganz sicher. Vielleicht um den Haß lebendig zu halten, ganz gleich, wie alt ich werde. Oder um mir einzureden, daß sie keine andere Wahl hatten. Oder vielleicht um mir vor Augen zu führen, was aus mir werden könnte, wenn ich nicht aufpasse. Vielleicht auch, um mich davon zu überzeugen, daß ich immer noch ein anständiger Mensch bin, obwohl ich getötet habe schließlich habe ich auf meine Rache ja verzichtet, als sich mir die Gelegenheit bot. Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.« Mein Bewußtsein schaltete von jenem düsteren Tag wieder in die Gegenwart um, und mir wurde klar, daß ich mich anhörte wie ein kleiner Junge. Ich holte tief Luft, drückte die Schultern durch und rieb nervös die Hände aneinander. Tara sagte: »Wenn ich gewußt hätte, wie schwer es Ihnen fällt, darüber zu sprechen, hätte ich Sie nicht gefragt. Aber ich bin froh, daß ich es weiß.« »Warum? Was bedeute ich Ihnen schon?« Ich blickte Taras Hand an, die immer noch auf meinem Arm lag, dann sah ich ihr wieder in die Augen. In diesen tiefblauen Augen lag auch nicht die kleinste Andeutung von Spott, vielmehr spiegelten sie den Schmerz wider, den ich nach all den Jahren immer noch in mir trug. Tara zog ihre Hand zurück. »Was hat Ihnen das kleine Mädchen bedeutet? Die, die ihnen so dankbar war.« »Sie war bloß jemand, der leiden mußte.« »So einfach war das?«
»Ja. Allerdings glaube ich, daß mir meine Qualen nicht so leicht anzumerken waren.« »Wie sollte das auch zugehen, so zurückhaltend wie Sie sind, selbst wenn Sie andererseits aufmerksam sind und anscheinend an Ihrer Umgebung auch Anteil nehmen?« Ich rang mir ein Grinsen ab und sagte: »Ich bin hart im Nehmen. Ich komme schon zurecht.« Tara nickte nachdenklich und lächelte verlegen. »Ja, aber wenn Sie immer alles in sich hineinfressen, werden Sie irgendwann eine ausgebrannte, leere Hülle sein. Eine Art menschliches Schwarzes Loch.« »Es geht mir gut. Wirklich.« Ich machte ein beruhigendes Gesicht. Dabei ging es mir gar nicht gut. Ich fühlte mich einsam. Und mir wurde klar, daß ich mich schon lange einsam fühlte, ohne mir der Ursache des Schmerzes bewußt gewesen zu sein. »Das nehme ich Ihnen nicht ab, wissen Sie. Aber wenn Sie mal eine Schulter zum Ausweinen brauchen, dann bin ich für Sie da.« Mir war wohl bewußt, wie stark meine Hemmung vor dem Weinen war, und außerdem war mir nachträglich klargeworden, wie dicht ich davorgestanden hatte, tatsächlich vor ihr in Tränen auszubrechen. Irgendwie vermittelte sie mir das Gefühl, daß Weinen nicht unbedingt ein Zeichen von Schwäche war, sondern ganz einfach Ausdruck von Schmerz. »Ich werd’s mir merken. Ich…« »Was?« »Nichts.« »Was wollten Sie sagen?« »Bloß - daß Wade sehr dumm gewesen sein muß.« Auch diesmal wieder nahm sie meinen Gedankengang sogleich auf. »Und wenn es so war, dann ist das ja wohl sein Problem, finden Sie nicht?« »Vielleicht sind Sie es, die eine Schulter zum Ausweinen braucht.« Sie schüttelte leicht den Kopf, wobei ihr Haar über die Schulter streifte. »Wenn Sie okay sind, dann bin ich es auch.« Doch ich sah den Schmerz in ihren Augen und die kleine Falte auf ihrer Stirn, und ich fragte mich, ob ich wohl ebenso leicht zu durchschauen war. Oder ob sie wirklich erwartete, daß ich ihr glauben würde. »Wissen Sie«, sagte Tara plötzlich, so als versuche sie, mit Gewalt das Thema zu wechseln, »ich möchte wetten, daß Sie sich für einen rationalen Menschen halten. Für einen Menschen, der überwiegend logische Gründe für sein Verhalten hat.« »Ich denke schon«, meinte ich, ohne zu wissen, worauf sie hinauswollte. »Und ich möchte ebenfalls wetten, daß Sie mehr Entscheidungen aus emotionalen als aus logischen Gründen treffen. Und dann gehen Sie einen Schritt zurück und suchen nach rationalen Begründungen für Ihre Entscheidungen, für den Fall, daß jemand sie in Frage stellt.«
»Das ist vollkommen…« Ich wollte ihre Behauptung bereits abstreiten, doch da fiel mir ein, wie zutreffend Taras Beobachtungen bislang gewesen waren. Und während ich schweigend dasaß, wurde mir intuitiv klar, daß sie abermals recht hatte. Schließlich sagte ich: »Vielleicht. Vielleicht haben Sie recht.« Und wußte doch bereits, daß sie die Wahrheit erkannt hatte. »Jason«, fuhr Tara fort. »Ich weiß nicht, ob…« Als die Tür aufging, verstummte sie. »Was wissen Sie nicht?« fragte Daniel. Offenbar hatte er sein Nickerchen beendet. Sein Blick war klar, und er wirkte frischer als zuvor. »Sie ist sich nicht sicher, ob der Homo Sapiens tatsächlich vom Affen abstammt«, sagte ich. »Manche Menschen scheinen eher von den Schlangen abzustammen.« Das Nickerchen schien sein seelisches Gleichgewicht teilweise wiederhergestellt zu haben, denn er reagierte nicht. Statt dessen sagte er: »Zeit, wieder auf die Brücke zu gehen.« Zumindest mußten wir nicht wieder in die Küche.
»Die Signale haben aufgehört«, sagte Wade. Ich fragte mich, ob Wade damit meinte, der Sender sei tot. Nach allem, was Tara mir erzählt hatte, konnte es ebenfalls bedeuten, daß das Schiff mit Marj Lendelson an Bord in die Hyperraumschicht Zehn übergewechselt war und darin eine so weite Strecke zurücklegte, daß die Verfolgung schwierig werden würde. Ich sagte: »Sie warten auf einen Anruf, aber es klingelt nicht, wie? Heißt das, wir sind frei?« »Noch nicht ganz. Das heißt, ich möchte, daß Sie uns zu der Position bringen, von der wir das letzte Signal aufgefangen haben. Dort muß das Schiff in den Hyperraum eingetreten sein. Wenn es wieder herauskommt und der Sender normal weiterarbeitet, können wir den exakten Kurs nach Xanahalla bestimmen.« Ich näherte mich der Konsole und streckte die Hand nach der Steuerung aus. »Nicht so eilig.« Wade trat neben mich. »Ich möchte, daß Sie mir jeden einzelnen Schritt erklären.« »Warum machen Sie’s dann nicht gleich selbst? Nicht, daß ich’s Ihnen empfehlen würde. Ich bin bloß neugierig.« Wade blickte lange auf die Sternkarte, dann sagte er: »Sie und Razzi haben es geschafft, mich davon zu überzeugen, wie leicht es ist, Fehler zu machen. Ich bin nicht der Typ, der mit dem Kopf durch die Wand will. Aber glauben Sie bloß nicht, Sie hätte damit einen Freibrief, von meinen Anweisungen abweichen. Razzi hat mir das anstehende Manöver erklärt, und ich werde jeden Ihrer Schritte genau verfolgen.« Behutsam lenkte ich die Redshift zu den Koordinaten von Marjs letzter Sendung hin. Vor jedem Schritt erklärte ich Wade, was ich tat und warum ich es tat. Vor einigen Schritten erläuterte ich ihm die häufigsten Fehler, die unerfahrene Piloten machten, und deren Folgen. Obwohl er bereits erklärt hatte, daß er sich das Steuern nicht zutraute, konnte es doch nicht schaden, noch einmal nachzuhaken.
Minuten später waren wir am Ziel, und Wade schaute zufrieden drein. Er bedeutete mir höflich, Platz zu nehmen. Ich setzte mich und lehnte mich zurück. »Und jetzt warten wir.« Ich saß neben Tara. Sie machte den Eindruck, als käme sie blendend zurecht. Im Moment fiel mir nichts ein, worüber ich in Wades Beisein mit ihr hätte reden können. Da sich im Moment nichts tat, wurde mir auf einmal klar, wie müde ich war. Ich schloß die Augen.
Ich träumte davon, wie es gewesen wäre, in der Wohnung auf Transom Five zu leben, in der ich meine Eltern angetroffen hatte. Der Traum verzerrte die Realität stärker, als mir später beim Aufwachen klar war, hauptsächlich deshalb, weil ich das meiste von dem, was ich über das Familienleben wußte, irgendwo aufgeschnappt hatte; aus Angst, Gründe für mein Interesse angeben zu müssen, hatte ich noch nie jemandem direkte Fragen nach einer normalen Kindheit gestellt. Mein Vater trug die Uniform eines Aufpassers von Redwall. Meine Mutter saß wie hypnotisiert vor einem trüben, flackernden Bildschirm. Mein Vater stand auf und sagte: »Hol mir eine Kiste Five-Star aus der Bar.« Er rülpste laut und ungehemmt. Ich sagte: »Wenn du was zu trinken willst, hol’s dir selbst.« »Hol mir was zu trinken, du faules Aas, sonst verkaufe ich dich nach Redwall. Da wärst du dann dankbar, wenn das schon alles war, was du zu tun brauchst.« Ich erhob mich aus dem Sessel, in dem ich mich gefläzt hatte, und schlurfte zur Tür. Ich drückte die Klinke hinunter und öffnete die Tür. Auf dem trüb erhellten Flur stand der Junge, den ich auf Redwall getötet hatte, auferstanden aus dem Grab, zweimal so schwer wie zuvor und viermal so häßlich; gelbbrauner Schleim tropfte ihm aus dem nassen Haar, rann über die Wangen und weiter auf die Jacke. Er starrte mich blicklos an. Er versteckte irgend etwas hinter dem Rücken. Das, was über die Schulter hinausschaute, erinnerte mich an die Peitschen. Er lächelte mich boshaft, höhnisch an. »Darf Jason rauskommen und mit mir spielen?« erkundigte er sich freundlich.
»Jason. Jason, ist alles in Ordnung?« Ich riß die Augen auf und stellte fest, daß Tara mich an der Schulter schüttelte. Ich befand mich wieder auf der Brücke der Redshift. »Klar«, sagte ich und rieb mir den Schlaf aus den Augen. »Hab bloß von früher geträumt.« »Bloß…« Sie brach ab und schluckte. »Sie haben sich angehört, als…« »Angenehme Träume?« warf Wade selbstgefällig ein. Wahrscheinlich hatte er niemals Alpträume. »Ja«, sagte ich. »Ich habe von einem Paralleluniversum geträumt, in dem ich Vertreter war.« Die Blasiertheit schwand aus Wades Blick, und er wurde nachdenklich. »Wissen Sie, dabei fällt mir etwas ein, das ich bereits wieder vergessen hatte. Das Schiff, dem wir folgen, wird
wahrscheinlich noch ein, zwei Tage im Hyperraum bleiben, wenn es den gleichen Zeitplan einhält wie das, mit dem Tara geflogen ist. Was hindert uns daran, bis nahe an die Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen, um unseren Zeitablauf zu verlangsamen? Auf diese Weise könnten wir die Wartezeit auf wenige Minuten reduzieren.« Ich ließ mir mit der Antwort Zeit. Ich hatte ebenfalls schon daran gedacht, jedoch nichts gesagt, um mehr Zeit zum Nachdenken zu haben. Bislang war mir jedoch noch nichts Erfolgversprechendes eingefallen. Und ich war immer noch so benommen vom Schlaf, daß mir keine überzeugende Ausrede einfiel. Ich zögerte. Schließlich sagte ich: »Nichts, denke ich, abgesehen vom Energieaufwand. Normalerweise beschränken wir uns auf achtzig bis neunzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit, um die Zeitdilatation zu minimieren und Energie zu sparen.« »Wie schnell könnten wir fliegen, wenn wir noch genügend Energie übrigbehalten wollen?« »Die Geschwindigkeit ist nicht das Problem; es kommt darauf an, wie oft wir beschleunigen und wieder verzögern. Das kostet Energie. Wahrscheinlich könnten wir auf 99 Prozent c hochgehen und ein Dutzend Mal wieder anhalten, bis der Energieverbrauch wirklich ins Gewicht fällt. Und bei neunundneunzig Prozent Lichtgeschwindigkeit verstreicht an Bord nur ein Siebtel der normalen Zeit.« Wade dachte darüber nach, dann sagte er: «Dann verstreicht für uns also eine Stunde, wenn wir eine halbe Stunde lang mit dieser Geschwindigkeit in eine Richtung fliegen und dann wieder eine halbe Stunde zurück, während für äußere Beobachter sieben Stunden vergehen?« »Vorausgesetzt, daß wir währenddessen mit keinem anderen Schiff zusammenkrachen.« Ich schaute mich auf der Brücke um. Tara saß noch immer neben mir, und Daniel saß an der anderen Seite. Daniel hatte die Arme vor der Brust verschränkt und machte einen zuversichtlichen Eindruck. Die Aufpasser waren ausgewechselt worden. An ihre Aufmerksamkeit stellte Wade offenbar die höchsten Anforderungen. Die streng wirkende Frau von unserem Küchenausflug war wieder dabei. Sie blickte mich vorwurfsvoll an, ganz so, als sei einer der toten Schwarzgekleideten mehr als nur ein Kumpel für sie gewesen. Wade sagte: »Die Leute reden ständig davon, wie unermeßlich das Weltall sei. Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, wir könnten tatsächlich das unglaubliche Pech haben, mit einem anderen Schiff zusammenzustoßen .« »Die Hyperraumschicht Zehn ist viel enger als der Normalraum. Deshalb kommen wir selbst mit unseren acht oder neun Metern pro Sekunde gut voran. Die Lichtgeschwindigkeit sinkt um so mehr, je weiter man sich vom Normalraum entfernt, doch was die Sache wirklich lohnend macht, ist die Tatsache, daß die entsprechenden Entfernungen noch rascher schrumpfen. Hier in Schicht Zehn multipliziert sich unsere Geschwindigkeit mit dem Faktor 1024. Daher ist die Wahrscheinlichkeit, mit einem anderen Schiff zusammenzustoßen, mindest 1024mal so hoch. Allerdings ist die Ausgangswahrscheinlichkeit so niedrig, daß diese Gefahr vernachlässigbar klein ist.« »Wählen Sie die Richtung aus, die Sie für die sicherste halten, und dann los.« Da mir immer noch kein stichhaltiges Gegenargument einfiel, schob ich meinen Stuhl vor die Konsole und verankerte ihn in den Bodenfassungen. Während Wade mir aufmerksam über die Schulter sah und ich ihn über jeden Schritt auf dem laufenden hielt, rief ich eine Darstellung sämtlicher planmäßiger Hyperraumrouten auf. Mir insgeheim wünschend, wir
hätten Hologramme anstelle der flachen Bildschirmanzeigen verwendet, programmierte ich eine Kugel um unsere momentane Position, eine Kugel mit einem Radius von dreieinhalb Lichtstunden. »Dieser Sektor hier scheint mir am ehesten geeignet«, sagte ich, nachdem ich die Anzeige solange hatte rotieren lassen, bis ich das Gefühl hatte, mich orientieren zu können. »Meinetwegen«, meinte Wade. »Fangen Sie an. Wir werden es so machen: eine Stunde hin, eine Stunde zurück, dann warten wir auf ein Signal. Das wiederholen wir solange, bis Marj sich meldet.« Ich fügte zu der Grafik einen Vektor hinzu, der in die gewählte Richtung zeigte, und schaltete den Antrieb ein. Die Anzeige, die zuvor auf Null gestanden hatte, stieg rasch an bis auf 0,8, dann verlangsamte sich der Anstieg, und der Zähler näherte sich asymptotisch der 0,99. »Wir sind unterwegs.« Wade sagte: »Es fällt mir immer noch schwer, mir vorzustellen, daß wir beschleunigen, ohne einen Andruck zu spüren.« »Wir bewegen uns, ob man es spürt oder nicht. Sie sehen ja die Geschwindigkeitsanzeige. Und Sie sehen die Uhren.« Ich deutete auf die Anzeige über der großen Sternkarte. Die Borduhr zählte unentwegt Sekunde um Sekunde, während die Zeitanzeigen für unsere fahrplanmäßigen Anlaufhäfen rasten. Die Digitalziffern der Sekunden flackerten nur noch, und die Ziffern der zweiten Dezimalstelle wechselten fast so schnell wie normalerweise die der ersten. Die Zeit verging wie im Flug.
»Wie ging es weiter, nachdem ich Sie am Schwimmbecken alleingelassen hatte?« fragte ich Tara. »Als die Leute gerade zu sich kamen?« Man hatte uns wieder in den Pausenraum verfrachtet, während Wade jetzt wahrscheinlich Razzi aufforderte, die Einstellungen zu bestätigen, die ich auf der Brücke vorgenommen hatte. Ich hatte ihm die Wahrheit gesagt. Solange kein klarer Vorteil für uns zu erkennen war, hatte es keinen Sinn, ihn anzulügen, und wenn es mir gelang, zumindest ein gewisses Vertrauensverhältnis aufzubauen, würde sich mir bestimmt noch eine bessere Gelegenheit bieten. »Lassen Sie denn niemals locker?« fragte Tara, doch sie hatte sich offenbar mit meinen endlosen Fragen abgefunden, denn sie lächelte schwach und begann zu reden, ohne daß ich sie noch weiter drängen mußte. »Während mein Kopf allmählich klarer wurde, kam Wade zu sich. Ich zeigte ihm das Messer, das Sie mir gegeben hatten, und berichtete ihm, was ich von Ihnen wußte. Ich stand auf, und in dem Moment sah ich den Mann im Becken. Meine Reaktionen waren wohl noch etwas langsam, denn daß der Mann tot war, begriff ich erst, als Wade mir das Messer abnahm und zu einem Komm-Terminal ging. In dem Moment dachte ich, Wade würde sich deshalb schneller auf die Situation einstellen, weil bei ihm die Wirkung der Droge möglicherweise eher nachließ. Er rief auf der Brücke an, glaube ich, und sagte etwas in der Art wie: >Wir haben ein Problem im Schwimmbad. Schicken Sie jemanden rauf.< Das, was er sagte, erschien mir durchaus angemessen, aber ich war immer noch so durcheinander, daß ich mir nicht groß den Kopf zerbrach. Mittlerweile kamen auch einige andere Passagiere zu sich, und um die kümmerte ich mich dann.
Wade wartete an der Tür. Als die anderen eintrafen, gingen mehrere von ihnen gleich zum Hintereingang. »Wissen Sie noch, was passierte, als Sie die Tür aufmachten?« »Ja. Ich vermute, er hat jemanden außen herum geschickt, um mir den Fluchtweg abzuschneiden, aber davon hab ich nichts mehr mitbekommen.« »Als Sie ausgeschaltet waren, gingen jedenfalls alle bis auf Wade durch die Tür hinaus. Als einer der Passagiere die Tür zu öffnen versuchte, ging sie nicht auf. Während die anderen allmählich merkten, was los war, zerrte Wade mich zum Vordereingang. Noch bevor er mich aus dem Raum bugsiert hatte, wurde mir klar, daß er an der Aktion beteiligt sein mußte, ich wollte es bloß nicht wahrhaben. Daher ging ich mit und wünschte mir, das alles wäre bloß ein böser Traum. Als wir den Ausgang erreichten und uns ein Schwarzgekleideter, den ich nicht kannte, hinausließ, gab es keinen Zweifel mehr. Allerdings war ich nicht in der Lage, mich von diesen Leuten abzusetzen. Natürlich versuchte ich es, aber Wade und zwei seiner Freunde hielten mich fest. Wahrscheinlich war ich auch immer noch ein bißchen benommen.« »Haben Sie eine Ahnung, weshalb Wade im Schwimmbad war? Wieso hat man ihn nicht auf die Brücke geschafft?« »Ich glaube, er wollte es einfach gründlich machen. Später hörte ich, wie sie miteinander redeten, und dem war zu entnehmen, daß er jemanden aus der Gruppe dabeihaben wollte, wenn die Leute zu sich kamen, für den Fall, daß er etwas übersehen hatte. Dafür kam nur ein Passagier in Frage. Somit blieben Daniel und er übrig, und da hat er sich eben für sich selbst entschieden. Ich glaube, er hätte sich mit mir nach einer Weile abgesetzt. Sie haben die ganze Sache lediglich beschleunigt.« »So wie eben.« »Sie meinen, indem Sie die Wartezeit verkürzt haben?« Ich nickte. »Weshalb waren Sie so kooperativ? Wäre es nicht besser gewesen, möglichst viel Zeit zu schinden?« »Vielleicht, aber so haben wir uns eine kleine Atempause verschafft. Wir fliegen eine Stunde hin und eine zurück. Beim Zeitdehnungsfaktor sieben heißt das, daß wir während sieben Stunden von acht, die für einen äußeren Beobachter bei Normalzeit vergehen, nicht in der Lage sind, Marj Lendelsons Signale zu empfangen. Somit würden wir mit etwas Glück, falls die Besatzung ihres Hyperraumschiffs den Sender findet, nachdem sie aus dem Hyperraum gekommen sind, kein weiteres Signal auffangen. Und wenn Wade eine Kugel mit dem Radius von - warten Sie -, sagen wir mal zwei Lichttage mal 1024, das macht über fünf Lichtjahre -, wenn er also in einer Gegend, wo die Sterne dermaßen dicht stehen, eine Kugel mit einem Radius von fünf Lichtjahren absuchen muß, dann reicht die Zeit dazu nicht aus, wenn er fertigwerden will, bevor man anfängt, nach uns zu suchen.« »Mit Spielen, bei denen man bluffen muß, kennen Sie sich anscheinend aus. Als er Sie fragte, was Sie von seiner Idee hielten, und Sie meinten, es ginge, da haben Sie ein Gesicht gemacht, als wären Sie vom Regen in die Traufe geraten und bemühten sich, sich Ihre Bedenken nicht anmerken zu lassen.«
»Das freut mich zu hören.« »Warum? Weil Wade Sie nicht verstanden hat?« »Weil Sie mich nicht verstanden haben. So tief wie Sie hat noch niemand in mich hineingeblickt.« Ich grinste. »Man braucht eben auch sein Stück Privatsphäre.« Tara schaute mich eine Weile an, und während sie das tat, nahm ihr Gesicht wieder den schelmischen Ausdruck an, den ich von ihr kannte. Ihre Lippen formten sich langsam zu einem anmutigen Lächeln, und ihre Augen blitzten wieder. Unter anderen Umständen hätte ich vermutet, sie brüte irgendeinen Schabernack aus. Ihre Unverwüstlichkeit war wirklich erstaunlich. Ich mochte sie von Minute zu Minute mehr. Mein Grinsen war wohl breiter geworden, denn sie sagte: «Was ist?« und sah mich mit schiefgelegtem Kopf an. »Nichts.« Sie schüttelte leicht den Kopf, um anzudeuten, daß sie mir nicht glaubte. Ich sagte: »Haben Sie auf Xanahalla viele Freunde?« Sie zögerte und überlegte wohl, ob sie ihre Frage mit größerem Nachdruck wiederholen sollte. »Ein paar. Jemand, den ich dort gern getroffen hätte, ist abgereist, kurz bevor ich dort ankam.« »Ein guter Freund?« »So gut auch wieder nicht. Ein Mädchen, mit dem ich aufgewachsen bin, ging dorthin, oder jedenfalls sagte man mir das, bevor ich mich entschloß, ebenfalls nach Xanahalla zu gehen. Ich hatte mich darauf gefreut, sie wiederzusehen, aber sie ist wohl zu der gleichen Erkenntnis gelangt wie später ich: die reale Welt ist aufregender.« »Und Sie haben sich nie gewünscht, wieder dorthin zurückzukehren? Irgendwie hatte ich den Eindruck.« »Hin und wieder habe ich daran gedacht, besonders dann, wenn es zwischen mir und Wade nicht so gut lief. Vielleicht hatten Sie ja recht mit Ihrer Vermutung. Vielleicht habe ich nach einem Ausweg gesucht, um mich den Problemen nicht stellen zu müssen. Das ist bisweilen schon eine verlockende Alternative.« »So wie Selbstmord?« Ich kam mir immer noch blöd vor, weil ich Jenni Sonders Tod falsch interpretiert hatte. »Vielleicht. Oder zumindest kann ich nachempfinden, daß sich jemand für diesen Ausweg entscheidet, wenn ihm das Leben unerträglich wird. Wenn er das Gefühl hat, nie wieder glücklich werden zu können. Aber Sie waren wohl niemals versucht aufzugeben, oder? Sie haben sich aus einer Grube hochgearbeitet, in die die meisten anderen Leute wieder zurückgerutscht wären.« »Ja, und jetzt schauen Sie mich an, wie glücklich ich bin.« »Sicher, Sie mögen vielleicht nicht sonderlich glücklich sein, aber ich wette, Ihr Job verschafft Ihnen eine gewisse Befriedigung. Und Sie hoffen doch bestimmt, eines Tages glücklicher zu sein, hab ich recht?«
Wie schon einige Male zuvor blickte ich ihr auch diesmal wieder ganz instinktiv in die tiefblauen Augen und sagte: »Sie haben’s erfaßt.«
Als ich wieder auf der Brücke war, steuerte ich das Schiff zurück an die Position, von der aus Marj Lendelson das letzte Signal gesendet hatte. Während der Stunde, in der wir auf ein Signal warteten, empfingen wir nichts. Keine Nachricht ist eine gute Nachricht, wie es so schön heißt.
Zwei subjektive oder ungefähr acht Standardstunden später hatten wir immer noch nichts aufgefangen. Schade, daß ich nicht unbemerkt bis auf 99,999 Prozent c hatte beschleunigen können. Vielleicht wäre Marjs Sender bis dahin längst entdeckt worden. Allerdings wären die zahlenden Passagiere dann später an ihrem Bestimmungsziel angekommen. Von denen, die nach Realzeit entlohnt wurden, wäre jedoch bestimmt keiner böse gewesen.
Nach drei weiteren Zyklen des Hin-und-Hers und des Lauschens erschien es mir immer wahrscheinlicher, daß man den Sender tatsächlich entdeckt und abgeschaltet hatte. Außerdem kam ich mir allmählich vor wie ein Jo-Jo.
»Vielleicht hat Marj vergessen, den Sender mitzunehmen«, schlug ich vor. Es war bereits unsere siebte Ruheperiode, und wir hatten immer noch kein Signal aufgefangen. »Ist sie vergeßlich?« »Wohl kaum«, meinte Wade. »Na ja, Sie wissen ja, wie das ist, wenn man in aller Eile packt. Ich habe schon mal vergessen, meinen…« »Das reicht, Jason.« »Oder aber sie hat einen Sender eingepackt, bloß nicht den richtigen. Vielleicht arbeitet Marj in Wirklichkeit ja für jemand anders. Vielleicht ist im Moment gerade eine andere Gruppe unterwegs nach…« »Hören Sie auf!« Wade stand unvermittelt auf und kam auf mich zu. Er ballte rhythmisch die Fäuste, und mir war klar, daß ich einen wunden Nerv getroffen hatte. Entweder er machte sich wirklich Sorgen um Marjs Loyalität, oder er war besorgt um ihre Sicherheit. Er beruhigte sich jedoch wieder, noch ehe er mich erreicht hatte. Als er vor mir stand, wirkte er wieder entspannt und sagte in ruhigem Ton: »Solange bis wir das Signal auffangen, machen Sie nur dann den Mund auf, wenn es was mit Navigation zu tun hat.« Meinetwegen. Ich konnte sowieso noch ein Nickerchen vertragen.
Etwa vier subjektive Stunden später piepste abermals die Konsole - und zwar in dem
charakteristischen Rhythmus, der anzeigte, daß Marj Lendelsons Sender bedauerlicherweise funktioniert hatte. Das Piepsen erinnerte mich an das Signal, das mir auf Redwall in meiner Koje gemeldet hatte, daß mich ein Kunde haben wollte.
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Kapitel 10
Odyssee im Hyperraum Aufmerksam beobachtet von Wade, gab ich die Richtung, aus der Marj Lendelsons letztes Signal gekommen war, in die Sternkarte ein, dann setzte ich einen Vektor mit unserer gegenwärtigen Position als Ausgangspunkt. Solange sich die Redshift nicht bewegte und ich keine zweite Messung vornehmen konnte, ließ sich die neue Position nicht exakt bestimmen, doch wir hatten bereits genug Informationen, um Marj zu folgen und eventuelle Planeten entlang des Vektors zu überprüfen. Dies alles war Wade bekannt, doch anscheinend wollte er, daß ich laut dachte, während ich unseren nächsten Sprung berechnete. »Na schön«, sagte ich. »Ungünstigster Fall: sie machen sich keine Gedanken um die Zeitdilatation. Wenn ich das auch nicht glaube, ist doch nicht auszuschließen, daß sie in den Hyperraum gegangen sind, das Schiff mit aller Kraft beschleunigt haben, vielleicht auf sieben Neunen oder noch weiter, so daß sie ihr Ziel mit nur geringem subjektiven, jedoch hohem Standardzeitverlust erreichen. Die Tatsache, daß wir ihr Signal so rasch aufgefangen haben, begrenzt ihre Reisezeit und ihre Geschwindigkeit. Unter Vernachlässigung ihrer subjektiven Zeit und in Anbetracht der Tatsache, daß das letzte Signal in Schicht Fünfzehn gesendet wurde und daß die Übermittlungsgeschwindigkeit in dieser Schicht das Zweiunddreißigfache des Normalwerts beträgt, sind sie jetzt höchstens 150 Lichtjahre von uns entfernt, wenn man berücksichtigt, daß sie sich vierzig Stunden lang mit Lichtgeschwindigkeit durch Schicht Fünfzehn bewegt haben.« Wade stieß einen Pfiff aus. Ich sagte: »Vielleicht noch weiter, falls es bergab geht.« »Wie bitte?« fragte Wade. »Ein Scherz. Nichts für ungut. Sollten sie jedoch unmittelbar nach der vorherigen Sendung in den Hyperraum übergewechselt und unmittelbar vor der letzten wieder herausgekommen sein, während sie nur mit 0,9 c geflogen sind, dann sind sie jetzt wenig mehr als zehn Lichtjahre entfernt. Oder aber sie haben getrödelt und sind nur ein paar Lichtjahre weit geflogen. Wenn wir einen Punkt in etwa zehn Lichtjahren Entfernung ansteuern, der in ihrer Flugrichtung liegt und höchstens zehn Lichtjahre von ihrem Kurs abweicht, dann sollte es eigentlich klappen.« »Klingt vernünftig«, meinte Wade. »Wie lange werden wir dafür brauchen?« »Rund vierzehn Lichtjahre mit 1024facher Lichtgeschwindigkeit - das macht etwa 120 Stunden Normalzeit. Wieviel Zeit wollen Sie aufwenden?« »Ich muß das erst noch verarbeiten. Nennen Sie mir die Optionen.« »Wie Sie wollen. Unsere typische Geschwindigkeit von 0,9 c verkürzt die Zeit um den Faktor 2,3. Daher würden wir ungefähr - fünfzig Stunden brauchen. Zwei Neunen - macht siebzehn Stunden. Drei Neunen - etwas mehr als fünf. Vier Neunen - etwa eindreiviertel
Stunden.« Ich ließ unerwähnt, daß im Normalraum unabhängig davon, wie stark wir die subjektive Zeit verkürzten, auf jeden Fall 120 Stunden verstreichen würden, was die Wahrscheinlichkeit vergrößern würde, daß Marj Lendelsons Sender entdeckt und ausgeschaltet wurde. Und um so mehr Zeit bliebe auch für die Suche nach der Redshift. »Vier Neunen, was wohl 0,9999 c bedeuten soll, das klingt gut«, sagte Wade. »Und das kostet uns nicht zuviel Energie?« »Kein Problem.« »Dann los!« Diesmal verzichtete Wade darauf, meine Angaben von Razzi überprüfen zu lassen.
Nicht ganz zwei Stunden später stoppten wir mit quietschenden Bremsen, bildlich gesprochen, und begannen wieder zu lauschen. Ich war froh darüber, daß wir keine Signale empfangen konnten, wenn unsere subjektive Zeit mit höchstens halber Normalgeschwindigkeit ablief, doch das half uns leider auch nicht weiter. Kaum waren zehn Minuten vergangen, meldete sich auch schon wieder Marj Lendelsons Sender. »Phantastisch!« sagte Wade. Er sah der Reihe nach seine Kumpane an und rieb sich die Hände. Ich wollte es nicht glauben. Anscheinend hielt sich die ganze Gruppe, oder jedenfalls das, was von ihr noch übrig war, auf der Brücke auf. Außer Wade und Daniel waren noch sechs weitere Schwarzgekleidete anwesend. Ich kam mir vor wie bei einer Beerdigung, wollte jedoch weder darüber nachdenken, ob die Beerdigung bereits stattgefunden hatte oder noch stattfinden würde, noch wer da zu Grabe getragen wurde. Ich gab den neuen Vektor ein. Anscheinend hatte Marj Lendelsons Transportmittel angehalten, denn der alte und der neue Vektor überschnitten sich in der Nähe eines Sternsystems in etwa fünfundzwanzig Lichtjahren Entfernung. Aus purer Gewohnheit sagte ich: »Peilung Breite drei fünf null, Höhe vier. Entfernung null zwei vier Komma sieben null«, doch es war niemand auf der Brücke, der meine Peilung hätte bestätigen können. Ich leitete die Koordinaten an den Bordcomputer weiter, worauf eine seitenlange Zusammenfassung auf einem anderen Bildschirm erschien. G-Typ, vier Planeten, einer davon mit einem Ring, im Besitz der Dritte Welt AG, vor mehr als hundert Jahren katalogisiert, unbesiedelt bis auf eine Minenkolonie, keine Reparaturmöglichkeiten für große Raumschiffe. Keine Versorgungseinrichtungen. Wade sagte: »Dann mal los, Jason. Vier Neunen.« Er hatte mir über die Schulter geschaut, was ich nicht ausstehen konnte.
Der Drei-Tage-Flug ging für uns recht schnell vorbei. Marj Lendelson hingegen würde sich wahrscheinlich fragen, weshalb wir uns soviel Zeit ließen; für sie waren währenddessen etwa dreizehn Tage verstrichen - vier, während wir ihre Position bestimmt hatten, und neun weitere
Tage bis nach Xanahalla. Schlechte Zeiten vergehen sowieso langsamer als glückliche, daher würde sie wahrscheinlich ganz schön sauer sein, wenn wir endlich auftauchten. Seit ich nach dem Überfall zu mir gekommen war, hatte Wade stets leidlich gute Laune gehabt. Als ich die Redshift stoppte, war er geradezu vergnügt. Nach einer halben Stunde des Navigierens im niedrigen Geschwindigkeitsbereich kam er von seinem Hoch wieder runter. Dann stellten wir fest, daß Marj Lendelsons Sender verstummt war. »Kratzt Sie das?« fragte ich Wade. »Das muß der gesuchte Ort sein.« Der Hauptbildschirm zeigte ein großes Bild, das die Nullschichtscanner aufgenommen hatten. Der beringte Planet in der Bildschirmmitte war so nahe, daß ein Teil der Ringe vom Bildschirmrand abgeschnitten wurde. Wade senkte ein wenig die Stimme. »Sie haben keinen Grund, herablassend zu sein, Jason. Ich halte ebensoviel von Loyalität wie Sie. Jetzt, da der Sender ausgefallen ist, wird es schwerer werden, Marj aufzuspüren, aber wir werden sie herausholen.« Tara sah er dabei nicht an. Die Frage, die mich wirklich beschäftigte und die Wade nicht angesprochen hatte, war, aus welchem Grund der Sender ausgefallen war. »Bringen Sie uns näher heran«, sagte Wade. Wir waren noch so weit entfernt, daß die Ringe massiv wirkten, allerdings sah man zwei größere und mehrere kleinere Unterteilungen. Auf der linken Hemisphäre war Nacht. Ich steuerte uns näher heran. Die Sternbilder hinter den Ringen bewegten sich leicht, wie trübe Lichtpünktchen in fernem Regen. Schließlich wurde die Planetenscheibe so groß, daß sie fast den Rand des Bildschirms berührte. Daniel brach sein langes Schweigen. »Seht mal, da.« Er näherte sich dem Bildschirm und deutete im oberen rechten Quadranten auf die Planetenoberfläche. Ich nahm an, daß der Lichtreflex an dieser Stelle vom Turm der Verehrung stammte. »Bringen Sie uns näher dorthin«, sagte Wade. Die Planetenoberfläche begann sich unter uns zu drehen, als ich unsere Bewegungsrichtung veränderte. Wir hatten den innersten Ring bereits hinter uns gelassen, daher brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, daß die Nullschichtscanner zerschmettert wurden, wenn sie kurz in die Nullschicht hineinspähten und dann gleich wieder zurückschalteten, um zu melden, was sie gesehen hatten. Wir kamen dem Ursprung des reflektierten Lichts immer näher. Das umliegende Gelände war annähernd kreisförmig und wies eine dunklere Schattierung auf als der Rest. Im Norden bildeten sich Wolken. Ich blickte mich nach Tara um. Selbst wenn ich nicht anhand ihrer Beschreibung gewußt hätte, daß wir den gesuchten Ort gefunden hatten, so hätte ich es ihr doch aufgrund ihrer bleichen Gesichtsfarbe und des starren Blicks, mit dem sie den Bildschirm fixierte, angesehen. Ich hatte noch immer nicht die leiseste Ahnung, wie ich ihren Freunden helfen sollte, ohne die Insassen des Schiffs in Gefahr zu bringen. Als das kreisförmige Gebiet um den Turm der Verehrung den ganzen Bildschirm ausfüllte,
war auch der Turm etwas nach Norden versetzt, im Schatten der Ringe, deutlich zu sehen. Er ragte wie ein Nagel aus dem flachen Gelände auf. Ich stoppte abermals das Schiff und wartete auf weitere Anweisungen. Während ich den Bildschirm beobachtete, wanderten der Turm und das umliegende Gelände allmählich aus dem Bild. »Was ist denn los?« fragte Wade. »Sie müssen sich schon ein bißchen genauer ausdrücken«, sagte ich, mir dessen, was ihn beunruhigte, sehr wohl bewußt und entschlossen, auch diese neuerliche Gelegenheit, ihn vom Navigieren abzuhalten, zu nutzen. »Dreht sich der Planet so schnell? Weshalb verändert sich die Anzeige so schnell?« »Nein. Der Planet beschreibt eine Umlaufbahn um die Sonne.« Ich vergewisserte mich rasch. »Er bewegt sich mit hunderttausend Stundenkilometern. Die Eigenrotation macht wahrscheinlich bloß ein Prozent davon aus. Um über einem bestimmten Punkt auf der Oberfläche zu verharren, müssen wir eine Helix beschreiben. Eine kreisförmige Helix um die Sonne.« Wade verzog das Gesicht. »Aber das machen Sie bei den Andockstationen doch ständig.« »Klar. Die Docks sind mit Funkfeuern ausgestattet, welche die Redshift anpeilen kann. Die Leute hier werden kaum Ihren Besuch im Sinn gehabt haben, als sie beschlossen, ihren Planeten nicht mit Docks auszurüsten. Oder vielleicht hatten sie gerade Sie im Sinn. Jedenfalls läßt sich die Redshift so programmieren, daß sie ihre Flugbahn in regelmäßigen Abständen der Umlaufbahn von Xanahalla angleicht. Und wir können diesen Kurs mit einer engeren Kreisbahn überlagern, um die Eigenrotation des Planeten auszugleichen, aber wenn wir näher herangehen und das Schiff eine bestimmte Position über dem Boden einhalten soll, dann sollten Sie besser einen erfahrenen Navigator am Steuer sitzen haben, der seine Sache hundertzehnprozentig versteht. Und Sie sollten ihn bei den anstehenden Manövern nicht stören. Ansonsten könnte es passieren, daß Sie, anstatt auf festem Boden zu landen, aus zehn Metern Höhe stürzen oder plötzlich feststellen, daß Ihre Beine mit massivem Felsgestein verschmolzen sind.« Wade hatte den Blick keinen Moment vom Bildschirm abgewandt, doch als ich fertig war, sagte er: »Hab’s kapiert.« Daniel näherte sich Wade, worauf beide in eine Ecke gingen, um sich unter vier Augen zu besprechen. Ich versuchte, Tara einen aufmunternden Blick zuzuwerfen, doch sie fixierte noch immer mit sorgenvoller Miene den Bildschirm. Als die beiden Männer ihre Unterredung beendet hatten, kam Wade zurück und sagte: »Also gut, Jason. Schauen wir’s uns mal genauer an.« Zunächst bestimmte ich annähernd Xanahallas Umlaufgeschwindigkeit und Bahnform, dann gab ich die entsprechenden Befehle ein. Als nächstes bestimmte ich die ungefähre Eigenrotation des Planeten. Solange ich mit Navigationsbefehlen beschäftigt war, erhob Wade weder Einwände, noch verlangte er mir für jeden einzelnen Schritt eine Erklärung ab. Hätten sich meine Hände der Funkkonsole genähert, wäre er wahrscheinlich gleich aufmerksam geworden. Doch selbst dann hätte für ihn kein Grund zur Aufregung bestanden; er hatte die Schalter der Funkkonsole mit Klebefolie gesichert. Gemütlich in Schicht Zehn verankert, schwebten wir etwa fünfzig Kilometer über der Oberfläche von Xanahalla und ließen den Anblick auf uns wirken, den die Nullschicht uns
bot. Die Menschen auf dem Boden hatten keine Möglichkeit, uns wahrzunehmen, es sei denn, sie verfügten über ausreichend empfindliche Meßgeräte, die unsere winzigen Scanner anpeilen konnten, die ständig zwischen unserer Schicht und dem Normalraum hin und her wechselten. Ein menschlicher Beobachter hätte aus der Nähe allenfalls ein flackerndes Muster von vierzehn Pünktchen wahrgenommen, die ebenso schwer auszumachen waren wie ein Spinnwebfaden von einem Zentimeter Länge bei schwacher Beleuchtung. Zufrieden mit meinen ersten Näherungsrechnungen, steuerte ich die Redshift näher an Xanahalla heran. Das Bild auf dem Schirm wurde rasch größer, obwohl ich den Betrachtungswinkel kontinuierlich vergrößerte. Hätte das Schiff wie ein Atmosphärenflugzeug gebebt und sich geschüttelt, wäre die Illusion, hilflos dem Boden entgegenzustürzen, komplett gewesen. Die Unterhaltungen brachen jäh ab, als ich das Schiff in etwa einem halben Kilometer Höhe in der Nähe eines weißen Flecks am Rande des kreisförmigen Gebiets unvermittelt stoppte. In der plötzlichen Stille hörte ich Daniel schlucken. Unter uns lag ein Raumhafen mit zwei Landestreifen für Shuttles. Die Pisten machten einen guten Eindruck und waren von niedriger Vegetation gesäumt. Eine Rollbahn verband die beiden Streifen, so daß sich insgesamt ein großes >H< ergab. An einer Seite des >H< bildeten zwei kastenförmige Gebäude den Mittelpunkt gemächlicher Betriebsamkeit. Drei Gestalten näherten sich langsam dem Shuttle. Die Einzelheiten waren deutlich zu erkennen. Die Konturen, die aus größerem Abstand verschwommen gewirkt hatten, waren jetzt scharf. Ich steuerte uns vorsichtig näher an den Boden heran. Kurz darauf zeigte der Bildschirm das Shuttle aus einer Höhe von wenigen Metern über dem Boden. Abgesehen davon, daß die Anzeige flach und schwarzweiß war, hätten wir ebensogut durch ein Fenster schauen können. Ich bemerkte ein paar unbedeutende Hitzeverfärbungen auf der Hülle des Shuttles. Ich verzichtete darauf, das Schiff zu bewegen, und beobachtete bloß den Bildschirm. Wir begannen abzutreiben und bewegten uns langsam nach links. Ich verbesserte die Näherungsrechnung, worauf sich unsere Relativbewegung zum Boden verlangsamte. Schließlich versetzte ich die Redshift noch in ganz langsame Rotation, um die Eigenrotation von Xanahalla in etwa auszugleichen. Nachdem ich die Redshift so positioniert hatte, daß wir zum Turm hinüberblickten, sagte ich: »Ich glaube, wir sind da.« Wade sagte: »Tara, es wird Zeit, daß du eine aktivere Rolle übernimmst. Würdest du dich bitte hierher setzen?« Wades aufgesetzte Höflichkeit kam bei ihr schlecht an. Hätte Wade gesagt: >Komm her und hilf mir, meine Geliebte zu finden<, wäre sie kaum weniger erfreut gewesen. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Wade versuchte es noch einmal. »Tara, komm jetzt her.« Er deutete auf den Stuhl neben mir. Sie ignorierte ihn. Er ging zu ihr und baute sich vor ihr auf. Ich dachte, er würde ihr entweder drohen oder sie mit Gewalt herschleppen. Statt dessen blitzte seine Hand rot auf, als er Tara damit ins Gesicht schlug, und zwar so fest, daß sie vom Stuhl fiel. Im nächsten Moment erreichte mich ihr Stöhnen. Währenddessen näherte ich mich bereits Wade. Er reichte ihr gerade die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen, als ich sagte: »Wenn Sie sie noch einmal anfassen, dann werden Sie meinen Kragen aktivieren müssen.«
Die beiden Aufpasser im Raum waren ganz Ohr. Daniel trat zurück, damit sie mich im Auge behalten konnten. Tara hielt sich die Wange und sah besorgt zu mir auf. Wades Verwunderung machte Belustigung Platz. Nach einer Weile sagte er: »Schaffen Sie sie in den Stuhl, dann gibt es auch keine Probleme.« Ich reichte Tara meine Hand, die sie bereitwillig ergriff. Wir gingen zu den Stühlen an der Hauptkonsole hinüber, wo sie wortlos links von mir Platz nahm. Ihre Wange lief bereits rot an. Ich ärgerte mich, weil ich Wade nicht ungeachtet der Konsequenzen geschlagen hatte, obwohl mir klar war, daß eine solche Aktion wahrscheinlich eher geschadet als genutzt hätte. Und ich ärgerte mich, weil ich Wade gegenüber eine potentielle Schwäche hatte erkennen lassen, eine Schwäche, aus der er später möglicherweise würde Kapital schlagen können. Als ich jedoch Taras dankbaren Blick bemerkte, verflog mein Ärger wie ein sich auflösender Schatten. Während Wade auf Taras anderer Seite Platz nahm, wandte ich mich wieder dem Bildschirm zu. Wir waren ein paar Meter von der Oberfläche hochgedriftet, daher nahm ich eine weitere Korrektur vor. Daniel setzte sich rechts neben mich. Wade sah wieder auf den Bildschirm und sagte: »Wieso ist die Anzeige eigentlich schwarzweiß? Ist das billiger?« Ich hörte eine gewisse Verärgerung aus seiner Frage heraus, so als hätte er sich über diese Einschränkung nicht geärgert, wenn er nicht aus einem anderen Grund gereizt gewesen wäre. Das war der einzige Hinweis darauf, daß ihm der Vorfall überhaupt nahegegangen war. »Das ist keine Frage der Kosten«, entgegnete ich. »Das ist eine Frage der Praktikabilität. Da die Lichtfrequenz während des Falls zunimmt, würden die Farbtöne der Wiedergabe stark von der Augenhöhe des Betrachters abhängen. Keinen zwei Betrachtern böte sich das gleiche Bild, und wenn man es auf eine Person einstellte, wären die Farbtöne für alle anderen falsch.« Wade ließ sich das einen Moment lang durch den Kopf gehen, dann sagte er: »Na schön. Unsere erste Aufgabe besteht darin, Marj ausfindig zu machen. Wie gehen wir dabei am besten vor?« Ich glaubte schon, Tara werde sich abermals weigern, doch offenbar kam es ihr weniger unloyal vor, Marj ausfindig zu machen, als Wade dabei zu unterstützen, die Schatzkammer des am Horizont sichtbaren Turms auszuräumen. »Im Turm gibt es auf dem ersten Untergeschoß eine große Wandkarte. Daneben ist eine Übersicht der Bewohner angebracht. Falls Jason uns dorthinbringen kann, könnten wir herausfinden, wo Marj wohnt. Wenn sie schon seit über einer Woche ihrer eigenen Zeit hier ist, hat man ihr mittlerweile bestimmt eine Wohnung zugeteilt.« »Also, Jason?« Ich nahm eine weitere Korrektur vor, um unsere Abdrift zu verringern. »Machbar ist es schon. Nicht einfach, aber machbar. Die Tatsache, daß es in Schicht Null Materie gibt, hat hier in Schicht Zehn keine Auswirkungen auf uns. Das einzige wirkliche Problem ist die Beobachtung. Die Scanner wechseln ständig zwischen den Schichten hin und her. Wenn sie in Schicht Null Masse feststellen, vollziehen sie den Übergang nicht und sind geschützt. Wenn sie jedoch nach der Nullschicht überwechseln, und es kommt ihnen eine Masse in die Quere, während sie dort sind, werden sie zerstört. Wenn Sie möchten, daß ich das Schiff mit einem
großen abgeschlossenen Raum überlagere, läßt sich das wahrscheinlich bewerkstelligen. Wenn Sie möchten, daß ich einem Gang folge, sollten Sie mich besser nicht dabei stören, und selbst dann kann ich nicht dafür garantieren, daß es gelingt.« »Es ist ein großer Raum«, sagte Tara. »Hohe Decke, weit voneinander entfernte Wände, mit angrenzenden Tunnelgängen. Der Raum gehört zu dem System unterirdischer Gänge, die zu den Wohngebieten führen.« »Also gut«, meinte ich. »Ich werd’s versuchen.« Ich schaltete sämtliche Scanner bis auf einen aus, um den möglichen Schaden zu begrenzen. Auf diese Weise blieben uns noch dreizehn Ersatzgeräte, sollte der eine Scanner in Schicht Null gegen eine Wand stoßen. Ich erklärte Wade, was ich tat, damit er nicht in Panik geriet. Zusätzlich setzte ich eine Steuerbrille auf. Das Manövrieren auf so engem Raum ließ keinerlei Verzögerungen bei der Steuerung zu. Die Brillenanzeige stellte das Bild, das ich auf dem Hauptmonitor gesehen hatte, farbig dar. Auf einmal zeigte die Vegetation, die zuvor gewirkt hätte, als sei sie verdorrt oder befände sich im Winterschlaf, intensive Grün-, Blau-, Gelb- und Brauntöne. Der Boden war überwiegend mit einem Grasersatz von einer der äußeren Kolonien bedeckt. Dicke, kurze, gelbe Ranken bildeten einen dichten Teppich. Rechts sah man ein Gewächs mit roter Rinde und dickem Stamm, das wie ein gewaltiger Blumenkohl mit einem langen Stiel wirkte. Ich stupste die Steuerung an, erfreut über die gesteigerte Empfindlichkeit, und wir stiegen über die umliegenden Bäume auf. Langsam näherten wir uns dem Gebilde am Horizont, dem Turm der Verehrung. In der klaren Luft sah ich einen Regenbogen, der sich über dem Turm der Verehrung wölbte. Da es am Horizont nicht regnete, verwendeten die Bewohner von Xanahalla wohl ein kunstvolles, technisch aufwendiges Hologramm, aus welchen Gründen auch immer. Grüne und braune Vegetation flitzte an uns vorbei, während wir uns zügig dem Turm der Verehrung näherten. Wir legten etwa ein Drittel der Strecke zurück, ohne irgendwelche Gebäude zu sehen, doch dann tauchten hin und wieder Bauten auf, die sich zwischen die exotischen Pflanzen schmiegten, die bisweilen bis über die Dächer reichten. Auf etwa halber Strecke machten sich Interferenzen bemerkbar. Je weiter wir kamen, desto stärker wurden die Verzerrungen. Ich stoppte das Schiff, nahm die Brille ab und sah wieder das Schwarz-weiß-Bild auf dem Hauptschirm an. Dieses war ebenfalls betroffen. Als ich das Schiff noch ein Stück näher an den Turm heranbrachte, wurden die Interferenzen stärker. »Was ist los?« fragte Wade. »Ein Störsender«, sagte ich, froh darüber, daß sich Wade endlich ein Hindernis in den Weg stellte. »Anscheinend sind die Leute hier doch nicht ganz so unvorbereitet, wie Sie dachten.« »Wie funktioniert ein Störsender?« fragte Daniel im selben Moment, als Wade sagte: »Verdammt!« Das war interessant. Offenbar hatte Wade sein Wissen nicht vollständig mit Daniel geteilt. Ich speicherte diese Information und beantwortete Daniels Frage. Dann setzte ich hinzu: »In
dieser Entfernung ist es kaum mehr sicher, in den Normalraum überzuwechseln. Wenn wir so nah am Störsender sind, daß die Bildschirmanzeige zur Hälfte unter Interferenzen verschwindet, dann würde sich die Lebenserwartung eines jeden, der von hier aus in die Nullschicht überwechselt, nurmehr nach Wochen bemessen. Noch näher dran, und jeder, der überwechselt, wäre zwar noch als Mensch zu erkennen, aber kaum mehr als lebendig zu bezeichnen.« »Glauben Sie, der Sender befindet sich im Turm?« fragte Wade. »Wahrscheinlich«, antwortete ich. »Das läßt sich feststellen.« Ich bewegte die Redshift rechtwinklig zu unserem bisherigen Kurs und versuchte so zu manövrieren, daß die Interferenzen auf dem Bildschirm in etwa gleich blieben. Als wir uns zehn Kilometer um den Turm der Verehrung herumbewegt hatten, sah ich meine Vermutung als bestätigt an. Zu Wade sagte ich: »Wenn Sie jetzt aufgeben, bevor weitere Passagiere oder Besatzungsmitglieder getötet werden, dann werden Sie bestimmt besser fahren, als wenn Sie zulassen, daß die Situation außer Kontrolle gerät.« »Die Situation wird schon nicht außer Kontrolle geraten. Wir haben Waffen an Bord. Jedenfalls danke für Ihren Rat. Ich bin geradezu gerührt.« Wade hatte sich von dem Schock, den die Existenz des Störsenders für ihn bedeutet haben mußte, anscheinend vollständig erholt. Sein Tonfall war sarkastisch und beherrscht, mit einem Unterton von Erwartung darin. Vielleicht war ihm, vom Risiko einmal abgesehen, eine direkte Konfrontation lieber, als im Verborgenen zuzuschlagen und anschließend unbemerkt zu verschwinden. »Gibt es noch ein weiteres Namensverzeichnis?« fragte er Tara. »Mehrere, und zwar weiter vom Turm entfernt. Allerdings befinden sie sich alle innerhalb des Tunnelsystems. Eines befindet sich im Haupttunnel, der den Turm mit dem Raumhafen verbindet.« Auf Wades Anweisung hin kehrte ich die Flugrichtung um und entfernte das Schiff wieder vom Tunnel, damit der Scanner, der nach wie vor zwischen Schicht Zehn und Schicht Null hin und her wechselte, nicht beschädigt wurde. Solange wir über dem Boden waren, schaltete ich einen zweiten Scanner ein, der dem ersten genau gegenüberlag, und setzte dessen Bild in eine Ecke des Bildschirms. Nach kurzem Flug nahm der ferne Turm die Mitte des Bildschirms ein, und das Rückbild zeigte den Raumhafen. »Also gut«, sagte ich. »Wenn Sie mir den Tunneleingang am Raumhafen zeigen, können wir versuchen, ihm zu folgen.« Tara schwieg einen Moment lang. Wegen der Brille konnte ich ihre Reaktion nicht erkennen. Dann sagte sie: »Über die ganze Länge des Haupttunnels gibt es Verbindungswege zur Oberfläche. Im Moment sehe ich keinen, aber wenn Sie langsam auf den Turm zusteuern, werde ich bestimmt einen entdecken.« Ich setzte das Schiff in Bewegung, und der Boden glitt gemächlich unter uns vorbei. Kurz darauf sagte Tara: »Da ist einer.« Ich erwiderte: »Wenn Sie darauf zeigen, hilft mir das nicht weiter. In welchem Quadranten des Bildschirms befindet er sich?« »Oben links.«
Ich sah immer noch nichts. »Und jetzt unterteilen Sie den Quadranten in weitere vier Quadranten. In welchem befindet sich der Eingang?« »Unten rechts. Am Fuße des großen Radalla-Baums.« »Am Fuß dieses übergroßen Blumenkohls? In Ordnung. Ich sehe ihn.« Auf dem Schwarzweiß-Bild hatte sie mehr gesehen als ich auf der farbigen Anzeige. Ich brachte das Schiff näher heran, bis der riesige Stamm des Radalla den Bildschirm ausfüllte. Ich sagte: »Wenn Sie möchten, daß ich da runtergehe, dürfen Sie mich nicht ablenken. Mit Kommandos wie >links<, >rechts<, >stopp< und >Oberfläche< komme ich klar, aber wenn Sie erwarten, daß ich auf ein reichhaltiges Vokabular reagiere, dann sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Was meinen Sie dazu?« »Fangen wir an«, antwortete Wade. »Im Moment wollen wir lediglich wissen, wo sich Marj aufhält. Sobald das erledigt ist, gehen wir wieder nach oben und überlegen uns den nächsten Schritt.« Ich schaltete den hinteren Scanner aus und die Tonübertragung ein. »Falls wir durch eine Tür oder eine Wand hindurchmüssen, muß ich den Scanner ausschalten, sonst besteht die Gefahr, ihn zu verlieren.« Ich steuerte uns näher an den Eingang heran. Der rechteckige Umriß hob sich deutlich von der braun-grauen, knorrigen Oberfläche des Baumstamms ab. Die Tür war in Textur und Farbe dem Baum angepaßt. »Genau wie Winnie-the-Pooh«, meinte Tara leise. »Muß ich diese Anspielung verstehen?« fragte ich. »Nein. Fiel mir bloß gerade so ein.« »Dann bitte jetzt keine Selbstgespräche.« Ich nahm eine letzte Korrektur vor, um die Abdrift minimal zu halten, schaffte es aber nicht, die Werte zu verbessern. Ich holte tief Luft und beugte mich vor. »Dann also los.« Ich steuerte das Schiff näher an den Eingang und schaltete den Scanner im letzten Moment aus. Als ich ihn wieder einschaltete, befanden wir uns bereits im Innern des Gangs. Eine Wendeltreppe führte in die Tiefe. Zum Glück war der Mittelteil der Treppe ausgespart; um die Spirale herumzusteuern und gleichzeitig die Abdrift zu korrigieren, wäre mir niemals gelungen. Unser Scanner sank geradewegs in die Tiefe, während die Stufen an uns vorbeizogen. Nachdem wir den Fuß der Treppe erreicht hatten, behielt ich die Hände auf der Steuerung, um die Abdrift sogleich zu korrigieren, sollten wir Gefahr laufen, gegen eine der Wände zu prallen und den Scanner zu zerstören. Ich drehte das Schiff zu einer weiteren Tür herum. Wir bewegten uns vorwärts, während der Bildschirm leer blieb, dann >machten wir die Augen wieder auf<. Diesmal befanden wir uns in einem Tunnel. Die Bezeichnung, die Tara gewählt hatte, war durchaus zutreffend. Während ich einen endlos langen, geraden Gang erwartet hatte, besaß der Tunnel statt dessen unregelmäßig geformte Wände und eine gewölbte Decke. Der Tunnelquerschnitt war annähernd kreisförmig, doch der mit kleinen, quadratischen gelben Fliesen gekachelte Boden war eben. Auch der Weg, den der Tunnel beschrieb, war geschwungen; vor uns bog er nach links ab. In gewisser Hinsicht sah es hier
gar nicht so anders aus als auf der Redshift. Ich schwenkte den Scanner um 360 Grad. Die Tür zur Wendeltreppe trug die Aufschrift >5.70 W<. Als wir in den Tunnel blickten, der rechtwinklig zu der Richtung abbog, die wir zunächst eingeschlagen hatten, sagte kurz darauf Tara: »Weiter.« Der Tunnel war leer. Beleuchtungskörper waren keine zu sehen; statt dessen strahlte die ganze Tunneldecke ein blaßgelbes Licht aus. Ich steuerte das Schiff den gewundenen Tunnel entlang, wobei wir den Wänden häufig so nahe kamen, daß ich mich unwillkürlich anspannte. Kurz darauf gelangten wir zu einer Kreuzung mit der Bezeichnung >5.50 W<. »Das ist bloß ein Kreistunnel«, sagte sie. »Weiter.« Ich gehorchte. Die Interferenzen auf dem Bildschirm wurden immer schlimmer. Wir flogen noch ein paar Minuten weiter, wobei wir hin und wieder auf verschlossene Türen stießen, die von dem Tunnel abgingen, jedoch auf keine Menschen, bis auf einmal hinter einer Biegung eine Gestalt auftauchte. Der Mann trug ein fließendes weißes Gewand, das an Ärmeln und Saum mit schlichtem schwarzen Band verziert war. Anstatt weiterzufliegen und den Scanner im Moment der Begegnung kurzzeitig abzuschalten, wartete ich, bis der Mann uns erreicht hatte. Daß der Scanner zu Schaden käme, sollte er bei einem seiner Millisekunden-Vorstöße in die Nullschicht gegen den Mann prallen, war unwahrscheinlich, allerdings hätte der Unbekannte möglicherweise gespürt, wie der Scanner gegen ihn stieß, hätte Verdacht geschöpft und Alarm geschlagen. Daher saß ich da, korrigierte hin und wieder unsere Position, da wir erst zur einen, dann zur anderen Seite abtrieben, und versuchte, in der Mitte des Tunnels zu bleiben. Währenddessen stieß ich hervor: »Ein Bekannter?« In dem Moment, als Tara »Nein, ein Fremder« sagte, mußte ich den Scanner ausschalten. Für die Dauer einer Sekunde bemühte ich mich, den Zyklus der Kurskorrekturen fortzuführen, mit dem ich uns in der Mitte gehalten hatte, dann schaltete ich den Scanner wieder ein. Vor uns war alles frei; der Mann befand sich hinter uns. Ich setzte den Weg zum Turm der Verehrung fort. Das war nun wirklich ein mühsames Unterfangen. Die Ziffern auf den geschlossenen Türen in den Tunnelwänden nahmen allmählich ab. Uns begegneten noch weitere Personen, darunter ein Paar, das Tara kannte. Das Rauschen der Bildwiedergabe nahm stetig zu, bis wir zu einer größeren Kreuzung gelangten, die mit >5.00< bezeichnet war. Außer dem Haupttunnel und einem rechtwinklig angeordneten Quertunnel gab es noch einen dritten Tunnel, so daß ein kreisförmiger Raum mit sechs Ausgängen entstanden war. »Rechts abbiegen«, sagte Tara. »Wandschirm.« Ich schwenkte nach rechts und erblickte eine große Karte mit einer langen Namensliste. Die Liste schien Tausende von Namen zu umfassen. Ich steuerte das Schiff näher an die Karte heran. Sie wirkte eher wie ein von einem Kreuz überlagertes Bullauge, betrachtet durch eine verzerrende Flüssigkeit. Im Zentrum der Karte trafen sich hauptsächlich Tunnel, die entweder in Ost-West oder in Nord-Süd-Richtung ausgerichtet waren, außerdem gab es immer wieder Verzweigungen, so als stellte die Karte
ein bizarres Wurzelgebilde mit Trieben dar. Am Schnittpunkt eines Osttunnels und eines der großen Kreise fand sich erwartungsgemäß die Aufschrift >Sie befinden sich hier<. Ich konnte lediglich die größer geschriebene Aufschrift lesen. Die einzelnen Namen auf der Liste konnte ich selbst dann nicht erkennen, als ich näher heranging und die Liste auf dem Bildschirm vergrößerte. Unsere Abdrift war immer noch zu groß. Ich entfernte das Schiff wieder ein Stück weit von der Wand und gab Wade die nötigen Informationen, die er brauchte, um die Aufzeichnung abzuspielen. »Merken Sie sich das«, sagte ich. »Standbild rückwärts. Vergrößern auf Lesegröße.« Wade hatte sogleich begriffen. »Wo sind die Schalter für Rücklauf und Vergrößerung?« Ich tastete vor Daniel nach den Schaltern auf dem rechten Teil der Konsole. »Rücklauf. Vergrößerung. Auf dem linken Schirm.« Während die anderen nach Marj Lendelsons Adresse suchten, konzentrierte ich mich darauf, das Schiff in der Nähe einer Wand zu halten, damit niemand von hinten in den Scanner hineinlief. Vom Turm der Verehrung her näherte sich eine Gruppe von Gestalten in langen Gewändern. »In Ordnung. Das ist es«, sagte kurz darauf Wade, wahrscheinlich an Daniel gewandt. »Und jetzt vergrößern. Gut. Größer. Der Buchstabe >L< ist dort unten. Gut. Tiefer.« Wade blieb lange Zeit still. Die Gruppe näherte sich der Kreuzung. Schließlich sagte Wade: »Das begreife ich nicht. Ich verstehe nicht, wieso ihr Name nicht auf der Liste steht. Tara, du hast mir doch gesagt, dein Name hätte schon einen Tag nach der Ankunft auf der Liste gestanden.« »Das stimmt. Die Namenslisten werden jedesmal aktualisiert, wenn ein Schiff eintrifft. Und sobald sich die Neuankömmlinge entschieden haben, wo sie wohnen wollen, werden ihre Adressen angezeigt. Wenn sie hier angekommen ist, müßte ihr Name eigentlich auf der Liste stehen.« »Aber sie muß hier sein«, sagte Wade mit erhobener Stimme. »Der Sender ist doch auch hier.« »Vielleicht hat man sie entdeckt«, meinte ich und brachte das Schiff wieder in Position. »Vielleicht wurde sie ausgeschlossen.« Wade machte gerade eine herausfordernde Bemerkung, als ich einen Blick auf ein Gesicht erhaschte, das mir bekannt vorkam. Ich sog scharf den Atem ein und beugte mich sogleich vor, ohne etwas zu sagen. Eine alte Frau mit einem runden Gesicht am Ende der Gruppe bog gerade in einen der Quertunnel ein. Sie trug eine Kapuze, und ich hatte ihr Gesicht nur einen Moment lang gesehen, doch ich mußte herausfinden, ob ich mich getäuscht hatte. Ich veranlaßte das Schiff, ihr zu folgen. Ich merkte, daß ich Herzklopfen hatte. Mein Gesicht war heiß und prickelte. Wade sagte: »Was, zum Teufel, machen Sie da, Jason?«
Ich gab keine Antwort. Ich folgte den langgewandeten Gestalten. Sechs oder sieben Personen gehörten der Gruppe an, und sie schritten eilig aus. Jetzt sah ich nur noch ihre Rücken. Vier von ihnen trugen Kapuzen. »Jason, was geht hier vor?« Wades Tonfall wurde schärfer. »Bloß einen Moment«, sagte ich. Die Gestalten bogen um eine Tunnelbiegung. Als ich ebenfalls um die Kurve bog, wurde Wades Stimme lauter. Anscheinend war er aufgestanden und neben mich getreten. »Halten Sie an! Sofort!« »Gleich.« Die Gruppe war vor einem verbreiterten Tunnelabschnitt stehengeblieben. Sie bildeten einen Kreis, mit den Gesichtern nach innen. In meine Richtung schauten zwei der Kapuzenträger. Ich bewegte das Schiff nach links, damit ich auch die anderen beiden Gesichter sehen konnte. Ich hatte gerade einen zweiten kurzen Blick auf das fragliche Gesicht erhascht, als Wade mir gegen das Ohr schlug, so daß ich zur Seite fiel, und er mir die Steuerbrille herunterriß. »Noch so ein Trick, Jason, und es ist aus mit Ihnen«, sagte Wade. »Ja, klar«, erwiderte ich und sah gleichzeitig zu dem großen Bildschirm auf, um einen letzten Blick auf den Tunnelabschnitt zu werfen, der zuvor im Bild gewesen war. Dann drifteten wir auch schon aus dem Tunnel heraus, und der Bildschirm wurde schwarz. »Hören Sie mir überhaupt zu?« fragte Wade. »Bleibt mir denn eine andere Wahl?« Ich legte die Hände wieder auf die Steuerung und bewegte das Schiff hin und her, doch entweder der Scanner war zerstört, oder ich verfehlte den Tunnel. Ich nahm die Hände von der Steuerung. »Was ist bloß in Sie gefahren?« Anscheinend nahm Wade meine kleine Eigenwilligkeit ziemlich ernst. Ich blickte zu Tara. Sie wirkte verwirrt und besorgt. Sie neigte den Kopf. Ich wandte mich wieder Wade zu. »Alles in Ordnung. Ich dachte bloß, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne. Aus meiner Kindheit.«
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Kapitel 11
Vorstoß nach Xanahalla Wade und Tara redeten gleichzeitig. Wade sagte: »Bloß weil Sie einen Jugendfreund gesehen haben, hätten Sie uns beinahe umgebracht?« »War es wirklich ein Freund?« fragte Tara. Wade entgegnete ich: »Immer mit der Ruhe. Es wird nicht wieder vorkommen.« An Tara gewandt, setzte ich in milderem Ton hinzu: »Nein. War es nicht.« Bestimmt hatte ich mich getäuscht. Die Wahrscheinlichkeit sprach jedenfalls dagegen, daß es sich bei der Frau wirklich um eine ehemalige Aufseherin von Redwall handelte. Ich hatte ihr Gesicht nur so kurz gesehen, daß ich die meisten Einzelheiten wohl mittels meiner Vorstellungskraft ergänzt hatte. Vielleicht hatte mein Unterbewußtsein mehr Erinnerungen an damals aufbewahrt, als mir klar war. Ich schauderte. »Bringen Sie uns wieder an die Oberfläche, Jason.« Wade hatte es anscheinend aufgegeben, mir weitere Einzelheiten entlocken zu wollen. Ich übernahm die Steuerung und entspannte mich allmählich wieder. Während des Aufstiegs überprüfte ich den Zustand des Scanners. Das sah gar nicht gut aus. Anscheinend war er von den Tunnelwänden ernsthaft beschädigt worden. Als ich den Eindruck hatte, wir wären wieder draußen angelangt, schaltete ich einen anderen Scanner ein. Diesmal wurde der Bildschirm hell, und wir blickten von oben auf den Blumenkohlwald hinunter. Ich hob die Steuerbrille vom Boden auf und legte sie auf die Konsole. Anscheinend war sie unbeschädigt. »Also gut«, sagte Wade. »Ich glaube, wir sollten besser weitermachen.« »Heißt das, wir sollen Marj vergessen?« fragte Daniel. »Wir können nichts tun, es sei denn, wir durchsuchen die Häuser einzeln, und das würde eine Ewigkeit dauern. Wenn sie erfährt, daß der Schatz verschwunden ist, weiß sie auch, daß es Zeit für sie wird, zu verschwinden. Sie wird schon wissen, wie sie mich finden kann.« Wade wandte sich mir zu. »Bleiben Sie von der Konsole weg. Daniel und ich müssen ein paar Dinge besprechen.« Tara und ich setzten uns auf unsere alten Plätze. Wade und Daniel traten in eine Ecke und unterhielten sich leise. Die Wachposten beobachteten mich aufmerksam. »Dann war es also kein Freund?« flüsterte Tara. Zwischen ihren Brauen hatten sich wieder winzige Sorgenfalten gebildet. Ich flüsterte zurück: »Wenn das tatsächlich die Frau war, die ich meine, dann war sie bestimmt keine Freundin, aber ich habe mich wohl getäuscht. Ich habe sie nur einen Moment lang gesehen.«
»Was glauben Sie denn, wer das war?« »Neddi Pulmerto. Eine Aufseherin von Redwall. Nicht bloß Aufseherin, sondern auch Miteigentümerin. Neddi ist ein Macht-Broker, ständig bemüht, ihre Macht und ihren Reichtum zu mehren. Und ihre Lust.« »Sie haben ziemlich heftig auf sie reagiert.« Ich zögerte. »Manche >Geschäftsleute< geben sich mit dem täglichen Kleinkram gar nicht erst ab. Sie erwerben beispielsweise eine Weinhandlung, lassen sie von jemand anders führen und schauen hin und wieder vorbei. Wäre Redwall eine solche Weinhandlung gewesen, so hätte sich Neddi bei ihren Besuchen jeweils einen Jahrgang vorgenommen und solange davon getrunken, bis sie besoffen gewesen wäre. Ein unbekannter Kunde, der sich später als psychopathischer Schlitzer erwiesen hätte, wär mir jederzeit lieber gewesen. Aber es ist ausgeschlossen, daß sie das dort unten war. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie dazu gebracht haben sollte, zu bereuen.« Wade und Daniel hatten ihre Besprechung beendet und kamen wieder zu uns zurück. Wade sagte: »Kurz nach Einbruch der Dunkelheit landen wir. Bis es Tag wird, sollten wir fertig sein.« Ich erwiderte erschöpft: »Wird es nicht allmählich Zeit, daß Sie Ihr Vorhaben aufgeben? Sie können in der Nähe des Turms der Verehrung nicht in den Normalraum überwechseln. Folglich müssen Sie zu Fuß hineingehen. Es braucht nur jemand den Unterschied zwischen einem Gewand und einer schwarzen Montur zu bemerken, und Sie sind erledigt.« »Sie unterschätzen uns«, erwiderte Wade. »Bloß weil wir gehofft haben, es würde leicht sein, heißt das noch lange nicht, daß wir nicht auch für andere Fälle vorbereitet wären. Wir haben einen großen Vorrat an Gewändern dabei, unter denen wir die Schulterhalfter verbergen können. Diese weiten Ärmel sind für unsere Zwecke nämlich hervorragend geeignet, wissen Sie. Davon einmal abgesehen, verfügen wir über eine ehemalige Bewohnerin des Planeten, die sich hier auskennt und dafür sorgen wird, daß wir als Einheimische durchgehen.« Tara schüttelte den Kopf und sagte: »Dir würde ich nicht mal den Weg zur Toilette zeigen.« »Und du, Tara, unterschätzt die Wirkung des Schmerzes und anderer Formen der Gewalt.« Wade wandte sich mir zu. »Und ein gewisser Offizier der Redshift wird dafür garantieren, daß wir anschließend problemlos wieder an Bord gehen können.« »Jemand, den ich kenne?« fragte ich. »Sie, Jason. Ich habe das Gefühl, daß Sie gefügiger sein werden, wenn wir Tara bedrohen. Und umgekehrt. Wenn einer von Euch beiden wegzulaufen versucht, wird der andere auf der Stelle getötet. Wenn Ihr beide zusammen flüchten solltet, töten wir ein Dutzend Leute von der Besatzung. Aber wir sollten uns nicht diesen negativen Gedanken überlassen. Seien Sie einfach brav, und alles wird gut.«
Das letzte, was ich von der Brücke der Redshift sah, bevor ich von Bord ging, waren Bella und Razzi. Razzi wirkte unverletzt, aber in höchstem Maße verärgert. Sie saß vor der Steuerkonsole, flankiert von zwei schwarzgekleideten Aufpassern. Ihre Bewegungen waren
eckig, ruckhaft, so als müßte sie sich die Situation bei jedem Handgriff mühsam in Erinnerung rufen. Sie stellte die Bildschirmvergrößerung höher, dann legte sie die Hand auf das Steuerelement, mit dem sie den Sprungkorridor näher an die Planetenoberfläche heranbugsieren würde. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie bei jedem Handgriff laut geflucht hätte, doch das einzige Geräusch, das man aus ihrer Richtung vernahm, war ein gelegentliches Klatschen oder Rummsen. »Seien Sie vorsichtig, Jason!« rief sie mir nach, als Wade uns hinausgeleitete. Daniel schob mich durch die Tür. Er ging dasselbe Risiko ein wie ich, doch ich war zu sehr damit beschäftigt, nach einem Haken in Wades Plan zu suchen.
Auf dem Korridor von Ebene Sieben hatte einer von Wades Leuten bereits Gewänder und Sprunganzüge bereitgelegt. Zwei Mitglieder der Gruppe waren auf der Brücke geblieben, und mit den vieren hier im Gang sowie Wade und Daniel waren das offenbar auch schon alle. Tara und ich warteten unter Bewachung, während die anderen die Hemden auszogen, damit keine Ärmel unter den Gewändern hervorschauten. Die eine Frau des Teams, die mit dem kurzgeschnittenen blonden Haar, wandte uns kurz den Rücken zu, während sie sich umkleidete. Unter den Gewändern trugen sie alle zwei Waffen, die jeweils in einem Schulterhalfter verstaut waren. Die eine Waffe war ein Nadler, in dessen Kolben unterschiedliche Nadeln mit vermutlich entweder betäubender oder tödlicher Wirkung untergebracht waren. Bei der zweiten Waffe handelte es sich um eine unhandliche Laserpistole, die nicht nur bei Fleisch und Knochen Wirkung zeigen würde. Wade und Daniel hatten je ein Hyperraumfunkgerät am Gürtel befestigt. Als Wades Team bereit war, gab man Tara und mir Gewänder. Tara zog geschickt die Arme in ihren Morgenmantel, so daß er wie ein Cape an ihr herunterhing. Sie legte das auf Xanahalla vorgeschriebene Gewand an, ließ den Morgenmantel fallen, so daß er zu ihren Füßen zu liegen kam, dann streckte sie die Arme durch die gewaltigen Ärmel. Wade gab ihr ein Paar Schuhe. Ich zog das zerrissene Uniformhemd aus, wobei der Stoff über die Schnittwunde an meinem Arm streifte, was mir ein Brennen verursachte. Der Kugelschreiber fiel mir aus der Hemdtasche, und ich hob ihn auf und steckte ihn in die Gesäßtasche meiner Hose. Als ich mich anschickte, das Gewand überzustreifen, sagte hinter mir Wade: »Jason, ich hätte wirklich nicht gedacht, daß Sie es auf die harte Tour mögen.« Als Tara bemerkte, daß Wade meinen Rücken ansah, trat sie einen Schritt näher. Mit Wade konnte ich unmöglich über die vielen Narben auf meinem Rücken oder über Redwall sprechen. Ich sagte: »Jeder nach seiner Facon.« Ich streifte mir das Gewand über den Kopf und bedeckte meinen Rücken, doch da hörte ich Tara bereits nach Luft schnappen. Ich wich ihrem Blick aus. Ich wollte kein Mitleid, sollte sie denn welches empfinden. Statt dessen sah ich wieder Wade an und forderte ihn praktisch heraus, mehr zu sagen. Erstaunlicherweise ließ er das Thema fallen.
Alle bis auf drei Bandenmitglieder legten nun Sprunganzüge an, während man Tara und mich die ganze Zeit über im Auge behielt. Auf Xanahalla brach die Nacht an. Es wurde allmählich Zeit. Wade rief von einem Komm-Terminal aus auf der Brücke an. Razzi hielt das Schiff in Position und bestimmte die Sprungkoordinaten, damit wir beim Übergang zur Nullschicht nicht zu tief fielen. Mit einem Funkfeuer hätten wir den Übergang so gestalten können, daß wir unmittelbar auf der Oberfläche herausgekommen wären. Ohne Funkfeuer bestand die Gefahr, daß wir knietief im Boden landeten, wenn wir keinen Sicherheitsabstand für die Abdrift einhielten. Die Redshift war darauf angelegt, ganze Sonnensysteme zu erfassen, daher war es schwierig, den Übergangspunkt auf die Position der Scanner abzustimmen. Der erste aus Wades Team, ein stämmiger Mann mit Tonnenbrust und buschigen Augenbrauen, rückte sich den Helm zurecht. Auf ein Signal von der Brücke hin hob Wade den Daumen, und der Mann drückte den Schalter für Übergang. Er verschwand, und im nächsten Moment hörte ich, wie die Luft mit einem Plopp in das Vakuum stürzte, das er hinterlassen hatte. Ein weiteres Signal von der Brücke meldete, daß der erste Reisende sicher draußen angekommen war, worauf eine weitere Gestalt im Sprunganzug verschwand. Als nur noch Tara und ich sowie Wade, die blonde Frau und ein weiterer Schwarzgekleideter übrig waren, reichte Wade mir einen Sprunganzug. Während ich mich bemühte, das Gewand in dem Anzug unterzubringen, bemerkte ich, daß die Bruststeuerung auf Fernbedienung eingestellt war, was üblicherweise der Fall war, wenn man einen Verletzten transportieren mußte. Wade steuerte meinen Sprung; ich konnte den Anzug nicht selbständig bedienen. Immerhin war Wade so rücksichtsvoll, mich vorzuwarnen, bevor er den Schalter drückte. Ich machte die Augen nicht rechtzeitig zu, daher bekam ich den Lichtblitz mit, der mit dem Übergang zur Nullschicht einherging. In dem Moment, als sich meine Augen der Umgebung anpaßten, fühlte ich mich schwerelos. Mein Gesichtsfeld trübte sich, und dann erblickte ich einen halben Meter unter mir den Erdboden. Ich fiel auf die gelbe, vegetationsgepolsterte Oberfläche von Xanahalla hinunter. Daniel hatte seinen Anzug schon wieder abgelegt und den Aufpassern auf der Brücke vermutlich bereits signalisiert, daß er sicher gelandet war. Ich entfernte mich von der Landestelle und zog den Sprunganzug aus. In weniger als zwanzig Metern Entfernung ragte einer der riesigen, rötlich-braunen Blumenkohlbäume auf. In den Stamm war eine Tür eingelassen. Die gelben Ranken gaben so leicht unter meinen Füßen nach, daß ich mir sicher war, in der zertrampelten Pflanzendecke würden dauerhafte Fußabdrücke zurückbleiben, doch dann merkte ich, daß sich die Ranken sogleich wieder elastisch aufrichteten. Der eindunkelnde Himmel war dort, wo die Sonne hinter dem Horizont versunken war, malvenfarben. In der Höhe funkelten hell die Ringe am dunkelblauen Himmel. Ich hatte einmal einen Unterhaltungsfilm mit dem Titel Der Zauberer von Oz gesehen. Zu Anfang hatte ich gemeint, die Wiedergabe sei defekt; das Bild war flach. Als der Hauptdarsteller jedoch an irgendeinem phantastischen Ziel eintraf, wurde das Bild auf einmal dreidimensional. Als ich in die Nullschicht überwechselte, hatte ich das gleiche Gefühl wie damals beim Anschauen des Films.
Um mich herum gab es mehr Grünschattierungen, als ich im ganzen letzten Jahr gesehen hatte. Der süßliche Duft erinnerte mich an meinen einzigen Besuch in einem Gewächshaus. Eine sanfte Brise brachte Kühlung. Während ich so dastand und mir in dem Gewand ziemlich dumm vorkam, tauchte plötzlich Tara auf und fiel ein kurzes Stück herab auf den Boden. Sie wich seitlich aus, nahm den Helm ab und schüttelte sich das Haar frei. Sie wirkte traurig in dem düsteren Licht. Kurz darauf machte es abermals Plopp, und ein leerer Raumanzug plumpste auf den Erdboden. Daniel zog ihn vom Auftreffpunkt weg und holte eine kleine Aktentasche heraus. Mit drei weiteren Plopps erschienen Wade und die übrigen beiden Schwarzgekleideten auf der Planetenoberfläche. Kurz darauf waren alle mit Gewändern bekleidet und stellten sich im Kreis auf. »So«, meinte Wade. «Dann haben es also alle geschafft. Gut.« Sein Mund bewegte sich synchron zu seinen Worten. Es dauerte einen Moment, bis ich Sprache und Sicht wieder synchronisiert hatte. Ich schnippte leise mit den Fingern und wunderte mich darüber, daß ich das Geräusch so deutlich orten konnte. »Noch etwas, bevor wir aufbrechen«, sagte er. »Die Kragen.« Zuerst dachte ich, Wade wolle sie aktivieren, doch das tat er nicht. Ich hatte mich schon vorher gefragt, wie wir uns mit den Kragen unauffällig bewegen sollten. Offenbar waren die Kragen jetzt, da wir uns in einer Umgebung befanden, in der normale Waffen noch wirkungsvoller waren, nicht mehr notwendig. Daniel näherte sich Tara und mir und drückte die beiden rechten Schalter an seiner Handgelenksteuerung, worauf unsere Kragen aufschnappten. Zwei Schwarzgekleidete sammelten die Raumanzüge, Kragen und Steuereinheiten ein und versteckten sie unter einem ausladenden, smaragdgrünen Strauch, der größer war als ich. Die Ausrüstungsgegenstände waren offenbar für unsere Rückkehr aufs Schiff gedacht, allerdings fragte ich mich, wie viele von uns diese Reise tatsächlich antreten würden. »Vergeßt nicht, was ich Euch gesagt habe«, meinte Wade zu Tara und mir. »Wenn ich mich recht erinnere, ging’s darum, daß wir uns dicht bei unserem Reiseleiter halten und uns nicht verlaufen sollten«, erwiderte ich. Wade fixierte mich einen Moment, dann sagte er: »So ungefähr. Gehen wir.« Wade öffnete die Tür im Stamm des Blumenkohlbaums und bedeutete Tara voranzugehen. Ich kam als nächster, gefolgt von Wade und den anderen der Gruppe. Wenn man mich vor einem Monat gefragt hätte, was ich am heutigen Tag wohl tun würde, dann wäre ich bestimmt nicht darauf gekommen, daß ich in Begleitung einer Gruppe Bewaffneter in langen Gewändern, die es darauf abgesehen hatte, Xanahallas Tafelsilber zu stehlen, eine Wendeltreppe im Innern eines Baum hinuntersteigen würde. Das leise Echo unserer Schritte erreichte uns so rasch, daß ich zunächst ein wenig Platzangst bekam, doch dann sagte ich mir, daß es bloß an der ungewohnten Umgebung lag. In Wirklichkeit war die Treppe geräumiger als die Treppen auf der Redshift. Daß ich die Geräusche auf einmal wieder orten konnte, vermittelte mir ein ähnliches Gefühl, als habe man mir eine Augenklappe abgenommen, die ich lange Zeit getragen hatte.
Die Wände waren blau, daher verstärkten sie den klaustrophobischen Eindruck. Die Farbe Blau kündete normalerweise von der raschen Annäherung eines Objekts, so daß die Wände auf uns einzustürzen schienen, als wollten sie uns jeden Moment zerquetschen. Wir vollendeten unbeschadet zwei Umläufe und erreichten den Boden. Die vor uns liegende Tür mit der Aufschrift >Tunnel< führte zweifellos zum Haupttunnel, allerdings ging noch eine weitere Tür vom Treppenhaus ab. »Wo führt die hin?« fragte ich Tara. »Dahinter werden wohl Reinigungsgeräte verwahrt, nehme ich an.« Ich versuchte die Tür zu öffnen, doch sie glitt nicht beiseite. Sie ließ sich auch nicht drehen. Wade schob mich von der Tür weg, auf Tara zu. »Gehen wir. Bis jetzt gibt es noch keinen Dreck wegzuräumen.« Mich hätte eher interessiert, ob sich der Raum als vorübergehendes Versteck eignete. Ich ging davon aus, daß Wade nicht für jede Eventualität vorausgeplant hatte - oder daß es mir irgendwie gelingen würde, seine Pläne zu vereiteln. Andernfalls hätten Tara und ich nur noch wenige Stunden zu leben. Tara schob die Tür zum Tunnel auf. Wir traten nacheinander auf den leeren, mit gelben Bodenfliesen ausgelegten Gang und folgten Tara, die sich nach rechts wandte. Das Echo unserer Schritte erreichte uns teilweise erst mit großer Verzögerung, deshalb fühlte ich mich hier wohler als auf der Treppe. Ich ging neben Tara, und Wades Gruppe folgte uns in Zweierreihen. Tara hatte recht gehabt; abends waren kaum Leute unterwegs. Während der ersten Viertelstunde, in der wir rasch ausschritten, begegneten wir niemandem. Währenddessen hatte ich Gelegenheit, mir Gedanken darüber zu machen, was sich wohl in Wades Aktentasche befinden mochte. Was immer es sein mochte, es war anscheinend so wertvoll, daß er in Kauf nahm, damit aufzufallen. Als ich mich umsah, bemerkte ich, daß die Blonde die Aktentasche unter dem Gewand versteckt hatte. Ihr linker Arm steckte innerhalb des Gewands, und beim Gehen zeichneten sich unter dem fließenden Stoff bisweilen die Umrisse der Aktentasche ab. In unregelmäßigen Abständen waren Türen in den Tunnelwänden. Einige waren mit Namen beschriftet und führten wahrscheinlich direkt zu irgendwelchen Häusern. Andere waren mit Ziffern und Buchstaben gekennzeichnet, was Tara zufolge darauf hindeutete, daß es sich um kurze Nebentunnel handelte, die jeweils zu einer Ansammlung von Häusern führten. Hin und wieder kamen wir auch an einer unbeschrifteten Tür vorbei. Als ich mich bei Tara danach erkundigte, meinte sie, hinter diesen Türen seien Putz- und Wartungsgeräte untergebracht, jedenfalls habe man ihr das gesagt. Zweimal versuchte ich zu Wades Verärgerung, eine solche Tür zu öffnen. Die erste Tür war verschlossen; hinter der zweiten standen mehrere reglose Reinigungsautomaten, die ihre Batterien aufluden. Kurz vor einer Kreuzung hätten wir beinahe einen einzelnen Fußgänger überholt, doch gerade in dem Moment, als ich um eine Biegung bog, wandte er sich in einen Seitentunnel. Wir gingen langsamer, um ihm ausreichend Vorsprung zu geben, bevor wir die Kreuzung überquerten, doch erwies sich unsere Vorsicht als übertrieben. Als wir die Kreuzung erreichten, war er überhaupt nicht mehr zu sehen. In der Tunnelwand bemerkte ich eine Tür. Die Tür war zu weit entfernt, als daß man die Aufschrift hätte erkennen können.
An einer Wand des erweiterten Kreuzungsbereichs hing ein großer Wandmonitor mit einer Liste der Einwohner. Marj Lendelsons Name fehlte auch hier. Als wir uns dem Turm der Verehrung näherten, trat Taras Wert als Führerin immer deutlicher zu Tage. Kreuzungen, auf die drei oder vier Tunnel mündeten, erschwerten zunehmend die Orientierung, zumal die Tunnel auch immer abruptere Wendungen beschrieben. Ich hatte das Gefühl, ich befände mich im Bau von Riesenkaninchen, welche die Gänge unter Drogeneinwirkung angelegt hatten. Schließlich mündete der Tunnel auf einen geraden Gang. An dessen Außenwand mündeten noch zahlreiche andere Tunnel, deren Abstand kaum größer als ihr Durchmesser war. An der Innenwand des Gangs waren Türen, für jeden Tunnel eine. »Wir sind da«, meinte Tara leise. »Das ist der Turm der Verehrung.« Sie blieb stehen und wandte sich an Wade. »Du kannst es dir immer noch anders überlegen. Sie werden es bestimmt merken, wenn hier irgend etwas passiert. Wir haben nicht die geringste Chance.« »Dann brauchst du dir ja auch keine Sorgen zu machen. Wenn wir geschnappt werden, brauchst du ihnen bloß alles zu erklären. Aber man wird uns nicht schnappen. Los, weiter!« Tara näherte sich einer Tür. Nicht zum erstenmal fragte ich mich, ob Wade mich vielleicht bloß als Geisel mitgenommen hatte. Außerdem wunderte ich mich darüber, daß wir keinem einzigen Schlaflosen begegnet waren. Als Tara sich der Tür näherte, die zum Aufzug führte, ertönte eine angenehm modulierte Stimme. »Keine Wartezeit auf diesem Stockwerk«, sagte sie. Wir zwängten uns in die Kabine. Der Aufzug war das prosaischste an Technik, was mir hier bislang begegnet war. Er war zwar in seinem Design recht ausgefallen, hätte ansonsten aber auch aus einem mehrere hundert Jahre alten Bürogebäude stammen können. Abgesehen von dem Bedienungsfeld war er vollständig mit Spiegeln verkleidet. Die Stimme sagte: »Bitte treten Sie zurück, damit ich die Tür schließen kann.« Das Tastenfeld war simpel gestaltet. Ein beleuchtetes Feld mit Folientastatur, das mit einem siebenzackigen Stern geschmückt war, zeigte an, daß wir uns auf der Haupttunnelebene befanden, der obersten von zwei unterirdischen Ebenen. Über uns gab es etwa ein Dutzend Etagen, die erste davon das Erdgeschoß des Turms. Über der Etagenanzeige befand sich noch eine Balkenanzeige, der zu entnehmen war, daß wir fast bis in die Spitze des Turms fahren konnten. Unter uns befand sich eine Wartungsebene mit der Aufschrift: Kein Zutritt für Unbefugte. Diese Ebene war zweifellos durch eine Zahlenkombination oder ein Paßwort geschützt. Tara wollte das Feld für die Hauptebene drücken, doch Wade fiel ihr in den Arm. »Nicht. Verschaffen wir uns erst einmal einen Überblick.« Er drückte die Drei. Der Aufzug sagte: »Dritter Stock« und setzte sich gemächlich in Bewegung. Wade drückte abermals auf die Anzeige, worauf sich die Beschleunigung verdreifachte. Als wir den dritten Stock erreicht hatten, blickte nur Tara in die richtige Richtung, als der Aufzug sagte: »Die Innentür wird geöffnet.« Während sich der Aufzug auf der anderen Seite weit öffnete, wurden mir die gewaltigen Ausmaße des Turms der Verehrung klar. In der Ferne sah ich die gegenüberliegende Wand, die gesäumt war mit winzigen rechteckigen
Aufzugtüren. Die Wand war so weit entfernt, daß die Einzelheiten verschwammen. In der Mitte des Bodens war ein großes Loch ausgespart, das durch ein Geländer gesichert war. Selbst in der künstlichen Beleuchtung funkelte es, als wäre es aus poliertem Gold. In der Decke war ein ebensolches Loch. Tagsüber mußte der Eindruck noch spektakulärer sein. Hätte es auf der Redshift einen Raum vergleichbarer Größe gegeben, so hätte man etliche Sekunden weit in die Vergangenheit blicken können. Der Aufzug sagte nichts mehr, nachdem die Tür aufgegangen war, wahrscheinlich deshalb, weil er darauf programmiert war, im Innern des Turms der Verehrung Schweigen zu bewahren. Auf Wades Kommando hin traten wir aus dem Aufzug und nahmen in der Nähe der Tür Aufstellung. Ich überlegte gerade, wie die Wirkung wohl bei Tag sein mochte, als ich bemerkte, daß es sich bei den dunklen Abschnitten zwischen den fernen Aufzugtüren wohl um Fenster handeln mußte. Ich wandte mich zu dem schwarzen, glänzenden Fenster neben unserem Aufzug um. Als ich die Augen mit den Händen abschirmte, konnte ich die Sterne erkennen. Teilweise war der Himmel von den Ringen verdeckt. Ich entfernte mich wieder vom Fenster, weil ich fürchtete aufzufallen, doch wahrscheinlich wirkte ich auf die Einheimischen normaler, als ich mich in dem Gewand fühlte. In den vier Ecken des Raums waren Türen, die wahrscheinlich zu den Treppen führten, die Tara erwähnt hatte, über die man zur Spitze des Turms gelangte. Diese Etage wirkte menschenleer und still. Abgesehen vom leisen Schlurfen unserer Gruppe, war es hier absolut still. Wade bedeutete uns, wir sollten uns zur Mitte begeben. So ehrfurchtsvoll, wie wir dreinschauten, wirkten wir wohl eher wie eine Gruppe Neuankömmlinge auf Besichtigungstour als wie Piraten. Die Etage war in einzelne Abschnitte unterteilt. In regelmäßigen Abständen waren Gebetsbänke aufgestellt, die alle zur Mitte hin ausgerichtet waren. Wo sie von breiten Gängen getrennt wurden, war der Boden mit komplizierten Mustern geschmückt. Neben den Gängen waren lange, schmale grüne Bänke scheinbar wahllos angeordnet, doch war ich mir sicher, daß sie symmetrisch und geordnet wirkten, wenn man von oben auf die Ebene hinuntersah. Über uns war eine hohe, grüne Decke, die den Boden der vierten Etage bildete. Durch die runde Öffnung in der Mitte sah man die Geländer des vierten und fünften Stocks. Anscheinend hatte man ausgesprochen feste Materialien verwendet, denn die Decke wurde allein von den Wänden getragen. Ich entdeckte weder Träger noch Stützpfeiler. Der Boden war mit einer dünnen, transparenten Schicht bedeckt, welche die Verzierungen unter unseren Füßen schützte. Prachtvolle metallische Rot- und Blautöne wechselten sich mit funkelnden Abschnitten in Gold und Silber ab, die von Platin gesäumt waren. In der Nähe der Mittelöffnung bedeutete uns Wade stehenzubleiben. Er und Daniel traten vorsichtig ans Geländer. Als sie sich vergewissert hatten, daß niemand in der Nähe war, winkte Wade uns zu sich. Obwohl wir uns lediglich im dritten Stock befanden, war ich von der Höhe doch beeindruckt. Durch die Bodenöffnung sah man eine riesige Scheibe aus poliertem Silber, die in den Boden eingelassen war. Ihr Durchmesser mochte zehn Meter betragen, ihre Höhe einen
Meter. Auf der Scheibe prangte ein großes goldenes, stilisiertes >X<. Die Schatzkammer. Ich schaute hoch. Am Geländer des fünften Stocks meinte ich eine Bewegung wahrzunehmen, doch als ich in die Richtung blickte, sah ich nichts. Ich sah weiter nach oben. Es klingt vielleicht komisch, daß mir das Nachoben-Schauen Platzangst bereitete, doch so war es. Alles drehte sich um mich, und ich hatte auf einmal das Gefühl, ich stünde am Rande eines riesigen Lochs mit vier flachen, abschüssigen grünen Rändern, die sich an einem fernen Punkt trafen. Daß ich mir beim Umherschauen den Hals verrenkte, verstärkte mein Unbehagen noch, denn ich fühlte mich exponiert und schutzlos. Die Seiten des Turms über der höchsten Ebene wirkten kahl. Zwanzig senkrechte Aufzugschächte, fünf an jeder Wand, reichten fast bis in die Spitze. Bei den undeutlich erkennbaren waagerechten Linien mußte es sich um die Verbindungswege zwischen den Aufzügen handeln, die Tara erwähnt hatte. Während ich nach oben sah, schien sich der ganze Turm der Verehrung langsam zu drehen. Beinahe wunderte es mich, daß es im Innern keine Wolken gab. Anstelle von Wolken schwebten glattglänzende geometrische Formen in der Luft. In der Nähe des Geländers der fünften Etage schwebte ein Kubus. Wade hatte sich anscheinend davon überzeugt daß sich im Erdgeschoß niemand aufhielt. Ich hatte immer noch Mühe, mich mit der Tatsache abzufinden, daß in einem solch gewaltigen Bauwerk keine Einheimischen anzutreffen waren. Außerdem war ich enttäuscht. Wäre Wade von einer großen Gemeindeversammlung überrascht worden, hätte er seinen Leuten wohl kaum den Schießbefehl erteilt. Zumindest nahm ich das an. Wir gingen zurück zum Aufzug und fuhren zum Erdgeschoß hinunter. Tara wandte sich an Wade und sagte: »Weshalb gibst du nicht auf? Wenn du an den Schatz herankommen willst, mußt du Sprengstoff einsetzen, und der würde auch den ganzen Inhalt verdampfen. Und wenn ihr anfangt, Edelsteine loszureißen, wird man euch schnappen, noch ehe ihr genug beisammen habt, um überhaupt die Unkosten zu decken.« »Unter Umständen kann er es doch schaffen, an die Schätze heranzukommen. Vielleicht hat er einen auseinandergenommenen Feldprojektor in der Aktentasche.« Offenbar wußte sie nicht, was ein Feldprojektor war, Wade hingegen sagte: »Sehr gut, Jason.« Tara sah mich fragend an. Ich sagte: »Man stellt einen Feldprojektor auf ein bestimmtes Raumvolumen ein. Wenn man ihn einschaltet, erzeugt er ein starkes Warp-Feld. Richtig angewandt, läßt sich das, was sich im Innern des Feldes befindet, von einer Raumschicht in die andere überführen. Zum Beispiel von Schicht Null nach Schicht Zehn.« »Oh«, machte sie, und man sah ihr an, daß sie die richtigen Schlußfolgerungen zog. Sie ging sogleich zum nächsten Schritt weiter. »Und was passiert mit dem, was sich nicht im Innern des Feldes befindet?« »Das wird zerstört«, antwortete ich. »An der Grenze zwischen dem, was verschwindet, und dem, was zurückbleibt, bildet sich eine Schockwelle. Deren Wirkung wäre mit der einer gewaltigen Bombe vergleichbar, die alles zerstört, was sich außerhalb der Schatzkammer befindet.« »Wie schwer…« Ihre Stimme brach, und sie setzte von neuem an. »Wie schwer wäre der Schaden? Würde der Turm zerstört werden?«
Zum Zeichen, daß ich die Antwort nicht kannte, breitete ich die Arme aus. Allerdings befürchtete ich das Schlimmste. Diese Möglichkeit machte sie anscheinend noch wütender als die Vorstellung, die Schätze ihrer Freunde könnten geraubt werden. Sollte die resultierende Schockwelle stark genug war, ein solch großes und prachtvolles Bauwerk auszuradieren, dann wollte ich das Gesicht, das sie dann machte, lieber nicht sehen. Während der Fahrstuhl weiter in die Tiefe sank, sackte Tara auf einmal zusammen, als sei sie ohnmächtig geworden. Ich machte Anstalten, sie zu stützen, und Wade näherte sich ihr ebenfalls. Plötzlich riß Tara ein Knie heftig nach oben und traf Wade an einer empfindlichen Stelle. Wade schrie laut auf. Noch ehe sich das Grinsen auf meinem Gesicht ausgebreitet hatte, waren vier Nadler auf Tara gerichtet. Ich trat vorsichtig neben sie, um anzudeuten, daß jeder, der ihr etwas antun wollte, es zuvor mit mir zu tun bekommen würde. Wade brach zusammen und wand sich vor Schmerzen. Hätte Tara versucht, ihn zu treten, hätte er sie wahrscheinlich erschossen, doch sie stand aufrecht da und rührte sich nicht. »Gut gemacht«, meinte ich leise zu Tara. »Das war ein Volltreffer.« Sie warf mir einen zornigen, frustrierten Blick zu. Gleichzeitig richtete Daniel seinen Nadler auf mich. »Ihre Reaktion kommt ein bißchen spät«, sagte ich. Als die Fahrstuhltüren aufgingen, krümmte sich Wade immer noch auf dem Boden. Unser Erscheinen auf dem Erdgeschoß des Turms der Verehrung stand unter keinem günstigen Stern, dennoch tat es gut, endlich aus dem Aufzug herauszukommen. Da keiner Wade hatte nahekommen wollen, hatten wir das letzte Stück über dicht zusammengedrängt gestanden. Schließlich begann Wade leise zu fluchen. Trotz seiner Schmerzen war er sich anscheinend voll bewußt, wo er war. Er richtete sich mühsam auf, ging zu Tara hinüber und blickte ihr aus nächster Nähe ins Gesicht. »Mit dir befasse ich mich später«, zischte er. Ich bemühte mich, die Muskeln zu lockern, die ich angespannt hatte, als ich mich auf ein mögliches Eingreifen vorbereitet hatte. Währenddessen traten Wades Kumpane langsam nach draußen, alle in höchstem Maße wachsam, alle mit gezogener Waffe. Zuvor hatte ich auf eine günstige Gelegenheit gehofft, um mir eine Waffe zu schnappen und soviel Schaden damit anzurichten, daß ich keine Vergeltung mehr zu befürchten hatte, doch damit war es nun vorbei. Alle waren so wachsam wie ein Pilot, dessen Instrumente soeben ausgefallen waren. Auf dieser Etage war die Decke höher als im dritten Stock, doch sie war ebenso menschenleer. Wir bewegten uns leise an Reihen grüner Gebetsbänke vorbei und näherten uns der funkelnden, erhöhten Scheibe in der Mitte des Turms der Verehrung. Wade übernahm die Führung. Als er die Scheibe erreicht hatte, bedeutete er der blonden Frau vorzutreten. Sie stellte die Aktentasche innerhalb des Gewands auf den Boden, streckte den Arm durch den Ärmel und hob sie wieder hoch. Es war erstaunlich, welches Zerstörungspotential eine solch kleine Tasche enthalten konnte. Während sich die Frau der Gruftabdeckung näherte, trat ich unauffällig vor, denn wenn es mir gelang, den Feldprojektor irgendwie zu beschädigen, hätte ich die drohenden Zerstörungen verhindern können, und dann hätte Wade auch keinen Grund gehabt, die Augenzeugen anschließend zu eliminieren.
Ich war jedoch noch nicht weit gekommen, da grinste Daniel mich auch schon an und bedeutete mir, ich solle wieder zurücktreten. Da mir keine andere Wahl blieb, setzte ich mich auf eine der Bänke. Daniel begab sich wieder ins Zentrum des Geschehens und behielt den Raum im Auge, während er gleichzeitig auf mich achtgab. Tara näherte sich ebenfalls der Mitte des Raums. Nach wenigen Sekunden stand ich bereits wieder auf, was jedoch zur Folge hatte, daß Daniel mich wieder Platz nehmen hieß. Die blonde Frau hatte die Aktentasche geöffnet. Sie holte vier schwarzglänzende Würfel hervor, von jeweils einer Handspanne Kantenlänge. Während Wade und Daniel ihr zuschauten und die übrigen Leute den Raum im Auge behielten, stellte sie die Würfel in gleichmäßigen Abständen rund um die zylindrische Gruftabdeckung auf. Immer wenn sie einen Würfel aufgestellt hatte, nahm sie daran eine Einstellung vor. Als sie gerade den dritten Würfel aufstellte, sah einer der Schwarzgekleideten plötzlich nach oben und hob den Arm. Noch während er einen Warnruf ausstieß, fiel von oben eine kleine, silbrige Kugel herab und traf etwa in der Mitte der Gruft auf. Ehe Wade und Daniel reagieren konnten, explodierte die Kugel und gab eine mächtige rote Gaswolke frei, die Tara und die ganze Gruppe einhüllte. Ich rührte mich nicht vom Fleck. Als sich der Nebel ein wenig gelichtet hatte, sah ich, wie die Mitglieder von Wades Gruppe entweder bewußtlos oder tot zusammengebrochen waren.
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Kapitel 12
Jasons Flucht Die Gaswolke breitete sich rasch aus, bis die Luft in der Mitte des Turms der Verehrung eine rötliche Tönung aufwies. Das Fußgetrappel auf dem Stockwerk über uns wirkte in diesem Tempel ebenso fehl am Platz wie das rote Gas. Ich war nicht sonderlich überrascht, daß die Einwohner von Xanahalla derartige Vorkehrungen gegen unerwünschte Besucher getroffen hatten, doch vor allem machte ich mir Sorgen um Taras Zustand. Ich näherte mich behutsam den Überresten der Gaswolke, denn ich war mir nicht sicher, ob sie immer noch wirksam war. Möglicherweise handelte es sich nicht um Betäubungsgas, sondern um ein tödliches Gift. Als ich jedoch sah, daß Wades Brust sich langsam hob und senkte, fühlte ich mich beinahe ebenso erleichtert wie damals, als mir die Flucht von Redwall gelungen war. Ich blieb einen Moment reglos stehen. Nachdem ich solange auf eine Gelegenheit zum Handeln gewartet hatte, konnte ich kaum glauben, daß sie jetzt eingetreten war. Ich konnte still dasitzen und abwarten, bis uns die Leute von oben erreicht hatten, und ihnen dann erklären, wer die Bösen und wer die Guten waren. Und darauf hoffen, daß sie mir Glauben schenkten. Oder ich konnte von hier verschwinden und mich in eine günstigere Ausgangsposition bringen, für den Fall, daß ihr Mißtrauen gegenüber einer bewaffneten Gruppe, die heimlich in ihren Tempel eingedrungen war, die Oberhand gewinnen sollte. Im Grunde hatte ich nicht mehr Wahlmöglichkeiten als zuvor, als ich noch den Kragen um den Hals gehabt hatte. Ich setzte mich in Bewegung. Ich näherte mich zunächst den am Boden liegenden Gestalten in der Mitte des Turms, da mein erster Gedanke war, daß es vor allem darauf ankam, Tara von hier fortzuschaffen. Die Schritte von oben waren allerdings deutlich zu hören. Das mußte bedeuten, daß die Männer bereits den Aufzug oder die Treppe erreicht hatten und jeden Moment hier erscheinen würden. Selbst wenn die Zeit für diesen Umweg ausgereicht hätte, wäre ich mit Tara eine leichte Beute gewesen. Und damit hätte ich meinen Vorteil wieder verspielt gehabt. Ich blieb stehen. Verdammt. Es blieb keine Zeit mehr, Tara zu holen und ein Versteck zu suchen. Ein Nadler war auf mich zu gerutscht, nachdem ihn einer meiner Bewacher fallengelassen hatte. Ich hob ihn vom Boden auf, entfernte mich wieder von der rotgefärbten Luft und rannte zur Wand. Dabei blickte ich kurz nach oben, für den Fall, daß eine weitere silberne Kugel unterwegs war, doch anscheinend hatte ich mich so still verhalten, daß der Werfer es bei der ersten Kugel belassen hatte. Währenddessen überlegte ich, ob ich die Treppe oder einen Aufzug benutzen sollte, und entschied mich für den Aufzug. Es hätte zu lange gedauert, die Treppe in der Ecke zu erreichen. Ich hoffte, der Aufzug war unbesetzt. Tara ließ ich nur äußerst ungern zurück, doch war daran nichts zu ändern, wenn ich mich verstecken wollte, um Nutzen aus dieser unerwarteten Wendung zu ziehen. Ich erreichte die Wand vor dem Eintreffen der Männer. Als ich mich einem Aufzug näherte,
glitt auch schon die Tür auf. Bei so vielen Aufzügen hätte es mich auch gewundert, wenn nicht wenigstens einer auf dieser Etage gewartet hätte. Ich stürzte hinein und drückte die Taste für die vierte Etage. Als der Aufzug zu sprechen begann, sagte ich leise: »Sei still!«, doch er ließ sich nicht den Mund verbieten. Hier waren wir schließlich nicht auf der Redshift. Jetzt wußten die Männer also, daß jemand entkommen war. Die Tür blieb offen. Ich musterte das Tastenfeld, entdeckte den Schalter für das Schließen der Tür und drückte ihn. Die Türhälften glitten gemächlich aufeinander zu. Ich starrte währenddessen Taras bewußtlose Gestalt an. Die Türen hatten sich noch nicht ganz geschlossen, als ich durch den Spalt hindurch sah, wie sich auf der gegenüberliegenden Seite des Raums eine Fahrstuhltür öffnete. Ich hatte keine Ahnung, ob man mich gesehen hatte. Da meine neugewonnene Freiheit jedoch davon abhing, unbemerkt zu bleiben, tat ich das einzige, was mir in der Situation geraten erschien. Anstatt abzuwarten, bis die Außenanzeige von Eins auf Zwei umsprang, hielt ich den Fahrstuhl an. Für öffentliche Fahrstühle in Gebäuden der Konföderation waren Notausstiege vorgeschrieben, doch ich hatte keine Ahnung, ob sich die Bewohner von Xanahalla an Konföderationsbestimmungen hielten. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie Kirche und Staat vollständig getrennt hätten. Über mir befand sich ein beleuchtetes Metallgitter, hinter dem sich die eigentliche Fahrstuhldecke verbarg. Ich hoffte, daß man die Fahrstühle von einer Firma erworben hatte, die für den Massenmarkt fertigte. Ich suchte nach dem Mechanismus, mit dem sich die Beleuchtung herabschwenken ließ. Ich fand ihn. An einer Seite befanden sich drei unter Federdruck stehende Verschlüsse, die ich gleichzeitig aufschnappen ließ. Die an Scharnieren befestigte, aprikosenfarbene Lichtleiste schwenkte halb herunter. In einer Ecke der Decke befand sich eine rechteckige Platte mit einem Knopf am Rand. Nachdem ich den Nadler in die Tasche gesteckt hatte, schob ich die Klappe beiseite, sprang hoch, klammerte mich an den Rändern der Öffnung fest und zog mich hoch. Der Fahrstuhlschacht wies schräg zur Turmspitze empor. In regelmäßigen Abständen waren schwache rote Lichter auszumachen, die wahrscheinlich die einzelnen Etagen kennzeichneten. Dahinter waren in größeren Abständen trübe blaue Lichter zu sehen. Weit, weit oben sah man ein einzelnes weißes Licht. Das markierte wohl die Spitze des Turms. Da ich mir unsicher war, was größeren Verdacht erregen würde - ein aufsteigender Fahrstuhl oder ein angehaltener -, überlegte ich, ob ich mich wieder auf den Boden fallenlassen und die Fahrt nach oben fortsetzen sollte. Ein Kompromiß schien mir das beste. Ich würde noch zehn Minuten warten und den Aufzug dann weiterfahren lassen. Bis dahin würden die Turmwächter vielleicht zu der Überzeugung gelangt sein, daß sie sämtliche Eindringlinge gefangengenommen hatten, und sie an einen sicheren Ort schaffen, um sie zu verhören. Oder vielleicht sperrten sie sie auch solange ein, bis sich die zuständigen Behörden mit ihnen befaßten. Wenn ich herausfand, wohin man sie brachte, würde ich sie später mit dem Nadler befreien können. Während ich so überlegte und wartete, untersuchte ich die Oberseite des Fahrstuhls. Ein dickes, straffgespanntes Kabel verschwand in der Dunkelheit des Schachts, das in der Nähe der Lichter schwach aufglomm. Das Kabel war über winkelförmig angeordnete Streben mit
den Ecken der Fahrstuhlkabine verbunden, so daß ich genügend Halt hätte, falls sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte, solange ich draußen war. Türseitig befanden sich zwei große Räder, welche verhinderten, daß der Fahrstuhl bei seiner Fahrt durch den geneigten Schacht an der Schachtwand scheuerten. Der Zwischenraum zwischen Wand und Fahrstuhl, der durch die beiden vertikalen Radrührungen begrenzt wurde, war breit genug, um einer Person Platz zu bieten, wenn ein Fahrstuhl vorbeikam. In EinMeter-Abständen in die Schachtwand eingelassene Querstreben bildeten eine riesige, nur undeutlich erkennbare Leiter. In der anderen Richtung bot sich ein erstaunlicher Anblick. Gegenüber der Tür, der Außenseite der Pyramide zugewandt, waren ebenfalls zwei Räder. Diese aber bewegten sich in keinen Spurrillen; sie ragten einfach in die Lücke zwischen Fahrstuhl und Außenwand hinein, ohne die Wand jedoch zu erreichen. Anscheinend war der Fahrstuhl ein Standardmodell, das normalerweise auf zwei Seiten über eine Schienenführung stabilisiert wurde. Hier war das zweite Räderpaar aufgrund der ungewöhnlichen Neigung überflüssig. Der Aufzug hatte lange genug gehalten. Ich vergewisserte mich, daß sich das Gitter von oben hochziehen ließ, dann ließ ich mich durch die Luke hinunter und sprang auf den Boden. Ich setzte den Aufzug in Bewegung, kletterte wieder durch die Luke nach draußen, zog das Gitter hoch und schloß die Klappe, während der Aufzug seine Fahrt nach oben fortsetzte. Während ich so in der plötzlichen Dunkelheit hockte, hatte ich das Gefühl, die kühle Luft ströme an mir und dem aufsteigenden Fahrstuhl vorbei. Von oben vernahm man ein leises Sirren, und die Räder erzeugten ein knirschendes Geräusch, während sie kleine Schmutzteilchen in den Radspuren zerquetschten. Im Nachhinein bedauerte ich, nicht den Knopf für die Tunnelebene gedrückt zu haben. Wenn es mir gelungen wäre, von dort aus an den Querstreben entlang zur Wartungsebene hinunterzuklettern, wäre die Gefahr entdeckt zu werden nicht so groß gewesen. Außerdem nahm ich an, daß man die Gefangenen an einen anderen Ort bringen würde, um sie zu verhören. Der Fahrstuhl trug mich an den roten Lichtern und an Fugen vorbei, welche den zweiten und den dritten Stock markierten, dann, als wir uns dem vierten Stock näherten, wurde er langsamer. Kurz nachdem die Kabine auf der vierten Etage angehalten hatte, hörte ich, wie die Türen aufgingen. Während der Viertelminute, da sie offenstanden, deutete nichts darauf hin, daß jemand den Fahrstuhl betreten hätte; ich hörte nichts, und die Kabine sackte auch nicht ab durch das zusätzliche Gewicht eines Passagiers. Sobald sich die Türen geschlossen hatten, sank der Fahrstuhl wieder in die Tiefe. Da er im Erdgeschoß gewartet hatte, schien es mir logisch, daß er darauf programmiert war, dort in Wartestellung zu gehen. Tatsächlich hielt er auch dort an, ohne daß sich die Türen geöffnet hätten. Ich fragte mich, ob wohl jemand bemerkt hatte, daß sich unterdessen die Anzeige verändert hatte. Das war offenbar der Fall, denn kurz darauf gingen die Türen auf, und ich vernahm weitere Stimmen außer der des Fahrstuhls. »Er hat bloß im vierten Stock angehalten«, sagte jemand.
»Ihr drei geht hoch«, sagte jemand anders in ruhigem Ton. »Wir halten hier die Stellung.« Ich hatte derweil überlegt, ob ich auf der Kabine bleiben oder ob ich jetzt, da ich der Wartungsebene so nahe war, mein Glück auf den Streben versuchen sollte. Die nächste Stimme überzeugte mich davon, daß es besser wäre, aktiv zu werden. Der Mann sagte: »Wenn ihr die anderen findet, geht kein Risiko ein. Tötet sie notfalls. Die meisten haben wir ja.« Noch während ich mich über diese etwas heftige Vorgehensweise wunderte, rückte ich behutsam zum Rand der Kabine vor. Vielleicht handelte es sich bei den Männern ja um einen Sicherheitsdienst, der von der Kolonie beschäftigt wurde - um Sicherheitsleute, die eigene Vorstellungen darüber hatten, wie die Einheimischen am besten zu schützen waren. Ich trat auf die erste Strebe in Fußhöhe hinaus und hielt mich an einer zwei Meter höher gelegenen Strebe fest. Ich hoffte, die Fahrstuhlkabine würde in ausreichendem Abstand passieren, so daß ich nicht zerquetscht wurde. Die Alternative bestand darin, auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden, auf der Kabine zu bleiben. Dies hätte jedoch dazu führen können, daß ich auf der Stelle erschossen oder über den Rand in die Tiefe gestoßen wurde. Noch ehe sich die Fahrstuhltüren schlossen, wurde mir klar, wie schwierig es war, längere Zeit auf den Streben auszuharren. Ich mußte rasch nach unten klettern, für den Fall, daß meine Finger versagten. Die Fünf-Grad-Neigung des Fahrstuhlschachts machte im Vergleich zu einer senkrechten Wand keinen so großen Unterschied aus. Als sich der Fahrstuhl nach oben in Bewegung setzte, atmete ich möglichst tief aus. Ich spürte, wie mein Gewand im Fahrtwind flatterte. Ich wünschte, das Gewand wäre dünner gewesen oder ich hätte es ausgezogen. Wenn ich mich beim Abstand verschätzt hatte, würde ich im nächsten Moment in zwei Teilen in die Tiefe stürzen. Zumindest war ich hier am rechten Ort, um zu beten. Die Oberkante des Fahrstuhls streifte an meinem Hintern. Ich atmete erst dann weiter, als sich die Unterseite der Kabine über meinem Kopf befand. Ich blickte in die Tiefe. In der Eile hatte ich etwas übersehen. Die Streben bildeten gar keine perfekte Leiter, weil sich die Türen zu den einzelnen Etagen alle auf einer Seite des Schachtes befanden. Das Rechteck um die Tür herum stand von der Schachtwand vor, so daß es bis dicht an den Aufzug heranreichte, wenn er hielt. Ich mußte rasch an der Türöffnung vorbeikommen. Wenn der Aufzug vorher zurückkam, würde er mich wahrscheinlich daran hindern, nach unten zu klettern, und wenn er zurückkehrte, während ich mich noch auf Türhöhe befand, hätte das meinen Tod zur Folge gehabt. Mit einer Hand umklammerte ich die Strebe in Hüfthöhe. Vorsichtig ließ ich mich hinunter, bis ich mit dem Fuß an die Türeinfassung stieß. Die Kante stand so weit vor, daß sie einen bequemeren Halt bot als die Streben. Allerdings erschwerte sie auch den Abstieg. Das Sirren des aufsteigenden Fahrstuhls verstummte, und jetzt war nur noch das Geräusch meines Atems zu hören. Während ich mich mit einer Hand an der Strebe festhielt, auf der ich gestanden hatte, streckte ich die andere nach der Kante aus, auf der ich stand. Ich lehnte mich so weit zurück, daß ich die helle Fuge sehen konnte, wo die Türhälften aneinanderstießen. Die Unterkante der Türeinfassung schien so weit entfernt, daß ich möglicherweise würde
loslassen und mich hinabfallen lassen müssen. Obwohl ich mich nur ein Stockwerk über der Wartungsebene befand, schreckte mich die Vorstellung, in den dunklen Schacht zu stürzen. Der Fall würde mich wohl nicht umbringen, doch ich hatte keine Ahnung, was sich am Boden befand. Vielleicht befand sich dort ein Stoßfänger, um den Insassen eines abstürzenden Fahrstuhls zumindest eine gewisse Überlebenschance zu bieten, aber ich hatte keine Ahnung, wie so ein Ding geformt war. Mir war bloß klar, daß ich das Risiko, auf unnachgiebige Gerätschaften zu fallen, nicht eingehen wollte. Außer für meine eigene Sicherheit trug ich auch für Tara Verantwortung. Ich langte zur Seite, um zu prüfen, ob ich eventuell eine Radführung dazu benutzen könnte, an der Tür vorbeizukommen. Sie war breit genug, um mich hineinzuzwängen und seitlich abzustützen. Die Innenseite wirkte sauber, jedoch nicht übermäßig glatt, und von einem Schmiermittel war nichts zu merken. Ich packte die Strebe so fest ich konnte, dann verlagerte ich mein Gewicht und zwängte mich zwischen die Wände der Radführung. Mein verletzter Arm scheuerte an der Kante, doch ich achtete nicht auf den Schmerz. Meine Knie stießen gegen die andere Seite. Mit angehaltenem Atem ließ ich die Strebe los und benutzte meine Arme, um mich mit dem Rücken gegen die Seite der Radführung zu pressen. Diese war so schmal, daß mein Rücken nur zu zwei Dritteln Kontakt hatte. Über mir setzte wieder das Sirren des Aufzugs ein. Ich verdrängte den Gedanken an das, was die Räder mir antun würden, sollte ich mich noch in der Radspur aufhalten, wenn mich der Fahrstuhl einholte. Ich konzentrierte mich darauf, den Druck zu reduzieren, den ich mit Händen und Knien auf die Gegenseite ausübte, und ließ mich mit einer Reihe kurzer, halb kontrollierter und äußerst riskanter Rutschbewegungen absinken. Das war erheblich anstrengender, als über die Streben hinunterzuklettern, und wesentlich nervenaufreibender. Ich schlängelte mich noch ein Stück weiter, während ich fieberhaft bemüht war, mir einen Ausweichplan für den Fall zurechtzulegen, daß mich der Fahrstuhl erreichte. Eine andere Möglichkeit als zu springen fiel mir nicht ein. Zweimal verrenkte ich mir den Hals, um zu sehen, wie weit ich bereits gekommen war; beim zweiten Mal war ich nahezu gleichauf mit der Unterkante der Türeinfassung. Während sich der Fahrstuhl näherte, löschte er alles Licht aus, das von oben kam, wie ein riesiger Hammer, der auf ein Insekt herunterfiel. Ich bereitete mich darauf vor zu springen. Schwitzend hörte ich, wie das Sirren des Fahrstuhls etwas tiefer wurde, so als bremste er ab. Ich hielt die Stellung. Im nächsten Moment kam das große untere Rad einen knappen Meter über meinem Kopf zum Stillstand. Für Dankbarkeit war keine Zeit. Der Fahrstuhl konnte seine Fahrt nach unten jeden Moment fortsetzen. Ich bewegte mich noch einen halben Meter nach unten, bis ich eine Strebe packen konnte, dann stemmte ich mich aus der Radführung heraus und nahm an der Schachtwand wieder eine aufrechte Haltung ein. Die Knie taten mir weh, dennoch fühlte ich mich vorübergehend erleichtert. Da ich mich einstweilen in Sicherheit wähnte, blickte ich in die Tiefe und versuchte, am Schachtboden etwas zu erkennen. Es gelang mir nicht. Indem ich mich von Strebe zu Strebe vorarbeitete, erreichte ich die Oberkante der zur
Wartungsebene führenden Tür. Die Fahrstuhltür über mir hatte sich wieder geschlossen, und die Kabine verharrte in Wartestellung. Stimmen waren keine mehr zu hören. Ich überlegte, ob ich versuchen sollte, die Tür zur Wartungsebene mit Gewalt zu öffnen, sagte mir aber dann, daß es sicherer war, mich noch eine Weile zu verstecken, da die Suche möglicherweise noch andauerte. Wenn ich Arme und Beine am Boden des Fahrstuhlschachts ausgeruht hätte, würde ich später, wenn die Wahrscheinlichkeit geringer war, daß sich ein Suchtrupp in der Nähe befand, wieder zu der Tür hochklettern. Ich mußte Taras Aufenthaltsort so rasch wie möglich ausfindig machen, doch die Gefahr, einem Suchtrupp in die Arme zu laufen, war immer noch groß. Durch die geschlossene Tür drang keinerlei Geräusch, daher schwang ich mich wieder in die Radführung hinein. Unterhalb der Tür wechselte ich abermals auf die Streben hinüber und setzte meinen Abstieg fort. Da ich mich jetzt tiefer befand, machte ich mir auch weniger Sorgen, daß ich abstürzen könnte, obwohl vom Schachtboden noch immer nichts zu sehen war. Ich war mittlerweile so erschöpft, daß ich mich trotzdem beinahe fallengelassen hätte. Ich kletterte noch drei weitere Streben tiefer, als ich merkte, daß etwas nicht stimmte. Ich hätte den Schachtboden mittlerweile erreicht haben sollen, doch irgendwie stimmte die Akustik nicht. Weiter oben hatte man ständig leise Knarr- und Knacklaute und ähnliche Geräusche gehört, die davon herrührten, daß das langgestreckte, hohle Gebilde Spannungen und Vibrationen ausgesetzt war und sich aufgrund von Temperaturunterschieden ausdehnte und zusammenzog. Unter mir hätte sich eine tote Zone befinden sollen, die weniger Geräusche erzeugte, einen Teil der von oben auftreffenden Laute absorbierte und einen Teil davon als leise Echos reflektierte. Statt dessen klang es unter mir genau wie weiter oben. Ich spähte nach unten und versuchte etwas zu erkennen. Nach einer Weile kam ich zu dem Schluß, daß das, was ich sah, keinen Sinn ergab. Ich hatte nämlich den Eindruck, die schräge Fläche setze sich noch weiter fort. Ich hielt mich an der Strebe in Hüfthöhe fest und lehnte mich so weit zurück, wie ich mich traute. Von dem Anblick, der sich mir bot, prickelte mir die Kopfhaut. Außerdem war ich auf einmal heilfroh, daß ich nicht auf den Schachtboden hinuntergesprungen war. Es wäre nämlich ein tiefer Fall geworden. Was immer es bedeuten mochte, nicht weit von meiner gegenwärtigen Position entfernt knickte der Aufzugschacht leicht ab. Ich konnte eine Reihe von blauen und roten Lichtern erkennen, die wie Spiegelbilder der weiter oben befindlichen Lichter wirkten. Wenn dies keine optische Täuschung war, reichte der Schacht ebenso weit in den Planeten hinein, wie der Turm der Verehrung in den Himmel emporragte. Ich preßte mich eng an die Wand. Im Schacht würde ich nicht einmal vorübergehend Ruhe finden. Die Radführungen auf dieser Wandseite endeten ein Stück weit unter meinen Füßen, und darunter fingen an der gegenüberliegenden Wand neue Radführungen an. Wenn der Fahrstuhl den Wendepunkt passierte, würde das zweite Räderpaar gegen die Außenseite des Schachts drücken, Und wenn ich weiter hinunterstieg, würde ich mich bald an der Unterseite einer fünfprozentigen Schräge festhalten müssen anstatt an deren Oberseite. Ich mußte handeln, solange ich noch Kraft hatte, daher kletterte ich wieder nach oben. Solange der Aufzug an Ort und Stelle verharrte, blieb mir nichts anderes übrig, als die Tür zur
Wartungsebene gewaltsam zu öffnen, wenn ich mich nicht solange an der Schachtwand festklammern wollte, bis ich mich irgendwann nicht mehr halten konnte und in die Tiefe stürzte. Während des Kletterns dachte ich über den unterirdischen Teil des Aufzugschachts nach. Was war dort unten? Außerdem fragte ich mich, ob dieser Schacht wohl als einziger in die Tiefe führte. Die Wahrscheinlichkeit, daß ich ausgerechnet diesen einen Aufzug ausgewählt haben sollte, erschien mir jedoch gering. Ich ging eher davon aus, daß sämtliche Schächte in die Erde hinunterführten und zusammen eine gewaltige, auf dem Kopf stehende Pyramide bildeten, deren Ausdehnung der des Turms der Verehrung entsprach. Mit der Hand berührte ich die Unterkante der Türeinfassung. Ich zog das Kinn bis auf Höhe der vertikalen Fuge zwischen den beiden Türhälften hoch und lehnte mich nach rechts und nach links, nahm durch den Spalt jedoch nur ein diffuses Leuchten wahr. Mit einer Hand versuchte ich, eine der Türhälften zurückzuschieben. Sie bewegte sich nicht. Ich zwängte mich wieder in die Radführung hinein und rutschte so weit hoch, bis ich die Oberkante der Türfassung packen konnte. Auf der Unterkante der Türfassung stehend, mich mit einer Hand an der Radführung anklammernd und im Vertrauen darauf, daß der Fahrstuhl nicht nach unten beordert wurde, versuchte ich, die Tür zu öffnen. Meine Finger glitten jedoch wirkungslos davon ab. Ich atmete tief durch und ging noch einmal die Möglichkeiten durch, die sich mir boten. Das Hochklettern war erheblich anstrengender gewesen als der Abstieg. Ich versuchte noch einmal, die Tür zu öffnen, wieder ohne Erfolg. Ich fuhr mit der Hand über die Tür, um eine Stelle zu finden, die besseren Halt bot, und überlegte, ob vielleicht die andere Türhälfte das Öffnen und Schließen steuerte, als ich etwas fühlte. Ein kleines Loch in der Tür, weit oben. Während ich mich bemühte, das Gleichgewicht zu wahren, holte ich vorsichtig meinen Stift aus der Tasche. Ich drückte ihn gegen das Loch, und tatsächlich paßte er. Ich zog an der Tür. Nichts geschah. Abermals überschlug ich die verschiedenen Optionen und wog die Bewahrung meiner Kräfte für einen neuerlichen Aufstieg gegen die Notwendigkeit ab, aus dem Schacht herauszukommen. Außerdem fragte ich mich, was wohl hinter der Tür sein mochte, falls es mir gelang, sie zu öffnen. Ich zog erneut an der Tür, wobei ich mich an der Radführung festhielt. Ich zog mit aller Kraft. Nichts. Ich atmete tief durch und dachte nach. Abermals fuhr ich über die Türfläche, wobei ich den Arm so weit wie möglich streckte. Diesmal ertastete ich in der Nähe einer Ecke einen Hebel. Er ragte so weit in den Schacht vor, daß er bestimmt durch den Fahrstuhl betätigt wurde. Ich drückte dagegen. Als ich daran zog, vernahm ich ein leises metallisches Klicken. Während ich gleichzeitig Kraft auf den Hebel ausübte und gegen die Tür drückte, setzte ich
abermals den Schreibstift an. Die Tür öffnete sich ein paar Millimeter weit, und Licht strömte durch den Spalt in der Fahrstuhlschacht. Ich behielt den Druck bei. Keine Veränderung. Als ich den Druck etwas verringerte, blieb der Spalt dennoch offen. Abermals riß ich den Stift auf mich zu, und diesmal glitt die Tür langsam auf. Wäre einer der Sicherheitsleute in der Nähe gewesen, hätte er mich auf der Stelle erschießen können, doch mein einziger Gedanke war: Ich hab’s geschafft! Ich hab die Tür aufgekriegt! Doch hinter der Tür war niemand, der den Abzug hätte drücken können. Ich stemmte einen Fuß zwischen die Türhälften, dann packte ich die Türkante. Im nächsten Moment stand ich auf einem menschenleeren Gang, und die Fahrstuhltüren schnappten zu wie das Maul eines frustrierten Fleischfressers. Ich holte den Nadler aus der Tasche, während ich aufmerksam lauschte. Nichts zu hören. Ich steckte die Hand in die Tasche, jedoch ohne den Nadler loszulassen. Die Fahrstuhlanzeige dieser Ebene - offenbar war >Wartungsebene< nicht ganz die richtige Bezeichnung - war vollständiger als weiter oben. Hier gab es eine zusätzliche Zahlenreihe mit negativen Ziffern für die unterirdische Hälfte des Turms. Die Zahlen waren der Beleg dafür, daß der Turm tatsächlich ebenso tief wie hoch war. Die Leute hier wußten ihre Geheimnisse wirklich zu wahren. Mir war höchst unbehaglich zumute, doch war der Stimmungsumschwung nicht allein darauf zurückzuführen, daß die Situation nicht ganz so eindeutig war, wie ich gemeint hatte. Die Atmosphäre dieser Ebene wirkte weniger unschuldig als die auf den oberen Stockwerken. Während die oberen Etagen und der Haupttunnel unterschiedliche Grün- und Gelbtöne aufwiesen, war diese Ebene dunkler und in Schwarz- und Grautönen gehalten. Die klaren Spiegel hatten getönten Spiegeln Platz gemacht. Mein Spiegelbild wies eine ähnliche Rotfärbung auf wie die Gaswolke vom Erdgeschoß. Als ich vorsichtig um die Fahrstuhlsäule bog, entdeckte ich dahinter einen Tunnel, der vom Turm der Verehrung wegführte. Dieser Tunnel war ebenfalls dunkler als die weiter oben befindlichen Gänge. Ich fragte mich, ob die Tunnel dieser Ebene wohl parallel zu den Gängen der Hauptebene verliefen. Ein Tunnel erschien mir zu riskant, daher wandte ich mich zu der Treppe, die sich in der Ecke des Turms befinden mußte. Menschen waren immer noch keine zu sehen. Wo war Tara? Ich mußte sie rasch finden. Auf dem Weg von der Fahrstuhlsäule zur Ecke blieb ich mehrmals stehen, um zu lauschen, denn ich fragte mich, ob man mich womöglich schon bemerkt hatte und mir heimlich folgte, doch ich begegnete niemandem. Die Treppe war so, wie Tara sie beschrieben hatte, bloß daß sie nicht nach oben führte. Außerdem nahm ich an, daß von den Hauptebenen aus keine Treppe hier herunterführte. Die obere und die untere Hälfte des Turms waren anscheinend lediglich über Fahrstühle verbunden. Über Fahrstühle, die vorgaben, daß lediglich die obere Hälfte existierte. In der Annahme, daß jeder, der nach unten wollte, den Aufzug nehmen würde, stieg ich
mehrere Etagen nach unten, vorbei an mehreren Treppenabsätzen und einem Schild mit der Aufschrift Ebene 2. Dort blieb ich stehen, um nachzudenken. Es gab zu vieles, was ich nicht wußte. Ich fragte mich, ob Tara über all das Bescheid gewußt und ihr Wissen aus bestimmten Gründen für sich behalten hatte. Oder ob sie keine Ahnung von den unterirdischen Ebenen hatte. Jedenfalls warf der Turm mehr Fragen auf, als er Antworten bot. Ich lauschte auf das Geräusch von Schritten, hörte jedoch nichts. Ich machte Bestandsaufnahme und untersuchte den Nadler. Die Waffe war eine gewöhnliche Uzette mit einem Magazin für sechsundneunzig Nadeln. Mit dem Nadler konnte ich mich zwar notfalls gegen eine ganze Gruppe von Angreifern verteidigen, doch irgendwann würden mir die Nadeln ausgehen, selbst dann, wenn ich mich entschloß, die tödlichen Nadeln einzusetzen. Ich drehte das Magazin im Kolben und beobachtete, wie das Display nacheinander >Betäubungsmittel 35<, >Schweres Betäubungsmittel 36<, >Gegenmittel 3<, >Tödliche Dosis 21 < und schließlich wieder >Betäubungsmittel 35< anzeigte. Eine Nadel war bereits abgefeuert worden, daher blieben mir noch fünfundneunzig Schuß, wenn ich den Nadler auf Einzelfeuer stellte. Ohne einen der Sender, die Wade und Daniel bei sich hatten, konnte ich keinen Kontakt mit dem Schiff aufnehmen. Die Sprunganzüge, die wir in dem Tunnel versteckt hatten, würde ich kaum finden, und wahrscheinlich würde ich eine Ewigkeit brauchen, um an die Oberfläche zu gelangen. Selbst wenn ich mir zugetraut hätte, die Anzüge zu finden, erschien es mir doch nicht angebracht, ohne Tara zu verschwinden. Die Bereitschaft des Suchtrupps, mich ohne Vorwarnung zu erschießen, sowie die Existenz der unterirdischen Hälfte des Turms der Verehrung schienen mir darauf hinzudeuten, daß die Befragung der Gefangenen nicht unbedingt sanft verlaufen würde. Zumal damit zu rechnen war, daß sie Tara als Verräterin betrachten würden. Meine Arme und Beine hatten sich bereits wieder erholt. Ich stieg weiter in die Tiefe und setzte meine Füße leise und mit Bedacht. Als ich das Schild mit der Aufschrift Ebene 3 erreicht hatte, schob ich die Tür auf und spähte durch den Spalt. Auch auf dieser Ebene herrschte eine düstere Atmosphäre. Ich konnte nicht bis zur Mitte der Ebene sehen, doch die Wände, die parallel zu den Aufzügen verliefen, waren mit vertikalen Streifen verziert, die entweder dunkelrot oder braun waren. Der Boden war mit großen dunkelroten, schwarzen und hellbraunen Platten ausgelegt. Die Linien und die einzelnen Bodenplatten schienen zu vibrieren. Die resultierende Wirkung legte die Vermutung nahe, der Innenarchitekt habe nur wenig Zeit gehabt und sei angewiesen worden zu sparen. Da ich immer noch nichts hörte, schob ich die Tür ganz auf. Als ich mich nach rechts wandte, glitt sie langsam wieder zu. Gegenüber den Aufzugtüren führten Gänge nach innen. Ich folgte dem ersten Gang. Die Farbstreifen setzten sich hier fort. Die Wände zu beiden Seiten wiesen jeweils nur eine einzige geschlossene Tür auf, und weiter vorn wirkte alles etwas symmetrischer. Der Gang führte bis zur Mitte der Ebene, und an seinem Ende deutete ein Geländer darauf hin, daß es hier wie auf den höheren Etagen eine kreisförmige Öffnung im Boden gab. Die Decke, die dort ebenfalls durchbrochen war, war mit schmalen roten und schwarzen Streifen geschmückt, die strahlenförmig von der Mitte ausgingen.
Als ich hinter mir ein Geräusch hörte, drehte ich mich möglichst ruhig um. In dem Gewand mochte ich durchaus als Einheimischer durchgehen, falls ich nicht in Panik geriet. Doch noch ehe ich die Wendung abgeschlossen hatte, war mir klar, woher das Geräusch gekommen war. Einer der Aufzüge hatte sich in Bewegung gesetzt. Ich ging zu dem Gang zurück, der parallel zur Wand verlief. Der zwei Türen entfernte Aufzug senkte sich in die Tiefe. Ich wich ein Stück weit in den Gang zurück, der zur Turmmitte führte. Die Fahrstuhlanzeige wechselte von -1 zu -2 und zu -3. Auf der -3 verharrte sie einen verstörenden Moment aufgrund subjektiver Zeitdilatation, dann zählte sie weiter. Schließlich blieb die Anzeige auf der -10 stehen. Wahrscheinlich wurde oben jetzt angezeigt, der Aufzug befände sich auf der >Wartungsebene<. Ich fragte mich, welche Art >Wartungsarbeiten< hier wohl durchgeführt wurden. Und ich erinnerte mich an den Lieblingsspruch des Gruppenleiters, bei dem ich mich seinerzeit zur Wartungsarbeit gemeldet hatte: Was nicht kaputt ist, brauchst du auch nicht zu richten. Zunehmend neugierig und zunehmend vorsichtig näherte ich mich der Mitte des Turms. Zwischen mir und dem Zentrum gab es noch einen Quergang. Der kreuzende Gang hatte gebogene Wände und schien einen Kreis um die Turmmitte zu beschreiben. Es war niemand zu sehen. Als ich mich dem Geländer rund um das Loch im Boden näherte, wurde ich langsamer, da ich von den anderen Etagen aus nicht gesehen werden wollte. Die Innenwand bog sich in etwa einem Meter Abstand um das Geländer herum, so daß ein Kreisgang um die Bodenöffnung herumführte. Ich trat ans Geländer und blickte über den Rand. Ich hatte den Eindruck, in ein invertiertes Abbild des oberen Turmabschnitts hinunterzublicken, so als wäre ich durch einen speziellen Zerrspiegel gefallen. Die sieben Ebenen unter mir wiesen alle gleichartige Bodenöffnungen auf, daher konnte ich bis zum Boden dieser Turmhälfte sehen. Dunkle Fahrstuhlschächte reichten bis tief in die Planetenoberfläche hinunter und trafen sich fast in der Spitze der auf dem Kopf stehenden Pyramide. Die Spitze selbst war in dem trüb erhellten Kreis nicht zu sehen. Die Geländer, welche die einzelnen Ebenen umgaben, reflektierten die dunklen Rotund Brauntöne der nahen Wände. Auf dem Rückweg zu den Fahrstühlen zog ich den Nadler und versuchte, eine der Türen auf dem Gang zu öffnen. Die Tür glitt lautlos auf; dahinter lag ein menschenleerer Raum. Die Deckenbeleuchtung schaltete sich automatisch ein. Die verstörende Atmosphäre in der unteren Hälfte des Turms der Verehrung hatte mich auf den Inhalt des Raums bereits teilweise vorbereitet, dennoch war ich entsetzt. Mitten im Raum stand ein mit Hand- und Fußriemen ausgestattetes Bett. Daneben befand sich ein ähnlich ausgestatteter Liegesessel. In der Ecke standen zwei Stative und eine Reihe von Aufzeichnungsgeräten. An einer Wand befand sich eine Art von unaufgeräumter Werkbank. Die Werkzeuge und Gerätschaften, die darauf lagen, waren eindeutig nicht zur Reparatur von Küchengeräten geeignet. Ich trat eilig wieder auf den Gang, denn ich hatte bereits zuviel Zeit mit Erkundung vertan. Ich mußte Tara finden. Mittlerweile hatte ich genug gesehen, um den Nadler auf Tödliche Dosis einzustellen, selbst auf die Gefahr hin, mich durch Querschläger selbst zu gefährden. Als ich wieder zu der Fahrstuhlreihe zurückging, empfand ich Erleichterung darüber, daß ich
bislang noch niemandem begegnet war, denn bis jetzt hätte ich im Zweifelsfall zugunsten des Betreffenden entschieden. Schließlich waren wir hier Eindringlinge. Es war vollauf gerechtfertigt, daß die Leute hier ihre Rechte verteidigten. Der Raum mit dem Bett und den Riemen stellte jedoch einen weitaus krasseren Verstoß gegen die Menschenrechte dar, als ich bereit war hinzunehmen. Ich bog um die Ecke und ging zur Treppe zurück. Einerseits wollte ich verhindern, daß man an der Anzeige sah, daß jemand Fahrstuhl fuhr, andererseits wußte ich nicht, welche Ebene ich hätte auswählen sollen, da die Displays keinerlei weitergehende Informationen anzeigten. Der Aufzug, der sich vor ein paar Minuten in Bewegung gesetzt hatte, war zur Ebene Minus Zehn hinuntergefahren, daher wandte ich mich zur Treppe, um noch tiefer hinabzusteigen, in der festen Überzeugung, daß man die religiöse Freiheit auch zu weit auslegen konnte.
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Kapitel 13
Im Untergrund von Xanahalla Ich nahm jeweils nur eine Stufe auf einmal und bewegte mich vorsichtig. In den Ecken waren keine Überwachungskameras montiert, allerdings war das keine Garantie dafür, daß es nicht doch welche gab. Die Leute, die auf Xanahalla die Fäden zogen, hatten auf den oberen Ebenen bestimmt ein paar Scanner angebracht, die mir bloß nicht aufgefallen waren. Die Erbauer dieses Orts hatten auf das Recht auf Privatsphäre gewiß keine Rücksicht genommen, dennoch hoffte ich darauf, daß man derartige Vorsichtsmaßnahmen im nichtöffentlichen Bereich für überflüssig erachtet hatte. Ich erreichte die Ebene Minus Zehn, ohne jemanden zu hören oder zu sehen. Offenbar benutzten die Einheimischen ausschließlich die Aufzüge. Die Abwesenheit anderer Menschen und der makellose Zustand des Treppenhauses gaben mir das Gefühl, ich sei der erste Benutzer der Treppe seit Fertigstellung des Gebäudes. Ich fragte mich, ob die Arbeiter, welche die untere Hälfte des Turms errichtet hatten, wohl dieselben waren, die sich hier ungehindert bewegten. Und wie man sich andernfalls ihres Stillschweigens versichert hatte. Ich schob die Tür zur Ebene Minus Zehn einen Spalt weit auf und spähte hindurch. Abgesehen von zwei Korridoren sah ich nichts. Da ich wegen des Fahrstuhls davon ausgehen mußte, daß sich jemand auf dieser Ebene aufhielt, schloß ich behutsam die Tür und stieg eine weitere Ebene hinunter. Auf Ebene Minus Elf bot sich ein ganz anderer Anblick. Zunächst meinte ich, der Bereich hinter der Tür zum Treppenhaus liege vollständig im Dunkeln, doch als ich die Tür weiter öffnete, hatte ich freie Sicht bis zur anderen Seite der umgekehrten Pyramide. An den Wänden führten Gänge entlang, die ein großes Quadrat bildeten, das die Treppen in den vier Ecken und die Fahrstuhltüren an den einzelnen Wänden miteinander verband. Da ich niemanden sah, schob ich die Tür so weit auf, daß ich hindurchtreten konnte. Hinter mir schloß sich die Tür leise wieder. Über mir befand sich der Boden der Ebene Minus Zehn mit der kreisförmigen Öffnung in der Mitte. Ich konnte das Geländer auf der anderen Seite erkennen, jedoch nicht mehr. Von oben fiel eine kreisförmige Lichtsäule durch die Öffnung, die von der obersten Ebene des unterirdischen Abschnitts zu stammen schien und von den zehn kreisförmigen Öffnungen eingefaßt wurde. In der Lichtsäule schwebten Staubteilchen. Die Wandfarben waren recht dunkel, und von der Lichtsäule drang nur wenig Licht bis zu den Wänden und den Gängen vor, so daß alles schwarz-weiß erschien. Es war nur Stunden her, seit ich die Redshift verlassen hatte, dennoch war ich vom Anblick farbiger Gegenstände bereits verwöhnt. In den Planeten hinein erstreckte sich eine Konstruktion, die bestätigte, was ich bereits auf der Ebene Minus Drei gesehen hatte: das trüb erhellte Spiegelbild der oberen Hälfte des Turms der Verehrung. Die Wände bildeten nach unten weisende Dreiecke, deren Spitzen sich in einem dunklen Kreis weit unter mir trafen. Laufgänge markierten die einzelnen Etagen, die als ineinander geschachtelte Quadrate in der Tiefe verschwanden. Obwohl ich den Anblick erwartet hatte, war ich gleichwohl erstaunt, wie tief das Gebilde wirkte.
Abgesehen von leisen Knackgeräuschen und den leisen Echos meiner Schritte herrschte in der gewaltigen Höhlung Stille. Das leise, kaum wahrnehmbare Grollen machte den Eindruck, als habe jemand ein Auditorium voller feiernder Menschen aufgenommen, die plauderten und lachten, und spielte nun die Aufnahme knapp unterhalb der Hörschwelle ab. Ich war bereits wieder auf dem Rückweg zur Treppe, als ich den Schrei hörte. Er war anders als die Schreie, die ich auf Redwall gehört hatte, kein plötzlicher, schriller Aufschrei der Angst und der Qual. Ich hörte wohl den Schmerz heraus, doch es war eher eine Mischung aus Seufzen und einsetzendem Weinen, so als hätte diese Person bereits zu oft geschrien. Die Stimme klang tief genug, daß es sich um einen Mann handeln konnte, doch ein intensiver Schmerz, der einen solchen Schrei hervorbrachte, hatte wahrscheinlich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern längst verwischt. Der Laut kam von oben. Während ich durch die Deckenöffnung blickte, gingen die Echos des Schreis in den Hintergrundgeräuschen unter. Ich wünschte, ich hätte gewußt, wer da geschrien hatte. Und weshalb. Während ich so dastand, mit dem Rücken zur Wand des Turms der Verehrung, bewegte sich etwas auf der nächsthöheren Etage. Ein nackter Körper fiel durch die Bodenöffnung der Ebene Minus Zehn. Aus dieser Entfernung konnte ich nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, allerdings war nicht zu übersehen, daß Rumpf und Gliedmaßen blutüberströmt waren. Während ich wie erstarrt war, stürzte der Körper über fünf weitere Ebenen hinunter, nach wie vor von der Lichtsäule erhellt. Und der Körper schien kleiner zu werden. Nicht bloß deshalb, weil er sich entfernte, sondern weil etwas mit ihm geschah. Das Fleisch verflüchtigte sich. Kurz darauf war nur noch ein Skelett übrig. Doch nicht einmal die Knochen erreichten den Boden der Pyramide. Nachdem sie etwa zwei Drittel des Weges zurückgelegt hatten, besaßen sie weniger Substanz als ein Glas Wasser, das in derselben Höhe ausgeschüttet worden wäre. In der senkrechten Lichtsäule tanzten mehr Staubteilchen als zuvor. Wut wallte in mir auf, eine Woge von Adrenalin. Wenn das Tara gewesen war, würde sich dieser Hort des Bösen in seine Atome auflösen, ehe ich mit ihm fertig war. Und bis dahin würde ich noch weitere Schreie hören. Ich wandte mich wieder zur Treppe, blieb jedoch stehen, als ich wieder ein wenig zur Besinnung kam. Ich wartete noch eine Weile, für den Fall, daß jemand von oben herunterschaute. Währenddessen hob ich langsam den Nadler und stellte ihn auf >Tödliche Dosis<. Ich bewegte mich steif weiter, als sei ich soeben aus einer Trance erwacht, und dann entspannten sich meine Muskeln wieder. Auf halber Höhe der Treppe zur Ebene Minus Zehn stellte ich den Nadler wieder auf >Betäubungsmittel<. Ich schob die Tür auf und trat auf die leere Gangkreuzung. Bei der ersten Abzweigung bog ich zur Turmmitte ab. Ich zögerte, dann bewegte ich mich einen weiteren leeren Gang entlang. Die Sicht war mir zur Mitte hin durch eine Art doppelt mannshoher Wand versperrt. Ich näherte mich behutsam dem Ende des Gangs, ohne jemanden zu sehen. Allerdings vernahm ich von irgendwoher Stimmen. Die vor mir liegende Wand war kreisförmig um die Turmmitte herum gebogen. Als ich dort
ankam, entdeckte ich einen Gang, der außen an der Wand entlanglief. Die Stimmen wurden allmählich lauter und kamen anscheinend von der anderen Seite der Wand. Links vor mir befand sich in der Wand eine Öffnung. Ich wurde langsamer. Ich konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde. Ich wollte gerade um die Ecke spähen, als ich innerhalb des wandumschlossenen Raums einen silbern glänzenden Kanister auf einem Tisch liegen sah. Davon reflektiert wurden drei mit Gewändern bekleidete Gestalten, die zwischen dem Durchgang und der Mitte des Turms standen. Ich wartete und beobachtete. Die Stimmen schienen eher zu singen als zu sprechen. Die Gestalten nickten rhythmisch mit den Köpfen. Das Bild war nicht ganz klar, doch ich hatte den Eindruck, sie stünden mit dem Rücken zum Durchgang. Eine bessere Gelegenheit würde sich mir wohl kaum bieten, daher beugte ich mich um die Ecke vor und löste drei nahezu lautlose Schüsse aus, für jeden Rücken eine Nadel. Pjfft. Pjfft. Pffft. Eine der drei Gestalten hatte noch die Geistesgegenwart, sich an die brennende Einschußstelle an ihrem Rücken zu greifen. Die anderen beiden brachen augenblicklich zusammen. Den Nadler schußbereit in der Hand, schaute ich mich um, vermochte jedoch niemanden zu entdecken, der mir hätte Schwierigkeiten machen können. Von hier aus konnte ich die Bodenöffnung der nächsthöheren Etage erkennen, doch zu sehen war niemand. Ich beeilte mich. Ich hatte keine Ahnung, wann hier jemand eintreffen würde oder ob die drei irgendwo erwartet wurden. Der kreisförmige Bereich zwischen der Wand und dem Loch im Boden war gesäumt von Rolltragen, wie sie normalerweise in Krankenhäusern benutzt wurden, um bewußtlose Patienten zu befördern. An jeder Trage waren Anschlüsse für Schläuche und Kabel. Auf einem der Tische lag jemand. Eigentlich hätte ich die drei Bewußtlosen zuerst verstecken sollen, doch ich konnte nicht warten. Der auf dem Tisch festgeschnallte Körper war der einer Frau. Ich konnte erkennen, daß sie Quetschungen hatte, und ich hatte fürchterliche Angst, es könnte Tara sein. Ich näherte mich dem Tisch, einen metallischen Geschmack im Mund. Die Frau hatte kein Haar mehr, und ihr Gesicht war so entstellt, daß ich zunächst nicht erkennen konnte, ob es sich um Tara handelte. Da schlug sie die Augen auf. Ich war froh, jemand anders zu sehen als die Person, mit der ich eigentlich gerechnet hatte. Voller Erleichterung darüber, daß es nicht Tara war, blickte ich ihr in die Augen und verspürte plötzlich tiefen Schmerz. Der Ausdruck ihrer Augen war der eines Tiers, das so fest und grausam festgebunden war, daß es sich beinahe ein Glied abgerissen hätte. Sie war blutüberströmt und hatte tiefe Schnittwunden im Leib. Als die Frau den Mund öffnete, sah ich, daß sie keine Zähne mehr hatte. Ehe sie sprechen konnte, sagte ich rasch: »Ich will Ihnen nicht weh tun.« Ihre Stimme war schwach, doch diesmal verstand ich sie. Mit quälender Langsamkeit sagte
sie: »Töten Sie mich. Bitte.« Ich sah ihr ins Gesicht, und diesmal erkannte ich sie. Vor mir lag, was von Marj Lendelson übriggeblieben war. Von dem Selbstvertrauen und der Gelassenheit, die sie an Bord der Redshift an den Tag gelegt hatte, war nichts übriggeblieben. Erstaunlicherweise empfand ich wegen der Katastrophe, die herbeizuführen sie mitgeholfen hatte, keinen Haß auf sie; ich empfand lediglich Bedauern und Mitleid. »Wollen Sie das wirklich?« fragte ich. Sie nickte. »Also gut. Ich glaube, ich verstehe Sie.« Als ich den Schalter auf >Tödliche Dosis< stellte, begann Marj Lendelson zu weinen. Ich setzte die Mündung auf ihren Arm, und sie sah mir in die Augen. Sie nickte mir noch einmal aufmunternd zu und preßte die Lippen zusammen. Ich drückte den Abzug. Marj zuckte nicht einmal. Den Abzug zu drücken war, als startete ich eine Zeitmaschine. Für einen Moment versetzte mich die Dankbarkeit in Marjs Augen wieder nach Redwall zurück, wo ich Rissas Peiniger getötet hatte. Die Tatsache, daß mich der Akt des Tötens zweimal mit Stolz erfüllt hatte, verursachte mir zwar Gewissensqualen, doch hätte ich Marj Lendelsons Begehren ebensowenig zurückweisen, wie ich damals auf Redwall hätte untätig bleiben können. Ich schloß Marjs leblose Augen und atmete rief durch. Informationen. Ich brauchte Informationen. Ich ging zurück zu den drei bewußtlosen Gestalten. Es handelte sich um zwei Männer und eine Frau mit einem orangefarbenen Halsband. Ich hob einen der Männer hoch, schleppte ihn zu einer Rolltrage und schnallte ihn darauf fest. Als ich mich vergewissert hatte, daß er sich nicht würde losmachen können, befestigte ich einen weiteren Riemen um seinen Hals. Da ich noch immer in Sorge war, von oben entdeckt zu werden, legte ich auch die beiden anderen Bewußtlosen auf Tragen, damit sie wie Opfer wirkten. Ich stellte den Nadler auf >Gegenmittel< und schoß dem festgeschnallten Gefangenen in den Arm. Ich wartete ungeduldig auf das Einsetzen der Wirkung. Der Mann schien um die Vierzig zu sein, das Haar an den Schläfen ergraute bereits. Am Kinn hatte er eine kleine Kerbe, und die vorstehenden Backenknochen ließen seine Wangen hohl erscheinen. Er wirkte ebensowenig monsterhaft wie die meisten Besucher Redwalls. Nach etwa einer Minute begannen seine Gesichtsmuskeln zu zucken. Ich zog den Halsriemen an, bis er kaum noch Luft bekam. Er runzelte die Stirn, als hätte er einen Alptraum, dann schlug er die Augen auf. Er blinzelte, wohl wegen der Helligkeit und auch vor Schmerzen, und bedachte offenbar seine Lage, ehe er zu sprechen begann. Der Riemen sollte ihn am Schreien hindern. »Wer sind Sie?« fragte er. Seine Stimme klang wegen des Riemens um seinen Hals heiser. »Sagen wir, einer, den es nach Erkenntnis dürstet. Ich brauche Informationen von Ihnen.«
Der Mann machte eine unflätige Bemerkung, die ich von einem tiefreligiösen Menschen niemals erwartet hätte. Ich zog den Riemen fester an und sagte: »Sie sind aufgrund der Nachwirkungen der Nadel in Ihrem Arm wahrscheinlich noch etwas durcheinander. Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe; ich sage Ihnen, was Sie zu tun haben. Kapiert?« »Was wollen Sie?« Seine Stimme war nurmehr ein Flüstern. »Ich will wissen, was hier vorgeht. Und ich will wissen, wo die Gefangenen sind. Doch das muß ich wohl näher erläutern. Ich will wissen, wo die Leute sind, die Sie vor ein paar Stunden gefangengenommen haben.« »Fragen Sie jemand anders.« »Ich glaube, Sie haben immer noch nicht begriffen.« Ich sah mich nach etwas um, mit denen ich ihn notfalls einschüchtern konnte. Kurz darauf stand ich wieder am Tisch und hielt zwei Kabel mit Sägezahnklemmen in der Hand. Die Kabel waren mit einem Wandstecker verbunden. Als ich die Klemmen vor dem Gesicht des Mannes kurz zusammenführte, flogen Funken. Eine Klemme befestigte ich an seinem Ohrläppchen, ohne mich an dem Blut, das darunter hervorquoll, zu stören. Die andere Klemme ließ ich vor seinem Gesicht baumeln. »Die vielen Patienten, die man zu Euch herunterbringt, haben Euch verdorben. Wahrscheinlich habt Ihr schon ganz vergessen, daß manche Leute sich immer noch der Mühe unterziehen, Hausbesuche zu machen. Jedenfalls kann ich Ihnen versichern, daß Ihnen meine Behandlung nicht gefallen wird.« Der Mann verfolgte mit aufgerissenen Augen die schwingende Klemme. »Probieren wir’s noch mal«, sagte ich. »Wo sind die Gefangenen?« Der Mann schwieg. Ich hielt die Klemme näher an seinen Körper. Abgesehen vom Geräusch des schweren Atmens blieb er stumm. »Ich mache das nicht gern«, sagte ich. »Aber ich tu’s.« Er schwieg noch immer, daher führte ich die Klemme an seinen Augen vorbei und streifte damit über sein Ohr. Er ruckte mit dem Kopf, was die Riemenspannung vorübergehend verstärkte. Er war so stur, daß ich ihn ein paarmal mit der Klemme berühren mußte. Allerdings achtete ich darauf, daß er nicht soviel Strom abbekam, daß sein Herz oder sein Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wurden. Ich wollte mir gerade eine weitere Stelle für die Klemme aussuchen, als er endlich herausplatzte: »Sie… sie sind auf Ebene Zwei.« Ich konnte es mir nicht leisten, einer Lüge aufzusitzen, daher log ich ihn an. »Reden Sie keinen Scheiß. Ich komme gerade von oben und habe nichts gesehen.« Ich schwenkte die Klemme hin und her. »Ich schwöre, sie sind dort. Man hat sie in Zellen gesperrt. Vor einer knappen halben
Stunde.« »Sind sie unverletzt?« »Ich glaube, ja. Jedenfalls die meisten. Nehmen Sie das Ding weg.« »Ich werde mir Ihre Bitte durch den Kopf gehen lassen. Haben Sie Marj Lendelson deshalb gefoltert, weil sie uns hierhergeführt hat?« »Sie hat was getan?« Er verdrehte den Kopf unter dem Riemen. »Dann ist das also neu für Sie?« »Ja.« »Warum dann?« »Der Vorrat ging uns aus. Es hätte auch jeder andere sein können.« »Warum?« fragte ich und streifte ihn mit der Klemme. Er schauderte. »Das… das würden Sie nicht verstehen.« »Versuchen Sie’s einfach. Ich bin ein äußerst verständnisvoller Mensch.« »Sie sterben für uns. Der Schmerz befreit uns.« »Meinen Sie das in einem ganz konkreten Sinn, oder sprechen Sie von religiösen Vorstellungen?« »Der Satan sorgt dafür, daß es im Universum ein gleichbleibendes Schmerzniveau gibt. Wenn… wenn die Schmerzen jemand anders abbekommt, haben wir weniger zu erdulden.« Diese Frage eingehender zu erörtern, hätte mehr Zeit erfordert, als mir zur Verfügung stand, und mich wahrscheinlich noch mehr aufgebracht, daher wechselte ich das Thema. »Niemand kommt hierher, ohne daß er zuvor eine beträchtliche Schenkung gemacht hätte. Ich nehme an, bei der Gelegenheit lassen Sie sich auch gleich das restliche Vermögen der Opfer überschreiben?« Da er schwieg, ließ ich die Klemme etwas tiefer hängen. Er nickte, ohne die Klemme aus den Augen zu lassen. Ich dachte an das Gesicht, das ich kurz gesehen hatte und das ich von früher her zu kennen meinte, und fand, der Unterschied zwischen Xanahalla und Redwall sei gar nicht so groß. »Wer ist hier der Chef? Neddi Pulmerto?« Er riß die Augen so weit auf, daß ich ihm niemals geglaubt hätte, wenn er die Frage verneint hätte. Er nickte. Mir war kalt, und ich war wütend. Am liebsten hätte ich die zweite Klemme an seinem Körper befestigt und wäre weggegangen. Doch ich tat es nicht. Ich hatte in meinem bisherigen Leben schon zu oft das getan, was ich nicht tun wollte, und nicht getan, was ich tun wollte, um das Muster jetzt zu verändern.
Nein, das stimmte nicht ganz. Das Muster hatte sich verändert, als ich genug Entschlossenheit oder Verzweiflung angesammelt hatte. Und wenn ich diesen elenden Mistkerl bestrafte, würde ich mich auch nicht besser fühlen. Hätte allerdings Neddi Pulmerto hier auf dem Tisch gelegen, hätte die Sache anders ausgesehen. Ich sah immer noch Kerri Gangorras erschreckend leeres Gesicht vor mir, nachdem Neddi Pulmerto und zwei mit ihr befreundete Männer sie von einer Privatparty zurückgebracht hatten, die zwei Tage gedauert hatte. Kerri hatte so abwesend gewirkt, als sei sie längst über jeden Schmerz und alles Leiden hinaus. Fünf Tage später hatte sie sich umgebracht, indem sie eine ganze Flasche Reinigungsmittel ausgetrunken hatte. Zu der Zeit war Neddi bereits zu einem neuen Abenteuer unterwegs gewesen, das gewiß nicht minder grausam ausgefallen war, was für sie allerdings den Normalfall darstellte. »Der Satan erschafft nicht den Schmerz«, sagte ich. »Das tun Menschen wie Neddi Pulmerto und Sie. Oder vielleicht nähren sich Menschen wie Neddi auch vom Schmerz. Ich kann mir schon vorstellen, wie es zu alldem gekommen ist. Wahrscheinlich hat sie eine Gruppe von Verrückten wie Sie gefunden, die irgendwann am anderen Ende der Diskriminierung standen. Und dann hat sie eine Möglichkeit entdeckt, euch Rache nehmen zu lassen und ihren eigenen Reichtum zu mehren. Oder aber sie hat eine Situation herbeigeführt, die zur Bildung einer solchen Gruppe geführt hat.« Es gab keinen Grund, diesen erbärmlichen, verabscheuungswürdigen Mann noch länger auszufragen. Entweder er wußte weit mehr, als ich vermutete, was mir zweifelhaft schien, oder aber er war einfach nur ein angeknackster Mensch gewesen, der sich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort befunden hatte, so daß Neddi ihn manipulieren konnte. Und darin war sie gut. Angewidert löste ich die Klemme von seinem Ohr und hängte die Kabel an die Wand. Ich stellte den Nadler wieder auf >Betäubungsmittel< und schoß ihm eine weitere Nadel in den Arm. Als sich sein Körper entspannt hatte, nahm ich ihm den Halsriemen ab. Ich durchsuchte die Taschen seines Gewands, entdeckte jedoch lediglich einen siebenzackigen Stern darin. Zunächst wollte ich den Stern zurücklassen, doch als ich die beiden anderen Gestalten durchsuchte, stellte ich fest, daß sie gleichartige siebenzackige Sterne bei sich trugen, und da fiel mir die Verzierung im Aufzug ein. Ich steckte alle drei Sterne in die Tasche. Ich ging zurück zur Treppe und bemühte mich, leise zu sein. Wenn sie Tara etwas getan hatten, dann konnte ich mir keine Rache vorstellen, die ihre Schmerzen auch nur annähernd aufwiegen würde. Als mir klar wurde, wieviel mir ihr Wohlergehen mittlerweile bedeutete, wäre ich beinahe stehengeblieben. Ich stieg mit gezogenem Nadler weiter die Treppe hinunter. Da versuchte ich also eine Frau zu finden und zu schützen, die selbst einmal zu den Bewohnern dieser Welt gehört und die man ausgesandt hatte, weitere Reichtümer zu erwerben und neue Opfer zu rekrutieren. Allerdings konnte ich nicht glauben, daß Tara über diesen Ort Bescheid wußte. Man hatte bestimmt ihre Leichtgläubigkeit ausgenutzt, ohne daß ihr die Bedeutung, die man hier dem Begriff des >Opfers< beimaß, klar gewesen wäre. Ich gelangte zu der Tür mit der Aufschrift Ebene -2. Dahinter fand ich zwei weitere leere Gänge. Im Moment war ich froh, daß Xanahalla eine so niedrige Bevölkerungsdichte aufwies. Wahrscheinlich war das die Folge davon, daß ein Teil der Bewohner andere Bewohner tötete. Diese Etage machte einen weniger tristen Eindruck als die tiefer gelegenen Ebenen, so als
hätten die Designer bewußt eine Farbpalette verwendet, die unter dem Erdgeschoß mit düsteren Farbtönen begann und sukzessive zu immer bedrückenderen Farbtönen fortschritt. Während die oberen Etagen offen und luftig gewesen waren, erinnerten die unteren Ebenen eher an ein von einem unter Platzangst leidenden Manisch-Depressiven erbautes Bürogebäude. Die schwarzen, weißen und braunen Wandmuster erinnerten an abgestorbene Blätter, an verrottendes Laub. Ich steckte den Nadler in die Tasche und schritt zielstrebig aus, so als hätte ich das Recht, hier zu sein. Und meiner Ansicht nach hatte ich das auch. Kurz vor dem ersten Korridor, der zur Mitte führte, blieb ich stehen. Es war niemand zu sehen, daher setzte ich meine Suche mit vorgetäuschter Selbstsicherheit fort. Diese Ebene schien in einem quadratischen Gittermuster angelegt zu sein. Der erste Quergang war gerade und nicht kreisförmig wie weiter unten. Während ich mich weiter dem Zentrum näherte, fragte ich mich, ob man mich nicht doch angelogen hatte. Doch je näher ich der Mitte kam, desto wahrscheinlicher schien mir, daß mir der Mann die Wahrheit gesagt hatte. Am Ende des Korridors lag ein breiter Laufgang, der die Bodenöffnung in der Mitte kreisförmig umschloß. Die Innenwand versperrte den Zugang zur Mittelsäule, daher war die Anlage hier anders als auf der Ebene, wo ich Marj Lendelson entdeckt hatte. Eine Ähnlichkeit gab es jedoch. Auch auf diesem Gang hielten sich drei Bewohner Xanahallas auf. Damit waren die Parallelen jedoch auch schon erschöpft. Diesmal wurde ich bemerkt, sobald ich um die Ecke bog. Ich ging weiter, nach außen hin ganz ruhig. Lediglich eine der drei Gestalten hatte mich gesehen. Sie sah mir im Sitzen entgegen. Ihre beiden Begleiter saßen ebenfalls; der eine blickte in die entgegengesetzte Richtung, der andere sah auf zwei Türen in der nahen Wand. Alle drei waren mit stupsnasigen Schockern bewaffnet, und die Frau machte bereits Anstalten, den ihren zu heben, als ich auf sie schoß. Ich war nicht schnell genug. Ihre Waffe zischte, und der Strahl erfaßte mein Bein, ehe meine Nadel sie ausschaltete. Mein linkes Bein wurde auf der Stelle taub, und ich verlor das Gleichgewicht. Im Fallen feuerte ich zwei weitere Nadeln auf die beiden männlichen Wachposten ab. Eine der Nadeln hatte wohl ihr Ziel verfehlt, denn ich vernahm ein erneutes Zischen, als ich auf dem Boden aufschlug. Gleichzeitig feuerte ich mehrere weitere Nadeln ab. Während ich mich hinter der Abzweigung in Deckung wälzte, wurde mir klar, daß ich kein neuerliches Zischen gehört hatte. Als ich die Hand hinter der Ecke hervorstreckte, wurde kein weiterer Schuß abgefeuert. Nach kurzem Abwarten spähte ich um die Ecke und zog den Kopf gleich wieder zurück. Alle drei Wachposten lagen schlaff auf dem Boden. Ich versuchte aufzustehen, mußte jedoch einsehen, daß mir mit dem betäubten Bein das Kriechen leichter fiel. Also kroch ich um die Ecke und näherte mich den Wachposten, den Nadler schußbereit in der Hand. Zunächst erstaunte mich, daß eine solch widerliche Brut derart humane Waffen einsetzte,
doch dann fiel mir ein, wie sie mit den Opfern verfahren würden, wenn diese wieder zu sich kamen. Ein rascher Tod mit einem Laser oder einer Giftnadel hätte ihnen die Freuden der anschließenden Spielchen vorenthalten. Ich überprüfte den Puls der Frau. Es war ausgeschlossen, daß sie schauspielerte. Ich nahm ihr den Schocker aus den ausgestreckten Fingern. Die beiden Männer waren ebenfalls bewußtlos. Einer der Wachposten hatte außer mehreren siebenzackigen Sternen auch noch eine kleine Silberkugel in der Tasche, die Ähnlichkeit mit dem Gasbehälter aufwies, der Wades Team ausgeschaltet hatte. Erst als ich die Kugel und die Waffen in den Taschen meines Gewands verstaut hatte, wandte ich mich der Außenwand des kreisförmigen Korridors zu und entdeckte drei Fenster darin. In allen drei Fenstern war jeweils ein Gesicht zu sehen. Und in dem rechten Fenster erblickte ich Tara. Sie wirkte erschöpft und besorgt, lächelte mich jedoch an, als sie mich erkannte. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so gut gefühlt. Ich stützte mich auf einen der Stühle und stemmte mich hoch, bis ich schwankend aufrecht stand. Wade und ein paar seiner Leute waren zusammen mit Tara eingesperrt. Im mittleren Raum waren weitere Mitglieder von Wades Gruppe untergebracht. Im letzten Raum hielten sich zwei Leute auf, die ich nicht kannte. Den Stuhl schleppte ich mit, als ich mich Taras Fenster näherte. Ich wünschte, die Taubheit in meinem Bein hätte nachgelassen, doch das würde wahrscheinlich noch eine Weile dauern. Den Nadler schußbereit in der Hand, schob ich den Riegel beiseite und öffnete die Tür. Zwei von Wades Kumpanen strafften sich, als überlegten sie, ob sie mir den Nadler abnehmen sollten, daher sagte ich rasch: »Niemand rührt sich. Ich nehme Tara mit und lasse Euch eine Waffe zur Verteidigung da.« Tara sagte: »Ich bin ja so froh, Sie zu sehen. Wie haben Sie sich befreit?« »Ich freue mich auch, Sie zu sehen. Aber ich war nicht eingesperrt.« Ich musterte sie prüfend, unendlich dankbar dafür, daß sie unverletzt war. Mein Blick ruhte so lange auf ihr, daß die beiden Männer sich doch entschlossen, sich auf mich zu stürzen. Ich feuerte zwei Nadeln ab, und die beiden Kerle brachen zusammen, ehe sie mich erreicht hatten. In gewisser Weise hatten sie aber dennoch Erfolg, denn Wade nutzte die Gelegenheit, legte Tara den Arm um den Hals und rief: »Bleiben Sie stehen, Jason! Sonst breche ich ihr den Hals.« Wie zum Beweis seiner Entschlossenheit faßte er Tara mit der anderen Hand an die Stirn, um sie als Hebel einzusetzen.
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Kapitel 14
Die Fallen von Xanahalla »Wenn Sie ihr etwas tun, haben Sie nichts mehr in der Hand, und Sie werden es für den kurzen Rest Ihres Leben bedauern, das garantiere ich Ihnen.« Ich hielt den Nadler unverändert auf Tara und Wade gerichtet und überlegte, wie genau ich wohl zielen konnte, ob ich schneller schießen könnte, als Wade reagieren würde, und wie es um mein Glück bestellt war. Bis jetzt war der Tag nicht sonderlich glücklich verlaufen. »Werfen Sie den Nadler rüber, Jason. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich keinen von Ihnen beiden töten werde.« »Ich glaube, Sie begreifen nicht ganz. Sie sollten mir besser zuhören.« »Geben Sie mir sofort den Nadler, sonst breche ich ihr den Hals.« Wades Stimme klang unverändert laut und angespannt. »Hören Sie mir gut zu, oder Sie sind ein toter Mann. Tara kommt mit mir hier raus, oder sie stirbt. Und zwar an Ort und Stelle. Ich würde sie lieber eigenhändig töten, als sie lebendig hier zurückzulassen. Das kann ich erklären, und Sie sollten mir besser zuhören.« Taras Augen weiteten sich. »Jason, was reden Sie da?« »Beeilen Sie sich«, sagte Wade. Aus verständlichen Gründen war er mißtrauisch. »Also gut. Einiges von dem, was ich Ihnen sagen werde, wird Ihnen unglaubwürdig erscheinen, doch ich kann es beweisen. Ich nehme an, Sie sind hier zu sich gekommen und wissen nicht, wo Sie sind?« »Richtig«, sagte Tara. Wade nickte. »Und Sie gehen davon aus, daß man Sie irgendwann hier herausholen und den zuständigen Behörden vorführen wird.« »Natürlich«, meinte Wade. »Nun, da irren Sie sich. Wenn es nach den Einheimischen geht, kommen Sie hier niemals lebend heraus.« »Ach, übertreiben Sie doch nicht, Jason«, sagte Tara. »Ich weiß wohl, daß Wade etwas Schreckliches vorhatte, doch es ist ja nichts passiert. Der Schatz ist in Sicherheit. Der Turm wurde nicht beschädigt. So rachsüchtig sind sie nicht.« »Ich übertreibe keineswegs, doch darum geht es gar nicht. Ich gehe davon aus, daß niemand, der unfreiwillig in den Keller gelangt, jemals wieder freikommt. Statt dessen wird er gefoltert, bis er stirbt.« »Was?« fragten Wade und Tara gleichzeitig. Dann setzte Tara hinzu: »Was meinen Sie mit >Keller«
Es erfüllte mich mit tiefer Genugtuung, daß sie diese Frage stellte. »Was glauben Sie, wo Sie sich befinden? Ich will damit sagen, daß es unter dem Türm der Verehrung eine genau spiegelbildliche Konstruktion gibt. Eine auf dem Kopf stehende Pyramide, die ebenso weit in den Boden hineinreicht, wie die äußere Spitze herausragt. Dort halten Sie sich gegenwärtig auf. Wir befinden uns drei Etagen unter dem Erdgeschoß des Turms, und schreckliche Dinge gehen hier vor.« Tara fiel es anscheinend schwer, mir das zu glauben. »Sind Sie sicher, daß mit Ihnen alles in Ordnung ist?« fragte sie. Sie wirkte inzwischen weit weniger erfreut über meinen Anblick als zu Anfang. Ich hätte eigentlich erwartet, daß es Wade, dem notorischen Lügner, leichter fallen würde zu glauben, daß hier massenweise gefoltert wurde. Unglücklicherweise schien er meiner Geschichte ebenfalls keinen Glauben zu schenken. Ich berichtete ihnen rasch, was ich weiter unten gesehen hatte. »Ich weiß nicht, wieviel Zeit wir noch haben«, sagte ich. »Aber ich muß Sie überzeugen. Würden Sie mir denn glauben, wenn ich Ihnen beweise, daß wir uns hier unter der Erde befinden?« Tara zuckte mit die Achseln, so gut sie das in Wades Umklammerung vermochte. Wade sagte: »Keine Spielchen, sonst tu ich’s.« »Folgen Sie mir. Für Spielchen haben wir keine Zeit.« Ich ließ den Stuhl los und stützte mich an der Wand ab, während ich das taube Bein nachzog. Ich bewegte mich langsam und achtete gleichzeitig darauf, daß wir von keinen Einheimischen überrascht wurden und daß Wade nicht flüchtete. Es ging mir gegen den Strich, mich gleichzeitig um Wade und die Einheimischen kümmern zu müssen. Wade und Tara folgten mir mit kurzen Schritten. Die Gefangenen in den anderen beiden Zellen beobachteten uns durch die Zellenfenster. Wir folgten dem Kreisgang bis zu einem Korridor, der zur Mitte führte. Während wir uns der Mitte näherten, konnten wir zwar das Geländer rund um die Öffnung und die Öffnung über uns sehen, waren jedoch nicht nahe genug, um nach unten blicken zu können, so daß wir uns ebensogut auf einer der oberen Etagen hätten befinden können. Ich hob die Hand, und wir blieben alle drei stehen. Ich flüsterte: »Je länger wir uns in der Nähe des Geländers aufhalten, desto größer das Risiko, daß man uns entdeckt, daher beeilen Sie sich. Ich werde den Nadler solange auf den Boden legen, damit Sie hinunterschauen können, ohne Angst haben zu müssen, daß ich auf Sie schieße.« Wade zerrte Tara mit sich zur Mitte. Wade beobachtete aufmerksam, wie ich den Nadler ablegte, und sah anschließend wiederholt in meine Richtung. Sie waren jetzt so dicht am Geländer, daß sie über den Rand blicken konnten. Beide schauten in die Tiefe, und ich hörte, wie Tara scharf einatmete. Schweigend blickten sie zu dem großen roten >X< empor. Als sie zu mir zurückkamen, hob ich den Nadler wieder auf. Tara war bleich geworden. Wir schwiegen, bis wir die offene Zellentür erreicht hatten. »Was ist jetzt?« fragte ich. »Ich will Tara lebend haben, aber ich werde sie auf keinen Fall
diesen Schlächtern überlassen. Die werden sie für eine Verräterin halten und sich durch keine Argumente vom Gegenteil überzeugen lassen.« »Na schön«, meinte Wade. »Es gibt also einen unterirdischen Bereich. Das beweist aber noch lange nicht, daß auch das übrige stimmt.« Frustration und Ärger verhärteten meine Stimme. »Die Zeit wird allmählich knapp. Hören Sie mir genau zu und beten Sie um Selbstbeherrschung. Wenn Sie Tara etwas tun, lasse ich Sie hier lebend zurück, und man wird Sie zu Tode foltern. Haben Sie die Warnung verstanden?« Wade nickte. »Ich habe Marj Lendelson dort unten gefunden. Sie war aufs grausamste verstümmelt. Vor einer guten Viertelstunde habe ich Sie auf ihre Bitte hin von ihren Leiden erlöst. Ich habe sie getötet.« Wade antwortete prompt: »Sie lügen. Sie befindet sich in Sicherheit. Sie ist bloß noch nicht registriert. Damit kommen Sie nicht durch, Jason. Es gibt…« »Sie haben ihr den Leib geöffnet und…« »Nein!« Wade erstarrte und schloß die Augen. Tara nutzte die Gelegenheit, um sich von ihm zu befreien. Sie rückte einen Meter von ihm ab, so daß er nun allein in der Schußlinie stand. Sie rieb sich den Hals. »Dann stimmt es also?« meinte Wade leise, an niemand Bestimmten gewandt. »Ja. Jedes einzelne Wort.« Wade erwachte allmählich aus seiner Erstarrung. Er sah mich an. »Und Sie wollen mich hilflos hier zurücklassen?« »Ich muß zugeben, die Vorstellung ist verlockend. Einen solchen Tod hat jedoch niemand verdient. Nicht einmal Sie.« »Was dann?« »Hinein.« Ich deutete auf die Zelle. »Treten Sie zur Wand zurück.« »Warum?« »Weil ich es so will.« Vielleicht zog ich die Auseinandersetzung unnötig in die Länge, doch jetzt, da wir unsere Positionen getauscht hatten und Tara in Sicherheit war, fühlte ich mich euphorisch. Wade wich in die Zelle zurück und stieg dabei über die beiden bewußtlosen Männer hinweg. Ich wartete, bis er die gegenüberliegende Wand erreicht hatte, dann holte ich eine der erbeuteten Waffen hervor und legte sie unmittelbar hinter der Tür auf den Boden. »Ich lasse Ihnen einen Schocker da. Es hat keinen Zweck, wenn Sie durch die Fenster oder die Wand hindurch zu feuern versuchen, aber wenn man Sie holen kommt, sind Sie wenigstens nicht wehrlos. Sobald wir das Schiff erreicht haben, werde ich den Behörden mitteilen, wo Sie zu
finden sind.« Wade nickte niedergeschlagen. Vielleicht hätte er unter anderen Umständen mehr Widerstand geleistet, doch ich hatte das Gefühl, daß ihm Marj Lendelsons Tod sehr naheging. Ich schob die Tür zu und verriegelte sie. Tara stützte mich bis zur nächsten Tür. Mein Bein begann bereits zu prickeln, daher würde ich mich bald wieder schneller fortbewegen können. »Danke«, sagte ich. »Ich danke Ihnen«, erwiderte Tara dicht an meinem Gesicht. So gut hatte ich mich schon seit Jahren nicht mehr gefühlt. Der Gedanke, daß sich die Zukunft nurmehr nach Minuten bemessen könnte, rückte auf einmal in den Hintergrund. An der Tür, hinter der Daniel und der stämmige Kerl mit den buschigen Augenbrauen eingesperrt waren, bedeutete ich ihnen, zur gegenüberliegenden Wand zurückzutreten. Dann öffnete ich einen Spalt weit die Tür und sagte: »Ihr glaubt, ihr seid die Bösen, aber ihr habt noch nicht alles gesehen. Das wird euch helfen, wenn man euch holen kommt.« Ich warf ihnen den zweiten Schocker zu und rammte die Tür wieder zu. Die beiden Personen hinter dem dritten Fenster, ein Mann und eine Frau, die etwas älter waren als ich, kannte ich nicht. Tara kannte sie auch nicht, daher beschlossen wir, kein Risiko einzugehen, denn es war nicht auszuschließen, daß es sich um Bewohner des unterirdischen Bereichs handelte, die man für den Notfall hier untergebracht hatte. Ich gab ihnen den dritten Schocker, ließ die Tür jedoch verriegelt. Erst jetzt fiel mir auf, daß die blonde Frau aus Wades Gruppe fehlte. Wahrscheinlich wurde sie anderswo >verhört<. Ich verstaute die drei bewußtlosen Aufpasser in einem angrenzenden Raum, damit derjenige, der als nächster hier vorbeikam, nicht gleich Verdacht schöpfte. Vielleicht würde man auch annehmen, die drei Wachposten seien woanders hinbeordert worden. »Zurück zum Schiff?« fragte Tara. »Ja. Hoffen wir, daß wir unterwegs nicht geschnappt werden.« Nur halb im Scherz setzte ich hinzu: »Falls doch, was würden Sie dann von einem Selbstmordpakt halten?« »Aber nur, wenn uns wirklich keine andere Wahl bleibt, als zu Tode gefoltert zu werden.« Tara und ich wandten den Zellen den Rücken zu und machten uns auf den Weg nach oben, wo wir vielleicht vor religiöser Verfolgung sicherer waren. »Dann haben Sie von der unteren Hälfte des Turms also nie etwas geahnt?« fragte ich, als wir die relative Sicherheit der Treppe erreicht hatten. Tara schüttelte den Kopf. »Allerdings ist man hinterher immer klüger. Hin und wieder tauchten unbekannte Gesichter auf, obwohl ich glaubte, die meisten Einwohner zu kennen. Und dann war meine Freundin nicht da, obwohl wir uns hier hatten treffen wollen. Wahrscheinlich gehörte sie zu den Opfern. Genau wie Marj Lendelson.« Wir stiegen schweigend noch ein paar Stufen höher, dann wandte sie sich zu mir um und flüsterte: »Warum? Warum tun sie das?« Ihre Augen glänzten, und ihre Stimme klang rauh.
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Macht? Ich glaube, es gibt immer Menschen, die bereit sind, andere auszunutzen. Man kann es mit Politik, mit Religion oder mit Sex bemänteln, aber ich habe schon zu viele Menschen kennengelernt, die großen Gefallen finden an dieser Art Macht. Nehmen Sie dann noch ein Regelwerk, das einen davon überzeugen soll, daß man tatsächlich vernünftig und zumindest zum Wohle einer kleinen Gruppe von Menschen handelt, dann sollten die anderen besser auf der Hut sein.« »Klingt ziemlich krank.« »Das war der Sinn meiner Rede.« Wir hatten die Tür zur Ebene Minus Eins erreicht. Ich blickte die Treppe hinauf, die zur >Wartungsebene< hochführte, und zögerte. »Was befindet sich auf dieser Ebene?« fragte Tara. Ihre Wangen hatten wieder Farbe angenommen, und ihre Augen blickten munterer. »Keine Ahnung.« Ich schob die Tür einen Spalt weit auf und spähte hindurch. Es gab nicht viel zu sehen, denn unmittelbar dahinter lag ein unbeleuchteter Raum, der an eine Luftschleuse erinnerte. »Vielleicht will man nicht, daß Licht von der Treppe hineinfällt«, meinte Tara, gerade als ich den gleichen Gedanken hatte. »Sehen wir mal rasch nach.« Als wir die Tür zum Treppenhaus hinter uns geschlossen hatten, blieben als einzige Lichtquelle zwei trübe Deckenleuchten, die nicht mehr Licht spendeten als ein Dutzend unterernährte Glühwürmchen. Ich wartete ab, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und lauschte auf Taras Atem. Vorsichtig öffneten wir die Innentür und traten auf einen trüb erhellten Gang, der parallel zu den Fahrtstuhlreihen lag. Niemand war zu sehen. Hin und wieder führten Türen nach innen. »Lassen Sie uns einen Blick hineinwerfen und dann weiter nach oben gehen«, flüsterte ich. »Einverstanden.« Wir blickten durch eine der Türen. Anscheinend wurde auf Ebene Minus Eins Kriegsrat gehalten. Über den im Halbdunkeln liegenden Stühlen und Steuerkonsolen schwebten Hologramme in der Luft, die anscheinend von oben übertragen wurden. Die kreisförmige Bodenöffnung war von einem lichtfilternden Feld umgeben, so daß das riesige >X< an der Decke kaum zu erkennen war. Innerhalb der Mittelsäule befand sich ein maßstäblich verkleinertes Modell des Turms der Verehrung. Winzige, mit Gewändern bekleidete Gestalten bewegten sich im Erdgeschoß und auf mehreren der höheren Etagen umher. Um den Turm der Verehrung herum angeordnet war das Modell der Tunnelebene, das anscheinend sämtliche miteinander vernetzte Tunnel sowie die vermutlich zu Wohnhäusern hochführenden Treppen abbildete. Auch in dem Tunnelsystem selbst bewegten sich winzige Gestalten umher. In regelmäßigen Abständen innerhalb der einzelnen Tunnelabschnitte und bei fast jedem Treppenaufgang zum Wohnbereich gab es Hinweise auf nach unten führende >Wartungs-
treppen<. Und unterhalb jedes Tunnelabschnitts gab es eine blaue Linie, die darauf hindeutete, daß es unter dem öffentlichen Tunnelsystem ein zweites gab. Das würde erklären, wie die Opfer unbemerkt aus ihren Häusern oder aus anderen öffentlichen Bereichen entfernt und in den unterirdischen Teil des Turms der Verehrung geschafft wurden, nachdem sich das Opfer zuvor von seinen Freunden oder Bekannten mit den Worten >Auf Wiedersehen. Ich gehe nach Hause< verabschiedet hatte. Statt dessen zwang man das Opfer zu einem schmerzhaften Ausflug in den Keller, von dem es kein Zurück mehr gab. Ich neigte mich zu Tara hinüber und sagte: »Ich habe schon einiges über organisierte Religion gehört, aber das hier ist einfach unglaublich.« Tara legte die Lippen an mein Ohr und flüsterte: »Wahrscheinlich hat man uns gleich bemerkt, als wir den Tunnel betreten haben, und nur solange gewartet, bis klar war, was wir vorhatten. Und wenn wir durch die Tunnel verschwinden, wird man uns wieder sehen.« »Das glaube ich auch.« Während ich das Geschehen im Raum beobachtete und auf einen Einfall wartete, baute sich an einem Punkt in der Nähe der tunnelseitigen Treppen ein neues Hologramm auf. Es bewegte sich, während es größer wurde, und reihte sich schließlich zwischen die anderen Projektionen ein. Diesmal stammte das Bild offenbar aus einem der Wohnhäuser auf der Planetenoberfläche. Der in dem Hologramm abgebildete Raum war karg eingerichtet, hatte aber hübsche blaßgrüne und blaue Wände. In einer Ecke stand eine Holztruhe mit gepolsterter Sitzfläche. Mitten im Raum zog sich eine gutaussehende, hochgewachsene Blondine gerade das orangefarbene Gewand aus, wohl um unter die Dusche zu gehen, die gleich darauf sichtbar wurde, als sich der Blickwinkel verlagerte. «Vielleicht bin ich da eigen«, sagte ich, »aber selbst wenn diese Leute keine Kidnapper und Mörder wären, entsprächen sie doch nicht ganz meiner Vorstellung von anständigen Menschen.« »Ich glaube nicht, daß Sie da eigen sind.« Der Zorn in Taras Stimme war stärker geworden. »Vielleicht sollten wir an die Oberfläche gehen.« »Das könnte klappen. Aber es gibt noch eine weitere Möglichkeit.« »Welche?« »Ich sehe hier bloß fünf Leute. Ich könnte sie betäuben, ehe auch nur einer merkt, was los ist. Sie sitzen alle, daher ist nicht zu befürchten, daß man es hört, wenn sie zusammenbrechen. Ich würde gern das hier einsetzen, aber sie sitzen nicht nahe genug beieinander.« Ich zeigte ihr die silberne Kugel, die ich einem der Wachposten abgenommen hatte. »Kommt mir riskant vor.« »Wir befinden uns in einer Lage, in der wir ein paar Risiken eingehen müssen. Haben Sie einen besseren Vorschlag?« »Ja. Wir suchen uns eine sichere Stelle und betäuben einen von ihnen, Wenn die anderen nach ihm sehen kommen, werfen wir die Kugel.«
Ich blickte Tara an. »Sie sind raffinierter, als ich dachte. Reden wir über das >wir<. Wer schießt, wer wirft und wer paßt auf, daß uns keiner entwischt?« »Sie haben bewiesen, daß Sie mit der Waffe gut umgehen können. Ich werfe die Kugel, und Sie betäuben den Rest, falls uns jemand entwischen sollte.« »Das klingt verrückt, ist Ihnen das klar?« »Gibt es denn noch eine dritte Möglichkeit, die erfolgversprechender scheint?« Ich dachte kurz nach. »Versuchen wir’s.« Der nächste Aufpasser saß etwa auf halbem Weg zur Mitte, daher betraten wir leise den Raum und nahmen bei einem Gestell voller Geräte Aufstellung. Anscheinend hatte niemand etwas gemerkt. Die Frau in dem Hologramm trat unter die Dusche. »Schon eigenartig, daß man sich schmutzig fühlt, bloß weil man jemandem beim Waschen zusieht«, flüsterte ich Tara ins Ohr. »Sie sollten sich besser schon mal überlegen, in welche Richtung wir rennen sollen, wenn wir fertig sind. Das heißt, falls wir überhaupt rennen können.« »Ich glaube, mein Bein ist wieder in Ordnung. Wir müssen da lang.« Ich zeigte auf die Wand zu unserer Linken. »Dieser Tunnel endet am Raumhafen, und ich nehme an, daß das Hologramm die korrekte Lage wiedergibt.« »Dann haben Sie also schon vorausgedacht.« Ich schwieg. Ich bin ein vorausschauender Mensch, dennoch fand ich bisweilen, daß ich mich zuviel mit der Vergangenheit beschäftigte. Vielleicht ließ sich das nicht vermeiden, wenn man auf einem Schiff lebte, wo alles, was man sah, der Vergangenheit angehörte. »Auf wen wollen Sie schießen?« fragte Tara. Ich spähte um das Gestell herum und vergewisserte mich, daß der Mann, der uns am nächsten war, noch immer in eine andere Richtung schaute. Ich zeigte auf ihn. »Was halten Sie davon, wenn wir uns trennen? Wenn ich von dort aus schieße« - ich deutete auf die Stelle, die ich meinte -, »dann habe ich einen besseren Schußwinkel, falls Ihnen jemand entwischt.« Ich reichte ihr die silberne Kugel. Tara nickte. Ich wollte mich gerade zu der Stelle begeben, doch dann zögerte ich. »Was mit einigen Ihrer Freunde passiert ist, tut mir leid.« Sie blickte mich mit sanften Augen an. »Mir auch. Aber ich bin froh, daß Sie hier sind.« Ich rückte leise vor, wobei ich mich am etwas dunkleren Rand des Raums hielt. Mein hoher Adrenalinspiegel hielt mich wach, und ich fühlte mich ausgefüllter als noch vor kurzem, denn ich hatte das Gefühl, etwas wirklich Sinnvolles zu tun. Dieses Gefühl war so stark, daß es mir bewußt wurde, und ich fragte mich, ob das alles nur von Tara kam, oder ob ich selbst dafür verantwortlich war.
Die Frau in dem Hologramm hatte sich mittlerweile das Haar gewaschen und schrubbte sich nun den Körper ab. Derjenige, der die Aufnahme steuerte, drehte die Anzeige um dreißig Grad und fügte dem Hologramm noch ein zweites hinzu. Das neue Bild war gegenüber aufgenommen, so daß die beiden 180-Grad-Hologramme den Raum vollständig abbildeten. Eine bessere Ablenkung hätte ich mir gar nicht wünschen können. Ich gelangte zu einer Gerätereihe, die einerseits so weit von meinem Opfer entfernt war, daß ich von der Gaswolke nicht eingehüllt werden würde, andererseits aber auch so nahe, daß ich meinte, den Mann treffen zu können. Ich stützte den Arm auf den Schrank und zielte sorgfältig. Der Mann rutschte ein wenig auf dem Stuhl herum, dann rührte er sich nicht mehr. Ich drückte den Abzug durch. Der Mann fuhr zusammen und blickte nach links, als habe er etwas Verdächtiges gehört. Dann sah er auf seinen rechten Arm, während ich eine zweite Nadel abfeuerte. Der Mann zuckte erneut zusammen, dann sank ihm der Kopf auf die Brust. Ich stieß einen Seufzer aus, der nicht lauter war als das Pffft des Nadlers. Aus meiner Deckung heraus beobachtete ich die anderen Personen. Bislang hatte ich sechs gezählt. Ich fragte mich, ob wohl Neddi Pulmerto darunter war. Niemand schien zu bemerken, was mit dem Mann geschehen war. Ich überlegte, ob ich noch einen betäuben sollte, hielt mich jedoch zurück. Ein Mann, der das Bewußtsein verlor, das war relativ unverdächtig; bei zweien hätte man äußere Einwirkung annehmen müssen. Jetzt, da sich meine Augen vollständig an das Halbdunkel gewöhnt hatten, meinte ich, eine Person mehr als zu Anfang ausmachen zu können. Die Frau in dem Hologramm war fertig mit Duschen und schaltete das Trockengebläse ein. Anscheinend hatte ich den Mann betäubt, der für die Hologrammsteuerung verantwortlich war, denn als die Frau trocken war, verschwand sie seitlich aus dem Bild. Im nächsten Moment rief jemand: »He!« Als mein Opfer nicht reagierte, stand der Mann auf, packte den Bewußtlosen bei der Schulter und schüttelte ihn. Der Mann rührte sich nicht. Zwei weitere Aufpasser kamen nachsehen. Auch sie vermochten den Schläfer nicht aufzuwecken. Als zwei weitere Personen dazukamen, bemerkte ich, daß einer von ihnen eine Art Ärztekoffer dabeihatte. Der Mann stellte den Koffer auf eine Konsole und öffnete ihn. Mir wurde klar, daß wir nicht länger warten durften. Zwei der Leute waren noch viel zu weit von dem Bewußtlosen entfernt, als daß die Gasbombe ihnen hätte etwas anhaben können. Während der eine Mann etwas aus dem Koffer holte und sich dem Bewußtlosen näherte, zielte ich nacheinander auf die am weitesten entfernten Männer und drückte ab. Taras Timing hätte besser nicht sein können. Genau in dem Moment, als der mit dem medizinischen Gerät den Bewußtlosen erreichte, flog Taras Kugel in einem Bogen in den Raum und explodierte inmitten der kleinen Gruppe. Während gleichzeitig mein zweites Opfer zusammenbrach, zielte ich auf den letzten Aufpasser, der noch bei Bewußtsein war. Ich löste einen Schuß aus und dann noch einen, doch ich hatte zu spät reagiert; der Mann hatte sich bereits geduckt und flüchtete im Zick-Zack vor der sich ausbreitenden Gaswolke.
Da ich sonst niemanden gesehen hatte, nahm ich die Verfolgung auf. Alle, die sich in der Nähe der Wolke befunden hatten, waren zusammengebrochen. Mein Bein war doch noch nicht so weit wiederhergestellt, wie ich gemeint hatte. Ich stieß mit der Hüfte gegen den Rand einer niedrigen Konsole, richtete mich jedoch sogleich wieder auf und rannte weiter. Währenddessen überlegte ich, wie viele Schüsse ich wohl schon abgegeben hatte. Ich versuchte, dem Flüchtenden den Weg abzuschneiden. Ich rannte durch den abgedunkelten Raum und orientierte mich an den Geräuschen, die der Fliehende machte. Im nächsten Moment wurde es jedoch still. Auf einmal wurde mir klar, daß ich keinerlei Deckung hatte, und ich fragte mich, ob der Mann wohl bewaffnet war. Gerade als ich nach links hechtete, um mich hinter zwei Konsolen in Sicherheit zu bringen, drang das Zischen eines Schockers an meine Ohren. In der Eile geriet ich ins Stolpern, erreichte jedoch unbeschadet die Deckung. Während ich mich hinter die Konsolen kniete, wurde mir klar, daß mich der Lähmstrahl nur knapp verfehlt hatte. Und dann merkte ich, daß ich mich in einer ungünstigen Position befand. Wenn der Kerl genügend Zeit hatte, konnte er mir in den Rücken fallen. Und Tara war unbewaffnet. Ich spähte um den Rand der Konsole herum - und zog den Kopf sofort wieder zurück, denn ich hörte ein weiteres Zischen. Ich hatte noch keine fünf Sekunden lang überlegt, wie es weitergehen sollte, da ließ sich Tara plötzlich klar und deutlich vernehmen. »Vorsicht, Jason. Hier kommt noch eine.« Im selben Moment begriff ich, was sie meinte. Ein silberner Gegenstand flog in hohem Bogen auf meinen Gegner zu. Plötzlich rannte er los. Als ich seine Schritte hörte, beugte ich mich um die Ecke und schoß ihm in den Rücken. Er stürzte der Länge nach hin. Währenddessen prallte der Gegenstand, den Tara geworfen hatte, vom Boden ab und schlitterte unter eine Konsole. Sie hatte einen der siebenzackigen Sterne geworfen. Erst jetzt machte ich mir aus alldem ein Bild. Tara hatte unseren Gegner übertölpelt, indem sie ihn glauben gemacht hatte, wir verfügten über eine zweite Gasbombe, und daß er gut daran täte, sich aus dem Staub zu machen. Unbewußt hatte ich mich richtig verhalten, denn ich wußte ja, daß wir keine zweite Bombe hatten. Als ich in Taras Richtung sah, trat sie gerade mit triumphierend gereckter Faust aus dem Schatten. Ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen, doch ich brauchte nicht viel Phantasie, um mir ihr breites Grinsen vorzustellen. Wir trafen uns an einer unbemannten Konsole. »Gut gemacht«, sagte ich. »Danke. Aber jetzt sollten wir machen, daß wir von hier verschwinden.« »Eins nach dem anderen.« Ich führte sie zu einer Stelle, die mir aufgefallen war. »Helfen Sie mir, das aus dem Gestell zu ziehen«, sagte ich. »Sowas hab ich schon mal auf Redwall gesehen. Das ist der Störsender. Wenn er nicht mehr arbeitet, können die Leute auf
dem Schiff sehen, was hier vorgeht, falls sie sich Sorgen machen sollten, weil wir so lange auf uns warten lassen.« Ich zeigte auf einen in dem Gestell untergebrachten blauen Kasten, auf dem ein durchgestrichenes Symbol angebracht war, das ein Bein zeigte, welches durch einen Kreis hindurchtrat. Tara half mir, die seitliche Befestigung zu lösen. Mit vereinten Kräften zogen wir das Gerät heraus. Die Oberseite war verschlossen. Ich sagte: »Dieser Kasten enthält wahrscheinlich nur ein paar Kubikzentimeter unersetzlicher Komponenten, aber wenn wir ihn fallenlassen, geht es schneller. Ich möchte verhindern, daß man das Ding gleich wieder repariert.« Wir rissen die Kabel an der Rückseite ab, hoben den Kasten aus der Führungsschiene und schleppten ihn in die Mitte des Raums. Dort hoben wir ihn auf das Geländer, wo er das lichtfilternde Feld störte. Weiße Lichtpünktchen tanzten in einer schmalen Linie wie elektrische Funken um den Kasten herum. Wir schoben das Gerät behutsam über den Rand, bis es lautlos in den Abgrund stürzte. Von einem Aufschlag war nichts zu hören. Ich hätte gern gewußt, ob das Desintegratorfeld dort unten ständig eingeschaltet war und wie es wohl auf Aluminium und verschiedene andere Metalle und Legierungen wirkte, doch ehe das Gerät auch nur die nächsttiefere Etage erreicht hatte, rannten wir schon weg. Wahrscheinlich hätte ich Jahre meiner unglücklichen Kindheit wettmachen können, wenn ich die übrigen Geräte im Raum zerstört hätte, doch dafür reichte die Zeit nicht aus. Auf dem Weg zum Ausgang sah ich, daß unser letztes Opfer eine Frau war, und hob den Schocker auf, den sie fallengelassen hatte. Es handelte sich nicht um Neddi Pulmerto. Ich wunderte mich zwar darüber, sie weder hier noch bei den Gefangenen gesehen zu haben, durfte mir jetzt jedoch nicht den Kopf darüber zerbrechen, wo sie war. Ich wandte mich Tara zu. »Sie können doch so ein Ding bedienen, oder?« »Sicher.« Tara nahm die Waffe und schloß die Finger um den Knauf. Auf der >Wartungsebene< spähte ich durch den Türspalt und schob die Tür gleich wieder zu. »Was ist los?« wisperte Tara. »Da draußen geht gerade jemand zum Aufzug.« Ich öffnete die Tür einen winzigen Spalt weit und spähte abermals hindurch. »Dann warten wir eben einen Moment. Und dann?« »Wir könnten es mit dem Aufzug versuchen.« Ich wies sie darauf hin, daß es sich bei den siebenzackigen Sternen möglicherweise um Schlüssel handelte. »Aus dem Hologramm dort unten konnte man schließen, daß es auf dieser Ebene ein weiteres Tunnelsystem gibt, das unterhalb des Netzwerks verläuft, das Sie kennen. Und diese Tunnel werden wahrscheinlich nicht überwacht. Wir müssen davon ausgehen, daß dieser Mensch in den Überwachungsraum hinunterfährt. Dort wird er die Bescherung sehen, die wir angerichtet haben, und die Monitore im Auge behalten.« »Einverstanden. Lassen Sie uns nachsehen, ob es hier irgendwelche Tunnel gibt.«
Im nächsten Moment zog ich die Tür weit auf. »Gehen wir.« Tara und ich bewegten uns leise den Gang entlang, dann bogen wir von der Mitte des Turms der Verehrung Richtung Raumhafen ab. Nach erneutem zweimaligen Abbiegen gelangten wir zum Eingang eines Tunnels, der in die gewünschte Richtung führte. Dieser Tunnel war anders als die Gänge, durch die wir weiter oben gekommen waren. Während der gewundene öffentliche Tunnel eine abgerundete Decke und einen gelben Boden gehabt hatte, besaß dieser Tunnel einen rechteckigen Querschnitt und wirkte wie mit einem Laser geschnitten. Nach etwa hundert Metern führte von der Tunnelmitte eine Treppe nach oben durch die Decke. Auf beiden Seiten des Gangs gab es Spuren für schnelle Schwebefahrzeuge. Und auf der linken Spur stand ein solches Fahrzeug, als habe es auf uns gewartet. Wir stiegen in den Wagen. Bei manchen Sitzen waren auf den Armlehnen Handschellen angebracht. Wir suchten uns zwei Sitze ohne Handschellen aus. Neben Taras Sitz befand sich das kleinste Bedienungsfeld, das ich je gesehen hatte. Es gab nur einen einzigen Hebel, den man entweder zum Turm der Verehrung hin oder von ihm weg drücken konnte. Als Tara ihn wegdrückte, setzte sich der Wagen in Bewegung. Tara drückte den Hebel bis zum Anschlag durch. Das leise Heulen schwoll zu einem Winseln, während der Fahrtwind stärker wurde. Treppen mit Entfernungsangaben flogen an uns vorbei. Wir hatten etwa zwei Drittel des Weges zurückgelegt, als uns auf der anderen Tunnelseite ein Fahrzeug entgegenkam. Ich erblickte vier mit Gewändern bekleidete Gestalten darin, als es vorbeischoß. »O je«, meinte ich. Der andere Wagen bremste ab. »Ich sehe sie«, sagte Tara. »Schneller geht es nicht.« Das andere Fahrzeug hielt an. dann nahm es die Verfolgung auf. Wahrscheinlich konnte es nicht schneller fahren als wir, doch unser Vorsprung war nicht groß. Vorherzusagen, ob wir unsere Sprunganzüge rechtzeitig erreichen würden, war beim besten Willen nicht möglich. Den Entfernungsangaben nach näherten wir uns allmählich der Stelle, wo wir das Tunnelsystem betreten hatten. Das andere Fahrzeug fuhr jetzt ebenso schnell wie wir, holte jedoch nicht auf. »Wir müssen bald aussteigen«, sagte Tara, auf eine der Treppennummern deutend. Ich nickte und sah mich nach dem Verfolgerfahrzeug um. Im nächsten Moment fragte ich: »Sind Sie bereit zu rennen?« »So bereit, wie man nur sein kann. Da müssen wir raus. Halten Sie sich fest.« Tara warf den Hebel in die andere Richtung herum, und wir wären aufgrund der Verzögerung beinahe von den Sitzen gerutscht. Das Fahrzeug fuhr noch, als wir bereits hinaussprangen und zur nächsten Treppe rannten. Das Bein knickte mir ein, als ich die erste Stufe nahm, doch ich fing mich wieder und folgte Tara. Der andere Wagen bremste bereits ab. In der einen Hand hielt ich den Nadler, mit der anderen berührte ich einen der siebenzackigen Sterne, die bestimmt irgendeine Art Schlüssel waren. Zum Glück brauchten wir ihn nicht; die Tür glitt auf, als Tara dagegendrückte. Wir rannten durch den Eingang und fanden uns am Fuße einer Wendeltreppe wieder. In der Nähe
führte eine weitere Tür in den öffentlichen Tunnel hinüber. »Gehen Sie rauf!« sagte ich. »Holen Sie zwei Anzüge, aber nicht die, die wir getragen haben. Bei denen steht >Fernsteuerung< auf der Brust. Schaffen Sie die anderen zu der Tür dort oben. Ziehen Sie einen davon an und stellen Sie ihn auf Schicht Eins ein. Nicht Zehn. Und schauen Sie, ob Sie irgendwo eine Kragensteuerung finden.« Während Tara sich der Treppe näherte, schob ich die Tür bis auf einen Spalt wieder zu und steckte den Nadler in die Lücke. Ich sagte: »Wenn Sie den Anzug anhaben und meiner bereitliegt, gehen Sie in Deckung. Geben Sie mir Bescheid, wenn ich hochkommen soll, und verschwinden Sie dann von der Bildfläche.« »Ist gut, aber beeilen Sie sich.« Tara stürmte die Treppe hoch. Ich feuerte drei Nadeln durch die Lücke ab und schaltete den ersten Verfolger aus. Als der zweite über ihn stürzte, schoß ich ihn in den Rücken. Die anderen gingen in Deckung. Ich spähte durch den Spalt und erblickte eine Gestalt, die mit der Waffe auf mich zielte. Ich wich zurück und vernahm ein Knistern, als ein Hochenergielaser eine Grube in die andere Seite der Tür schmolz. Ich wartete, bis ich ein weiteres Knistern hörte, und stellte mich hinter die Wand. Mit der Linken feuerte ich ein paar Nadeln auf den Laserschützen ab. Der nächste Laserschuß brannte ein Loch durch die Tür und sprengte ein Stück einer Treppenstufe ab. Offenbar hatte der Schütze die Energieversorgung seiner Waffe separat im Gürtel untergebracht, sonst hätte nicht soviel Wucht hinter den Schüssen gesteckt. Ich näherte den Nadler dem Spalt, um den Mann mit einem weiteren Schuß einzudecken. Heiße Metallsplitter flogen mir gegen die Knöchel, als der Laserstrahl dicht neben meiner Hand in die Tür einschlug. Hoffentlich beeilte sich Tara; diese Typen in Schach zu halten, erwies sich als unerwartet schwierig. Ich stellte den Nadler auf Dauerfeuer und steckte die Mündung einen Moment lang durch den Spalt, riß ihn jedoch gleich wieder zurück. Der Schütze erwiderte augenblicklich das Feuer. Abermals zeigte ich kurz den Nadler vor. Als mein Gegner das Feuer erwiderte, fiel ich auf die Knie nieder, steckte die Mündung unten durch die Lücke und feuerte eine Salve ab. Anscheinend hatte ich den Finger etwas spät vom Abzug genommen, denn danach blieben mir nur noch zweiundzwanzig Schuß. Ich stellte den Nadler wieder auf Einzelfeuer und wartete, lauschte. Die Stille währte lange, dann vernahm ich auf der Treppe Schritte. Ich zögerte noch einen Moment, bevor ich drei weitere Nadeln abfeuerte. Diesmal wartete ich länger. Ich mußte den oder die verbliebenen Gegner davon überzeugen, daß Untätigkeit meinerseits nicht unbedingt bedeutete, ich hätte mich zurückgezogen. Als ich wieder etwas hörte, täuschte ich mit dem Nadler an und feuerte dann aus größerer Höhe.
Vom nächsten Laserschuß begann die Tür an beiden Seiten zu schmelzen und zu glühen. Instinktiv zog ich die Tür zu. So leise wie möglich rannte ich die Treppe hoch, in der Hoffnung, ein paar Sekunden würden ausreichen, um das Metall abkühlen zu lassen, so daß die Tür anschließend fest verschweißt wäre. Ich erreichte die Tür am Ende der Treppe und stürmte ins helle Tageslicht. Tara war nirgends zu sehen.
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Kapitel 15
Wer kommt denn da gesprungen? Voller Panik hielt ich Ausschau nach Tara, doch alles, was ich sah, waren mehrere auf dem Boden verstreute Sprunganzüge. Bei Tag wirkten die rostfarbenen Ringe noch näher als bei Nacht. Im nächsten Moment winkte links von mir jemand. »Ich bin bereit!« rief Tara. Der Rest ihres Körpers war hinter einem kleinen Blumenkohlbaum verborgen. Ich schoß mehrere Nadeln auf die Anzüge ab, um sie unbrauchbar zu machen, dann rannte ich mit gerafftem Gewand auf Tara zu. Als ich bei ihr war, reichte ich ihr den Nadler, zog mein Gewand aus und warf es ins Gebüsch. Tara brauchte nur noch den Helm aufzusetzen. Ich stellte mich hinter den Baum, den sie als Deckung ausgewählt hatte, und sagte: »Passen Sie auf und schießen Sie, wenn sich jemand nähert.« In der Linken hielt sie den Schocker. Mit der Rechten umklammerte sie den Nadler. Zum Glück waren die Handschuhe des Anzugs so dünn, daß man damit den Abzug betätigen konnte. Ich zog den anderen Sprunganzug an, ohne einen Gedanken an die Sicherheitsüberprüfung zu verschwenden - die unbedingt durchzuführen man mir gleich bei Arbeitsantritt auf der Redshift eingebleut hatte. Ich stellte den Regler auf Schicht Eins und überprüfte anschließend Taras Anzug. Alles in Ordnung. Ich sagte: »Drücken Sie diesen Knopf, sobald Sie den Helm aufhaben. Ich komme gleich nach.« »Warum können wir nicht zusammen starten?« »Ausgeschlossen. Ich erklär’s Ihnen später.« Sie blickte an mir vorbei, und ihre Augen weiteten sich. »O je. Sie sind da.« »Geben Sie her.« Ich packte den Nadler und reichte Tara ihren Helm. Sie ließ den Schocker fallen, als sie den Helm entgegennahm. »Aber ich bin nicht…«, sagte sie, dann schnappte der Helmverschluß zu. Als ich den Sprungschalter drückte, verschwand sie mitten im Satz. Selbst wenn uns die Verfolger bislang noch nicht gesehen hatten, so waren sie doch bestimmt durch das laute Plopp aufmerksam geworden, mit dem die Luft in das von Tara hinterlassene Vakuum strömte. Ich stellte den Nadler auf Dauerfeuer und schoß solange in Richtung Blumenkohlbaum, bis das Magazin leer war. Dann setzte ich den Helm auf und rannte im Zick-Zack los. Schicht Eins war etwa elfmal kleiner als Schicht Null, so daß Tara und ich uns überlagert hätten, wenn wir in einem Meter
Abstand gesprungen wären. Und das hätte unseren Tod bedeutet. Rechts vor mir gingen die Kronen einer Ansammlung von Blumenkohlbäumen in Flammen auf. Ich duckte mich und rannte nach links. Ich machte einen Schlenker und hatte beinahe den Punkt erreicht, zu dem ich wollte, als ich mit dem Fuß an einer Wurzel hängenblieb. Ich fiel nach vorn, und während ich den Schalter an meiner Brust drückte, explodierte vor mir ein weiterer Busch in einem Feuerball. Die Welt wurde schwarz, und die Schwerkraft verschwand. Ich taumelte ins Dunkel, froh darüber, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Ich fragte mich, wie gut sich der Schütze wohl mit den Gegebenheiten des Hyperraums und mit Sprunganzügen auskennen mochte. Soviel ich wußte, hatte er soeben den Eindruck gehabt, er habe einen Ballon getroffen und zum Platzen gebracht. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich auch die Steuerfelder an der Innenseite des Helms. Ich schaltete die Schulterlampen und das Funkgerät ein. »Tara, können Sie mich hören?« Keine Antwort. Ich sagte mir, daß Tara bestimmt nicht wußte, wie man das Funkgerät einschaltete. Trotzdem machte ich mir Sorgen. Das Licht der Schulterlampen wurde nirgends reflektiert. Die Lichtstrahlen selbst sah ich nicht, doch an den hellen Scheinwerferrändern war zu erkennen, daß die Lampen brannten. Ich kompensierte meine Torkelbewegungen mit den Steuerdüsen und verspürte mehrere Stöße gegen die Brust, dann ließ der Blutandrang in meinem Kopf nach. Von Tara immer noch nichts zu sehen. Mit Hilfe der Düsen vollführte ich einen Linksschwenk, und jetzt endlich sah ich sie. Ich flog langsam auf sie zu. »Alles in Ordnung?« fragte ich, als sich unsere Helme berührten. Ohne sie mit den Schulterscheinwerfern zu blenden, konnte ich ihr Gesicht nicht sehen. »Jetzt ja.« Aufgrund des Übertragungsweges klang ihre Stimme ganz dünn. »Wie schaltet man das Funkgerät ein?« fragte sie. »Sind Sie unverletzt?« »Bin ich.« Ich erklärte ihr, wie man die Schalter mit den Augen bediente. Wir stellten unsere Funkgeräte beide auf Nahübertragung ein. Taras Schulterlampen gingen an, und aus den Helmlautsprechern ertönte ihre Stimme. »Ich verstehe Sie gut«, sagte ich. »Jetzt ist es viel besser. Wo sind wir hier?« »Wir schweben in Schicht Eins. Wir müssen noch in die Schicht zurückkehren, in der sich die Redshift befindet. Sind Sie bereit für den nächsten Sprung?«
»Erklären Sie mir erst, was hier los ist. Weshalb mußten wir nacheinander springen? Außerdem dachte ich, im Hyperraum wäre die Lichtgeschwindigkeit niedriger, dabei merke ich bei der Übertragung nichts von einer Verzögerung.« »Sie ist schon niedriger, doch der Faktor beträgt lediglich fünfeinhalb. Beim Übergang von einer Schicht zur nächsten verlangsamt sie sich immer um den gleichen Faktor. Die entsprechenden Entfernungen halbieren sich jeweils, daher verdoppelt sich die Übertragungszeit von Schicht zu Schicht. Alles klar?« »Für den Moment reicht es wohl. Wenn wir also einen Meter auseinanderstehen und wieder in die Nullschicht zurückspringen, dann wären wir elf Meter voneinander entfernt. Und wenn wir nach Schicht Zwei sprängen, stünden wir bloß einen elftel Meter auseinander und… und wären tot, weil wir dann überlappen würden.« »Genau. Jedesmal, wenn wir uns der Schicht Zehn um eine weitere Schicht nähern, müssen wir vorher mehr Abstand zwischen uns bringen. Unsere Lifebelts sorgen dafür, daß unsere Körperfunktionen mit normaler Geschwindigkeit ablaufen.« Ich überlegte, ob ich ihr sagen sollte, daß wir gleich in die Redshift gelangen müßten, wenn wir unmittelbar in die Schicht Zehn springen würden, vorausgesetzt sie befand sich noch in der Nähe von Xanahalla. Das Volumen eines kleinen Sonnensystems der Nullschicht hätte problemlos in die in Schicht Zehn befindliche Redshift gepaßt. Vom Schiff aus ließ sich ein gerichteter Sprung von Schicht Zehn nach Schicht Null bewerkstelligen, doch ohne fremde Hilfe würden wir an einer Stelle landen, die unserem jeweiligen Schwerpunkt entsprach. »Also gut«, sagte Tara. »Ich bin bereit. Glaube ich.« »Noch etwas. Haben Sie die Kragensteuerung?« »Am Handgelenk.« »Sie sind wunderbar.« »Sagen Sie das noch mal, wenn Sie mich sehen können.« Vielleicht werd ich das, dachte ich. Laut sagte ich: »Wir sollten uns allmählich auf den nächsten Sprung vorbereiten. Stellen Sie den Schalter auf Schicht Zwei.« Als wir bereit waren, stupste ich sie sanft an. Als wir etwa zwanzig Meter auseinander waren, sagte ich: »Wir sehen uns in der nächsten Schicht wieder. Springen Sie bei >los<. Drei - zwei - eins - los!« Diesmal fiel der Sprung weniger verwirrend aus. Trotz des kurzen Lichtblitzes war der Übergang von lichtloser Schwerelosigkeit zu lichtloser Schwerelosigkeit nicht unangenehm. Tara verschwand und erschien gleich wieder in einem Abstand von etwas über einem Meter. Wer von uns beiden die Schicht Zwei als erster erreicht hatte, konnte ich nicht sagen. »Das war leicht«, meinte Tara. »Werden die restlichen Sprünge ähnlich verlaufen?« »Im großen und ganzen ja. Beim letzten müssen wir allerdings aufpassen.« Wir schalteten auf Schicht Drei und trennten uns wieder. Schließlich hatten wir nach einer Reihe von Sprüngen und Trennungen Schicht Neun erreicht. Da die Lichtgeschwindigkeit hier zwischen fünfzig und sechzig Metern pro Sekunde betrug, deutete die kaum
wahrnehmbare Verzögerung darauf hin, daß wir uns der Schicht näherten, die seit Jahren für mich der Normalzustand war. Als meine Schulterscheinwerfer an Tara vorbeischwenkten, hatte ich den Eindruck, der Lichtstrahl schleife nach. »Also gut«, meinte ich. »Diesmal müssen wir anders vorgehen. Wir könnten im Moment unmittelbar auf der Schiffshülle sitzen, ohne es zu merken. Das Schiff hat einen Durchmesser von etwas über fünfzig Metern, und dieses Volumen überlappt mit einer Kugel mit elfmal größerem Durchmesser, das heißt, der Durchmesser beträgt etwa einen halben Kilometer. Daher müssen wir uns mindestens zwei Kilometer von hier fortbegeben, und da ich unser Tempo nicht messen kann, müssen wir es eben schätzen.« Wir hakten uns beieinander ein und ließen eine Weile die Steuerdüsen arbeiten. Das Gefühl dabei war das gleiche wie in einem beschleunigenden Bodenfahrzeug. Da wir die Düsen etwa zehn Sekunden lang arbeiten ließen, schätzte ich unsere Geschwindigkeit auf rund neunzig Prozent der hier geltenden Lichtgeschwindigkeit, was bedeutete, daß wir uns mit etwa fünfzig Metern pro Sekunde bewegten. »Wir sollten uns mindestens zwei Minuten lang treiben lassen«, sagte ich. »Da unsere Uhren dabei langsamer gehen, werden wir zwar weiter kommen als nötig, aber das ist immer noch besser, als mitten im Schiff anzukommen.« »Trennen wir uns wieder, wenn wir weit genug gekommen sind?« »Ja. Diesmal springen wir aber nicht gleichzeitig. Ich gehe vor und springe gleich wieder in diese Schicht zurück. Wenn Sie mich nicht wieder auftauchen sehen, wissen Sie, daß wir nicht weit genug geflogen sind.« »Und das wird bedeuten… daß Sie tot sind.« »So ist es.« »Jason, lassen Sie uns gleichzeitig springen. Ich weiß nicht, ob ich…« »Tut mir leid. Die Entscheidung steht. Wenn ich nicht gleich wiederkomme, lassen Sie die Düsen dreimal so lange arbeiten und fliegen fünfmal so weit wie jetzt, bevor Sie nach Schicht Zehn überwechseln. Das Schiff hat eine so große Masse, daß Sie automatisch davon angezogen werden.« Ich erklärte ihr, wie man die Luftschleusen öffnete. Als ich meinte, wir seien weit genug geflogen, wies ich Tara an. sich zwanzig Meter von mir zu entfernen. Beleuchtet von unseren Schulterlampen, schwebten wir in der Finsternis. »Haben Sie mich verstanden?« fragte ich. »Sie springen erst dann nach Schicht Zehn, wenn ich wieder aufgetaucht bin.« »Jawohl, Sir, Mr. Erster Offizier, Sir.« »Tara.« »Schon kapiert.« »Tara, ich… ich denke oft an Sie.« Gerade als sie mir antworten wollte, drückte ich den Schalter.
Abgesehen von dem Licht, das in der Nähe der Schulterleuchten von meinen Armen reflektiert wurde, war es stockfinster. Ich war froh, daß ich mit meinen vorsichtigen Berechnungen recht behalten hatte. Ich wollte die Anzugsteuerung gerade für den Rücksprung verstellen, als Tara vor mir materialisierte. »Nett, Sie wiederzusehen«, meinte sie unschuldig. »Ich dachte, Sie wollten solange in Schicht Neun bleiben, bis Sie sicher wären, daß Ihnen nichts passieren kann.« »Bestrafen Sie mich später. Ich wollte bei Ihnen sein. Und wir leben doch beide noch, oder?« Wir schwebten in der sternenlosen Nacht der Schicht Zehn. Während ich mich langsam drehte, schwenkte der Strahl meiner Schulterleuchten über Taras vom Sprunganzug verhüllte Gestalt. »Darum geht es nicht.« »Worum dann?« »Eigentlich um zwei Dinge. Wir haben eine Mission zu erfüllen. Wenn wir scheitern, müssen andere Menschen sterben. Zwei Anführer können wir uns nicht leisten, und ich verfüge über wesentlich mehr Erfahrung in dieser Umgebung als Sie.« »Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, aber das ist erst ein Argument.« »Außerdem mußte ich in dem Moment, als Sie plötzlich hier aufgetaucht sind, daran denken, was mit Ihnen passiert wäre, wenn sich das Schiff hier befunden hätte.« »Jason, es tut mir leid. Normalerweise muß ich Befehle erst verstehen und mit ihnen einverstanden sein, bevor ich sie befolgen kann, aber ich werde mich bemühen.« »Ist gut. Wenn ich Zeit habe, werde ich Ihnen erklären, was Sie tun sollen. Aber ich muß wissen, daß Sie es auch dann tun, wenn ich keine Zeit dazu habe, sonst sollten Sie besser eine Weile draußen warten, wenn wir das Schiff erreicht haben.« Ich erwähnte nicht, daß man wohl kaum noch von der Befolgung von Befehlen sprechen konnte, wenn jemand sie erst verstehen und damit einverstanden sein mußte. Ich war unheimlich froh, daß Tara hier war, und es fiel mir schwer, mir das einzugestehen. »Einverstanden. Ich glaube, ich habe unser Ziel wohl ebenfalls eine Weile aus den Augen verloren.« »Ebenfalls?« wollte ich sagen, doch Tara hatte noch eine weitere Frage. »Sind Sie sicher, daß das Schiff noch hier ist? Ich habe nicht das Gefühl, in eine bestimmte Richtung gezogen zu werden.« »Das können Sie auch gar nicht fühlen. Wir fallen auf das Schiff zu, wo immer es steckt, so als befänden wir uns in einem fallenden Fahrstuhl. In einem fallenden Fahrstuhl haben Sie zwar das Gefühl, sich dem Boden zu nähern, aber Sie können es nicht mit Sicherheit wissen. Sie haben bloß das Gefühl, schwerelos zu sein, so wie jetzt.« Ich schaltete den eingebauten Massendetektor ein. »Das Schiff befindet sich über unseren Köpfen«, sagte ich. »Wir fallen kopfüber darauf zu.«
»Wie weit ist es noch weg?« »Bei unserer derzeitigen Beschleunigung wahrscheinlich bloß ein paar Minuten. Zeit genug, um uns ein paar Gedanken über unser weiteres Vorgehen zu machen. Andernfalls würden wir uns aber auch kaum weh tun. Wir bewegen uns höchstens mit Fluchtgeschwindigkeit, und die beträgt keine neun Meter in der Sekunde.« »Kommt mir ziemlich schnell vor.« »Das entspricht einem Fall aus vier Metern Höhe bei normaler Schwerkraft. Außerdem ist das der Grenzwert, den man nur erreicht, wenn man sich aus dem Unendlichen nähert. Wir erreichen wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte der Geschwindigkeit. Kommen Sie. Lassen Sie uns eine Drehung machen, damit wir auf den Füßen landen.« »Ist gut. Davon habe ich nämlich zwei. Und wenn ich mir einen breche, bleibt mir immer noch einer.« »Es wird schon nichts passieren.« Eine Gefahr bestand allerdings schon, doch da wir nichts dagegen tun konnten, hatte es keinen Sinn, Tara damit zu beunruhigen. Falls das Schiff nämlich seine Position veränderte und wir in die Nähe des Krümmungspunktes gerieten, würden wir zu subatomaren Partikeln zusammengepreßt werden. Ich hakte mich bei Tara unter und überließ es den Antriebsdüsen, die Flugkorrektur vorzunehmen. Wir drehten uns so langsam, daß ich die Veränderung nicht einmal wahrnahm, und als der Massendetektor anzeigte, daß sich das Schiff >unter< uns befand, sprangen kurz die Düsen an und stoppten die Drehbewegung. Ich löste eine Schulterlampe und leuchtete damit nach unten. Außer unseren gestiefelten Füßen konnte ich nichts erkennen. »Sind Sie sicher, daß das Schiff dort unten ist?« fragte Tara. »Das behauptet jedenfalls mein Massendetektor.« »Und der kann sich nicht irren.« »Das ist unwahrscheinlich. Wir befinden uns in Schicht Zehn, das dürfen Sie nicht vergessen. Da dauert es eine Weile, bis das Licht zurückkommt…« »Da ist es - das Schiff!« Sie hatte recht. Unter uns wurde ein violetter Lichtflecken von der Hülle der Redshift reflektiert. »Wir nähern uns furchtbar schnell«, meinte Tara. »Nicht so schnell wie es scheint. Da wir uns dem Schiff nähern, wird die Übertragungszeit des Lichts ständig kleiner, so daß zehn Sekunden Bilder auf etwa fünf bis acht Sekunden komprimiert werden. Daher scheinen wir uns rascher zu nähern, als es in Wirklichkeit der Fall ist - etwa so, als betrachteten Sie sich in einem näherkommenden Spiegel.« »Wenn Sie es sagen.« Tara schien nicht ganz überzeugt.
»Wir bremsen sowieso gleich ab.« Ich wartete noch ein paar Sekunden, dann bremste ich mit den Düsen und korrigierte unsere Neigung, da die Bremsdüsen nicht auf unseren gemeinsamen Schwerpunkt abgestimmt waren. Die violette Färbung unter uns verblaßte, bis das reflektierte Licht nurmehr grau war. Wir schwebten einen halben Meter über dem Schiff, als ich den Restschub ausschaltete, dann landeten wir so sanft wie ein herabfallendes Haar. »Hier entlang«, sagte ich und deutete mit der Lampe in die Richtung, in der ich eine Luftschleuse gesehen hatte. Ich hätte uns auch näher heranmanövrieren können, doch zu Fuß war es einfacher. Während wir uns der Schleuse näherten, sagte Tara: »Ich dachte immer, Hyperraumschiffe wären auf der Hülle beschriftet.« »Wahrscheinlich ist man der Ansicht, es sei billiger, den Leuten einfach zu sagen, auf welchem Schiff sie sind.« An der Schleuse kniete ich nieder und tippte meinen Zugangscode ein, in der Hoffnung, daß Wades Kumpane vergessen hatten, ihn zu löschen. Dazu hatten sie keinen Grund gehabt, da sie damit rechneten, daß Wade sie anrufen würde, doch ich an ihrer Stelle hätte für alle Fälle vorgesorgt und die Zugangscodes geändert. Die zweite Möglichkeit, ins Schiff zu gelangen, wäre erheblich riskanter gewesen. Ich hätte ein paar Berechnungen anstellen, genau in die richtige Höhe springen und während des Fallens nach Schicht Neun überwechseln können. Nach der entsprechenden Zeit hätte ich wieder nach Schicht Zehn überwechseln können und wäre mitten auf Ebene Sieben der Redshift aufgetaucht. Der kleinste Fehler hätte allerdings bedeutet, daß mein lebloser Körper von der Decke gebaumelt hätte, während mein Kopf in die Hülle eingebettet gewesen wäre. Oder meine Füße wären mit dem darunterliegenden Decksboden verschmolzen worden. Die Luftschleuse weigerte sich aufzugehen. In der Hoffnung, daß ich in der Hektik einen Fehler gemacht hatte, tippte ich die Zahlenkombination noch einmal ein. Diesmal schwang die Schleusentür lautlos auf, und an den Rändern strömte Licht heraus. Ich zog die Tür vollends auf und blickte in eine Kammer, die mehr nach einem riesigen leeren Kühlschrank als nach dem Eingang zu meinem Zuhause aussah. »Ist das Licht ständig eingeschaltet?« fragte Tara, als habe sie meine Gedanken gelesen. Ich konnte ihr Grinsen förmlich hören und wunderte mich, wie zwei Menschen solch alberne Gedanken haben konnten, während es weit wichtigere Dinge gab, deretwegen sie sich Sorgen machen mußten. Abwehrmechanismen? «Möchten Sie die Tür wieder schließen und ganz schnell wieder aufreißen? In dieser Umgebung läßt sich das leicht feststellen.« Gleichzeitig hob ich sie über die Schleusenöffnung und ließ sie zum Boden hinunter. Dabei hatte ich die bizarre Vorstellung, Tara wie in einem alten Liebesfilm über die Schwelle zu tragen. Bloß daß die Redshift nicht unser gemeinsames Heim war. »Ist Ihr Funkgerät noch an?« fragte Tara. »Hören Sie mich?« »Ja, klar. Haben Sie etwas gesagt?«
»Ich habe Sie gefragt, wie es nun weitergeht.« Während ich mich in die Schleuse hinunterließ, fragte ich mich das gleiche. »Ich glaube, es wäre am besten, wenn wir getrennt vorgehen. Ich gehe zur Brücke, und Sie befreien die Gefangenen im Schwimmbad. Es sind nur noch zwei von Wades Leuten an Bord, und die halten sich bestimmt auf der Brücke auf.« Die obere Schleusentür ging zu, und es strömte Luft in die Schleusenkammer. Als sich der Druck normalisiert hatte, bedeutete ich Tara, sie könne den Helm jetzt abnehmen. »Sind Sie sicher?« fragte sie. »Beim letztenmal haben Sie das Bewußtsein verloren.« »Also gut. Behalten Sie den Helm auf.« Als ich meinen Helm abnehmen wollte, fiel Tara mir in den Arm. »Sollte es Probleme geben, dann wäre es besser, wenn Sie bei Bewußtsein sind.« Ich protestierte zwar, ließ mich aber von ihr überzeugen. Meine Ortskenntnisse mochten sich durchaus noch als wertvoll erweisen. Und meine Kenntnisse im Töten. Tara nahm den Helm ab und atmete mehrmals tief durch. Sie grinste und schüttelte sich das Haar über den Anzugkragen. Ich nahm ebenfalls den Helm ab und schickte mich an, den Anzug auszuziehen, als mir einfiel, daß ich kein Hemd trug. Tara schälte sich aus ihrem Anzug und ließ das Gewand wieder auf ihre Füße hinunterfallen. »Das werden Sie bestimmt noch brauchen«, meinte sie und löste die Kragensteuerung vom Handgelenk. Sie reichte sie mir und sah mir dabei in die Augen. Ich nickte und erwiderte ihren Blick. Ich streifte mir das Gerät über den Arm und untersuchte es rasch. Wenn man gleichzeitig die beiden mit >Entriegeln< beschrifteten Knöpfe drückte, gingen die Kragen anscheinend auf. Jeder andere Knopf konnte verhängnisvolle Folgen haben. »Jason?« Ich blickte auf. »Sie werden sich doch nicht etwa - aufopfern wollen, oder?« »Das sind meine Freunde. An meiner Stelle würden sie ebenfalls alles tun, was in ihren Kräften steht. Allerdings glaube ich nicht, daß es soweit kommen wird.« Taras Augenbrauen sanken einen Millimeter nach unten, und sie spitzte die Lippen. »Das verstehe ich. Ich schätze, ich wollte damit bloß sagen, daß es nicht nur Ihre Freunde sind. Aber gehen Sie kein zu großes Risiko ein, ja?« »Wir sind schon einige Risiken zusammen eingegangen.« »Sie wissen schon, was ich meine.« Ich nickte. Als ich mich umwandte, um die innere Schleusentür zu öffnen, faßte Tara mich am Kinn, drehte meinen Kopf herum und küßte mich voll auf die Lippen.
Ich sah sie verwundert an und sagte: »Danke. Das hab ich gebraucht.« Dabei konnte ich mich eines dämlichen Grinsens nicht enthalten. »Ich auch.« Ich erwiderte ihren Kuß, diesmal mit weniger Humor und dafür mit mehr Gefühl. Dann zog ich die Schleusentür auf. Niemand war zu sehen. Wir wandten uns nach rechts und schlichen auf Zehenspitzen zur nächsten Treppe. »Wir befinden uns am Südpol«, meinte ich zu Tara. »Finden Sie von hier aus zum Schwimmbad, was meinen Sie?« »Kein Problem. Und wenn ich die Passagiere befreit habe, geht’s weiter zum Speisesaal?« Wir hatten die Treppe erreicht und stiegen nach unten, wobei die Lichter die Farben wechselten. »Richtig. Aber sorgen Sie dafür, daß niemand ein Komm-Terminal benutzt und die Brücke womöglich warnt. Wenn es bei mir klappt, mache ich eine allgemeine Durchsage und informiere die Besatzung über die neue Lage. Die werden schon wissen, was sie dann zu tun haben.« »Das denke ich auch.« Auf Ebene Fünf erklärte mir Tara, wie sie zum Schwimmbad gelangen wollte. »Stimmt genau. Viel Glück.« Tara berührte mich am Arm. »Sie wünschen mir Glück?« Und weg war sie. Ich stieg noch eine Ebene tiefer und betrat die vierte Ebene der Redshift. Es war ein gutes Gefühl, wieder an Bord zu sein. Nach ein paar Stunden auf Xanahalla kam ich mir ebenso schmutzig vor wie damals auf Redwall. Wahrscheinlich würde ich nie wieder eine offizielle Kirche ansehen können, ohne mich zu fragen, was wohl im Keller vorgehen mochte. Im Schiff war es ruhig. Auf dem Weg zur Brücke begegnete ich niemandem. An einem Schrank für den Notfall gab ich meinen Code ein und holte drei Neutralisatoren heraus. Jeweils einen steckte ich in die beiden Gesäßtaschen, den dritten behielt ich in der Hand. Ich gelangte zu der Tür, die zur Brücke führte. Je länger ich wartete,, desto größer wurde die Gefahr, daß irgendein Passagier die Brücke alarmierte, daher drückte ich die beiden Entriegelungstasten an dem Steuerkasten, den ich am Handgelenk trug, und schob die Tür auf. Ich sah Bella und Razzi an der Hauptkonsole sitzen. Razzi trug noch ihren Jogginganzug. Flankiert wurden sie von zwei Schwarzgekleideten, die man zur Bewachung dagelassen hatte. Keiner von beiden hatte mich gesehen oder irgendwie reagiert. Ich wandte den Kopf und sagte über die Schulter hinweg: »Klar sind sie noch da, Wade. Sie brauchen gar nicht so zu drängeln.« Als ich geendet hatte, stolperte ich in den Raum, als habe man mich gestoßen. Ich steuerte auf Bella und Razzi zu, die erst in diesem Moment auf mein Eintreten reagierten. Ich sah, daß ihnen die Kragen lose vom Hals hingen.
Die beiden Aufpasser verschwendeten mindestens zwei oder drei Sekunden damit, erfolglos auf ihren Steuergeräten herumzudrücken. In dem Moment, Als sie die Messer zogen, warf ich Bella und Razzi je einen Neutralisator zu und nahm mir einen der Aufpasser vor. Der Mann, den ich mir ausgesucht hatte, war entweder müde oder von der unerwarteten Wendung verwirrt, denn er erstarrte. Als ich näherkam, wich er zurück. Ich täuschte einen Ausfall vor, dann schlug ich mit dem Neutralisator an seinem Gesicht vorbei, ohne ihn zu berühren, bloß um ihm zu zeigen, daß ich in dieser Umgebung im Vorteil war. Er versuchte halbherzig, erst einen Schwinger und dann noch einen zu landen. Ich machte eine Finte und trat ihn gegen die Kniescheibe. Der Tritt war fest gewesen, daher riskierte ich einen Blick zurück auf den anderen Mann. Razzi hatte ihn bereits in eine Ecke gedrängt. Bella stand bereit, notfalls einem von uns beiden beizuspringen. Mein Gegner hatte sein Messer fallen gelassen und hielt sich mit beiden Händen das Knie, das Gesicht schmerzverzerrt. Ich hob das Messer auf und wandte mich dem Mann zu, den Razzi in Schach hielt. Ich näherte mich ihm von der einen, Bella von der anderen Seite. Der Mann sah sich zwei Neutralisatoren und einem Messer gegenüber und wahrscheinlich machte er sich auch keine Illusionen über Razzis Entschlossenheit. Er ließ das Messer auf den Boden fallen und kickte es Razzi entgegen. Wortlos hob sie es auf. Bella musterte die beiden Schwarzgekleideten, dann grinste sie. »Jason, ich bin wirklich froh, Sie zu sehen, auch wenn Sie nicht in Uniform sind. Weshalb hat es so lange gedauert?« »Was interessiert Sie das? Schließlich bezahlen Sie mich nicht nach Stunden.« Ich erwiderte ihr Grinsen. »Erinnern Sie mich daran, Ihr Gehalt zu erhöhen. Ist sonst alles unter Kontrolle, oder sind noch welche von diesem Haufen übrig?« Anscheinend gibt es an Bord der Redshift niemals zwei Ereignisse, die exakt gleichzeitig passieren, doch meiner Wahrnehmung nach sagte in dem Moment, als ich »Alles unter Kontrolle« antwortete, jemand anders: »Wie man’s nimmt.« Bella, Razzi und ich fuhren herum. Hinter uns stand eine Gestalt im Sprunganzug, die den Arm um Taras Nacken geschlungen hatte. In der Hand hielt sie eine Laserpistole, die auf Taras Hüfte gerichtet und mit einem Energiegürtel verbunden war. Das Gesicht hinter dem Visier war das von Neddi Pulmerto.
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Kapitel 16
Rund um die Redshift Hinter Neddi und Tara stand auf dem Gang eine weitere bewaffnete Gestalt im Sprunganzug. Während Tara und ich auf die Redshift zurückgekehrt waren, war auch Neddi nicht untätig geblieben. »Hört mir mal genau zu«, sagte Neddi Pulmerto. Seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, war sie anscheinend kaum gealtert. Der Helm verdeckte den Großteil ihres Haars, doch das wenige, das man davon sah, war noch immer tiefrot. Ihr rundes Gesicht wirkte beinahe ebenso faltenlos wie das von Tara, allerdings breiteten sich kleine Lachfältchen von Neddis Augenwinkeln aus, und an den Mundwinkeln hatte sie mehrere senkrechte Falten. Ihre Augen waren die einer charismatischen Revolutionärin, von allen gefürchtet und geachtet. Abermals ertönte ihre Stimme aus dem Lautsprecher am Kragen: »Wenn mir jemand nahekommt, schneide ich diese Frau mitten entzwei, und dann ist der nächste dran. Ich habe genug Saft hier drin, um notfalls alle Anwesenden zu erledigen, und die Schiffssteuerung dazu.« »Aber Sie wollen uns doch gar nicht alle töten, oder?« sagte ich. »Sie wollen uns lebendig haben - für Ihre religiösen Zeremonien, hab ich recht?« Neddi sah mich an. »Kennen wir uns?« »Nicht, daß ich wüßte. Ich habe bloß mein Uniformhemd verlegt, aber ich bin der Erste Offizier.« Wenn Neddi mich nicht wiedererkannte, war das nur von Vorteil für mich. Nach den Zerstörungen, die ich bei meiner Flucht auf Redwall angerichtet hatte, hätte sie womöglich das Schiff demoliert, bloß um sicherzustellen, daß ich ihr nicht wieder entwischte. »Von welchen Zeremonien reden Sie da?« fragte Bella. Ich antwortete ihr, ohne Neddi aus den Augen zu lassen. »Xanahalla ist ein übler Ort. Ein erheblicher Teil der Neuankömmlinge wird gefoltert, sexuell mißbraucht und getötet. Die übrigen Bewohner wissen anscheinend nicht, was dort vor sich geht. Und die dritte Gruppe, die zweifellos von unseren Besuchern repräsentiert wird, führt diese >Zeremonien< durch.« »Das reicht«, sagte Neddi. »Wir brauchen einen Piloten.« »Wofür?« fragte Bella. »Und wie kommen Sie darauf, Sie würden hier einen finden?« »Ich möchte meinen Begleiter auf Xanahalla absetzen. Und ich zweifle nicht daran, daß ich einen Piloten bekommen werde. Was meinen Sie, wie viele Menschen ich wohl vor Ihren Augen erschießen müßte, bis sich jemand bereiterklärt?« Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als Neddi Taras Hals fester packte. »Ich bin Pilot«, sagte ich rasch, denn ich wollte nicht noch mehr Tote, und Tara wäre sicherlich als erste getötet worden. Allerdings hätte ich Neddis Begleiter nur höchst ungern auf Xanahalla abgesetzt, denn das hätte bedeutet, daß noch mehr von Neddis Freunden nachgekommen wären.
Bella war von dem Plan anscheinend auch nicht begeistert. »Sie werden ihr nicht helfen, Jason.« Tara hielt erst recht nichts von Neddis Vorschlag. »Soll sie mich nur töten. Selbst wenn das Schiff in die Luft fliegt, wäre das immer noch besser, als ihr nachzugeben.« »Ich möchte nicht, daß jemand getötet wird«, erwiderte ich. »Wo soll ich Ihren Freund absetzen?« »Auf halbem Weg zwischen Raumhafen und Turm. Er hat nur noch Energie für einen Sprung, daher muß es schon genau sein«, sagte Neddi, während Bella erklärte: »Auf gar keinen Fall. Hände weg von der Steuerung, Jason.« »Hier drin ist es zu laut«, meinte Neddi. »Benutz den Schocker.« Tara erschlaffte neben Neddi, und gleich darauf vernahm ich das Sirren des Schockers. Ich war froh, daß Neddi gesagt hatte, ihr Freund solle Tara lediglich paralysieren; ansonsten hätte ich gewiß nicht tatenlos zugeschaut. Neddis Begleiter stellte sich in den Eingang und schob Tara mit dem Fuß aus dem Weg. In den behandschuhten Händen hielt er einen voluminösen Schocker. In der Mündung nahm ich eine metallisch-blaue Färbung wahr, was bedeutete, daß die Waffe extra für diese Umgebung angefertigt worden war. Sie war so groß, daß man kaum noch von einer Handfeuerwaffe sprechen konnte. »Und jetzt die Frauen und die beiden da«, meinte Neddi. »Aber warte noch, bis sie sich gesetzt haben.« Der Mann mit dem gewaltigen Schocker näherte sich Bella. Ohne Neddis Laser wäre er einem unbewaffneten Gegner gegenüber kaum im Vorteil gewesen. »Ich bin überwältigt von Ihrer Rücksichtnahme«, bemerkte Bella in bitterem Ton. Sie und Razzi sowie die beiden Schwarzgekleideten achteten darauf, keine abrupten Bewegungen zu machen, als sie sich setzten. Bella sah mich an und sagte: »Sie werden mir noch Rede und Antwort stehen müssen, Jason.« Razzi sagte: »Seien Sie vorsichtig«, dann sackte sie auf dem Stuhl zusammen. Kurz darauf erreichte mich das Sirren. Bella mochte durchaus recht behalten, doch hatte Neddi mich auf einen Plan gebracht, der mir erfolgversprechend schien. »Von wo aus führen Sie kontrollierte Sprünge durch?« fragte Neddi. Ihr Begleiter bedrohte mich nach wie vor mit dem Schocker, während Neddi näher an die Bildschirme heranrückte, so daß ich zwischen ihr und dem Mann stand. Ich sagte es ihr. Sie setzte sich und bedeutete mir, die Steuerung zu übernehmen. »Schalten Sie die Bild Übertragung ein, und dann los!« Die Stuhllehne fühlte sich an meinem unbekleideten Rücken kalt an. Ich blickte zum Monitor hoch. Die Anzeige hatte sich verstellt. Zunächst sah ich nur den Sternenhimmel. Als
ich das Schiff jedoch wendete, lag Xanahalla vor uns. »Was springt für mich raus, wenn ich Ihren Freund direkt im Turm absetze, unmittelbar auf dem Erdgeschoß?« Ich wußte, daß Bella, Razzi und Tara mich trotz der Lähmung hören konnten, und hoffte, daß Bella kein Blutgefäß platzte. »Das geht nicht. Im Turm befindet sich ein Störsender.« »Nicht mehr.« »Und woher wollen Sie das wissen?« »Ich habe ihn zerstört.« Eigentlich gebührte ein Teil der Ehre Tara, doch bestand kein Anlaß. Neddis Wut auf sie zu lenken. »Wenn Sie das schaffen, lasse ich Sie schmerzlos sterben. Es gibt noch eine Menge andere Möglichkeiten.« Ich zögerte, um sie glauben zu machen, ich ließe mir ihr Angebot durch den Kopf gehen. »Woher weiß ich, daß ich Ihnen trauen kann?« »Haben Sie eine andere Wahl?« Nach kurzem Zögern zuckte ich die Achseln. »Also gut. Los geht’s.« Während Xanahalla auf dem Bildschirm größer wurde, befahl Neddi ihrem Begleiter, auf den Gang zu gehen und sich für den Sprung bereitzumachen. Ich blickte mich auf der Brücke um. Neddi saß hinter mir, den Laser schußbereit in der Hand. Bella und Razzi hingen schlaff auf den Stühlen. »Meinen Sie bloß nicht, Sie könnten es versuchen«, meinte Neddi. »Das würde mir nicht mal im Traum einfallen.« Dies war der Moment für Taten, nicht für Versuche. Neddi schwieg eine Weile, während das Bild auf dem Schirm immer größer wurde. Dann sagte sie leise: »Ihr Rücken.« Noch während mich ihre Worte erreichten, wurde mir klar, daß sie eine Verbindung herstellte zwischen den Narben auf meinem Rücken und einem Kapitel ihrer Vergangenheit. «Drehen Sie sich um.« Ich wandte den Kopf zu ihr um und sagte: »Soll ich Ihren Freund nun absetzen oder nicht?« »Ich kenne Sie«, sagte sie, und das Erstaunen war ihr deutlich anzumerken. »Sie sind Jason Kraft. Sie sind der Hurensohn, der uns Millionen gekostet hat. Sie sind zwar ein bißchen gewachsen, aber ich hätte Sie trotzdem gleich wiedererkennen sollen. Ach, Jason, Sie waren ein böser Junge.« Jetzt war es zu spät, alles abzustreiten. »Heißt das, Sie ziehen Ihr Angebot zurück?« Ich hörte, wie Neddi aufstand. Ich straffte mich, doch als ich mich nach ihr umsah, faßte sie sich bereits. Sie nahm wieder Platz. »Da bin ich mir nicht so sicher, Jason. Ich weiß nicht, ob ich Sie nach alledem so glimpflich
davonkommen lassen soll.« Neddi war schon immer offen gewesen. »Sie haben mir eine Menge Ärger gemacht. Nachdem Sie verschwunden waren, geisterte vielen der Gedanke im Kopf herum, es Ihnen nachzutun und zu verschwinden. Ich habe bestimmt ein Dutzend Kinder bei gescheiterten Fluchtversuchen verloren. Außerdem hat mich die ganze Sache eine Menge Zeit gekostet. Ich setze gern Dinge in Bewegung und schaue dann zu, wie es von selbst weiterläuft. Sie haben diesen Prozeß gestört, und zwar tiefgreifender, als notwendig gewesen wäre, um lediglich zu verschwinden.« Sie verstummte und überlegte offenbar, was sie mit mir anstellen sollte. Ich hatte den Eindruck, Neddi habe zu ihren Vorhaben eine ähnliche Einstellung wie manche Eltern zu ihren Kindern. Ihrem Mutterinstinkt tat sie dadurch Genüge, daß sie Nachkommen wie Redwall und Xanahalla Leben einhauchte. Nachkommen, die besser Totgeburten gewesen wären. Schließlich sagte sie: »Jason, mit den verschiedenen Ebenen des Schmerzes müßten Sie sich eigentlich auskennen. Wenn irgend etwas schiefgeht, dann werden Sie größere Schmerzen kennenlernen als je zuvor, das verspreche ich Ihnen. Machen Sie Ihre Sache gut, dann bekommen Sie lediglich das, was ihnen für Ihre Attacke gegen Redwall zusteht.« »Es wird nichts schiefgehen.« Insgeheim hoffte ich das wirklich. Unter uns lag der Turm der Verehrung und funkelte hell im Sonnenschein, wie ein Speer in einer Grube, der darauf wartete, daß jemand durch die Abdeckung fiel. Während der Turm größer wurde, brachte ich das Schiff auf den gleichen Kompensationskurs wie bei der ersten Annäherung. Aus dieser Entfernung schien sich der Turm der Verehrung nicht zu bewegen. Ich holte mehrmals tief Luft und bemühte mich, flach zu atmen, damit Neddi nicht mißtrauisch wurde. In ein paar Minuten würde ich all meine Kräfte brauchen. Wir kamen unserem Ziel immer näher. Ich flog langsamer als nötig und berechnete ständig Flugwinkel und Geschwindigkeit. »Wenn wir an Ort und Stelle sind, muß Ihr Freund rasch reagieren«, erklärte ich. »Ich kann das Schiff nicht allzu lange an einem Punkt halten. Soll ich ihm den Sprungbefehl geben?« »Nein. Das mache ich.« Wenn Neddi das Komm-Terminal bedienen konnte, dann kannte sie sich besser auf der Brücke aus, als ich gedacht hatte. »Na schön. Aber machen Sie schnell.« Vielleicht würde es ja trotzdem klappen. »Wenn wir die Wand durchdringen, muß ich die Sichtanzeige eine Weile ausschalten, sonst verlieren wir die Sensoren. Verstehen Sie das?« »Ja.« Ich setzte absichtlich keine Steuerbrille auf. Entweder es lief so, wie ich es mir vorstellte, oder eben nicht. In beiden Fällen würde ich rasch reagieren müssen. Ich stellte die letzten Berechnungen an und trug mittels des Bordcomputers Vektoren auf dem Bildschirm ein. Im Geiste nahm ich an den Computerdaten Korrekturen vor. »Ist Ihr Freund bereit?«
Neddi schaltete die Verbindung zum Absprungpunkt ein und fragte nach. Gleich darauf sagte sie: »Ja. Er ist bereit.« »Also gut. Los geht’s!« Die Wand des Turms der Verehrung rückte näher und wurde gleichzeitig höher. Als wir scheinbar nur noch wenige Meter von ihr entfernt waren, vergrößerte ich die Anzeige noch mehr, dann schaltete ich die Scanner aus. Eine halbe Sekunde später hatte ich die Höhe so weit korrigiert, wie ich für angebracht hielt, und startete den Countdown. Wir flogen blind, und ich hoffte verzweifelt, wir wären auf dem richtigen Kurs. Auf dem Bildschirm wurden die Sekunden heruntergezählt. Sie näherten sich der Null. Ich rutschte auf dem Stuhl ein wenig zur Seite. Ich holte tief Luft und schaltete die Anzeige wieder ein. Am unteren Rand des Bildschirms sah man eine große, schwarzweiße runde Platte mit dem bereits wohlvertrauten stilisierten >X< darauf. Der Rest des Bildes war unscharf. Neddi rief: »Jetzt!« ins Komm-Terminal. Im nächsten Moment erschien auf dem Bildschirm eine Gestalt in einem Sprunganzug, deren Füße sich einen knappen Meter über der runden Platte befanden. Als die Gestalt anstatt auf die Platte hinunterzufallen zu steigen begann und dabei schneller wurde, wußte ich, daß mein Plan funktioniert hatte. Ich schätzte, wie lange es dauern würde, bis Neddi ebenfalls sehen würde, daß sich ihr Begleiter in die falsche Richtung bewegte. Wenn ich zu lange wartete, würde sie mich in den Rücken schießen. Wenn ich zu früh aktiv wurde, würde Neddi noch nicht abgelenkt sein. Zeit zu handeln. Ich richtete mich auf und rannte zur offenen Tür. Neddi mußte mittlerweile gemerkt haben, daß ich das Schiff verkehrt herum in die untere Hälfte des Turms der Verehrung plaziert hatte, so daß ihr Freund kopfüber in den Desintegrator stürzte. Noch bevor ich an der Tür angelangt war, hatte ich Schallgeschwindigkeit erreicht. Zuerst glaubte ich, ich hätte mit meinem Hechtsprung durch die Tür zu lange gezögert, doch dann sah ich, daß Neddis Laser die Wand gegenüber der Tür in Brusthöhe verkohlte. Also hatte sie meinem Bild tatsächlich vorgehalten, was darauf schließen ließ, daß ihr diese Umgebung nicht ganz fremd war. Ich rappelte mich hoch und rannte weiter. Wenn ich den Speisesaal erreichte und es mir gelang, die restliche Besatzung zu befreien, wäre Neddi gegen die Überzahl chancenlos. Und mit einem Laser kurz und relativ schmerzlos getötet zu werden, war Neddis Techniken bei weitem vorzuziehen. Ich rannte im Zick-Zack. Hinter mir hörte ich nichts, und als ich mich umsah, konnte ich nur das erkennen, was wenige Sekunden zuvor aktuell gewesen war. Der nach unten geschwungene Gang vor mir kontrahierte, und seine Farbe verschob sich ins Violett. Ich rannte so schnell, daß ich nicht einmal meine eigenen Schritte hörte, und hoffte, Neddis Sprunganzug würde verhindern, daß sie mir im gleichen Tempo folgte.
Vor mir leuchtete kurz ein horizontaler Wandabschnitt auf. Also war mein Vorsprung nicht ganz so groß, wie mir lieb gewesen wäre. Die positive Bilanz war, daß ich Neddi aufgrund der Abwärtsneigung des Gangs weniger Fläche bot. Die schlechte, daß mein Kopf am exponiertesten war. Ich duckte mich und rannte so schnell weiter, wie ich konnte. Vor mir lag die Tür zum Speisesaal. Wenn es mir gelang, den Keil herauszuziehen und die Besatzung zu befreien, bevor Neddi mich erschoß, hätte sie gegen diese Übermacht keine Chance mehr. An der Tür blieb ich abrupt stehen. Der Überschallknall dröhnte mir in den Ohren. Ich zog den Keil heraus. Und dann sah ich, daß jemand die Tür zugeschweißt hatte, Neddi mit ihrem Laser. Ich hämmerte gegen die Tür, teilweise vor Enttäuschung, teilweise um den Menschen dahinter mitzuteilen, daß sie noch einmal versuchen sollten, die Tür zu öffnen. Vielleicht war die Laserschweißnaht nicht so stabil wie sie aussah. Ich hätte es auch mit einem Messer probieren können, doch das hätte zu lange gedauert. Ich rannte weiter. Ein weiterer Lasertreffer brachte die Decke über meinem Kopf zum Leuchten. Neddi versuchte anscheinend, im Laufen zu schießen. An der nächsten Kreuzung bog ich ab, froh über die kurze Atempause, die ich mir damit verschaffte. Ich mußte Neddi abschütteln, doch sie konnte stets sehen, was ich in den letzten paar Sekunden getan hatte. Wenn ich mich in irgendeinem Raum versteckte, würde sie mich dennoch erwischen, da mich mein mehrere Sekunden altes Bild verraten würde. Ich brauchte eine Treppe. Ich dachte an die obere, größere Ebene, doch dann fiel mir die Geschwindigkeitsbeschränkung ein, der man dort unterworfen war. Und dann kam mir eine neue Idee. Ich schob die Tür auf, und gleichzeitig erreichte mich ein weiterer Überschallknall. Von Neddis Laser prasselten mir glühende Splitter des Türrahmens auf den nackten Arm. Ich stieg die Treppe hinunter und zwang mich dazu, langsam zu gehen. Dabei redete ich laut vor mich hin, in der Hoffnung, daß Neddi mich hören und vor lauter Wut unfähig sein würde, einen klaren Gedanken zu fassen. »Neddi Pulmerto, du dumme, alte Vettel. Ich bin Jason Kraft. Ich habe dich auf Redwall geschlagen, und hier werde ich dich ebenfalls schlagen.« Ich schob die Tür zur Ebene Drei auf. Die erhöhte Schwerkraft erinnerte mich daran, wie erschöpft ich war. Ich bog auf den Gang ein und begann zu laufen, und zwar etwas langsamer als auf der oberen Ebene. Ich schlug keine Haken, sondern hielt mich in der Mitte des Korridors. Vor und hinter mir schien sich der Gang bis in die Unendlichkeit zu erstrecken. Jetzt wagte ich es, mich umzusehen. Ich hatte den Moment gut abgepaßt. Von Neddi war noch nichts zu sehen. Und dann stürmte sie aus der Tür zum Treppenhaus und blickte in beide Richtungen. Einen Moment lang schien sie verwirrt, denn sie sah mich gleich zweimal, einmal von hinten und einmal von vorn. Anscheinend faßte sie sich rasch wieder, denn sie hob den Laser. Alles, was ich sah, lag mehrere Sekunden in der Vergangenheit, und das galt auch für ihren Finger, der den Abzug drückte. Ich ließ mich flach auf den Bauch fallen und hoffte, daß ich ihre Reaktionen richtig vorausgeahnt hatte. Im nächsten Moment war ich bereits wieder auf
den Beinen und rannte mitten über den Gang weiter. Weit vor mir sah ich Neddi von hinten, wie sie mir mit angelegtem Laser folgte. Sie hatte nicht zweimal in rascher Folge gefeuert, daher riskierte ich es, noch drei bis vier Sekunden lang weiterzulaufen, ehe ich mich vorübergehend hinter einer Treppentür in Sicherheit brachte. Ich hoffte, daß mein Plan funktionieren würde, wagte es jedoch nicht, solange auf der Treppe zu warten, bis ich mir dessen sicher war. Ich rannte die Treppe hoch. An der nächsten Tür blickte ich mich um. Von Neddi nichts zu sehen. Ich stürmte zum Speisesaal. Die Tür war immer noch verschlossen. Ich schnappte mir ein Messer aus dem gegenüberliegenden Geräteraum und bearbeitete die Laserschweißnaht mit der Klinge, indem ich auf die Kruste einhämmerte und gleichzeitig nach Neddi Ausschau hielt. Das geschmolzene Metall hatte eine dünne Schicht gebildet, die das Messer jedoch durchdrang. Ich verbog die Klinge und benutzte sie als Hebel, und tatsächlich bewegte sich endlich die Tür. Im nächsten Moment glitt sie auf, und ich sah die Besatzung. »A bis M, begeben Sie sich auf die Brücke und verteidigen Sie sie gegen jeden, der sich blicken läßt. N bis Z, befreien Sie die Passagiere, die im Schwimmbad eingesperrt sind. Bensode, Sie begleiten mich.« Bensode trug immer noch den Kragen. Als er mich erreicht hatte, sagte ich: »Ein mit Laser bewaffneter Gegner wurde zuletzt auf der Drei gesehen. Sie müssen mir helfen.« Bensode verzichtete darauf, unnötige Fragen zu stellen. Ich erklärte ihm, was meiner Meinung nach geschehen war und weshalb ich Neddi seit einer Minute nicht mehr gesehen hatte, wies ihn aber darauf hin, daß sie gefährlich war. Wir stiegen die Treppe zur Ebene Drei hinunter und nahmen beiderseits der Tür Aufstellung. Vom Gang drang kein Geräusch zu uns herein. Ich riskierte einen kurzen Blick. Neddi lag etwa zehn Meter von der Tür entfernt auf dem Boden. Ihre Laserpistole war noch über die Nabelschnur mit der Energieversorgung verbunden, die sie um die Hüfte trug, war ihren ausgestreckten Händen jedoch entglitten. In der Ferne sah man immer noch, wie Neddi gerade zusammenbrach, und noch weiter weg sah ich mich selbst beim Betreten des Treppenhauses. Bensode gab mir Deckung, während ich nachsehen ging. Ich hielt mich dicht an der Wand des Korridors, bis ich Neddi erreicht hatte. Dann beugte ich mich mit gesenktem Kopf vor und packte die Laserpistole. Ich löste das Verbindungskabel zur Energieversorgung. Neddi Pulmerto schauspielerte nicht. Sie war tatsächlich tot. Das verkohlte Loch im Rückenteil ihres Sprunganzugs war Beweis für das, was geschehen war: mit ihrem eigenen Hochenergielaser hatte sie sich in den Rücken geschossen.
Viel Blut war nicht zu sehen; der Laser hatte die Wunde verschlossen und das Blut zum Gerinnen gebracht. Durch das Loch im Anzug sah man die geschwärzte Haut, was darauf hindeutete, daß ihr Lifebelt immer noch funktionierte, obwohl er ihr jetzt nichts mehr nützte. Als sie auf mich geschossen hatte, war sie glücklicherweise dermaßen aufgebracht und durcheinander gewesen, daß sie nicht daran gedacht hatte, daß das Licht auf Ebene Drei das Schiff umrunden würde. Der Laserstrahl, der mich verfehlt hatte, obwohl ich mitten auf dem Gang entlanggelaufen war, hatte eine Kreisbahn beschrieben und sie in den Rücken getroffen. Falls sie nicht exakt die richtige Höhe eingehalten hatte, hatte sich die restliche Laserenergie mittlerweile an Wänden, Boden und Decke verteilt. Während ich so dastand, bekam ich auf einmal weiche Knie. Es schien noch gar nicht so lange her, daß mich diese Person, auf die ich hinunterblickte, tief verletzt hatte, und die Erinnerungen stürzten so rasch auf mich ein, daß ich den Kontakt mit der Gegenwart verlor. Ich erlebte wieder Rissas Dankbarkeit und sah noch einmal die Angst in den Augen ihres Peinigers, so als kreiste das Licht jener Tage noch immer an Bord der Redshift. Als ich nach unbestimmter Zeit wieder zu mir kam, fiel mir ein passender Nachruf auf Neddi Pulmerto ein: Am Ende hat sich der Kreis für sie geschlossen. Als ich schließlich wieder Bensode ansah, hielt er gerade sein Uniformhemd nach Stierkämpferart in die Gangmitte, um zu prüfen, ob von dem Laserstrahl noch etwas zu spüren war. Nach einer Zeitdauer, die einem Umlauf mit Lichtgeschwindigkeit entsprach, zog er das Hemd unversehrt zurück. Mit betrübter Miene verkündete er: »Es ist nichts mehr da, weswegen wir uns Sorgen zu machen brauchten, Mr. Kräfte »Woher wollen Sie das wissen?« fragte ich, den Bann mit Mühe brechend. »Wem können wir denn eigentlich noch vertrauen, wenn wir nicht mehr an die Unfehlbarkeit unserer religiösen Führer glauben?«
»Mr. Kraft, ich glaube, Sie sollten mal herkommen und sich das ansehen.« Bensodes Anruf erreichte mich auf der Brücke, als ich gerade mit Bella und Razzi sprach. Wir hatten mittlerweile einen vollständigen Bericht samt der Koordinaten von Xanahalla über das Netz gesendet. Während wir darauf warteten, daß Hilfe eintraf, hatten wir dafür gesorgt, daß die verbliebenen Turmbewohner auch unter der Erde blieben und an keine Fluchtfahrzeuge herankamen. Ein paar mit Wasser gefüllte Sprunganzüge hatten die dazu erforderlichen Geräte unbrauchbar gemacht. Das war wohl das moderne Äquivalent von Wasserballons. Obwohl die Prozedur im Grunde ein nüchterner Vorgang war, bereitete es mir doch einige Genugtuung, die Anzüge loszuschicken. Ich traf mich mit Bensode auf Ebene Sechs. Zusammen mit zwei weiteren Besatzungsmitgliedern hatte er eine Plane über eine Ausbeulung in der Wand gezogen. Als ich ihn erreicht hatte, sagte Bensode: »Da hätten wir einen Freund von Ihnen, der wohl ein bißchen zu neugierig war. Konnte sich anscheinend befreien und hat dann einen blinden Sprung versucht.« Bensode lupfte eine Ecke der Plane, unter der ein Bein in einem Sprunganzug zum Vorschein kam. Als er die Plane höher zog, sah ich auch den Rest. Jedenfalls das, was noch zu sehen war. Die Gestalt war in die Wand eingebettet. Etwa ein Drittel des Körpers schaute
hervor: ein Arm, ein Bein, ein Teil des Oberkörpers und der Helm im Profil. Ich beugte mich vor und verrenkte mir den Hals, um durch das Eckchen vom Helm zu spähen, das aus der Wand hervorragte. Das Gesicht des Mannes war kalkweiß, nicht etwa deshalb, weil er tot war, denn das war sicherlich der Fall, sondern weil sein Lifebelt, der ebenfalls in der Wand begraben war, nicht mehr arbeitete. An meiner Zungenspitze bildete sich ein metallischer Geschmack. Wir konnten von Glück sagen, daß er niemanden getötet hatte. »Ich nehme an, Sie wissen, was das bedeutet, Bensode?« sagte ich schließlich. »Sir?« »Das bedeutet, daß die Aussichten schlecht stehen, Wade Midsel vollständig aufzubahren.«
Die Redshift beteiligte sich an der Rettungsaktion. Nachdem wir unsere Passagiere aus dem Schwimmbad geholt und ihnen zur Abwechslung mal wieder normale Kost vorgesetzt hatten, machten sie sich mit neuerwachter Abenteuerlust daran, die oberirdischen Bewohner von Xanahalla zu assimilieren und auf die Heimreise vorzubereiten. Ich hatte eine ganze Schicht lang geschlafen und widmete mich nun wieder dem Tagesgeschäft, wobei ich mich zwang, bloß an die Arbeit zu denken. Zumindest versuchte ich es. Obwohl ich mich in einer Umgebung der relativen Werte befand, war mein Scheitern absolut. »Jason, ich brauche Sie hier oben. Können Sie sich freimachen?« Ich befand mich auf der Brücke, und Razzi hatte von einem Lagerraum auf Ebene Sechs aus angerufen. Als ich die Tür öffnete, traf ich jedoch nicht Razzi dahinter an, sondern Tara, die auf einer Gerätekiste saß. Ich sagte nichts, denn ich hatte Schuldgefühle, weil ich sie in letzter Zeit vernachlässigt hatte. Sie nagte nervös an einem Fingernagel, sah bei meinem Eintreten jedoch auf, und auf einmal wirkte sie wieder ruhig und gelassen. Taras schwarzes Haar glänzte wie polierter Obsidian. Sie trug eine rote Bluse. Die Farbe, die hier typisch war für sich entfernende Objekte, machte mir auf einmal schmerzhaft bewußt, daß ich mit meiner Untätigkeit die Distanz zu ihr vergrößerte. »Sie sehen gut aus«, meinte Tara. Sie sah mich an, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Sie auch.« Es entstand ein Schweigen, das Tara brach. »Sie haben Angst, hab ich recht? Sie wollen um nichts bitten, weil sie sich davor fürchten, abgewiesen zu werden.« »Nein. Vielleicht. Ich…« »Jason, Jason. Ich sehe immer noch besser als Sie. Wir haben bereits so manche Gefahr zusammen überstanden. Ein paar lebensbedrohliche Gefahren. Gehen Sie noch ein Risiko ein.«
Ich brachte kein Wort heraus. Tara stand auf und näherte sich mir. »Ich sehe Sie klar und deutlich, Jason. Und was ich sehe, gefällt mir. Gefällt Ihnen nicht, was Sie sehen?« »Nein…«, erwiderte ich mit rauher Stimme, »… ah… das ist es nicht. Mir gefällt, was ich sehe. Sehr sogar. Es ist bloß so, daß ich… ich weiß nicht… ich nehme an, ich war so lange unglücklich, daß ich manchmal meine, es müßte immer so weitergehen. Ich möchte niemanden enttäuschen.« Tara atmete scharf ein. »Niemanden enttäuschen? Ich glaube, das ist das dümmste, was ich bis jetzt von ihnen gehört habe. Jason, ich habe gesehen, was Sie für Menschen tun, die Sie kaum kennen, und was Sie für Menschen tun, die Sie mögen und denen Sie vertrauen. Sie würden nie jemanden enttäuschen.« Ich blickte in Taras blaue Augen, und mir war weitaus schwindliger dabei, als mit der niedrigen Schwerkraft zu erklären war. Vielleicht machte ich nicht alles richtig, doch verglichen mit Wade Midsel und Xanahalla machte ich doch wohl keinen sonderlich schlechten Eindruck. Und wenn ich es nicht einmal bei einer so außergewöhnlichen Frau wie Tara wagte, eine nähere Beziehung einzugehen, dann würde ich nie wieder jemanden an mich heranlassen. Nach einem kurzen Zögern sagte ich: »Stell dir vor, du hast schon wieder recht. Wieso sollte uns das Risiko eigentlich schrecken, nach allem, was wir beide durchgemacht haben?« Ihr zuversichtliches Lächeln rief mir abermals Rissas Dankbarkeit in Erinnerung, doch diesmal war mir ebenfalls dankbar zumute. Entweder Tara hatte meinen Panzer durchdrungen, oder aber ich hatte ihn abgelegt. Tara schlang die Arme um mich. Ich hatte gar nicht gewußt, daß sie so stark war.
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ANHANG
Phänomene an Bord der Redshift
Nichthaftungserklärung Eigner und Mannschaft der Far Star Line, der die Redshift gehört, empfehlen den Passagieren, vor Antritt ihrer ersten Hyperraumreise an einem kostenlosen Orientierungskurs teilzunehmen. Andernfalls übernimmt die Gesellschaft für eventuelle Unfälle und Verletzungen, die sich an Bord ereignen können, keinerlei Haftung. Eine kurze Einführung in relativistische Phänomene An Bord der Redshift beträgt die Lichtgeschwindigkeit 10 Meter pro Sekunde. Der Schall pflanzt sich mit etwa 6,6 Metern pro Sekunde fort. Alle speziellen Phänomene beruhen auf diesen beiden Werten. Passagiere, die noch nicht im Hyperraum waren, sollten wissen, daß diese Effekte ausnahmslos im Normalraum bestätigt wurden und auf Einsteins Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie, beziehungsweise auf die Newtonsche Mechanik zurückgehen; der einzige Unterschied besteht darin, daß sie an Bord der Redshift so langsam ablaufen, daß sie leicht zu beobachten sind. Längenkontraktion: Gegenstände, die sich mit angenäherter Lichtgeschwindigkeit an Ihnen vorbeibewegen, scheinen sich in Bewegungsrichtung zusammenzuziehen. (Sie selbst scheinen sich für einen Beobachter natürlich ebenfalls in Ihrer Bewegungsrichtung zu verkürzen. Daß Sie selbst nichts davon merken, liegt im Wesen der Relativität; Ihre Beobachtungen hängen von Ihrem jeweiligen Standpunkt ab.) Dopplereffekt: Die Farbe von Gegenständen, die sich von Ihnen fortbewegen, wird zum roten (niederfrequenten) Ende des Spektrums hin verschoben. Die Farbe von Gegenständen, die sich Ihnen nähern, wird zum violetten (hochfrequenten) Ende des Spektrums hin verschoben. Die Verschiebung kann sich unter Umständen bis in den unsichtbaren Teil des Spektrums hinein erstrecken. Für den Schall gelten zwar geringfügig andere Gleichungen, doch auch hier nimmt man die Töne bei Annäherung höher und bei Entfernen tiefer wahr. Gravitative Rotverschiebung: Dringt Licht aus einem Gravitationsfeld, so verliert es Energie, und seine Farbe verschiebt sich zum Roten hin. Fällt Licht in ein Gravitationsfeld hinein, gewinnt es Energie, so daß sich die Farbe zum Violetten hin verschiebt. Die Verschiebung kann bis in den unsichtbaren Bereich des Spektrums hineinreichen. Während monofrequentes Licht in einem starken Gravitationsgradienten an der Decke bläulich erscheint, wirkt es in Bodennähe rötlich. Lichtkrümmung: In der Hyperraumschicht Zehn breitet sich das Licht langsam aus. Da es wie im Normalraum auch dem Einfluß der Schwerkraft ausgesetzt ist, senkt es sich merklich ab. Wird das Licht gekrümmt, erscheinen beispielsweise gebogene Oberflächen eben und konvexe Oberflächen konkav. Sie müssen sich daran gewöhnen, eine Taschenlampe ähnlich zu handhaben wie auf der Erde einen Wasserschlauch. Massenzunahme: Nähert sich ein Gegenstand der Lichtgeschwindigkeit an, nimmt seine Masse zu (gemessen von einem unbewegten Beobachter), daher erfordert es immer mehr Energie, ihn noch weiter zu beschleunigen, was zur Folge hat, daß er sich der Lichtgeschwindigkeit zwar annähert, sie aber nie ganz erreicht. Die scheinbare Massenzunahme bei gleichzeitig verringerter scheinbarer Geschwindigkeitszunahme hat zur Folge, daß die Energie erhalten bleibt.
Inertialsystem: Sämtliche Aktivitäten von und Messungen an materiellen Körpern, die Ihrem eigenen Inertialsystem angehören, erscheinen normal (wenngleich sich die Meßergebnisse für Beobachter, die anderen Inertialsystemen angehören, unterscheiden können). Gleichzeitigkeit: Keine zwei Beobachter, die sich unabhängig voneinander bewegen, stimmen hinsichtlich der Beurteilung der Gleichzeitigkeit zweier räumlich getrennter Ereignisse überein. Sämtliche Beobachter stimmen hinsichtlich Ursache und Wirkung überein, hinsichtlich des Zeitablaufs jedoch nicht. Überschallknall: Ein Überschallknall ist kein relativistischer Effekt, wird jedoch von einem unbewegten Beobachter gehört, wenn sich ein Gegenstand mit Überschallgeschwindigkeit an ihm vorbeibewegt. Sämtliche entlang der Bewegungsrichtung erzeugten Geräusche erreichen den Beobachter kurz nach dem Passieren des Objekts nämlich nahezu gleichzeitig. An Bord der Redshift vermag ein Jogger einen Überschallknall zu erzeugen. Lichtgeschwindigkeit: Die Lichtgeschwindigkeit innerhalb eines jeden Bezugsrahmens ist konstant (da sich der Zeitablauf unterscheiden kann, meint ein äußerer Beobachter bisweilen, die Lichtgeschwindigkeit habe sich geändert). Zeitdilatation: Bewegt sich jemand mit annähernd Lichtgeschwindigkeit an Ihnen vorbei, so verstreicht für diese Person die Zeit langsamer als für Sie. Nach der Allgemeinen Relativitätstheorie (und im Unterschied zur Spezieilen Relativitätstheorie) nimmt der äußere, sich bewegende Beobachter Sie als unbeschleunigten Beobachter wahr, für den die Zeit schneller verstreicht (im Einklang mit dem sogenannten Zwillingsparadoxon). Desgleichen verlangsamen Gravitationsfelder entsprechend ihrer Stärke den Zeitablauf. Daraus folgt, daß die Zeit auf den unteren Schiffsebenen langsamer verstreicht als auf dem Passagierdeck. Möchten Sie die Reisezeit verkürzen, stehen Ihnen auf der Redshift einige geeignete Einzelkabinen zur Verfügung. Sollte Ihnen eine längere (subjektive) Reisezeit hingegen nichts ausmachen, können wir Ihnen auch ein paar Einzelkabinen mit verminderter Schwerkraft auf Ebene Sieben anbieten. Wir empfehlen Ihnen dringend, Ihren Zeitplan gemäß der Standarduhren an Bord einzurichten.
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Wie ich die Redshift erfunden habe Ich weiß, was Sie denken. Sie denken: >Mir macht der nichts vor. Das hat er sich alles bloß ausgedacht. Xanahalla gibt es gar nicht, hab ich recht, Virginia? < Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber ich möchte hier nicht über Xanahalla sprechen. Oder übers Wetter. Lassen Sie uns über die Redshift reden. Einige Leser (Sie werden schon wissen, welcher Fraktion Sie angehören) werden gegen die diesem Buch zugrundeliegenden Annahmen wahrscheinlich Einwände erheben. Ich höre schon, wie sie sagen: »Aber, aber, aber - was ist mit den Gasmolekülen?« Ja, ich weiß, daß sich Gasmoleküle normalerweise mit Überschallgeschwindigkeit bewegen. Macht man sie jedoch so langsam, daß sie zu der Umgebung dieser Geschichte passen, dann wären sie nicht mehr gasförmig. Doch dazu später. Okay. Die nächste Frage. Sie dort hinten. Ja, der Herr, der dort winkt. »Aber, aber, aber - was ist mit den Elektronen, die um die Atomkerne kreisen?« Richtig. Das ist ein weiterer Problempunkt. Ich weiß, daß Elektronen auf einer Kreisbahn der Lichtgeschwindigkeit recht nahe kommen. Macht man sie langsamer, ergeben sich eine Menge neuer Probleme. Auch darauf komme ich noch zu sprechen. Okay. Tut mir leid. Im Moment bitte keine Fragen mehr. Die Sache ist nämlich die, daß ich ein paar bequeme Annahmen machen mußte, welche die eigentliche Geschichte aber nur am Rande tangieren; die Grundidee ist nämlich nicht annähernd so interessant. Ich weiß, das klingt ketzerisch; vielleicht finden manche Leser, das Buch sei nicht die >härteste< SF-Geschichte, die ich bislang geschrieben habe, sondern eher der Fantasy zuzurechnen. Nur zu, beschweren Sie sich. Ich fand die Idee jedenfalls ausarbeitungswürdig. Ich will damit nicht sagen, daß ich keine Kritik an eventuellen Fehlern hören möchte; vielmehr hoffe ich, daß dieses Buch zu Diskussionen anregt. Des weiteren hoffe ich, daß die Freiheiten, die ich mir herausgenommen habe, Sie beim Lesen nicht daran hindern werden, sich auf die Geschichte einzulassen. Der Rest dieses Kapitels befaßt sich mit der Entwicklung der Redshift. Vielleicht kann ich ja alles klarstellen. Andererseits… Stellen Sie sich vor, Sie sähen eine Joggerin an sich vorbeilaufen, deren Körper in Bewegungsrichtung kontrahiert ist. (Wenn Sie mit dieser Vorstellung nichts anfangen können und sie Ihnen unangenehm ist, dann sollten Sie vielleicht besser eine Einführung in die Relativitätstheorie lesen. Das folgende habe ich jedenfalls nicht erfunden. Ehrlich.) Also gut. Sie stellen sich eine stark veränderte Umgebung vor, in der es schon bei niedrigen Geschwindigkeiten zu relativistischen Effekten kommt.
In dieser veränderten Umgebung würde eine schnelle Läuferin feststellen, daß die unbewegten Beobachter, an denen sie vorbeikommt, in ihrer Bewegungsrichtung kontrahiert sind. Stationäre Uhren würden schneller gehen. Natürlich nicht in Wirklichkeit; die innere Uhr der Läuferin ginge bloß langsamer. Genau wie der reisende Zwilling des sogenannten Zwillingsparadoxons bewegt sie sich langsamer durch die Zeit als ihre Schwester, die auf einer Liege am Pool das Chlor auf sich einwirken läßt. Wenn sie schnell genug läuft, vermag sie ihre Uhr soweit zu verlangsamen, daß sie für jede Minute, die ihre liegende Schwester altert, lediglich eine Sekunde älter wird. Anders ausgedrückt, durch das Joggen verlangsamt sie ihren Alterungsprozeß, daher ist Laufen tatsächlich gut für die Gesundheit. Das meint man damit, wenn man sagt, >lauf um dein Leben<. Die Vorstellung, daß relativistische Effekte bei niedrigen Geschwindigkeiten auftreten, ist die Grundidee, der dieses Buch seine Entstehung verdankt. Dieses Kapitel spiegelt die Entwicklung dieser Idee wider, die Verwerfungen, die daraus entstanden sind, die Sackgassen, in die sie geführt hat, die nützlichen Annahmen, die sie erfordert hat, und die Widersprüche, die ich bislang noch nicht auflösen konnte. Diese Informationen sind vielleicht für Schriftsteller interessant, die eine fremde Umgebung auf der Basis einer einzigen Annahme entwickeln möchten, oder für Leser, die nach Schwachpunkten Ausschau halten oder sich weitere Folgerungen ausdenken möchten. Oder aber für Erbsenzähler und Korinthenkacker. Als ich Zeitschichten zu schreiben begann, hatte ich mehrere Ziele. Die Grundidee hatte meine Phantasie angeregt, und ich hoffte, dies würde auch für die Leser gelten. Die Redshift erschien mir als ein geeignetes Vehikel, einiges über Relativität zu vermitteln, was durchaus doppeldeutig gemeint ist. Außerdem war ich neugierig, wie sich eine solche Umgebung auf die darin lebenden Menschen auswirken würde. Denn wenn eine Geschichte nicht mit Menschen zu tun hat, handelt es sich nicht um Literatur, und man hätte ebensogut einen drögen Artikel schreiben können. (Einen Artikel wie diesen hier.) Erläuterungen wie diese bringen das Risiko mit sich, daß einigen Lesern der Spaß verdorben wird, so wie ein Kinobesucher, der weiß, wie die Tricks gemacht wurden, bisweilen mehr auf die Technik als auf die Story achtet, doch ich war der Meinung, daß dies für einen Teil der Leserschaft von Interesse sein würde. Außerdem, mir macht das schließlich nichts aus. Die Vorstellung, daß relativistische Effekte bereits bei Geschwindigkeiten auftreten, die sich ohne technische Hilfsmittel erreichen lassen, führte zu zwei Optionen: entweder die Menschen mußten sich sehr schnell bewegen (eine gewaltsame, schwer zu begründende Vorstellung), oder aber die Lichtgeschwindigkeit mußte wesentlich verlangsamt werden. Ich entschied mich für die Verlangsamung der Lichtgeschwindigkeit. Willkürlich setzte ich die Lichtgeschwindigkeit zunächst auf zehn Meter pro Sekunde fest, was etwas unter dem Geschwindigkeitsrekord für Läufer liegt. Um diese Absenkung zu rechtfertigen, nahm ich die Existenz von verschiedenen Hyperraumschichten an, in denen die Lichtgeschwindigkeit mit der Entfernung von der Nullschicht, dem uns vertrauten Normalraum, absinkt. (Die Abmessungen der Redshift sind in Tabelle Eins aufgeführt.) Damit es einen Grund gibt, sich in diese Schichten zu begeben, nahm ich an, daß die Entfernungen zwischen zwei Punkten in den höheren Schichten um einen noch größeren Faktor schrumpfen, so daß die Reisezeit bei Lichtgeschwindigkeit von einer Schicht zur nächsthöheren jeweils um die Hälfte abnimmt. Daher ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts in Schicht Zehn 1024mal so groß wie in der Nullschicht, wenngleich sich die Raumschiffe nicht mit zehn Metern pro Sekunde fortbewegen. Gehärtete Funkgeräte, die in Schicht Fünfzehn plaziert werden, ermöglichen die Hochgeschwindigkeitskommunikation.
(Ich nahm an, daß der Hyperraum ab Schicht Zehn aufgrund molekularer Instabilitäten zunehmen lebensfeindlicher wird.) In Tabelle Zwei sind die relativen Abmessungen und Geschwindigkeiten für die jeweilige Hyperraumschicht aufgeführt. Um einen Begriff von diesen Abmessungen zu bekommen, sollten Sie sich vorstellen, wie wenig Platz vonnöten wäre, wenn man sämtliche Hyperraumpassagiere eines Raumschiffs der Länge nach aneinanderreihen würde. Diese Annahmen hinsichtlich der Quantenschichten des Universums sind pure Erfindung, wenngleich es in den nächsten Jahren noch schwer fallen dürfte, sie zu widerlegen (zumindest für jemanden mit meiner Bildung und meinen Neigungen). Eine niedrige Lichtgeschwindigkeit in aufeinanderfolgenden Hyperraumschichten bildet die Basis für die folgenden Vorstellungen. Dort, wo ich mir die Freiheit herausgenommen habe, mich in Widerspruch zu bekannten Fakten oder Zahlen zu begeben, habe ich Werte angenommen, welche die relativistischen Effekte deutlicher hervortreten lassen, so wie ein Autor bisweilen Trends oder Charakterzüge einzelner Personen übertreibt, um die Gesellschaft aus neuem Blickwinkel zu betrachten, beispielsweise anhand der Fragestellung: Wie wäre es, wenn wir alle blaues Haar hätten? Das Hyperraumschiff, die Redshift, hält sich in Schicht Zehn auf und vermag daher weit auseinanderliegende Punkte zu erreichen. Ich habe mich bemüht, auch in Schicht Zehn die uns bekannten Gesetze der Physik möglichst unverändert zu lassen. Die einzige Änderung besteht darin, daß ich eine Lichtgeschwindigkeit von zehn Metern pro Sekunde anstatt von 3 x 108 angenommen habe. (Sie werden mir sicher darin zustimmen, daß dies interessanter ist als etwa eine Lichtgeschwindigkeit von 3 x 107.) Da ich annahm, daß das Wissen der Menschen dieser Zukunft ausreicht, um den Raum so zu krümmen, daß sie zwischen verschiedenen Hyperraumschichten hin und her wechseln können, nahm ich ebenfalls an, daß sie in der Lage sind, eine so große Masse zu simulieren, daß ein starkes Gravitationsfeld entsteht. Und wenn eine Raumkrümmung Gravitation erzeugt, warum sollte man dann nicht auf die Masse verzichten? Was die Redshift angeht, habe ich mich für die Kugelform eines Miniaturplaneten entschieden, mit kugelschalenförmigen Ebenen. Auf diese Weise werden die Menschen vom Schiffsmittelpunkt angezogen, im Unterschied zu den konventionellen Ansätzen, bei denen man die bei einer Drehbewegung in die entgegengesetzte Richtung wirkende Zentrifugalkraft benutzt (was bei einem kugelförmigen Raumschiff sowieso kaum Sinn hätte). Auf Tafel 1 sehen Sie, wie die Redshift aufgebaut ist. Eine Lichtgeschwindigkeit von zehn Metern pro Sekunde führt unmittelbar dazu, daß ein Läufer seine Umgebung relativistisch kontrahiert wahrnimmt. Desgleichen scheinen für ihn die Uhren im unbewegten Bezugsrahmen schneller zu gehen. Diejenigen unter den Lesern, die meinen, unbewegte Uhren sollten langsamer gehen, wenn sie von einem Läufer beobachtet werden, sollten sich klarmachen, daß wir es hier nicht mit unbeschleunigten Bezugssystemen zu tun haben, für welche die Spezielle Relativitätstheorie gelten würde. Da beide Systeme einem Gravitationsfeld zugeordnet sind und der Läufer beschleunigt wird, wenn er am Umkreis des Schiffes entlangläuft, gelten hier die Bedingungen der Allgemeinen Relativität. Als meine Überlegungen soweit gediehen waren, wurde ich von George Gamow auf Mr. Tompkins in Wonderland aufmerksam gemacht (nachgedruckt in dem Band Mr. Tompkins in Paperback). Es faszinierte mich, daß bereits jemand anders darauf gekommen war, mittels der Annahme einer niedrigen Lichtgeschwindigkeit die Relativität verständlicher zu machen (und das vor mehr als vierzig Jahren). Zu meiner Erleichterung stellte ich dann fest, daß es sich bei
Mr. Tompkins in Wonderland um einen kurzen Artikel handelt, der nicht viel mehr aussagt, als ich bereits erwähnt habe. Und das war erst der Anfang. Okay. Wir sind soweit, daß Längenkontraktion und Zeitdilatation begründet sind. Das gilt auch für den Dopplereffekt. Für den Läufer erscheinen Objekte, die sich vor ihm befinden, zum höherfrequenten Teil des Spektrums hin verschoben. Er empfängt das Licht stets mit der gleichen Geschwindigkeit, daher nimmt die Energie des Lichts und damit seine Frequenz zu, wenn er sich dessen Ursprung nähert. Die Farbe sich entfernender Gegenstände wird entsprechend zum Roten hin verschoben. Mittlerweile war ich schon recht zufrieden mit den sich aus der Grundannahme ergebenden Folgerungen, und dann fiel mir ein, daß Licht durch eine Raumkrümmung (große Massen) abgelenkt wird. In dieser Umgebung, bei einer so niedrigen Lichtgeschwindigkeit, fällt der Effekt um so stärker aus. Auf der Erde, wie in jedem anderen Schwerefeld auch, fällt das Licht im gleichen Maße wie eine Masse. Allerdings denken wir nicht groß darüber nach, da die Lichtgeschwindigkeit so hoch ist, daß die Fallrate vernachlässigbar klein ist. Stellen Sie sich zwei einander gegenüberstehende Spiegel vor, auf deren einen ein Lichtstrahl fällt. Wirft man gleichzeitig einen Ball in rechtem Winkel auf eine von zwei senkrecht einander gegenüberstehenden Wänden, so fliegt er dazwischen hin und her und fällt gleichzeitig unter der Einwirkung des irdischen Schwerefelds. Das gilt auch für das Licht. Der Ball und das Licht bewegen sich zwar mit unterschiedlichen Horizontalgeschwindigkeiten, erreichen jedoch gleichzeitig den Erdboden. Ebenso verhält es sich an Bord der Redshift. Der einzige Unterschied: das Licht breitet sich so langsam aus, daß es in einem ähnlichen Bogen niederfällt wie ein sich schnell bewegendes Objekt. Daher beschreibt das Licht einer Taschenlampe einen ähnlichen Bogen wie der Strahl aus einem Wasserschlauch. Die Ablenkung des Lichts führt sicherlich zu mehr optischen Täuschungen, als mir eingefallen sind. Wahrscheinlich fallen mir gerade dann noch welche ein, wenn dieses Buch gedruckt ist. In einer bestimmten Entfernung vom Zentrum der Raumkrümmung entspricht die Lichtgeschwindigkeit der Umlaufgeschwindigkeit, so daß man fälschlicherweise meint, das Licht beschreibe einen geraden Weg auf einem ebenen Gang, während es sich in Wirklichkeit um den Umkreis der Redshift herumbewegt. Weiter unten fällt das Licht aufgrund der höheren Schwerkraft so rasch, daß optische Täuschungen die Folge sind. Richtet man auf Ebene Zwei eine Taschenlampe auf eine zehn Meter entfernte Wand, so senkt sich der Strahl unterwegs um etwa die Hälfte der Entfernung ab. Daher muß man die Taschenlampe höher halten. Da die Geschwindigkeit des Lichts unter der Umlaufgeschwindigkeit liegt, fällt es auf den Boden. Ein gerader Strahl in Bodenhöhe krümmt sich um den Boden herum, so daß der Beobachter mehr vom Boden sieht, als normalerweise der Fall wäre. Daraus folgt, daß das Licht, das einem waagerecht in die Augen fällt, vom Boden stammt, und dies erzeugt wiederum die Illusion, die innen gelegenen Ebenen seien schüssel- anstatt kugelförmig. Ich war gerade emsig damit beschäftigt, Skizzen vom Lichtweg auf den sieben Ebenen anzufertigen, als mir klar wurde: wenn das Licht so rasch fällt, müßte die Rotverschiebung mühelos zu beobachten sein. Zumal auf den unteren Ebenen stellt sie sogar ein charakteristisches Merkmal dar. Wenn das Licht in einem Gravitationsfeld steigt, verliert es Energie, und seine Frequenz nimmt ab. Beim Fallen ist es genau umgekehrt. Anders
ausgedrückt: plaziert man eine monofrequente Lichtquelle in einer bestimmten Höhe über dem Boden, so hängt die wahrgenommene Farbe von der Körpergröße des Betrachters ab oder jedenfalls davon, wie weit die Lichtquelle von seiner Augenhöhe entfernt ist. Entweder steigt oder fällt das Licht bis auf Augenhöhe, wobei es rötlicher wird, wenn sich die Augen des Betrachters höher, oder bläulicher, wenn sich seine Augen tiefer befinden. Dies gilt entsprechend auch für reflektiertes Licht, weil das Licht die Energie, die es beim Aufsteigen an die Decke verliert, auf dem Rückweg wieder zurückgewinnt, bis sich irgendwann ein Gleichgewicht einstellt. Das bedeutet, daß ein Raum, der von einer monofrequenten Lichtquelle erhellt wird, einfarbig erscheint, wobei sich .die Farbe ändert, je nachdem, ob sich der Beobachter bückt oder auf einen Stuhl klettert. Das könnte zu ziemlich wilden Farbschematas führen. Okay. Die Lichtbeugung und die gravitative Rotverschiebung hätten wir. Der nächste Punkt wäre - weshalb wird das Licht überhaupt gebeugt? Natürlich wegen der Gravitation. Doch das ist keine präzise Antwort. Ein gekrümmter Raum, die Grundlage der Gravitation, beugt das Licht, weil sich die Zeit innerhalb von Gravitationsfeldern verlangsamt. Und das habe ich mir nicht ausgedacht, das können Sie mir glauben. In unserem Teil des Universums ist die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum konstant. Wie jedoch während der Erdumläufe um die Sonne nachgewiesen wurde, wird das Licht ferner Sterne auf dem Weg zur Erde durch die Sonne gekrümmt. Es krümmt sich entweder deswegen, weil sich eine Seite der Wellenfront langsamer bewegt als die andere - was aufgrund der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ausgeschlossen ist -, oder aber weil die Zeit an einer Seite der Wellenfront verlangsamt ist. Ist die Zeit verlangsamt, bewegt sich das Licht gleichwohl noch mit konstanter Geschwindigkeit fort, wenngleich ein außerhalb des Gravitationsfeldes befindlicher Beobachter meint, die Geschwindigkeit des Lichts habe sich verlangsamt. Gravitationsfelder verlangsamen also die Zeit. Das gilt hier bei uns, und es gilt auch für die Redshift. Setzt man jedoch c = 10 in die Gleichung für die gravitative Zeitdilatation ein, so wirkt sich die Pseudomasse im Zentrum der Redshift entscheidend aus. Je näher man dem Schiffsmittelpunkt kommt, desto stärker verlangsamt sich daher der Zeitablauf. Jede Ebene stellt eine separate Zeitschicht dar, eine Zeitzone für sich, so wie die Zeit in Denver beispielsweise langsamer verstreicht als in New York. Doch das ist wieder ein anderes Thema. Zurück zu den Zeitzonen. Nicht nur, daß der Zeitablauf davon abhängt, auf welcher Ebene man sich befindet, sondern die Zeit verstreicht in Fußhöhe auch langsamer als in Kopfhöhe, ganz gleich, wo auf der Redshift man sich gerade aufhält (Voraussetzung ist allerdings, daß man steht). Dies hat den Vorteil, daß man sich die Fußnägel seltener schneiden muß als die Fingernägel. Man könnte nun meinen, es käme innerhalb des Körpers irgendwann zu einer furchtbaren Explosion, da das Herz einen steten Blutstrom durch die Adern pumpt und die Zeit für die Füße ja langsamer vergeht. Hier kommt jedoch ein Phänomen zum Tragen, das man von Wasser her kennt, das durch Rohre unterschiedlichen Durchmessers fließt. In den Abschnitten mit kleinerem Durchmesser nimmt die Strömungsgeschwindigkeit zu, so wie in den unteren Körperregionen die subjektive Strömungsgeschwindigkeit zunimmt. Übrigens bietet der verlangsamte Zeitfluß innerhalb von Gravitationsfeldern eine weitere Erklärung für die gravitative Rotverschiebung. Das aus einem Gravitationsfeld hervordringende Licht scheint eine niedrigere Frequenz zu haben, wenn sie von einem außerhalb des Feldes befindlichen Beobachter gemessen wird, weil dessen Uhr ja nicht
langsamer geht. Wenn die Lichtgeschwindigkeit so niedrig ist, daß es bei der moderaten Schwerkraft an Bord zu einer Rotverschiebung kommt, ist die nächste Schlußfolgerung, daß ein Teil des Inneren der Redshift ein Schwarzes Loch darstellt. Diesen Gedanken habe ich jedoch noch nicht zu Ende gedacht. Die Hauptschwierigkeit besteht dabei darin, daß es widersprüchliche Ansichten über die Verhältnisse innerhalb und am Rande des Ereignishorizonts gibt. Betrachten wir einmal die Randfragen, die aus dieser Umgebung folgern. Wenn die Lichtgeschwindigkeit zehn Meter pro Sekunde beträgt, wie hoch ist dann beispielsweise die Schallgeschwindigkeit? Weshalb erstarrt an Bord der Redshift eigentlich nicht die Luft, da sich die Luftmoleküle auf der Erde bei Raumtemperatur doch mit lediglich ein paar hundert Metern pro Sekunde bewegen? Wenn wir anfangen, uns mit Molekülen und Atomen zu beschäftigen, betreten wir die Grauzone zwischen exakt ausgearbeiteten Schlußfolgerungen und Mutmaßungen. Ich glaube, selbst dann, wenn ich mit der Ausgestaltung hier haltgemacht hätte, stellte die Redshift gleichwohl ein interessantes Gedankenexperiment dar, das mir so gut gefiel, daß ich notfalls durchaus bereit gewesen wäre, mich hier mit Mutmaßungen zu begnügen. Andererseits liegt ein großer Reiz darin, alles genau erklären zu können. Betrachten wir die Luftmoleküle. (War nur ein Scherz; lassen Sie uns so tun, als könnten wir sie sehen.) Auf der Erde bewegen sie sich nicht nur schneller, als es ihnen an Bord der Redshift erlaubt ist, sondern es ergeben sich dort auch Probleme mit den Atomen. Ich nahm an (reine Mutmaßung), daß die Elektronen an Bord den Kern mit annähernd Lichtgeschwindigkeit umkreisen, was zu einer starken Massenzunahme führt. Dies bedeutet, daß sich die Elektronen wesentlich langsamer (und auf größeren Umlaufbahnen) bewegen und daß chemische Reaktionen verlangsamt werden. Aus Bequemlichkeit habe ich angenommen, daß sich die physikalischen Konstanten von Schicht zu Schicht zwar verändern, daß sie jedoch die starke und die schwache Wechselwirkung sowie die elektromagnetische Kraft zulassen, so daß die Materie intakt und inert bleibt. Dies bedeutet gleichfalls, daß sich auch die meisten Moleküle mit annähernd Lichtgeschwindigkeit bewegen und schwerer sind als normal. Die Massenzunahme in Verbindung mit der langsameren Bewegung bewirkt, daß ein Molekül die gleiche kinetische Energie besitzt wie im Normalraum. Und da die Temperatur von der kinetischen Energie der Moleküle abhängt, verwandelt sich die Luft nicht in einen gefriergetrockneten Nebel. Die Schallgeschwindigkeit hängt von der mittleren Molekülgeschwindigkeit der Luft ab, da der Schall von den gegeneinanderprallenden Molekülen übertragen wird. Auf der Erde beträgt die Schallgeschwindigkeit für Sauerstoff etwa zwei Drittel der mittleren Molekülgeschwindigkeit. An Bord der Redshift nehmen wir eine mittlere Molekülgeschwindigkeit von knapp zehn Metern pro Sekunde an, so daß die Schallgeschwindigkeit folglich etwa sechs zwei Drittel Meter pro Sekunde beträgt. Daher vermag ein Mensch mit Überschallgeschwindigkeit zu laufen, wobei ein Überschallknall entsteht. (Jeder, der Jogger nicht mag, hat hier noch mehr Grund zum Ärgern.) Setzt man diese Schallgeschwindigkeit in die normalen Dopplergleichungen für Veränderungen der Tonhöhe ein, so ergibt sich, daß die Tonhöhe abnimmt, wenn sich jemand von einem entfernt. Ein Nebeneffekt, der für Licht und Schall gleichermaßen gilt, besteht in der höheren Fokussierung. Da die Frequenz auf der Redshift unverändert bleibt, die Geschwindigkeit jedoch reduziert ist, folgt daraus, daß sich die Wellenfront weniger stark ausbreitet. Spricht
man daher mit jemandem, ohne ihn anzusehen, läuft man Gefahr, nicht verstanden zu werden. Will man die Richtung bestimmen, aus der ein Geräusch kommt, muß man sich eher auf die relative Lautstärke an beiden Ohren verlassen, da die Zeitverzögerung, die das Stereo-Hören erst möglich macht, hier so stark ausfällt, daß wir nichts mehr damit anfangen können. Die Lifebelts stellen den größten Schwachpunkt in dieser Umgebung dar, sind aber lebenswichtig, da ein Mensch, dessen Synapsen nur noch mit einer Übertragungsgeschwindigkeit von zehn Metern pro Sekunde arbeiten, nicht mehr lebensfähig wäre (zumindest wäre es kein angenehmes und produktives Leben). Könnte in der Umgebung niemand überleben, wäre das sterbenslangweilig für den Leser. Die Lifebelts erzeugen ein Feld, in dessen Innern die Lichtgeschwindigkeit den normalen Wert hat. Um den Lifebelts etwas von ihrer magischen Qualität zu nehmen, nehme ich an, daß die Lichtgeschwindigkeit unseres Universums nach wie vor ein absolutes Maximum darstellt, daher können die Lifebelts das Licht nicht schneller machen, sondern gleichen lediglich eine Besonderheit der verschiedenen Hyperraumschichten aus. Ein weiterer Schwachpunkt ist das reflektierte Licht. Ich habe angenommen, daß eine mit einem Lifebelt ausgerüstete Person das Licht normal reflektiert. Jede ungeschützte Oberfläche besteht jedoch aus Molekülen, deren Elektronen so langsam um die Atomkerne kreisen, daß sie nicht mit den erforderlichen Frequenzen in Resonanz treten können, um Licht zu absorbieren und es anschließend in bestimmten Energiebändern wieder abzustrahlen. Hier habe ich die willkürliche Annahme gemacht, daß das Licht von einer Oberfläche zwar gestreut, ansonsten aber unverändert reflektiert oder aber absorbiert wird. Daher sieht man ungeschützte Oberflächen in verschiedenen Grauschattierungen. Der letzte Schwachpunkt ist schließlich die von mir verwendete Gleichung für die gravitative Zeitdilatation. Das Hauptproblem besteht in den unterschiedlichen Angaben, die ich in der Literatur hierzu gefunden habe; der gebräuchlichsten Gleichung zufolge wird die Zeitdehnung in der Mitte vom Radius des Ereignishorizonts unendlich groß, während es an anderer Stelle heißt, sie würde am Ereignishorizont selbst unendlich groß. Daher habe ich mich für diejenige Fassung der Gleichung entschieden, welche die interessanteste Umgebung zuläßt. Bitte betrachten Sie das als eine Hypothese, nicht als Dogma. Ich habe einen Roman geschrieben und beabsichtige nicht, mein Leben der Theorie der Schwarzen Löcher zu widmen. In Tabelle Eins sind die Abmessungen der Redshift aufgeführt, zusammen mit den Werten, die in den Gleichungen verwendet, bzw. ihnen entnommen wurden. Die zentrale Pseudomasse und die Abmessungen der einzelnen Ebenen habe ich willkürlich so gewählt, daß die auf der Grundidee basierenden Phänomene möglichst deutlich hervortreten. Hätte ich das Schiff sehr viel größer gemacht, dann wären die Gravitationsunterschiede von einer Ebene zur anderen klein ausgefallen, und das gilt auch für andere Unterschiede wie beispielsweise die Zeitschichten. Die verwendeten Gleichungen sind in Tabelle Drei aufgeführt. Die Recherchen, die ich für dieses Buch angestellt habe, führten mich bisweilen in Sackgassen. Ein Leser, der eine frühe Fassung gelesen hatte, wies mich auf die Möglichkeit hin, daß sich die Luft auf der untersten Ebene sammeln könnte, da dort eine Schwerkraft von über vier Ge herrsche gegenüber weniger als einem Fünftel Ge auf der obersten Ebene. Zunächst machte ich mir Sorgen, daß die Ebene Eins unbewohnbar sein könnte oder daß die einzelnen Ebenen mit Luftschleusen und unabhängigen Belüftungsanlagen ausgestattet sein müßten.
Nachdem ich mich eine Weile mit dem Verhalten des Luftdrucks in Abhängigkeit von der Höhe beschäftigt hatte, kam ich zu der Einsicht, daß mir der gesunde Menschenverstand einige Mühe erspart hätte. (Das ist ein weiteres Naturgesetz.) Der Luftdruck in einem offenen System wie der Erdatmosphäre entspricht lediglich der Höhe der Luftsäule über dem Meßpunkt. Selbst wenn die vierfache Schwerkraft an Bord der Redshift bis zwanzig Meter über den Boden der Ebene Eins reichen würde, so würde das doch lediglich einer Luftsäule von achtzig Metern Höhe bei einem Ge entsprechen. In achtzig Metern Höhe über der Erdoberfläche nimmt man zwar eine Luftdruckänderung wahr, doch ist der Effekt nicht so groß, daß man sich deswegen Sorgen machen müßte. Das Andocken ist kein so schwieriges Problem. Wenn wir das Leben in einer Ebene gewohnt wären und die Redshift die Form eines Bullauges hätte, dann wäre das Dock ebenfalls ein Bullauge. Fracht und Passagiere würden dann vom Dock aufs Schiff überwechseln, indem sie sich in der Ebene durch Türen bewegen, die in die Kreise geschnitten sind, welche die Schiffsebenen und das Dock darstellen. Beschränken wir uns hingegen nicht auf die Ebene, dann braucht man lediglich ein Schiffsbullauge zu nehmen und unmittelbar über das Bullauge des Docks zu schieben. Der Übergang vom Dock aufs Schiff würden dann dadurch bewerkstelligt, daß man sich von der Ebene des Docks auf eine andere, ein kurzes Stück entfernte Ebene in der dritten Dimension begibt. Ganz ähnlich dockt auch die Redshift an. Sie überlagert mit einem kugelförmigen Dock in der Nullschicht, so daß Menschen und Fracht vom Normalraum zur Schicht Zehn überwechseln können, ohne eine Tür benutzen zu müssen. Das einzige Problem dabei stellen die Unterschiede in den relativen Abständen zwischen einander entsprechenden Punkten dar, die verschiedenen Hyperraumschichten angehören. Es hat mir Spaß gemacht, die Redshift zu erfinden. Der Aufwand war größer, als ich zunächst angenommen hatte, doch andererseits ist dabei auch eine interessantere Umgebung herausgekommen, als ich mir anfangs vorgestellt hatte. Einige der Schwachstellen der Konstruktion habe ich deshalb erwähnt, um klarzumachen, daß ich mir wenigstens Gedanken darüber gemacht habe, und um denjenigen Lesern, die gerne nach Schwachpunkten suchen oder sich weitere Einzelheiten ausmalen, ein paar Ansatzpunkte zu geben. Ich habe mich bemüht, die meisten wichtigen relativistischen Effekte zu berücksichtigen, doch alle kommen nicht in der Geschichte vor. Wahrscheinlich gibt es auch Implikationen, an die ich nicht gedacht habe. Sämtlichen Verästelungen nachzuspüren, das wäre in etwa so, als hätte man in den Anfangsjahren des Fernsehens an der Gong Show teilgenommen, oder als würde ein Schauspieler Präsident. Hätte man beispielsweise auch die Theorie der Schwarzen Löcher berücksichtigt, so läge der Gedanke nahe, Schwarze Löcher als Abfalleimer zu verwenden. Ich könnte mir auch eine Schwarzes-Loch-Variante eines elektrostatischen Insektenvernichters vorstellen. Wenn man den Raum krümmen kann, um das Schiff mit Schwerkraft zu versorgen, dann müßte es doch auch möglich sein, winzige Schwarze Löcher zu konstruieren, die alles einfangen, was ihnen, sagen wir, bis auf einen Zentimeter nahe kommt. Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, daß man verhindern muß, daß das Schwarze Loch sämtliche freien Luftmoleküle in sich aufsaugt. Umgehen ließe sich das, indem man sicherstellt, daß die Raumkrümmung nur dann aktiviert wird, wenn der jeweilige Gegenstand zuvor als Abfall identifiziert wurde. Seltsame Dinge geschehen an Bord der Redshift. Wenngleich ich bisweilen gezwungen war, auf Notbehelfe zurückzugreifen, habe ich mir große Mühe gegeben, mich an die einmal
etablierten Regeln auch zu halten. Wenn Sie glauben, es sei eine zeitraubende Arbeit gewesen, all die Gleichungen auszuarbeiten, welche die Phänomene an Bord des Schiffes beschreiben, dann haben Sie recht. Aber wirklich leid täte mir der Mensch, der sich entschließen würde, Zeitschichten zu verfilmen.
Aufbau der Redshift
Maßstab: 1 Zentimeter = 6 Meter
Tabelle 1 Übersichtsdaten der Redshift (Unten) (Oben) Ebene: 1 2 3 4 5 6 Radius, Boden (m) 5 7 9,8 13 16 19 Radius, Decke (m) 6,8 9,5 12,3 15,5 18,8 23 Deckenhöhe (m) 1,8 2,5 2,5 2,5 2,5 4,0 Schwerkraft, Boden (Ge) 4,62 2,36 1,20 0,68 0,45 0,32 Schwerkraft, 1,5 m (Ge) 2,74 1,60 0,91 0,55 0,38 0,28 Schwerkraft, Decke (Ge) 2,50 1,28 0,76 0,48 0,34 0,22 Umfang (m) 31,4 44,0 61,6 81,7 100,5 119,4 Bodenfläche (m ) 314 616 1207 2124 3217 4536 Umlaufgeschwindigkeit 13,2 11,5 10,0 8,8 8,1 7,4 in 1,5 m Höhe (m/s) Fluchtgeschwindigkeit 18,7 16,3 14,2 12,5 11,4 10,5 in 1,5 m Höhe (m/s) Zeitdehnungsfaktor, 0,31 0,38 0,46 0,53 0,59 0,63 Zeitdehnungsfaktor, 0,37 0,46 0,52 0,58 0,62 0,67 Zeitdehnungsfaktor/Ebene 0,57 0,71 0,87 1,00 1,10 1,17 Rotverschiebung % -18,4 -16,3 -10,9 -7,5 -6,5 -5,6 Boden bis Decke Fahrstühle nach oben 4 6 6 6 6 6 Treppen nach oben 0 8 8 16 16 16 scheinbares Aussehen Schüssel Schüssel flach Kugel Kugel Kugel Verwendung Spezial- Fracht Fracht Gäste Gäste sperrige fracht Küche Entspan- Fracht Brücke nung
7 Außen 23,5 27 26 unendlich 2,5 unendlich 0,21 0,16 0,18 0,14 0,17 0,00 147,6 169,6 6940 9161 6,7 6,3 9,5
8,9
0,67 0,70 1,26 -3,1
0,70 1,00
0 0 Kugel Fracht
-29,6
Kugel
Tabelle 2 Relative Geschwindigkeiten und Entfernungen in Hyperraumschichten Hyperraum- Lichtgeschwindigkeit Beschleunigungs- Ausdehnungsäquivalente Verwendung der schicht (m/s) faktor relativ zu Schicht Null Schicht 8 0 3 x 10 1 1,00 Normalraum 1 5,36 x 107 2 0,08.938 2 9,59 x 106 4 0,007.989 3 1,71 x 106 8 7,141 x 10 4 4 3,06 x 105 16 6,383 x 10“5 5 5,48 x 10“ 32 5,705 x 10“6 6 9790 64 5,100 x 10“7 7 1750 128 4,558 x 10“8 Schiffsverkehr 8 313 256 4,074 x 10’9 9 55,9 512 3,64 x 10’10 10 10,0 1024 3,26 x 10’11 11 1,79 2048 2,91 x 10“‘2 12 0,32 4096 2,60 x 10“13 13 0,060 8192 2,32 x 10“‘„ 14 1,0 x 10“2 16.384 2,08 x 10“15 3 15 1,8 x 10“ 32.768 1,86 x 10~16 Hochgeschwindigkeit
Wenn man eine Schicht höher geht, verlangsamt sich die Lichtgeschwindigkeit um den Faktor 0,1787, während relative Entfernungen den Faktor 0,08938 abnehmen, dadurch verdoppelt sich jeweils die Reisegeschwindigkeit. Tabelle 3 Grundlegende Annahmen, Gleichungen und Konstanten c = Lichtgeschwindigkeit auf der Redshift scheinbare Masse im Schiffsmittelpunkt Gravitationskonstante (G) Schwerkraft (in Ge) Fläche Umlaufgeschwindigkeit Fluchtgeschwindigkeit Zeitdehnungsfaktor Rotverschiebung, Veränderung in %
= 10 Meter pro Sekunde = 1,7 * 1013 kg = 6,67 * 10-11 m3kg-1 s-2 = (G * Masse /Radius2)/ 9,81 (nach Newton) = 2 * π * Radius = (G * Masse / Radius)0,5 (nach Newton) = (2 * G * Masse / Radius) 0,5 (nach Newton) =1/(1 + (G * Masse / c2 * Radius)) = Differenz Zeitdehnungsfaktor: Boden bis Decke
Anmerkungen: Räumliche Maßangaben in Metern. Massenangaben in Kilogramm. Die meisten der oben angeführten Gleichungen stehen in jedem Physikbuch. Die Gleichung für die Relativzeit ist einer Gleichung von Hans C. Ohanian aus Gravitation and Spacetime entnommen: dt2/dt1 = 1 + Gm/r1c2 - Gm/r2c2 wobei r2 unendlich ist - das heißt, ein Punkt in unendlicher Entfernung vom Gravitationsfeld, an dem der Zeitablauf unbeeinflußt ist von Schwerefeldern.