23. 8. 2002
Digitales Nr. 1 „Zeitfeder“ von Martin Clauß
Spielplatzrutsche, zum Schlitten oder einfach zum Fahrrad. S...
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23. 8. 2002
Digitales Nr. 1 „Zeitfeder“ von Martin Clauß
Spielplatzrutsche, zum Schlitten oder einfach zum Fahrrad. Sie nahm jeden, der ihr ins Auge fiel – Passanten, ihre eigene Familie oder Freunde –, und verfrachtete sie in Gedanken auf die Rutsche, den Schlitten, das Fahrrad, sah zu, daß der Weg frei war, bereitete ihnen eine saubere, breite Rollbahn... und setzte all die einem Menschen innewohnende Energie frei. Löste schlicht sämtliche Bremsen, die die armen, trägen Menschen gehalten hatten, und ließ sie rollen. Ließ sie dahinjagen. Aus der Sicht ihrer Eltern bedeutete so ein Spiel nicht viel. Nicht mehr und nicht weniger, als daß ihre Tochter über eine unbändige Vorstellungskraft verfügte. Während sie damit beschäftigt waren, sich bei ihrer Umwelt für dieses verträumte Kind zu entschuldigen und sich doch gleichzeitig damit zu brüsten, wie alle Eltern solcher Sprößlinge das zu tun pflegen, entging ihnen etwas
1 Sie war nichts anderes als eine Sprungfeder der Zeit, leidlich in eine menschliche Form gepreßt und als Frau getarnt. Zumindest schienen sich mit dieser Metapher ihre besonderen Fähigkeiten und Stimmungen weit besser greifen zu lassen als mit allen Termini der modernen Psychologie. Seit ihrer Kindheit empfand sie die Langsamkeit der Menschenlebens als widerwärtig und schwer zu ertragen. Schon als kleines Mädchen dachte sie sich Spiele aus, in denen sie so tun konnte, als gelänge es ihr, Bewegungen und Tätigkeiten zu beschleunigen. In ihrer Phantasie wurde das Kind zu einer 2
Wichtiges. Die Phantasie ihrer Tochter war anders. Einzigartig. Wie romantisch man die phantastische Vorstellungswelt von Kindern auch sehen mag, es ist eine Welt mit engen Grenzen. Daß die kindliche Phantasie unendlich erscheint, liegt nur daran, daß sie keinen Grad kennt, daß sie ohne Ende übertreibt. Was ihren Inhalt anbelangt, ist sie keineswegs besonders reichhaltig oder vielfältig. Kinderträume folgen meistens einem ganz bestimmten Muster, und daß sie sich wirklich davon ablösen, kommt so gut wie nie vor. Kinder werden zu Abenteurern oder Königen, verwandeln sich in Außerirdische oder Ungeheuer, aber ihr eigener Tod zum Beispiel taucht niemals als Gegenstand eines Spieles auf. Der Fluß des Lebens, das Rätsel des Todes, der Strudel der Zeit wird selten genug zum Gesprächsthema, fast nie zur Wurzel einer Phantasie...
Die Selbstschutzinstinkt läßt das nicht zu. Etwas noch ungenügend Gereiftes darf vielleicht noch nicht mit den letzten Geheimnissen des Lebens konfrontiert werden. Offenbar ist es Kindern lediglich gestattet, das grelle Licht, das die Zukunft auf sie wirft und damit alles Leben hinter ihnen in Dunkelheit taucht, durch den Spiegel von Abenteuerromanen zu erblicken und auf diesem Weg ihre Angst zu besiegen. Wenn es manchmal auch so scheint, als könnten Kinder sich diesen kleinen Überlebenstrick in ihren Spielen auf beinahe telepathischem Wege mitteilen, so gibt es doch auch Kinder, die die Botschaft offensichtlich nicht empfangen. Das heißt nicht automatisch, daß diese nicht über die Gabe der Telepathie verfügen – man könnte stattdessen treffender sagen, sie wenden sich nur in eine andere Richtung. Außerdem haben sie den Mut, sich dem 3
Sturm entgegenzustellen. Daß sie klein und unreif sind, empfinden sie gerade als Chance, sie begreifen die Stärke alles Weichen, Formbaren, werden überwältigt von der Kraft, die aus ihrem kindlichen Selbst hervorquillt, und nehmen jede Herausforderung an. Ihr Plan scheint zu sein, noch schnell, bevor sie erwachsen werden, eine Handvoll Kapitel der Geheimnisse des Lebens aufzudecken, damit sie, wenn sie gewachsen und ausgereift sind, sich oberflächlicheren, einfacheren Spielen hingeben können. Sie versuchen, ihre noch pulsierende Lebenskraft einzusetzen, um das einzig wirkliche Abenteuer des Daseins zu erleben, bevor die Verblüffung und die Exstase sich verliert, die sie in der Sekunde ihrer Geburt gefühlt haben. Und sie, unsere Heldin, zählte ohne jeden Zweifel zu dieser Sorte Kinder. Wenn sie sich nur dem Fenster näherte
und die Umrisse eines Menschen draußen sichtbar wurden, griff sie nach dem Weg, den diese Person vor sich hatte, und prägte ihn fest und kraftvoll in ihr Gehirn ein, wie die Spuren eines Pfluges in einem Acker. Sie senkte den Blick bis zu den Füßen des Menschen, kippte den Weg ein wenig und sah zu, wie die Person ganz nach unten rollte und rutschte. Vor ihren Augen breitete sich dann die Zukunft dieses Menschen wie ein Bilderbuch aus. So einfach war es. Sie hatte nie die Kraft besessen, die Gedanken anderer Leute zu lesen. Manche Kinder taten am laufenden Band so, als könnten sie es. Die Gedanken der Freunde erraten, sie zu hypnotisieren, oder als Unsichtbarer umherzulaufen – das waren alltägliche Spiele, an denen die Kinder niemals die Lust verloren. Sie für ihren Teil begriff nie, wo der 4
Reiz solcher Phantasien liegen sollte. Zum einen ging sie davon aus, daß es in den Köpfen der anderen nicht viel anders aussah als in ihrem eigenen – wozu also Gedanken lesen? Zum anderen hatte sie den Eindruck, die Menschen verbrächten ohnehin die überwiegende Zeit ihres Daseins in einem hypnoseähnlichen Zustand. Und da man einander meist sowieso wie Luft behandelte, war es wahrlich nicht sehr spannend, einen Unsichtbaren zu markieren. Diese ganzen Spielchen waren doch nur der öden Wirklichkeit abgelugt; Abenteuer jedenfalls durfte man so etwas nicht nennen! Wenn man dagegen einen Blick zu werfen versuchte auf diesen langen, gewundenen Pfad, den jeder Mensch für sich vor sich hatte – das hatte eher etwas mit einem Abenteuer zu tun... Sie nahm den kleinen Jungen aus dem Nachbarhaus und setzte ihn alleine auf
einen großen Pferdeschlitten, den sie mühlos aus ihrer Erinnerung abrief. Dann ließ sie die Pferde mit ihm durch den Schnee galoppieren. Die Flocken legten sich wie ein tausendfacher Schleier über die Landschaft, und mit jedem der weißen Tücher, das hinabfiel, wurde eine Szene seines Lebens nach der anderen gespielt, einem Theaterstück gleich. Hinter seinem ersten Gang zur Schule tauchten, bis dahin verdeckt, Szenen seiner ersten Liebe auf, und er stolperte mit irrwitziger Geschwindigkeit seinen gesamten Lebensweg hinab. Nicht immer blieb sie bis zum Schluß dabei und beobachtete, wie es alles endete. Kam sie in die Nähe des Todes, wurde die Geschwindigkeit noch ungestümer, und manchmal fiel es ihr schwer, die dahinhastende Gestalt überhaupt noch mit den Augen zu verfolgen. Normalerweise brach sie das Spiel dann 5
ab. Am geschicktesten beherrschte sie es in ihrer Kindheit. Während sie älter wurde, nahm die Fähigkeit kaum merklich, aber beständig ab. Da es nie einen dramatischen Einschnitt gab, glaubte sie sich keine Sorgen machen zu müssen. Selbst wenn sie davon ausging, als Erwachsene die Zukunft anderer womöglich überhaupt nicht mehr wahrnehmen zu können, verfiel sie deswegen nicht in Panik. Schließlich war sie der Meinung, die Kraft als Erwachsener nicht mehr zu benötigen. Um auf sie verzichten zu können, darum wurde man ja gerade erwachsen. Nachdem man das Leben einiger fremder Leute gesehen hatte, konnte man sich an das eigene machen – für sie lag in dieser einfachen Formel der Sinn des Lebens. Auch wenn sich vereinzelt Risse in der Rutsche zeigten, auch wenn die Schlittenkufen stumpfer wurden und die
Fahrradreifen ein wenig Luft verloren die Fähigkeit, Menschen in Hochgeschwindigkeit über ihren Lebensweg zu schleudern, bewahrte sie sich. Ob es daher rühren mochte, daß sie ihren Kopf seit frühster Kindheit trainiert hatte und ihr Empfinden gegenüber der wirklichen Geschwindigkeit des Lebens dadurch abgestumpft war, wußte sie nicht – jedenfalls blieb die Kraft in ihr, als Spielzeug in der Kindheit, als Vergnügen in der Jugend... und als Last, als sie erwachsen war. Im Reifeprozeß eines Kindes gibt es eine Zeit der Konfrontation mit sich selbst. Die Pubertät. Auf sie wartete allerdings ein paar Jahre früher ein noch größerer Konflikt. Als alle anderen Kinder gerade an die Grenzen ihrer Träume und Vorstellungskraft stießen, konnte nur sie keinerlei Grenzen entdecken, und das bedeutete einen nachhaltigen Schock für 6
sie. Mit zehn Jahren sollte die Welt der Erwachsen in Sichtweite kommen. Die einst so ernsthaft geglaubten Abenteuer verwandeln sich langsam in bloße Spiele, in die sich hineinzuversetzen mit jedem Lebensjahr schwieriger und peinlicher wird. Kinder fangen an, ihre Träume als Träume zu identifizieren und sich selbst dafür zu belächeln. Für sie aber gab es diese Entwicklungsstufe nicht. Ihre Fähigkeit, die Zukunft anderer Menschen zu sehen, wurde zwar unwesentlich schwächer, blieb als Erscheinung aber am Leben. Bevor sie überhaupt bemerkte, daß sie eine Frau war, wurde sie mit der Tatsache konfrontiert, Gebieterin über eine übersinnliche Kraft zu sein. Und bevor sie beginnen konnte, sich für ihren Körper zu interessieren, fand sie sich gezwungen, Interesse für ihren Geist aufzubringen.
Als ihr kleiner Bruder geboren wurde, packte sie ihn in ihrem Kopf mitsamt seiner Wiege in ein Karussell, und kaum begann es sich zu drehen, sah sie, daß er sich binnen weniger Monate eine schwere Hirnhautentzündung zuziehen würde. Geboren war er an einem stürmischen Tag im frühen Winter, und es war Frühling, ein stiller, warmer Tag, als die Krankheit wirklich ausbrach. An diesem Tag war mit einem Mal der endgültige Beweis für ihre Begabung erfolgt; leise fiel er in ihre Hand, die sie unschuldig im Inneren ihres Kopfes ausgestreckt gehalten hatte. Wie ein erster Käfer, der plötzlich aus dem Ärmel hervorgekrochen kommt. Als sie aus dem langen Winter erwachte, der das Territorium der Kinder war, eine Welt voll seltsamer Phantasien, war da auf einmal ein Insekt, das im Ärmel umherkroch. War da auf einmal eine eigenartige Gabe, die sich durch das eigene Innere 7
schlängelte. Hätte man rechtzeitig im Winter die in der Erde vergrabenen Eier vernichtet, wäre kein Insekt herausgekrochen. Aber den Winter hatte man mit sinnlosen Spielchen vergeudet, und jetzt blühten die Keime, jetzt kam etwas Erschreckendes zum Vorschein. Auf den Frühling des Erwachsensein, der so hell und ausgelassen hätte beginnen sollen, fiel ein dunkler Schatten. Aber selbst im Anblick eines Käfers lag etwas Erfreuliches versteckt. Etwas, das sich auch als Spielzeug verwenden ließ – ein Insekt – eine übernatürliche Begabung... Sie empfand es zur Hälfte als Bedrohung, zur Hälfte als Glück, daß sie den Boden nie umgegraben, die Eier nie vernichtet hatte. Ob das Insekt sie als Parasit zerstören oder als Symbiont mit ihr wachsen und reifen würde, das blieb noch abzuwarten. Ihr Jugendzeit versank in einem
Flimmern. Dem vielschichten Flimmern aus den Lebenswegen Dutzender ihrer Mitschüler, die von allen Seiten her durch ihr Sichtfeld flatterten. Die Menschen schienen alle einer Uhrfeder verwandt. Löste man sie aus dem Uhrwerk heraus, sprang sie in einem einzigen Augenblick auseinander. Jeder Mensch versuchte auf seine Art unbewußt, die Spannkraft der Feder aufzusparen, doch für sie allein war es der größte Spaß, die Feder kurzentschlossen aufspringen zu lassen. Jugendliche sind für Geschwindigkeit leicht zu begeistern. Die verschwimmenden Umrisse eines beschleunigten Gegenstandes und der Eindruck, er müsse jeden Moment aus seiner Welt heraushüpfen – das macht den Reiz der Geschwindigkeit aus. Die Schnelligkeit, die den Raum überwand, war das Steckenpferd der anderen; jene Schnelligkeit, die die Zeit zusammenschrumpfen ließ, das war ihr 8
persönliches Spielzeug. Es war die Lebensweise der anderen, mit Zeit zu geizen und den Raum zu verprassen – ihre eigene Methode bedeutete, den Raum als unwichtig zu ignorieren und die Zeit nach Herzenslust zu verbrauchen. Erst als sie die Schule abschloß und über einen Beruf nachzudenken begann, begriff sie, was sie in der Sprache der Erwachsenen eigentlich darstellte. Eine Wahrsagerin. Ein ziemlich langweiliger, farbloser Name, wie sie fand, für das grenzenlose, wundervolle Abenteuer, das sie erlebte. Eine Wahrsagerin also, ah ja... Bedeutete dies, ihr bisheriges Leben war in Wirklichkeit keine Kette von Spielen, sondern eine Lehre gewesen? Es verwunderte und verwirrte sie einige Zeit lang, daß all das Aufdecken und Beleuchten zukünftiger Lebenswege nichts gewesen sein sollte, außer der Vorbereitung für ein... Gewerbe. Also war
die Gesellschaft der Erwachsenen am Ende doch nichts anderes als eine ungeheuer komplizierte Gleichung, deren Grundeinheit Handel und Gewerbe darstellte. Das bisherige Leben war nichts anderes gewesen als eine Vorübung, um sich dort hineinzufügen. Was sie als Sinn und Freude des Lebens betrachtet hatte, waren in Wirklichkeit nur Vorübungen, um eines Tages als Wahrsagerin arbeiten zu können. Aha, dachte sie immer wieder. Aha, da hatte dieses komische Hobby von mir zu guter Letzt doch noch einen richtigen Sinn... Von ihrem neunzehnten Lebensjahr an mietete sie sich in der Vorstadt ein kleines Büro, änderte die Inneneinrichtung, hängte dunkelblaue Vorhänge auf, verlegte einen Teppichboden in derselben Farbe und kaufte allerhand „Wahrsagewerkzeug“ zusammen. Zwar fragte sie sich, ob sie 9
damit ihre Kunden nicht betrog, doch schließlich erschienen die Kristallkugel und die Tarotkarten ihr einfach als unabdingbare Utensilien. Daß sie bislang solche Gegenstände nie verwendet hatte, mochte auch bedeuten, daß sie sich die ganze Zeit über selbst betrogen hatte. Schlitten und Rutschen sahen für sie jetzt wie Relikte aus ihrer Kinderzeit aus – wenn sie sich nicht allmählich bemühte, sich ihrer zu entledigen, würde sie den Anforderungen der Erwachsenenwelt niemals gerecht werden können! Allerdings – in der Kristallkugel und in den Karten spürte sie keine Zeit verborgen. Von den steifen Nebelschleiern in der Kugel ausgehend konnte sie die Spannung einer Feder nicht assoziieren. Und auch wenn sie Karte für Karte des Tarotspiels aufdeckte, sprang daraus niemals die Gestalt eines über die Rollbahn fegenden Menschen hervor, sondern ihr starrte daraus
lediglich etwas Starres, unnatürlich Ruhiges entgegen. Die Welt der unbelebten Dinge, die Welt der Mineralien... War es womöglich Aufgabe des Wahrsagers, die Menschen nicht dahinrasen zu lassen, sondern sie in ihrer Bewegung anzuhalten? Wenn sie es sich so überlegte, bekam sie kurzzeitig Zweifel, ob sie nicht doch den Beruf verfehlt hatte. Da in der Nähe des Mietshauses eine Eisenbahnlinie vorbeiführte, sah sie vom Fenster aus öfters den Zügen nach. Sie spürte eine Vertrautheit zu den Zügen und entschloß sich am Ende dazu, sie zu ihrem persönlichen Zufluchtsort innerhalb der Gesellschaft der Erwachsenen zu machen. Ein Zug, das war doch nichts anderes, als ein Schlitten oder eine Rutsche für Erwachsene. Annähernd zwanzig Jahre lang lief ihr Geschäft zufriedenstellend. 10
Ihre Kunden verfrachtete sie in klapprige Dampfeisenbahnen oder in sanft dahingleitende Hochgeschwindigkeitszüge, ohne daß einer von ihnen jemals ahnte, daß seine Zukunft nicht in der Kristallkugel gemacht wurde. Das einfache Ritual wiederholte sie in sich Tag für Tag, während sie selbst langsam alterte. Sie konnte nicht ganz umhin, dabei auch zu spüren, wie die Feder in ihrem eigenen Innern allmählich auszuleiern begann. Als sich zum ersten Mal Grenzen ihrer Begabung zeigten, hatte sie die Dreißig erst wenig überschritten. Der Endbahnhof des Zuges rückte unmerklich in die Ferne. Außerdem verwandelte sich der Expreß in einen Eilzug, der Eilzug in einen Bummelzug, die Geschwindigkeit nahm zusehends ab. Die Entwicklung der Menschenleben vor ihren Augen stoppte, schritt nur noch
ruckweise und schleppend vorwärts. Zuletzt konnte sie auch die Endphase nicht mehr wahrnehmen, die Geschehnisse im Alter ihrer Kunden versanken in einem Meer aus Nebel. Selbstverständlich schöpften die Kunden noch längst keinen Verdacht, als sie selbst es bemerkte. Erst nach ihrem fünfunddreißigsten Lebensjahr begann sich die Veränderung auf das Geschäft auszuwirken, und immer weniger Menschen suchten ihr kleines Büro auf. Sie entdeckte einen ihrer Fehler. Sie hatte in all den Jahren die Gelegenheit verpaßt, sich die Technik des Betrügens anzugewöhnen. Ihr Gewerbe war so aufrichtig und ehrlich gewesen wie ihre Spiele als Kind. Seit langem schon hatte sie gefühlt, wie ihre Gabe nachzulassen begann, und trotzdem hatte sie sich nie Gedanken gemacht, wie diese Schwäche zu überspielen sei. Stattdessen war sie nur immer weiter von ihrem kindlichen 11
Spiel begeistert gewesen und hatte nie den Versuch unternommen, wirklich erwachsen zu werden. Der traurigste Tag ihres Lebens kam mit ihrem achtunddreißigsten Geburtstag. An diesem Tag entschied sie, ihre Arbeit zumindest vorläufig aufzugeben. Die Feder in ihr war müde, der Zug kam auf den rostbedeckten Schienen kaum mehr vom Fleck. Und als sie versuchte, den alten Schlitten von damals auf dem Dachboden wiederzufinden, fand sie nur von Holzwürmern zerfressenes morsches Holz. Die Welt war zu einem leeren Topf geworden. Auch im Privatleben gab sie es auf, in die Zukunft anderer Menschen zu spicken, um nicht das letzte Gramm, das von ihrer Kraft noch übrig war, auch noch zu verlieren. Zu dieser Zeit erwachte sie aus einer Illusion. Wenn sie geglaubt hatte, die Uhrfeder anderer Menschen probeweise
gelöst und dadurch Einsicht in deren Zukunft erhalten zu haben, hatte sie sich getäuscht. Was sie aus dem Uhrwerk genommen und hatte aufspringen lassen, war ohne Zweifel ihre eigene Feder gewesen. Stück für Stück. Aber rascher, als jeder andere es tat. Was ihr das Leben von Menschen wie in einer Zeitrafferaufnahme gezeigt hatte, war der Strom, den sie unbewußt aus ihrer eigenen Batterie zapfte. Sie selbst hatte den Schlitten gezogen, und auch der Heizer, der in der Lokomotive des Dampfzuges stand und schwitzend Kohle nachschaufelte, war sie selbst gewesen. Während die anderen Kinder bei ihren Abenteurerspielen Energie getankt und gespeichert hatten, hatte sie ohne nachzudenken mit Energie um sich geworfen. Während die anderen kleinen Keimlinge davon geträumt hatten, eines Tages zu großen Bäumen zu werden, hatte sie all ihre Kräfte darauf verwendet, 12
vorauszusehen, wie alle Bäume in ihrer Umgebung eines fernen Tages vertrocknen und sterben würden. Dadurch hatte sie nur Augen für die Geschwindigkeit von Entwicklungen und Veränderungen gehabt und darüber vollkommen vergessen, die Antriebskraft für jene Entwicklung und Veränderung in sich heranzuzüchten. Während sie zusah, wie Menschen in Richtung auf den Tod lospreschten und schlitterten, während sich der gewaltige Schatten des Todes wie ein Gewitterguß über sie ergoß und sie es furchtlos geschehen ließ, wurde sie erwachsen. Immer nur Lebensbahnen zu sehen, hatte sie blind gemacht für die Lebenskraft. Ein Jahr verbrachte sie ohne zu arbeiten. Ihre einzige Zuflucht war das Geld, das sie sich angespart hatte, und sie flüchtete sich zu ihm, indem sie eine Weltreise begann, die sie auf halbem Wege unterbrach, um wieder nach hause
zurückzukehren. Je mehr Erschöpfung sich in ihr aufstaute, desto größer wurde die Versuchung, sich zur Zerstreuung irgend jemandes Zukunft anzusehen, aber sie fürchtete, die Batterie könne sich vollends entladen. Irgendwann gewöhnte sie sich an, des öfteren den zoologischen Garten zu besuchen, und wenn sie ganz vorsichtig einen verstohlenen Blick in den Lebensweg des einen oder anderen Tieres warf, konnte sie dabei die süße, zärtliche Illusion genießen, vor Kraft nur so zu strotzen. Das kurze und geradlinige Leben der Fische, die scheinbar voller Munterkeit in den Aquarien hin und her wimmelten, war so erfrischend wie transparent, und es schimmerte ausschließlich in den Grundfarben. Und immer dann, wenn sie versehentlich an den Lebensfaden der Pflanzen rührte, überfiel sie ein merkwürdiges Gefühl der Frische und Unverbrauchtheit. Es war ihr unmöglich, 13
tiefer in die Zukunft einer Pflanze einzudringen. Eine klare Richtung war nicht zu erkennen, und verglichen mit Menschen oder Tieren, deren Zukunft etwas von einer Linie an sich hatte, verlief die der Pflanzen eher flächenförmig, breitete sich ohne erkennbare Regel nach allen Seiten hin aus. Mit ihrer Begriffswelt vermochte sie diese eigentümliche Empfindung nicht zu beschreiben. Versuchte sie, eine Pflanze ins Abteil ihres Zuges zu stellen, explodierte nach wenigen Augenblicken die Lokomotive, und die Waggons entgleisten und verteilten sich zu beiden Seiten der Gleise, als wären sie von der Hand eines Gottes zerstreut worden. Nachdem in dieser Form ein Jahr vergangen war, machte sie sich erstmal daran, ihre eigene Zukunft zu ordnen und zu planen. Erstmals auch nach langer Zeit erinnerte sie sich an die Existenz ihrer Familie und ihrer alten Freunde. Wenn sie
auch viele Bekannte haben mochte, so blieben ihr doch wenige Freunde. Das kam daher, daß das Interesse für die Zukunft eines Menschen notwendigerweise zu nichts verlöscht, sobald man einmal seinen ganzen Lebensweg vorausgesehen hat. Man hegt ihm gegenüber weder Hoffnungen noch Sorgen. Seit sie die ganze Krankheitsgeschichte der Hirnhautentzündung ihres Bruders vor Augen gehabt hatte, schien es keinen Sinn mehr für sie zu machen, ihn noch jemals wiederzusehen. Ein Treffen wäre nichts anderes gewesen als ein unnötiges Sich-Vergewissern... Trotz allem suchte sie nach Jahren zum ersten Mal wieder ihre Familie auf. Sie traf sich mit jenen Freunden, von denen sie wußte, daß sie noch nicht gestorben waren, und besuchte die Gräber von denen, die längst tot sein mußten. Sie vermied es lediglich, 14
diejenigen zu sehen, deren Tod unmittelbar bevorstand. Sie hätte es nicht ertragen. Sie versuchte ein Gespräch mit den Blumen auf dem Friedhof. Natürlich kannte sie die Sprache der Pflanzen nicht, aber bei ihren Besuchen im Zoo hatte sie begriffen, daß ein Gespräch kaum etwas anderes war, als mit halboffenen Augen leicht geistesabwesend die Zukunft des Gesprächspartners undeutlich zu erahnen. Und wenn es so war, konnte sie auch mit den Blumen sprechen. Ein wenig zumindest. Die Friedhofsblumen lehrten sie eine ganze Menge. Wie bei den anderen Pflanzen, war auch ihr Leben nicht an eine klare Richtung gekettet, und sie trieften vom Lebenssaft, der von allen Seiten her zu ihnen herübersickerte. Der Dialog zwischen Mensch und Pflanze war verschmiert und bekleckert von diesem Saft, und wenn sie glaubte, das Gespärch
bleibe in der klebrigen Flüssigkeit stecken, brach es plötzlich nach allen Seiten hin aus und raste in tausend unterschiedliche Zukünfte. Wenn sie annahm, von alldem nichts zu begreifen, wurden ihr plötzlich zahllose Dinge klar. Ob ich versuchen soll, wieder mit der Arbeit zu beginnen? Aber was ist jetzt aus mir geworden? Für Lebensläufe bin ich beinahe blind geworden; dafür übe ich mich gerade darin, die Lebenskraft wahrzunehmen. Ich muß den Wahrsager an den Nagel hängen... Oder damit weitermachen? Die Miete für das Büro in der Vorstadt hatte sie die ganze Zeit über pünktlich bezahlt. Sie kehrte dorthin zurück und gab bei einer Lokalzeitung die gleiche Anzeige noch einmal auf, die sie als Wahrsagerin jahrelang dort laufen gehabt hatte. Ohne wirklich zu wissen, was sie anfangen sollte, wenn die ersten Kunden 15
kam, wartete sie einfach nur ab.
empfand sie diesen Gedanken als noch religiöser und noch faszinierender als den ersten. Wenn man sich die Besucher genau betrachtete, schälte sich aus ihrer Mitte einer heraus, der sich von den anderen in irgend etwas unterschied. Ein Fremdkörper. Er war der kleinste unter allen, trug alte, schäbige Kleidung, und auf seinem Gesicht schwebte ein schwer greifbarer, undeutlicher Ausdruck von Trauer. Die Umstehenden – auch sie alles Männer – ließen ihn nicht einen Moment aus den Augen. „Wir würden ganz gerne die Zukunft weisgesagt bekommen“, begann einer von ihnen mit überraschend desinteressierter Stimme. Die Erfurcht, die sich in der Wahrsagerin angesammelt hatte, verpuffte wie ein platzender Luftballon. Warum, das wußte sie nicht genau. Aber schuld daran schien in der Tat das
2 Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, daß Menschen eine Wahrsagerin grundsätzlich alleine aufsuchen. Eine Ausnahme bilden nur gelegentliche Liebespärchen. Was für Leute waren das, die zu sechst dort auftauchten? Sie erschrak nicht wirklich darüber, sondern fühlte eine heftige Neugier in sich, als sie die Personen eine nach der anderen musterte. Gleichzeitig mit dem profanen Gedanken, daß die Zahl der Stühle nicht ausreichen würde, bildete sich ein fast schon religiös ehrfürchtiges Gefühl in ihr und füllte sie vom Magen bis zur Brust. Die gemeinsame Zukunft von sechs Menschen – was in aller Welt mochte das für ein Gebilde sein? Oder waren sie etwa alle nur gekommen, um die Zukunft eines einzigen unter ihnen zu erfahren? Ohne zu wissen warum, 16
nüchterne, geschäftliche Benehmen dieses Mannes zu sein. Sie versuchte ihrerseits, den geschäftlichen Ton zu imitieren, und spulte einige belanglose Formeln herunter, während sie hastig die einzigen drei Stühle wegräumte und aus der Besenkammer einige Sitzkissen hervorkramte. Als sie die Kissen in einem schiefen Kreis auf den Boden warf, als besäe sie einen Acker, stieg ein leichter Modergeruch von ihnen auf. „Bitte setzen sie sich!“ Den Männern beim Hinsetzen zuzusehen, erfüllte sie mit noch mehr Verwunderung. Sie nahmen auf umständlichste Weise platz, rückten die Sitzkissen ein Dutzend Mal hin und her und warfen sich dabei strenge und finstere Blicke zu. Erst nach fünf Minuten schienen sie mit ihren Positionen zufrieden zu sein. „Um welchen der Herren handelt es
sich?“ Die Frage war vollkommen überflüssig. Sie hatten den kleingewachsenen Mann, der so unzweifelhaft ein Fremdkörper war, in der Mitte zwischen ihnen platznehmen lassen und starrten ihn unablässig an. Als die Umsitzenden alle gleichzeitig in seine Richtung nickten, schien sich seine zusammengekauerte Gestalt ein klein wenig aufzurichten. Ein Hauch von Erhabenheit erhellte sein Gesicht, als könnte er aus seiner undefinierbaren Traurigkeit Mut und sogar Stolz ziehen. Die Erhabenheit eines Wahnsinnigen, dachte sie für einen kurzen Augenblick. Gemächlich ließ sie sich vor den Männern auf die Knie nieder. Sie war es gewöhnt, daß die Blicke ihrer Kunden sie vor Neugier zu durchbohren schienen, doch heute war es ganz anders. Der kleine Mann fixierte den Fußboden. Die anderen fünf fixierten ihn. 17
In ihr rührte sich ein ungewöhnlicher Gedanke. Was, wenn die fünf Männer von der Polizei kamen und der Kleinere eines Verbrechens verdächtigt wurde? Waren sie vielleicht gekommen, um mit Hilfe ihrer Fähigkeiten herauszufinden, ob der der Mann schuldig oder unschuldig war? Unmöglich! Die Polizei würde sich niemals auf solch zweifelhafte und unsichere Methoden einlassen. Andererseits, falls es sonst keine Möglichkeit mehr gab, Licht in eine dunkle Sache zu bringen... Als letzten Notbehelf würde man vielleicht sogar den Gang zu einer Wahrsagerin nicht scheuen. „Ich – ich kann nichts über die Vergangenheit sagen. Alles, was ich sehen kann, ist die Zukunft...“ Sie wollte es nur für alle Fälle anmerken, doch als der Mann, den man in die Mitte gesetzt hatte, sie hörte, öffnete er zum ersten Mal den Mund.
Seine Worte waren klar und eindeutig. „Die Vergangenheit kenne ich. Was ich hören will, ist die Zukunft.“ Sie senkte den Kopf zu einer leichten Entschuldigung. Sie brauchte diesen Mann nur schnell, ganz schnell in einen Zug zu setzen. Wenn sie das tat, würde sie vielleicht bald alles verstehen: Die Beziehung der sechs zueinander, der Grund ihres Kommens, alles... Aber mehr noch wollte sie sich selbst in den Zug setzen und diesem Zimmer entfliehen. Ob es wohl noch klappte, das alte Spiel aus Kinderzeiten? Wollte sie es überhaupt noch spielen? Die eigene Feder dazu benutzen, Menschen rennen, purzeln, rollen zu lassen? Wurde es nicht allmählich langweilig? Aber diesen Menschen, dieses verdächtige Subjekt mußte sie unbedingt in Bewegung versetzen. Nicht des Geschäftes wegen, sondern um das 18
Geheimnis aufzudecken. War das nicht der Antrieb gewesen, aus dem heraus sie das Spiel als Kind erfunden hatte? Von draußen war das Geräusch des Zuges zu hören. Oder kam es aus ihrem Inneren? Sie konzentrierte sich ausschließlich auf das Gesicht dieses einen Mannes. Der Zug kam schnell heran. Zu schnell! Dummkopf! Zu schnell – das gibt es gar nicht! Die Feder scheint gut aufgezogen zu sein, das ist alles! Ich muß ihn nur ins Abteil werfen, mit aller Kraft, wie ich es immer getan habe! Sie kniff fest die Augenlider zusammen. Dennoch war der Zug zu schnell. Sie konnte ihn nicht einholen. Was war passiert? Einen Moment nur hatte sie gezögert, doch in dieser Zeit war der Dampfzug schon vorübergerollt und kaum noch in Sicht. Ich verliere ihn! Es geht schief, zum
ersten Mal geht es schief! Ich werde keinen Fingerbreit von der Zukunft dieses Mannes sehen... Und dann sah sie ihn mit geschlossenen Augen. Er näherte sich von sich aus den Gleisen und begann plötzlich zu rennen. Er lief hinter dem Zug her, um ihn noch einzuholen. In diesem Moment verlor sie das Bewußtsein. Nein. Sie verlor es mehrmals und gewann es mehrmals wieder zurück. Er hatte den Zug eingeholt und sprang mit einem halsbrecherischen Satz durch ein Fenster hinein. Als er sah, daß sie versagen würde, hatte er aus eigener Kraft den Versuch gestartet, seine eigene Zukunft zu sehen. Ihr blieb nichts übrig, als unbeteiligt daneben zu stehen und zuzuschauen. Und dann fiel sie in ihrem Zustand der Bewußtlosigkeit noch einmal in Ohnmacht. Und noch einmal. Wenigstens 19
fühlte es sich so an. Die Wirklichkeit zerbröckelte in tausend Splitter, und jeder einzelne dieser Splitter explodierte noch einmal für sich. Und so weiter. Das Gleis vor ihren Augen begann sich zu verzweigen. Das zweigeteilte Gleis verzweigte sich wieder und wieder und dehnte sich nach allen Richtungen, in die das Auge sehen konnte. Während der Zug selbst kaum einen Meter zurücklegte, teilte er sich in mehrere Züge und ratterte in alle Himmelsrichtungen davon... Gleichzeitig dazu schien der Erdboden zusammenzuschrumpfen. Der Raum war ein Luftballon, aus dem rasend schnell die Luft entwich. Er wurde in kürzester Zeit zu einem winzigen, winzigen Etwas. Wenn man dem rechten Zug mit den Augen folgte, erkannte man dort Afrika. Wandte man sich nach links um, kam die Antarktis in Sicht. Es kommt daher, daß die Schienen sich
so wahnwitzig teilen, leuchtete ihr sofort ein. Die Erde bleibt bei alldem so wie immer, aber da die Gleise nach allen Seiten wachsen und die darauf umherrollenden Züge sich ins Unendliche vermehren, scheinen die Abstände auf der Erdoberfläche in gleichem Maße zu schrumpfen. Aus dem Zusammenspiel von Geschwindigkeit und Geschwindigkeit scheinen sich alle Dinge näherzukommen. Die Welle der Züge, die sich in einem Augenblick überallhin ausbreitet, das ist gleichzeitig eine Welle aus Menschen. Sie entdeckte Bahnhöfe. Auf unendlich vielen Bahnhöfen warteten unendlich viele Menschen auf unendlich viele Züge. Aber die Wartezeit war kurz. Sofort raste von irgendwoher ein Zug heran. Und fuhr nach irgendwohin ab. Zielbahnhöfe gab es wie Sand in der Wüste. Solche, die bei der Abfahrt des Zuges noch nicht existierten, wurden gebaut, während er unterwegs war. Die Züge, die ohne Ziel 20
gestartet waren, erhielten einen, bevor sie ankamen. Die Menschen brachen auf. Alle. Wie wimmelnde Insekten. Niemand hielt es mehr dort, wo er war. Nur sie allein. Sie blieb. Beobachtete... Unfälle ereigneten sich. Der Abstand zwischen den Gleisen war zu schmal geworden. Und wurde trotzdem mit jeder Sekunde noch schmäler. Bevor sich die Schienen mit dem Blut der verunglückten Menschen allerorten gleichmäßig rot färben konnten, hoben die Züge ab. Sie hatten den richtigen Augenblick dazu noch erwischt. Zuerst verwandelten sie sich in Flugzeuge, dann in Raumschiffe. Die Menschen wurden flügge, verließen ihr Nest. Alle. Wie ein Schwarm Ameisenköniginnen. Sie wollte wieder ohnmächtig werden. Noch einmal. Wie oft mußte man ohnmächtig werden, um zuletzt sterben zu können? Vielleicht ging es beim
nächsten Mal, vielleicht beim übernächsten. Aber es funktionierte nicht. Um ohnmächtig zu werden, mußte man etwas wegwerfen – sie hatte nichts mehr zum Wegwerfen. War dies die letzte Stufe des Spiels aus Kinderzeiten? Was war das eigentlich, was sie in diesen Momenten sah? Und egal, was es war, warum sah sie es jetzt? Warum im Alter von 39 Jahren, warum nicht bei ihrer Geburt, warum nicht in dem Moment, in dem die Samenzelle ihres Vaters sich in die Eizelle ihrer Mutter gewühlt hatte? Die Menschen aus den Raumschiffen bauten eine Stadt auf dem Mars. Es ging schnell, immer schneller, je weiter der Bau fortschritt. Danach breiteten sich die Schienen auf der Marsoberfläche aus. Die Raumschiffe gebaren Züge, und kurze Zeit später gebaren die Züge wieder Raumschiffe. Das Ziel der Schiffe hieß Jupiter. 21
Und dann stieg die Geschwindigkeit des ganzen um eine Stufe an. Um das Sonnensystem zu verlassen, war eine astronomische Anzahl von Raumschiffen notwendig, und um diese herzustellen, verbrauchte man die gesamte Materie, die die Planeten des Systems hergaben. Zu diesem Zeitpunkt betrug die Zahl der Fernsehkanäle bereits hundert Millionen. Es gab zwei Millionen Sprachen, sechzigtausend autonome Reiche und... fünfhundert Geschmacksrichtungen von Coca Cola. Danach wurde die Geschwindigkeit allmählich wirklich schnell. Die Geburtenrate erreichte in kürzester Zeit das Hundertfache der Sterberate, hundert Jahre später das Tausendfache, und noch einmal zehn Jahre später das Zehntausendfache. Die Milchstraße hatte man lange Zeit für etwas enorm Großes gehalten, doch eines Tages waren sich alle einig, daß sie
zu klein und beengend geworden war. Die Menschheit machte sich zu einer anderen Galaxie auf. Um einen Eindruck von der Situation in dieser Zeit zu geben: Die Zahl der ComicZeitschriften mit einer Auflage von mehr als einer Trillion Exemplaren hat eine Trillion erreicht. Laut Statistik gibt es zu jedem Menschen mindestens hundert Millionen, die den gleichen Vor- und Nachnamen, das gleiche Geburtsdatum und die gleiche Blutgruppe haben, egal, wie ausgefallen der Name oder wie selten die Blutgruppe auch sein mag. In der Zeit, die man braucht, um eine normale Erkältung auszukurieren – sagen wir eine Woche -, tauchen durchschnittlich dreißigtausend Sorten noch unbekannter Krankheitserreger auf. In jeder Sekunde werden zweihundert Milliarden minderjähriger Mädchen vergewaltigt. In jeder Sekunde begehen rund fünfzigtausend mal soviele 22
Menschen Selbstmord, doch das ist hinsichtlich der Sterberate ein Prozentsatz, der sich nicht einmal auf einer hundert Stellen anzeigenden Rechenmaschine mehr darstellen läßt. In kürzester Zeit verschwinden aus sämtlichen Sprachen, die die Menschheit benutzt, Wörter wie „groß“ oder „zahlreich“, die Mengen oder einen Grad ausdrücken, restlos. Solche Begriffe gehören der Vergangenheit an und haben ihre Bedeutung zu jener Zeit vollkommen verloren. Was vor einem Tag noch groß war, ist heute klein, was mittags zahlreich war, wird, kaum daß es Abend geworden ist, schon als wenig betrachtet. Was eben noch für schnell gehalten wurde, empfinden die Menschen jetzt nurmehr als träge und schleppend. In den Hyperräumen werden Hyperräume entdeckt. Jede Woche wächst die Geschwindigkeit der Raumschiffe auf das
Doppelte an. Deshalb erreichen die Leute, die heute aufbrechen, ihr Ziel noch vor denen, die gestern gestartet sind. Da der Prozeß des Schnellerwerdens noch schneller vor sich geht als die Bewegung selbst, werden eilige Menschen umso rascher ans Ziel kommen, je länger sie mit der Abreise warten. Bricht man heute auf, dauert es eine Woche bis zum Rand der Galaxie; reist man erst morgen ab, kann man es in sechs Tagen schaffen. Und wenn man gar bis nächsten Monat Geduld hat, erreicht man den benachbarten Sternenhaufen vielleicht gar in wenigen Stunden. Schließlich stoßen die Raumschiffe an das Ende des Universums. Und die Menschen beginnen, die Geschwindigkeit, mit der das Universum sich ausdehnt, als schleichend und tranig zu empfinden. Ihr stockte der Atem. Hatte sie nicht selbst in ihrer Kinderzeit die 23
Geschwindigkeit des menschlichen Lebens immer als langsam und trödelnd empfunden – und all ihre Freunde deshalb in Gedanken auf Schlitten und Rutschen gesetzt? Da bei den Menschen dieser Zukunft der Begriff „langsam“ keine greifbare Bedeutung mehr enthält, fühlen sie nur ein sehr unbestimmtes, schwammiges Gefühl der Unzufriedenheit, als sie am Ende des Universums stranden. Ohne zu wissen, was sie wirklich wünschen oder anstreben, verwandeln sie ihre Kritik am Universum in eine heftige, kompromißlose Widerstandsbewegung gegen alles, was ist. Ein zwei Tage währendes Zeitalter der Depression beginnt für die gesamte Menschheit, und kaum hat sie diese dunkle Epoche durchgestanden, machen sich die Menschen daran, eine Methode zur künstlichen Ausdehnung des Weltalls zu finden. Was ihnen einen vollen Tag später
auch gelingt... Zahlen sind schon lange Zeit über immer umständlicher und unnötiger geworden, also wird auch dieser Begriff abgeschafft. Eine Woche, nachdem die Menschen begonnen haben, die Ausdehnungsgeschwindigkeit des Universums künstlich zu beschleunigen und unbändig gegen die Wände des Raumes zu drücken, geht eine Veränderung mit ihnen vor, die mit Worten nicht mehr zu beschreiben ist. Wir können nicht wissen, ob es den Menschen der Zukunft gelingt, diese Veränderung an sich selbst auch nur im Ansatz zu begreifen. Uns jedenfalls ist es versagt. Die Menschen der Zukunft existieren auf eine Weise weiter, die wir nicht mehr Leben nennen können. Und schließlich gehen sie in einen Zustand über, für den nicht einmal mehr der Name „Existenz“ 24
geeignet scheint. Wenn man diese Zukunft sehen könnte, könnte man sie doch nicht mehr begreifen. Und wenn man sie begreifen könnte, könnte man sie nicht mehr in Worte fassen. Die Geschichte der Menschheit endet damit. Doch irgend etwas Neues beginnt. Mit Sicherheit sagen kann man nur eines – die Gleise werden immerzu länger, zahlreicher und dichter... „Hallo?“ „Aah...?“ Es gibt keinen Ort ohne Schienen. Daß die Züge dahinjagen, ist das Zeichen dieser Welt. Daran kann man sie erkennen. Doch als sie die Augen öffnete und sich umsah, mußte sie feststellen, daß es hier keine Gleise gab. Das mußte bedeuten, daß hier nicht die Welt war, sondern etwas anderes... „Alles in Ordnung? Geht es wieder,
oder sollen wir einen Arzt rufen?“ Die Stimme eines Mannes. Fünf Männer umringten sie und musterten sie mit sorgenvollen Mienen. In diesem Moment glitt die gesamte Erinnerung weich und fließend in ihr Gedächtnis zurück. Sie hatte eine Vision gehabt. Nein, sie hatte die Zukunft gesehen! Wie das Grollen eines fernen Donners blieb auch jetzt noch das Dröhnen der Raumschiffmotoren in ihren Ohren – ein Nachgeschmack der Zukunft. Und weigerte sich zu verklingen. Sie hatte nichts anderes getan, als das Spiel aus ihrer Kinderzeit fortzusetzen. Ja, nichts sonst. Der Schlitten war lediglich besonders gut gerutscht, gerade eben. Sie hatte nicht nur die Zukunft eines einzelnen Menschen gesehen, sondern ihr war ganz urplötzlich, ohne Vorwarnung, die Zukunft der gesamten Menschheit vorgeführt worden. Und wie die Zukunft eines Menschen 25
ganz einfach vorbeigeht, so war auch die der Menschheit ohne weiteres einfach – vorbeigegangen. „Warum habe ich das gesehen? Warum ausgerechnet heute...?“ Die Männer lösten ihre Blicke von ihr und richteten sie auf die Person, die neben ihnen auf dem Rücken lag. Der sechste Mann... Derjenige, dem sie hätte wahrsagen sollen. Er lag völlig unbeweglich mit offenen Augen da und fixierte einen Punkt, wenige Zentimeter unterhalb der Zimmerdecke. Sie fürchtete für einen Augenblick, er könnte tot sein, und schrak zusammen, aber sein Brustkorb hob und senkte sich für alle sichtbar, und er begann jetzt, mit den Händen gedankenverloren sein Gesicht zu streicheln. Sein Gesichtsausdruck schien im Vergleich zu vorher freundlicher geworden zu sein, gleichzeitig machte er aber den Eindruck, sich in tiefste
Meditation versenkt zu haben. Sie sah abwechselnd ihn und die anderen Männer an. Die fünf großen Kerle waren leichenblaß geworden. Zehn Minuten vergingen, in denen alle nur schwiegen. „Entschuldigen Sie, es tut mir wirklich leid. Heute... war ich wohl in schlechter Verfassung. Es hat nicht richtig geklappt mit dem Wahrsagen“, meinte sie mit zitternder Stimme. Einer der fünf schüttelte den Kopf. „Um Gottes Willen, machen Sie sich keine Vorwürfe! Ihn scheint es jedenfalls zufriedengestellt zu haben. Aber... mein Gott, das war wirklich... eindrucksvoll. Ich persönlich werde das wahrscheinlich mein Leben lang nicht vergessen. Früher... da hab‘ ich mir einmal an einer Straßenecke wahrsagen lassen – es ist nichts als Blödsinn dabei rausgekommen, ehrlich gesagt. Aber das hier, heute...“ Er fuhr nicht fort. Er legte seine Hand 26
auf die Stirn, als befalle ihn ein Schwindel. Sie nahm nicht einmal wahr, daß sie ein Lob empfangen hatte, zeigte stattdessen auf den Liegenden und fragte mit leiser Stimme: „Dieser... Mann, was für ein...?“ Der Mann erhob sich umständlich, massierte die eingeschlafenen Beine und sah mit einem schwer zu deutenden Blick auf den Betreffenden herab. „Tja, wir hätten das natürlich vorher erklären müssen, aber... ich bin Kriminalkommissar, und diese Leute hier sind ebenfalls alle von der Polizei.“ Sie hielt den Atem an und sah sich in der Runde um. Also doch! Irgendwie hatte sie von Anfang an so ein Gefühl gehabt. „Aber ich konnte doch... zur Auslösung des Falles nichts Konkretes... Also, er... er ist der Verdächtige?“ Sie kniff die Lippen zusammen und nickte in Richtung
des Liegenden. „Nein, oh nein, wissen Sie, die... Sache liegt vollkommen anders. Er ist kein Verdächtiger, sondern ein überführter Täter. Die Beweise lassen keinen Zweifel zu – er hat sogar gestanden und ist längst verurteilt.“ Sie begriff nichts mehr. „Was? Und wie soll ich das verstehen? Was für eine Rolle spiele dann ich in...?“ Die Vision, die sie vorhin gehabt hatte, kam mit einem Schlag zurück, und für eine Sekunde hatte sie das Gefühl, ihr Verstand würde darunter zerbrechen, und sie müßte wahnsinnig werden. Der Kommissar ergriff ihre Hand. Seine Hand zitterte mindestens so sehr wie ihre. „Er ist eine Bestie, ein vielfacher Mörder. Wenn ich die Namen seiner Opfer aufzählen würde, würden Sie sich bestimmt an den einen oder anderen davon erinnern. Die Zeitungen haben die 27
Morde damals groß aufgegriffen. Vor zwei Monaten wurde dieser Mann... zum Tod durch den elektrischen Stuhl verurteilt.“ Sie riß die Augen auf und entzog ihre Hand mit einem Ruck dem Griff des Beamten. „Seit Jahrtausenden gibt es eine Sitte bei Todesurteilen – mit Sicherheit haben Sie in Romanen schon davon gelesen. Der letzte Wunsch – das ist keine Erfindung der Schriftsteller, der Brauch wird auch in der Wirklichkeit immer befolgt. Die meisten Leute wünschen sich, noch einmal ihre Familie zu sehen, sich noch ein letzten Mal zu betrinken, oder... sie wollen noch mal eine Frau... Sie verstehen. Meistens läuft es auf so etwas hinaus.“ Als sie ihre Augen dem Verbrecher zuwandte, erschrak sie, denn er hatte seinen Kopf jetzt in ihre Richtung gedreht und betrachtete sie. Ohne zu wissen, warum, erinnerte sie sich an den Anblick,
als er in den fahrenden Zug gesprungen war. Der Kommissar zuckte die Schultern. „Bei diesem Kerl hier ist es anders. Als man ihn fragte, was er sich wünschte, antwortete er doch tatsächlich, er wolle sich noch einmal die Zukunft weissagen lassen. Das ist natürlich vollkommen verrückt. Was für eine großartige Zukunft soll einer schon haben, der in drei Tagen hingerichtet wird? Denken Sie, drei Tage! Aber... andererseits gab es keinen besonderen Grund, ihm diesen Wunsch nicht zu erfüllen...“ Der Verurteilte sah sie schweigend an.
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